J.
--------------------- y—?
Der
Weltkrieg
der Dokumente
Zehn Jahre Kriegsschuldforschung
und ihr Ergebnis
Von
Bernhard Schwertfeger
19 2 9
DEUTSCHE VERIjAGSGESELLSCHAFT fÜR POLITIK
UND GESCHICHTE M. B. H. IN BERLIN W 8
3SJ871
1.
Auflage
Alle Rechte,
besonders das der
Übersetzung, Vorbehalten
Amerikanisches Copyright 1929 by
Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik
und Geschichte m. b. H. in Berlin W 8,
Wilhelmstraße 66 / Amerikanische
Schutzzollformel: Printed in Ger-
many / Gesetzt und gedruckt
in der Buchdruckerei
Otto Regel
G.m.b.H. in
Leipzig
Dem Herrn Reichspräsidenten
Generalfeldmarschall von Hindenburg
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorwort..................................................... XI
Die Anklage von Versailles und die Möglichkeiten ihrer
Widerlegung
Die Anklage von Versailles.......... ....................... 1
Der Notenkampf von Versailles im Mai 1919................... 2
Die Mantelnote Clemenceaus vom 16. Juni 1919................ 8
Die Anklage und die Möglichkeiten ihrer Widerlegung......... 16
Die deutsche Politik von 1871 bis 1914
A. Die Bismarckzeit. 1871—1890
Vom deutsch-französischen Kriege bis zum Drei-Kaiser-Abkommen (22. 10.
1873).................................................................. 27
Die „Krieg-in-Sicht“-Episode von 1875 ....................................... 32
Balkankrisen und russisch-türkischer Krieg................................... 34
Der russisch-türkische Krieg................................................. 44
Der Berliner Kongreß......................................................... 50
Die Entstehung des deutsch-österreichischen Zweibundes....................... 53
Die deutsch-französischen Beziehungen 1875—1885 ............................. 69
Das Drei-Kaiser-Bündnis vom 18. Juni 1881.................................... 74
Österreich-Ungarns Bündnisvertrag mit Serbien vom 16./28. Juni 1881 . . 76
Der erste Dreibundvertrag vom 20. Mai 1882 ........... 77
Verlängerung des deutsch-österreichischen Zweibundes von 1879 und Hin-
zutritt Rumäniens...................................................... 80
Die Verlängerung des Drei-Kaiser-Bündnisses vom 27. März 1884 .... 82
Die bulgarische Krisis 1885—1887 ............................................ 84
Der Rückversicherungsvertrag vom 18. Juni 1887 .............................. 91
Die Veröffentlichung des deutsch-österreichischen Bündnisses................. 95
Die Entwicklung der englisch-deutschen Beziehungen bis 1887 .............. 97
Der zweite Dreibundvertrag vom 20. Februar 1887 ............................ 100
Die Mittelmeerverständigung von 1887 ....................................... 101
Die deutsch-französischen und deutsch-russischen Beziehungen seit 1885 und
die Kriegsgefahr von 1887 ............................................ 104
Der Ausklang der Heroenzeit................................................. 112
Kaiser Friedrich III.........................................................113
VII
Inhaltsverzeichnis
Seite
Kaiser Wilhelm II. . .................................................. • 116
Die Entlassung des Fürsten Bismarck....................................118
Rückblick auf die Bismarckzeit.........................................119
B. Der Neue Kurs. 1890—1901
Von der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages bis Ende 1894 . 127
Die deutsch-englischen Beziehungen 1890 bis Ende 1894 ................. 132
Deutschland und der Nahe Orient 1890 bis Ende 1894 .................... 135
Die Jahre 1895 bis 1897 ................................................. 137
Der Nahe Orient. 1896—1897 ............................................. 149
Die Erwerbung Kiautschous 1897 .......................................... 154
Das Jahr 1898 ......................................................... 156
Das Jahr 1899 ......................................................... 165
Die Erste Haager Friedenskonferenz (18. Mai bis 29. Juli 1899) . . 168
Das Jahr 1900 ......................................................... 177
Das Jahr 1901..........................................................182
C. Deutschlands weltpolitische Vereinsamung. 1902—1914
Das Jahr 1902 ........................................................... 200
Das Jahr 1903 ......................................................... 207
Das Jahr 1904 ............................................................ 213
Der Abschluß der Entente cordiale....................................213
Der russisch-japanische Krieg........................................216
Die Marokkokrise.....................................................221
Das Jahr 1905 ........................................................... 224
Die Marokkokrise.................................................... 224
Der Vertrag von Björkoe..............................................230
Die deutsch-französischen Verhandlungen vor der Marokko-Konferenz 237
Das Jahr 1906 ............................................................ 240
Die Konferenz von Algeciras..........................................240
Iswolski und Aehrenthal..............................................248
Die Vorbereitung der Zweiten Haager Friedenskonferenz................250
Das Jahr 1907 ............................................................ 251
Die Zweite Haager Friedenskonferenz..................................255
Deutschlands Lage bei Abschluß des Jahres 1907 .................... 261
Das Jahr 1908 ............................................................ 265
Die Annexion Bosniens und der Herzegowina............................275
Der „Novembersturm“..................................................280
Das Jahr 1909 ............................................................ 282
Das Jahr 1910..............................................................297
Das Jahr 1911..............................................................303
Marokko .............................................................303
Agadir...............................................................306
Das Marokko- und Kongo-Abkommen vom 4. November 1911 . . . 311
Der italienisch-türkische Krieg......................................313
Das Jahr 1912..............................................................317
Der 1. Balkankrieg...................................................323
Die Jahre 1913 und 1914....................................................335
Der 2. und 3. Balkankrieg........................................... 340
Deutschland und die Mächte. 1913, 1914...............................341
Der Mord von Sarajevo und die Entwicklung zum Weltkriege . . . 350
Das Ultimatum vom 23. Juli 1914.................................... 359
Der Ausbruch des Weltkrieges........................................ 361
VIII
Inhaltsverzeichnis
Anlagen Seite
1. Bericht der Interalliierten Kommission für die Prüfung der Verantwort-
lichkeiten der Urheber des Krieges und für die Strafbestimmungen.
Paris, 29. März 1919................................................... 3*
1 a. Von der amerikanischen Delegation formulierte Vorbehalte .... 21*
2. Deutsche Gegenbemerkungen zur Schuldfrage vom 27. Mai 1919. (So-
genannte Professoren-Denkschrift).....................................27*
3. Die Mantelnote des Präsidenten der Versailler Friedenskonferenz Cle-
menceau vom 16. Juni 1919........................................... 42*
4. Aus der „Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte auf die Be-
merkungen der Deutschen Delegation zu den Friedensbedingungen“ 56*
v
Druckfehler-Berichtigung
S. 192: 1. Textzeile v. u. muß es statt „fest“ fast heißen
Vorwort
Schon vor Beendigung- des Weltkrieges wurde es jedem, der
die Äußerungen der öffentlichen Meinung in den uns feindlichen
und in den neutralen Ländern zu beobachten Gelegenheit hatte, er-
schreckend klar, daß Deutschland im Falle seines Unterliegens von
der Gegenseite mit der Schuld an der Herbeiführung des Welt-
krieges belastet werden würde. Die überaus lange Dauer der so
verlustreichen Kriegshandlungen hatte überall einen Haß erzeugt,
der sich, wenn einmal die Waffen schwiegen, mit aller Wahrschein-
lichkeit hauptsächlich gegen den Unterlegenen kehren mußte.
So erlebte denn Deutschland im Vertrage von Versailles nicht
nur seine Verstümmelung und Wehrlosmachung: nein, es mußte
sogar den sogenannten Friedensvertrag und damit die Behauptung
der Entente mit seiner Unterschrift decken, daß Deutschland mit
seinen Verbündeten als Urheber für alle aus dem Weltkriege ent-
standenen Schäden zu haften habe.
Gegen diese ungerechte Feststellung, die nur dazu führen
konnte, Deutschlands Ansehen vor aller Welt herabzusetzen, haben
wir uns mit allen Kräften gewehrt. Eine gewaltige Literatur ist
entstanden; allen voran hat die deutsche Regierung den Geheim-
inhalt der Archive des Auswärtigen Amtes veröffentlichen lassen
und damit einen Schritt getan, der sich schon jetzt in der ganzen
Kulturwelt auszuwirken beginnt.
Unübersehbar groß ist die Masse der von der deutschen Regie-
rung, aber auch von anderen Stellen und Persönlichkeiten des In-
und Auslandes bis auf den heutigen Tag veröffentlichten Dokumente
und sonstigen Schriftstücke. Um so dringender ertönt daher die
Forderung aller an der Aufhellung der Kriegsschuldfrage beteiligten
Persönlichkeiten und Verbände, ihnen eine Zusammenfassung zur
Verfügung zu stellen, die den Gang der Dinge von der Begründung
des Deutschen Kaiserreiches bis zum Ausbruche des Weltkrieges
in leicht faßlicher und doch dokumentarisch begründeter Form
schildert.
Den Versuch einer solchen Zusammenfassung lege ich in diesem
Buche vor, das ich den „Weltkrieg der Dokumente“ nennen
möchte. Diese Bezeichnung scheint mir begründet, da wir Deut-
schen noch heute einen wahren Weltkrieg gegen die Ungeheuerlich-
keiten des Vertrages von Versailles auszufechten genötigt sind,
XI
Vorwort
einen Krieg, den wir nur mit den Waffen des Geistes zu führen ver-
mögen. Wir Deutschen haben nichts zu verheimlichen oder zu be-
schönigen. Offen haben wir die tiefsten Geheimnisse der deutschen
Außenpolitik in unseren großen Aktenwerken klargelegt und dabei
feststellen können, daß auch Staatsmänner und Diplomaten der
Gegenseite Deutschlands Politik vor dem Weltkriege häufig gerade
so beurteilt haben wie wir selbst. Am eindringlichsten zeigen dies
die Berichte der belgischen Gesandten.
Einige hervorragende Vertreter der französischen Politik und
Wissenschaft haben das große deutsche Aktenwerk einer scharfen
Prüfung unterzogen. In der Wochenschrift „L’Europe nouveile“
hat Professor E. V e r m e i 1 von der Universität Straßburg drei Aufsätze
erscheinen lassen1), die sich mit den deutschen Akten kritisch aus-
einandersetzen, und zu denen der Abgeordnete E. Chaumie, der
französische Botschafter in Berlin bei Kriegsausbruch Jules Cam-
bon und Raymond Poincare die Einleitungen geschrieben
haben. Vermeil gelangt — ebenso wie Chaumie, Cambon und Poin-
care — zu dem Ergebnis, daß die These von der deutschen Ver-
antwortlichkeit am Weltkriege durch das große Aktenwerk der deut-
schen Regierung nicht erschüttert werde. Auch Vermeil will von einer
zu starken Betonung der Vorgänge unmittelbar vor Kriegsausbruch
nichts wissen, da diese in der inneren und diplomatischen Geschichte
Deutschlands bereits vorbestimmt seien. Während er Bismarcks plan-
volle Bündnispolitik in ihrer folgerichtigen Durchführung — natürlich
unter gewissen Vorbehalten — anerkennt, spricht er seinen Nach-
folgern jede politische Folgerichtigkeit ab. So sei ganz besonders in
den Jahren bis 1912 die deutsche Politik bei ihren Versuchen, die
Tripelentente zu erschüttern, den Dreibund aber zu festigen, in ein
unlösbares Dilemma geraten, bis sich Deutschland und Österreich-
Ungarn 1914 „zwangsläufig einem diplomatischen Trümmerfelde
gegenüber“ befunden hätten. Diese beiden Großmächte hätten aber
die Wirrnisse und den Sturm selbst geschaffen, in dem sie schließlich
zugrunde gegangen seien. Warnend ruft Vermeil seinen Landsleuten
zu, man dürfe es nicht erlauben, daß die Deutschen die Alleinigkeit
ihrer Verantwortung in einem geschichtlichen oder metaphysischen
Dunkel verschwinden ließen, brauche sie aber auch nicht eines
dauernden Macchiavellismus anzuklagen und die Entstehung des
von ihnen entfesselten Weltkrieges immer nur unter der
Vorstellung einer klaren und bewußten Vorbedachtheit zu sehen.
Unbestreitbar aber sei die Berliner politische Leitung in den letzten
Jahren vor dem Weltkriege dem doppelten Drucke der Militärpartei
*) „L’Europe nouveile“, 8. Jahrgang, Nr. 426, 17. April 1926; —
10. Jahrgang, Nr.516, 31.Dezember 1927; — 11. Jahrgang, Nr. 531,14.Aprill928.
XII
Vorwort
und der Alldeutschen erlegen. Auch Poincare macht sich diesen Vor-
wurf zu eigen, kündigt das Erscheinen der französischen Akten an,
gibt aber seiner Befürchtung Ausdruck, daß Deutschland, gar zu
nachsichtig gegen die Fehler seiner Vorkriegsregierung, zwecklos
internationale Polemiken heraufbeschwören könne, die der zukünf-
tigen Annäherung Frankreichs und Deutschlands abträglich sein
müßten.
Solchen Auffassungen gilt es den Inhalt der deutschen Akten
völlig unparteiisch gegenüberzustellen. In meinem „Weltkriege der
Dokumente“ kommen daher in erster Linie die deutschen Doku-
mente zu Worte. Um uns und unsere deutsche Politik handelt es
sich, und erst in zweiter Linie um die der anderen. Deutschland ist
beschuldigt, die Weltherrschaft erstrebt und den Weltkrieg entfesselt
zu haben, als ihm der Mord von Sarajevo hierzu einen bequemen
Anlaß bot. Deutschlands Verhalten inmitten der Großmächte und
gegenüber den Welthändeln mußte daher an der Hand zuverlässiger
Unterlagen in möglichster Kürze dargestellt, der Hauptinhalt von
nicht weniger als 57 Aktenbänden in einen einzigen Band zusammen-
gefaßt werden.
In meinem „Weltkriege der Dokumente“ kommen in allererster
Linie die deutschen Dokumente zu Worte. Um uns und unsere
deutsche Politik handelt es sich, und erst in zweiter Linie um die
der anderen. Deutschland ist beschuldigt, die Weltherrschaft er-
strebt und den Weltkrieg entfesselt zu haben, als ihm der Mord von
Sarajevo hierzu einen bequemen Anlaß bot. Deutschlands Verhalten
inmitten der Großmächte und gegenüber den Welthändeln mußte
daher an der Hand zuverlässiger Unterlagen in möglichster Kürze
dargestellt werden.
Das vorliegende Buch stellt, ich bin mir dessen sehr wohl be-
wußt, nur einen Versuch dar, den Versuch nämlich, aus der fast
verwirrenden Vielheit der Erscheinungen eine übersichtliche Linie
des Geschehens zu erkennen und für andere klarzulegen. Wenn ver-
antwortungsbewußte Gewissenhaftigkeit, in vielen Jahren der Arbeit
an meinen Wegweisern durch das Aktenwerk des Auswärtigen
Amtes erprobt, eine hinreichende Voraussetzung für ein derartiges
Werk bilden darf, so bin ich der Nachsicht meiner Leser gewiß,
auch da, wo sie im einzelnen vielleicht das eine oder andere Ge-
schehnis lieber ausführlich oder mehr nebenbei dargestellt gesehen
hätten. Man darf mir aber glauben, daß ich immer ernstlich be-
strebt gewesen bin, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unter-
scheiden und den Boden sicherer dokumentarischer Begründung
nicht zu verlassen.
Wenige Worte nur über die Stellung meiner Arbeit zu der an-
deren Kriegsschuld-Literatur. Grundlegend unterscheidet sie sich
XIII
Vorwort
von der großen Mehrzahl aller vorliegenden Werke dadurch, daß sie
die weitere Vorgeschichte des Weltkrieges stärker betont, während
den Vorgängen in den letzten Jahren vor Ausbruch des Weltkrieges
und ganz besonders in den kritischen Monaten des Jahres 1914 nur
ein verhältnismäßig geringer Raum gewidmet ist. Das entspricht
meiner Qrundauffassung und findet in den Darlegungen meines
Buches seine genauere Begründung1).
Mein tief empfundener Wunsch geht dahin, daß der „Welt-
krieg der Dokumente“ allen denen ein zuverlässiges Hilfsmittel
an die Hand geben möge, denen es ernstlich um die Erforschung
der Wahrheit über die Vorgeschichte des Weltkrieges zu tun ist,
Eimzelforschern, Lehrern und Schülern. Mit der zunehmenden Er-
kenntnis der wahren Zusammenhänge kann allmählich eine gemein-
same deutsche Auffassung entstehen, die sich, des bin ich gewiß,
dann Schritt für Schritt durch die ganze Welt durchsetzen wird.
