OÖLB
I 16 012/
61-70
BIBLIOTHEK
Oer Deutsche Krieg
politische Flugschriften
Herausgegeben von
Emst Lackh
Einundsechzigstes Hest
Deutsche Verlags.Anstalt
Stuttgart und Äerlin 1915
Oie
Schweiz im Weltkrieg
Von
Hakob Schaffner
Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart und Berlin 1915
Geschichte
r>fm ein Volk zu verstehen, ist es notwendig, die Lauptzüge
■il seiner Geschichte und seine geographische Lage, die immer
seine moralische Lage bedingt, zu kennen. Gemeinhin schöpft der
Reichsdeutsche seine Kenntnis der schweizerischen Eidgenossenschaft
aus Schillers Tell und aus dem Sommergeplauder an den Tischen
der schweizerischen Pensionen. Die drei Eidgenossen, die Berge,
die Lotels und die Bahnen, Freiheit und Biederkeit: das ist so
ungefähr die schweizerische Physiognomie in den Augen der un-
schweizerischen Welt. Dann kam der Weltkrieg und über dem
so gearteten Angesicht erschien noch der neutrale Lut; damit
sollte eigentlich das Glück der Schweiz gemacht sein. Leider wird
in diesem harten Zeitlauf nur Anglück gemacht, und von dem
Anglück jedes Tages bekommt die Schweiz immer einen erkleck-
lichen Anteil ab. Sie muß hoffen, daß sie auch von dem künf-
tigen Glück und Glanz, den sich die europäischen Patrioten aller
Lager nach dem Krieg versprechen, ein gerütteltes und geschütteltes
Maß einnimmt, sonst wäre die Neutralität zwar eine ehrliche
Anstrengung, aber ein sehr schlechtes Geschäft gewesen, wie es
denn in diesem ganzen bittern Streit der zwei Lager jedenfalls
in Europa keinen lachenden Dritten zu geben scheint.
* *
*
Im Ausgang des 13. Jahrhunderts stand es mit der poli-
tischen Gliederung der Schweiz, das heißt des Landes zwischen
Rhein, Iura und Alpen, so, daß man überall auf die Labs-
burger als auf die vorherrschende Feudalmacht stieß; ihnen ge-
hörte die ganze Nordostschweiz bis gegen Basel hinunter und
gegen Solothurn, Bern und den Brienzer See hinauf, Luzern
und Teile des heutigen Kantons Anterwalden eingeschlossen.
Dann gab es eine Anzahl Ritter unter habsburgischem Einfluß,
reichsfreie Städte — Basel, Zürich, Bern, Solothurn — und
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ebenfalls reichsfreie königliche Landgemeinden: Ari und Schwyz;
diese hatten sich beizeiten durch des deutschen Königs Land
sozusagen selbst geschaffen, indem sie zum Schutz gegen die um-
greifenden Habsburgischen Aspirationen um Freibriefe baten.
Der Freibrief von Ari datiert aus dem Jahr 1231, der von
Schwyz von 1240. Die Rivalität selbst war natürlich viel älter
und war notwendig bedingt aus dem Widerspruch zwischen der
organisierenden Expansionslust der Labsburger und dem in den
eingesprengten Alpentälern reingezüchteten Anabhängigkeitssinn,
der sich politisch als Partikularismus auswirkt. Es wird falsch
sein, die deutschen Stämme von vornherein und unbedingt als
Träger des demokratischen Daseinsgefühls anzusprechen; es gibt
keine solche mitgeschaffenen Gefühle, sondern sie ergeben sich aus
der geographischen Lage. Zn der Tiefebene empfindet der Deutsche
sozial-monarchistisch, in der Berglandschaft individualistisch-demo-
kratisch. Die unermeßlichen geographischen und moralischen Lori-
zonte der Ebene und der Mangel des natürlichen Schuhes weisen
den Menschen auf sich selber und machen ihn demütig und sach-
lich, die beschränkten Ausblicke der Berglandschast und die Sicher-
heit der Talsiedlung steigern sein Ichgefühl und wecken seine
Phantasie. Das ist die psychologische Erklärung dafür, daß eine
Landvoll Bergbauern es ohne Bedenken mit dem großen und
mächtigen Labsburg aufnahmen. Da andererseits das Lohen-
staufenreich ein Interesse daran hatte, der Expansion der Labs-
burger Lemmungen vorzulegen, ließen sich die jeweiligen Könige
stets bereit finden, im südlichsten Teil des Reiches Freiheiten zu
stiften; auf diesem Weg wurde Zürich reichsfrei. Da aber die
Labsburger nicht weniger weit sahen als die präschweizerischen
Städte und Landgemeinden, so hatte man schon seit langem jenen
gesunden Zustand des Krieges mit den friedlichen Waffen des
Witzes, des Geldes und des Einflusses, und aus der Rivalität
zwischen der Feudalmacht und den demokratischen Bauernschaften
entsprang schließlich der schöne Funke, an dem die Eidgenossen
noch heute am 1. August ihre Freiheitsfeuer entzünden. Dann
wurde begreiflicherweise das gegenseitige Eigentum nicht mit be-
sonders andächtigem Blick betrachtet. Während der Lohenstaufen-
kämpfe gegen Rom, wo Labsburg mit dem Papst konspirierte,
schlugen sich die Arner und Schwyzer kräftig zum Kaiser. Man
zerstörte mit der Gelegenheit Habsburgische Burgen und vertrieb
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Vögte aus der Nachbarschaft; besonders das Habsburgische Kloster
Einsiedeln war für die Schwyzer Mannschaft ein gern besuchter
Ausflugsort, den man immer weniger gesegnet als bereichert ver-
ließ. Als der Luxemburger Leinrich VII. sich ebenfalls gegen
Labsburg vorsehen mußte, bestätigte er nicht nur den beiden
schon bestehenden königlichen Gemeinden ihre Reichsunmittelbar-
keit, sondern gab auch den Anterwaldern einen Freibrief, den sie
allerdings selber zur Wirkung zu bringen hatten. Durch das hohe
Bündnis moralisch sehr animiert, brachen die Schwyzer erneut im
Einsiedler Kloster ein, zogen die Mönche aus den Betten, be-
tranken sich mit Klosterwein, entheiligten die Sakralgegenstände
und schleppten die geistlichen Lerren samt den Laien gefangen
nach Schwyz. Leinrich VII. schützte diesen Landesfriedensbruch
und starb. Die Reichswahlversammlung brachte zwei deutsche
Könige heraus, Ludwig den Bayern und Friedrich von Öster-
reich. Natürlich stimmten die Landleute nicht für den Labs-
burger, dafür tat dieser, mit der höchsten Gewalt bekleidet, sie für
den Einsiedelner Frevel in die Reichsacht; im großen Kirchenbann
saßen sie schon. Ludwig bestätigte ihre Freibriefe, indessen Fried-
rich ein Leer ausrüstete, um seine Reichsacht an ihnen zu voll-
ziehen und nebenher die Habsburgischen Traditionen in jenen
Tälern endlich zur Geltung zu bringen. Die Landleute lieferten
ihm die Schlacht bei Morgarten im Jahr 1315 am 15. November;
die Zeitereignisse haben zur diesjährigen Säkularfeier ein düsteres
Relief geschaffen.
Nun begriffen die Landleute sehr wohl, was sie getan hatten.
Gegen die sicher zu erwartende Habsburgische Rache rüsteten sie
sich mit einem festen Schutz- und Trutzbündnis untereinander;
aus Kumpanen wurden sie zu Eidgenossen, und damit kam der
ganze Lande! moralisch wie geschichtlich um eine Stufe höher zu
stehen. Das gute Beispiel lockte zur Nacheiferung; der Drei-
bund erweiterte sich durch den Beitritt von Luzern, Zürich und
Bern zu einem Sechsbund, und als die Labsburger endlich, syste-
matischer vorbereitet, im Jahr 1386 wiederkamen, fanden sie auch
drüben System und übrigens so viel Ernst und Opferwillen, als
nötig waren, ihnen auch diesen Krieg zum Anglück zu wenden.
Nebenher hatte man dort noch gefunden, daß man sich nicht nur
für eine Gegenwart, sondern auch für die Zukunft weiter helfen
müsse und sich, während im letzten Augenblick die verbündeten süd-
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deutschen Stände die Volkssache im Stich ließen, die notwendige
Flankendeckung durch die Eroberung gewisser wichtiger habsburgischer
Landschaften selber verschafft. Aus der primären Defensive war
man zur Offensive vorgedrungen; in der Zeit erlitten dieselben süd-
deutschen Stände jene furchtbaren Zusammenbrüche ihrer demo-
kratischen Organisationen durch Eberhard von Württemberg und
Ruprecht von der Pfalz; von da an gehen die deutschen Entwick-
lungen nördlich des Rheines und südlich des Rheines getrennte Wege.
Man gebe einem Menschen ein fruchtbares Geschäft und er
wird damit wachsen. Anders ist es auch mit den Völkern nicht.
Was die Eidgenossen in Übermut begannen, führten sie mit Ernst
und Besonnenheit weiter. Weil die Labsburger sich künftig in
der Neichsgewalt festsetzten und Reichsmittel gegen die Eid-
genossenschaft aufwandten, mußten diese früher oder später auch
mit dem Reich zerfallen. Es kamen die großen Schickungen und
die schweren Prüfungen. Es war nur eine Phase der Aus-
einandersetzung mit dem Reich, daß der Kaiser den Eidgenossen
den burgundischen Lerzog Karl den Kühnen auf den Lals hetzte,
und sie zerschlugen dessen Reich sozusagen nur, um sich desto ge-
sammelter wieder dem Prozeß mit dem Kaiser zuzuwenden. Die
eidgenössische Größe wurde nun schon international sichtbar; der
König von Frankreich suchte mit den Laudegen ein Bündnis und
bekam es; in jedem Fall konnte es der eidgenössischen Position
gegenüber dem Reich nicht schaden. Gelegentliche Zerwürfnisse
der österreichischen Lerzoge mit dem Papst oder mit einem anti-
habsburgischen Kaiser benutzte man zum Ausbau der strategischen
Lage zwischen Rhein, Iura und Alpen, wo man schon früh die
natürlichen Grenzen der Eidgenossenschaft erkannte. In einem
leidigen und langwierigen letzten Kriegszug rechnete man dann
endgültig mit dem Reich ab.
Die nächste Zeit gehörte dem Ausbau der Eidgenossenschaft
nach Westen und Süden, wo unter der Führung Berns die
nötigen burgundischen und savoyischen Landschaften erobert wurden.
Alle eroberten Gebiete behandelte man als Llntertanenländer und
vogtierte sie; trotz eines bedeutenden französischen Besitzes blieb
die Eidgenossenschaft eine streng deutsche und einheitliche Staats-
gründung. Die Sicherung der Gotthardstraße gegen die mai-
ländischen Lerzoge führte zu sehr weitläufigen und weltgeschicht-
lich gesteigerten Anternehmungen nach Italien hinunter, wo man
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mit Frankreich hart zusammenstieß und nach einigen rühmens-
werten Siegen schließlich den grandiosen Rückzug bei Marignano
antrat. Die äußeren Möglichkeiten der Eidgenossenschaft, eines
kleinen, nicht fest organisierten Bundessystems zwischen den starken,
zum Teil streng zentralisierten Großmächten der Neuzeit, schienen
den führenden Männern für diesmal erschöpft, und froh, die un-
erläßlichen Geschäfte noch bei gutem Wetter unter Dach gebracht
zu haben, stellte man, in der Weltgeschichte zum erstenmal, für
das Gesamtstaatswesen künftig den Grundsatz der prinzipiellen und
konstitutionellen Neutralität auf. So brach die zweite Epoche an.
Mit diesem sittlichen Impuls zur nationalen Erneuerung fast
gleichzeitig löste sich die Bewegung der Reformation ganz boden-
ständig aus den Gründen des eidgenössischen Lebens. Sie verlief
in der Hauptsache wie in Deutschland. Die Städte, die zur kapi-
talistischen Wirtschaftsform übergingen, machten sich von der Kirche
los, die auf der Grundherrlichkeit des Bauern und der Verwerflich-
keit des Zinses stehenblieb. Darum erhielt sich das Land bei der
Kirche. Obwohl die Schweiz von den Greueln des Dreißigjährigen
Krieges verschont blieb, brachte die neue Idee in der Folge auch diesen
Volksstaat wie das weite Deutschland um Kraft, Glück und Ruhm.
