Oer Deutsche Krieg
politische Flugschriften
Herausgegeben von
Ernst Zäckh
Neunundzwanzigstes Aest
Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart und Berlin 1915
Dieser Krieg
und das Christentum
Von
E>. Martin Rade
Professor der Theologie in Marburg
Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart und Berlin 1915
Qk\iefc Schrift ist für die nicht geschrieben, welche jetzt keine
Probleme kennen. Es erwächst ihnen daraus kein Vor-
wurf, sofern sie Menschen der Tat sind und alle ihre Kräfte im
Dienste des Krieges verzehren, ja auch dann nicht, wenn das Er-
lebnis des Krieges ihre Seele mit dem einfachen einzigen Ge-
danken erfüllt, daß wir siegen müssen. Aber wir wären nicht das
Volk, das wir sind, wenn das Nachdenken dem Erleben und Tun
nicht treulich zur Seite ginge. And das gilt nicht nur von den
Tausenden, die daheim nachgerade dafür Zeit und Ruhe genug
behalten — dank unsern Tapferen, die den Krieg von unsern
Grenzen bannen. Nein, das gilt gerade auch von denen in der
Front: sie sinnen und grübeln genug in den Schützengräben, ja
bis mitten ins Schlachtgetümmel hinein.
Die Schrift ist aber nötiger fast als für uns Deutsche für
die Neutralen draußen und für unsere Feinde. Zwar von den
„Feinden" wird sie wohl jetzt keiner lesen. Obgleich ich mir einige
Männer in Frankreich und in England doch als Leser denke und
wünsche. Aber die Neutralen werden danach greifen. Denn sie
vor mindern sind jetzt gequält durch das Problem „Krieg und
Christentum". Ich meine nicht die Bürger der Staaten, welche
aus Politik noch zufällig neutral sind, sondern der Staaten, die
grundsätzlich völkerrechtlich neutral sind. Sie sind gewohnt, ihre
Neutralität nicht nur als eine sehr nützliche Errungenschaft ihres
Volkes und Staatswesens, sondern auch als einen Triumph der
Humanität anzusehen. Sie sind in Versuchung, sich und ihre
neutralen Genossen darum für bessere Christen zu halten, weil sie
zur Fahne der Neutralität schwören, und Neutralität und
Humanität, Pazifismus und Christentum als ein und dasselbe zu
behandeln. Auch ich habe früher ähnlich vom Neutralitätsprinzip
gedacht. Aber ich gestehe, daß ich darin wankend geworden bin.
Wo ein Staat wie die Schweiz durch Geschichte und Struktur
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auf Neutralität angewiesen ist, auch ehrlich daraus hält, als aus
die Wurzel und Macht seines Daseins, da ist gar nichts dawider
zu sagen. Wo aber kleine Staaten trotz ihrer Ohnmacht Welt-
politik treiben und sich dann wundern, daß sie auch in die Welt-
händel hineingezogen werden mit allen Konsequenzen, möchten
dann in den sicheren Winkel ihrer „Neutralität" sich zurückziehen,
sobald es ihnen gefällt, und sich weiter darin wohl sein lassen,
während draußen die Weltstaaten sich mit Leib und Seele an-
einander messen, da fragt sich, ob wir diese Art Neutralität als
etwas moralisch Gesundes anerkennen können. Insbesondere fragt
sich für uns deutsche Christen, ob wir ihnen das Richteramt zu-
gestehen dürfen, das sie über unser Christentum in Anspruch
nehmen.
Ich werde dennoch keine „Verteidigung" schreiben. Ich bin
auch aus meinem theologischen Gebiet ein abgesagter Feind aller
Apologetik. Was taugt, setzt sich ohne Advokaten durch. Aber
mit nachzudenken über die Sache, dazu bin ich bereit. Wie steht
es um das Christentum diesem großen, diesem ungeheuren Kriege
gegenüber? Wie steht es um unser deutsches Christentum?
So fragen Anzählige, und Andre, die nicht fragen, haben
um so mehr ihre Meinung darüber. Ich gehe der Frage nach
als einer Lebensfrage für unser Volk und seine Zukunft.
* *
*
Eines scheint klar, es liegt vor aller Augen: eine Christen-
heit gibt es heute nicht mehr.
Oder doch?
Anfang September sagte ich ein offenes Wort über den
„Bankerott der Christenheit".^ Der Artikel ist viel beachtet
worden. Manche -fanden ihn abscheulich. Andere meinten, da
hat doch endlich einmal „ein ehrlicher Gottesmann" die Wahrheit
geredet?) Mir war am merkwürdigsten die Erwiderung, daß
eine Christenheit bisher noch niemals existiert habe außer in der
Phantasie des Theologen?)
Gerade das letzte ist falsch. Der Theologe ist es nicht, der
in der Vorstellung einer einigen Christenheit aus Erden lebt.
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1) „Die Christliche Wett", Nr. 38.
2) „Das Forum", Lest 7.
3) „Straßburger Post" vom 19. Oktober.
Ihm ist die Zerklüftung der Konfessionen und Kirchen, die er
besser kennt und stärker spürt als Andere, viel zu wesentlich. Er
rettet sich mit seinem Bedürfnis nach Einheit und Einigkeit in
die unsichtbare Kirche hinein, in die Gemeinschaft der wahr-
haftigen Christen aus allen Kirchen und Völkern, die Gott allein
kennt, die ohne äußere Verbindung und Verfassung eine große
Bruderschaft bilden, mächtig und kräftig und tätig ohne Unterlaß.
Nicht der Theologe, aber der Historiker, der Gebildete, der
Kaufmann, der Reisende rechnete bewußt und unbewußt mit dem
Bestände einer Christenheit auf Erden. Auch der Politiker. Es
genügt, an das Wort unseres Kaisers zu erinnern: „Völker
Europas, wahret eure heiligsten Güter!" Darin war und ist die
Überzeugung ausgesprochen, daß die christlichen Völker Europas
gegenüber den Völkern Asiens mit ihren andern Religionen ge-
wisse Geistesschätze und Errungenschaften zu hüten haben, die
eben ihnen gemeinsam sind. Anwillkürlich war bis auf diesen
Krieg immer wieder die Rede in schweren Geschichtswerken und
leichten Zeitungsartikeln von den „christlichen Völkern", von der
„christlichen Kulturwelt", von der besonderen Tüchtigkeit dieser
Völker, ihrem unvergleichlichen Beruf, ihrer selbstverständlichen
Interessengemeinschaft.
Wie sehr diese Ansicht uns geläufig war und ist, beweist
nichts mehr als unser Zorn darüber, daß Rußland, Frankreich
und England sich nicht gescheut haben, wilde heidnische Truppen
gegen uns ins Feld zu führen; daß Japan als vollwertiger Bundes-
genosse mit auf den Schauplatz gerufen wurde; daß der Krieg
auch in Afrika eröffnet wurde durch Weiße als ein Krieg von
Schwarzen gegen Weiße.
Das schien uns unverzeihlich — und der Historiker der Zu-
kunft wird es vielleicht noch weniger verzeihen als wir selbst,
wenn er den Völkern angehört, die es zu verantworten haben.
Die schwerste Schuld messen wir dabei England zu, weil uns
außer der Solidarität der christlichen Völker auch noch eine engere
der protestantischen vorschwebte! Wie oft ist in Schriften des
Evangelischen Bundes oder sonst in der konfessionellen Literatur
auf das kulturelle und politische Übergewicht des europäisch-nord-
amerikanischen Protestantismus in der heutigen Weltgeschichte
hingewiesen, wie oft ist die sichere Zukunft dieser Staatengruppe
triumphierend nachgewiesen worden! And nun?
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Muß man da nicht von einem Bankerott der Christenheit
reden? Vielleicht sogar von einem Bankerott der sittlichen Mensch-
heit? Der Humanität? Aber die war ja niemals in dem Maße
schon konsolidiert, wie innerlich die Christenheit. Einst im Mittel-
alter war das Gefühl der Zusammengehörigkeit der christlichen
Völker schon tief eingewurzelt. Das heilige römische Reich unter
Kaiser und Papst war die civitas Dei, das Reich Gottes auf Erden.
Reformation und Religionskriege haben die Zusammengehörigkeit
gelockert, aber im Völkerrecht der christlichen Nationen hat sich eine
neue, bessere Organisation angebahnt, die eine weitausschauende
Perspektive friedlicher Eroberung für sich in Anspruch nahm.
Von eben diesem Völkerrecht aber kann man heute ganz
gebildete Menschen sagen hören, daß es nicht mehr sei. Dann
hat jedenfalls etwas Bankerott gemacht, und es bleibt nur über
die Frage zu verhandeln, was das sei.
Man beruhige sich doch nicht dabei, daß Krieg immer war;
daß Krieg und Christenheit nun zwei Jahrtausende fast zusammen
bestanden hätten; daß es niemals eine Christenheit gegeben habe,
wenn sie durch den Krieg ausgeschlossen sei. Nicht jeder Krieg
hob die Solidarität der christlichen Nationen auf. Aber gewisse
Kriege haben freilich für sie eine Katastrophe bedeutet, von der
sie sich schwer erholt hat. Man bedenke nun, daß frühere Kriege
nur selten Völkerkriege waren wie der, den wir jetzt erleben.
Solange es nur Kriegerkasten oder Söldnerheere waren, die sich
bekämpften, solange es Fürsten und Regierungen waren, die Krieg
und Frieden machten, mochte die Bevölkerung der betroffenen
Staaten durch Waffenerfolge oder akute Not noch so sehr in
Mitleidenschaft gezogen sein: die Kriege waren viel weniger wie
heute der Völker Tat. Die allgemeine Wehrpflicht hat uns das
Volk in Waffen erst gebracht als etwas Neues in der Geschichte;
die sittliche Konsequenz der allgemeinen Wehrpflicht wäre von
Rechts wegen der Friede zwischen den für ihre Existenz sich selbst
einsetzenden Völkern; zerbricht aber der Friede zwischen Völkern der
allgemeinen Wehrpflicht, so ist der Riß, der Abgrund, der sich
zwischen ihnen auftut, ungeheuer viel größer als die Trennung
zwischen den kriegbeteiligten Völkern früherer Kriege. Dies gilt
von diesem Kriege, trotzdem England die allgemeine Wehrpflicht
noch nicht hat; eben dies englische Privilegium, das wirkt heute
auf uns fast wie ein survival, wie ein Anachronismus.
