Das war vor dreizehn Jahren, als niemand an einen Krieg
zwischen Deutschland und England dachte, und als auch von
einem indischen Aufstand keine Rede war, als vielmehr Englands
Macht unangreifbar schien. Am so klarer erkennt man daraus
die politische Gesinnung der indischen Mohammedaner.
Die Kaste
Während die Mohammedaner Indiens eine durch gemein¬
samen Glaubenseifer zusammengehaltene Einheit, also gewisser¬
maßen ein Volk bilden, bei dem landsmannschaftliche und soziale
Anterschiede nicht viel mehr zu bedeuten haben als bei einem
europäischen Volke, sind die Lindu heute noch weit davon ent¬
fernt, eine völkische Einheit darzustellen. Nicht als ob sie, den
zahllosen Sprachen des Landes entsprechend, in ebensoviele
Nationen zerteilt wären, die einander mit ähnlicher nationaler
Abneigung gegenüberständen, wie etwa die von Nationalhaß
entflammten Völker Europas. In diesem Sinne kann man in
Indien überhaupt nicht von Völkern reden, sondern nur von
Sprachgebieten, zwischen denen in der Regel weder besondere
Sympathien noch Antipathien bestehen. Nicht einmal zwischen
den nördlichen Gebieten der arischen und den südlichen der drawi¬
dischen Sprachenfamilie herrschen irgendwelche völkischen Gegen¬
sätze. An einer Parallele zu dem bewußten Raffengegensatz
zwischen Germanen, Romanen und Slawen fehlt es in Indien
völlig, und obgleich es in Indien größere Rassenunterschiede und
mehr Sprachen und Staaten gibt als in Europa, so kann man
doch mit den europäischen Begriffen von Raffe, Volk und Staat
in Indien nichts anfangen.
Den Schlüssel zum Verständnis der völkischen Artung, der
nationalen und politischen Beschaffenheit der mehr als 200 Mil¬
lionen Lindu gibt uns einzig die Kaste in die Land. Die
Kaste ist diejenige gesellschaftliche Einrichtung, die allen diesen
vielsprachigen Millionen gemeinsam ist, die für sie alle das höchste
Ideal der Organisation und der Gemeinschaft verkörpert. And
so ausschließlich beherrscht das Kastenideal das Denken und Leben
der Lindu, daß es kein Volks- oder gar Staatsbürgerbewußtsein
hat aufkommen lassen. Wohl hat es in Indien von jeher Staaten
gegeben, wohl sind große und kleine Reiche aufgerichtet worden
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