In diesem Geiste und in dieser Zukunftshoffnung widme ich den
„Weltkrieg der Dokumente“ unserem Führer in schweren Kriegs-
und Friedensjahren, dem Herrn Reichspräsidenten General-
feldmarschall von Hindenburg.
Hannover, 28. November 1928.
Bernhard Schwertfeger
*) Vgl. hierzu besonders S. 16ff., 199/200, 265/266, 317/318 und 335ff.
Für die Einzelheiten der auf Deutschland wegen seines Verhaltens in der Welt-
krisis von 1914 gehäuften Beschuldigungen vgl. hauptsächlich die Schrift des
Leiters der „Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen“, Alfred
v. Wegerer, die unter dem Titel „Die Widerlegung der Versailler
Kriegsschuldthese“ bei Reimar Hobbing, Berlin SW 61, soeben erschienen ist..
Die Anklage von Versailles
und die
Möglichkeiten ihrer Widerlegung
Die Anklage von Versailles
Im Artikel 231 des Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 heißt es:
„Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und
Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbün-
deten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwort-
lich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und
ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff
Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krie-
ges erlitten haben.“
Dieser Artikel steht an der Spitze der Bestimmungen des Friedens-
vertrages, die sich mit den „Wiedergutmachungen“ (reparations) be-
schäftigen. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob der so oft zitierte
Artikel 231 eine Belastung Deutschlands und seiner Verbündeten
bedeute oder nicht. Deutschland soll als Urheber für alle Ver-
luste und Schäden des Weltkrieges haften und wird beschuldigt, den
alliierten und assoziierten Regierungen den Krieg durch seinen An-
griff und den Angriff seiner Verbündeten aufgezwungen zu haben.
Selbst wenn man nicht zugeben will, daß in dieser Formulierung eine
moralische Belastung enthalten sei, so bleibt doch der Vorwurf be-
stehen, die Verluste und Schäden des Weltkrieges hervorgerufen
(pour les avoir causes) und der Gegenseite den Krieg aufgezwungen
zu haben. Wir Deutschen müssen uns daher mit dem Artikel 231 auf
das Ernsteste auseinandersetzen.
Ist, so fragen wir zunächst, seitens unserer deutschen Vertreter,
seitens der deutschen Friedensdelegation in Versailles, alles ge-
schehen, was möglich war, um von der Formulierung des Artikels
231 freizukommen? Hierüber sind im deutschen Volke noch heute
schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten vorhanden, die im In-
teresse einer möglichst geschlossenen deutschen Einmütigkeit in der
Schuldfrage unbedingt abgebaut werden müssen. Wir bedürfen dazu
einer genauen Kenntnis des Verhaltens unserer Friedensdelegation in
den schweren Verhandlungswochen vor Abschluß des Friedens-
vertrages. Wir müssen den Leidensweg unserer Friedensunterhändler
und die Fülle der Demütigungen kennen lernen, die sie über sich
haben ergehen lassen müssen, ehe es zu jenem Abschlüsse kam, den
niemand einen Friedens vertrag nennen dürfte.
1 Sckwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
i
Die Anklage von Versailles
Schon die Einladung der deutschen Friedensdelegation durch
eine Note des französischen Generals Nudant vom 18. April 1919
war für Deutschland eine Demütigung. Die deutschen Delegierten
sollten sich, mit Vollmachten versehen, am 25. April nach Versailles
begeben, um dort den von den alliierten und assoziierten Regierun-
gen festgesetzten Text der Friedenspräliminarien in Empfang zu
nehmen. Die deutsche Regierung antwortete am 19. April, sie werde
den Gesandten v. Haniel nebst zwei anderen Diplomaten und einem
Unterpersonal von vier Beamten und Kanzleidienern nach Ver-
sailles entsenden. General Nudant forderte daraufhin im Aufträge des
Ministerpräsidenten Clemenceau am 20. April, Deutschland müsse
nach Versailles Persönlichkeiten entsenden, die für die Behandlung
der gesamten Friedensfrage hinreichende Vollmacht besäßen. Darauf
kündigte die deutsche Regierung am 21. April das Eintreffen des
Reichsministers des Auswärtigen, Grafen Brockdorff-Rantzau, des
Reichsjustizministers Dr. Landsberg, des Reichspostministers Gies-
berts, des Präsidenten der Preußischen Landesversammlung Leinert
sowie der Herren Dr. Karl Melchior und Professor Dr. Schücking an,
die von weiteren Persönlichkeiten begleitet sein sollten. Sie behielt
sich vor, für einzelne Friedensfragen nachträglich besondere Sach-
verständige zu benennen und verlangte für die Delegierten und ihre
Begleiter während ihres Aufenthaltes in Versailles volle Bewegungs-
freiheit sowie freie Benutzung von Telegraph und Telephon zum
Verkehr mit der deutschen Regierung. Diese Forderungen wurden in
einer Note des Generals Nudant vom 23. April zugestanden.
Der Notenkampf von Versailles im Mai 1919
Nach dem anfangs Mai erfolgten Austausche der Vollmachten
fand am 7.Mai im HotelTrianon-Palast in Versailles die erste Sitzung
statt. Der deutschen Friedensdelegation wurden die Friedensbedin-
gungen mit der Bemerkung überreicht, die deutschen Delegierten
hätten die Möglichkeit, sich innerhalb von 15 Tagen dazu zu äußern.
In dieser ersten Sitzung ergriff Graf Brockdorff das Wort und er-
klärte:
„Wir sind tief durchdrungen von der erhabenen Aufgabe,
die uns mit Ihnen zusammengeführt hat: der Welt rasch einen
dauernden Frieden zu geben. Wir täuschen uns nicht über den
Umfang unserer Niederlage, den Grad unserer Ohnmacht. Wir
wissen, daß die Gewalt der deutschen Waffen gebrochen ist.
Wir kennen die Wucht des Hasses, die uns hier entgegentritt,
und wir haben die leidenschaftliche Forderung gehört, daß die
Sieger uns zugleich als Überwundene zahlen lassen und als
Schuldige bestrafen sollen. Es wird von uns verlangt,
daß wir uns als die allein Schuldigen am Kriege
2
■
Der Notenkampf
bekennen; ein solches Bekenntnis wäre in meinem
Munde eine Lüge. Wir sind fern davon, jede Verantwor-
tung dafür, daß es zu diesem Weltkriege kam, und daß er so
geführt wurde, von Deutschland abzuwälzen. Die Haltung der
früheren Deutschen Regierung auf den Haager Friedenskon-
ferenzen, ihre Handlungen und Unterlassungen in den tragi-
schen 12 Julitagen mögen zu dem Unheil beigetragen haben,
aber wir bestreiten nachdrücklich, daß Deutschland, dessen
Volk überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen,
allein mit der Schuld belastet ist. Keiner von uns wird behaup-
ten wollen, daß das Unheil seinen Lauf erst in dem verhäng-
nisvollen Augenblick begann, als der Thronfolger Österreich-
Ungarns den Mörderhänden zum Opfer fiel. In den letzten
50 Jahren hat der Imperialismus aller europäischen Staaten
die internationale Lage chronisch vergiftet. Die Politik der
Vergeltung wie die Politik der Expansion und die Nichtach-
tung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker hat zu der
Krankheit Europas beigetragen, die im Weltkriege ihre Krisis
erlebte. Die russische Mobilmachung nahm den Staatsmännern
die Möglichkeit der Heilung und gab die Entscheidung in die
Hand der militärischen Gewalten.“
Graf Brockdorff forderte sodann die Feststellung des Maßes der
Schuld aller Beteiligten durch eine unparteiische Untersuchung,
durch eine neutrale Kommission, vor der alle Hauptpersonen der
Tragödie zu Worte kommen und der alle Archive geöffnet werden
sollten.
Nach der ersten Durchsicht der ihr überreichten Friedensbedin-
gungen erklärte die deutsche Friedensdelegation bereits am 9. Mai,
daß die vereinbarte Basis des Rechtsfriedens darin verlassen sei.
„Der Vertragsentwurf enthält Forderungen, die für kein Volk er-
träglich sind.“ Der Nachweis werde im einzelnen erbracht werden.
Tags darauf erwiderte Clemenceau, die Vertreter der alliierten und
assoziierten Mächte könnten keinerlei Diskussion über die Friedens-
bedingungen zulassen; nur auf deutsche Anregungen praktischer Art
werde man vielleicht eingehen.
Ihren ersten amtlichen Schritt in der Schuldfrage tat die deutsche
Friedensdelegation am 13. Mai. In einem an Clemenceau gerichteten
Schreiben stützte sie sich auf den Wortlaut des Artikels 231 des
Friedensvertrages1 und führte aus, Deutschland habe die Verpflich-
tung zur Wiedergutmachung auf Grund einer Note des Staatssekre-
tärs Lansing vom 5. November 1918 unabhängig von der Frage der
Schuld am Kriege übernommen. Die deutsche Delegation vermöge
nicht anzuerkennen, daß aus einer Schuld der früheren deutschen
1 Siehe oben S. 1.
1*
3
Die Anklage von Versailles
Regierung an der Entstehung des Weltkrieges ein Recht oder An-
spruch der alliierten und assoziierten Mächte auf Entschädigung
durch Deutschland für die durch den Krieg erlittenen Verluste ab-
geleitet werden könne. Die Vertreter der alliierten und assoziierten
Staaten hätten zudem wiederholt erklärt, daß das deutsche Volk
nicht für die Fehler seiner Regierung verantwortlich gemacht wer-
den solle. „Das deutsche Volk hat den Krieg nicht gewollt und würde
einen Angriffskrieg niemals unternommen haben. Im Bewußtsein
des deutschen Volkes ist dieser Krieg stets ein Verteidigungskrieg
gewesen.“ Anschließend an diese Feststellung forderte Qraf Brock-
dorff-Rantzau die Mitteilung des Berichtes der von den alliierten
und assoziierten Regierungen eingesetzten „Kommission zur Prü-
fung der Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges“ unter Hinweis
darauf, daß sich in dem vorgelegten Entwürfe des Friedensvertrages
nichts finde, was die gegnerische Auffassung von der Verschuldung
der früheren deutschen Regierung am Kriege tatsächlich begründe.
Mit dem soeben erwähnten Berichte der interalliierten Kommis-
sion über die Frage der Schuld am Kriege hatte es eine besondere
Bewandtnis. Ein Beschluß der Vorfriedenskonferenz der Entente vom
25. Januar 1919 war dahin gegangen, eine aus 15 Mitgliedern be-
stehende Kommission zur Untersuchung der Frage einzusetzen, wie
die Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges und die aufzuerle-
genden Strafen festzustellen seien. Die Kommission zerfiel in drei
Unterkommissionen, deren zweite die Frage der Schuld am Kriege
zu prüfen hatte. Der von ihr der Vorfriedenskonferenz erstattete Be-
richt ist im Hinblick auf seine große Wichtigkeit in Anlage 11 wört-
lich zum Abdruck gebracht. Er bedarf hier nur einer kurzen Kenn-
zeichnung.
Der Bericht schiebt die Verantwortung in erster Linie Deutsch-
land und Österreich, in zweiter Linie der Türkei und Bulgarien zu.
Er behauptet, daß die Verantwortung im vollen Umfange den Mäch-
ten zufalle, „die ihn erklärt haben, um einer Angriffspolitik zu die-
nen“, und erblickt in der Verheimlichung dieser Angriffspolitik eine
„geheime Verschwörung gegen den europäischen Frieden“. Als ver-
schärfend wird die von Deutschland und Österreich verübte Verlet-
zung der von ihnen garantierten Neutralität Luxemburgs und Bel-
giens bezeichnet. Weitere Verschärfungen der Verantwortlichkeit
ergäben sich aus den Frankreich und Serbien gegenüber noch vor
den Kriegserklärungen begangenen Grenzverletzungen.
Deutschlands und Österreichs „vorgefaßte Absicht, Krieg füh-
ren zu wollen“, wird als feststehend vorausgesetzt. Bei der Begrün-
dung dieser Beschuldigung macht es sich der Bericht sehr leicht,
indem er nur wenige Monate zeitlich vor den Kriegsbeginn zurück- i
i Siehe S. 3*—20*.
4
Der Notenkampf
geht und den deutschen Kaiser bezichtigt, „schon viele Monate vor
der im Juli 1914 zum Ausbruch gekommenen Krisis“ aufgehört zu
haben, „als Schutzherr des Friedens aufzutreten“. Voll Vertrauen auf
das erdrückende Übergewicht seiner Armee habe er seiner feind-
seligen Gesinnung gegen Frankreich freien Lauf gelassen.
In diesem Zusammenhänge erwähnt der Bericht den im Spät-
herbste des Jahres 1913 erfolgten Besuch des belgischen Königs in
Deutschland. Die tatsächlichen Vorgänge sind folgende gewesen:
Nachdem König Albert das Lüneburger Dragonerregiment, dessen
Chef er war, besucht hatte, weilte er am 5. und 6. November 1913
als Gast des Kaisers in Potsdam. Am 6. November kam es nach
dem Diner zu einem Gespräche des Königs mit dem damaligen Chef
des großen Generalstabes, General v. Moltke, und in dessen Verlaufe
zu einem „hypothetisch behandelten“ Vergleiche der deutschen und
der französischen Armee. Moltke sprach hierbei nachdrücklich seine
Überzeugung aus, „daß die Kraft des deutschen Volkes sich in einer
die Welt überraschenden Weise zeigen werde, wenn Deutschland an-
gegriffen werden sollte; dann werde das Volk zur Verteidigung
seiner nationalen Existenz wie ein Mann zusammenstehen“.1 General
v. Moltke hat es auf das Bestimmteste in Abrede gestellt, gesagt zu
haben, er halte den Krieg für notwendig und unvermeidlich und
ebenso, daß Deutschland jetzt ein Ende machen müsse. Auf dem
Wege über den damaligen belgischen Gesandten in Berlin Baron
Beyens und den damaligen französischen Botschafter Jules Cambon
war das Gespräch mit diesen Formulierungen in Paris bekannt ge-
worden. Cambons Bericht hierüber vom 22. November 19131 2 er-
scheint in der sonst so dürftigen Denkschrift als Hauptbeweis für den
Kriegswillen Deutschlands.
So konnte denn der Kommissionsbericht der Entente zu der
Schlußfolgerung gelangen, der Weltkrieg sei von den Zentralmäch-
ten ebenso wie von ihren Verbündeten, der Türkei und Bulgarien,
mit Vorbedacht geplant worden, und er bilde das Ergebnis von
Handlungen, die vorsätzlich und in der Absicht begangen worden
seien, den Krieg unabwendbar zu machen. „In Übereinstimmung
mit Österreich-Ungarn hat Deutschland vorsätzlich daran gearbeitet,
die zahlreichen vermittelnden Vorschläge der Ententemächte auf
die Seite zu schieben und ihre wiederholten Bemühungen, den Krieg
zu verhüten, zunichte zu machen .. . Deutschland und Österreich
haben vorsätzlich die durch die Verträge vom 19. April 1839 garan-
1 Schreiben des Generals v. Moltke an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes
vom 18. Dezember 1914. (Deutsches Weißbuch über die Schuld am Kriege. Neue
Ausgabe. Berlin 1927. Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte.
S. 85.)
2 Französisches Gelbbuch von 1914. (Deutsche Ausgabe. Berlin 1926. Deutsche
Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte. S. 23.)
5
Die Anklage von Versailles
tierte belgische Neutralität und die durch den Vertrag vom 11. Mai
1867 Luxemburg gegenüber garantierte Neutralität verletzt.“
Zu diesem Kommissionsberichte hatten sowohl die amerika-
nische wie die japanische Delegation Vorbehalte gemacht und die
Gründe dafür in einem beigefügten Memorandum dargelegt. Die
Vorbehalte der Japaner bezogen sich nicht auf die Frage der Schuld
am Kriege; auf ihren Abdruck im Anhänge konnte daher verzichtet
werden. Die von der amerikanischen Delegation gemachten Vor-
behalte vom 4. April 1919 sind in Anlage la1 wörtlich zum Abdruck
gebracht, da es für uns wichtig ist, zu wissen, wie die Frage der
Schuld am Weltkriege sich damals, unter der noch frischen Nachwir-
kung der Kriegsereignisse, der amerikanischen Mentalität darge-
stellt hat.
