Volltext: Hermann Stegemanns Geschichte des Krieges. Zweiter Band. (2, 1917)

Die Lage der ^Verbündeten 
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im Lager der Verbündeten darüber klar, daß die Russen mit versammelten 
Kräften folgen würden. Die Kämpfe in Ostpreußen und in Ostgalizien und das 
Ringen um die Weichsellinie waren nur ein Vorspiel gewesen im Vergleich zu 
dem großen Angriffsfeldzug Rußlands, der nun, zur Sturmflut schwellend, 
durch Polen urld Galizien heranwogte. Kein Deich war lang, hoch und 
stark genug, dieser Springflut Widerstand zu leisten. Starre Verteidigung 
in verschanzten Lagern oder in ausgebauten Linien genügte nicht, die Be¬ 
wegung zu stauen, die weit über die Flügel der Verbündeten hinausgriff. 
And doch mußte der Ansturm gebrochen werden, ehe er sich über die Warta 
und durch die Mährische Senke nach Schlesien und ins Innere Österreich» 
Angarns ergoß und die Kraftquellen des Widerstandes verschüttete. Da 
daran der Ausgang des Krieges hing, mußte die russische Leeresmaffe in der 
Bewegung getroffen und der wandelnde Koloß durch einen Angriff gelähmt 
werden, ehe er die Grenze überschritt. Das war eine Frage auf Leben und 
Tod. Sie wurde in einem Augenblick gestellt, da der große Feldzug im 
Westen auf beiden Seiten die letzten Kräfte zum Kampfe ries und in dem 
Ringen um Vpern gipfelte. Sie schien mit Verzweiflung und Verderben 
geladen und stellte eine Forderung aus, die nur von einem Feldherrn erfiillt 
werden konnte, der dem Stoße des Augenblicks Folge gibt und nach 
Clausewitzens Wort „fest im Vertrauen auf sein besseres inneres Wissen 
dasteht wie der Fels, an dem die Welle sich bricht". Aber er bedurfte 
frischer Streitkräfte und weitreichender Befehlsgewalt zu solchem Werke. 
Der französische Feldzug verschlang im November 1914 sehr große 
deutsche Truppenmengen, fast alle, die Deutschland um dieselbe Zeit auf¬ 
bringen konnte. Waren unter diesen Amsiänden noch Streitkräfte vorhanden, 
die Armee Lindenburgs so zu verstärken, daß sie dem russischen Ansturm 
widerstehen konnte und zugleich dem Feldherrn die Wiederaufnahme des 
Angriffs ermöglicht wurde? 
Die Erfahrung hatte gezeigt, daß Lindenburg mit sechs Korps das 
österreichisch-ungarische Leer wohl vor der Erdrückung durch die russischen 
Massen bewahren und den Feind von seinem Ziel ablenken konnte, daß das 
Übergewicht der Masse den Russen aber gestattete, sich immer wieder zu 
ballen und den Feldzug gen Westen zu wälzen. Lindenburg hatte bei Tannen¬ 
berg und an den masurischen Seen siegreich gefochten, aber z u groß durste 
das Mißverhältnis der Kräfte nicht sein, sonst ertrank jede Operation in 
den russischen Massen. Daß die große russische Armee nur durch eine Ope¬ 
ration großen Stils auf ihrem Gange erschüttert und gehemmt werden konnte, 
ergab sich aus den Verhältnissen. Lierzu bedurfte es stattlicher Kräfte und 
einer Einwirkung auf die Flanken des Kolosses. Je beschränkter die Ver¬ 
stärkungen waren, die Lindenburg zu erwarten hatte, desto unbeschränkter 
mußte er über Raum und Zeit gebieten können, um den neuen Flankenstoß 
zu führen, der diesmal aus einer Grundstellung erfolgen und unmittelbar in
	        
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