Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/18. 343 der U k r a i n e r und Polen um Lemberg tobte weiter. Die Ukrainer hatten die Stadt am 1. November besetzt, worauf sich die Polen sofort zur Gegenwehr sammelten. Die sich in Lemberg aufhaltenden polnischen Legionäre, Eisenbahner und Studenten wurden zu einem Korps zu sammengestellt, das die Aufgabe übernahm, die Ukrainer zurückzudrängen und die Stadt dem Polentum zu erhalten. Tagelang dauerten nun blutige Straßenkämpfe ohne Unter brechung an. Der Kugelregen verhinderte die Bevölkerung, die Wohnungen zu verlassen; sämtliche Kaufläden waren geschlossen, die Straßenbahn verkehrte nicht mehr, die Le bensmittelzufuhr war unterbrochen, die Betriebe standen still. Tag und Nacht vernahm man das Geknatter der Ma schinengewehre, sowie Pistolenschüsse, Geschützfeuer und das Krachen der Handgranaten. Diesem Kampfe fielen viele Menschenleben zum Opfer. Die Zahl der Verwundeten war noch bedeutend größer. Den polnischen Legionären gelang es, sich in den Besitz eines Munitionsdepots, mehrerer kleinkalibriger Feldhau bitzen und Maschinengewehre zu setzen. Da sich die Lage überaus bedrohlich gestaltete, erschien eine polnische Ab ordnung im ukrainischen Nationalrate, um eine Verständi gung anzubahnen. Schließlich wurde zur Verhütung eines anarchischen Zustandes eine ausschließlich die Stadt Lem berg betreffende Vereinbarung getroffen, wonach ein ge meinsames ukrainisch-polnisches Sicherheitskomitee einge setzt werden sollte. Vom Turme des Rathauses wurde die von den Ukrainern angebrachte blau-gelbe Fahne nieder geholt, und es sollte der gesamte Verwaltungsapparat zur Herstellung normaler Zustände wieder in Bewegung gesetzt werden. Die polnischen Legionäre wollten jedoch von diesen Abmachungen nichts wissen. Infolgedessen wurde der Kampf fortgesetzt. Das Hauptpostgebäude wurde von den Polen gestürmt und in Brand geschossen. In der Sykstuska- und in der Kopernikusgasse gestalteten sich die anfänglichen Einzelgefechte zu einer heißen Schlacht. End lich gelang es den Polen, ihre Gegner zu überwinden, und am 22. November gehörte ihnen die ganze Stadt wieder. — Deutsch-Österreich, das schon im Kriege die härtesten Opfer bringen mußte, hatte auch die Wehen der Staatsauflösung am schmerzlichsten zu empfinden. Durch seine Gebiete strömten von der italienischen Front alle die Heeresmassen in die Heimat ab, vielfach plündernd und raubend, soweit sie nicht deutscher Abkunft waren. Die Er nährungsschwierigkeiten wuchsen ins Unerträgliche. Zum Glück erfüllten wenigstens die Eisenbahnen in mustergültiger Weise ihre schwere Aufgabe. Vor dem Parlament in Wien wurde am 12. November durch die Präsidenten der provisorischen Nationalversamm lung (siehe Bild Seite 347), Dr. Dinghofer, Seitz und Hauser, vor einer vieltausendköpfigen Menge die Republik ausgerufen (siehe Bild Seite 34:8/349). Leider erlitt das junge Staats wesen gleichzeitig einen schweren Schlag durch den plötzlichen Tod des Führers der Sozialdemokratie, Dr. Viktor Adler (siehe Bild Seite 298), der ob seiner staatsmännischen Fähigkeiten auch im feindlichen Ausland das beste Ansehen genoß. Die Feier selbst wurde durch einen Putschversuch der von den: phantastischen jüdischen Galizier Haller ins Leben gerufenen Roten Garde gestört, was zu einer Reihe von Verwundungen führte. Diese und ähnliche Ereignisse ermutigtendie Anhänger der alten Richtung zu nachdrücklicher Gegenarbeit, die sich bis zu öffentlichen Ansprachen des Erzbischofs Dr. Piffl in den Kirchen steigerten. Im stillen, aber doch mit allem Nachdruck, wurden diese Bestrebungen unterstützt durch die Wiener- Hochfinanz und die ihr ergebene Presse. Dies alles ver anlaßte die neue Staatsregierung,-bereits am 15. November den Anschluß Deutsch-Österreichs an die deutsche Republik zu erklären. Leider fiel die durch Haase darauf gegebene Antwort recht kühl aus. Anderseits verdient anerkannt zu werden, daß Deutschland nach Möglichkeit die Ernährungs schwierigkeiten zu erleichtern bestrebt war, auf die sowohl Tschechen wie Ungarn bauten, um aus dem Zusammenbruch der Monarchie noch möglichst viel Sondervorteile zu er pressen. Somit durfte man hoffen, daß sich das junge Deutsch-Österreich durchsetzen und seine reichen Kräfte in Zukunft zu seinem eigenen Vorteil ausnützen konnte, die in der alten Monarchie zugunsten der anderen Nationen unter drückt oder oft geradezu mißbraucht wurden. Allerdings muß auch die unerfreuliche Tatsache erwähnt werden, daß die entfernter liegenden Länder vielfach gegen die Wiener Zentralregierung Stellung nahmen und be sonders die Tiroler sich wieder in der alten eigenbrötlerischen Art gebärdeten. Den Schaden solcher Zersplitterung hatten vor allem die Deutschösterreicher an den Sprachgrenzen zu tragen, wo Tschechen, Südslawen und Italiener möglichst viele unter ihre Staatshoheit zu zwängen suchten. Die stärkste Stütze hatte die Deutschösterreichische Re publik naturgemäß in den Männern, die einst um Viktor Adler standen und nun seine Nachfolge angetreten hatten. Da wäre zu nennen außer Präsident Seih, einem ehemaligen Lehrer, vor allem der Staatskanzler Dr. Karl Renner (siehe Bild Seite 346), der besonders über gründliche Erfahrun gen auf dem volkswirtschaftlichen und genossenschaftlichen Gebiet verfügt, sowie der Minister des Äußern, Dr. Otto Bauer. Sozialist ist auch der deutschösterreichische Gesandte in Berlin, Dr. Ludo Hartmann (siehe Bild Seite 346), schon lange bekannt durch seine Vorlesungen über sozia listische Theorien an der Wiener Universität. An die Spitze der neugeschaffenen Volkswehr, die zunächst die Ordnung aufrechterhalten und später etwa nach schweizerischem Muster Phot. A. Reuard, Kiel. Ansicht von Kiel mit dem Krieoshaferr.