Nach Auffassung der amerikanischen Delegierten, Robert Lan-
sing und James Brown Scott1 2, mußte man eine zweifache Schuld
unterscheiden, nämlich eine Schuld gegen das Gesetz und eine
Schuld gegen die Moral. Erstere unterliege der Bestrafung durch die
dazu berufenen Gerichte, „während die moralischen Verbrechen,
so widerrechtlich und infam sie auch sein mögen, und welche
schrecklichen Folgen sie auch nach sich gezogen haben mögen,
nicht dem gerichtlichen Verfahren unterständen und nur eine mora-
lische Verurteilung nach sich ziehen können“. Dem Vorschläge zur
Einsetzung eines internationalen Kriminalgerichts zur Aburteilung
des deutschen Kaisers hatten die amerikanischen Delegierten nicht
zugestimmt, wohl aber den obenerwähnten Schlußfolgerungen des
Berichtes. Nach Ansicht der Amerikaner hätte die deutsche Kriegs-
erklärung an Rußland vermieden werden können, „wenn Deutschland,
begeistert durch die Hoffnung auf den Krieg und die Früchte der Er-
oberung, nicht entschlossen gewesen wäre, den Krieg aufzuzwingen“.
Den schärfsten Vorbehalt machten die Amerikaner hinsichtlich
der Verletzung der belgischen und luxemburgischen Neutralität. Auf
diesem Gebiete glaubten sie, über die ihnen zu gemäßigt erschei-
nenden Urteile des Kommissionsberichtes hinausgehen zu müssen
und erklärten, „daß diese Handlungen in ausdrücklichen Worten ver-
urteilt werden müssen, und daß ihre Urheber Gegenstand des Ab-
scheues der Menschheit werden sollen“.
Die deutsche Friedensdelegation hatte, wie erwähnt3, am 13.Mai
um die Übermittlung des Kommissionsberichtes über die Frage der
Schuld am Kriege gebeten, um sich dazu äußern zu können. Am
20. Mai erhielt sie eine rücksichtslos ablehnende Antwort des Prä-
1 Siehe S. 21*—26*.
2 Für den inzwischen eingetretenen Wandel der Auffassungen über Deutschlands
Schuld am Kriege ist bezeichnend, daß Professor James Brown Scott im Juni 1928
eine Reihe von Vorträgen an mehreren deutschen Universitäten gehalten hat.
3 Siehe oben S. 4.
6
Fortsetzung des Notenwechsels
sidenten Clemenceau. Dieser ging davon aus, die deutsche Repara-
tionspflicht ergebe sich nach der Note Lansings vom 5. November
1918 aus dem Angriffe Deutschlands zu Lande, zu Wasser und auf
dem Luftwege; die deutsche Regierung habe damals gegen diese
Formulierung nicht protestiert und sie dadurch als wohlbegründet
anerkannt. Im November 1918 habe also Deutschland sowohl den
Angriff wie seine Verantwortlichkeit zugegeben, und jetzt sei es zu
spät, dies zu leugnen. Der Bericht der Kommission für die Prüfung
der Verantwortlichkeiten könne der deutschen Friedensdelegation
nicht ausgefolgt werden, denn es handele sich hier um ein Dokument
interner Natur (d’ordre interieur). Die deutsche Friedensdelegation
sah sich daher genötigt, den Wortlaut des Berichtes über die Ver-
antwortlichkeit am Kriege aus den französischen Tagesblättern zu
entnehmen. Zunächst bat sie um eine Verlängerung der ihr für die
Beantwortung des Friedensvertrages gestellten Frist von 15 Tagen.
Hierauf ging Clemenceau ein und verlängerte die Frist vom 22. bis
zum 29. Mai.
Gegen die Behauptung Clemenceaus, daß Deutschland durch An-
nahme der Note Lansings vom 5. November 1918 den Tatbestand der
Schuld am Kriege gewissermaßen stillschweigend anerkannt habe,
wehrte sich die deutsche Friedensdelegation in einem Schreiben vom
24.Mai. Darin hieß es wörtlich: „Das deutsche Volk, das niemals die
Verantwortlichkeit für den Ausbruch des Krieges auf sich genommen
hat, kann mit Recht verlangen, daß ihm seine Gegner mitteilen, aus
welchen Gründen und mit welchen Beweismitteln sie seine Schuld
an allen Schäden und Leiden dieses Krieges [zur] Unterlage der
Friedensbedingungen machen. Es kann sich daher nicht mit der Be-
merkung abspeisen lassen, das von den alliierten und assoziierten
Regierungen durch eine besondere Kommission in der Frage der
Verantwortlichkeit gesammelte Material sei eine innere Angelegen-
heit dieser Regierungen. Diese Lebensfrage des deutschen Volkes
muß in aller Öffentlichkeit erörtert werden; Methoden der Geheim-
diplomatie sind hierbei nicht am Platze. Die Deutsche Regierung
behält sich vor, auf die Angelegenheit zurückzukommen.“
Eine Note der deutschen Friedensdelegation vom 28. Mai1 ging
auf die Weigerung Clemenceaus, den Bericht der alliierten und asso-
ziierten Kommission für die Prüfung der Verantwortlichkeiten der
Urheber des Krieges den deutschen Delegierten mitzuteilen, nochmals
ein. Wesentliche Teile dieses Berichtes seien in der Presse veröffent-
licht worden, und jetzt habe eine Kommission von unabhängigen
Deutschen, nämlich die Professoren Hans Delbrück, Albrecht Mendels-
sohn Bartholdy und Max Weber, sowie Graf Max Montgelas, die
Angaben dieses Berichtes nachgeprüft und dazu Stellung genommen.
Der deutsche Bericht vom 27. Mai, die sogenannte „Professoren-
1 Siehe Anlage 2, S. 27*.
7
Die Anklage von Versailles
denkschrift“, wurde beigefügt. Der Leser findet ihn in vollem text-
lichen Wortlaute auf Seite 27** ff1.
Die Frist zur Beantwortung der Friedensbedingungen lief am
29. Mai ab. An diesem Tage richtete die deutsche Delegation eine
neue Note an Clemenceau; beigefügt waren die deutschen Bemer-
kungen zu den Friedensbedingungen. In der Note hieß es, Deutsch-
land wisse, daß es Opfer bringen müsse, um zum Frieden zu kom-
men; es habe solche Opfer vertragsmäßig zugesichert und wolle
darin an die äußerste Grenze dessen gehen, was möglich sei. Das
deutsche Volk sei aus dem Bunde der Völker ausgeschlossen, und
jetzt solle es seine eigene Ächtung, ja sein Todesurteil unterschrei-
ben. „Die deutsche Delegation stellt erneut ihre Forderung nach
einer neutralen Untersuchung über die Verantwortlichkeit für den
Krieg und die Schuld während des Krieges. Eine unparteiische Kom-
mission sollte das Recht haben, die Archive aller kriegführenden
Länder einzusehen und alle hauptbeteiligten Personen verantwort-
lich zu vernehmen. Nur die Zuversicht, daß die Schuldfrage un-
befangen geprüft wird, kann den verfeindeten Völkern die Gesinnung
geben, die notwendig ist, um den Völkerbund zu bauen.“ Dieser
Gedankengang wurde in den Bemerkungen der deutschen Friedens-
delegation vom 29. Mai zu den Friedensbedingungen und zwar in
den Darlegungen, die sich auf die „Strafbestimmungen“ (sanctions)
bezogen, näher erläutert.
Hatte bisher bei der deutschen Friedensdelegation vielleicht noch
die Hoffnung bestehen können, daß man auf der Gegenseite nicht
bis zum Äußersten schreiten und die Fassung des Artikels 231 noch
ändern würde, so wurde diese Hoffnung durch die berüchtigte Manr
telnote Clemenceaus vom 16. Juni auf das Gründlichste enttäuscht.
Die Mantelnote Clemenceaus vom 16. Juni 1919
Clemenceaus Mantelnote bildet bis auf den heutigen Tag die
eigentliche Grundlage der gegen Deutschland erhobenen Beschul-
digungen. Es erscheint daher unerläßlich, diese Mantelnote vom
16. Juni 1919 sowohl wie die auf die Frage einer Schuld am Kriege
bezüglichen Abschnitte aus der „Antwort der Alliierten und Asso-
ziierten Mächte auf die Bemerkungen der Deutschen Delegation zu
den Friedensbedingungen“ im Wortlaute zu lesen. Die Mantelnote
ist ihrer Wichtigkeit wegen in Anlage 3 (S. 42* ff.) im vollen Wort-
laute und die — gelegentlich als „Denkschrift“ bezeichnete — „Ant-
wort der Alliierten und Assoziierten Mächte usw.“ in ihren wich-
tigsten Teilen in Anlage 4 (S. 56 * ff.) wörtlich abgedruckt.
1 Siehe Anlage 2, S. 27*—41*. Auf die Beigabe der zahlreichen Anlagen konnte
verzichtet werden.
8
Die Mantelnote vom 16. Juni 1919
In seiner Mantelnote1 bezeichnet Clemenceau den am
1. August 1914 zum Ausbruch gekommenen Krieg als das größte
Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Freiheit der Völ-
ker, das eine sich für zivilisiert ausgebende Nation jemals mit Be-
wußtsein begangen habe. Getreu der preußischen Tradition hätten
die Regierenden Deutschlands die Vorherrschaft in Europa ange-
strebt und sich nicht mit dem wachsenden Gedeihen und dem Ein-
flüsse begnügen wollen, nach dem zu streben Deutschland berechtigt
gewesen sei. Von langen Jahren her hätten die deutschen Regierun-
gen geheime Offensivvorbereitungen getroffen. Als ihre Vorberei-
tungen vollendet waren, hätten sie sodann einen „in Abhängigkeit
gehaltenen Bundesgenossen“, nämlich Österreich, dazu ermuntert,
Serbien innerhalb 48 Stunden den Krieg zu erklären, obwohl sie
genau wußten, dieser Krieg könne nicht lokalisiert werden und
müsse daher den allgemeinen Krieg entfesseln. „Um diesen allgemei-
nen Krieg doppelt sicher zu machen, haben sie sich jedem Versuche
der Versöhnung und der Beratung entzogen, bis es zu spät war, und
der Weltkrieg ist unvermeidlich geworden, jener Weltkrieg, den sie
angezettelt hatten, und für den Deutschland allein unter den Natio-
nen vollständig ausgerüstet und vorbereitet war.“ Dann folgen
scharfe Vorwürfe über die rohe und unmenschliche Art, wie Deutsch-
land den Krieg geführt habe, und wegen der Verletzung der belgi-
schen Neutralität. Die Deutschen seien es auch gewesen, die als erste
giftige Gase benutzt, Bombardements durch Flieger und Beschießun-
gen von Städten auf weite Entfernung angewendet hätten, nur um
die seelische Widerstandskraft ihrer Gegner zu zerbrechen. Deutsch-
land habe den Unterseebootkrieg begonnen und mit brutaler Roheit
Tausende von Männern, Frauen und Kindern nach fremden Ländern
in die Sklaverei verschleppt.
Wörtlich heißt es sodann: „Das Verhalten Deutschlands ist in
der Geschichte der Menschheit fast beispiellos. Die schreckliche Ver-
antwortlichkeit, die auf ihm lastet, läßt sich in der Tatsache zu-
sammenfassend zum Ausdruck bringen, daß wenigstens sieben Mil-
lionen Tote in Europa begraben liegen, während mehr als zwanzig
Millionen Lebender durch ihre Wunden und ihre Leiden von der
Tatsache Zeugnis ablegen, daß Deutschland durch den Krieg seine
Leidenschaft für die Tyrannei hat befriedigen wollen.“ Clemenceau
fordert daher „Gerechtigkeit“ als einzige mögliche Grundlage für
die Abrechnung. Gerechtigkeit müsse den Millionen menschlicher
Wesen zuteil werden, denen durch die deutsche Roheit alles genom-
men sei. Den Versailler Frieden bezeichnet Clemenceau als einen
Frieden des Rechts und ordnet die Deutschland abverlangten Opfer
in diesen Gedankengang ein.
1 Siehe Anlage 3, S. 42*—55*.
9
Die Anklage von Versailles
Den Vorwurf der deutschen Friedensdelegation, eine Blockade
von besonderer Strenge gegen Deutschland angewendet zu haben,
sucht Clemenceau mit der Begründung zu entkräften, diese Blockade
habe „wegen des verbrecherischen Charakters des von Deutschland
angefangenen Krieges und wegen der barbarischen Methoden, die
Deutschland in der Durchführung dieses Krieges angewandt hat,“
stattfinden müssen. Also auch sie erscheint als eine berechtigte Straf-
maßnahme. Schließlich fordert Clemenceau eine Erklärung der deut-
schen Friedensdelegation binnen fünf Tagen, also bis zum 21. Juni,
daß sie bereit sei, den Vertrag in seiner damaligen Gestalt zu unter-
zeichnen. Geschehe dies nicht, so sei der Waffenstillstand beendet,
„und die Alliierten und Assoziierten Mächte werden diejenige^
Schritte ergreifen, die sie zur Erzwingung ihrer Bedingungen für
erforderlich halten.“ Durch dieses Ultimatum war der Deutschen
Friedensdelegation die Pistole auf die Brust gesetzt. Die Hauptvor-
aussetzung eines jeden im Rechtsbewußtsein aller Völker gültigen
Vertrages, nämlich die Freiwilligkeit, war damit verletzt.
Gleichzeitig mit der Mantelnote vom 16. Juni 1919 hatte der
Generalkommissar der Deutschen Friedensdelegation, Ministerial-
direktor Dr. Simons, eine „Antwort der Alliierten und Asso-
ziierten Mächte auf die Bemerkungen der Deutschen
Delegation zu den Friedensbedingungen“1 erhalten. In
dieser Antwort waren gewisse Forderungen des Friedensvertrages
näher begründet. So sollten z. B. die Deutschland auferlegten Be-
stimmungen über Landheer, Seemacht und Luftfahrt den ersten
Schritt zu der allgemeinen Beschränkung und Begrenzung der Rü-
stungen bilden, nachdem Deutschland in den letzten Jahrzehnten den
Staaten Europas das ungeheure Anwachsen der Rüstungen aufge-
zwungen habe. Deutschlands Nachbarn hätten, wenn sie nicht dem
Zwange des deutschen Schwertes widerstandslos ausgeliefert sein
wollten, gleichfalls rüsten müssen, und es sei daher ebenso gerecht
wie notwendig, mit der zwangsweisen Begrenzung der Rüstungen
bei dem Staate zu beginnen, dem die Verantwortung für ihr An-
wachsen zufalle.
Der für unsere Zwecke wichtigste Teil VII der „Antwort der
Alliierten und Assoziierten Mächte usw.“ beschäftigt sich ,mit
„Deutschlands Verantwortlichkeit bei der Entstehung des Krieges“1 2
und setzt sich mit der sogenannten Professoren-Denkschrift3 kri-
tisch auseinander. Die unmittelbare Ursache für den Krieg sei nicht
die Mobilisierung der russischen Armee, sondern der Entschluß der
1 Siehe Anlage 4, S. 56*—66*. Dieses Schriftstück wird in der Literatur auch als
Denkschrift zur Mantelnote vom 16. Juni 1919 bezeichnet.
2 Siehe S. 59* ff.
s Siehe Anlage 2, S.27*ff.
10
Die Mantelnote vom 16. Juni 1919
Staatsmänner von Berlin, Wien und Budapest gewesen, „die Lösung
einer europäischen Frage den Nationen Europas durch die Drohung
eines Krieges aufzuzwingen und für den Fall, daß die übrigen Mit-
glieder des europäischen Konzerts sich weigerten, sie durch eine
sofortige Kriegserklärung zu zwingen“. Erst im letzten Augenblicke,
als jede Möglichkeit, den Krieg zu vermeiden, tatsächlich geschwun-
den gewesen sei, habe die deutsche Regierung ihrem Bundesge-
nossen zur Mäßigung geraten. Im übrigen sei der Ausbruch des
Krieges nicht auf einen plötzlichen Entschluß während einer schwe-
ren Krisis zurückzuführen, sondern er sei das logische Ergebnis einer
Politik, die seit Jahrzehnten von Deutschland unter dem Einflüsse
des preußischen Systems verfolgt worden sei.
