Volltext: Ypern 1914 [10] (Band 10/1925)

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ich früher nichts sah, da sehe ich jetzt auf einmal alles ganz deutlich. Die 
ungewohntesten, unbekanntesten Dinge erwecken mir nicht das geringste 
Erstaunen. Alle Menschengesichter, die mir entgegentreten, fangen an zu 
sprechen, ohne daß ich Worte höre. Jeder beeilt sich, den Inhalt seines 
Herzens offen vor mir auszubreiten. 
Früher hat man mich wohl gelehrt, was gut fei und was böse sei. 
0, ich wußte genau, woran man das Gute erkennen mußte und woran 
das Schlechte. Aber niemals habe ich daran gedacht, diesen Unterschied 
zu machen, es sei denn ganz frühe in meiner Kindheit. Und da war eben 
der Maßstab ein kindlicher. Später dann, als ich das Kindliche abstreifte, 
verlernte ich es schnell. Und je mehr man mich darüber belehrte, um so 
weniger tat ich es, denn ich fand das alles sehr töricht. Wer, sagte ich 
mir, hat denn diesen Unterschied in die Welt gebracht? Ist er nicht ein 
erfundener, ein gewordener, haben die Menschen nicht selbst, um sich 
voreinander zu schützen, den Strich zwischen nützlich und schädlich gezogen 
und die eine Seite des Striches gut, die andere schlecht genannt? Immer 
habe ich darüber nachgedacht, wie diese Unterscheidung in die Welt 
gelangt sein könne. Ich suchte in der Geschichte und fand, daß niemals 
davon die Rede war, und daß zu allen Zeiten und in allen Ländern die 
Menschen fast etwas anderes darunter verstanden. Und, glaubst du, 
Gekreuzigter, feit ich zum letztenmal als unwissendes Kind zu dir gebetet, 
bin ich immer bei meinem Suchen an dir vorübergegangen, bis du mir 
heute auf einmal ganz zufällig in den Weg getreten bist . . . 
Aber ist das nicht merkwürdig, daß ich gerade jetzt, in dem ich dich 
ansehe, auf alle diese Gedanken komme? Ob es wohl daran liegt, daß 
ich heute zum erstenmal mit Bewußtsein ans Sterben denke? Als Kind 
sah ich einmal mitten beim Spiel die Leiche eines Ertrunkenen. Wir 
drängten uns neugierig durch eine Gruppe von Männern, die am Ufer 
stand, und gerieten unvermittelt vor den Toten. Es war ein alter Mann. 
Aus seinen weißen Haaren triefte das Wasser und rann in schmutzigen 
Strähnen über das Gesicht. Und das war das schrecklichste, daß er die 
Augen weit aufgerissen hatte und damit seltsam in die Ferne starrte. 
Wie von Furien gejagt, lies ich nach Hause und konnte die ganze Nacht 
lang keinen Schlaf finden. Immer verfolgten mich die Augen des Toten. 
Und aus dem einen wurden immer mehr. Aus allen Winkeln der Dunkel- 
heit kamen sie auf mich zu, versammelten sich um mich und sprachen 
untereinander: „Wie schade um ihn, seht nur, wie jung er noch ist, er ist 
ja noch ein Kindl" Da glaubte ich, daß ich tot sei, und ich war so gelähmt 
vor Entsetzen, daß ich mich nicht bewegen konnte. Ich wollte schreien
	        
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