Der Mensch ist unrein von Natur, und ein reiner Gedanke wird ihm
nie geradehin zum Heil ausschlagen; er will erst sein Anglück
haben, und Gott wird stets mit dem Rest vorliebnehmen müssen.
Ein solcher, durch keine staatsmännischen Überlegungen mehr ge-
zügelter unbändiger Laß, wie er in der Eidgenossenschaft die
Parteien auseinanderriß und bis tief ins 19. Jahrhundert trennte,
ist nur in einem kleinen partikularistischen Staatswesen denkbar;
größere Verbände haben auf die Dauer Wichtigeres zu tun und
besitzen auch sichtbarere Bindungen in ihren monarchischen
Systemen. So kamen auch die deutschen Völker viel früher
wieder ans nationale Werk als die Eidgenossenschaft, wo die
Glaubenstrennung den gemeinsamen Staatsgedanken beinahe voll-
ständig zerstörte und wo die Parteien auf lange hinaus einander
nach Kräften zu schaden suchten. Die Eidgenossenschaft verlor in
jenen überlangen Zeitläuften sehr wichtige Gebiete und Bundes-
glieder, Nordsavoyen, Mülhausen, Straßburg und Rottweil.
Der schmutziggraue Rauch, der so das ganze eidgenössische
Leben verfinsterte, stammte aus den Hölzern der Selbstsucht und
der Beutelust. Es gibt vielleicht keine zweite Volksgeschichte, wo
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alle menschlichen Regungen so unmittelbar sichtbar werden und
sich so naiv heftig auswirken wie die schweizerische. In Wahrheit
ging der Kampf um die nationale Erneuerung, aber das Symbol
war der französische Solddienst, zu dem.sich das französische
Bündnis ausgewachsen hatte, der eine unaussprechliche Verderb-
nis und Korruption ins Land schwemmte und die Schweiz schließ-
lich zu einem französischen Vasallenstaat machte. Niemand mochte
mehr zu Laufe bleiben und arbeiten; jeder hoffte auf den wel-
schen Schlachtfeldern rasch zu Geld und sonstiger Beute zu
um dann für den Nest des Lebens daheim den großen
zu spielen. Das Leben wickelte sich in entsetzlich rohen
und gemeinen Formen ab. Die Listorienschreiber wollen den
Grund für diese sogenannte Reisläuferei in der Armut des
Volkes finden; die Ergebnisse der nationalökonomischen Wissen-
geben ihnen aber nicht recht, denn aus dem Beginn der
einschlägigen Periode werden sehr günstige Wirtschaftsbilanzen
beigebracht. Die Verarmung trat erst mit der Land- und Arbeits-
flucht ein, und der sogenannte Reislauf war nichts als eine
seelische Verlockung, zuerst durch die übergroße Bedeutung, die
man durch den Burgunderkrieg gewonnen hatte, und dann fort-
laufend durch das französische Gold und die französischen Schmei-
cheleien. Später beschränkte man sich nicht auf die welschen
Dublonen, sondern nahm, woher man kriegen konnte. Aber der
Bekämpfung dieser Volkskrankheit, die nur aus der geographischen
und moralischen Lage der kleinen werdenden Nation zu verstehen
ist, barst die Eidgenossenschaft innerlich auseinander. Dem
nationalen Reformator Alrich Zwingli gelang allein ein Bruch,
den er nicht gewollt hatte, nämlich der mit der katholischen Kirche;
Bruch mit den Gewalten der Verderbnis, den er allein aus
betrieb, erlebte weder sein Geschlecht, noch das nächste
oder übernächste.
Nun war freie Bahn für alle volksfeindlichen Mächte. Es
gab nichts, was das Volk nicht verlor und die Patrizier und
Oligarchen nicht an sich brachten, die Freiheit, den politischen
Apparat, die Staatsstellen, das öffentliche Recht und nicht zu-
letzt den nationalen Boden; die Durchbrechung der altgermanischen
Anschauung vom Gemeinbesitzrecht am Boden und die Kapitali-
sierung des Bodens schuf in der Eidgenossenschaft wie überall
einen verlorenen Laufen von verschuldeten und entwurzelten
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Bauern und eine gedeihende Klaffe von Lypothekenherren und
wirtschaftlichen Fronvögten. Das katholische Mittelalter war eine
wirklich goldene Zeit gewesen; die merkantilistische Neuzeit brach
mit einem hungrigen und unruhigen Licht an und läutete sich mit
Bauernrevolten ein. Man hatte die Macht und schlug sie
nieder; die Zustände blieben bestehen und füllten zwei Jahr-
hunderte durchaus mit ihrem ungesunden und kränkenden Inhalt.
Am die Mitte des 18. Jahrhunderts, dem Beginn der dritten
Epoche, begann es in den eidgenössischen Tälern zu säuseln und
zu flüstern, und ein echt eidgenössischer Geist regte sich in den
fortgeschrittensten Köpfen, ermuntert durch die Wirksamkeit der
deutschen Humanisten, der französischen Rationalisten und der
Physiokraten, Quesnay, Mirabeau, Turgot, Karl Friedrich
von Baden. Es ging wieder eine Ahnung davon um, daß es
einmal ein freies Volk auf einem freien Boden gegeben hatte,
und die Ahnung erweckte die Sehnsucht. Weil der Funke Gottes
aber immer am menschlichen Eigennutz und an der individuellen
Angöttlichkeit zünden muß, so wurde die Flamme, die leuchten
und wärmen sollte, zunächst ein zerstörendes Schadenfeuer, und
es scheint, daß notwendigerweise zuerst der alte europäische Wald
niederbrennen sollte, bevor die Methoden der vernünftigen For-
stung zur Herrschaft kamen. Anstatt der moralisch-physisch er-
neuerten Gestalt des Menschen brachten der Eidgenossenschaft die
französischen Generale ihre eigenen habsüchtigen Figuren über die
Grenze und dazu den abstrakten Zeitgeist einer theoretischen Frei-
heit, die romanisch formal wirkte, über die erdenmäßigen Not-
wendigkeiten des Volkes aber schwungvoll hinwegstürmte. Die
theoretisch-ideelle Befreiung des Menschen ist viel kurzweiliger
und dekorativer als die praktisch-materielle. So wurden die
Oligarchen wohl von den eidgenössischen Stühlen vertrieben, aber
nicht vom eidgenössischen Acker, und der Bauer blieb in der Land
des Lypothekenherrn; zu den neuen politischen Menschenrechten
behielt er auch das alte wirtschaftliche, sich je nach seiner Torheit
oder Anberatenheit weiter zu verschulden und seine Kinder mit
ihm. Die germanische Allmende wurde noch systematischer auf-
gelöst, in der Meinung, die individualistisch-rationelle Bebauung
zu fördern. Die Gemeinden verloren an Loheit, die Bauern an
Sicherheit und Rückhalt, und das freie Spiel der Kräfte nützte
auch fernerhin zumeist derjenigen Macht, die in allen Staats-
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formen den Vorteil hat und die Ernte schneidet: dem Kapital.
Am mit den Zinsen jedoch immerhin die Naturaleinkünste zu
steigern, ging man von einer vernachlässigten Agrarkultur zu einer
mehr industriellen Viehwirtschaft über; die Schweiz ist noch nicht
solange ein reiner Viehproduzent, als man gemeinhin annimmt;
das Schillersche Lirtenvolk baute Getreide in Gegenden, wo heute
das Rind unbedingt herrscht. Die Amwälzung war elementar;
ob sie heilsam sei, mußte die Zukunft zeigen. Zunächst half sie
dem verschuldeten Bauern seine Zinsen zahlen; die Milch brachte
immer etwas kleines Geld ins Laus, und der Käse entwickelte
sich zu einer schweizerischen Spezialität.
Mit einer alten Volkskrankheit hatte aber die Revolution
endgültig aufgeräumt; seit der Napoleonischen Zeit ist in der
Eidgenossenschaft keine Rede mehr von Reislaus. Für den Aus-
fall an Soldgeldern richtete man industrielle Verdienstmöglichkeiten
ein; das Fabrikwesen nahm einen erklecklichen Aufschwung. Die
jungen Leute, die jetzt zu Lause blieben, fingen an zu arbeiten,
und während jene Dynastien, die früher aus den Soldver-
trägen mit fremden Souveränen ihre Einkünfte bezogen hatten,
sich nun ausschließlich der nationalen Verschuldung widmeten,
fanden die durch die Gewerbefreiheit der neuen Zeit entbundenen
intellektuellen Kräfte in wirtschaftlichen Gründungen und Anter-
nehmungen ein fruchtbares Tätigkeitsfeld. So wurde noch ein
weiteres Gegengewicht gegen die nationale Armut und die Mög-
lichkeit geschaffen, wenigstens in annehmbarer Art aus der Land
in den Mund zu leben.
Aus den Wirren und dunklen Bedrängnissen der Zeit stiegen
immerhin auch die ersten Amriffe eines wirklichen eidgenössischen
Staates auf. Neben jenen Freiheiten und revolutionären Grund-
sätzen, die auch in anderen Nationen sichtbar wurden, war die
einschneidendste Veränderung innerhalb der alten Eidgenossenschaft
ihre Amwandlung aus einem deutschen Lerrenvolk mit welschen
Antertanenländern in einen modernen Bundesstaat; die Anter-
tanen wurden frei und bestimmten fortan aus ihren romanischen
Impulsen heraus die Entwicklung des Ganzen mit, und damit
hatte die Eidgenossenschaft praktisch aufgehört, ein deutsches Staats-
wesen zu sein. Diese Feststellung ist wichtig zur Beurteilung der
eidgenössischen Laltung innerhalb der Kämpfe der Gegenwart.
Es ist natürlich, daß die Wandlung des Bewußtseins, die durch
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die Wandlung des Zustandes bedingt wurde, sich nicht ohne be-
deutende Hemmungen und Reibungen vollzog. Die Gegenwart
zeigt, daß der neue Staatsgedanke in den Köpfen schon tief
Wurzel geschlagen hat. Man lehnt es entschieden ab, als deut-
scher oder französischer Schweizer angesprochen und für das be-
treffende Sprachgebiet reklamiert zu werden; man ist Eidgenosse
und damit in seinem Bewußtsein unteilbar. Mit anderen Worten:
man hat die moralische Mission, die mit dem Amschwung ge-
geben wurde, klar erkannt und in sich den absoluten Willen ge-
funden, sie zu erfüllen. Dazu war vor allen Dingen nötig, daß
man den Grundsatz der Neutralität sittlich vertiefte und politisch
weiter ausbaute, denn von jetzt an bedeutete er auch eine innere
Lebensbedingung. Dies geschah, indem man ihn zur europäischen
Anerkennung brachte, jenes, indem man ehrlich und redlich die
Zusammenarbeit mit den romanischen Volksgenossen aufnahm.
Es ist ersichtlich, daß in dieser moralischen Position ein sehr wert-
voller und weittragender Menschheitsgedanke enthalten ist; die
Schweizer haben ihn nicht geschaffen, aber sie haben ihn erkannt,
und in ihren besten Köpfen lebt er immer als letzte nationale
Daseinsberechtigung. Die Schweiz wird vor dem Weltgericht
bestehen oder nicht bestehen, je nachdem es ihr gelang, diese Idee
in ihrem Staatswesen und ihrer Kultur zur Anschauung zu
bringen. Solange das Ideal einer Vermenschlichung der Mensch-
heit durch eine Versöhnung der Rassen und Verbrüderung der
Nationen nicht in größerem Maßstab gelöst ist, so lange besitzt
die Eidgenossenschaft, in welcher es als Keim enthalten ist, durch
den Willen der Geschichte eine immanente Heiligkeit, von der ihr
freilich die ganze Verantwortung vor der physischen wie der
geistigen Welt allein zufällt.
