62 Die rein militärische oberste Kriegsleitung Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht von Bayern hieß es: „Schwere Verluste können wir nicht mehr ertragen, Menschen sind knapp, Mu¬ nition ist da." Die O.H.L. mußte sich grundlegend entscheiden, wie die Operationen im Westen weitergeführt werden sollten. Treffend kennzeichnet General v. Kühl in seinem bereits er¬ wähnten Werke „Der Weltkrieg 1914—1918" die Schwere der da¬ maligen strategischen Lage: „Im Westen defensiv in den bisherigen Stellungen stehen zu bleiben, war nicht möglich. Der Geländege¬ winn, den wir in den Schlachten gemacht hatten, wurde uns zum Verhängnis. Der ausspringende große Bogen bei Montdidier lud den Gegner zum Flankenangriff ein. Das ganze soeben mit schweren Opfern eroberte Gebiet wieder aufzugeben, war aus Gründen der Moral ausgeschlossen. Und was sollte dann weiter geschehen? Ab¬ warten, was der Gegner über uns verhängte? Warten, bis die Ame¬ rikaner eingetroffen waren? Eine Beschränkung auf die Verteidi¬ gung wäre gleichbedeutend mit dem Verlust des Krieges gewesen. Wollten wir uns auf den vorgeschobenen Posten in Flandern und bei Montdidier behaupten, dann mußten wir die Initiative weiter¬ hin wahren, der Angriff mußte fortgesetzt werden. Eine Verständi¬ gung mit dem Gegner war schon vor der ersten Offensive ausge¬ schlossen gewesen, sie war es nach dem Scheitern des Durchbruchs erst recht. Die Zeit drängte, die amerikanischen Divisionen waren in Sicht. Ernste Bedenken standen dem Entschluß zur Fortsetzung der Offensive gewiß entgegen. Aber es galt, sie mit frischem Mut zu überwinden und nicht das Gesetz vom Gegner zu nehmen." (II, S. 351/52.) Die O.H.L. entschloß sich zur Fortsetzung der Offensive. Bei der Ausschau nach einem schwachen Punkte in der weitgestreckten Front des Gegners glaubte man einen solchen in der Gegend von Soissons am. „Chemin des Dames" zu finden. Gegen diesen sollte Ende Mai ein Ablenkungsangriff und sodann in Flandern ein gro¬ ßer Schlag gegen die Engländer geführt werden. Schon am 19. April hatten Besprechungen darüber im Großen Hauptquartier stattgefunden. Die O.H.L. bestimmte am 29. April als Zeitpunkt des Angriffs am Chemin des Dames den 20. Mai. Durch den Angriff auf den Chemin des Dames sollte die Einheitsfront der Entente vor der Heeres¬ gruppe Kronprinz Rupprecht aufgelockert und damit die Möglich¬ keit für eine erfolgreiche Wetterführung der Offensive gegen die Eng¬ länder im Norden geschaffen werden. Auch Generalfeldmarschall v. Hindenburg maß diesem Angriff gegen die Engländer kriegsent¬ scheidende Bedeutung bei. „Gelangten wir an die Küste des Kanals, so berührten wir die Lebensadern Englands unmittelbar. Wir kamen nicht nur in die denkbar günstigste Lage zur Bekämpfung seiner See-