Nein, der Riß ist ungeheuer, und es fällt schwer, sich einen
Friedensschluß vorzustellen, der die Zauberkraft hat, ihn zu schließen.
Nun sprechen Andere von einem Bankerott des Internationalis-
mus oder des Pazifismus oder der sittlichen Menschheit, wohl
auch der Sozialdemokratie. Wir sind gewohnt, die religions-
geschichtliche Seite der Dinge zu sehen, und darum reden wir
von einem Bankerott der Christenheit. Nicht daß wir ihn ver-
künden, sondern daß wir uns darüber unsere Gedanken machen.
Wollten aber wir Deutschen, oder wir Europäer, auf eine
solche Fragestellung verzichten, so werden Andere dieselbe Frage
um so sicherer auswerfen. Die Völker Ostasiens mit ihrem Kon-
fuzianismus, Schintoismus, Buddhismus und Hinduismus, die
Völker des Islam, die Negervölker Afrikas. Ihnen allen ist der
Begriff einer Solidarität der weißen Raffe, der europäischen
Kultur, der christlichen Staaten mehr oder minder geläufig. Ein
die Erde umspannendes Missionswerk, von eifrigen Predigern
und Erziehern getrieben, hat sie das Christentum als eine drängende
und bohrende Geistesmacht spüren lassen; es wurde ihnen und
ihrem heimischen Glauben oft unbequem genug. Das Bündnis
d nun, in das England, Rußland und Frankreich Japan aufnahmen
und das in dem Fall von Deutsch-Tsingtau seinen weithin ver-
nehmbaren Erfolg hatte; die Kämpfe im Innern Afrikas, wo
christliche und heidnische Schwarze von Weißen gegen Weiße ge-
führt, christliche weiße Frauen heidnischen Negern in Gewahrsam
gegeben wurden; das Aufstehen dann des Islam im Bunde mit
Deutschland und Österreich gegen die Engländer in Ägypten, die doch
ohne Zweifel dort christliche Kulturarbeit getrieben haben, usw. —
das alles kann nur diesen ersten, gewaltigsten, unberechenbar
tiefsten Eindruck auf die Bekenner der Fremdreligionen in der
Welt machen: daß es aus ist mit der Einigkeit der christlichen
Völker, mit der Solidarität des christlichen Kulturkreises.
Für immer? And welche Heilmittel gibt es für diesen Schaden?
Oder liegt am Ende nicht so viel an dem Verluste? Ist gar ein
Fortschritt da? Eine Illusion, eine Leuchelei weniger? Eine
reinere Durchführung des politischen Gedankens?
Die Beantwortung dieser Fragen sei einstweilen dem Leser
überlassen. Wir wenden uns zunächst anderen Seiten der Sache zu.
*
9
Die Solidarität der christlichen Interessen ist schon seit Iahr-
hunderten gekreuzt, gefährdet und geschädigt worden durch die
konfessionellen Spaltungen. Es wäre möglich, daß die konfessio-
nellen Gegensätze auch an diesem Kriege verursachend oder fördernd
Anteil hätten.
In südschweizerischen Blättern las man, daß die Deutschen
ihre protestantischen Regimenter gegen Belgien und Frankreich,
die katholischen gegen Rußland geschickt hätten. Schlecht erfundenl
Ansere Leeresleitung kennt sowenig wie unser Leer — abgesehen
von der Militärseelsorge — konfessionelle Anterschiede innerhalb
unserer Truppen. And die Gruppierung der feindlichen Mächte
hat sich so unkonfessionell wie möglich vollzogen: das „katholische"
Österreich mit dem „protestantischen" Deutschland steht wider das
„katholische" Frankreich, das „protestantische" England und das
„orthodoxe" Rußland. Am härtesten ist der Katholizismus zer-
rissen: die innigen kirchlichen Beziehungen, die zwischen unserem
Rhein und Belgien-Frankreich bestanden, haben naturgemäß unter
dem nationalen Zusammenstoß schwer gelitten, dafür haben unsere
deutschen Katholiken die hohe Genugtuung, daß Österreich wieder
mit uns eins geworden ist. In Belgien macht man für die
deutsche Invasion den Protestantismus verantwortlich; in der
Schweiz ist die deutsch (und österreich-) freundlichste Presse die
katholische. — Wenn aber der Protestantismus seinerseits die
Zertrennung England gegenüber beklagt, so verweilt der Kirchen-
historiker bei der Tatsache, daß es um den Protestantismus der
englischen Staatskirche immer eine zweifelhafte Sache gewesen ist.
Puritanismus und Dissentertum haben ja das protestantische Ele-
ment (No popery!) immer wieder gerettet. Aber sollte nicht die
Geschwindigkeit, mit der eine gewalttätige Presse dem britischen
Leser ungewohnte Sympathien mit den Russen beigebracht hat,
dadurch erleichtert worden sein, daß die englische Staatskirche
immer eine große Sehnsucht nach Fühlung mit der orthodoxen
Kirche Rußlands gehabt hat? Oft genug haben Kongresse statt-
gefunden, die der Einigkeit beider Kirchen galten;^ zuletzt, wenn
wir uns recht erinnern, sind die Vertreter der anglikanischen und
russischen Kirche auf dem internationalen Altkatholikenkongreß in
y Vgl. Krüger, Die neueren Bemühungen um die Wiedervereini-
gung der christlichen Kirchen. Leipzig 1897. S. 12 ff.
Bonn, September 1913, zusammengewesen.x) Gerade die hoch-
kirchlichen Kreise Englands fühlen sich dem protestantischen Christen-
tum der Deutschen ohne Zweifel viel weniger verwandt als dem
altkirchlichen, bischöflichen, kultischen und orthodoxen Christentum
der Russen.
Wichtiger ist ein anderes konfessionelles Moment. Weshalb
ist dieser Krieg im russischen Volke so populär? Er wäre es nicht
ohne die Sympathie der niederen Geistlichkeit. Er wäre es nicht
ohne die Mitwirkung konfessioneller Leidenschaft. Mag die In-
telligenz sich in den Gedanken verrannt haben, daß das „reaktionäre
Preußen" schließlich an der Niederhaltung des Fortschritts zur
bürgerlichen Freiheit im Zarenreich schuld sei, und aus diesem
Grunde zum Kriege stehn: das Volk trägt innerhalb seiner religiösen
Instinkte das Mißtrauen und den Äaß gegen das katholische
Österreich. Aralte kirchlich-völkische Gegensätze wirken mit und
wollen ausgetragen sein: Äie Byzanz, hie Rom! Wie rasch
haben die Russen unter den Ruthenen Galiziens Fuß gefaßt, die
zwar „griechisch-katholisch", d. h. mit der römisch-katholischen Kirche
uniert waren; wie energisch haben sie bteje Anion rückgängig ge-
macht, wohin sie kamen, und ihr russisches „griechisch-orientalisches"
Christentum eingeführt! Symbol dieser konfessionellen Energie die
schleunige Verhaftung und Wegführung des griechisch-katholischen,
also unierten Erzbischofs und Metropoliten von Lemberg, Or. Josef
Szeptycki.* 2)
Kurz, wenn wir in diesem Völkerzusammenstoß irgendwo einen
versteckten oder offenbaren „Religionskrieg" haben, so ist es
zwischen Rußland und Österreich.
Dem „heiligen Kriege" der Türken und ihrer mohammedani-
schen Gefolgschaft wird der gleiche Charakter dadurch stark ge-
nommen, daß sie unter dem Schutze christlicher Staaten in den
Kampf eingetreten sind. And das Vorgehen Japans würde man
falsch einschätzen, wenn man irgend religiöse Motive mit in An-
rechnung bringen wollte. Im Gegenteil, diese geben ja geradezu
1) „Die Christliche Wett" 1913, Nr. 40.
2) Reiseeindrücke aus Österreich-Angarn erzählte Traub in seiner
„Christlichen Freiheit" und schrieb da in Nr. 48 vom 29. November: „Ze
weiter nach Osten, desto mehr entscheidet nicht die Nation, sondern die
Religion." ... „Die römische Kirche ist hier im südlichen Mitteleuropa der
Ausdruck der deutschen Welt." Zn Galizien freilich kaum!
ein Musterbeispiel von religiöser Toleranz in diesen Zeiten I Was
wir ihnen aber doch auch wiederum gutschreiben wollen.
Damit dürfte alles erschöpft sein, was religions- und kon-
fessionsgeschichtlich zum Verständnis der heutigen Kriegsparteien
zu sagen ist. Wir wenden uns daher der uns viel wichtigeren
Frage zu, welche Rolle denn nun in diesenr Kriege das Christen-
tum bei den einzelnen Völkern spielt, und insbesondere bei
unserem deutschen Volke.
* *
*
Man kann schließlich streiten, ob es eine Christenheit gibt
und je gegeben hat. Aber darüber kann man nicht streiten, daß
es ein Christentum gibt. Als ein geistiges Besitztum un-
gezählter Einzelner.
Nun kam dieser Krieg. Was sagte dazu das Christentum
der Einzelnen? Was sagten dazu die Christen in Deutschland,
Frankreich, Rußland und England?
Ohne Zweifel reagierten sie sehr verschieden. Aber darin
zeigte sich die Verschiedenheit nicht, daß die einen als Christen für
ihr Volk, die anderen als Christen für dessen Feinde eingetreten
wären, sondern überall fühlten sie mit ihrem Christentum sich als
Glieder ihres Volks und beteten zu ihrem Gott für ihr Volk.