Es sind also zwei entschiedene Eigenarten, die das Wesen
der heutigen Schweiz ausmachen: erstens ihre Fortsetzung der
deutsch-demokratischen Staatsideale und zweitens deren Kon-
jugation mit der humanen Idee von der Gesamtmenschheit; mit
einem anderen Volkswesen konnte diese auch nicht konjugiert
werden, und darin liegt die ursächliche Anvermeidbarkeit der
schweizerischen Eidgenossenschaft, nicht in den Bedürfnissen oder
dem Gutdünken der Großmächte. Man dürfte sagen, daß die
Schweiz durch die Land irgendeines Gottes dem traditionellen
Verlauf der irdischen Staatengeschichte entzogen sei, um an ihrem
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körperlich-beseelten Dasein eine besondere göttliche Idee zu ge-
stalten, sie pflegt die ihr zugewiesenen Tugenden der Entsagung
und der selbstlosen Humanität, während andere kämpfende Nationen
die heroischen Tugenden der Gefahr und der Größe aus derselben
tiefen geographisch-geschichtlichen Notwendigkeit erfüllen müssen.
Eine Sache ist nie ganz schlecht oder ganz gut. Die moralische
Beunruhigung des Volkes durch seine wirtschaftliche Armut
erzeugte immer so viel Spannung, als nötig war, um je und je
eine neue politische Freiheit als atmosphärische Auslösung hervor-
zubringen. Sei es im tiefsten Sinn eine demokratische Neigung,
sich Legitimationen aus anderen Gefühlsgebieten zu verschaffen
oder im höchsten Sinn der Drang nach der weltsittlichen
Synthese: jedenfalls kommt nie eine wirtschaftliche Erregung
als solche zur Geltung, sondern sie tritt im Auftrag der Religion
auf, oder sie schlägt einer bestehenden Religion oder Welt-
anschauung, die man auf der anderen Seite hat, demonstrativ die
Fenster ein. Die sozialen Spannungen des fünften Jahrzehnts des
19. Jahrhunderts, die im Grund immer die alten wirtschaftlichen
Spannungen waren, nur mit einer neuen Etikettierung, führten
in der Schweiz zu einem verspäteten Religionskrieg, wenigstens
dem oberflächlichen Ansehen nach; im Grund war es ein Krieg
der kapitalistisch entwickelten, evangelisch-freisinnigen Städte gegen
die sogenannte jesuitisch-reaktionäre, patrizisch verwaltete Arschweiz
und ihre katholischen Parteigänger, die neuen romanischen Kantone,
politisch gesehen ein Krieg der zentralistischen modernen Staats-
idee gegen die alte partikularistisch-föderalistische, wirtschaftlich be-
trachtet eine erste Kraftprobe des neuen sozialen Zeitalters der
Arbeit und des Weltverkehrs mit den individuelleren alten volks-
wirtschaftlichen Methoden. Nicht zufällig standen sich auch hier
die beiden Lager gegenüber, die das sittliche Postulat Zwinglis
geschaffen hatte, und die Gegner der neueidgenössischen Ordnung
waren dieselben patrizischen Dynastien, die damals am Solddienst
und -verdienst festhielten und nun als Schuldenherren und kon-
servative Landregenten die Erneuerung der Dinge in jedem Fall
ungern sahen.
Sehr beliebt ist es überall, über wirtschaftlichen Spannungen
politische Reformen und Sicherheitsventile einzusetzen in Gestalt
von gewissen Volksrechten theoretischer Natur, während die Praxis
nach wie vor ungekühlt auf die Nägel brennt. Aus jenen
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Bürgerkämpfen ging die Eidgenossenschaft zwar nicht von ihrem
Zinsendienst befreit und ihrem Boden wiedergeschenkt hervor,
jedoch politisch erneuert, in ihrem Bewußtsein gestärkt, um frei-
sinnige Regierungsgrundsätze bereichert und national einheitlicher,
als sie jemals gewesen war. Die schöne und großartige Zeit
zittert noch heute mit ihren Lichtern und Donnern in den eid-
genössischen Seelen nach, und vielleicht wird man diese Innigkeit
und Leidenschaft des eidgenössischen Gedankens nicht zum zweiten-
mal erfahren. Wenn aber der Gott der Berge noch lebt und
sein Volk noch lieb hat, dann beschert er ihm bald eine Auf-
erstehung und Renaissance jenes heftigen und guten Geistes.
Neutrale Gegenwart
Der Krieg traf also die schweizerische Eidgenossenschaft als
ein nach europäischen Prinzipien geordnetes Staatswesen von
besonderem Gehalt und mit besonderen Problemen. Jnnerpolitisch
erscheinen die abstrakten französischen Ideale insofern mit nationalem
Blut erfüllt und schweizerisch umgebildet, als man sie geradehin
völkisch praktiziert. Die Eigentums- und Persönlichkeitsrechte
sind in einem guten, gemeingültigen Zivilgesetzbuch niedergelegt;
ein humanes nationales Strafgesetzbuch ist auf dem Weg. Von
der vielberufenen Kantonswirtschaft haben die verschiedenen Ver-
faffungsrevisionen wenig übriggelassen, und dem wenigen wird
mit Eifer weiter nachgestellt, unter anderm dem Schulwesen, wo
einem Gesamtstaat freilich auch ein ernsthafter Einfluß zusteht.
Die Post, die Bahnen, das Münzwesen, der Zoll, die National-
bank, das Wehrwesen sind in der Schweiz ebenso allgemeinstaat-
lich wie in jedem andern Land. Die Volksfreiheiten drücken sich
aus im allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahl- und
Stimmrecht, im Recht der Verfassungsinitiative und des Referen-
dums — dreißigtausend Bürger können die allgemeine Abstimmung
über ein Gesetz verlangen und fünfzigtausend eine Verfaffungs-
revision —, und in einer Anzahl Kantonalfreiheiten, wie der
Trennung von Kirche und Staat in Basel und Genf, und be-
sondern Rechten, zum Beispiel dem Proportionalwahlsystem, das
wie alle Volksrechte eine Freiheit oder ein Anrecht scheint, je
nachdem es einer Partei paßt oder nicht; es kann vorkommen,
daß dieselbe Partei ein solches Recht im Bund bekämpft und in
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einzelnen Kantonen anstrebt, weil sie hier dadurch eine Minder-
heitsvertretung bekäme, die sie nach der üblichen Majoritäts-
methode niemals erreichen würde. Die herrschende und verant-
wortliche politische Gruppe ist die freisinnige, sogenannte radikale
Partei; von etwa 190 Sesseln im Nationalrat besetzt sie allein 112.
Von der eidgenössischen Armee spricht die öffentliche Meinung
jener Nationen, die Interesse an einer objektiven Betrachtung
haben, mit Ernst, und die es aus gewissen Gründen nicht haben,
beweisen doch den Ernst durch die Achtung vor ihrer militärischen
Schlagkraft. Was eine kleine Armee in gutem Gelände vermag,
zeigt gerade gegenwärtig der österreichische Alpenkrieg. Von der
taktischen Brauchbarkeit der schweizerischen Einheiten gab der eid-
genössische Aufmarsch an den Grenzen überzeugende Beispiele.
Lier stößt man auch gleich auf den einzigen Vorteil, den die
Schweiz vom europäischen Krieg hat. In der nun zwölfmonatigen
taktischen Zucht und Praktik ist aus der eidgenössischen Miliz
reguläres Militär geworden, und die erzieherischen Wirkungen
dieser Lehrzeit werden noch lange in Ton und Laltung des eid-
genössischen Soldaten zu spüren sein. Es ist etwas wie neu-
militärische Tradition geschaffen. Gewisse Dinge sind ausgiebig
bekanntgemacht und geübt, die sonst nur theoretisch demonstriert
werden konnten. Auch der materielle Grenzschutz ist durch die
Anlage von Feldbefestigungen und anderen längst nötigen prin-
zipiellen Vorkehrungen gründlich verstärkt. Da es sich beim
schweizerischen Soldaten von Lause aus um ein kriegerisch sehr
brauchbares Material handelt, so darf man den möglichen Even-
tualitäten ruhig entgegensehen.
Ein anderes Kapitel ist freilich die Kostenrechnung, die der
Bund dem Volk für diesen Vorzug vorlegen muß; wenn der
Krieg die Dauer haben wird, die ihm die mäßigen Pessimisten
prophezeien, so wird man sich auf eine Milliarde gefaßt machen
müssen. Es handelt sich dann um die Frage, ob die nationale
Wiedergeburt aus der Zeiterschütterung, die physische Auffrischung
der schweizerischen Mannschaft und die angelegten militärischen
Sicherungen die Ausgabe aufwiegen; das wird die einzige Mög-
lichkeit sein, zu verhüten, daß ein lebendiges Opfer zu einer toten
Buchung wird.
Im Gegensatz zu Deutschland, das seine Anleihen im Lande
emittiert, nahm die Schweiz fremdes Geld auf; die Frage, warum
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das deutsche Vorgehen nicht von vornherein befolgt wurde, hängt
mit der besonderen Situation der schweizerischen Wirtschaft zu-
sammen, die zur Zeit, als die erste Anleihe nötig wurde, in der
Panik lag; inzwischen hat man sich mit einer neuen Anleihe doch
an das Volk gewandt. Der Grund dafür liegt nicht darin, daß
die schweizerische Wirtschaft inzwischen so günstige Erfahrungen
gemacht hätte wie etwa die schwedische, sondern eher darin, daß
man nun annähernd weiß, was man verloren hat und noch ver-
lieren wird und mit dem Rest rechnen kann. Die innere Anleihe
bedeutet außerdem eine nationale Stärkung gegenüber jenem Teil
des Auslandes, der für die äußere Anleihe in Betracht käme
und mit dem man zur Zeit ernsthafte Differenzen hat. Nebenher
nahm man die nationale Opferwilligkeit für eine Kriegssteuer in
Anspruch; der Ertrag wird die Zinsen für die ganze vermutliche
Kriegsausgabe auf ein Zahr decken.
In die nationale Schadenrechnung schlägt außerdem mit sehr
hohen Summen der Verdienstausfall der Bundesbahnen, der
Zölle, der Post, der Äotellerie und der gesamten Industrie. Es
hat noch niemand den Mut gehabt, die Gesamtziffer auch nur
von fern anzusprechen. Lier ist der zweite Punkt, wo die bundes-
rätliche Politik zur Diskussion steht. Zu Beginn des Krieges
übertrugen die Räte dem Bundesrat die Generalvollmacht für
alle Vorkehrungen zur Aufrechterhaltung der eidgenössischen staat-
lichen Souveränität und zur Behauptung der konstitutionellen
Neutralität. Für diese gab es Landesgesetze, an die die Behörde
nach wie vor gebunden blieb, für jene internationale Konventionen
und Handelsverträge, die für die Schweiz weiter in Kraft be-
standen, da sie kein kriegführender Staat ist und mit sämtlichen
Nationen nach wie vor freundschaftliche Beziehungen unterhält.
Aus diesen Verträgen stehen ihr sehr klar die Rechte der fort-
gesetzten freien Ein- und Ausfuhr und der Durchfuhr zu, sogar
von Munition und Waffen, und die moralische Pflicht, auf die
Erfüllung der Pakte im Interesse des Landes in jedem Fall zu
dringen. Wie man weiß, trat ziemlich bald eine kriegführende
Partei, die in der Lage war, die schweizerische Einfuhr zu regu-
lieren, mit der Zumutung an die eidgenössische Bundesregierung
heran, ihrer Gegenpartei eine Reihe von Waren zu sperren;
hinter der Zumutung stand die Drohung, der schweizerischen Wirt-
schaft die Lebensmittelzufuhr abzuschnüren. Die betreffende Mächte-
Schaffner, Die Schweiz im Weltkrieg 2 \}
gruppe war sich darüber so gut wie der schweizerische Bundesrat
klar, daß ihr Vorgehen illegal, rechtswidrig und beleidigend war,
aber es kam für sie nur darauf an, ob die Schweiz sich fügen
werde oder nicht.
Für den Bundesrat stand die Rechnung anders. Er hatte
aufzukommen für ein Gemeinwesen, dem an einem Krieg an sich
nichts gelegen schien, das aber durch den Krieg der anderen von
vornherein ungeheure Verdienstausfälle erlitt und darauf Anspruch
hatte, für die stillgelegten Industrien andere Arbeitsmöglichkeiten,
die gerade der Krieg eröffnete, aufzugreifen und auszubeuten,
kraft der Verträge, die man für diesen Fall besaß. Auf seinen
Verträgen ließ sich fußen, wenn man die sittliche Schlagkraft auf-
bringen wollte, mit ihnen durch dick und dünn zu gehen. So
stark und unverwundbar war schließlich keine kriegführende Nation,
daß sie es wagen durfte, sich vor aller Welt die schweizerische
Eidgenossenschaft zum moralischen und militärischen Feind zu
machen, weil sie sich an ihren Rechten und an ihrer Ehre an-
gegriffen fühlte; die Wirkung auf die übrigen Neutralen mußte
ungeheuer sein. Es kann zurzeit natürlich nicht endgültig geklärt
werden, warum der Bundesrat die andere Stellung einnahm.
