zeigen, und daß sie auch Deutschlands wirtschaftliche und politische Zukunft beeinflussen müssen, daran schien niemand zu denken. Bis zum Ausbruch des Weltkrieges schien es, als ob Indien mit seinen 315 Millionen Menschen, dem fünften Teil der ganzen Menschheit, uns gar nichts anginge. Indien war ja englisch; das genügte dem deutschen Michel, um es zu ignorieren. And nun mit einem Male ist das Interesse da. Das Wunder¬ land, von dessen Palmen und Lotosblumen, Elefanten und Tigern, Schlangen und Fakiren wir uns in gelegentlichen Mußestunden gern erzählen ließen, wird jetzt mit einem Male mit ganz anderen Augen angesehen, aus dem Märchenlande ist ein Land der Wirk¬ lichkeit geworden, die Menschen, denen wir sonst nur im Vorüber¬ gehen einen lässigen Blick staunender oder mitleidiger Neugier schenkten, haben mit einem Male Fleisch und Blut gewonnen, und überall hebt ein Fragen an: Was sind es eigentlich für Menschen, diese Indier? Was können sie und was wollen sie? Was werden sie tun? Werden sie aufstehen und die britische Herrschaft abschütteln? Wird England Indien verlieren? Auf diese Frage möchte heute jeder bei uns die Antwort wissen. In der Tat, diese Frage ist von der allergrößten Bedeutung. Denn gelänge es England, Indien zu halten, dann würde es nach Beendigung des Krieges ein ungefähr gleichstarker Neben¬ buhler Deutschlands bleiben und nicht ruhen, bis es eine neue Koalition gegen uns zustande gebracht und einen zweiten Welt¬ krieg entfesselt hätte. Verliert es aber Indien, dann ist dem britischen Weltreiche nicht nur die glänzende Krone genommen, sondern geradezu die Mitte seines Fundaments gesprengt, und der stolze Bau bricht zusammen. Wer da meinen sollte, daß wir zu viel behaupten, daß wir die Bedeutung Indiens für das britische Weltreich überschätzen, für den lassen wir Lord Curzon sprechen, den ehemaligen Vize¬ könig von Indien. Er sagte am 19. Oktober 1909 in einem Vor¬ trage, den er vor der Philosophischen Gesellschaft in Edinburg über das Thema „The Place oí India in the Empire“ hielt:*) „Wenn mehr als ein Fünftel der gesamten Menschheit in Indien zusammengedrängt ist, wenn dort drei Viertel der Unser- ') Nach der deutschen Übersetzung in der Zeitschrift für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und Kolonialwirtschaft, April 1910, S. 228. 9