Wörtlich heißt es hier: „Die ganze Geschichte Preußens ist
durch den Geist der Beherrschung, des Angriffs und des Krieges
charakterisiert. Hypnotisiert durch den Erfolg, mit welchem Bis-
marck, der Tradition Friedrichs des Großen folgend, die Nachbarn
Preußens beraubte und die deutsche Einheit durch Blut und Eisen
schmiedete, unterwarf sich das deutsche Volk nach 1871 fast vor-
behaltlos dem Einflüsse und der Führerschaft seiner preußischen
Herren. Der preußische Geist war nicht damit zufrieden, daß
Deutschland einen großen und einflußreichen Platz im Rate gleicher
Nationen einnehme, auf den es ein Anrecht besaß und den es ge-
sichert hatte. Er konnte durch nichts Geringeres befriedigt werden
als durch Erlangung höchster und autokratischer Gewalt. In einem
Augenblicke also, wo die westlichen Nationen ernsthaft bestrebt
waren, die Rüstungen einzuschränken, an Stelle der Rivalität in den
internationalen Angelegenheiten Freundschaft zu setzen und den
Grundstein zu einer neuen Ära zu legen, in der alle Nationen freund-
schaftlich an der Leitung der Geschäfte der Welt Zusammenwirken
sollten, haben die Lenker Deutschlands unaufhörlich Mißtrauen
und Feindschaft zwischen allen ihren Nachbarn gesät, haben mit
allen Elementen der Unruhe in allen Ländern gemeinsame Sache
gemacht und haben unausgesetzt die Rüstungen Deutschlands ver-
größert und seine militärische und maritime Macht befestigt. Sie
machten alle Hilfsmittel, über die sie verfügten, mobil, die Univer-
sitäten, die Presse, die Kanzel, den ganzen Mechanismus der Staats-
maschine, um ihr Evangelium des Hasses und der Gewalt zu pre-
digen, damit bei gegebener Zeit das deutsche Volk auf ihren Ruf
antworten könne. Das Ergebnis war, daß in den letzten Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts und während des zwanzigsten Jahrhun-
derts die ganze Politik Deutschlands darauf gerichtet war, sich
eine Stellung zu sichern, kraft deren sie herrschen und diktieren
könne.“
So habe Deutschland unmittelbar nach dem russisch-japanischen
Kriege, während Rußland durch die nachfolgende innere Revolution
11
Die Anklage von Versailles
fast gelähmt war, seine Rüstungen vergrößert, um seine Nachbarn
unter der Drohung des Krieges halten zu können. Die ganze deut-
sche Organisation zielte auf einen Angriff hin, das Eisenbahnsystem
im Osten wie im Westen, der Mobilmachungsplan, die Absicht, unter
Verletzung der belgischen Neutralität die französische Verteidi-
gungslinie nördlich zu umgehen. „Das militärische Dogma, wonach
das einzige Verteidigungsmittel für Deutschland darin bestand, sich
als erstes auf seinen Nachbarn zu stürzen, diente als Vorwand, um
eine militärische Organisation und einen strategischen Plan zu ver-
langen, die im gegebenen Momente Deutschland fähig machen
sollten, jeden Widerstand zu zerschmettern und Deutschland zum
absoluten Herrscher im Osten und Westen zu machen.“
Über die diplomatische Geschichte der Jahre vor dem Welt-
kriege geht die „Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte^
kurz mit der Bemerkung hinweg, die friedlichen Nationen West-
europas seien allmählich durch aufeinanderfolgende Krisen, die von
Berlin hervorgerufen worden seien, dazu getrieben worden, sich für
ihre Verteidigung zu vereinen. Das autokratische Deutschland habe
unter dem Einflüsse seiner Lenker mit aller Macht die Vorherrschaft
erlangen wollen, die Nationen Europas aber seien entschlossen ge-
wesen, ihre Freiheit zu retten.
In rhetorischer Steigerung klingen die Erörterungen über
Deutschlands Verantwortlichkeit in folgender Feststellung aus: „In
den Augen der Alliierten und Assoziierten Mächte ist die Verant-
wortung Deutschlands weit größer und furchtbarer als die, worauf
das Memorandum der Deutschen Delegation1 sie zu beschränken sich
bemüht. Deutschland ist unter dem Einflüsse Preußens der Vor-
kämpfer der Macht und der Gewalt, der Täuschung, der Intrige und
der Grausamkeit in der Behandlung der internationalen Angelegen-
heiten gewesen („L’Allemagne, sous l’inspiration de la Prusse, a
ete le Champion de la force et de la violence, de la tromperie, des
l’intrigue et de la cruaute dans la conduite des affaires inter-
nationales“). Während mehrerer Jahrzehnte hat Deutschland un-
ausgesetzt eine Politik getrieben, die darauf hinzielte, Eifersucht,
Haß und Zwietracht zwischen den Nationen zu säen, nur, damit es
seine selbstsüchtige Leidenschaft nach Macht befriedigen konnte.
Deutschland hat sich dem gesamten Strom des demokratischen Fort-
schritts und der internationalen Freundschaften in der ganzen Welt
quer entgegengestemmt. Deutschland ist die Hauptstütze der Auto-
kratie in Europa gewesen. Und zum Schlüsse, in der Erkenntnis, daß
es seine Ziele nicht anders erreichen konnte, entwarf und entfesselte
es den Krieg, der die Niedermetzelung und Verstümmelung von
Millionen von Menschen und die Verwüstung Europas von einem
1 Siehe Anlage 2, S.27*ff.
12
Die Mantelnote vom 16. Juni 1919
Ende bis zum anderen verursachte. Die Richtigkeit der so erhobe-
nen Anklage hat das Deutsche Volk durch seine eigene Revolution
anerkannt.“
In den „Strafbestimmungen“1 wird sodann der Weltkrieg „ein
vorsätzlich gegen das Leben und die Freiheit der Völker Europas
ersonnenes Verbrechen“ genannt. Für Millionen von Menschen habe
er Tod und Verstümmelung gebracht und Europa schrecklichen
Leiden ausgesetzt. Hungersnot, Arbeitslosigkeit, Krankheit wüteten
auf dem ganzen Kontinent, und noch für Jahrzehnte würden die
Völker unter den Lasten des Weltkrieges und der durch ihn ver-
ursachten Zerrüttung ächzen. Deshalb liege es im Interesse der
Gerechtigkeit, die für das Elend der menschlichen Rasse verantwort-
lichen Persönlichkeiten zu bestrafen, zugleich als abschreckendes
Beispiel für andere, die später vielleicht einmal in Versuchung kom-
men könnten, ihrem Beispiele zu folgen. Die Anklage gegen Kaiser
Wilhelm II. sei eine Frage der hohen internationalen Politik, „das
Geringste dessen, was verlangt werden kann für die Sühne des
größten der Verbrechen gegen die internationale Moral, die Heilig-
keit der Verträge und die grundlegenden Prinzipien der Gerechtig-
keit1 2.“
In ihren Bemerkungen vom 29. Mai 19193 über die Friedens-
bedingungen der Entente hatte die Deutsche Delegation darauf hin-
gewiesen, daß auf die Unterdrückung und Versklavung einer großen
Nation ein dauernder Friede nicht gegründet werden könne. Nur
die Rückkehr zu den unwandelbaren Grundlagen der Moral und
Kultur, nämlich zur Treue gegen abgeschlossene Verträge und über-
nommene Verpflichtungen, werde der Menschheit ihr Fortleben
möglich machen. In Erwiderung dieses Satzes holt die „Antwort
der Alliierten und Assoziierten Mächte“ zu ihrem vernichtendsten
Schlage aus, indem sie noch einmal ausdrücklich betont, die Ver-
leugnung gerade dieser Grundsätze durch Deutschland habe den
Weltkrieg heraufbeschworen, und gerade aus diesem Grunde gelte
es, bei den Worten des Präsidenten Wilson vom 27. September 1918
stehen zu bleiben: „Darum muß der Frieden Bürgschaften erhalten,
weil an ihm Vertragschließende teilnehmen, auf deren
Versprechungen, wie man gesehen hat, kein Verlaß ist.“
Damit ist die Verfemung Deutschlands in der denkbar schärfsten
Form ausgesprochen.
Angesichts der Frist von nur fünf Tagen — bis zum 21. Juni —,
die für die endgültige Annahme der Friedensbedingungen gestellt
worden war, hatte die Deutsche Friedensdelegation gleich bei Emp-
fang des Ultimatums vom 16. Juni um Fristverlängerung gebeten.
1 Siehe S. 65*.
2 Siehe S. 66*.
3 Siehe oben S. 8.
13
Die Anklage von Versailles
Diese wurde durch Clemenceau in einem Schreiben vom 17. Juni 1919
zugestanden und der Termin zur Annahme auf sieben Tage ver-
längert.
Bis zum 23. Juni mußte also die Entscheidung fallen. Die Frie-
densdelegation begab sich nach Weimar, wo damals die deutsche
Nationalversammlung tagte, und empfahl die Nichtunterzeichnung
des Vertrages. Ihr Führer, Graf Brockdorff-Rantzau, trat am 20. Juni
zurück, in Versailles übernahm der Gesandte v. Haniel den Auftrag
der Reichsregierung, Erklärungen abzugeben, Gegenerklärungen ent-
gegenzunehmen und Verhandlungen zu führen.
Die erste Mitteilung, die der Gesandte v. Haniel Clemenceau zu
machen hatte, bezog sich auf die Zusammensetzung der neuen
Reichsregierung1. Das neue Reichsministerium stellte sich am 22. Juni
der Nationalversammlung vor, nachdem diese sich tags vorher über
eine am 22. Juni Clemenceau zu überreichende Note geeinigt hatte.
Die Nationalversammlung stimmte darin der Unterzeichnung des
Vertrages unter der Voraussetzung zu, daß damit nicht die Aner-
kenntnis ausgesprochen sein solle, das deutsche Volk sei der Ur-
heber des Krieges. Die Verpflichtung zur Auslieferung nach Ar-
tikel 227—230 des Friedensvertrages wurde verweigert.
Die Note vom 22. Juni fand hierfür würdige Worte: „Deutsch-
land legt den größten Nachdruck auf die Erklärung, daß es den
Artikel 231 des Friedensvertrages, der von Deutschland fordert, sich
als alleinigen Urheber des Krieges zu bekennen, nicht annehmen
kann und durch seine Unterschrift nicht deckt. Daraus folgt ohne
weiteres, daß Deutschland es auch ablehnen muß, die Ableitung
der ihm aufgebürdeten Belastung aus der ihm zu Unrecht zugescho-
benen Urheberschaft am Kriege anzuerkennen. Ebensowenig kann
es ein Deutscher mit seiner Würde und Ehre vereinbaren, die Ar-
tikel 227—230 anzunehmen und auszuführen, in denen Deutschland
zugemutet wird, Angehörige des deutschen Volkes, die von den
alliierten und assoziierten Mächten der Verletzung internationaler
Gesetze und der Vornahme von Handlungen gegen die Gebräuche
des Krieges bezichtigt werden, den alliierten und assoziierten Mächten
zur Aburteilung auszuliefern.“
Deutscherseits beabsichtigte man also eine Unterzeichnung unter
Vorbehalt. Clemenceau antwortete noch am 22. Juni aus Paris, es
seien nicht einmal mehr vierundzwanzig Stunden bis zum Ablauf des
gestellten Termins vorhanden; das fordere eine sofortige Antwort:
1 Präsident des Reichsministeriums: Bauer, Finanzen und Stellvertretung des
Ministerpräsidenten: Erzberger, Auswärtiges: Hermann Müller, Inneres:
Dr. David, Reichswehrminister: Noske, Reichswirtschaftsminister: Wissel,
Reichsarbeitsminister: Schlicke, Reichsernährungsminister: Schmidt, Reichs-
postminister: Qiesberts, Reichsverkehrsminister: Dr. Bell, Reichsschatz-
minister : Mayer- Kaufbeuren.
14
Die Mantelnote vom 16. Juni 1919
„Die Alliierten und Assoziierten Mächte halten sich für verpflichtet
zu erklären, daß die Zeit für eine Diskussion vorbei ist. Sie können
keinerlei Änderung oder Vorbehalt annehmen oder anerkennen, und
sehen sich gezwungen, von den Vertretern Deutschlands eine vor-
behaltlose Erklärung ihres Willens zur Zeichnung und An-
nahme des endgültigen Friedensvertrages in seiner Gesamtheit oder
ihrer Weigerung zur Unterschrift und Annahme zu fordern.“
Trotzdem bat die Deutsche Friedensdelegation am 23. Juni noch-
mals um eine Fristverlängerung von achtundvierzig Stunden. Nach
großen Schwierigkeiten habe das neue Kabinett sich darauf geeinigt,
die Bereitwilligkeit zur Unterzeichnung des Vertrages mit fast allen
seinen Bestimmungen zu erklären, und die Nationalversammlung
habe diesem Kabinett mit großer Stimmenmehrheit das Vertrauen
ausgesprochen. Jetzt müsse die Regierung von neuem mit der Natio-
nalversammlung in Verbindung treten, um die noch erforderliche
schwere Entscheidung zu treffen.
Clemenceau antwortete umgehend mit dem Ausdrucke des Be-
dauerns, daß es nicht möglich sei, die gestellte Frist zu verlängern.
Nunmehr fiel in Weimar die Entscheidung. Sie wurde sogleich
dem Gesandten v. Haniel zur weiteren Mitteilung an Clemenceau
übermittelt und hatte folgenden Wortlaut:
„Die Regierung der Deutschen Republik hat aus der letz-
ten Mitteilung der Alliierten und Assoziierten Regierungen
mit Erschütterung ersehen, daß sie entschlossen sind, von
Deutschland auch die Annahme derjenigen Friedensbedin-
gungen mit äußerster Gewalt zu erzwingen, die, ohne eine
materielle Bedeutung zu besitzen, den Zweck verfolgen, dem
deutschen Volke seine Ehre zu nehmen. Durch einen Gewalt-
akt wird die Ehre des deutschen Volkes nicht berührt. Sie
nach außen hin zu verteidigen, fehlt dem deutschen Volke
nach den entsetzlichen Leiden der letzten Jahre jedes Mittel.
Der übermächtigen Gewalt weichend, und ohne damit ihre
Auffassung über die unerhörte Ungerechtigkeit der Friedens-
bedingungen aufzugeben, erklärt deshalb die Regierung der
Deutschen Republik, daß sie bereit ist, die von den Alliierten
und Assoziierten Regierungen auferlegten Friedensbedingun-
gen anzunehmen und zu unterzeichnen.“
In einer weiteren Note erhob die Deutsche Friedensdelegation
Einspruch gegen einen etwaigen französischen Vormarsch, der auf
Grund von Nachrichten aus Mannheim und anderen badischen Orten
bevorzustehen schien.
Nachdem am 26. Juni der Reichsminister des Auswärtigen Her-
mann Müller und Reichsminister Dr. Bell als deutsche Bevollmäch-
tigte für die Vertragsunterzeichnung bestimmt worden waren, fand
die Unterzeichnung selbst am 28. Juni 1919, am fünften Jahrestage
IS
Die Anklage von Versailles
der Tragödie von Serajewo in dem gleichen Spiegelsaale des Ver-
sailler Schlosses statt, der am 18. Januar 1871 die Geburtsstunde des
Deutschen Reiches erblickt hatte.
Aus dem hier kurz und leidenschaftslos geschilderten Verlaufe
der abschließenden Verhandlungen in Versailles im Juni 1919 geht
zweifellos hervor, daß damals von deutscher Seite alles geschehen
ist, was möglich war, um der Unterzeichnung des Friedensvertrages
in der von der Gegenseite bestimmten Form zu entgehen oder jeden-
falls einen Vorbehalt in der Frage der Schuld am Kriege und hin-
sichtlich der Auslieferung deutscher Persönlichkeiten anzubringen.
Clemenceau hat sich diesen Versuchen gegenüber unbeugsam ge-
zeigt. So zeigt denn der am 28. Juni Unterzeichnete Vertrag nach
der ganzen Art seines Zustandekommens alle Merkmale der Er-
pressung und enthält somit für die Anerkenntnis einer Schuld am
Kriege keinerlei wissenschaftliche, juristische oder moralische Bin-
dung. Dieser Tatsache müssen wir uns stets bewußt bleiben.