Möglicherweise hatte der Generalstab so bedenkliche Informationen
über benachbarte Truppenbewegungen und eventuelle kombinierte
Absichten, daß er das Spiel für zu gewagt hielt. Vielleicht
legte aber der Bundesrat seine Aufgabe dahin aus, dem Land
um jeden Preis, auch den der staatlichen Unantastbarkeit, einen
Krieg zu ersparen. Diese Auffassung ist diskutabel, und was
man gegen sie vorbringen will, so kann man ihr jedenfalls den
guten Glauben nicht absprechen. Es kann sogar einen sittlichen
Grundsatz enthalten, der schweizerischen Wirtschaft materielle
Opfer aufzuerlegen, um das Volk vor physischen zu bewahren.
Lier würde es sich aber um eine Verwechslung der Begriffe
Neutralität und Frieden handeln. Neutralität ist nicht gleich
Frieden, sowenig sie gleich Staat ist. Im vorliegenden Fall
scheint nicht sowohl der Grundsatz als der Staat selber angegriffen.
Bei sachlicher Untersuchung kommt man zur Auffassung, daß es
ein gleich schwerer Eingriff in die Selbstbestimmung eines Volkes
ist, ob man über seine Wege und Bahnen verfügen will, wie
Deutschland in Belgien, oder über seine Fabriken und Geschäfts-
verbindungen, wie England in den übrigen neutralen Staaten.
18
Seltsamerweise sieht man in allen diesen Ländern die Neutralität
mit Passivität gleichgesetzt; eine aktive Neutralität, die auf Selbst-
achtung und moralische Größe gegründet ist, hat man bisher bei
keinem Neutralen erlebt. Einzig die schwedische Regierung fand
neuerlich Worte, die auf eine lebendige sittliche nationale Basis
schließen lassen; sonst scheinen die neutralen Regierungen darin
einig zu sein, daß sie die Pflicht hätten, ihre Völker, ansehnlich
oder unansehnlich, jedenfalls mit heiler Laut durch diese Zeit zu
bringen. Nun ist aber bei der geltenden Moral der Friede sowenig
ein Staatszweck wie der Krieg; beide sind Wege zu einem höchsten
Ziel: der Erhaltung und unablässigen Steigerung eines öffentlichen
Zustandes. Die Völker, die heute wirksame Ideale besitzen, scheinen
lediglich jene zu sein, die dafür im Krieg stehen oder bereit sind,
einen Krieg dafür zu führen. Es ist betrüblich für die Rechte
und das Ansehen der Kleinstaaten, die alle wie die Schweiz
historische und moralische Missionen haben, daß die Zeitgeschichte
solche Betrachtungen anregen muß. Im Interesse gerade der
humanen und zivilisatorischen Ideale, als deren besondere Träger
die kleinen Völker sich fühlen, hätte man wünschen müssen, bei
ihnen die höchste und unwandelbare Entschlossenheit zu finden, in
einer Epoche, die alle Verträge und moralischen Fundamente er-
schüttert, wenigstens ihrerseits die rühmenswerte menschliche Tradi-
tion fortzusetzen, wegen deren Bruch gerade sie die Kriegführenden
nicht immer wahrhaft neutral anklagen.
Schließlich war bisher von allen neutralen Staaten Belgien
der einzige, der für seine Staatsgrundsähe seine Existenz einsetzte.
War Belgien wirklich im tiefsten Lerzen neutral wie die Schweiz,
bestanden niemals Abmachungen mit europäischen Großmächten,
Generalstäben oder Mittelspersonen, auch keine Eventualverständi-
gungen für den Fall einer deutschen Invasion: war den Belgiern
ihre Neutralität ebenso heilig wie die Liebe zu ihren Kindern, so
werden ihnen gerade die Deutschen nicht das sittliche Leldentum
absprechen, sondern sie werden nach ihrer kulturellen Tradition
die ersten sein, die in sich die menschlichen Qualitäten finden, die
Tragik diejes kleinen Volkes herzlich zu empfinden und solche
humanen Landlungen aufzubringen, die die ganze Welt als wahren
Trost begrüßen kann. Freilich, die Gewiffensreinheit müssen auch
wir anderen Neutralen voraussetzen, wenn wir mit dem sittlichen
Grundsatz nicht spielen lassen wollen! Jenen Neutralen jedoch,
19
die sich ähnlich schweren Eingriffen in ihre Staatshoheit aus
irgendwelchen, wenn auch noch so gutgläubigen Gründen ohne
einen heroischen Versuch fügten, will das theoretisch-pathetische
Brechen morscher Lanzen für Belgiens Rechte nicht sehr imposant
zu Gesicht stehen. Es kann von niemand verlangt werden, daß
er Deutschlands Taktik gutheißt, wenn sie ihm übel scheint oder
er den Feinden Deutschlands innerlich näher steht, aber man
darf von Leuten, die der Todesbereitschaft für ihre Person nichts
nachfragen, wenigstens Geschmack und Gescheitheit erwarten.
Immer wird die geographisch-moralische Lage entscheiden. Es
soll kein Volk, das auf einer welthistorischen Schicksalsstraße wohnt,
glauben, daß es durch eine künstliche Neutralisierung diesem Schicksal
entzogen sei. Neutral sein können nur solche Völker, deren geo-
graphische Lage die Idee der Neutralität nicht nur erlaubt, sondern
hervorbringt; die anderen haben andere Geschicke. Das ist mit
dem einzelnen wie mit einem Volk: mit seinem Schicksal muß
jeder rechnen, und er kann sich kein anderes aussuchen und auf
kein anderes gefaßt halten, als das für ihn wahrscheinlich und
unausweichlich ist. Der belgische Staat hat es an der äußersten
Entschlossenheit und Opferwilligkeit fehlen lassen, mit seiner wirk-
lichen Lage zu rechnen; er hat nicht wie die Schweiz den letzten
Mann militärisch organisiert und in der Stunde der Gefahr an
die Grenze gestellt, obwohl seine Gefahr seit lange furchtbar augen-
scheinlich war. Es ist unverständlich, warum noch ganze Iahres-
klaffen zu Lause saßen, als man das deutsche Ultimatum ablehnte,
nachdem es doch längst kein Geheimnis mehr sein durfte, daß der
deutsche Generalstab für den Kriegsfall einen Durchbruch durch
Belgien ins Auge gefaßt hatte. Die Anhänglichkeit an die be-
stehenden Verträge wird es also doch wohl nicht so sehr sein,
die Belgien von einem festen Bündnis mit den Westmächten ab-
hielt, als die moralische Halbheit einer Regierung, die weder auf
den einen, noch auf den andern Fall entschlossen Vorsorgen mochte.
Man vertraute auf seine Freunde, anstatt auf seine sittliche und
physische Kraft, und war in diesem Fall so wenig hingegeben
neutral, wie man im andern mannhaft schicksalsgewärtig war.
Ob die deutsche Regierung dann in den belgischen Archiven be-
lastende Dokumente fand oder nicht, ist ganz gleichgültig. Der
wahre Schuldige an diesem Anglück ist vor der Geschichte jener
staatsgefährliche, selbstzufriedene Materialismus, an dem alle
20
neutralen Kleinstaaten mehr oder weniger kranken, jene zynisch
oder sentimentalisch behagliche Stimmung von Opportunismus,
die, aller Gefahren ledig, nur tut und läßt, was ihr gefällt, als
ob es fortan für ein neutralisiertes Volk kein Weltgericht mehr
gäbe. Es ist durchaus eine moralische und physische Lattung der
Belgier zu denken, die die Deutschen von einem Experiment ab-
hielt, das nur bei sehr geringen Begriffen von der moralischen Größe
des leopoldinischen Staates möglich war. Die belgische Militär-
ordnung entsprach genau den zynischen Methoden, mit denen dieser
unglückliche Staat eingeführt wurde. Festungen kann man für
Geld immer bauen; sie wollen lebendig verteidigt sein. Bei einer
allgemeinen Wehrpflicht wäre ein Leer von rund einer halben
Million ohne den Landsturm aufzubringen gewesen; vom rechten
Geist erfüllt, hätte es in seinen Festungen einen Machtfaktor dar-
gestellt, mit dem auch Deutschland rechnen mußte. Statt deffen
wirken nun die irregulären Taten der Franktireure außerordentlich
peinlich, und die Aufforderung der Regierung zum Volkskrieg
ist nach allem Vorangegangenen geradezu verabscheuungswürdig.
Ich sage dies alles nicht, um den Deutschen zu gefallen, sondern
um bei den Neutralen eine abstrakte, sentimentale und tendenziös
unwahrhaftige Betrachtungsweise zu zerstreuen, in welcher ich eine
ernste Gefahr für sie selber erblicke, denn eine solche Angelegen-
heit so betrachten, heißt schon, sie im gegebenen Fall selber nicht
besser versehen zu wollen. In Wahrheit darf man sagen, daß
die belgische Negierung ihr Volk ins Verderben stürzte und ganz
allein verantwortlich ist für alles Elend, das über jenes Land
kam. Anter solchen Amständen einen Krieg aufnehmen ist kein
Leroismus, sondern ein Verbrechen. Latte man es mit den
moralischen und physischen Forderungen einer Neutralität schon
so wenig ernst genommen, so mußte man das Leil eines miß-
geleiteten Volkes anders bedenken und ihm nicht zumuten, zu
leisten, wozu es in keiner Weise seelisch vorbereitet und körperlich
erzogen war. In dieser Frage muß man nur die schweizerische
und die belgische Tradition miteinander kontrastieren, um sofort
die richtige Antwort zu finden.
Dies ist auch der Anlaß, ein Wort über zdie leidige
„Lufitania"-Angelegenheit zu sprechen. Sie^ hat in der Schweiz
großes Aufsehen verursacht, und die Meinungen gehen noch heute
weit auseinander, nicht allein von der Sympathie mit dieser oder
21
jener kriegführenden Partei geleitet, sondern von den fundamen-
talen Prinzipien der Lumanität und der menschlichen Rechte auf
Sicherheit und freie Bewegung. Der Vorfall hat inzwischen zu
einem Notenwechsel zwischen den Regierungen der nordamerikani-
schen Anion und des deutschen Kaiserreiches geführt, in dem sich
immer deutlicher geschieden die Auffassung der unbeirrten Theorie
und der Praxis gegenüberstehen. Dem neutralen Menschen liegt
es ob, in diesem Prozeß den wirklich unparteiischen Standpunkt
aufzusuchen.
Wir können Erfahrungen dafür beibringen, daß ein großer
Teil jener Leute, welche die humanen Grundsätze anrufen, diese
für ihre parteiischen Absichten mißbrauchen; die wenigen übrig-
bleibenden wirklichen Menschenfreunde verdienen in dieser Zeit
herzliche Verehrung, aber ihre Argumente sind unbrauchbar, so-
lange andere Gewalten und Triebe herrschen. Von unserm Mit-
leid mit den unschuldigen Opfern abgesehen, liegt die Sache so,
daß sie tatsächlich gewarnt waren, sich aus feindliches Kriegs-
gebiet zu begeben — denn darum handelte es sich beim Betreten
eines englischen Hilfskreuzers in Kriegszeit —, und der Einwand
der Anionsregierung, daß die deutsche Warnung nicht den richtigen
Instanzenweg eingeschlagen habe, ist eine sophistische Ausflucht.
Wenn sie für das Leben ihrer Bürger ebenso besorgt war wie
für die Geltung ihrer theoretischen Grundsätze, so mußte sie die
Warnung unterstützen; für die irreguläre Wirkung einer deutschen
Instanz aus unionistischem Gebiet, die in der Warnung enthalten
war, konnte sie die deutsche Regierung gesondert zur Rede stellen.
