Österreichischer Volkskalender: Österreichischer Volkskalender 1936

Am nächsten Morgen wollte der Lehrbub wie gewöhnlich die Werkstatt aufsperren. Aber als er einen Blick hineinwarf, da standen ihm die Haare zu Berge und er nahm Reißaus. Er platzte in die Küche hinein, wo die Meisterin eben damit be schäftigt war, die Morgensuppe zu kochen, und schrie mit schreckoerzerrtem Gesichte: „Meisterin, in der Werkstatt ist alles kreuz und quer durcheinander, und unter dem großen neuen Eisengatter liegt der Teufel und kann nicht mehr aus!" Und Frau Kreszenz ließ bei dieser Botschaft einen Hafen mit Milch klirrend zu Boden krachen, so fuhr auch ihr der Schreck in die Glieder. „MaraNd Josef!" schrie sie auf, dann stürzte sie in die Werkstatt hinunter, um den Greuel der Verwüstung zu schauen. Es war richtig, der Bock hatte sich losgerissen, war auf der Suche nach etwas Freßbarem mit den Hörnern an dem schwe ren Eisengatter hängen geblieben und dieses war auf das Tier gestürzt und hatte ihm das Kreuz abgeschlagen. Nun lag der Preisbock mausetot mit verdrehten Augen da und streckte alle Viere steif von sich. Es dauerte eine Zeitlang, bis die Meisterin den Wastl aus den Federn brachte. Dem brummte der Vom Lande der Mitternachtssonne In unseren Gegenden kommt die Sonne auch in der Zeit der längsten Nächte im Winter täglich für acht Stunden über den 'Horizont herauf und sendet ihre Strählen als belebendes Licht und Wärme in die Winter- nacht. Umgekehrt «geht sie in den Sommermonaten auch in der kürzesten Nacht für acht Stunden unter den Hori zont hinunter und macht der kühlenden Nacht Platz. In den P ol a rgeb i e t e n, der Arktis, in Grönland, Labrador, Alaska, ist dieser Wechsel von Tag und Nacht anders. Drei Mon ate l an g, November, Dezember und Jänner, liegt das Land ganz ohne S o n n e, im März erscheint dann um die Mittagszeit im Süden'ein rosiger Schein, der etwa eine Stunde hindurch am Ho rizont verweilt; allmählich bleibt er länger und dehnt sich am Himmel 'immer weiter nach allen Richtungen aus. Es wäre nun über ein Irrtum, anzunehmen, daß in den drei Wintermonaten das Land dort gänzlich ohne Licht sei. Es ist zunächst das Schneelicht vorhanden, das im allgemeinen genügt, um einen sicheren Weg von Haus zu Haus zu ermöglichen. Meist herrscht auch ein unbedeckter Himmel, und das Licht des Mondes und der Sterne 'ist bei den sehr klaren Luftverhältnissen sehr viel intensiver als in der gemäßigten Zone, ja, es ist oft so hell, daß man eine nicht zu kleine Schrift im Freien lesen kann. Und dann zuckt immer wieder die uns sagenhafte, dort aber ganz gewöhnliche Erscheinung des Nordlichtes auf und entlädt sich wie ein Riesenfeuerwerk. Es ist also keineswegs so, daß in den Blockhäusern des hohen Nordens unablässig die elektrischen Lampen brennen, gewöhnliche Verrichtungen, die nicht ein besonderes Hinsehen erfordern, können schon auch bei dem natürlichen Licht vorgenommen werden. Wenn dann aber die Sonne erst einmal über dem Horizont aufgetaucht ist, um volle drei Monate überhaupt nicht mehr zu verschwinden, Schädel ganz gehörig, und so erfaßte er die Schauermär eine ganze Weile nicht recht. Erst als er dem Lehrbuben für alle Fälle einige mächtige Ohrfeigen versetzt hatte, wurde es langsam klar in seinem Kopfe. Er fand sich mit dem Unglücke leichter ab als Frau Kreszenz. Er ist aber in der Folge eine ganze Zeitlang zu keinem Stammtisch mehr gegangen, bis über die Geschichte etwas Gras gewachsen war. Und dies war die letzte Kirchtagswallfahrt der Schlossersleute. Nicht mehr lange, und es ging mit der alten Gemütlichkeit im Stadtl ohnehin langsam zu Ende. Die Autos tauchten auf und die Stellwagen ver schwanden, und es kam das Telephon und das Elektrische und all das viele neumodische Zeug, und die Altmeraner freute es nimmer und sie legten sich einer nach dem anderen hin, um nimmer auf zustehen. Immer mehr lichteten sich die Stammtische in den alten verräucherten Weinstuben unter den Lauben; und auch der alte Kappeller und die Frau Kreszenz liegen schon seit vielen Jahren draußen am alten Freithofe neben der Spitalkirche. Gar manches ergötzliche Geschichtlein wär' noch von ihm zu erzählen. Es war einmal . . . dann geht förmlich „über Nacht" (wenn dieser Ausdruck dort oben einen Sinn hätte) eine zauberhafte Verwand lung des Landes vor sich. Im Nu ist der Schnee in der Ebene hinweggeschmolzen, das Eis der Flüsse kracht und bricht, so daß es wie ein immerwährender Donner über dem Lande liegt, und fast im gleichen Augenblick sprießt auch schon die Vegetation mit aller Macht hervor. Man sieht dort wirklich das Gras wachsen, man sieht, wie sich die Blumenkelche erschließen; wo an dem einen Sonntag noch Eis und Schnee liegt, ist am nächsten schon alles blau von Weilchen oder weiß von Anemonen. Unmittelbar auf den Winter folgt sogleich der Sommer, einen Übergang, also einen Frühling, gibt es dort nicht, ebensowenig auch einen Herbst. Die drei Sommermonate sind für die Menschen der Arktis wie ein einziges F e st. Die LebensgewohnheiLen nehmen geradezu südliche Formen an. Alles spielt sich draußen ab. „Schlechtes Wetter" gibt es den gan zen Sommer hindurch nicht! ©s gibt trotzdem keine Dürre, da der Schnee für gründliche Durchfeuchtung Sorge trägt und genügend Wasser von den auch im Sommer mit Schnee bedeckten Bergen herabströmt. Auch die Tageseinteilung wird der in südlichen Ländern ähn lich: man schläft während der Zeit, da die Sonne am höchsten steht, und man wird wach, wenn sie tief am Himmel kreist. Tag und Nacht haben gänzlich ihren Sinn verloren. Nirgends sonst dringt der Gedanke der Ewigkeit, der ja im Grunde der Gedanke der Zeitlosigkeit ist, so wuchtig und unmittelbar auf den Menschen ein wie im Lande der Mitternachtssonne, bei diesem Tag für Tag gleichmäßigen Kreisen des Tages- gestirnes. Diese immerwährende Sonne hat etwas für den Menschen Gefährliches. Sie wirkt auf die Dauer be drückend, zermalmend, der „Tag" scheint sich ins End lose zu dehnen, und so gibt es manche, die sich schließ lich schon wieder nach dem Augenblick sehnen, da die Sonne zum erstenmal den Horizont berührt.

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