Die Anklage und die Möglichkeiten ihrer Widerlegung
Fassen wir den Gedankeninhalt des Artikels 231 des Versailler
Vertrages, die Behauptungen der Mantelnote vom 16. Juni 1919 und
des ihr beigefügten Memorandums zusammen, so ergibt sich, daß
die uns Deutschen vorgehaltenen Beschuldigungen meist ganz all-
gemeiner Natur sind, ja daß sie sich meist kaum über die Bedeutung
von Phrasen erheben. Deutschlands Verhalten sei in der Geschichte
fast beispiellos gewesen; Deutschland habe durch den Krieg seine
Leidenschaft für die Tyrannei befriedigen wollen; Deutschland er-
strebte die Vorherrschaft in Europa; der Krieg war das logische
Ergebnis einer Politik, die Deutschland seit Jahrzehnten unter dem
Einfluß des preußischen Systems verfolgt hat; die ganze Geschichte
Preußens ist durch den Geist der Beherrschung, des Angriffs und
des Krieges charakterisiert; Deutschland ist unter dem Einflüsse
Preußens der Vorkämpfer der Macht und der Gewalt, der Täu-
schung, der Intrige und der Grausamkeit in der Behandlung der in-
ternationalen Angelegenheiten gewesen; Deutschland ist dafür ver-
antwortlich, daß wenigstens sieben Millionen Tote in Europa be-
graben liegen und zwanzig Millionen Verwundeter vorhanden sind;
Deutschland hat sich auf den Krieg seit Jahrzehnten vorbereitet
und Österreich-Ungarn, seinen von ihm abhängigen Bundesgenossen,
dazu veranlaßt, den Krieg zu entfesseln.
Das sind so in der Hauptsache die gegen Deutschland erhobenen
Vorwürfe. Wie soll man ihnen begegnen? Ist es möglich, auf die
einzelnen Vorwürfe, z. B. auf den der Lüge, der Intrige, der Grau-
samkeit in der Behandlung der internationalen Angelegenheiten,
einzeln zu antworten? Eine Prüfung der gegen Deutschland erho-
16
Die Möglichkeiten der Widerlegung
benen Vorwürfe zeigt die Unmöglichkeit eines solchen Verfahrens,
das eine klare Gliederung ausschließen und zahlreiche Wiederholun-
gen bedingen würde. Es bleibt nur der Weg, die deutsche Außen-
politik von dem Zeitpunkte an im Zusammenhänge zu betrachten,
den auch die Mantelnote als Ausgangspunkt nimmt, nämlich von der
Begründung des Deutschen Reiches im Januar 1871 ab. Durch das
große Aktenwerk der deutschen Reichsregierung sind wir in der
Lage, die gesamte Entwicklung der deutschen Politik von 1871 bis
1914 an der Hand untrüglicher amtlicher Aktenstücke zu verfolgen,
und können nicht nur den Zug der Entwicklung, sondern auch die
Begründung der Maßnahmen und in sehr vielen Fällen auch die
erzielten Ergebnisse beurteilen.
So sei der Versuch gewagt, an der Hand der deutschen Akten und
unter Heranziehung der uns bekannt gewordenen Dokumente der
anderen Staaten den Gang der Ereignisse von 1871 bis 1914, immer
unter dem Gesichtspunkte der im Versailler Vertrage gegen uns er-
hobenen Anschuldigungen, zu schildern. Dabei soll nicht etwa das
Bestreben vorwalten, eine abschließende politische Geschichte der
vergangenen Jahrzehnte zu geben — hierzu wäre es noch zu früh,
obwohl wichtiges amtliches und nichtamtliches Material in reicher
Fülle bereits vorliegt —, sondern es soll der Versuch gemacht wer-
den, unter Schilderung der deutschen Außenpolitik in größten Um-
rissen die Sprache der Dokumente selbst nach Möglichkeit zur Gel-
tung zu bringen und so zu zeigen, was von den gegen Deutsch-
land und seine Verbündeten erhobenen Anklagen zu halten ist.
Unser Hauptgegner, gegen den wir alle Kräfte zusammen-
zufassen haben, ist hierbei Frankreich. Frankreich stellte den Präsi-
denten der Friedensdelegation, Frankreich stand — schon infolge
des Ortes der Verhandlungen — stets im Vordergründe der Ausein-
andersetzungen, Frankreich hat in Wort und Schrift immer wieder
die These von der Schuld Deutschlands am Weltkriege durch seine
ersten Männer, durch Clemenceau und Poincare, vertreten lassen.
Frankreich hat sich aber wohlweislich gehütet, seine Archive zu
öffnen, und dadurch der Sache der Aufklärung wirksamsten passiven
Widerstand entgegengesetzt. Mangels offizieller französischer Dar-
legungen über die Jahrzehnte der Vorkriegszeit sind wir nunmehr
genötigt, das französische Schrifttum, soweit es von beachtlicher
Seite herrührt, für unsere Darlegungen mit heranzuziehen.
In erster Linie sind hier die „Denkschriften der Herren fimile
Bourgeois und Georges Pages über die Diplomatischen Gescheh-
nisse, die dem Kriege vorangegangen sind (Archive des Ministeriums
der Auswärtigen Angelegenheiten 1871—1914)“ zu erwähnen. Diese
Denkschriften haben Bourgeois und Pages schon 1919 dem fran-
zösischen Senate vorgelegt und zwar auf Grund eines Auftrages,
den die am 6. Februar 1919 eingesetzte Untersuchungskommission
2 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
17
Die Anklage von Versailles
über die Kriegsereignisse ihnen gegeben hatte. Die Vorlage und
Veröffentlichung der Denkschriften sollten aber erst nach der Unter-
zeichnung der Friedenspräliminarien erfolgen. Senator Paul Doumer
hat am 18. Oktober 1919 im französischen Senat darüber berichtet.
Die Veröffentlichung der Denkschriften erfolgte erst am 9. Januar
1921 im „Journal officiel“. Die beiden Professoren haben sodann
ihre Arbeiten in erweiterter Buchform unter dem Titel „Les origines
et les responsabilites de la grande guerre, preuves et aveux“ (Li-
brairie Hachette, Paris) herausgegeben. Die große Bedeutung ihrer
Darlegungen für Deutschlands Kampf in der Schuldfrage veranlaßte
mich, eine deutsche Ausgabe des wichtigen Werkes unter dem Titel
„Die Ursachen und die Verantwortlichkeiten des großen Krieges.
Beweise und Zeugnisse“ 1926 erscheinen zu lassen1.
Das ganze Buch der französischen Professoren beruht, wie auch
Kronprinz Wilhelm in seinem Buche „Ich suche die Wahrheit!“
schlagend nachgewiesen hat1 2, auf einer einzigen vorgefaßten Mei-
nung, auf der Behauptung nämlich, daß Deutschland den Weltkrieg
vom Zaune gebrochen habe, nicht zu seiner eigenen Verteidigung,
sondern zur Unterwerfung Europas, vielleicht sogar der ganzen Welt,
unter seinen Willen. Selten haben Historiker einen ihnen übertragenen
wichtigen Auftrag mit einer derartigen sachlichen Voreingenommen-
heit ausgeführt, wie es bei diesen Denkschriften, besonders der des
Professors Bourgeois, der Fall ist. Sie unterscheiden sich auf das
schärfste von der neutralen Objektivität und Gewissenhaftigkeit,
mit der die belgischen Gesandten der Vorkriegszeit über die Zu-
spitzung der Weltlage geurteilt haben.
Große Beachtung erheischen die Reden, die Georges Cle-
menceau am 25. September 1919 in der Abgeordnetenkammer und
am 11. Oktober 1919 im Senat über den Vertrag von Versailles ge-
halten hat. Mit diesen Reden wollte Clemenceau die Ungeheuerlich-
keiten des Versailler Vertrages seinem Volke annehmbar machen,
wohl wissend, daß ein solcher Vertrag des Hasses und der Gewalt
wegen der in ihm ruhenden Gefahren eingehendster Begründung
bedürfe. Clemenceau zeigt uns den Weg, den wir gehen müssen,
wenn wir uns jemals aus der Verfemung von Versailles wieder zu
befreien beabsichtigen3.
1 Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin.
2 J. G. Cotta, Stuttgart und Berlin 1925.
3 Die Erkenntnis der Bedeutung der Reden Clemenceaus veranlaßte mich zu einer
deutschen Herausgabe der wichtigsten Reden Clemenceaus, die 1921 unter dem
Titel „Der Tiger. Die Kriegsreden Georges Clemenceaus“ bei der Deutschen
Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin, erfolgte. Durch ein be-
dauerliches Mißverständnis während der letzten Korrektur wurde überall der
Name Clemenceau fälschlicherweise mit e gesetzt. Die richtige Schreibweise des
Namens ist Clemenceau.
18
Die Möglichkeiten der Widerlegung
In der Kammerrede vom 25. September 1919 ist Clemenceau
davon ausgegangen, daß der Angriff Deutschlands den Weltkrieg
heraufbeschworen habe. Vor dem Kriege befand sich Europa, wie er
sich ausdrückte, „unter dem Stiefelabsätze Kaiser Wilhelms II.“. Nun-
mehr habe Frankreich die Welt gerettet, zuerst an der Marne, wo es
fast allein stand und für die ganze Welt der Gefahr die Stirn bot,
sodann bei Verdun und überall; aber es hätte den Krieg nicht bis
zuletzt durchführen können, wenn die Verbündeten nicht gekommen
wären. „Wir sind die Herren und dieser Vertrag ist es, der unsere
Selbstherrlichkeit bestätigt.“
Die große Rede Clemenceaus vom 11. Oktober 1919 im Senat
enthält alle Grundlagen für die Beurteilung unserer damaligen und
unserer künftigen Lage in der Welt. Als Hauptergebnis des Welt-
krieges bezeichnet Clemenceau die Niederwerfung des deutschen
Militarismus. Überall, mit ausdrücklichen Worten oder mit nicht
mißzuverstehenden Andeutungen läßt er erkennen, daß Deutschland
nicht nur die alleinige und ausschließliche Schuld am Ausbruche
des Weltkrieges treffe, sondern daß es auch während des Krieges
die unmenschlichsten Verbrechen begangen habe. Leider aber sei
es nicht gelungen, die deutsche Einheit zu zerstören. Frankreich
bedürfe der Sicherheiten. „Es gibt Notwendigkeiten, die sich einem
aufzwingen. Karl der Große bekehrte die Sachsen zum Katholizis-
mus, indem er ihnen die Ohren abschnitt. Ich kann nicht zu solchen
Mitteln meine Zuflucht nehmen, um die Deutschen dahin zu bringen,
daß sie sich zum gesunden Menschenverstände und zum Frieden be-
kehren.“
Das Thema der Verantwortlichkeiten für den Weltkrieg scheint
Clemenceau bedenklich. Diese Frage berge große Gefahren in sich
und könne in Deutschland Bewegungen hervorrufen, deren Tragweite
noch nicht abzuschätzen sei. Trotzdem dürfe man sie nicht ruhen
lassen, besonders nicht wegen der „scheußlichen Verbrechen der
gesamten deutschen Soldateska... Wir können so etwas nicht ver-
geben und vergessen sein lassen, das ist unmöglich. Und wenn
Frankreich darüber zugrunde gehen müßte: entehren darf es sich
nicht.“ Als das größte Verbrechen Deutschlands bezeichnet Cle-
menceau das „schamlose“ Manifest der 93 deutschen Intellektuellen1.
Hierin sei alle Verantwortung für den Weltkrieg deutscherseits ab-
geleugnet. „Wenn die bedeutendsten Männer eines Landes, die
natürlichen Hüter der Moral und jener erhabenen Gesinnungen,
die ein Volk leiten sollen, so frech zu lügen wagen“, dann dürfe man
1 Das Manifest vom 11. Oktober 1914 enthält 6 Leitsätze (Deutschland habe den
Krieg nicht verschuldet, die Neutralität Belgiens nicht freventlich verletzt, weitere
Zurückweisungen der gegen die deutsche Kriegführung erhobenen Angriffe).
Vgl. Dr. Hans Wehberg, „Wider den Aufruf der 93!“ Deutsche Verlagsgesell-
schaft für Politik und Geschichte, Berlin, 1920.
2*
19
Die Anklage von Versailles
wohl an einer Umkehr der Deutschen im Sinne der Vernunft berech-
tigte Zweifel hegen. Trotzdem wolle er, Clemenceau, nicht zum
Hasse gegen Deutschland treiben, denn auf Gefühle der Gewalt,
aus so reiner Quelle sie auch stammen möchten, könne man nichts
Bleibendes gründen. „Nichtsdestoweniger bleibt wahr, daß wir uns
einem noch ungelösten Problem gegenüber befinden, daß die deut-
sche Nation vor unseren Toren steht, daß eine schwache Grenze
uns von ihr trennt, und daß es sich nun darum handelt, zu wissen,
was wir von einem Volke erwarten dürfen, das sich so schwer gegen
die elementarsten Regeln der Menschlichkeit vergangen und Gewalt-
taten vollführt hat, die nach ihrem Bekanntwerden das ganze Men-
schengeschlecht unfehlbar brandmarken wird.“ Clemenceau machte
schließlich die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund davon
abhängig, was es über seine Schuld am Kriege und im Kriege zu
sagen habe.
Auch Po in ca re hat sich am Kampfe gegen Deutschlands An-
sehen in der Weltmeinung auf das stärkste beteiligt. Von einem
Teile seiner eigenen Landsleute beschuldigt, zur Verschärfung der
Gegensätze in Europa durch Anstachelung Rußlands zu immer grö-
ßeren Rüstungen selbst erheblich beigetragen zu haben, beschritt er
den Weg der Selbstverteidigung und suchte in zahllosen Zeitungs-
aufsätzen und Vorträgen bei Denkmalseinweihungen — mitunter
an einem einzigen Sonntage an mehreren Orten — den Nachweis
zu erbringen, daß Frankreich und jedenfalls er persönlich an der
großen Menschheitskatastrophe des Weltkrieges ganz unschuldig sei.
Am wirkungsvollsten waren seine sechs Vorträge, die er im Früh-
jahr 1921 in der Societe des Conferences gehalten und in der „Revue
de la Semaine illustree“ hat erscheinen lassen1.
Das von Poincare in diesen Vorträgen gezeichnete Gesamt-
bild war für die Mittelmächte und besonders für Deutschland außer-
ordentlich ungünstig. Überall friedliebende Nationen, die keinen
anderen Ehrgeiz hatten, als in Würde und Arbeit nach völkischer
Wohlfahrt zu streben. Aber in der Mitte des Kontinents liegt
Deutschland mit seinen Verbündeten auf der Lauer, um sich bei
der ersten günstigen Gelegenheit auf seine friedlichen Nachbarn zu
stürzen und so seine Weltherrschaftsträume zu verwirklichen. Frank-
reich ist bei Poincare das Land des Friedens und der Gesittung,
das nur allmählich von den tiefen Wunden des Krieges 1870/71 ge-
nas, das sogar immer „seine Gefühle berechtigter Trauer“ im Zaume
zu halten wußte und niemals einen Versuch unternommen haben soll,
seine ihm entrissenen Provinzen wiederzugewinnen. Frankreich und
1 Wegen der Wichtigkeit dieser Aufsätze für unseren Kampf in der Schuldfrage
habe ich unter dem Titel „Poincare und die Schuld am Kriege“ schon
1921 eine deutsche ausführliche Zusammenfassung bei der Deutschen Verlags-
gesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin, erscheinen lassen.
20
Die Möglichkeiten der Widerlegung
Rußland waren nur geeint zur Erhaltung des europäischen Friedens,
und dazu trat dann Großbritannien und schloß den Bund fried-
licher Abwehr gegen die auf Störung des Weltfriedens bedachten
Mittelmächte durch seine Entente cordiale mit Frankreich. Als dann
am 28. Juni 1914 der Mord von Serajewo der Donaumonarchie
einen erwünschten Anlaß bot, um mit einem Scheine des Rechtes
ihre Rechnung mit Serbien zu begleichen, da soll Deutschland sofort
begeistert die Gelegenheit zur Entfesselung des Weltkrieges auf-
gegriffen haben. Alle Versuche zur Entspannung des Konfliktes
hätten die Mittelmächte hinterhältig vereitelt und gleich bei der
Vorbereitung des Weltbrandes Mittel und Wege ausgeklügelt, um
später die Rolle der schuldlos Überfallenen spielen zu können. Kunst-
voll habe sich Deutschland schon vor dem Weltkriege sein Alibi
für die Zukunft gesichert.
Da weder seine Vorträge noch seine Sonntagsreden bei dem
Fortschreiten der Aufklärung über die wahren Gründe des Welt-
krieges hinreichend nachhaltigen Eindruck machten, entschloß sich
der in allen Sätteln gerechte Poincare zu einem umfangreichen
Werke über die Vorkriegszeit. Mit dem Erscheinen seines vierten
Bandes hat das „Au Service de la France — Neufs annees de Sou-
venirs —“ betitelte Werk 1927 seinen Abschluß gefunden. Ein wei-
terer Band unter dem Titel „L’invasion“ ist bereits angekündigt.