Es ist unmöglich, die Regierung der Anion von der Schuld einer
mangelhaften physischen Wachsamkeit freizusprechen. Die ameri-
kanische Gesandtschaft in Berlin riet beim Beginn des Seekrieges
jedem Amerikaner, das Deutsche Reich zu verlassen, um ihn vor
Schwierigkeiten zu bewahren, obwohl das Reich nicht im entfern-
testen in diesem Sinn Kriegsterritorium ist, wie ein englischer
Hilfskreuzer. Es entspricht den Gewohnheiten der Vernunft, daß
jeder Reisende, der Kriegsgebiet, liegendes oder schwimmendes,
betritt, dies auf seine eigene Verantwortung tut. Was will die
Anion unternehmen, wenn ein amerikanischer Korrespondent hinter
einer russischen Schlachtfront fällt?
Demselben abstrakten, hyperbolischen Geist scheint auch der
weitere Einwand Wilsons gegen die deutsche Auffassung der
22
„Lusitania" als Hilfskreuzer zu entspringen. Einer unparteiischen
Betrachtung erscheint es gleichgültig, ob der Hilfskreuzer „Lusitania"
in diesem Moment bestückt war oder nicht; es ist genug, daß ihn
die englische Admiralität als Hilfskreuzer ausdrücklich subventio-
niert und sogar im Bau beeinflußt hat; aus dem Umstand, daß
er ohne Begleitung von englischen Kriegsschiffen reiste, durfte
jeder Unterseebootkommandant den Schluß ziehen, daß er tatsäch-
lich armiert und imstande sei, sich selber zu wehren, und die
amerikanischen Bürger reisten faktisch auf einem englischen Kriegs-
schiff. Für einen aufrichtigen Neutralen ist es dann noch inter-
essant und bezeichnend, daß der deutsche Hinweis aus die Ver-
letzung des amerikanischen Gesetzes, das die Verschiffung von
Explosivstoffen aus Passagierdampfern verbietet, ignoriert wird;
sollte man ihn beachten, so fiele das ganze Streitobjekt dahin, da
die Ungesetzlichkeit der Situation von vornherein der Unions-
regierung den Standpunkt zur Beschwerde genommen hätte. Es
scheint für die wirklich neutrale Welt wichtig, diesen Punkt nicht
aus dem Auge zu lassen, da die unionistische Aktion nur durch
seine systematische Umgehung möglich ist. Das ist auch der Grund,
warum Wilsons Auftreten bei allem Aufwand von ernsten Mo-
tiven und tüchtigen Beweisführungen doch nicht den Eindruck
einer echten, sittlich unparteiischen und nur human ergriffenen
Lattung machen will. Er läßt sich auf Sophismen ertappen, und
der höchste Glaube, den man ihm zumessen darf, ist der, daß er
seine schiefe Einstellung selber nicht zu überblicken vermag. Man
brauchte ihn nicht aus den strengsten menschlichen Grundsatz zu
untersuchen, wenn er ihn nicht ausdrücklich für sich in Anspruch
nähme.
Wilsons Standpunkt verwundert und enttäuscht; er erscheint
einer unvoreingenommenen Betrachtung seltsam künstlich. Die
englischen Hilfskreuzer sind nicht die einzigen Reisemöglichkeiten
für Amerikaner, und ihre Verkehrsfreiheit und Sicherheit ist nicht
beeinträchtigt, obwohl Wilson sich so stellt. Schließlich wird es
ihm einfallen, zu verlangen, daß Amerikaner ungefährdet im
O-Zug von Brüssel nach Paris reisen können, und zwar mitten
durch die deutsche Schlachtlinie hindurch. Mit der brüsken Ab-
lehnung des sehr weitgehenden deutschen Vorschlags, für den
amerikanischen Bedarf einige markierte und sogar englische Schiffe
auszuscheiden und unter gegenseitiger Garantie fahren zu lassen,
23
hat sich die unionistische Regierung vollends für neutrale Augen
aus dem Gebiet der bürgerlichen Billigkeit und der politischen
Nützlichkeit entfernt; es läßt sich nur noch mit großen und schmerz- ,
haften Anstrengungen an eine unvoreingenommene und wirklich
unparteiische Gesinnung glauben, und Deutschland muß ihn unter
seine Feinde rechnen. Gerade der Ton der letzten Note scheidet
die Angelegenheit der unionistischen Regierung, noch viel mehr als
ihr sachlicher Gehalt, von der lebendigen Angelegenheit der übrigen
neutralen Welt. Man kann sich so einstellen, wie Wilson es
tut, aber es ist weder so weltmännisch noch so wissenschaftlich,
wie er glaubt. Wir wohnen mit aufrichtigem Kummer der Trübung
des neutralen moralischen Ansehens bei, das es von einer Stelle
erleidet, von der wir seine freieste, großzügigste und einsichtigste
Entfaltung erwarteten.
Ohne Zweifel: der Unterseebootkrieg ist eine Gewalttat. Aber
der ganze Krieg ist eine unerhörte und entsetzliche Gewalttat und
die Folge eines Mangels an festen Rechtsgrundsätzen im Frieden.
In dieser Frage hat der Papst die schönere und verständlichere
Haltung als der Präsident der amerikanischen Anion, weil er mit
vollkommener Anvoreingenommenheit aus dem göttlichen Stand-
punkt steht. Wie die Dinge einmal geschehen, kann man auch
England nicht wegen seines Versuchs verdammen, der deutschen
Nation durch Hunger beizukommen; im Krieg gilt jedes Spiel.
Gasbomben, Chlordämpfe, Vertragsbrüche, Verletzungen des
Völkerrechts, vergiftete Munition, Dumdumgeschosse: was für
Arsachen zu Erregung sollen einzelne Kriegsmittel und -taten geben,
wenn man einmal übereingekommen ist, den Krieg an sich zu
führen und ihn als legale Anternehmung anerkennt, sich Raum
zu verschaffen? Die Allianz führt unzivilisierte Völker ins Feld;
das ist ihr gutes Recht; sie gehören zu ihren Machtmitteln.
Deutschland vergewaltigte Belgien; England vergewaltigt Griechen-
land. Es geschieht nur, was geschehen kann. Wie traurig und
peinlich wirken die Luftbombardemente aus offene Städte, selbst
auf die Straßen und Läufer von umwallten Festungen! Es sind
legale Kriegshilfen, um den Gegner zu schädigen und einzuschüch-
tern. Im Krieg herrscht eine andere Legalität als im Frieden.
Im Krieg sind alle im Anrecht, und es ist legal, Anrecht durch
Anrecht zu vergelten. Der Anterseebootkrieg war die Quittung
auf die englische Afterblockade, Willkür gegen Willkür. Während
24
nun in Europa Lunderte von unschuldigen französischen, englischen,
russischen und deutschen Bürgern unter feindlichen Bombenwürfen
und Lunderttausende unter krepierenden Melinitgranaten zum Teil
amerikanischer Lerkunft verbluten, bringt der Präsident der Anion
die sittliche Anbescheidenheit auf, das selbstverschuldete Schicksal
von einigen sensationssüchtigen Touristen zur weltgeschichtlichen
Kapitalfrage zu machen. Es gibt keinen stichhaltigen Grund für
die Arroganz, daß die Anwesenheit eines amerikanischen Bürgers
Kriegsgebiet neutralisieren müsse, dagegen hat der Kongreß dem
Präsidenten die Vollmacht erteilt, gegen die amerikanische Waffen-
und Munitionsausfuhr Gesetze zu erlassen. Amerika ist der einzige
neutrale Staat, der auf dies traurige Recht aus der Langer Akte
nicht verzichtet, und der wirkliche Neutrale findet eine Differenz
zwischen der amerikanischen Praxis und der amerikanischen Theorie,
der amerikanischen Tat und den Worten des amerikanischen Prä-
sidenten. Wir können Wilson nicht als den Wortführer der
neutralen Völker anerkennen; er ist der Wortführer des amerika-
nischen Stahl- und Pulvertrusts und gewisser amerikanischer Sym-
pathien und Antipathien.
Während so zur Verwunderung der Welt ein wenig wehr-
hafter Neutraler einen starken Kriegführenden schikaniert, geht die
Blockierung der europäischen Neutralen weiter. Da die Schweiz
von vornherein, willig oder unwillig, auf einen bedeutenden Teil
ihres Verdienstes aus Arbeit und Lande! verzichtet hatte, schien
es schwer, zu verhindern, daß ein englischer Kommissar, Sir Francis
Oppenheimer, der englischen Gesandtschaft in Bern zugeteilt wurde,
um den noch übrigen Nest des schweizerischen Imports und Ex-
ports zu kontrollieren. Nun hatte man freilich seit den Zeiten
Napoleons keine fremde Kontrolle mehr im Land gesehen, und
auf die Dauer ging der Zustand bitter ein. Fand man es schon
aus sehr ernsthaft erwogenen Gründen nicht opportun, auf all-
gemein aufgegebenen Sicherheiten einseitig weiter zu bestehen und
dafür die Gefahr der Nahrungsmittelsperre zu riskieren, so er-
kannte man es doch auch als die geringste Forderung der staat-
lichen Souveränität, daß man den Westmächten eine Garantie,
die sie einmal haben mußten, selber gab, anstatt daß man sich an
der fremden Instanz rieb und die Sache doch nicht verbesserte.
So kam man auf den Gedanken, den holländischen Einfuhrtrust
auch in der Schweiz in irgendeiner Form zu praktizieren; von
25
vornherein faßte man aber die Aufgabe so auf, daß man sich
dadurch der englischen Kontrolle entledigte und seine moralische
Rechtlichkeit als Ersatz — für den englischen Augenschein an Ort
und Stelle — anbot. Es soll eine private Organisation geschaffen
werden, die als Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht den gesamten
Güterverkehr betreibt und dem Staat verantwortlich ist, der seiner-
seits die Einhaltung der Vereinbarungen nach außen garantiert.
Man ist der Meinung, daß sich jene kriegführende Partei bei
einer solchen loyalen Lösung billig beruhigen solle, und findet sich
mit Recht überrascht und enttäuscht, da diese Voraussetzung nicht
zutrifft. Immerhin scheint man nun diesen Standpunkt als die
äußerste Position zu betrachten, von der man nicht weiter abgehen
will; die schon bemerkte bundesrätliche Rede sieht sogar bereits
den Fall voraus, daß infolge der Ergebnislosigkeit der Verhand-
lungen auch in der Eidgenossenschaft eine Lebensmittelkontrolle
eingeführt werden müsse.
Inzwischen steht es freilich um die schweizerische Industrie
und den Export schlimmer als in irgendeinem anderen Staat, ob
er nun Krieg führt oder nicht. Deutschland hat seine Industrie
militärisch mobilisiert, und eine große Reihe von Betrieben arbeiten
unter geradezu glänzenden Bedingungen, obwohl das Reich vom
Weltverkehr abgeschnitten ist. Alle anderen neutralen Staaten
liegen an großen Weltverkehrsstraßen und können einen bedeutenden
Teil ihres Stoffwechsels aus eigener Machtvollkommenheit auf-
rechterhalten. Die Schweiz ist nicht nur schikaniert und theoretisch
ausgeschaltet, sondern praktisch blockiert. Man muß wissen, daß
sie in der Hauptsache keine primäre, unabhängige, sondern eine
sogenannte Veredelungsindustrie betreibt, für die sie ganz auf die
Zufuhr von fremdem Rohmaterial angewiesen ist. Der Einfuhr-
wert ihrer Waren steht zwischen 700 und 800 Millionen Franken,
der Ausfuhrwert bei 200 Millionen Franken. Anter den Import-
artikeln spielt die Getreidezufuhr im Wert von einer Fünftel
Milliarde eine bedeutsame und nicht unbedenkliche Rolle. Diese
ungeheuer hohe Ziffer verdankt man zum größten Teil der Am-
wandlung der mittelalterlichen Bodenkultur zur Viehwirtschaft;
es zeigt sich heute, daß sie weder die nationale Wirtschaft ge-
steigert noch die nationale Anabhängigkeit weiterentwickelt und ver-
vollständigt hat. Das letztere ist aus den Zeitvorgängen leicht
einzusehen, das erstere geht aus sachgemäßen Berechnungen hervor.
