■ ■ 112 Illustrierte Geschichte, des Weltkrieges 1914/18. Phot Bild- und Film-Amt. dem historischen Marktplatz in Brüssel. senden Zuges hatte uns träge und gleichgültig gemacht. Die anfangs sprudelnde Unterhaltung war immer mehr versiegt. Und dennoch standen wir plötzlich alle am Fenster: die Siegfriedfront! Im scharfen Zickzack oder in vielfach gewundenen Schlan genlinien ziehen sich die Gräben durch Wiesen und Felder. An einigen Stellen verraten sie sich nur durch einen Schatten im Grünen. So tief hängen die Stauden und Wiesen blumen in die überwucherten Gräben. Doch meist ziehen sich Brust- und Rückenwehren als schneeweiße Striche durch bas Gelände. Der Kreideboden leuchtet, sobald er das Licht der Welt erblickt. Er läßt sich nicht verdecken, noch abtönen. Drahthindernisse stehen in langen Reihen. Spa nische Reiter bilden mannshohe Stachelge- wirre. Ein ärmlicher Bahn- chof nimmt uns auf. Man sollte kaum glau ben, daß St. Quentin im Frieden an der Strecke Paris—Brüssel liegt und ein Knotenpunkt für die Linien nach Arras, Euise und Le Catelet ist! „Da stehen ja noch eine ganze Menge Häu ser," sagt einer der Her ren unvermittelt in die Stille hinein. Auch un sere Gedanken gehen den gleichen Weg. Das Ge- isamtbild wirkt noch stadt mäßig» wenn auch jedes Haus am Bahnhof seine Drei runden Granat- löcher hat. „Da haben wir schon andere Städte gesehen," bestätigt ein anderer der Mitfahrenden, „Sailly- Saillisel zum Beispiel. -Kein Backstein liegt dort mehr auf dem anderen. Trichter neben Trichter. Weiter nichts. Rein gar nichts..." Die wuchtige Kathe drale steht goldgelb im Sonnenglanz auf der An höhe und rückt langsam nach Osten. Wieder sprin gen Stellungen durch das Grün mit Stacheldraht, fow.it das Auge blickt: die Sturmausgangsgrä ben zur deutschen Früh fahroffensive 1918 Wenige Wochen spä ter brachte mich dasSchick- fal auf zwanzig Stunden nach St. Quentin. Ich hatte keinen Zuganschluß -und gedachte, die Sehens würdigkeiten der vielgerühmten Stadt aus den Zeiten der Grafschaft Vermandois zu besichtigen, die Spuren des Krie ges zu studieren oder in Abschiedstimmung zu schwelgen. Denn die Etappenstädte setzen im allgemeinen eine Ehre darein» den ausspannungbedürftigen Frontsoldaten die Tage der Ruhe so abwechslungsreich wie möglich zu ge stalten. Meine wenigen Mitreisenden hatte die Stadt ver schluckt, als ich vom Gepäckschalter auf den Platz trat. Geradeaus wie eine Schnur steigt eine breite Straße den Hügel hinauf, auf dem die Kathedrale thront. Ich setze mich nachdenklich in Marsch und wundere mich; in mir ist ein Gefühl, als sei ich auf einer öden Insel ans Land gesetzt. Ich empfinde — nicht ohne Wehmut — daß diese große Kleinstadt „außer Betrieb" ist. Die Straßenbahn- .gleise sind schon lange nicht mehr befahren. Die Straßen X XX Hindenburg (X) und Ludendorff (XX) auf liegen leer und öde. Einzelne Feldgraue verschwinden spurlos, wie sie kamen, in Nebenstraßen oder Häusern. Es berührt den einsamen Wanderer wie ein kleines Erlebnis. So wichtig ist plötzlich jeder Mitmensch in dieser toten Stadt. Die Häuser wirken wie Theaterkulissen. Sie sehen meist noch aus wie „Häuser". Aber wohnlich sind sie nicht mehr. Die meisten nicht einmal bewohnbar! Durch die zerfetzten Dachstühle fand der Regen seinen zerstörenden Weg. Das Innere ist herüntergebrochen. Rur wenig höher als einen Meter ist der llnrathaufen, in den sich die Wohnungs einrichtung eines dreistöckigen Hauses .verwandelt hat. Am Sockel eines französischen Kriegerdenkmals von 1870/71 verhalte ich den Schritt. Die Figuren sind wohl schon längst zu Kanonen oder Ge schossen geworden. Es soll ein schönes Bronze- standbild von Barrias gewesen sein, zur Erin nerung an die entschei dende Schlacht am 19. Ja nuar 1871, in der die französische Nordarmee sich aus der Stadt her aus unter General Faid herbe den halbkreisför mig vor St. Quentin auf gestellten 30 000 Mann des Generals Eoeben entgegenwarf, was die Auflösung der Nord armeeherbeiführte. Auch die Schlacht von St. Quentin im Jahre 1557 war für die Franzosen unglücklich gewesen, denn Philibert von Savoyen besiegte dabei Heinrich H. Und ebenfalls vom jetzigen Weltkrieg werden die Annalen der Stadt nur traurige Kunde zu vermelden haben! Zwei mal geriet St. Quentin in die Kampfzone, und beide Male ist es in der Hand der Deutschen ge blieben. Die Stadt wurde dabei durch eigene Lands leute vernichtet. An der Kathedrale will ich die Spuren der Zerstörung besichtigen. Ich finde den Zugang nicht. Sie steht zwischen den Häusern verborgen. Eine schmale Gasse, in der noch Gerümpel und Hausrat liegt, gewährt mir Zutritt, bis Stachel- .drahtzäune den Weg endgültig versperren: die Kathedrale reckt sich auf 60 Schritt Entfernung jäh und trotzig in den blauen Himmel. Weitere Annäherung ist wegen Lebensgefahr verboten. Der Bau wirkt aber auch von hier aus überwältigend Vom zwölften bis dreizehnten Jahrhundert hat man an den drei Schiffen und zwei Quer schiffen, an der hohen Wölbung und den Basreliefen ge arbeitet. Französische und englische Geschütze haben den Bau des heiligen römischen Quentin wahrscheinlich für immer weidwund geschossen ... Etwas besser erhalten ist das prächtige Rathaus aus dem fünfzehnten Jahrhundert mit Turm und Glockenspiel. Das reizlose Theater dient als Kino. Es ist gut be setzt, da es das einzige Vergnügungslokal außer dem Sol datenheim ist. Hier vergessen die „Bewohner" St. Quentins für einige Stunden, daß sie in einer toten Stadt ausharren müssen.