Es ist eine alte Spottrede: wenn nun die feindlichen Völker
und Leere ein jedes zu Gott beten, welches er denn erhören solle?
Ja auf dem Boden des Polytheismus, im Banne der ausge-
sprochenen Nationalreligionen, da war es die selbstverständlichste
Sache von der Welt, daß ein jedes Volk seinen Gott anrief.
Sein Gott führte es zum Siege, oder, wenn es unterlag, so stürzte
er mit von seinem Thron. Wir Christen kennen nur Einen Gott,
den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden. Wenn wir
beten „Vater unser", so meinen wir alle, Franzosen und Deutsche
und Engländer, einen und denselben. In welche Verlegenheit
muß er kommen, wenn nun Krieg ist und seine Menschenkinder
widereinander beten?
Ob er in Verlegenheit kommt, der ewige und allmächtige Gott,
das ist nun wohl seine Sache. Ganz natürlich aber und selbst-
verständlich ist es für den Frommen, daß er all seine Lerzens-
anliegen vor Gott bringt, so wie er empfindet und denkt. Wes
das Herz voll ist, des gehet der Mund über: das gilt und muß
4*
gellen auch vom Gebet. Nur wahrhaftig, ehrlich und persönlich!
Darum betet der Franzose, wie dem Franzosen ums Lerz ist,
und der Deutsche, wie dem Deutschen ums Lerz ist. Die beiden
sind widereinander, aber Gott hört sie beide.
So haben nun die christlichen Völker, die jetzt miteinander
Krieg führen, ein jedes auf seine Weise von seinem Christentum
Gebrauch gemacht. Unser Kaiser uns Deutschen voran. Niemand
sollte das rein und echt Persönliche in seinen religiösen Bekennt-
nissen und Losungen verkennen. So wenn er nach dem Unter-
gänge unseres Geschwaders bei den Falklandsinseln auf ein Bei-
leidstelegramm des Reichstagspräsidenten diesem erwidert (14. De-
zember) :
„... Mögen die schweren Opfer, die der uns aufge-
zwungene Existenzkampf der Gesamtheit wie jedem Einzelnen
auferlegt, getragen werden von der zuversichtlichen Loffnung,
daß Gott der Lerr, aus dessen gnädiger Land wir Glück
und Unglück, Freude und Schmerz in Demut empfangen,
auch die schwersten Wunden in einen Segen für Volk und
Vaterland verwandeln wird."
Nicht anders ist das bei unseren Feldherrn. So wenn
Lindenburg auf die Luldigung der Posener Schuljugend erwidert
(22. Dezember):
„... Mir gebührt aber nicht der Dank für die Erfolge,
die wir gegenüber den russischen Feinden errungen haben.
Ich habe nur den Namen dazu hergegeben. Der Dank
gebührt Gott dem Lerrn, der uns immer gnädiglich behütet
hat, der uns auch fernerhin behüten wird, denn er kann uns
nicht plötzlich von seiner Vaterhand loslassen... Ich sehe
getrost in die Zukunft. Gott der Lerr wird uns einen
ehrenvollen Frieden schenken."
Viele Ausländer, auch gute Christen, verstehen das nicht und
verdenken uns das. Aber es ist deutsch, lutherisch, und zumal in
der Volksschicht, der unser Kaiser und seine Feldherrn angehören,
durchaus natürlich. Wenn sich dann solche Klänge bis in die
offizielle Sprache hinein geltend machen, so mag das Fremden
ungewohnt sein, aber es entspricht in Deutschland unserer geistigen
Entwicklung.
Am wenigsten werden in die Versuchung, offiziell vom Lerr-
gott zu reden, die Franzosen kommen. Denn sie haben die Sepa-
13
ration, die Trennung von Staat und Kirche, als Staatseinrichtung.
And diesen Verzicht auf jede positive Förderung der Religions-
übung hat die französische Republik auch während des Krieges
durchgeführt, selbst in den Lazaretten. Religion blieb Privat-
sache; der einzelne Soldat, auch der verwundete, mochte sehen,
wie er zur Befriedigung seines religiösen Verlangens kam. x)
Dennoch, Frankreich ist ein Land mit allgemeiner Wehrpflicht.
Der Krieg also von vornherein, schon durch die Mobilisierung,
eine Erschütterung der ganzen Volksseele. So haben wir auch
aus Frankreich Zeugnisse, daß der Krieg eine starke religiös-sittliche
Wirkung im Volke hervorgebracht hat. Ein Professor der Theo-
logie aus der Schweiz, der vom 23. Juli bis 9. August in Paris
weilte, berichtet uns, was er da erlebt habe: Niemand wollte den
Krieg; man wußte nicht anders, als daß die Kriegspartei in
Deutschland ihn dem Lande aufzwinge; alle Parteien waren einig
gegenüber diesem Äberfall. „Die Haltung der Bevölkerung von
Paris war ganz anders als im Jahre 1870. Keine Begeisterung
für den Krieg, kein Geschrei auf den Straßen, sondern ein fester
Entschluß, zu siegen oder zu sterben. Alle Theater, Konzerte und
sonstigen Belustigungen wurden sofort zugeschlossen, und von
zehn Ahr abends an mußten auch alle Cafes schließen. Das habe
ich mit meinen Augen gesehen." Wie tief diese Wendung zum
heiligen Ernst ging, entzieht sich völlig unserem Arteil. Genug,
jeder fromme Franzose, Katholik oder Protestant, stellte die Kraft
seiner Frömmigkeit in den Dienst seines Vaterlandes.^) — Das
britische Volk konnte gleiches nicht erleben. Denn es hat die
allgemeine Wehrpflicht nicht. Auch waren viele Engländer zu-
nächst gegen einen Krieg mit Deutschland. Aber als die Re-
gierung diesen Krieg damit begründete, daß es gelte, Belgien zu
schützen und seine von Deutschland verletzte Neutralität, da war
gerade dem christlich-kirchlichen England dadurch eine Formel ge-
geben, die seine Zustimmung zu dieser Entschließung gewann. —
Von den Russen und ihrer konfessionellen Eingabe an diesen
0 Es gibt aber auch im französischen Leere HumSniers aller Kon-
fessionen. In welchem organischen Verhältnis sie zum Staat stehen, konnten
wir nicht feststellen.
2) Von dem Anschwellen katholischer Volksfrömmigkeit in Frankreich
berichtete Norbert Jacques in seinen Feuilletons in der „Frankfurter
4
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Krieg haben wir schon geredet; tieferen Einblick in das, was in
der russischen Volksseele vorging und vorgeht, hat man nicht.
Aber der russische Soldat hat jedenfalls durch das, was man
von ihm hörte, je länger je mehr gewonnen. And die Durch-
führung des Alkoholverbots in Rußland ist eine gewaltige
Leistung.
And nun unser liebes deutsches Volk! Wie die Franzosen,
ist es ein Volk in Waffen. Aber anders wie dort sind Religion
und Kirche noch in unserem öffentlichen Leben verankert. So
haben wir denn in jenen ersten Tagen des Krieges ein Aufflammen
tiefer innerer Begeisterung erlebt, das gerade im Kirchgang seinen
stärksten Ausdruck fand. Eine „religiöse Wiedergeburt" also der
Volksseele.
Denn das Christentum als Lerzensreligion ist zwar eine
Sache der Einzelnen. And Temperament, Bildung, Charakter
und Lebensumstände werden immer einen großen Anterschied
darin machen, wie die einzelnen Glieder eines Siebzig-Millionen-
Volks solch eine Wendung erleben. Es werden die Einen plötz-
lich, wie in Ekstase, aus dem alten Friedenszustande in den neuen
Kriegszustand hinüberwechseln, die Anderen stiller, unter Schmerzen,
allmählich, aber darum wahrhaftig nicht oberflächlicher in das
Neue sich einleben. Stürmisch wurden die Massen, die in den
großen Städten wohnen, hineingeriffen in den rasenden Strom
der Ereignisse! Wie anders kam das Schicksal zu den abseits
von der Äeerstraße gelegenen Landbewohnern! Dort tat sich das
Wunder der Mobilisierung auf: Tausende und Abertausende
strömten zusammen, wurden im Nu zu ebenso festen wie beweg-
lichen Einheiten verbunden und fuhren fröhlich ernst in endlosen
Zügen dem Schauplatz der Entscheidungen zu. Lier lebte man
nur mehr von Nachrichten oder doch von Bruchstücken bloß des
ungeheueren Geschehens, mußte mit dem Spionen- und Autospuk
sürlieb nehmen. Äberall doch zog der Sohn, der Gatte, der Vater, der
Bruder ins Feld; kaum hatte er Zeit, Abschied zu nehmen; manche
Familie stellte alle ihre Söhne, stellte ein halbes Dutzend Männer
oder mehr. Von Anderen wurde solch ein direktes persönliches Opfer
nicht gefordert; das ersparte Schmerzen, ließ aber auch ärmer an
wirklichem Miterleben. Ganz unangefaßt blieb doch niemand, und
wer keinen Sohn zu stellen hatte, verlor an den Krieg sein Pferd
und seinen Knecht. In alledem vollzog sich ein gemeinsames Er-
leiden und Tun, wie schlechthin nichts es so in einem Volke zu-
stande bringt außer dem Krieg. Laßt mitten in Deutschland heute
einen Vulkan aufbrechen und meilenweit das Land mit Feuer und
Asche zudecken, es wirkt nicht dieselbe, alle Gemüter auf den
Grund durchdringende sittliche Erfahrung wie der Krieg.