26
Da überall zwischen dem Grasland Getreide sporadisch gebaut wird und
gut fortkommt, ist der Beweis geliefert, daß nicht Klima- und Boden-
verhältnisse die Viehwirtschaft fordern; einzig für die Berglandschaft
scheint sie die gegebene Methode. Außerdem hat man gefunden, daß
die Bodenkultur auf den Quadratmeter 60 bis 70 Rappen ab-
wirft, gegen 3 bis 4 Rappen des Grasbaues. Auf nur 200 Quadrat-
kilometer, den fünfundachtzigsten Teil des gesamten Graslandes,
käme danach ein Kulturertrag von 120 Millionen Franken gegen
6 bis 8 Millionen Franken des Viehbetriebs. Es hat sich gezeigt,
daß die Kuh eine außerordentlich schlecht arbeitende Maschine ist,
die das Kapital, das sie darstellt, auf geradezu lächerliche Weise
verzinst. Eben der europäische Krieg ist es, der die Augen über
diese nationalen Traditionen öffnet. Man erschrak vor der Ge-
fahr der Ernährungsnot und fing an zu rechnen, warum Deutsch-
land ohne Zufuhr unter lauter Feinden zu essen hat, und die
Schweiz unter lauter Freunden ums tägliche Brot bangen muß.
Die Folge dieser Erkenntnisse wird eine gründliche Verwandlung
des schweizerischen Landschaftsbildes sein; man wird später viel
weniger Grün zu sehen bekommen, als man es bisher gewöhnt war;
dafür werden die Einfuhrziffern für Nahrungsmittel erheblich
sinken und das Gefühl der nationalen Sicherheit steigen, nicht zu
reden von den aufwachsenden bäuerlichen Guthaben auf den
Sparkassen. Leute rechnet man der schweizerischen Bauernschaft
eine Lypothekarschuld von 3 Milliarden 800 Millionen nach und
eine Zinslast von 170 Millionen, den fünften Teil eines landwirt-
schaftlichen Iahresertrages. Preußen hat 19 Milliarden Mark,
23,75 Milliarden Franken; im Verhältnis der Einwohnerziffern
sollte es also 30 Milliarden Franken Schulden haben oder die
Schweiz nur 1,9 Milliarden Mark. Es ist einleuchtend, daß eine
Verbesserung der landwirtschaftlichen Methode diese Summe sehr
zu verringern imstande wäre; sicherlich hängt die Differenz mit der
unrentablen schweizerischen Graswirtschaft zusammen. Außerdem
ist hier wie in Deutschland von diesem Krieg eine Erweckung und
Steigerung des Sinnes für den nationalen Boden zu erwarten.
Es sprechen viele Anzeichen dafür, daß nach dem Frieden schon
früher und nicht nur in privaten Kreisen angesetzte Impulse zur
Reform des nationalen Bodenrechtes großzügig weiter kommen
und öffentliche Begriffe regenerieren werden. Man wird endlich
daran gehen, diese ungeheuren Schuldenlasten abzutragen und
27
wieder einen freien nationalen Bauernstand zu schaffen, der
unserer ganzen Wirtschaft jenes goldene Fundament zurückgibt,
das uns seit dem Mittelalter ganz abhanden gekommen ist.
Dies sind freilich Dinge, die in Deutschland weiter gediehen
sind als in der Schweiz, aber die Erfahrung lehrt erstens, daß
alle ethischen und zukünftigen Impulse aus einem Krieg be-
schwingt und heftiger aufstehen, und daß jede nationale Er-
regung zum Fortschritt in Deutschland ihre Rückwirkung in der
Schweiz äußert.
Mit der Landwirtschaft sind jedoch die Einblicke in der Schweiz
noch nicht erschöpft, denn gleich ihr findet man auch die natio-
nale Industrie falsch orientiert. Die Lebensgefahr eines Landes,
das für seinen Verdienst ganz auf den Export und für die
Ernährung ganz auf den Import angewiesen ist, wird in dieser
Zeit furchtbar deutlich, zumal es sich bei dem Export nicht um
Gebrauchsindustrien handelte, deren Produkte man zur Not
selber konsumieren könnte, sondern um Luxusindustrien, um ganze
Massen Spitzen, Seide, Ähren, mit denen nun kein Mensch etwas
zu machen weiß. Wer soll all den Käse verbrauchen, der nun
infolge des Ausfuhrverbots aufgestapelt liegt, die Schokolade,
die kondensierte Milch? Ein solcher Zustand ist nicht nur für die
Schweiz, sondern auch für die Kriegführenden bedenklich, weil er
ihre Flanke gefährdet. Man wird mit Recht daran gehen, nach
dem deutschen Vorbild zuerst die nationale Wirtschaft nach innen
auszubauen, damit man während eines neuen europäischen Sturmes
unter Dach sitzt, ehe man sich wieder mit ganzer Liebe den Ex-
portfreuden und -leiden hingibt. Man wird Bedarfsindustrien
gründen und die bestehenden erweitern. Alle jene Artikel, die
zum täglichen Leben gehören, deren Einfuhr den Zoll fett macht
und die Nationalökonomie mager erhält, wird man künftig in
steigendem Maß selber herstellen wollen. Ein Zustand, bei welchem
die eidgenössische Industrie weder für den Krieg ^arbeiten kann,
was sie auch nicht soll, noch für die nationalen Tagesbedürf-
niffe, wozu sie nicht eingerichtet ist, darf nicht wieder ein-
treten, dagegen wird man mit derberen Manufakturen und
einer nährhafteren Landbebauungsmethode unabhängiger sein
und künftig anderen Staaten die Verlegenheit ersparen, mittels
des Brotkorbes auf schweizerische Gepflogenheiten einwirken zu
wollen. Wer dem Bundesrat alle Kausalität für die jüngsten
28
Vor- oder Rückgänge allein zuschreiben wollte, wäre im Anrecht;
er fand nicht durchaus Verhältnisse vor, auf denen sich sicher
fußen ließ.
Der schweizerische Edelexport wird darum nicht eingehen, aber
es wird nötig sein, ihm Luft zu schaffen. Laben die europäischen
Großmächte Krieg gemacht, so werden sie auch Wunden heilen
helfen. Obwohl alle Verträge gebrochen sind, wird man sofort
darangehen, sie wieder aufzurichten und neue zu schließen. Es
wäre wünschenswert, daß sich ein Verband der neutralen Staaten
so viel Einfluß beizeiten sicherte, als nötig ist, für sie ganz klare
und bündige Bestimmungen zu schaffen, nach denen sie nicht nur
in Friedenszeiten, sondern auch im Krieg wirklich neutralisiert und
ungekränkt bleiben. Es ist schade, daß man nicht längst den staats-
männischen Aufschwung zur Bildung einer neutralen Anion ge-
funden hat. Das Fiasko schien zu beweisen, daß es sich in den
meisten Fällen nicht um eine begriffene Neutralität, sondern um
eine politische Fiktion handelt, um einen kleinstaatlichen Partiku-
larismus mit parteiischen Neigungen und Abneigungen. Auch die
Sympathien der Neutralen sind einander feindlich und die Ein-
griffe der Kriegführenden von diesem Gesichtspunkt aus vielleicht
nicht immer ungerecht. Das schmerzliche, opferreiche Bemühen
um eine lebendige, praktische, sittliche Neutralität bemerkt man
einzig in dem Land, in dem sie eine innere Notwendigkeit ist, in
der Schweiz. Das wird auch sichtbar in den Lilfsmitteln, die
man für eine Lösung des allgemeinwirtschaftlichen Problems ins
Auge gefaßt hat. Längst von allen Seiten diskutiert, geprüft,
beiseite gelegt und wieder diskutiert sind die Ideen einer Zollunion
mit dem Reich oder mit allen vier Nachbarn. Mit dem Reich
ist dieser Zusammenschluß nicht möglich, weil er der Schweiz das
neutrale Gesicht nähme und von den romanischen Schweizern un-
gern gesehen würde, und mit allen vier Nachbarn nicht, weil die
Idee, so schön und neutral sie an sich?ist und obwohl sie einen
Keim von der ersehnten europäischen Anion enthält, dem eid-
genössischen Staat einen Teil seiner Selbstverfügung entzöge, auf
den er zur Zeit noch nicht verzichten kann. Außerdem scheint es,
daß es mit Zollverträgen nicht getan ist, sondern daß die Schweiz
überhaupt vom Zoll befreit werden soll. Die Schweiz ist das
ideale Land für den Freihandel, weil sie kein abgeschlossenes Wirt-
schaftsgebiet darstellt, weil sie ein kleines, von der Land in den
29
Mund lebendes Binnenland ist und weil sie neutrale Traditionen
pflegt. Der Schutzzoll dagegen ist die gegebene Form für einen
großen Staat mit vollkommener Wirtschaft, eigenen Rohstoffen
und bedeutender physischer Macht. Nur er kann seine Zölle aus-
halten, weil sie nicht auf Lebensbedingungen liegen. Dieselben
Nahrungsmittel und Rohstoffe, die man im Reich aus eigener
Land hat, bezieht die Schweiz aus zweiter Land und vom natio-
nalen Zoll verteuert, nicht zu reden von den Transportspesen,
denen man alsgemach durch eine entwickelte Rheinschiffahrt bei-
zukommen hofft. Dieser Druck liegt so empfindlich auf der schwei-
zerischen Wirtschaft, daß die nationalen Industrien längst auszu-
wandern begonnen haben. Das radikale Heilmittel zur Verbefferung
einer solchen Situation scheint immer mehr die Aufhebung des
Zolles und die staatliche Monopolisierung aller hauptsächlichen
Rohstoff- und Nahrungsmittelimporte; der staatliche Amschlags-
verdienst wird die Zölle ersetzen und der Wegfall der Zölle jenes
Zuviel von Druck beseitigen, unter dem die nationale Industrie
leidet. Eine solche Amwandlung liegt am Weg der Geschichte;
die Staaten entwickeln sich aus politisch-geographischen immer
schärfer zu wirtschaftlich-kapitalistischen Organisationen. Das
Deutsche Reich könnte bei dem großen Prozentsatz von deutschen
Arbeitskräften in der schweizerischen Wirtschaft und bei der starken
deutschen Einfuhr in die Schweiz an einer Neuordnung im an-
geführten Sinn aufrichtig interessiert sein. Zwischen der Erleich-
terung der Einfuhr und der Notwendigkeit, die Eigenwirtschaft
zu steigern, liegt kein Widerspruch. Mit dem Preis der im-
portierten fremden Fertigartikel sänke auch, infolge derselben
Zollbefreiung, der Preis der inländischen, weil die Rohmaterialien
billiger werden; das bisherige Verhältnis wird sich also nicht aus
diesem mechanischen Grund verschieben, höchstens aus dem morali-
schen, daß die schweizerische Gebrauchsinduftrie ihren eigenen
nationalen Markt zu erobern sucht. Die Abnahme des Kauf-
zwangs für deutsche Gebrauchswaren würde ersetzt durch die Zu-
nahme der Kauflust und der Kaufkraft für deutsche Luxusware.
Der schweizerische Export geht bekanntlich hauptsächlich nach fer-
neren Ländern; er wird künftig mehr als je am Balkan interessiert
sein und wohl auch an der Wiederherstellung der Zustände in
Rußland. Vielleicht gewinnt die Schweiz zunächst auch eine
Wichtigkeit als Amschlagsplatz für deutsche Waren nach Frank-
30
reich und Italien, bis die Wege wieder für einen direkteren Ver-
kehr frei werden.