Die einzelnen Bände haben den Titel „Le Lendemain d'Agadir 1912“
(Die Folgen von Agadir 1912), „Les Balkans en feu 1912“ (Der
Balkan in Flammen 1912), „L’Europe sous les armes 1913“ (Europa
unter den Waffen 1913) und „L’Union sacree 1914“ (Die geheiligte
Union 1914). Auch das Ergebnis dieser vier Bände kommt auf die
völlige Unschuld Frankreichs, eine nur sehr bedingte Schuld Ruß-
lands und die Hauptschuld der Mittelmächte hinaus.
Unser Weg ist uns daher klar vorgezeichnet. Da die französi-
schen Archive sich bisher nicht geöffnet haben, müssen wir uns
an die gekennzeichneten französischen Schriftstücke, an die „Denk-
schrift der Kommission für die Feststellung der Verantwortlich-
keiten1“, an die Denkschriften der Senatsgutachter Bourgeois und
Pages, an die Reden und Schriften Clemenceaus und Poincares
halten. Für die Jahre 1877—1914 bieten die Berichte der belgi-
schen Diplomaten wertvolle Urteile1 2. Die englische Aktenver-
1 Siehe Anlage 1, S. 3* ff.
2 „Die Belgischen Dokumente zur Vorgeschichte des Weltkrieges“. Amtliche
Aktenstücke zur Geschichte der Europäischen Politik 1885—1914. Mit zwei Er-
gänzungs- und zwei Kommentarwerken herausgegeben von Bernhard
Schwertfeger, Berlin, Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte
1925. Wo nach den belgischen Dokumenten zitiert wird, beziehen sich die Hin-
weise stets auf die erwähnte neue Ausgabe, die auch deutsche Übersetzungen
sämtlicher Schriftstücke enthält.
21
Die Anklage von Versailles
öffentlichung des britischen Auswärtigen Amtes1 umfaßt bis jetzt
die Jahre von 1897 bis etwa 1908 und die kritischen Monate des
Jahres 1914. An russischen Dokumenten besitzen wir die „Di-
plomatischen Aktenstücke zur Geschichte der Ententepolitik der Vor-
kriegsjahre“, herausgegeben von B. v. Siebert1 2 *, die für die Jahre
1909—1914 zahlreiche Unterlagen enthalten, und den von Fried-
rich Stieve herausgegebenen „Diplomatischen Schriftwechsel Is-
wolskis 1911—19143“.
Am reichsten fließen naturgemäß die Quellen für die kri-
tischen Monate des Sommers 1914, da Farbbücher aller am Kriege
beteiligten Staaten erschienen sind. Erwähnt seien die von der Re-
publik Österreich, Staatsamt für Äußeres, herausgegebenen „Diplo-
matischen Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges 1914“ (Rot-
buch), sowie die schon während des Krieges herausgegebenen öster-
reichisch-ungarischen Rotbücher, das italienische Grünbuch, das ser-
bische Blaubuch, das russische Orangebuch, das englische Blaubuch,
die belgischen Graubücher, das französische Gelbbuch, sowie die
zusammenfassenden Sammlungen von Ernst Sauerbeck, „Der
Kriegsausbruch“4, und das sogenannte „Regenbogenbuch“ von Dr.
Max Beer5, „Die europäischen Kriegsverhandlungen“. Ergänzend
seien noch genannt das von Friedrich Stieve herausgegebene
„Russische Orangebuch über den Kriegsausbruch mit der Türkei“6, so-
wie das von Alfred von Wegerer in den „Beiträgen zur Schuld-
frage“ herausgegebene, berichtigte und ergänzte „Französische
Gelbbuch von 19147“, sowie das gleichfalls von Alfred von We-
gerer ergänzte „Russische Orangebuch von 19148“ und die von
ihm herausgegebenen „Tagesaufzeichnungen des ehemaligen russi-
schen Außenministeriums“ über den Beginn des Krieges 19149.
Als Ergänzung für die erstmalig 1919 erschienenen „Deutschen
Dokumente zum Kriegsausbruch 191410“ müssen die im Aufträge des
1 Die Britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 1898
bis 1914. Deutsche Ausgabe. Herausgegeben von Hermann Lutz. Berlin,
Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte 1926.
2 Berlin und Leipzig, Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter
& Co., 1921.
8 Berlin, Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, 1924, nebst der
zusammenfassenden Schrift von Friedrich Stieve „Iswolski und der Welt-
krieg“. Gleicher Verlag. 1924. Vgl. auch die unter dem Titel „Im Dunkel der
Europäischen Geheimdiplomatie. Iswolskis Kriegspolitik in Paris 1911—1917“ er-
schienene Volksausgabe der Iswolski-Dokumente von Friedrich Stieve. Glei-
cher Verlag. Berlin 1926. (Zwei Bände.)
4 Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin 1919.
6 Verlag von Ferd. Wyss, Bern 1915. 2. Auflage.
6 Verlag für Kulturpolitik, Berlin 1926.
7 Berlin 1926. Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte.
8 Berlin 1925. Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte.
9 Berlin 1924. Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte.
10 Charlottenburg 1919. Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte.
22
Die Möglichkeiten der Widerlegung
bayerischen Landtages von P. Dirr herausgegebenen „Bayerischen
Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch1“
herangezogen werden.
Bei der Benutzung der im Sommer 1914 und in der ersten Zeit
des Weltkrieges herausgegebenen Farbbücher der verschiedenen Re-
gierungen ist zu beachten, daß sie meist schon als Mittel der Kriegs-
propaganda anzusehen sind, da sie den Zweck verfolgten, die für ein
williges Mitgehen der Völker erforderliche Stimmung zu schaffen.
1 München und Berlin 1922. Verlag von R. Oldenbourg.
Die Deutsche Politik von 1871 bis 1914
A. Die Bismarckzeit
1871—1890
Vom Deutsch-Französischen Kriege bis zum
Drei-Kaiser-Abkommen (22.10.1873)
Der Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen
Deutschen und Franzosen, beherrscht schon seit Jahrhunderten die
europäische Geschichte. Immer wieder hat er zu schweren politi-
schen und militärischen Verwicklungen der beiden Völker geführt,
„getrieben von jener unwiderstehlichen Macht der Tradition, die
aus den einmaligen Erlebnissen eines großen Volkes aufsteigend,
auch die folgenden Generationen unsichtbar beherrscht1“. Auf den
Schlachtfeldern Böhmens hatte 1866 Preußen durch Gewinnung der
Vorherrschaft in Deutschland den Neid des um seine eigene Macht-
stellung besorgten Frankreich erregt. Jenseits des Rheines sprach
man von einer Revanche für Sadowa. Die französisch-österreichi-
schen Bündnisverhandlungen des Jahres 1869 beweisen es deutlich,
daß Napoleon III. auch seinerseits das alte französische Ziel der Zer-
legung Deutschlands in mehrere Staaten von annähernd gleicher
Größe anstrebte. Die Politik Napoleons III. ging, wie Hermann
Oncken überzeugend darlegt, auf Ludwig XIV. zurück und mündete
in einer Linie von gerader Geschlossenheit als entscheidende Trieb-
kraft in der inneren Verursachung des Krieges von 1870/71 1 2. „Die
nationale Tradition, die Napoleon III. in den Krieg getrieben und den
verhängnisvollen Zusammenstoß zwischen der historischen Rhein-
politik der Franzosen und dem Selbstbestimmungsrecht der deut-
schen Nation herbeigeführt hat, ist die Wiege des Revanchegeistes,
der an der Herbeiführung der zum Weltkrieg führenden Weltspan-
nung einen zentralen Anteil hat. Derselbe Geist, der in diesem Volke
die innersten Kräfte der Seele mächtig beflügelte, hat es dafür auch
mit einer tiefen Verantwortlichkeit vor der Menschheit belastet3“.
Der Rückerwerb Elsaß-Lothringens, dieser „alten germanischen
Provinzen“, wie sie Baron Beyens, der belgische Gesandte in Berlin
bei Kriegsausbruch, in seinem Berichte vom 24. April 19144 genannt
1 Hermann Oncken, Die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III. von 1863—1870
und der Ursprung des Krieges von 1870/71. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart,
Berlin und Leipzig 1926.
3 Hermann Oncken, a. a, O., I., S. 119.
3 Hermann Oncken, a. a. O., I., S. 121.
4 Belgische Aktenstücke, Nr. 113.
27
Die Bismarckzeit
hat, schlug dem Selbstgefühl des französischen Volkes eine tödliche
Wunde, die sich niemals ganz geschlossen hat. So berichtete Baron
Qreindl am 23. September 1911 nach Brüssel1, Frankreich werde sich
im Falle eines siegreichen französisch-deutschen Krieges nicht da-
mit begnügen, sich bis zur Rheingrenze auszudehnen; es werde die
Zerstörung des Deutschen Reiches zum Ziele nehmen, dessen Schaf-
fung ihm die Hegemonie geraubt habe, deren es sich einst erfreute.
Seit Richelieu habe diese Hegemonie auf den Spaltungen zwischen
den deutschen Ländern beruht.
Erwägungen militärischer Sicherung sind es gewesen, die 1871
zur Einverleibung auch des französisch sprechenden Teiles von
Lothringen mit der starken Festung Metz geführt haben. Bismarck
wußte, wie Linnebach in seinem Buche „Deutschland als Sieger im
besetzten Frankreich 1871—1873“1 2 hervorhebt, sehr gut, daß
Deutschland sich durch die Zurücknahme von Elsaß-Lothringen die
dauernde Feindschaft Frankreichs zuziehen würde. „Er war aber mit
Fug und Recht überzeugt, daß die gleiche unversöhnliche Feind-
schaft Deutschland auch dann treffen würde, wenn es von Frank-
reich im Friedensvertrage überhaupt nichts forderte.“ Die Tatsache
der so schnellen Niederwerfung Frankreichs mit den Waffen ist für
das auf seine Vergangenheit so stolze Frankreich immer in erster
Linie dafür bestimmend geblieben, daß der Revanchegedanke nie-
mals ganz erlosch.
Aus einigen Memoirenwerken der jüngeren Zeit, so aus den
Denkwürdigkeiten des Qeneralfeldmarschalls Alfred Grafen von
Waldersee3 und aus dem Briefwechsel, den Denkschriften und Tage-
büchern des Großherzogs Friedrich I. von Baden4 * ist bekannt ge-
worden, daß Bismarck gegen die Einbeziehung des französischen
Sprachgebietes um und in Metz Bedenken hatte, während Moltke
sich aus militärischen Gründen stark dafür einsetzte und hierbei
die Billigung Kaiser Wilhelms I. fand. In dem Tagebuche von Ver-
sailles 1870/71 des Großherzogs Friedrich I. von Baden sind
diese Dinge genau dargestellt6. Schließlich kam es aber doch
zur Forderung von Metz. Damit war Frankreich der militärisch
wichtigste Ausgangspunkt für eine neue Offensive genommen. Ge-
danken der Landesverteidigung sind es also schließlich gewesen, die
für die Gestaltung der neuen deutsch-französischen Grenze be-
stimmend wurden.
1 Siehe diesen sehr wichtigen Bericht im 2. Kommentarbande der „Belgischen
Dokumente zur Vorgeschichte des Weltkrieges“ (B. Schwertfeger, Der
geistige Kampf um die Verletzung der belgischen Neutralität“), S. 142ff.
8 Deutsche Verlagsanstalt, Berlin und Leipzig 1924.
8 Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin 1922. (Herausgegeben von Hein-
rich Otto Meisner.)
4 Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1927.
8 Hermann Oncken, a. a. O., II., S. 127, 129, 203, 296, 303, 366; 389ff.
28
1871
Der Versailler Präliminarfrieden vom 26. Februar 1871, mit
dessen Wiedergabe als Nr. 1 das große Aktenwerk des deutschen
Auswärtigen Amtes* beginnt, wurde durch den Frankfurter Friedens-
vertrag vom 10. Mai 1871* 1 abgelöst, die Zahlung der Kriegsent-
schädigung von fünf Milliarden Franken nach Terminen geregelt
und deutscherseits die Zurückziehung der Truppen aus den noch
besetzten Departements zugesagt. Die Auswechslung der Ratifi-
kationsurkunden erfolgte am 20. Mai 1871 in Frankfurt a. M. Ueber
die Einzelheiten der finanziellen, mit der Zurückziehung der Okku-
pationsarmee zusammenhängenden Fragen wurde weiter verhandelt,
bis schließlich eine Spezialkonvention vom 29. Juni 1872 nähere
Bestimmungen traf2. Danach sollte die letzte Milliarde Franken am
1. März 1875 gezahlt werden. Eine weitere Konvention vom 15. März
1873 rückte die Räumung des französischen Gebietes durch die
deutschen Truppen in wesentlich größere Nähe3, als ursprünglich
geplant gewesen war. Schließlich kam es dahin, daß der deutsche
Oberbefehlshaber, General Frhr. v. Manteuffel, mit den letzten
Truppen die deutsche Grenze bei Bagneux bereits am 15. September
1873 überschritt. Für die damalige französische Beurteilung des Ver-
haltens der deutschen Truppen im besetzten Frankreich ist das Dank-
schreiben des Präsidenten Mac Mahon vom 4. September 18734 an
General Frhr. v. Manteuffel bezeichnend, in dem er die Gerechtigkeit
und Unparteilichkeit ausdrücklich hervorhob, die der General bei
der ihm anvertrauten schwierigen Mission bewiesen habe.
Frankreichs Großmachtstellung hatte auf Jahre hinaus einen
schweren Rückschlag erfahren. Am meisten litt es vielleicht dar-
unter, daß es für die nächsten Jahre kaum darauf rechnen konnte,
eine der europäischen Großmächte als Bundesgenossen zu gewinnen.
Rußland hatte während des Krieges eine strenge Neutralität beob-
achtet und die Gelegenheit benutzt, durch Aufrollung der Pontus-
frage im Herbst 1870 sich von einigen drückenden Bestimmungen
des Pariser Vertrages zwischen Rußland und der Türkei vom
30. März 1856 zu befreien. Bismarck, dem es äußerst unerwünscht
schien, während des deutsch-französischen Krieges etwa die Orient-
frage aufgerollt zu sehen, hatte sich Rußland zur Seite gestellt, und
um England nicht zu verstimmen, die Erörterung des russischen
Wunsches auf einer Konferenz befürwortet. Diese Konferenz hatte
vom 17. Januar 1871 ab in London getagt und schließlich zu dem
sogenannten Pontusvertrage vom 13. März 1871 geführt, der den
russischen Wünschen weit entgegenkam5.
* Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871—1914. Sammlung1 der Diplo-
matischen Akten des Auswärtigen Amtes. Herausgegeben von f Joh. Lepsius,
A. Mendelssohn Bartholdy und Fr. Thiinme. Deutsche Verlagsgesellschaft für
Politik und Geschichte, Berlin. (Im folgenden mit Gr. Pol. zitiert.)
1 Gr. Pol. Nr. 17. 2 Gr. Pol. Nr. 88. 3 Gr. Pol. Nr. 113.
4 Gr. Pol. Nr. 117. 6 Gr. Pol. Nr. 215—226.
29
Die Bismarckzeit
Bismarcks Überzeugung, daß das 1871 geschaffene junge
Deutsche Reich angesichts der Nachbarschaft Frankreichs unbedingt
auf eine starke Sicherung seines Besitzstandes angewiesen sei, führte
ihn alsbald zur Schaffung eines Bündnissystems, das zunächst die
drei östlichen Kaisermächte Deutschland, Rußland und Österreich-
Ungarn näher zusammenführte. Je fester der russisch-deutsche Zu-
sammenschluß sich gestaltete, um so geringer war Frankreichs
Aussicht, zu einem Bündnis mit Rußland zu gelangen. Ein republi-
kanisches Frankreich mußte der automatischen Qedankenrichtung
des Zaren jedenfalls viel weniger bündnisfähig erscheinen, als es
bei dem Weiterbestehen der kaiserlichen Staatsform in Frankreich
vielleicht der Fall gewesen wäre. Mit aus diesem Gründe hat sich
Bismarck auch allen Anregungen des deutschen Botschafters in
Paris, Grafen Harry Arnim, widersetzt, der Beseitigung der repu-
blikanischen Staatsform in Frankreich mittelbar oder unmittelbar
Unterstützung zu leihen.
