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und biege in die „Via dolorosa" ein> den Schmerzensweg, den I e s u s auf
seinem letzten Gang beschritt. Still und menschenleer ist die Gasse; der
Lärm des Krieges dringt nicht bis hierher.
Am Haus der Zmnsfchwestern rühre ich den schweren Metallklopfer;
eine alte weißhaarige Dame in Schwesterntracht führt mich in die schattig-
kühle Halle: wir beabsichtigen hier, ein Soldatenheim für unsere Mann-
schaften einzurichten. Ich stehe an geweihter Stelle. Durch die gewölbten
Fenster fällt mein Blick auf die „Kapelle der Geißelung" und unmittel-
bar vor mir auf den „Ecce Homo-Vogen", wo sich jene dramatische Szene
vor Pilatus abspielte. —
Eine einsame Stunde beim Schein des südlichen Mondes auf den
Haram efch Scherls, dem Tempelplatz I Wem die Gottheit diese Stunde
als ein Gnadengeschenk.im Toben des Weltkrieges gab, vergißt sie nicht,
solang er lebt. Drüben jenseits des noch im tiefen Schatten liegenden
Kidrontales der Ölberg. fein langgestreckter Rücken, übergössen von dem
gleißenden Silber des Mondes. Scharf heben sich die Formen des
Augufta-Viktoria-Stiftes und des ragenden Russenturmes vom nächt-
lichen Himmel ab. und im gedämpften Feuer glüht die goldbedachte
Kuppel der russischen Kapelle unter dem dunkeln Laub der tausend-
jährigen Ölbäume im Garten Gethsemane. Hinter mir aber, im Norden
der Stadt, die kahlen steinigen Hänge des Skopus, von denen herab Titus
feine Legionen zum letzten Sturm gegen die Mauern der bedrängten
Stadt führte.
Ringsum Stille, Jerusalem schläft. Ich sitze allein auf der niedrigen
Mauer, die eine Terrasse abschließt gegen den Steilabfall der alten
Bastion in das tief unter mir liegende Tal Josaphat. Bor mir breitet
sich im Lichte des Mondes wie die Fläche eines riesigen Tisches von
weißem Marmor der Tempelplatz aus, in seiner Mitte wie ein in
bunten Emaillefarben aufleuchtendes Schmuckstück der „Felsendom", die
Omarmoschee, erbaut auf den Grundmauern des Tempels Salomonis.
Heilig ist die Stätte dem Moslem, nur übertroffen noch von der
Kaaba in Mekka, der Stadt des großen Propheten. Denn hier wird am
Jüngsten Tage Gericht abgehalten werden über Fromme und Gottlose;
und eben da, wo ich sitze, wird die Wage stehen, auf der Verdienst und
Sünde abgewogen werden. Über das Kidrontal hinüber zum Ölberg
wird dann ein schmaler Steg errichtet werden, den die Geister der Ab-
geschiedenen zu beschreiten haben; die Guten werden hinübergelangen,
die Gottlosen in den gähnenden Abgrund abstürzen. — Mit Blut ist der
Ort gedüngt im Laufe von nahezu dreitausend Jahren, nachdem David