Was ist da der Einzelne? Ein Staatenvolk sind wir, zu-
sammengeschweißt durch Institutionen und Organisationen, die
zwar lebendige Seelen, sich selber regierende Glieder überall voraus-
setzen, aber mit einem ungeheuren Bann des freien Gehorsams
alles zu einem Ganzen schmieden. Auch die Nation, die Natio-
nalität, ist es nicht, die solche Einheit schafft. Die Nation mag
als natürlicher Kern des Staatenvolkes noch so wichtig sein,
genau bis an die Grenzen des Reichs geht doch die Wirkung des
alle zusammenfassenden Krieges, reißt auch Polen und Dänen
und Franzosen mit: unter dem Zeichen der allgemeinen Wehr-
pflicht uud obendrein eines ausgedehnten Systems der Pflichten
und Rechte eben in diesem Staat. Man hat es am wunder-
barsten in Österreich und in Angarn gesehen, jenen vom Natio-
nalitätenstreit scheinbar unheilbar erschütterten Gebilden: blank
und tadellos stand das Staatenvolk auch da auf dem Platze, als
die Kriegstrompete rief. And kurzum, alle Vereinzelung der Per-
sonen, alle Entzweiung und Befehdung der Parteien und Stände
war mit einem Male aufgehoben in dem gemeinsamen, allgemeinen
Willen zum Staat.
And wo das Individuum so zur Gemeinschaft steht, das In-
dividuum in der Gemeinschaft verschwindet, da sollte nicht auch
das Christentum sich von seinem individuellen zu seinem sozialen
Charakter erheben? Nicht nur der Einzelne, sondern das Volk
sucht in solchen Augenblicken seinen Gott. And wo die Religion
als Kirche, als Volkskirche inzwischen ihre Schuldigkeit getan hat,
oft ohne Dank, unter Geringschätzung und Ablehnung, dennoch
treu in Predigt, Anterricht und persönlichem Dienst, da erntet
mit einem Male das Volk, was sie gesäet hat. Eben hatten wir,
wenigstens in den Großstädten, die Austrittsbewegung: wo war
die hin? Eben meinten noch besorgte Diener der Kirche, sie
arbeiteten vergeblich: da brach aus tausend Quellen der alte Gottes-
glaube. Es war das — über den Konfessionsunterschied hinweg —
einige Volk, das da glaubte, zur Kirche ging, das heilige Abend-
mahl feierte, mit Chorälen und Psalmen, wo die Eile es ge-
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stattete, die ins Feld gerufenen Söhne auf den Weg segnete und
mit Chorälen und Gebeten, als sie davongegangen waren, sich
selber tröstete. Der Einzelglaube war Volksglaube geworden, und
der Volksglaube mochte nun wieder, wo und wie immer es not tat,
Einzelglaube werden.
Was damals als „religiöse Wiedergeburt" über unser Volk
gekommen ist, verträgt natürlich, wie alles innere Geschehen, das
nach außen tritt, auch eine skeptische Beurteilung. Massen-
suggestion! Wie lange wird die Flamme leuchten und wärmen??
Schon brennt sie niedriger I I And wer zu überschwengliche Er-
wartungen hineingeschaut hat in das, was damals in der
Volksseele vorging, der mag rasch enttäuscht worden sein oder
solcher Enttäuschung noch entgegengehen. Kein Zweifel auch, daß
gerade unsere Gebildetsten nicht einmal bei solchem Anlaß aus
ihrer individualistischen Frömmigkeit herausgekommen sind. Wenn
man es Frömmigkeit nennen darf, was sie bewegte und in seiner
Art gewiß echt genug war: aber wie viele von ihnen sind in
der Sphäre des bloß National-Ethischen hängengeblieben! Nicht
so das Volk als Ganzes; und wo die Kirche als Volkskirche
lebt, da dient sie dem Volke in solcher Zeit mit doppelter Treue
und empfängt den Dank, daß das Volk merkt, was es an ihr
hat. Sie segnet und wird gesegnet. Sie erhält unter den
schwersten Schickungen das Volk jung und stark und wird selber
jung über dem Dienst, den sie so dem Volke tun darf.
Diese Kirche geht auch dem deutschen Soldaten nach ins
Feld. Zn Gestalt des Feldpredigers, des dankbar begrüßten
und nur zu oft vermißten. Zn allerlei Druckwerk, das die fromme
Vaterlandsliebe rasch hervorbringt. Blättern und Büchlein der
mannigfachsten Art. Pfarrer werden nicht müde, Briefe zu
schreiben an die Männer ihrer Gemeinde, die draußen stehen,
gründen Wochenblätter für die draußen und die daheim, es
schlingt sich ein Band um die Gemeinde wie noch nie. And sind
es denn nur die Pfarrer, die diesen Strom religiösen Bekennens
und innerer Stärkung an die Front leiten? Angezählte Laien
haben sich aus ihr Christentum besonnen und finden das rechte
Wort. And das Echo kommt zurück. Draußen entdecken auf
furchtbaren Märschen, in Schützengräben, in Schlacht und Sturm
unsere Krieger ihren Glauben, spüren ihren Gott. And in er-
greifenden Feldbriefen, schlicht und echt, zuweilen wunderbar tief,
Rade, Dieser Krieg und das Christentum 2 17
predigen sie wiederum den Ihren daheim Geduld, Trost, Ver-
trauen, Tapferkeit. Es ist ein Dienst Aller an Allen, wie sonst
nie, ein Lautwerden gerade des Laienchristentums, wie wir es
in Friedenszeiten vergeblich ersehnt haben. And was zart und
verborgen im Lerzen gewachsen ist, es kommt zutage, es geht
von Land zu Land, es steht als erwünschter „Feldbrief" in der
Zeitung und hilft dieser zu einem religiösen Wert, auf den sie
sonst nur zu gerne verzichtet hat.
Es ist schwer zu denken, daß unsere Feinde diesem frommen
Seelenverkehr, den der Krieg uns gebracht hat, gleiches an die
Seite zu setzen haben. Vielleicht unterrichtet uns ein neutraler
Beobachter einmal darüber. Den Engländern muß die religiöse
Versorgung ihres Leeres nach ihrer ganzen Art liegen; wir haben
ja von ihren Methoden viel gelernt, nur daß sich unsere besten
Weisen jetzt ganz von selber gefunden haben. Bei Franzosen
und Russen ist ein gleicher frommer Betrieb ausgeschlossen,
mögen einzelne Gruppen auch um so Größeres darin leisten.
Was man vom Inhalt französischer Tornister hört, ist sehr un-
erfreulich.
Was aber ist der Gehalt der Religion, die nun so unter
der Wirkung des Krieges daheim und im Felde bei uns lebendig
geworden ist? Sieht man einen Augenblick ab von der kirchlichen
Religion, von den Pastoren, so wird man sagen dürfen, daß
alle Erscheinungsformen von Frömmigkeit, die aus der Religions-
geschichte uns vertraut sind, hier in der Volksseele uns wieder
begegnen. Naive, primitive Vorstellungen, Aberglaube, egoistischer
Gebetsmaterialismus. Aber wie sehr tritt das zurück unter dem
furchtbaren Ernst der Lage, die nichts Anwahrhaftiges duldet,
und dank der Erziehung und Bildung unseres Volkes. Gewiß,
viele Soldaten haben ihre Limmelsbriefe in der Tasche oder
andere Amulette, die halb die Liebe, halb der Aberglaube ihnen
mit auf den Weg gab. Aber wer verläßt sich daraus? Wer
beruft sich daraus in seinen Trostbriefen? Wer wundert sich
darüber, wenn's nicht hilft? Rein, es ist gute alt- und neu-
testamentliche Gottesfurcht, gutes alt- und neutestamentliches Gott-
vertrauen, was in dieser Laienfrömmigkeit und Laienpredigt
triumphiert. — And die Pfarrer? Schwarz nach außen, sind wir
ja nach innen eine gar bunte Schar. Aber nach dem, was man
liest und erfährt, leisten sie, was sie der großen Stunde schuldig
sind. Sie dienen der Nation, indem sie ihr auch in den Krieg
die Fahne Jesu Christi vorantragen.
Aber ist das möglich?
Was hat Jesus Christus mit dem Kriege zu schaffen?
* *
*
Es ist ein Unterschied zwischen Religion und Moral.
Das Christentum ist beides, Religion und Moral im innigsten
Verein, bis zur Deckung oder, wie Vinet gesagt hat, bis zur
Verwechselung.
Wie aber reimt sich Krieg mit Moral? Ist er nicht die
reine Anmoral? And wie kann das Christentum, die Kirche, wie
können Pfarrer und Gemeinde mit dem Krieg sich abfinden,
sogar fich von ihm fördern lassen und ihn fördern? Denn wo-
durch kann der Krieg stärker gefördert werden als durch die Zu-
fuhr von Geist, Mut, Vertrauen, Opferfreudigkeit? Das aber
ist es doch, was unser deutsches Christentum den Soldaten
draußen und den Zurückgebliebenen daheim jetzt leistet, worin es
sich erprobt.
And Angezählte werden nicht müde zu bekennen: Es ist
eine große Zeit! And preisen sich allen Greueln und allem Blut-
vergießen zum Trotz glücklich, sie erleben zu dürfen.
Ehe wir auf den ethischen Konflikt, der hier vorliegt und
an dem das Christentum seinen vollen Anteil hat, eingehen, noch
einmal: es ist ein Anterschied zwischen Religion und Moral.
Religion ist nicht Moral.
Was im Kriege triumphiert, was da in Millionen Seelen
aufleuchtet als ein bisher noch nicht Erlebtes, nun aber wirklich
und wahrhaftig Erlebtes, was damit zugleich die Welt erleuchtet,
Heller als die Glut über den brennenden Dörfern und Städten,
das ist die Religion.
