Volltext: Ypern 1914 [10] (Band 10/1925)

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aber ich hatte das Gefühl, als würgte mich eine eiskalte Hand an der 
Gurgel. Und als ich aufblickte, war es die Hand jenes alten Mannes, der 
sich freundlich über mich beugte und lächelnd sagte: „Siehst du, es ist gar 
nicht so schlimm. Wenn man es erst überwunden hat, fühlt man sich 
sogar ganz wohl." Dabei ließ aber seine kalte Hand nicht von meiner 
Kehle ab, und ich spürte ganz deutlich, wie langsam das Leben aus 
meinen Gliedern rann. Und das schlimmste war das Gefühl: jetzt halten 
sie dich alle für tot, und dabei lebst du noch! Sie brachten mich in einen 
weißgetünchten Raum, in dem es fo kalt war. daß alle meine Glieder 
erstarrten. Rings um mich lagen noch zahlreiche andere Menlchen, die 
alle nicht tot waren, obwohl sie sich vor Kälte nicht bewegen konnten. 
Wir unterhielten uns, ohne daß wir jedoch ein Wort miteinander 
sprachen. Unsere Gedanken schritten hin und her, von einem zum andern. 
Uns alle bewegte nur die Vorstellung, wie wir den andern verständlich 
machen könnten, daß wir gar nicht tot seien. Schließlich wählten wir 
einen zum Sprecher. Als aber nachher ein paar Männer in schwarzen 
Anzügen und mit bekümmerten Mienen hereintraten, lagen wir alle 
regungslos, unfähig, etwas zu sagen. Sie ergriffen mich und schlössen 
langsam die Sargdeckel über mir. Mit letzter Anstrengung wollte ich die 
Arme heben. Aber da beugte sich das Gesicht jenes alten Mannes zwischen 
den schwarzen Flügeln des Sargdeckels hindurch. Das freundliche Lächeln 
war verschwunden. An seine Stelle war eine höhnische Grimasse getreten. 
Die Zähne bleckten und das Schmutzwasser rann von seiner Stirn auf 
mich herab. O, wie kalt war das! Dann schloffen sich die Flügel über 
mir... 
Wie kommt es nur, Gekreuzigter, daß ich gerade an diesen Traum 
erinnert werde? O, ich verstehe dich wohl. Ich soll wieder sterben. Das 
brennt ja fo in der Brust, das kann ja gar nicht mehr lange dauern. 
Oder vielmehr, das brennt gar nicht mehr fo stark, und das ist das 
Zeichen, daß es jetzt schnell zu Ende geht. Solange ich dich ansehe, fürchte 
ich mich nicht davor. Nur daß ich niemandem in diesem Augenblick sagen 
kann, daß ich jetzt sterben werde, das schmerzt. Die Vorstellung, daß sie 
jetzt daheim vielleicht gerade meinen letzten Brief erhalten, wo ich noch 
voller Gesundheit und voller Hoffnungen war, die Vorstellung, daß meine 
Mutter jetzt, in diesem Augenblick, in dem sich der letzte Seufzer aus 
meiner gequälten Brust ringt, Gott dankt, daß er mich bisher erhalten 
hat — der Gedanke ist furchtbar. Aber vielleicht tritt irgendein Bild in 
diesem Augenblick vor ihre Seele, daß sie plötzlich erkennt, was mit ihrem 
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