Volltext: Jildirim [4] (Ban 4/1925)

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und biege in die „Via dolorosa" ein> den Schmerzensweg, den I e s u s auf 
seinem letzten Gang beschritt. Still und menschenleer ist die Gasse; der 
Lärm des Krieges dringt nicht bis hierher. 
Am Haus der Zmnsfchwestern rühre ich den schweren Metallklopfer; 
eine alte weißhaarige Dame in Schwesterntracht führt mich in die schattig- 
kühle Halle: wir beabsichtigen hier, ein Soldatenheim für unsere Mann- 
schaften einzurichten. Ich stehe an geweihter Stelle. Durch die gewölbten 
Fenster fällt mein Blick auf die „Kapelle der Geißelung" und unmittel- 
bar vor mir auf den „Ecce Homo-Vogen", wo sich jene dramatische Szene 
vor Pilatus abspielte. — 
Eine einsame Stunde beim Schein des südlichen Mondes auf den 
Haram efch Scherls, dem Tempelplatz I Wem die Gottheit diese Stunde 
als ein Gnadengeschenk.im Toben des Weltkrieges gab, vergißt sie nicht, 
solang er lebt. Drüben jenseits des noch im tiefen Schatten liegenden 
Kidrontales der Ölberg. fein langgestreckter Rücken, übergössen von dem 
gleißenden Silber des Mondes. Scharf heben sich die Formen des 
Augufta-Viktoria-Stiftes und des ragenden Russenturmes vom nächt- 
lichen Himmel ab. und im gedämpften Feuer glüht die goldbedachte 
Kuppel der russischen Kapelle unter dem dunkeln Laub der tausend- 
jährigen Ölbäume im Garten Gethsemane. Hinter mir aber, im Norden 
der Stadt, die kahlen steinigen Hänge des Skopus, von denen herab Titus 
feine Legionen zum letzten Sturm gegen die Mauern der bedrängten 
Stadt führte. 
Ringsum Stille, Jerusalem schläft. Ich sitze allein auf der niedrigen 
Mauer, die eine Terrasse abschließt gegen den Steilabfall der alten 
Bastion in das tief unter mir liegende Tal Josaphat. Bor mir breitet 
sich im Lichte des Mondes wie die Fläche eines riesigen Tisches von 
weißem Marmor der Tempelplatz aus, in seiner Mitte wie ein in 
bunten Emaillefarben aufleuchtendes Schmuckstück der „Felsendom", die 
Omarmoschee, erbaut auf den Grundmauern des Tempels Salomonis. 
Heilig ist die Stätte dem Moslem, nur übertroffen noch von der 
Kaaba in Mekka, der Stadt des großen Propheten. Denn hier wird am 
Jüngsten Tage Gericht abgehalten werden über Fromme und Gottlose; 
und eben da, wo ich sitze, wird die Wage stehen, auf der Verdienst und 
Sünde abgewogen werden. Über das Kidrontal hinüber zum Ölberg 
wird dann ein schmaler Steg errichtet werden, den die Geister der Ab- 
geschiedenen zu beschreiten haben; die Guten werden hinübergelangen, 
die Gottlosen in den gähnenden Abgrund abstürzen. — Mit Blut ist der 
Ort gedüngt im Laufe von nahezu dreitausend Jahren, nachdem David
	        
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