Eine furchtbare Erschütterung ist über die Menschen ge-
kommen. Keine Fiber, kein Nerv, die nicht mitzitterten. Alle
die kleinen täglichen Gedanken, alle die nächsten Ziele einer ruhigen
bürgerlichen Existenz, sie sind dahin. Geschäft, Vermögen, Ge-
sundheit, Familienglück, ja das eigene Leben stehen plötzlich in
Gefahr der Vernichtung. Der selbstverständliche Egoismus, in
dem die Masse dahinlebt, aufgehoben zugunsten großer Begriffe,
Werte, Güter, die gemeinhin außer jeder Berechnung lagen, die
19
man kaum ernstlich spürte und die nun jedes unerhörte Opfer
fordern: Staat, Volk, Vaterland. Unwiderstehlich kommt die
Forderung der Pflicht auch über den Geringsten; daß das Leben
der Güter höchstes nicht ist, spürt auch der Blödeste. And so
geht man einem furchtbaren Anbekannten draußen entgegen, und
dies Anbekannte ist in Wirklichkeit viel schlimmer, als es sich die
scheue Phantasie vorstellen konnte. Was ist da noch der Mensch,
der einzelne, mit seinen kleinen eitlen Wünschen und Ansprüchen?
„Absolutes Abhängigkeitsgefühl" erfaßt da den Menschen,
sin Bewußtsein seiner völligen Ohnmacht gegenüber seinem Ge-
schick. And dennoch kein dumpfes Verzweifeln, sondern die heilige
Ahnung, daß in dem großen Zusammenhang der Dinge ein Sinn
steckt! Daß die Räder der Maschine, die ihn zermalmen wollen,
von einem ewigen Willen regiert werden! Ein Vertrauen, daß
selbst durch Tod und Vernichtung Gott sein, Werk treibt und
schließlich alles zum rechten Ziele bringt! „Absolut abhängig" ja,
aber von dem, der die ewige Weisheit und Güte ist. Wenn der
das letzte Wort behält — und das wird er — dann sind wir
wohl aufgehoben. Von Ihm abhängig heißt selig sein.
Das ist christliche Religion, die unsere Melden hinaus-
begleitet und die auch unsere Sorgenden und Entbehrenden da-
heim zu Kelden und Heldinnen macht.
Unverzagt und ohne Grauen
Soll ein Christ, wo er ist.
Stets sich lassen schauen.
Wollt ihn auch der Tod aufreiben,
Soll der Mut
Dennoch gut
And fein stille bleiben.
Diese religiöse Stimmung hat das Lied „Ein feste Burg ist
unser Gott" heute zum deutschen Volksliede gemacht.
* *
*
And nun die Moral? Das Christentum ist doch auch
Moral? ist doch die Religion der Nächstenliebe? der Feindesliebe?
In jenem Heldentum, das wir eben zeichneten, steckt schon
viel Moral. And nicht nur Mut, Kraft, Tapferkeit, sondern
auch Liebe. „Größere Liebe hat niemand, denn daß er sein Leben
kästet für seine Freunde!" Wie oft ist dies Wort Ioh. 15, 13 in
diesem Kriege schon stark geworden in den Herzen derer, die dem
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Tode ins Auge schauten, und derer, die über die Toten trauerten.
Aber das ist freilich doch nur Freundesliebei Liebe zu Familie
und Volk, zu Laus und Los und Vaterland! Wo bleibt die auf
jeden „Andern" ausgedehnte christliche Nächstenliebe? Wo bleibt
die Feindesliebe?
Wir wollen uns über den Ernst der Frage nicht schnell hin-
wegsetzen durch den Linweis auf die Genfer Konvention und das
Note Kreuz. Aber Hinweisen darauf müssen wir doch! Ein Vor-
stoß christlicher Feindesliebe in das Lerz des nur den Schaden
des Feindes suchenden Krieges bleibt diese Errungenschaft doch!
Das Peinliche dabei, was die jüngste Erfahrung eben des jetzigen
Krieges gebracht hat, ist die Tatsache, daß wir seit 1864 so wenig
weiter gekommen sind. Fortschritte der Technik, auch der Organi-
sation, gewiß in Menge. Aber wo bleibt die weitere Ausdehnung
des Prinzips? Zurückgegangen ist seine Anwendung hier und
da! Wohl, das sei Anvollkommenheit der Ausführung, Sünde
und Schuld der Einzelmenschen, die im gegebenen Falle versagen.
Aber die Ausdehnung des Prinzips, die Erweiterung der Grund-
sätze, wo ist sie geblieben? Die Ethisierung des Krieges? Im
Laag war der gewiesene Ort dafür, es hat ja da auch an Ver-
suchen nicht gefehlt. Aber nicht einmal die Ausschaltung der Zivil-
bevölkerung aus der gegenseitigen Bekämpfung der regulären
Armeen ist gelungen. Man hat Paragraphen aufgestellt, welche
im Gegenteil die Beteiligung des nicht ins Leer eingereihten
Staatsbürgers an der Verteidigung seines Vaterlandes ordnen,
völkerrechtlich eingliedern sollten. Ein richtiges Gefühl machte
sich darin geltend: man wollte eine Art Menschenrecht dem nicht
uniformierten Menschen vindizieren; das gesteigerte Nationalgefühl,
die größere politische Mündigkeit der Masse schienen ein solches
Zugeständnis zu fordern. Der Versuch ist jämmerlich gescheitert.
Als die belgische Bevölkerung dem deutschen Überfall sich entgegen-
warf, wo war da.auch nur die Spur einer Kenntnis und Be-
folgung der Laager Akte von 1907, Artikel 1 und 2?1) Mindestens
dort, wo man, räumlich dem Laag nahe genug, diesen Widerstand
der Zivilbevölkerung von oben her angeordnet und organisiert
0 Bei den Belgiern zunächst! Die Artikel sind auch unsern Gebildetsten
zumeist unbekannt. Unsere Zeitungen haben nicht gewagt, sie hervorzuholen
in einer Zeit, wo sie der Menschheit einen Dienst damit getan hätten. Sie
sind abgedruckt in der „Christlichen Welt" 1914, Nr. 37.
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hatte? Vielleicht ist es ganz undurchführbar, die Teilnahme der
Zivilbevölkerung am Kampfe, und wäre es an der Verteidigung
des eigenen Lerdes, irgendwie in den Krieg einzuordnen, wie man
am grünen Tische im Laag versucht hat! Man darf sagen, der
Weg, den die Laager Akte von 1907 beschritten hat, ist ein
falscher gewesen. Das Prinzip der Nichteinmischung des zivilen
Elements in den Kampf der Leere ist das einzig Durchführbare.
Man kann da weder einer praktischen Vaterlandsliebe noch einem
gesteigerten staatsbürgerlichen Bewußtsein Zugeständnisse machen.
And gerade unsere deutschen Truppen wären recht eigentlich dazu
prädestiniert gewesen, als organisierte Leeresmasse ein feindliches
Land zu durchziehen und zu besetzen unter sorgsamster Schonung
der einheimischen zivilen Bevölkerung.
Nur schade freilich, daß die moderne Kriegführung an sich
so viel gründlicher und grausamer geworden ist, daß einfach das
Erleidenmüssen der Kämpfe (als Kriegsschauplatz) unvergleichlich
mehr Schrecken und Jammer über ein Land bringt als in früheren
Zeiten. Was bedeutet Lerz und Gewissen des einzelnen Soldaten
und Feldherrn für die betroffene Bevölkerung einer Landschaft,
wenn die Lölle einer heutigen Schlacht über sie hereinbricht oder
einer monatelangen Amarmung, wie wir sie jetzt von Belfort bis
Ostende erleben? Wo bleibt da noch Raum für Schonung der
Nichtkombattanten? Ultra posse nemo obligatur — wo das
Können aufhört, da gibt es auch keine Pflicht mehr. Das ist's,
was dann noch übrig bleibt von unserer ganzen „christlichen" Ethik!
Aber die Dinge liegen noch ernster. Nach dem Satz, zu dem
auch Lindenburg in seinem Gespräch vom 20. Novembers sich
bekannt hat, daß man den Krieg nicht nachdrücklich genug führen
könne, weil dies das einzige Mittel sei, seine Dauer abzukürzen?
Man tötet durch die Bomben, die der Flieger aus dem Luftschiff
wirft, ein paar Dutzend Menschen und rettet gleichzeitig durch die
Vermehrung des Schreckens und Schadens, den man damit an-
richtet, und des Friedensbedürfniffes, das dadurch wächst, Lunderten
und Tausenden ihr Glück und ihr Leben, die bei längerer Kriegs-
dauer zugrunde gehen?
Wer will leugnen, daß Logik darin ist! Ein schlapp ge-
Äumanisierung, Ethisierung des Krieges nicht eine Phrase, und
nicht einmal eine gute? Die Genfer Konvention und das Note
Kreuz aber finken in dem ungeheuren Getriebe eines solchen Krieges
zur bescheidenen Begleiterscheinung herab. Dennoch sei alles ge-
segnet, was in diesem Sinne geschieht! Dennoch sei es der
Triumph noch vorhandener Nächsten- und Feindesliebe, daß sie
das Reich der weichen Land und des weichen Äerzens mit aller
Zähigkeit behauptet. And sogar ausdehnt. Das „Besuchen der
Gefangenen", wie es unter den sieben Werken der Barmherzigkeit
steht, hat wieder eine neue Bedeutung und einen neuen Weg ge-
funden. Anermeßliche Aufgaben, wie sie im Zeichen des Roten
Kreuzes nun einmal symbolisiert sind, werden bleiben und erst
recht in den Vordergrund treten, wenn der Krieg mit seinen
eisernen Notwendigkeiten nicht mehr herrscht. An alledem hat
und behält das Christentum sein Teil, das soll nicht von ihm ge-
nommen werden.
Aber erledigt ist das Problem „Dieser Krieg und das
Christentum" durch einen Äinweis auf Rotes Kreuz und Genfer
Konvention nicht im mindesten. Man kann nur höchstens sagen,
daß ein Stück praktisches Christentum in diesen Organisationen
den modernen Völkern selbstverständlich geworden ist. Aber —
außer in der medizinischen usw. Technik — ist ein Fortschritt im
großen, der mit den Fortschritten der Kriegskunst irgend Schritt
hielte, dessen unser Christentum sich getrösten könnte, in dieser
Linie nicht da.
* *
*
Drei Eigenschaften des Christentums machen es für jeden
Krieg, so auch für diesen, so unbequem: seine Bußfertigkeit, seine
Friedfertigkeit und sein Internationalismus.
