196 Rückblick und Ausblick Vorteile eines baldigen Waffenstillstandes zu erwägen, ehe sie in den fünften Kriegswinter hineingingen, der außerdem mit jedem weite¬ ren Tage den amerikanischen Einfluß stärker zur Geltung bringen mußte. Stellten sich unsere Feinde auf den Boden einer ganz nüch¬ ternen Erwägung der Gesamtlage, so mußten sie erkennen — und das ist, wie oben auf Seite 151 ausgeführt wurde, auch geschehen —, daß Deutschland trotz Ausscheidens seiner Bundesgenossen noch längere Zeit in der Lage war, den Widerstand an seiner Westfront fortzusetzen. Eine Überspannung der Forderungen hätte die Kriegsdauer zweck¬ los verlängert. Sollte wirklich der Waffenstillstand der Übergang zu einem Verständigungsfrieden werden, so mußte das bereits in den uns gestellten Waffenstillstandsbedingungen zum Ausdruck kommen. Forderten diese aber von Deutschland eine knechtische Unterwerfung, so war das der Beweis dafür, daß Deutschland auf einen Frieden des Rechtes, wie ihn Wilson verheißen hatte, nicht rechnen konnte. Dann mußte der Kampf an der Westfront weitergehen, Deutschland hätte, wenn nicht außergewöhnliche Umstände eintraten, sich noch so lange behaupten können, bis die Entente die Notwendigkeit zum Einlenken empfand. In rückwärtigen, befestigten Stellungen, im Süden unse¬ rer Westfront gestützt auf die starken Festungen Diedenhosen-Metz- Molsheim-Straßburg, von dort mit dem Anschluß bis an den Rhein, konnte die Armee sich sammeln, ausruhen, Reserven aussparen und dadurch die Entente zum Nachdenken bringen, ob sich der Weiter¬ kampf für sie noch lohnte. In den schweren Tagen vor dem Eingang der vierten Wilson- Note vom 5. November 1918 habe ich am 1. November in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" folgende Betrachtung über die militärische Lage veröffentlicht, die ich wörtlich hier mitteilen möchte, um zu zeigen, wie mir die Dinge damals, mitten im Fluß der Er¬ eignisse, erschienen sind. Ich konnte viele der damaligen Darlegungen wörtlich in mein heutiges Werk übernehmen. Die Lage an der Front. Die öffentliche Meinung der kriegführenden Länder befindet sich zurzeit in einem Zustande völliger Verwirrung. Schranken¬ loser Siegestaumel bezeichnet im großen und ganzen die Stim¬ mung der Entente, wie sie sich täglich in den Forderungen füh¬ render Blätter zu erkennen gibt. Demgegenüber ist doch mit aller Entschiedenheit festzustellen, daß die Entente für eine der¬ artige Wertung ihrer eigenen, vor allem aber unserer Lage keinerlei sachliche Gründe besitzt. Wir befinden uns jetzt in einem Zustande, in dem jede Selbsttäuschung aufhören muß. Schönfärberei könnte verhäng-