Volltext: Ypern 1914 [10] (Band 10/1925)

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Einzigen vorgeht. Ach, das würde mir den Tod so leicht machen, denn 
das schlimmste beim Sterben ist doch das Alleinsein . . . 
Ich fühle schon, wie mich seltsam schwermütige, dunkle Bilder um- 
fangen und wie ein weicher, ferner Sang mein Ohr trifft. Vielleicht sitzt 
drüben einer aus der Orgel und drückt langsam auf die Tasten. Ich 
möchte wohl gern hinschauen, aber meine Augen reichen nicht mehr bis 
dorthin. Nun laß mich, Gekreuzigter, noch einmal ganz still an alles 
denken, was auf Erden gewesen ist. . . 
Es geht nicht mehr. Immer schiebt sich ein Bild in das andere und 
verwischt es. Es geht ihnen nicht schnell genug, sie haben wohl große 
Eile. So laß mich wenigstens noch an meine Mutter denken, Ge- 
kreuzigter... 
Auch das nicht mehr? Muß es schon sein? 
Ich sehe es wohl, du neigst stumm dein Haupt. Wie dunkel ist es 
auf einmal 
Als der bärtige Sanitäter von drüben zurückkam, um nach dem 
Kleinen zu schauen, lag der in tiefer Ohnmacht. Zwei Träger hoben ihn 
auf eine Bahre und trugen ihn langsam in die Sakristei. Behutsam 
ließen sie ihn auf den Operationstisch nieder. Man entfernte die zer- 
riffenen Kleider vom Oberkörper und löste die verschmutzten, blutdurch- 
quollenen Verbandsstoffe. Der Doktor beugte sich über das Gesicht des 
Jungen und untersuchte dann den Schuß in der Brust. 
„Man kann ihm nur wünschen, daß er aus der Ohnmacht nicht 
wieder aufwacht. . ." sagte er halblaut zu den Umstehenden. „Neinigen 
Sie die Wunde etwas und verbinden Sie ihn wieder." 
Da trat der bärtige Sanitäter vor. 
„Herr Doktor, er ist siebzehn Jahre." 
„Siebzehn Jahre . . ." wiederholte der Doktor und strich sich mit 
dem Arm über die Stirn . . . „siebzehn Jahre . . und dabei stöhnte 
er wie ein Greis, obwohl er selbst nicht mehr als vierzig Jahre zählen 
mochte. Im Eingang zur Sakristei erschien schon die Bahre mit dem 
nächsten. 
Der Doktor aber machte sich daran, den Kleinen zu operieren. Der 
bärtige Sanitäter stand daneben und betrachtete mit regungslosem Gesicht 
das blutleere Antlitz des Jungen. 
Nach einer Viertelstunde trugen sie ihn wieder hinaus und legten ihn 
an seinen alten Platz, dicht unter dem Bild des Gekreuzigten. Der alte
	        
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