Buße! Früher wurde zu Beginn eines Krieges von der
Volks- und Staatskirche ein Buß- und Bettag ausgeschrieben.
Diesmal war nur von einem Bettage die Rede. Dennoch bleibt
es dabei, daß Jesus Christus so gut wie Johannes der Täufer
seine Predigt mit der Mahnung begonnen hat: „Tut Buße!" Es
ist nun auch kein Zweifel daran möglich, daß dieser Ruf in all
den Kriegsgottesdiensten und Kriegsbetstunden unserer deutschen
Kirchen reichlich und ernst erklungen ist. Manchem leidenschaft-
lichen Patrioten viel zu viel. Aber da liegt eben der Konflikt.
23
Kann ein Volk, das sich erhebt, um mit Aufbietung seiner ganzen
Kraft den Feind niederzuschlagen, Buße brauchen? Buße heißt
doch Selbstbesinnung, Erkenntnis der eigenen Schwäche und Schuld,
Arbeit zunächst an der eigenen Besserung?
Wo wäre unser siegreicher Widerstand gegen die übermäch-
tigen Feinde geblieben, wenn wir uns Zeit genommen hätten,
auf die Bußbank zu knien? Da gab es nur eine sittliche Macht,
die wir brauchen konnten: das Bewußtsein gerechter Sache und
damit ein gutes Gewissen. Fragt heute, wovon unser Volk in
diesem Kriege lebt, woraus es seine Kraft zieht zum Siegen und
Durchhalten; es ist nichts anderes! Nehmt ihm das, und es
wird kraftlos sein, eine Beute der 250 Millionen, gegen die wir
nur 115 Millionen sind.*)
„Mit reinem Gewissen und reiner Land ergreifen
wir das Schwert!" So unser Kaiser in seiner Thronrede vom
4. August. Die Antwort des deutschen Volkes war seine ein-
mütige Gefolgschaft. Keine andere Losung hätte die so zuwege
gebracht.
Wo bleibt da die Bußfertigkeit? Wenn die Regierungen auch
der feindlichen Staaten eine ähnliche Sprache führen, so liegt
darin die Schwierigkeit nicht. Man kann die Entscheidung, wo
das größere Recht zu solcher Sprache gegeben ist, Gott und der
Geschichte überlassen. Gegenüber solchen Ansprüchen bleibt dieser
Krieg selber eben doch eine Art Gottesurteil. Dem unterwerfen
wir uns ebenso, wie die Gegner es müssen.
Weniger rasch kommen wir aber in diesem Zusammenhang
über den Vorhalt der neutralen Christen hinweg, die sich an
unserer Äberhebung und Selbstgerechtigkeit stoßen. Ich denke
nicht an jene, die nicht müde werden, peinliche Untersuchungen
über die Arsachen des Krieges anzustellen und die Schuldfrage
aus den Weiß-, Blau-, Rot- und Gelbbüchern zu erledigen.
Dazu ist für den Moralisten die Stunde noch nicht gekommen,
sowenig wie für den Historiker. Wir muten keinem An-
beteiligten zu, uns freizusprechen; wir lehnen nur den Prozeß
ab, erkennen seinen Richterstuhl nicht an. — Etwas anderes
aber ist es mit dem christlichen Bruder, der um unsere Seele
Schätzung der „Times". So rechnen unsere Feinde immer
wieder, wenn sie sich stärken in ihrer Siegeszuversicht.
24
Sorge fyat um unserer unchristlichen Anbußfertigkeit willen. Ihm
dürfen wir wohl sagen, daß er unseren Seelenzustand nicht richtig
kennt und einschätzt.
Wir Deutschen mögen im Verkehr mit Frankreich, Rußland
und England offiziell oder alltäglich noch so viel versäumt und
verbrochen haben: das hindert nicht, daß wir in dieser Kriegs-
und Friedenssache ein gutes Gewissen haben. Denn wir sind
uns mit absoluter Einmütigkeit dessen bewußt, daß wir nichts
weiter wollten, als in Frieden das haben und pfiegen, was wir
besitzen. Alle Eroberungsgelüste waren uns fremd; rein die fried-
liche Konkurrenz in Lande! und Wissenschaft und allerlei Tüchtig-
keit lag uns am Lerzen; und wir waren naiv genug, zu meinen,
daß sie auch weltgeschichtlich möglich sei. Gewiß haben wir da-
neben für alle Fälle Leer und Flotte so stark gemacht, als wir
konnten. Aber wie sollten wir bei unserer Lage mitten zwischen
mächtigen Staaten im Lerzen Europas und bei unserer Jugend
unter den alten Reichen, die sich an unsere Existenz so schwer
gewöhnten, das anders machen? Laben wir nicht trotz unserer
starken Rüstung dreiundvierzig Jahre Frieden gehalten? Ist nicht
unser Kaiser schon verhöhnt und verspottet worden von den
Fremden, weil sie nicht begriffen, daß er, ein solches Werkzeug in
der Land, keinen Gebrauch davon machte?
Wir lehnen also den Prozeß ab, den man uns machen will.
Allzu leicht konstruieren sich unsere neutralen und feindlichen
Kläger ihre Anklage. Wir verzichten auf Einreichung der Gegen-
klage und nehmen uns dafür die Erlaubnis, hier auf die Details
nicht weiter einzugehen. Nur an einem Punkte dürfen wir nicht
schweigend vorübergehen, der vor anderen für viele treffliche
Christen und rechtlich denkende Menschen bei ihrer Entscheidung
für oder wider uns den Ausschlag gibt: die Verletzung der Neu-
tralität Belgiens.
Auch da gehen wir nicht ins Einzelne. Es läßt sich dazu
so viel sagen. Tatsache ist, daß die Überschreitung der belgischen
Grenze auch für ungezählte deutsche Gewissen eine schwere Sache
gewesen ist. Wir kommen auch nicht dadurch darüber hinweg,
daß wir bei alledem verweilen, was nachträglich zur Recht-
fertigung dieses Schrittes von belgischer Seite an Taten und
Schriftstücken zutage gekommen ist. Wir empfinden mit dem
Reichskanzler das formale Anrecht, das in jenem Schritte lag,
25
und erkennen es offen an. Aber nun besteht und bestand eben
doch für uns dahinter die Tatsache, daß der belgische Staat
wirklich loyal auch nicht mit uns gehandelt hat. Obwohl wir
beim Ausbruch des Krieges die Dokumente, die wir jetzt kennen,
noch nicht zur Verfügung hatten, wußten wir doch tatsächlich
um Belgien Bescheid: es hatte längst die Neutralität gebrochen
in seinem Lerzen. Daher war seine Neutralität tatsächlich ein
„Blatt Papier". Nicht sind uns solche Verträge an sich weiter
nichts als ein „Blatt Papier", wohl aber Verträge, die nicht
nach allen Seiten vom interessierten Staat mit gleich peinlicher
Gewissenhaftigkeit gehalten werden. Es kann kein Glück dabei
sein, wenn ein kleiner Staat einerseits zwar um seiner Kleinheit
und Geschichte willen die Annehmlichkeiten einer ewigen garantierten
Neutralität genießen will, anderseits aber zugleich im Bunde mit
einseitig interessierten Weltmächten Weltmacht spielt. Wir
wußten, daß wir von dem Moment an, wo der Krieg mit
Frankreich und England ausbrach, Belgien zu unseren Feinden
zu zählen hatten; daß es den Willen und die Macht, wirklich
neutral zu bleiben, nicht mehr hatte. Eine künftige Historie wird
bei der Auffassung, daß England um Belgiens willen in einen
sonst vermiedenen Krieg eingetreten sei, sich nicht lange aufhalten.
Sie wird vielmehr wissen und feststellen, daß die intime Ver-
bindung, in der Belgien mit Frankreich und England stand, es
mit in diesen Krieg hineingezogen hat. And welches Interesse
England in den Krieg zog, das hat ja Sir Edward Grey in
seiner Anterhausrede vom 3. August deutlich genug gesagt.
Dennoch entlastet uns Belgiens eigene Schuld und die
Mitschuld seiner Verbündeten an dem Kriegslose, das Belgien
gezogen hat, nicht von unserer eigenen Verantwortung. Wenn
wir Deutschen an dieser nicht schwerer getragen haben, so erklärt
sich das aus den „belgischen Greueln", die unserem Einmarsch
in Belgien auf dem Fuße folgten. Die Art, wie sich die belgische
Zivilbevölkerung gegen die Okkupation ihres Landes zur Wehr
setzte, war so furchtbar und sprach so sehr aller menschlichen Krieg-
führung Lohn, daß für eine innere Auseinandersetzung mit dem
Neutralitätsbruch unserem Volke gar kein Raum blieb. Oben-
drein bemächtigte sich Volks- und Soldatenphantasie, unterstützt
durch eine aufgeregte Presse, jener beklagenswerten Vorgänge und
vergrößerte sie ins Angeheure. Wofür dann die feindlichen
26
Organe überreiche Vergeltung übten durch die Entdeckung und
Erfindung von Grausamkeiten, die umgekehrt wir verübt haben
sollen und niemals verübt haben.
Man muß diese Dinge dem Arteil der Geschichte überlassen.
Es wird ein gerechtes, denn es wird ein relatives sein. Wenn
aber unsere Mitchristen in den neutralen Staaten uns immer
wieder mit dem absoluten Maßstab kommen, so will ich sie
warnen, daß sie sich nicht ihrerseits einer Selbsttäuschung schuldig
machen. Sie sind durch diese Neutralitätsverletzung keineswegs
nur in ihrem ethischen Gewissen, sondern in ihrem politischen
Interesse betroffen. Tausende und aber Tausende von ihnen
kennen an diesem Kriege nichts als diesen Punkt: die Neutralität
Belgiens. Alles, was sonst an Gründen, Arsachen und Anlässen
des Krieges in Frage kommt: der Mord von Serajewo, das
Wirken des Äerrn v. Äartwig in Belgrad, die Einkreisungs-
politik Edwards VII., das einzig und allein auf Revanche zielende
Bündnis Frankreichs und Rußlands, der rein natürliche Zu-
sammenstoß wirtschaftlicher Interessen — all das verschwindet
in der Versenkung. Wie hypnotisiert starren sie auf Belgien.
