Volltext: Jildirim [4] (Ban 4/1925)

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schauplätze ihn verhärtet, daß die Namen Bethlehem, Nazareth, Jerusalem 
spurlos an ihm vorübergehen? 
Man wird diese psychologische Frage dahin beantworten müssen, daß 
der gebildete Mensch den Eindrücken des Heiligen Landes, ohne dabei 
gleich dem orthodoxen Fanatismus des russischen oder armenisch-koptischen 
Pilgers zu verfallen, kaum sich entziehen wird. Unter Bildung verstehe ich 
hierbei allerdings nicht das aus Büchern und durch akademische Schulung 
erworbene Wissen, vielmehr jene Herzensbildung und Aufnahmefähigkeit, 
die auch dem gewöhnlichen Mann eigen fein kann. Immerhin, recht 
verschiedenartig mochte wohl der Eindruck sein, den der Anblick geheiligter 
Stätten auf die einzelnen Soldaten machte. So entsinne ich mich eines von 
mir auf der Höhe Nazareths im Vorbeigehen belauschten kurzen Ge» 
spräches zwischen zwei Kanonieren der Begleitbatterie des Bataillons 701: 
„Siehst du, Emil, hier ging nun der Stern von Nazareth aus!" Worauf 
der andere: „Quatsch nicht, Kamerad, hier werden wir entlaust!" — 
Dabei war „Emil" wohl keineswegs ein Zyniker, aus ihm sprach aber 
der nüchterne, praktische Feldsoldat, zu dem ihn der lange Krieg gemacht 
hatte, der körperliches Wohlbefinden höher einschätzte als ideale Gefühls- 
werte. — 
Wenn man Nazareth an seinem südlichen Ausgang verläßt und die 
nach Süden sich immer tiefer einschneidende Schlucht verfolgt, erhebt sich 
zur linken Hand des Wanderers ein Bergmassiv, das, im Winter kahl 
und steinig, jetzt im Januar bereits mit einer zartgrünen Matte bedeckt 
ist, über die der Frühling mit verschwenderischer Hand Blumen von unbe- 
schreiblichem Reichtum und bunter Farbenpracht ausgestreut hat. Zwischen 
dicken Büscheln duftender Alpenveilchen keuchtet die anemona coronaria 
mit ihren handtellergroßen, in allen Farben vom reinsten Weiß bis zum 
tiefsten Purpurrot spielenden Blüten. Sie ist es, von der das Evangelium 
sagt: „Sehet die Lilien auf dem Felde." Ohne Frage erging sich Jesus 
mit Vorliebe auf diesem Berge und sprach zum Volke. Und hierhin ver- 
legt die Legende jenen stürmischen Auftritt, in dessen Verlauf die Phari- 
fäer und Schriftgelehrten der Nazarener Synagoge den ihnen verhaßten 
Jesus vom Berge abstürzen wollten. „Der Berg des Absturzes" nennt 
/ihn noch heute der Volksmund, steil fällt er ab über zerrissenes Felsgewirr 
hinab zur Ebene von Jesreel. Die wütende Volksmenge umringte 
Jesus. „Er aber ging durch sie hindurch." Packender tritt uns an keiner 
Stelle des Testaments der gewaltige, geradezu suggestiv auf die Menschen 
einwirkende Einfluß Jesus entgegen.
	        
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