Volltext: Jildirim [4] (Ban 4/1925)

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wie es auf dieser uralten Straße seit Tausenden von Jahren dasselbe ge- 
blieben ist. Die Einwohner der Berge, meist Drusen, stehen scheu am 
Wege, jammervolle Gestalten, denen der Hunger aus den Augen klagt. 
Kinder, kleinen Skeletten gleich, liegen am Wege und kratzen im Staub 
der Straße nach Nahrung: der Tod hat sie gezeichnet. Mütter, in 
Lumpen gehüllt, strecken mit verzweifelter Gebärde mir ihre sterbenden 
Säuglinge entgegen, selbst nur noch Haut und Knochen. — Nur in 
Britisch-Jndien sah ich ähnliche Bilder des Hungers und Sterbens. Ich 
gebe, was ich an Brot bei mir führe; aber was nutzt das bei solchem 
furchtbaren Elend. 
Gegen 5 Uhr abends überschreite ich die Paßhöhe. Von weitem im 
Westen winkt das Meer, das wie ein leuchtender, stahlblauer Schild bis 
zum fernen Horizont sich erhebt; die untergehende Sonne zieht lange 
goldene Bahnen auf ihm. 
Was da vor mir liegt, der schmale Küstenstreifen, eingeschlossen von, 
Meer und dem in steilen Rippen und Vorsprüngen abfallenden Libanon, 
mit seinen Buchten und üppiggrünen Flächen, mit seinen Dörfern und 
Weilern, seinen Palmenhainen und Bananenwäldern, ist eine Welt für 
sich, hat nichts gemein mit der Welt hinter der trennenden Wand des 
Libanon. Ein Land, dessen Bewohner unweigerlich von der Natur und 
der örtlichen Lage aus das Meer als Verbindungsbrücke mit der übrigen 
Welt, auf Schiffahrt und den überseeischen Verkehr von Anbeginn hin- 
-gewiesen waren: Phönizien! So lehrt auch dies Beispiel wieder, wie 
das Geschick des einzelnen Individuums und eines Volkes abhängig ist 
und geformt wird von der Natur und Eigenart des Landes, das jene 
erzeugte, daß die Geschichte eines Volkes erst voll verstanden wird, wenn 
man die Geographie seiner Heimat kennt. 
Von der Natur mit einem hohen Maße von Intelligenz und persön¬ 
lichem Wagemut ausgestattet, mußten dem Phönizier des Altertums 
die ihm durch Gebirge und Meer gezogenen Landesgrenzen bald zu eng, 
die hierdurch bedingte Anbau-Möglichkeit zu knapp werden. Die Ber- 
bindung mit dem reichen Hinterland war zu kärglich, um einen freien 
Abfluß überschüssiger Volkskraft dorthin abzuleiten, bot aber anderer- 
leits den reichen Handelsherren Babylons und Indiens genug Möglich- 
keit, die eigenen Landeserzeugnisse der Küste des Mittelmeeres zuzu- 
führen. Mit Naturnotwendigkeit mußte also das kleine Volk der Phöni- 
Zier zum Vermittler des Handels zwischen Morgen- und Abendland 
werden, mußte zu einer praktischen Kolonialpolitik schreiten, die die 
ganze damals bekannte Welt von dem Becken des Mittelmeeres und der 
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