Es ist uns dafür bezeichnend der Vorgang auf einer südschweizeri-
schen Synode, wo ein Protest gegen den Neutralitätsbruch be-
antragt wurde, ein Gegenantrag die Friedensforderung im all-
gemeinen vertrat, die Mehrheit aber jenem Protest zufiel.
Mit alledem haben wir uns in relativen Arteilen bewegt.
Es soll damit der absoluten Geltung des Sittengebotes der Berg-
predigt nichts abgebrochen werden. Eine furchtbare Spannung
ist für den schlichten Christen aufgerichtet zwischen dem vornehmsten
und größten Gebote des Krieges, dem Feinde jeden Schaden an-
zutun, den man ihm antun kann, und dem vornehmsten und größten
Gebote des Friedefürsten. So auch zwischen der einfachen Not-
wendigkeit, sich und sein Volk zu behaupten, wenn's denn nun
um die Existenz geht, und der Forderung, nicht zu widerstehen
dem Äbel, nicht zu töten, nicht zu zürnen, sondern zu vergeben,
zu entschuldigen. Böses mit Gutem zu vergelten. Den Kontrast
empfinden wir wohl und wollen keine geschwinde falsche Vermitt-
lung. Das absolute Sittengebot soll uns ja gerade durch die
Anbedingtheit seiner Geltung wieder herausziehen aus den Fesseln,
in die wir geraten sind. Aber indem wir die Spannung spüren,
in die wir gebannt sind, spüren wir zugleich die sittliche Freiheit,
27
zu der wir berufen sind und die sich im Kampfe um die Be-
seitigung dieser Spannung bewähren wird. Sittlich verloren
ist nur der, der im Kriege von dem, was sein soll,
nichts mehr weiß und fühlt.
Welche Dienste uns dabei das Christentum leisten will, das
wird noch deutlicher werden, wenn wir den Blick aus der Ver-
gangenheit in die Zukunft wenden. Jene Bußfertigkeit, von der
wir sprachen, muß wohl zuerst ihr Angesicht dem zuwenden, was
hinter uns liegt. Da liegen unsere Erfahrungen, unsere Be-
gehungen und Unterlassungen. Aber heute sind diese nur noch
Stoff für unser künftiges Verhalten und Landein. Christliche
Buße ist die Wegwendung von einem alten hin zu einem neuen
Leben, ist Sinnesänderung, ist Besserung. Man steht vor einem
neuen Abschnitt seiner Geschichte; wie wird man ihn ausfüllen?
* *
*
Wird unser deutsches Volk in seiner neuen Zukunft etwas
anfangen können mit jenem anderen Einschlag des Christentums:
seiner Friedfertigkeit und seinem damit aufs innigste zusammen-
hängenden Internationalismus?
Das Christentum ist nicht einfach dasselbe mit dem Pazi-
fismus. Die Friedensbewegung und die Friedensgesellschaften
haben zwar in vielen ihrer Gründer und Vertreter rein christlich-
religiöse Motive gehabt. Das ganze angloamerikanische Christen-
tum jenseits des Ozeans lebt von der Friedens- und von der
Temperenzidee. Aber wie drüben, so noch mehr bei uns hat sich
doch in und mit der Bewegung zugleich ein hedonistischer Pazi-
fismus aufgetan, der mit dem Christentum gar nichts zu tun hat.
Diese biologisch und soziologisch verankerte Verwerfung des Krieges,
die auf nichts weiter ausging, als dem Menschen das Leid, die
Not, den Jammer zu ersparen, welche der Krieg mit sich bringt, hat
mit dem Christentum nichts zu tun. Denn das Christentum will
die sittliche Bewährung des Menschen unter allerlei Anfechtung;
es will zwar, daß der Christ nicht tötet, aber daß er sich töten
läßt. And dieses Argument für den Krieg haben sich die christlich-
kirchlichen Gegner des Pazifismus viel zu sehr entgehen lassen:
die Menschen brauchen den Krieg, damit sie eine Gelegenheit
haben, buchstäblich und wahrhaftig für eine Sache ihr Leben zu
lassen. In der Tat ist in dieser Richtung das Geheimnis zu
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suchen, wie es kommt, daß eine Leidens- und Friedensreligion
zur Religion der aktivsten und kriegerischsten Völker der Welt-
geschichte werden konnte.
Das Christentum lehnt einen hedonistischen, bloß auf das
äußere, leibliche, kulturelle Wohlbefinden gerichteten Friedens-
zustand geradezu ab. Aber es nimmt einen wahrhaftigen Frieden
dennoch in seine Idee, in seinen Imperativ, in sein Zukunftsziel
auf, indem es seinen Zugehörigen zumutet, ohne Unterlaß
Frieden zu schaffen. Laben wir deutschen Christen, haben unsere
deutschen Kirchen an diesem werdenden, uns als Aufgabe ge-
stellten Frieden in den verfiossenen Jahren nicht genug mit-
gearbeitet, so haben wir dafür Buße zu tun. Ich fürchte, daß
wir es haben fehlen lassen. Gerade daß unsere Kirchen, unsere
Landeskirchen, auf eine entschlossene Arbeit für den Frieden fast
Programm- und bekenntnismäßig verzichtet haben, das hat mit
bei den Christen im Auslande jenes Mißtrauen geweckt, das uns
nun während dieses Krieges — vielen von uns zur Verwunde-
rung — so bittere Früchte trägt. Aber der Gemeinschaft mit einem
jungen, starken, nationalen Leben haben wir jenen Internatio-
nalismus zu Pflegen vergessen, der dem Christentum eigentümlich
war, als es in eine auch von nationalen Kämpfen zerrissene Welt
trat: „Lier ist nicht Jude noch Grieche, sondern allzumal Einer
in Christo Jesu." Als ob es nicht einen Internationalismus
gäbe, der sich mit der hingebendsten Treue zur Nation aufs glück-
lichste vertrüge: nicht wir Einzelnen, abgesehen von unserer Natio-
nalität und Staatszugehörigkeit, sondern die Nationen, die
Staatenvölker selbst sollen die Träger eines gesunden ethischen
Internationalismus sein!
Ich denke nicht daran, das hier näher auszuführen. Wer es
verstehen will, der versteht es ohne viel Worte; wer nicht, den wird
man nicht überreden können. Überreden will ich auch gar nicht.
Dieser Krieg selber wird uns noch viel zu lehren haben. Ich
will nur an dem Ausspruch eines Politikers von heute illustrieren,
was ich meine.
Delbrück hat in einem vielbeachteten Artikel seiner „Preußi-
schen Jahrbücher", der den kommenden Friedensschluß behandelt,
uns Deutschen folgende Zukunstsaufgabe gestellt:
„Die Sicherheit, die wir erkämpfen wollen, kann nur
bestehen in der Verbindung höchster eigener militärischer
29
Kraft mit politischer Mäßigung, die das Mißtrauen, welches
die militärische Macht erweckt, wieder entwaffnet." x)
Man kann diese Aufgabe ungefähr der anderen gleichstellen,
die Quadratur des Zirkels zu lösen. Es war doch schon bisher
genau unsere Aufgabe, und die Zensur dafür, wie wir sie gelöst
haben, ist dieser Krieg. Dennoch ist die Aufgabe richtig gesehen
und gestellt. Nur daß wir ihre Formeln noch erweitern und
bereichern werden.
Was muß uns Deutschen als Ziel und Ergebnis des zu er-
hoffenden Friedens vorschweben? Höchste Entfaltung unserer
nationalen Kraft, verbunden mit einer Mäßigung, die
uns das Vertrauen der Völker sichert. Eine solche Auf-
gabe ist nur zu lösen durch eine sittliche Leistung ersten Ranges. And
zu solcher Leistung bedürfen wir eines Glaubens, einer Religion,
einer alle und alles zusammenfassenden Kraft, wie sie für unser
deutsches Volk nur das Christentum sein kann. Man kann es ja
dem Einzelnen nicht verdenken, wenn er zweifelnd fragt, ob das
Christentum von jetzt an plötzlich das leisten werde, was es bisher
nicht zustande gebracht hat, und wenn er nun nach Kräften sucht,
die es ersetzen sollen. Aber es ist bisher kein ebenbürtiger Idealismus
auf der Walstatt erschienen. Auch dieser Krieg hat wieder be-
wiesen, wie unseres Volkes Bestes mit dem Christentum ver-
bunden und verschmolzen ist. Das heißt es erkennen, in dieser
Richtung weiterbauen und hoffen.
Der Sehende sieht nach innen wie nach außen die Linien
laufen, die den Weg weisen zu einer neuen, besseren Welt.
Zweimal schon ist unser Volk eingeladen worden, sie aufzurichten:
1813 und 1870. Beidemal haben wir es nach geschenktem Siege
nicht getan. Möge 1915 ein größeres Geschlecht vorfinden!
* *
*
Der Titel dieser Schrift verlangt Ausführungen, die jetzt
während des Krieges nicht gegeben werden können. So Gott will,
mögen diese Kapitel nach dem Kriege folgen. Denn einmal wird
er ja aufhören.
Ich verzichte auch daraus, manches zu sagen, das sich sehr
wohl sagen ließe, nach der patriotischen wie nach der religiösen
„Preußische Jahrbücher", Band 158, S. 191, Oktober 1914.
30
Seite hin, weil es selbstverständlich ist und ich für mich und
für mein Volk zu stolz bin. Selbstverständliches zu sagen.
Eins aber muß ich wenigstens noch berühren. Wie wird es
um unser organisiertes Christentum, um unsere Kirchen aussehen
nach dem Kriege?