In das deutsche Programm von der Befreiung der Welt-
märkte und der Weltwege gehört die Befreiung der schweizerischen
Wirtschaft organisch hinein; wie die Gegenwart zeigt, ist die Neu-
tralität und Souveränität der Schweiz nicht vollkommen, solange
nicht auch die schweizerische Wirtschaft neutralisiert ist. Dies
Problem liegt außerdem genau auf dem Weg der schweizerischen
Tradition. Was die internationale Sicherung der eidgenössischen
freihändlerischen Position angeht, so könnte man sie so bewirken,
daß ein kommender europäischer Regenerationskongreß, wie der
weiland Münster- und der Wiener Kongreß, die politische Neu-
tralität der Schweiz, diesmal ihre wirtschaftliche Neutralität
proklamiert. Eine Neutralität bedingt Gegenseitigkeit. Die poli-
tische Neutralität der europäischen Mächte gegenüber der Schweiz
würde erweitert durch eine wirtschaftliche Neutralität, mit anderen
Worten, alle Länder träten zur Schweiz in ein Freihandels-
verhältnis. Für Europa besteht jedenfalls eine Aussicht auf
Durchführbarkeit dieses Vorschlages. Außereuropäische Weige-
rungen müßten mit Generalzöllen beantwortet werden, so lange,
bis die betreffenden Staaten genug Interesse fänden, dem Frei-
handelsvölkerbündnis der schweizerischen Eidgenossenschaft beizu-
treten. Denn schließlich handelt es sich hier sowenig wie mit
der politischen Neutralität um eine rein schweizerische Angelegen-
heit, sondern um ein allgemein menschliches Interesse. Der Mög-
lichkeiten zu Entzweiung und Krieg sind viel zu viele; der blutige
Anschauungsunterricht der Geschichte ist übermäßig mit Stoff
versehen. Dagegen gibt es viel zu wenig Anlässe und Einrich-
tungen für gemeinsame und verbindende Interessen, und jener
Anschauungsunterricht, der die Völker auf der menschlichen
Grundlage familiärer Beziehungen zeigt, klagt über den Mangel
an Material.
Es ist mit gutem Grund die Erkenntnis vorhanden, daß die
schweizerische Eidgenossenschaft in ihrem physischen Bestand und
ihrer moralischen Autorität um so sicherer sein wird, je ent-
schiedener sie ihre geographische und welthistorische Lage erkennt
und ausbaut, und je mehr Einrichtungen sie hervorbringt, worin
diese ihre positive Besonderheit ausgedrückt wird, ja, man soll sie
sogar zu dieser internationalen Entwicklung nötigen. Es ist ein
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Fehler, daß die Friedenskongresse nicht in der Eidgenossenschaft,
der Wiege des Friedensgedankens, beheimatet wurden. Sie ge-
hören ohne Zweifel dorthin, wo schon das Rote Kreuz zentrali-
siert ist und wo der Weltpostverein und die Welttelegraphenunion
ihren Sitz haben. Man sagt, daß die Absicht bestand, mit den
Kongressen nach Bern zu gehen, und daß man beim damaligen
Bundesrat kein Entgegenkommen fand. Die Wahrheit dieser
Behauptung vorausgesetzt, so zeigt jedenfalls die gegenwärtige
Bundesregierung eine Laltung von großer humaner Wachsamkeit
und internationaler Großherzigkeit, und diese ist nur möglich inner-
halb eines Volkes, das Traditionen in dieser Richtung besitzt.
Man sollte diese Traditionen in weitgehendem Maße ausnützen
und die eidgenössisch-neutralen Staatsorgane mit allen Bestrebungen
des Friedens und der Völkerversöhnung identifizieren.
Internationaler Ausblick
Die letzte Phase der Weltgeschichte hat so viel Material bei-
gebracht und Grundsätze aufgestellt, daß es möglich wäre, daraus
die Form und die Äauptrichtung eines künftigen permanenten
wirksamen Schiedsgerichts zu gewinnen. Die deutsche Gruppe
fordert die Freiheit der Weltmärkte und der Weltwege, die geg-
nerische stellt das Nationalitätenprinzip als moralisches Axiom für
die Großmächte auf. Es ist sichtbar, daß die deutsche Forderung
erhoben wird, weil sie für die Zentralmächte nicht erfüllt ist, und
die gegnerische, weil die Mächte der Allianz mit fremdnationalem
Besitz im großen gesättigt sind und die Zentralmächte verhindern
wollen, ihrerseits ihre Staats- und Reichswirkung auf ähnliche
Weise zu erhöhen. Nun sind die Streitpunkte des laufenden
Krieges kein Gegenstand für irgendein Schiedsgericht, eben weil
der Krieg an Stelle des Schiedsgerichts getreten ist; möglicher-
weise werden solche Fragen nie schiedsrichterlich zu schlichten sein,
vielleicht handelt es sich hier um Kraftproben, die gemacht werden
müssen. Es scheint, daß die deutsche Menschheit an Macht ge-
wonnen hat und nicht länger zaudern konnte, gegenüber dem Ein-
spruch der anderen das Exempel anzutreten. Kraft wird bekannt
durch Äußerung, und wenn die gesittete Äußerung nicht genügend
Überzeugung wirkt, so muß die Arkraft, aus der die sittliche wächst,
den Austrag des Prozesses übernehmen. Die Auffassung jener
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Leute, die einen militärischen Waffengang und Sieg als ein rohes
Ergebnis der materiellen zufälligen Macht betrachten, ist irrig.
Napoleon beherrschte die Welt nicht länger, als die usurpierten
Staaten dem französischen Staat sittlich unterlegen waren. Ein
gesunder Körper ist nie unternehmend und imposant ohne eine
große Seele. Wenn der Gott in der Weltgeschichte die Weiche
umwirft und das deutsche Zeitalter verkündet, so erleidet eine
neutrale Betrachtung dabei keine Erregung. Die wahre Neutralität
ist Wissenschaft, Gerechtigkeit und das daraus gewonnene Recht.
Das ist die tiefste Begründung für den Glauben, daß aus den
Lehren der jüngsten Geschichte die Grundsätze für ein erweitertes
Völkerrecht für eine Anwendung schon auf den Frieden zu ge-
winnen seien.
Die reinsten Einsichten in die Dinge der Welt fallen für
einen Schweizer genau zusammen mit den reinsten Einsichten in
die Dinge der Eidgenossenschaft und des Menschen. Die neuen
rechtlichen Kautionen für eine gedeihliche Entwicklung aller Völker
zwischen allen Völkern sind durch die bekanntgegebenen politischen
Grundsätze der Großmächtegruppen bereits festgelegt und gipfeln
im Zentralbegriff der Freiheit, der auch den Schweizern als Zentral-
begriff gilt. Für die Erkenntnis ist es spannend und interessant,
daß die manifestierte Staatsmoral der Kriegführenden kreuzweise
ohne irgendeine Änderung bei ihrer Sanktion auch den Gegnern
zugute kommen wird, eben weil sie wahre Grundsätze sind. Die
Befreiung der Nationalitäten wird Deutschland nicht schwächen,
sondern sichern, weil sie zwischen das Reich und Rußland freie
Mittelstaaten einschieben muß. Die Befreiung der Weltwege
muß den Russen die Wege zum Meer öffnen. Man sieht, welche
Konsequenzen der Amgang mit sittlichen Grundsätzen hat; trotzdem
oder eben deshalb bieten sie die einzige Äandhabe für die Auf-
stellung eines internationalen Rechtes. Die beiden Eckpfeiler,
worauf es gegründet werden muß, sind die Sätze: Jede Nation
hat die Selbstbestimmung über ihr Schicksal! Alle Weltmärkte
und Weltwege sind für alle Nationen frei! Die Verfassung,
von der das Arteil ausgehen muß, ist der politische Zustand,
der durch diesen Krieg zu Recht, das heißt nach Maßgabe der
vorhandenen realen Kräfte, geschaffen worden ist. So würde
es künftig nur noch Verfaffungskriege, also Kriege um die Welt-
verfassung geben, nämlich dann, wenn wieder bedeutende Kräfte-
Schaffner, Die Schweiz im Weltkrieg 3 33
Verschiebungen eingetreten sind, die sich nicht auf friedlichen» Weg
zur Anerkennung bringen könnten.
Man darf vor keiner Idee zurückschrecken, wenn es sich darurn
handelt, das Leil der Menschheit zu betrachten. Ich will nicht,
daß man mir glauben soll, ich wünsche nur, daß man mit mir
fühle. Aber ich habe bereits bemerkt, daß man mich nach Garantien
und dem Instanzeniveg fragen wird. Wo ein Leben ist, da hat sich
noch immer die Form gefunden. Stellen wir uns dies konstituierte
Schiedsgericht als einen internationalen Gerichtshof in Bern oder
Genf vor, an dem Richter mit internationalem Ansehen, die auf
das geschriebene Völkerrecht vereidigt sind, das internationale Recht
suchen. Wir werden vielleicht internationale Juristen und eid-
genössische Geschworene haben, unparteiische, bekannte Ehren-
männer, die von jenen die Rechtsbelehrung empfangen und das
Arteil fällen, nachdem die Anwälte der Parteien gesprochen haben.
Die Geschworenen können auch aus allen wirklich neutralen Län-
dern zusammengesetzt sein; die Parteien haben, wie beim Schwur-
gericht, das Einspruchsrecht gegen sie. Der Laupteinwand ist die
Frage nach der Exekutivgewalt. Nun, es gibt auch für die Ein-
haltung der Kongreßverträge keine Exekutivgewalt; es ist heute
nicht mehr der Ehrgeiz der Staaten, Krieg zu führen, und noch
viel weniger der Völker. Die letzte Vergangenheit hat gezeigt,
daß man den Frieden sogar unter willkürlichen Zuständen aufrecht-
erhält, wenn sie auch nur noch halbwegs erträglich sind. Die
Exekutive finden wir im Friedenswillen der Völker, der mit der
Zeit nicht schwächer wird, sondern stärker, und in der furchtbaren
Verantwortlichkeit der Regierungen. Im Nechtszustand werden
diese moralischen Garantien an Festigkeit gewinnen, weil mit dem
Recht die Nötigung und der Vorwand für die Willkür aufhören
und die Verantwortlichkeit der leitenden Kreise zunimmt; ertragen
die Völker unter Amständen einen ungerechten Frieden, wieviel
lieber werden sie einen gerechten ertragen. Die größte Garantie
für die praktische Wirkung eines Rechtes liegt im Vorhandensein
dieses Rechtes, denn die Menschheit will das Recht. Dann gibt
es noch eine ganz natürliche physische Exekutivgewalt: die andere
Partei, die gegen einen renitenten Äändelsucher immer Äelfer
finden wird. Weitere Exekutiven wären möglich durch die Auf-
hebung von Handels- und Verkehrsbeziehungen mit dem be-
treffenden Staat durch das Schiedsgericht, also durch den recht-
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lichen Boykott. Man muß immer im Auge behalten, daß es sich
hier nirgends um alte staatliche Willkürhandlungen dreht, sondern
um kontrollierbare und öffentlich kontrollierte Verdikte und Wir-
kungen des internationalen Rechtes.
Berufungen gegen ein Arteil kämen in Frage, wenn neues
Material aufgebracht würde; einer dadurch geschaffenen neuen
Sachlage würde ein neues Arteil gerecht. And dann bliebe, wie
schon gesagt, noch der Verfassungskrieg übrig, der aber durch die
Rechtspraxis je länger, je mehr zur Hypothese würde. Das
Schiedsgericht hätte den gegenwärtigen Verfaffungskrieg unnötig
machen können. Nur die Nechtsfpannungen schaffen die großen
Willkürverbände, wie sie früher die bürgerlichen Organisationen
zur Selbsthilfe schufen, die, geradeso wie jetzt die staatlichen,
den Rechtszweck aus dem Auge verloren und rein die Gewalttat
züchteten. Vom Befreiungskrieg begonnen, waren alle deutschen
Kriege Verfassungskriege; die des 19. Jahrhunderts um die
deutsche, der gegenwärtige um die Weltverfassung; trotzdem hätte
sie ein internationales Recht unnötig gemacht; sie waren alle durch
die Grundsätze der nationalen Selbstbestimmung und der Welt-
verkehrsfreiheit gerichtlich entscheidbar. Der Krimkrieg und die
österreichischen Kämpfe mit Italien hatten auch kein anderes Er-
gebnis, als das internationale Recht gebracht hätte: Rußland
mußte die Wirkung des türkischen Staates respektieren. Ein inter-
nationales Schiedsgericht hätte proklamiert: „Jeder Nation gehört
von der Erde, was sie bewohnt und bebaut; das übrige ist für
sie freier Weg, nicht mehr, nicht weniger." Man soll nicht
davor anstehen, daß in dreitausend Jahren Völkergeschichte kein
internationales Recht geschaffen wurde, noch weniger kann dieser
Amstand als Beweis gegen die Möglichkeit eines Schiedsgerichts
gebraucht werden. Ein Recht setzt entwickelte Zustände voraus.