Für den Anschluß Deutschlands an Rußland sprach sehr
wesentlich die Gedankenrichtung Kaiser Wilhelms I., der die Erinne-
rung an das Zusammengehen Preußens und Rußlands in den Be-
freiungskriegen in treuem Herzen bewahrte.
Im April 1872 hatte Kaiser Franz Joseph vertraulich in Berlin
mitteilen lassen, daß er zur Zeit der Herbstmanöver den Kaiser
Wilhelm zu besuchen entschlossen sei. Als der Zar dies erfuhr,
bot er aus eigenem Antriebe in vertraulicher Form einen gleich-
zeitigen Besuch in Berlin an. Bestimmend hierfür war der Lieblings-
gedanke des Zaren, die drei monarchischen Mächte möchten zur
Erhaltung des Friedens in Europa zusammenstehen. Die Begegnung
der drei Kaiser fand im September 1872 in Berlin statt, ohne daß
politische Abmachungen getroffen wurden.
In Petersburg wirkte der Feldmarschall Graf Berg unermüdlich
im Sinne einer Militärkonvention zwischen den drei Kaisern. Ihm
schwebte vor, daß jeder der Souveräne versprechen sollte, dem-
jenigen, dessen Gebiet von außen her angegriffen würde, mit 200 000
Mann zu Hilfe zu eilen. Eine solche Konvention sollte zuerst zwi-
schen dem deutschen Kaiser und dem Zaren abgeschlossen und so-
dann dem Kaiser von Österreich zum Beitritt vorgelegt werden.
Österreich-Ungarn würde dabei am meisten gewinnen, da seine be-
drohte Existenz durch eine solche Konvention sichergestellt würde,
und Rußland hätte den Vorteil des ungestörten europäischen Frie-
dens und des Erstickens der polnischen Frage; Deutschland aber
würde vor Frankreichs Bedrohungen sicher sein.
Die vom Grafen Berg so dringend befürwortete Militär-
konvention kam am 6. Mai 1873 zustande, als Kaiser Wilhelm I., von
Bismarck und Moltke begleitet, zum Besuche des Zaren Alexander II.
30
1873
in Petersburg weilte. Der aus nur drei Punkten bestehende fran-
zösische einfache Schriftsatz enthielt lediglich die Verpflichtung, daß
im Falle eines Angriffes auf eines der beiden Kaiserreiche durch eine
europäische Macht das andere ihm in möglichst kurzer Frist mit
einer Armee von 200000 Mann Effektivbestand beistehen sollte. Als
Kündigungsfrist waren zwei Jahre vorgesehen1.
Kaiser Franz Joseph war nicht geneigt, der bereits geschlossenen
russisch-deutschen Militärkonvention einfach beizutreten und zog
eine Verpflichtung von Souverän zu Souverän vor, die durch die
Kanzler verabredet und redigiert werden sollte. Der Zar und Kaiser
Franz Joseph Unterzeichneten denn auch am 6. Juni 1873 in Schön-
brunn einen derartigen Vertrag, in dem sie sich zunächst verab-
redeten, sich im Bedarfsfälle zu verständigen und zu verhindern,
„daß ihre Trennung auf dem Gebiete der Grundsätze gelingen
könnte, die sie als allein geeignet betrachten, die Aufrechterhaltung
des europäischen Friedens gegen alle Erschütterungen, von welcher
Seite sie auch kommen mögen, zu sichern, und wenn nötig zu er-
zwingen“1 2. Für den Fall, daß ein Angriff einer dritten Macht den
europäischen Frieden gefährdete, verpflichteten sich die Kaiser,
„ohne Aufsuchung oder Abschließung neuer Bündnisse sich zunächst
untereinander zu verständigen, um sich so über eine gemeinsam zu
verfolgende Linie zu einigen“. Als Kündigungsfrist galten zwei
Jahre. Als Kaiser Wilhelm I. im Oktober 1873 nach Wien kam, trat
er der geschlossenen Übereinkunft am 22. Oktober bei, wodurch
sie sich zum Drei-Kaiser-Abkommen erweiterte. Wurde eine
militärische Aktion notwendig, so sollte sie durch eine besondere
Abmachung zwischen den Monarchen geregelt werden. Der Hin-
zutritt Kaiser Wilhelms mittelst „Akzessionsakte“ wurde zur Kennt-
nis des Zaren gebracht.
So war die Möglichkeit eines französischen Anschlusses an
Rußland zunächst beseitigt. Das Drei-Kaiser-Abkommen bildete die
Krönung der Drei-Kaiser-Zusammenkunft in Berlin vom September
1872, die in der ganzen politischen Welt ein gewaltiges Aufsehen er-
regt hatte. Zutreffend hebt aber Adalbert Wahl hervor3, daß an posi-
tiven Abmachungen in dem Drei-Kaiser-Abkommen nicht viel enthal-
ten war. „Immerhin bedeutete schon seine Existenzeine gewisse Siche-
rung für das neue Reich, unter deren Schutz es in den ersten Jahren
nach dem Kriege an die großen inneren Aufgaben herantreten konnte,
die es sich gestellt hatte. Schweren Proben aber war das Bündnis
nicht gewachsen. Von 1875 an hat es fast völlig versagt.“ Nach
1 Gr. Pol. Nr. 127.
2 Gr. Pol. Nr. 129.
8 Deutsche Geschichte von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Welt-
kriegs (1871—1914). Band 1. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1926.
31
Die Bismarckzeit
Pages1 war es der Haupterfolg des Drei-Kaiser-Bündnisses, „daß
es Preußen die Früchte seines Sieges sicherte, die konservativ ge-
richteten Großmächte zu einer Gruppe mit ihm vereinigte und die
Republik in ihrer Vereinsamung zurückließ“.
Die „Krieg in Sicht“-Episode von 1875
Die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen nach
Räumung des französischen Gebietes durch die deutsche Okkupa-
tionsarmee läßt trotz aller gelegentlichen Trübungen doch deutlich
erkennen, daß Bismarck mit Frankreich in Frieden zu leben wünschte.
Der Hirtenbrief des Bischofs von Nancy vom 3. August 1873, der
auch in den zu Deutsch-Lothringen gehörenden Kirchen zu Gebeten
für die Wiedervereinigung von Metz und Straßburg mit Frankreich
aufforderte, führte zu einem energischen Einspruch Bismarcks. Zeit-
weise schien es, als wenn man in Frankreich auf eine neue Aus-
einandersetzung mit Deutschland hinarbeite, aber noch bis zur
Wiederherstellung der völligen Wehrhaftigkeit Frankreichs warten
wolle. Andererseits war man in Paris besorgt, Deutschland werde
«diese Entwicklung nicht ruhig geschehen lassen. Bismarck aber
dachte gar nicht an einen Krieg. Dem französischen Botschafter in
Berlin, Vicomte de Gontaut-Biron, sagte er am 23. Januar 18741 2,
für Deutschland sei die Rachestimmung in Frankreich nicht er-
wünscht; es habe den Ernst und die Leiden eines jeden Krieges,
auch eines siegreichen, würdigen gelernt und sei entschlossen, ihn
zu vermeiden, solange es möglich sei; wenn indes die französische
Politik sich den deutsch-feindlichen Bestrebungen der römischen
Kurie dienstbar mache, so werde sich Deutschland für bedroht er-
achten und auf die Abwehr Bedacht nehmen müssen. Deutschland
habe aber weder die Absicht noch das Bedürfnis, in die ruhige Ent-
wicklung seiner künftigen Beziehungen zu Frankreich gewaltsam
einzugreifen; es hege den lebhaftesten Wunsch, mit ihm in Frieden
zu leben und werde kein Mittel unversucht lassen, um die fran-
zösische Regierung für die gleiche Anschauung zu gewinnen. Nach
einem Schreiben Bismarcks vom 28. Februar 1874 an den Botschafter
Prinzen Heinrich VII. Reuß in Petersburg drohte eine Gefahr von
Frankreich mit dem Augenblicke, wo dieses den monarchischen
Höfen Europas wieder bündnisfähig erscheinen werde. „Niemand
kann sich darüber täuschen, daß, wenn Frankreich wieder stark
genug ist, den Frieden zu brechen, der Friede zu Ende sein wird;
und es ist möglich, daß andere Regierungen, die nicht Nachbarn von
Frankreich sind, auf die Eventualität, ob Deutschland von Frank-
1 Die Ursachen und die Verantwortlichkeiten des großen Krieges. Deutsche Aus-
gabe, S. 154.
2 Qr. Pol. Nr. 147.
32
1874
reich zum zwanzigsten Mal in zwei Jahrhunderten wiederum ange-
griffen wird, mit mehr Ruhe als wir, vielleicht auch nicht ohne ein
gewisses Behagen, blicken. Der Fürst Qortschakow treibt russische
Machtpolitik; wir verfolgen keine Macht-, sondern eine Sicherheits-
politik. Gambetta ist uns nicht so gefährlich wie eine das ganze
Frankreich zusammenfassende und für andere Mächte bündnisfähige
Organisation dieses Nachbarstaates, der uns seit 250 Jahren in jedem
Menschenalter mindestens einmal überfallen hat“1.
Die „Krieg in Sicht“-Episode von 1875 ließ deutlich er-
kennen, wie beunruhigend damals die deutsch-französischen Be-
ziehungen von den anderen Mächten aufgefaßt wurden. Jm Fe-
bruar 1875 lenkten große Pferdekäufe für Frankreich und bald
darauf das neue Kadregesetz der französischen Infanterie, das die
Armee mit einem Schlage um 144 Bataillone vermehrte, in Deutsch-
land die allgemeine Aufmerksamkeit auf Frankreich. Ein Artikel der
„Kölnischen Zeitung“ vom 5. April „Neue Allianzen“, der von dem
Pressereferenten im Auswärtigen Amte Aegidi stammte, sprach
von einer unmittelbaren Vorbereitung des Revanchekrieges in Frank-
reich. An diesen Artikel der „Kölnischen Zeitung“ knüpfte am
9. April die „Post“ mit ihrem berühmt gewordenen Aufsatze an
„Ist der Krieg in Sicht?“. Beide Artikel galten zunächst als amt-
lich beeinflußt, was aber ganz unzutreffend war. Der Artikel
der „Post“ stammte von Konstantin Rößler, der ihn ohne
irgendwelche Mitwirkung des Reichskanzlers auf eigene Faust ge-
schrieben hatte. Bismarck selbst war überrascht und ließ das nach
Paris mitteilen1 2. Ein amtlicher Artikel der „Norddeutschen Allge-
meinen Zeitung“ vom 10. April stellte fest, die Andeutungen des
Artikels in der „Post“ über Österreich und Italien seien grundlos,
wenn auch die Rüstungen Frankreichs einen beunruhigenden Cha-
rakter trügen. Tatsächlich erreichte damals das Deutsche Reich bei
einer Bevölkerung von etwa 41 Millionen nur eine Kriegsstärke von
1278619 Mann, Frankreich aber bei etwas über 36 Millionen Ein-
wohnern mit den Reserven der aktiven und der Territorial-Armee
eine Stärke von 2423164 Mann.
In Paris war man bestürzt. Sowohl der Präsident der Republik
wie der Außenminister, Herzog v. Decazes, stellten die Frankreich
zur Last gelegten ungewöhnlichen Rüstungen schleunigst in Abrede.
Aber auch in London war man nervös geworden. Lord Derby, der
damalige Staatssekretär des Äußeren, ließ den deutschen Botschafter,
Grafen Münster, um eine Besprechung bitten und deutete an, es
scheine fast, als ob die Pariser Befürchtungen vor einem deutschen
Angriffe nicht ganz unbegründet seien3. In Berlin ließ er amtlich
1 Qr. Pol. Nr. 152.
2 Qr. Pol. Nr. 161.
3 Qr. Pol. Nr. 165.
3 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
33
Die Bismarckzeit
die guten Dienste der englischen Regierung zur Wiederherstellung
des gestörten Vertrauens anbieten und auch in Rom und in Peters-
burg in ähnlichem Sinne wirken.
Damals weilte gerade Kaiser Alexander II. in Begleitung des
Fürsten Gortschakow in Berlin. Zwischen den Monarchen ergab
sich dabei eine weitgehende Übereinstimmung der Ansichten, und
auch Fürst Gortschakow gewann alsbald die Überzeugung, daß zu
einer kriegerischen Beunruhigung kein Anlaß vorliege. Bismarck
sei „vollkommen friedfertig“. Trotzdem gab sich Gortschakow in
einer Zirkulardepesche vom 13. Mai 1875 den Anschein, als wenn
die Erhaltung des europäischen Friedens seinem Besuche in Berlin
zu verdanken sei1. Hieraus entwickelte sich eine schwere Verstim-
mung Bismarcks gegen Gortschakow persönlich und gegen die
Leitung der russischen Politik allgemein. Für Bismarck blieb ferner
infolge der englischen Einmischung der peinliche Eindruck be-
stehen, daß das englische Ministerium die europäischen Kabinette
gleichzeitig gegen Deutschland einzunehmen und in gemeinsame
Tätigkeit zu setzen versucht habe. Lord Derby erklärte, er bedauere
die momentane Verstimmung Deutschlands und hoffe, daß die guten
Beziehungen zwischen beiden Ländern sich bald wiederfinden
würden1 2. Dem Fürsten Gortschakow aber verdachte es Bismarck
nachhaltig, daß er sich auf Kosten und zum Nachteil eines seit
25 Jahren bewährten Freundes Rußlands einen vorübergehenden
äußerlichen Erfolg hatte verschaffen wollen. Bismarck war offen
genug, ihm dies durch den neuen Petersburger Botschafter
v. Schweinitz andeuten zu lassen3. Sein Vertrauen zur Leitung der
russischen Politik war dahin. Hieraus entwickelte sich in Verbin-
bindung mit den Vorgängen im Nahen Orient seine allmähliche Ab-
kehr von Rußland und die Annäherung an Österreich-Ungarn.
Balkankrisen und russisch-türkischer Krieg
Fragen des Nahen Orients, also hauptsächlich des Balkan, haben
— wie schon vorher — so ganz besonders vom Sommer 1875 ab
die europäische Politik der Großmächte maßgebend beeinflußt. So-
lange die Türkei ein gut regierter Staat war und über hinreichende
selbständige Machtmittel verfügte, gelang es ihr unschwer, die
unruhigen Völkerschaften des Balkans niederzuhalten. Mit dem zu-
nehmenden Verfall der Türkei wuchs die Selbständigkeit der Balkan-
völker und ihr Bestreben, sich der türkischen Oberherrschaft immer
mehr zu entwinden. Bei wachsender Selbständigkeit gerieten sie
1 Gr. Pol. Nr. 182.
2 Gr. Pol. Nr. 191.
3 Gr. Pol. Nr. 193.
34
1875
aber alsbald untereinander in Streit, woraus sich immer neue Be-
unruhigungen ergaben. Der russische Panslawismus hielt seine
schützende Hand über die slawischen Völker des Balkans und trug
dadurch erheblich zur Aufrechterhaltung der Beunruhigung auf dem
Balkan bei. Österreich-Ungarn war dauernd besorgt, an seiner ohne-
hin ungünstigen dalmatinischen Grenze ein großes Serbien ent-
stehen zu sehen, das auf die Serben des österreichischen Untertanen-
verbandes eine unerwünschte Anziehungskraft ausüben mußte. Eng-
land schließlich war in hervorragendem Maße an der Frage der
Dardanellen interessiert und somit der natürliche Gegner aller rus-
sischen Bestrebungen, den Schlüssel zum Schwarzen Meere in die
eigene Hand zu bekommen und so das Schwarze Meer zu einem
russischen Binnengewässer zu machen. Dabei war der Vormarsch
Rußlands auf Konstantinopel nicht nur ein traditionelles, sondern
unbestreitbar auch ein sehr volkstümliches Ziel der russischen Po-
litik: der Wunsch, das orthodoxe Kreuz auf der Hagia Sofia wieder
zu errichten, verlieh allen derartigen Bestrebungen des russischen
Panslawismus eine leidenschaftliche Stoßkraft.