Prophezeien kann und will ich nicht. Aber daß man sich
darüber seine Gedanken macht, ist einfach patriotische und kirch-
liche Pflicht. Wie war es denn nach 1870 und nach 1813?
Nach 1870/71 hat die Kirche die ungeheure geistige Verflachung,
die über uns kam, nicht aufgehalten. Sie hat nicht hindern
können, daß sie unserem Volke eine Zeitlang fremder wurde denn
zuvor. Nach 1813 hat sie nicht verstanden, die schöne reine
Frömmigkeit der heimkehrenden Jugend für sich und das öffent-
liche Leben festzuhalten und fruchtbar zu machen. Gewiß spricht
man von einer Zeit der Erweckung damals in unserem Volk; aber
sie war auf gewisse Kreise nur beschränkt und erschöpfte sich leider
zu sehr in der Reaktion gegen die Aufklärung. Indem diese Reaktion
mit der politischen Reaktion einen verhängnisvollen Bund schloß,
sank die eigentliche selbstwachsene Frömmigkeit der Freiheits-
kriege in sich zusammen?) Nun wird alles darauf ankommen,
wie unsere jungen Männer aus dem Feldzuge heimkehren. Gott
gebe, daß die feindlichen Geschosse uns noch so viel Intelligenzen
und Charaktere übriglassen, wie wir sie zu Führern bei der geistigen
Arbeit nach dem Friedens) chluffe brauchen! Ich könnte auch
sagen: bei dem geistigen Kampfe.
Denn es ist schwer vorzustellen, daß der neue Zustand, den wir
im Innern unseres Vaterlandes nach dem Kriege haben werden,
ohne große Kämpfe sich Bahn brechen wird. Unser Volk hat
in wunderbarer Einmütigkeit diesen Krieg auf sich genommen:
Protestanten, Katholiken und Juden, Konservative, Liberale und
Sozialdemokraten. Das Verlangen, dieser Einmütigkeit auch in
Kirche und Staat nach dem Frieden einen Ausdruck zu geben,
wird groß sein und weit verbreitet. Aber man braucht nur das
Wort „Kirche" auszusprechen, so erlahmt der Mut. Werden die
konfessionellen Gegensätze, werden die Richtungsgegensätze inner-
halb des Protestantismus schwächer sein als zuvor? Wird nicht
0 Man lese, um sich an dieser Frömmigkeit zu erquicken, die Llrkunden-
sammlung in dem Büchlein: „Das Wartburgfest am 18. Oktober 1817."
Von Äugo Kühn. Weimar, Alexander Duncker.
31
bei aller Friedens- und Einheitssehnsucht das heimkehrende Ge-
schlecht vielmehr ein starkes, kampfgestähltes sein? And was von
den religiösen, rein geistigen Gegensätzen, wie wir sie eben im Auge
haben, ist durch den Wettstreit der Kanonen und der Truppen-
maffen draußen eigentlich entschieden worden? Drinnen aber
während des Krieges der Burgfriede — welch ärmliches Gewächs,
kaum einem redlichen Waffenstillstand vergleichbar! Anmittelbar
vor dem Kriege fand ein preußischer Generalsuperintendent, daß
wohl der Größe des Zwiespalts zwischen den beiden Richtungen
in der protestantischen Kirche keine andere Formel entspreche als
die, daß man es darin mit zwei verschiedenen Religionen zu
tun habe. Das ist nach heutigem Sprachgebrauch das Stärkste
und Trennendste, was man über die Differenz aussagen konnte.
Es ist aber von seiten seiner kirchlichen Gesinnungsgenossen keine
Abwehr erfolgt, und er selbst hat noch bis in die Kriegslage
hinein seine Formel aufrechterhalten. — Traub, der disziplinarisch
abgesetzte Pfarrer, hat während des Krieges dem deutschen Volke
und dem deutschen Leere sein Bestes gegeben. An der Kraft
seines Wortes haben Angezählte in der Front und daheim sich
gestärkt und getröstet. Es ist für viele eine stille Loffnung ge-
wesen, die preußische Kirchenbehörde werde daraufhin durch ihr
Disziplinarurteil einen Strich machen und den — durch Mehrheits-
beschluß eines Kollegiums oberer Instanz unter Aufhebung eines
viel milderen Spruches der niederen Instanz — gemaßregelten
Mann zur Ehre des evangelischen Pfarrerstandes wieder in seine
amtliche Würde einsetzen. Traubs frühere Gemeinde, St. Reinoldi
in Dortmund, hat in diesem Sinne sich bittweise an den Ober-
kirchenrat gewandt. Der läßt ihr sagen, daß „die Entscheidung
über eine Wiederbeilegung der Rechte des geistlichen Standes
unter anderen Gesichtspunkten als dem der Versöhnlichkeit zu er-
folgen habe". Anter dem 12. Dezember. So ist jene stille Loff-
nung zunichte geworden.
Solche Vorgänge lassen uns fürchten, die große Zeit könne
ein kleines Geschlecht finden. Ich meine die große, entscheidende
Stunde, die auch für unsere Kirche geschlagen hat. Aber dennoch
schauen wir gespannt auf den neuen Tag, der kommen wird.
And wie auf die Scharen, die vom Kriege heimkehren, so wird
es auf unser ganzes Volk ankommen nach dem Friedensschluß,
welchen Druck es nach seinen inneren Erfahrungen während des
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Krieges auf die Weitergestaltung der kirchlichen Dinge ausüben
wird. Das Volk wird um so mehr sein Gewicht in die Wag-
schale werfen, als das Band zwischen ihm und seiner Kirche,
d. i. auf evangelischem Boden der Landeskirche, durch diesen
Krieg ohne Zweifel ein engeres geworden ist. Ich denke dabei
an die Bevölkerung des weiten Landes, aber zum Teil gilt es
auch von den Großstädten. Die individualistische Strömung, die
allerlei Pläne von Trennung des Staats und der Kirche hervor-
brachte, wird durch die Erfahrung dieser Tage keinerlei Zufluß
erfahren haben.
So steht zu hoffen, daß wir einem wahrhaft sozialen Zeit-
alter entgegengehen? Das wäre nun gewiß der größte Segen,
den uns der Krieg bringen könnte. And manche Bedingungen
dafür scheinen schon erfüllt. Vor allem ist der Bann gebrochen,
der zwischen der Sozialdemokratie und dem übrigen deutschen
Bürgertum aufgerichtet war. Für den einzelnen Philister der
privilegierten Stände vielleicht noch nicht; aber die Regierung
hat groß und weitblickend in die Land der Sozialdemokratie
eingeschlagen, das ist nicht rückgängig zu machen. Es ist auch
während der Kriegszeit zu beobachten gewesen, daß man auf
beiden Seiten die Konsequenzen des 4. August ruhig gezogen
hat. Man lese die sozialdemokratische Presse und beachte das
Verhalten der jetzt regierenden Gewalten dazu. Mit alledem ist
das furchtbarste Bollwerk des Widerstandes gegen eine bessere
Gestaltung unserer sozialen Verhältnisse gebrochen.
Aber der positive Aufbau eines neuen Zustandes ist damit
noch nicht gegeben. Auch hier können harte Kämpfe entstehen.
Nur sind für die Vertreter einer ehrlichen Volksgemeinschaft
kontra Interessen- und Privilegienpolitik die Bedingungen eines
kommenden Streites günstigere als je zuvor in unserer Geschichte.
Lier wird nun wieder viel auf das organisierte Christentum, auf
die Kirche ankommen. Wird da endlich ein wahrhaft sozialer
Sinn obenauf kommen? Wird da endlich das Bürgertum die
sittlichen Einflüsse erfahren, die es gerade von der Kirche und
von ihr allein erwarten darf? So einfach liegt es wahrhaftig
nicht, wie in einer Kriegspredigt aus den Augusttagen zu lesen
stand: „Was sind jetzt soziale Anterschiede, Namen und Titel
und Würden? Torheiten, über die es nachzudenken nicht lohnt!
Die sogenannten oberen Zehntausende — wo sind die geblieben?
Rade, Dieser Krieg und das Christentum 3 ZZ
Du suchst sie vergebens. Es gibt kein Oben und Anten mehr,
oder wenn man so will: sie sind alle oben, Köhenmenschen, die
im Opfern miteinander wetteifern statt im Erwerben." Der
Pfarrer, der das von der Kanzel gesagt hat, würde es vielleicht
heute schon selbst vorsichtiger ausdrücken, wenn er inzwischen die
Augen offen behalten hat. Es ist uns vielleicht für eine sittlich-
religiöse Wiedergeburt zu gut gegangen, trotz der gewaltigen
Opfer persönlichen Lebens, die wir gebracht haben. Es ist uns
wirtschaftlich, es ist uns in unserem täglichen Empfangen und
Genießen zu gut gegangen. Eine lange Dauer des Krieges, auf
die wir gefaßt sind, wird das noch ausgleichen. And dann darf
die Kirche im Bunde mit den sozialpolitischen Führern, die Gott
unserem Volke erwecken wird, ganze Arbeit tun in der Beseitigung
nicht der Anterschiede, aber der Anbilligkeiten und Anstimmigkeiten
unserer sozialen Struktur.
Lurge posteriores — Sorgen, die wir der Zukunft überlassen
können, wird mancher denken. Aber so zu denken hat nur das
Recht, wer heute ausgefüllt ist durch eine ganz ihn in Anspruch
nehmende Gegenwart. Für die meisten von uns daheim ist
doch jetzt — Wartezeit; und stille Stunden genug fordern uns
auf, nachzudenken über das, was werden soll. Ein letztes, höchstes
Ziel kann und darf man wohl ins Auge fassen; die Mittel muß
die weitere Entwicklung darbieten; aber die Personen, die davon
Gebrauch zu machen haben, sind wir.
Möchte uns, wie 1870/71 die politische Einigung, 1914/15
die soziale Einigung unseres Volkes bringen, damit wir endlich
eine „Nation" seien im höchsten Sinne des Wortes!
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