105 An Joseph Türck Linz, 28. Juni 1646 Lieber, teurer Freund! So viele Freunde versprachen mir bei meiner Abreise Briefe, und kein einzig er hat Wort gehalten. Von Dir habe ich eini ge Zeilen erhalten, die ich beantworten wollte, aber anfänglich nicht dazu kam und dann wartete, bis ich überhaupt mehr zu schreiben hatte - allein ich habe nichts zu schreiben; denn hier geschieht nichts von Belang, als daß sich die Natur mit uner meßlichem Schmuck und, Gott sei Dank, auch mit unermeß lichem Erntesegen beladet; aber wer schaut jetzt aus die Natur; ich selber kann sie nicht genießen, wie sie es ihrer heurigen be sonderen Schönheit wegen verdient; meine Gedanken sind aus schließlich (ich kann fast mit gutem Gewissen sagen ausschließ - lich) in Wien, in meinem geliebten teuren Wien, das meine zweite Heimat geworden ist; meine Gedanken sind dort und meine Besorgnisse auch. Alle Wiener sind mir lieb und teuer, und ich möchte, daß es ihnen wohl ginge und daß die schwere Zeit nach und nach (aber bald) in eine leichte überginge. Wir sehen die Dinge wohl nicht so ganz richtig in der Entfernung, aber daß Wien leidet, das wissen wir doch, und das tut jedem Wiener wehe, er mag wo immer sein. Ich bin nicht genug un terrichtet, um darüber urteilen zu können, ob alles Geschehene notwendiges Geburtswehe war, oder ob manches,ohne der guten Sache zu schaden, hätte unterbleiben können. Ist Erstes, so muß ich doch meine Landsleute bedauern, daß sie unter die Notwendigkeit fallen, ist das Zweite, so bedaure ich sie noch