Volltext: Ypern 1914 [10] (Band 10/1925)

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mit Gesichtern aus Milch und Blut, die mühsam das schwere Gepäck 
schleppten. Strahlende Augen verbargen die kaum zu ertragende An- 
strengung. Rücken, auf denen vor kurzem noch die Last der friedlichen 
Arbeit geruht, beugten sich unter dem Tornister. Hände, die vor 
Wochen noch den Federhalter geführt, klammerten sich fest um den 
Gewehrkolben. Augen, die nichts gesehen als Bücher und Schriftzeichen, 
maßen mit freiem Blick die Ebene und die fernen Höhenzüge rings um 
Bpern. Köpfe, die vor Wochen noch angefüllt mit den Regeln der Al- 
gebra. den Oden des Horaz und den schwungvollen Perioden lateinischer 
Klassiker, verschwanden unter den stoffüberzogenen Helmen. Hier schritt 
der Lehrer mit dem Schüler, der Meister mit dem Lehrling, der Mann 
mit dem Jüngling, der Reiche mit dem Armen, der Ehemann mit dem 
Junggesellen, der Student mit dem Arbeiter, alle im gleichen Rock, alle 
im gleichen Schritt, alle mit dem gleichen Gedanken: vorwärts! 
Offiziere, die längst den bunten Rock mit dem Bürgerkleid vertauscht 
und die bei dem großen Ruf wieder in die Front geeilt waren, ritten 
an der Spitze der Kompagnien. Unteroffiziere maßen mit dem grimmigen 
Blick der Verantwortung die engen Reihen der Professoren und Stu- 
denten, aus denen ihr Zorn und ihr Zureden in kurzen Wochen Schieß- 
künstler und Dauermärschler gemacht. Muttersöhnchen und Taugenichtse 
schritten entschlossen und brav nebeneinander und richteten den gehör- 
samen Blick auf den gestrengen Herrn Feldwebel. Würdige Oberlehrer, 
denen die Gelenke noch schmerzten vom Aus und Hinlegen und vom 
Sprung auf marsch marsch in Jüterbog, Döberitz, Altengrabow und 
Großenhain, verbissen das verräterische Zucken im Gesicht und drückten 
krampfhaft die Knie durch. Was sollten denn die Oberprimaner sagen, 
die nur darauf warteten, die erhabenen Weltweisen von vorgestern auf 
einem Beine humpeln zu sehen? Kaum dem Stock des Vaters entronnene 
Knaben, die tagelang von Ersatztruppenteil zu Ersatztruppenteil geeilt, 
bis endlich einer Erbarmen mit ihnen hatte, bissen die Zähne aufein¬ 
ander, damit man ihnen die Schmerzen im Rücken und das Brennen 
der Fußsohlen nicht ansah. Was würden denn die Magister sagen, die 
schon immer gejammert und gestöhnt: „Aus ihm wird nichts, er kann 
nicht einen Gedanken zehn Minuten lang im Kopfe behalten und nicht 
eine Sache eine Viertelstunde lang hintereinander betreiben!" Und 
wenn die Blicke unter dem Helm sich begegneten, dann lächelten sie 
ermunternd. Und es hieß nicht mehr „Herr Oberlehrer" und „Jungens", 
sondern Kamerad und Du. Und wenn die vierte Kompagnie von hinten, 
wo die Kleinsten sich abmühten mit Anschluß-Halten, anstimmte: „Was 
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