Ohne einen öffentlichen Zustand ist kein Recht möglich, und der
Zustand zum internationalen Recht fehlte bisher. Erstens ist es
noch nicht lange her, daß es in der heutigen moralischen Bedeutung
Nationen gibt; es gab Reiche und Völkerschaften, aber Nationen
wurden erst mit den neuen Verkehrsmitteln, und umgekehrt ent-
stand das Interesse an der Weltverkehrsfreiheit mit dem Vor-
handensein von erwachten Nationen, die den entwickelten Verkehr
miteinander aufnahmen und darin nicht gehindert sein wollten.
Diese Nechtsgrundsätze sind bereits so im Bewußtsein ausge-
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arbeitet, daß sie, wie gezeigt wurde, von den Kriegführenden als ►
Leitmotiv proklamiert werden. Darum haben wir heute eine Grund-
lage, die faktisch bisher in der Weltgeschichte noch niemals vor-
handen war.
So verworren die Balkanfrage durch den ungeregelten Eigen-
nutz der Großmächte geworden war, so sicher ließ sie sich durch
das internationale Völkerrecht schlichten. Lier hätte das Schieds-
gericht gemäß dem Völkergesetz ausgesprochen, daß die Völker,
die Nationen sein wollen und übrigens genug Machtanspruch »
besitzen, an ihrem Willen nicht gehindert werden können. Die
Ausmittlung der Sprachgrenzen konnte nicht schwerfallen und
wäre Sache der Wissenschaft gewesen, der Kompromiß, wo er sich
nötig machte, Sache des Gerichtshofs. Eine internationale Flotte
hätte dem Willen des Gerichts genügend Nachdruck gegeben. Es
ist wertvoll, auch hier darauf hinweisen zu können, daß die
Dinge sich genau in der Richtung der Idee vom Völkerrecht
entwickelt haben, weil das Völkerrecht bereits in den Verhält-
nissen enthalten ist. Sie ist da und wirkt als neue Geschichte,
unendlich blutig und unsäglich kostspielig, weil sie mit den alten
Mitteln arbeiten muß; aber sie ist erschienen und wird nicht
wieder verschwinden.
Deutschland ist der erste Staat, der eingesehen und bekundet *
hat, daß die traditionellen Methoden der nationalen Expansion,
die auf fremden Landbesitz ausgehen, veraltet sind und der Frei-
heit der Völker weichen müssen. Sie entstammen den Zeiten der
Anzivilisation und der Verkehrsschwierigkeiten, wo bloß der feste
militärisch-materielle Besitz eines Landes den ungestörten Markt
darin garantieren konnte. Die Zeiten sind in der Epoche der
Eisenbahnen, Telegraphen, Dampfschiffe und in der zivilisierten
Phase der gleichzeitigen Existenz von zwanzig hochentwickelten
Staaten gründlich überwunden, und der neue Zustand fordert mit
gutem Grund neue Gebräuche und eine neue Tradition, die sich
in einem neuen Völkerrecht festlegen. Man mag nun über die )
deutsche Kultur sagen, was man will: in diesen modernen Idealen
ist die deutsche Regierung der Führer, und die anderen Staaten
werden sich anzuschließen haben. Deutschland hätte seinen jetzigen
Krieg selbst beim günstigsten Frieden weltgeschichtlich umsonst ge-
führt, wenn es versäumte oder es ihm nicht gelänge, seinen wahr-
scheinlichen endlichen Sieg mit einem neuen Völkerrecht zu glori-
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fizieren. Weniger erwartet niemand vom deutschen Volk, der es
kennt und mehr von ihm weiß, als seine Feinde in der Welt
verbreiten. Anderseits gibt es gerade für diese keine bessere Sicher-
heit für die zukünftige Integrität ihrer Gebiete als die sofortige
Deckung in einem neuen Völkerrecht, das auf Freiheit und Ver-
nunft gegründet ist. Zwängen sie den deutschen Staat, unter den
alten Methoden weiter zu leben und zu arbeiten, so hätten sie die
Kosten dafür zu bezahlen; ja unter der Stimmung des schweren
Verdrusses darüber, der das deutsche Volk dann erfüllte, müßten ^
sie aus die drastischsten und zornmütigsten Unternehmungen der *
Deutschen gefaßt sein, ihre internationalen Ketten auf andere
Weise zu sprengen; dabei flöge dann immer ein Stück französischer
Boden in die Luft. Meine Liebe zur französischen Geschichte und
zum französischen Volk — nicht zur Regierung! — ist groß ge-
nug, um herzlich zu wünschen, daß Frankreich diese Gefahr bei-
zeiten einsehe.
Die gerechte österreichische Klage gegen Serbien hätte mit
großer Sicherheit und Präzision von einem eidgenössischen neu-
tralen Schiedsgericht entschieden werden können. Serbien war
in jedem Fall schuldig, Genugtuung zu geben; die Klagen, die
es selber gegen Österreich vorbrachte, hätten eine Milderung,
aber keinen Freispruch bewirkt. Serbien konnte sich provoziert
fühlen; wahrscheinlich hat sich Österreich schon vorher von Serbien
provoziert gesehen. Das ist eine Kette ohne Ende, und solche
Zustände treten überall dort ein, wo es keine Rechtsordnungen
gibt, wo die Willkür herrscht. Die Willkür in den internationalen
Dingen hatte durch den unaufhörlichen Schlag und Rückschlag
von Anrecht, Drohung und Beleidigung, halbem Recht und
ganzer Empörung zu einer psychischen Spannung geführt, die
freilich nachgerade nicht mehr auszuhalten war, daher der freudige
Aufschrei aller Nationen bei der entspannenden Nachricht von
der Kriegserklärung.
Die Deutschen rüsteten, weil die anderen ihnen die Wege in
die Welt sperrten. Die anderen sperrten ihnen die Wege in die
Welt, weil ihre nationalen Traditionen, vermeintlichen Notwendig-
keiten und Eitelkeiten es forderten, und rüsteten, weil sie Deutsch-
land rüsten sahen. And der Anlaß zu einem Anglück bleibt nie
aus. Die Explosion im Weinkeller wird verhindert, wenn man
verhindert, daß jemand mit offenem Licht hinuntersteigt, bevor die
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Gärung vorbei ist. Das eidgenössische Schiedsgericht würde diese »
Funktion exakt ausüben; inzwischen könnte der europäische Wein
so vorwärtskommen, daß er auch mit der Gärung fertig würde.
Wenn schon so zänkische, grollende, selbstsüchtige und unaufrichtige
Institutionen, wie die internationalen Kongresse waren, Kriege
verhindern konnten, welche Wirkung muß ein berufsmäßiges,
neutrales, uninteressiertes Schiedsgericht mit einem klaren Gesetz-
buch unter der Land durch den Lauf der Jahre ausüben! Da
sich heute die Expansion eines gesitteten Volkes nicht mehr in B
Landeseroberungen aussprechen will, sondern in wirtschaftlichen
Entfaltungen unter den anderen Völkern, und da die sittlichen
Grundsätze für eine solche im tiefsten Sinn friedliche Konkurrenz
in allen Nationen bekannt und praktiziert sind, so liegt nichts
näher, als diese Grundsätze der Ehrlichkeit und der Toleranz vom
nationalen aufs internationale Leben auszudehnen, wie sie vom
Individuum auf die Nation ausgedehnt wurden. Die Zunahme
in der Machtfülle eines Landes beruht auf seiner Einwohner-
ziffer summiert mit seiner Moral. Es ist ganz unnötig, daß sie
sich durch einen Krieg erklärt; die Weisen wußten vorher schon,
daß Deutschland stark ist, und erleben keine Überraschung. Man
kann weder durch einen Krieg eine Hegemonie schaffen, die nicht
schon vorher da war, noch sie brechen, wenn sie bereits herrschte, 1
eben weil sie schon herrschte.
Das ist nicht die einzige internationale Aufgabe, die die
Schweiz an ihrem Weg sieht, aber die vornehmste und bedeutendste.
Land in Land mit einer nationalen Renaissance stehen auch die
wirklichen internationalen Impulse auf und bieten sich an. Das
nächste Jahrzehnt wird in der Schweiz eine Epoche der eidgenössi-
schen Neuerweckung bedeuten, und die eidgenössischen Entwicklungen
haben infolge der Lage des Landes die Eigenschaft, immer mehr
menschliche Entwicklungen und internationale Hoffnungen zu werden.
Sie ist das Land, das den internationalen Schmerz dieses Krieges
am tiefsten empfindet, weil sie am tiefsten international verwurzelt >
und verästelt ist. Auch in Deutschland weiß ja jeder, daß man
nicht gegen Verbrecher und Kannibalen, sondern gegen gesittete,
hochstehende und vornehme Völker Krieg führt; dasselbe gilt für
die Feinde Deutschlands. Wie viel mehr muß das schweizerische
Volk, das tiefe Verwandtschaften nach allen Seiten besitzt und
pflegt, von dieser Erkenntnis erschüttert sein. Es hat in seiner
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moralischen Gesamtheit nie aufgehört, an den Edelmut der
Deutschen, an die Ritterlichkeit der Franzosen, an die Vor-
nehmheit der englischen Nation zu glauben. Es hat durch die
russischen Schriftsteller genug Kenntnis und Gefühl von der
russischen Seele, um mit ihr, deren Leiden furchtbar ist, mit zu
leiden. Das schweizerische Volk ist auch genügend erkenntnis-
reich, um mit Schmerz und Kummer zu sehen, wo Nationen
verführt und belogen sind und wo Millionen unschuldige und
ahnungslose Bürger von verbrecherischen und selbst verleiteten
Minderheiten ins Anglück gestürzt werden. Die Gewissensnot
und der moralische Jammer des schweizerischen Volkes sind so
tief, daß sich alles seelische Leiden in einer geläuterten Liebe
zur Gesamtmenschheit äußern muß und inzwischen jene erschütterte
und opferwillige Bereitschaft herstellt, aus welcher bisher noch
immer die nationalen Erneuerungen und die sittlichen Wertsteige-
rungen hervorgingen.
Sollte aber der Äimmel so feindlich über der Menschheit
stehen und ihr Anglück so groß sein, daß sie selbst nach diesem
entsetzlichen Krieg nicht ihr besseres Teil einsieht und ihre Ver-
nunft entdeckt, und sollte es der schweizerischen Eidgenossenschaft
verwehrt bleiben, sich aus ihrer moralischen Einsamkeit in eine
höhere Mission hinauf zu erlösen, so gibt es für sie zwei Möglich-
keiten, ihre Kräfte nach anderen Richtungen hin zu entbinden,
und eine Aussicht, zu stagnieren. Sie wird stagnieren, wenn sie
ohne innere Erweckungen bleibt, was sie ist, und sie wird auch
im Fall der moralischen Erneuerung so lange Physisch verkümmern,
als ihr Charakter der neutralen Internationalität nicht wirtschaft-
lich und weltsittlich nach allen Richtungen hin entwickelt und zur
Tat befreit ist. Kann sie nicht zum Priesterstaat durchdringen,
so können ihr die Geschäfte und Gefahren einer selbständigen
aktiven Bündnis- und Realpolitik, die auf Wege zum Meer und
auf die Erweiterung des Profanstaates dringt, frisches Blut ver-
schaffen, oder die schweizerische Menschheit gibt ihren eidgenössi-
schen Charakter auf und wendet sich nach ihren Sprachheimaten
den Geschäften und Gefahren ihrer Muttervölker zu, um dort
wieder zu größerer moralischer und materieller Bedeutung zu
kommen. Wenn die Weltgeschichte, ohne etwas zu vergessen und
ohne etwas zu lernen, den bisherigen Weg noch hundert Jahre
weiter geht, so wird es ohnehin das Schicksal der kleinen Nationen
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sein, in größeren Verbänden aufzugehen. Vielleicht müssen jene
Triebe, die in der Apokalypse als die Triebe des Tieres dar-
gestellt sind, sich zuerst vollständig erfüllen, bis nichts mehr übrig
bleibt, ehe das tausendjährige Reich anbricht. Vielleicht wird
die Menschheit aber nie zur Ruhe kommen und ist an ihr nichts
ewig und unausweichlich, als ihr Anglück.
Wer sich eingehender mit der Geschichte der Schweiz beschäftigen
will, dem empfehle ich dringend das schöne fünfbändige Werk von
Di er au er, Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft. Gotha,
Andreas Perthes. — Von mir selber gibt es bei Franckh, Stuttgart,
eine kürzere illustrierte Darstellung unter demselben Titel.
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