Die Entstehung des Nationalbewußtseins Von hier aus wird nun auch klar, worin die letzte Arsache des Niedergangs Indiens, der dumpfen Verzweiflung seiner Volks¬ massen und der wachsenden Anzufriedenheit der Aufgeklärten be¬ gründet liegt: die letzte Arsache ist nichts anderes als Indiens Anselbständigkeit! Indien ist in das gewaltige, nach ehernen Gesetzen verlaufende Getriebe der Weltwirtschaft einbezogen worden, ohne alle seine Kraft an die Ausgestaltung der eigenen Volkswirtschaft setzen zu können. Seine 300 Mil¬ lionen arbeiten mit einem Fleiß, der, wenn man die Bedürfnis¬ losigkeit der Inder in Anschlag bringt, dem Fleiße jedes euro¬ päischen Volkes verglichen werden kann. Aber sie arbeiten nicht nur für sich, um die Erzeugnisse ihres Fleißes zu gleichen Bedingungen gegen die Erzeugnisse anderer Länder austauschen zu können, sondern sie arbeiten auch für England. Sie sollen also doppelte Arbeit leisten, und das führt auf die Länge zum Ruin. Zwar arbeitet England auch für Indien, indem es ihm Verwaltung, Leerwesen, Eisenbahnen, Anterricht und manches andere gibt; aber alles das muß Indien bar bezahlen, und zwar zu englischen Preisen! So muß die Bilanz notwendig eine negative bleiben bis zum Bankerott. Eine Rettung gibt es nicht. Diese Erkenntnis dämmert der Bevölkerung Indiens immer deutlicher auf, und je weiter sie sich ausbreitete, desto lauter wurde der Ruf nach Anabhängigkeit. Swadeschi und Swa- radsch, so lauten die beiden Losungsworte, mit denen wirtschaft¬ liche und politische Selbständigkeit bezeichnet wird. Sie tauchten öffentlich zum ersten Male auf, als vor zehn Jahren auf Lord Curzons Veranlassung, der nach bewährter Methode die Mo¬ hammedaner gegen die unbequemen bengalischen Lindu ausspielen wollte, die Provinz Bengalen in zwei Teile zerlegt wurde, wo¬ durch in Ostbengalen die Mohammedaner eine starke Mehrheit erlangten. Die nächste Folge war ein Boykott englischer Waren unter den bengalischen Lindu, der sich bald mehr oder weniger über ganz Indien verbreitete. Gleichzeitig wurde aber auch schon die politische Selbständigkeit ein Gegenstand öffentlicher Diskussion, indem D. R. Bannerdschi, der Führer der bengalischen Lindu, auf einem Volksfeste zum „König von Bengalen" ausgerufen wurde. Anfangs schien der alte Gegensatz zwischen Lindu und 38