Schon im Spätherbste 1870, als der Zar sich von den ein-
engenden Bestimmungen des Pariser Friedens von 1856 lossagte und
den Abschluß des Pontusvertrages unter geschickter Ausnutzung
des deutsch-französischen Krieges durchzusetzen wußte1, hatte sich
die russische Staatsleitung sofort gegen den Gedanken verwahrt,
etwa die Orientfrage entrollen zu wollen. Bismarcks Bestreben ging
durchaus in gleicher Richtung. Ihm lag stets vor allem daran,
Deutschland aus den Balkanfragen so weit herauszuhalten, wie
irgend möglich, und zunächst abzuwarten, was die hauptsächlich
interessierten Großmächte Rußland, Österreich, England und auch
Italien auf dem Balkan unternahmen. Deutschland sollte sich freie
Hand bewahren, um gegebenenfalls mit um so größeren Nachdrucke
und Erfolg eingreifen zu können, wenn die Umstände dies erfordern
sollten. In diesem Sinne war auch sein bekannter Ausspruch ge-
meint1 2, er sehe in dem ganzen Orient für Deutschland kein Inter-
esse, das auch nur die gesunden Knochen eines einzigen pommer-
schen Musketiers wert sei. Eine ähnliche Auffassung hat Bismarck
auch in seiner Reichstagsrede vom ll. Januar 1887 bei Besprechung
der bulgarischen Angelegenheiten vertreten und den „viel miß-
brauchten und totgerittenen Ausdruck von den Knochen des pom-
merschen Grenadiers“ mit dem Zusatze noch einmal erwähnt, daß
die ganze orientalische Frage für Deutschland keine Kriegsfrage
sei. An dieser Auffassung hat Bismarck während seiner gesamten
Kanzlerzeit unverbrüchlich festgehalten.
1 Siehe o. S. 29.
2 Reichstagssitzung vom 5. Dezember 1876.
3*
35
Die Bismarckzeit
Die größte Gefahr der zwischen 1875 und 1914 niemals völlig
aufhörenden orientalischen Wirren lag in der auf das türkische Erbe
spekulierenden Bereicherungssucht der Großmächte. In diesem Sinne
kann man wirklich sagen, daß der kranke Mann am Bosporus seinen
staatlichen Weiterbestand nur von der Eifersucht der Großmächte
hat weiterfristen können, da eine jede die schweren Auseinander-
setzungen fürchtete, die sich aus der Auflösung der europäischen
Türkei zwischen den Großmächten unweigerlich ergeben mußten.
So war es denn wieder sehr beunruhigend, als im Juli 1875 in
der Herzegowina Unruhen ausbrachen, die sich alsbald auf Bosnien
ausdehnten und in der ganzen westlichen Welt eine leidenschaftliche
Parteinahme für die von der türkischen Mißherrschaft niedergehal-
tenen christlichen Bewohner jener Gebiete auslösten. In Wien be-
fürchtete man eine Vereinigung Bosniens und der Herzegowina mit
Serbien oder mit Montenegro, zumal Fürst Gortschakow dem Plane
geneigt schien, aus diesen beiden Provinzen einen neuen unabhän-
gigen Staat zu schaffen. Demgegenüber wollte Graf Andrässy, der
Wiener Minister des Auswärtigen, zunächst noch abwarten, die ge-
nannten Provinzen bei der Türkei belassen und sie erst besetzen,
wenn sich die Türkei mit der Ausführung der ihr aufzuerlegenden
Reformen in Verzug setzte. Jetzt schon traten Gegensätze zwischen
Rußland und Österreich-Ungarn in die Erscheinung, die durch das
österreich-ungarische Reformzirkular vom 30. Dezember 1875, dem
die drei Kaisermächte zugestimmt hatten, und dem schließlich auch
Italien, Frankreich und England beitraten, nur scheinbar überbrückt
wurden.
Während Bismarck näheren Anschluß an England suchte, dort
aber noch wenig Geneigtheit zu einer stärkeren Bindung gegen-
über Deutschland fand, nahmen die Unruhen auf dem Balkan, be-
sonders in Bulgarien, immer größeren Umfang an. Im Frühjahre
1876 stand man vor der Gefahr eines Krieges zwischen Serbien,
das auf die Unterstützung Montenegros rechnete, und der Türkei.
Bei einer Zusammenkunft der leitenden Staatsmänner des Drei-
Kaiser-Bundes in Berlin vom 11. bis 14. Mai 1876 einigten sich
Fürst Gortschakow und Graf Andrässy über die Hauptpunkte1.
Österreich stand schon damals in Gefahr, in die sich immer mehr
verschärfenden Gegensätze zwischen England und Rußland hinein-
zugeraten. Fürst Gortschakow aber erwog den Plan eines großen
europäischen Kongresses, zu dem Deutschland als weniger betei-
ligte Macht die Initiative ergreifen sollte.
Bismarck erblickte in einer solchen Konferenz, die zwei Jahre
später, allerdings unter ganz anderen Verhältnissen, im Berliner Kon-
1 Das Berliner Memorandum vom 13. Mai 1876 forderte eine Waffenruhe von
zwei Monaten auf dem Balkan.
36
1876
greß doch zur Tatsache geworden ist, eine Gefahr für das Drei-Kaiser-
Bündnis, für den Frieden und für die Stellung zu Deutschlands
Freunden. Er fürchtete eine Lockerung des Drei-Kaiser-Bündnisses
und eine sich daraus ergebende Annäherung Österreichs an England,
Rußlands an Frankreich. Hieraus konnte sich bei der Unverträg-
lichkeit der österreichischen, englischen und russischen Interessen
im Orient ein Krieg ergeben und an Deutschland der Anspruch
herantreten, zwischen den beiden feindlichen Gruppen des Kon-
gresses das Schiedsrichteramt zu übernehmen. Mit Recht fürchtete
Bismarck, daß unsere drei Freunde Rußland, Österreich und Eng-
land einen solchen Kongreß mit Verstimmung für Deutschland ver-
lassen würden, weil alle drei von Deutschland nicht hinreichend
unterstützt zu sein glauben würden1. Bismarck empfand keine Ver-
anlassung, bei aller Teilnahme für das Geschick der Christen im
Orient nun plötzlich gerade in dieser Frage die Führung Europas
zu übernehmen. Fürst Gortschakow war darüber tief enttäuscht.
In Petersburg war man gewillt, auf dem Balkan mit den Waffen
einzuschreiten und suchte sich hierfür die österreichische Zustim-
mung zu sichern. Bei einer Begegnung der Kaiser von Rußland und
Österreich-Ungarn in Reichstadt am 8. Juli 1876 einigten sich die
beiden Monarchen auf eine wohlwollende Neutralität Österreich-
Ungarns im Falle eines russisch-türkischen Krieges. Dafür gestand
ihm Rußland die Besetzung Bosniens und der Herzegowina zu,
während sich Österreich-Ungarn mit der Ausgestaltung Bulgariens,
Rumeliens und Albaniens zu selbständigen Staaten einverstanden
erklärte.
Die Einigung zwischen Wien und Petersburg war aber, wie sich
alsbald erweisen sollte, nur eine scheinbare, denn schon wenige
Wochen später erwog man in Rußland die Möglichkeit eines Krieges
gegen Österreich.
Von dem Bestreben geleitet, die russische Verstimmung gegen
Deutschland zu beseitigen, regte Bismarck am 30. August 1876 die
Entsendung des beim Zaren sehr beliebten Generalfeldmarschalls
Frhr. v. Manteuffel zu den russischen Kaisermanövern bei Warschau
an. Diese Entsendung sollte die Überzeugung des Zaren stärken2,
daß Deutschland, wie auch die Entschließung des Zaren in der
Balkanfrage ausfallen möge, ihm doch die freundschaftliche Ge-
sinnung bewahren werde, die sich aus der Dankbarkeit für Ruß-
lands freundschaftliche Haltung in den Jahren 1864 bis 1870 ergebe.
Der Zar werde nicht erwarten, daß Deutschland aus Gefälligkeit
für Rußland einen Krieg führe, den das deutsche Interesse nicht
fordere, er dürfe aber unbedingt auf wohlwollende und neutrale
1 Qr. Pol. Nr. 228.
s Qr. Pol. Nr. 229.
37
Die Bismarckzeit
Nachbarschaft Deutschlands unter allen Umständen rechnen. Der
Zar ging auf den Vorschlag der Entsendung des Generals v. Man-
teuffel freudig ein, und Kaiser Wilhelm I. entsandte den General am
2. September mit einem herzlich gehaltenen Handschreiben nach
Warschau1. Dort betonte Fürst Gortschakow alsbald den Wunsch
eines deutlicheren Hervortretens Deutschlands zugunsten Rußlands
in der orientalischen Frage und regte wiederum eine Konferenz an.
Auch das Antwortschreiben des Zaren an Kaiser Wilhelm I. vom
7. September wies darauf hin, Rußland könne genötigt sein, in der
orientalischen Frage eine scharfe Sonderstellung einzunehmen1 2.
Am 13. September 1876 erhielt Bismarck durch den Grafen An-
drässy nähere Mitteilungen über die Reichstadter Abmachungen vom
8. Juli, wonach Österreich-Ungarn im Falle der Unhaltbarkeit der
Türkei in den Besitz von Bosnien gesetzt werden sollte, während
Rußland seine „natürlichen Grenzen“ erhielt, ohne daß allerdings
ein größerer slawischer Staat etwa unter der Patronanz von Ruß-
land entstehen durfte. Tags darauf, am 14. September, suchte der
russische Botschafter in Berlin, d’Oubril, die Haltung Deutschlands
für den Fall zu ermitteln, daß Rußlands Würde es nötigen würde,
auf eigene Hand vorzugehen3. Bismarck, der gegen diesen Bot-
schafter ein erhebliches Mißtrauen besaß, beauftragte die deutsche
Botschaft in Petersburg mit einer zunächst ausweichenden Antwort.
Bald wurden die russischen Versuche, sich Deutschlands als
Vorspann gegen Österreich-Ungarn zu bedienen, deutlicher. Unter
Umgehung des amtlichen diplomatischen Weges suchte der Zar,
während er im September und Oktober 1876 in Livadia weilte, den
preußischen Militärbevollmächtigten, Generalleutnant v. Werder, zu
einer Äußerung darüber zu veranlassen, wie Deutschland handeln
würde, falls es zu einem russisch-österreichischen Kriege kommen
sollte4. Nach Bismarcks Auffassung war ein Krieg zwischen Ruß-
land und Österreich für Deutschland und seine Zukunft immer ein
außerordentlich schwieriges und ein so gefährliches Dilemma, daß
man von der deutschen Politik nicht erwarten könne, die Entstehung
eines solchen Krieges zu erleichtern5. In diesem Sinne wurde auch
der Botschafter v. Schweinitz mit Weisungen versehen6. Mit der
größten Vorsicht sollte er den Standpunkt vertreten, daß Deutsch-
land bestrebt sein würde, Österreich zu bewegen, auch im Falle eines
russisch-türkischen Krieges mit Rußland Frieden zu halten. Wenn
diese Bemühungen aber mißlingen sollten, „und wenn wir den Bruch
1 Gr. Pol. Nr. 230.
2 Gr. Pol. Nr. 232.
3 Gr. Pol. Nr. 234.
^ Gr. Pol. Nr. 237—240.
« Gr. Pol. Nr. 241.
s Gr. Pol. Nr. 251.
38
1876
zwischen Rußland und Österreich trotz aller unserer Bemühungen
nicht hindern könnten, so läge an sich noch kein Qrund für Deutsch-
land vor, aus seiner Neutralität herauszutreten“.
Fürst Gortschakow war über diese Zurückhaltung Bismarcks
sehr verstimmt und gab sich keine Mühe, seine Erregung zu ver-
bergen1. Auch der Zar selbst sprach sich in ähnlichem Sinne zu
Schweinitz aus. An Kaiser Wilhelm schrieb er am 2. November,
nachdem er am 30. Oktober der Türkei ein Ultimatum behufs als-
baldiger Annahme eines Waffenstillstandes hatte stellen lassen, Ruß-
land könne nicht mehr auf die unfruchtbare Arbeit der Diplomatie
warten1 2, die seit einem Jahre die Würde der Kabinette aufs Spiel
setze; die türkische Sache gehe nicht allein Rußland, sondern das
ganze Europa, die Menschheit und die christliche Gesittung an; er,
der Zar, habe das Recht, zu erwarten, daß man ihn handeln lasse,
wenn man auch nicht mit ihm Zusammenwirken wolle. Fürst Gor-
tschakow schrieb im gleichen Sinne an Bismarck3. Er forderte nicht
eine sachliche Unterstützung, sondern eine öffentlich klar ausge-
sprochene moralische Anhängerschaft.
Hiernach war es klar, daß sich Rußland für seine Ausein-
andersetzungen mit der Türkei gern die Aufmachung eines Man-
datars von Europa gegeben hätte. Bismarck war nicht geneigt,
Rußlands eigensüchtige Pläne durch einen europäischen Auftrag
zu decken. „Im vorliegenden Falle versuchen Rußland sowohl wie
England abwechselnd, uns als Europäer vor den Wagen ihrer
Politik zu spannen, den zu ziehen wir als Deutsche, wie sie
selbst wohl einsehen, keinen Beruf haben4“. Bismarck war gern
bereit, den russischen Interessen auch weiterhin zu nützen, wünschte
sich aber diese „Spiegelfechterei mit dem Europäertum“ ernsthafter
als bisher vom Leibe zu halten. Der Wiedereinführung des Be-
griffes „Europa“ als Verschleierung für eigene politische Zwecke
widersetzte er sich nachhaltig, und das um so mehr, als er den
Fürsten Gortschakow für einen sehr eitlen Staatsmann hielt, der auf
diplomatischem Wege Deutschland von Österreich zu trennen ver-
suche, um so zu einer Erneuerung der alten antipreußischen Grup-
pierung aus dem Siebenjährigen Kriege, der sogenannten Kaunitz-
schen Koalition, zu gelangen5.
Das Antwortschreiben Kaiser Wilhelms I. vom 14. November6
auf den Zarenbrief vom 2. November vertrat einen engen Zusammen-
schluß der drei Kaiserreiche unter scharfer Betonung der traditio-
1 Qr. Pol. Nr. 252.
2 Gr. Pol. Nr. 254.
3 Gr. Pol. Nr. 255.
4 Gr. Pol. Nr. 256.
5 Gr. Pol. Nr. 257.
6 Gr. Pol. Nr. 258.
39
Die Bismarckzeit
nellen deutschen Freundschaft für Rußland und des Wunsches zur
Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens. Bismarck schrieb an
den Fürsten Gortschakow am 14. November im gleichen Sinne,
unterließ dabei aber nicht, die Einführung des Begriffes des Euro-
päertums zurückzuweisen: Verpflichtungen „als Europäer“ geltend
zu machen, sei überflüssig, sie wögen diejenigen nicht auf, die
Deutschland Kaiser Alexander gegenüber habe. „Europa hat sich
schon seit Jahrhunderten nie mehr die Mühe gegeben, uns zu ver-
pflichten, und im Jahre 1870, angesichts des ungerechtesten Krieges
mitten in Europa, hat dieses Europa seine Stimme nicht vernehmen
lassen.“
In Konstantinopel trat im Dezember 1876 eine Botschafter-
konferenz zusammen, an der sich auch Deutschland beteiligte, um
den Frieden auf dem Balkan herstellen zu helfen. Dort hatte sich
die Türkei seit Juli 1876 des Angriffes der Fürsten von Montenegro
und Serbien zu erwehren.
Für die Vermeidung eines europäischen Krieges war es wichtig,
daß sich Rußland und Österreich im Dezember 1876 und Januar 1877
über die Auslegung der Reichstadter Abmachungen einigten. Die
österreichisch-russische Konvention vom 15. Januar 1877 nebst einer
Zusatzakte1 ging davon aus, daß die Donaumonarchie, falls die Ver-
handlungen zu einem Abschlüsse nicht gelangten und sich hieraus
ein Bruch mit der Folge eines Krieges zwischen Rußland und
der Türkei ergeben sollte, in aller Form die Verpflichtung über-
nahm, „gegenüber dem Einzelvorgehen Rußlands eine Hal-
tung wohlwollender Neutralität zu beobachten und, soviel an ihr
liegt, durch ihre diplomatische Tätigkeit die Versuche einer ge-
meinschaftlichen Einmischung oder Vermittlung, die andere Mächte
unternehmen könnten, unwirksam zu machen.“ Im Artikel VII be-
hielt sich Österreich-Ungarn „den Augenblick für die Besetzung
Bosniens und der Herzegowina durch seine Truppen und die Art
dieser Besetzung vor“. Beide Mächte verpflichteten sich gegenein-
ander, den Bereich ihres militärischen Vorgehens nicht wie folgt
auszudehnen: Österreich-Ungarn nicht auf Rumänien, Bulgarien, Ser-
bien und Montenegro; Rußland nicht auf Bosnien, die Herzegowina
und gleichfalls nicht auf Serbien und Montenegro. Diese beiden
Fürstentümer und der sie trennende Teil der Herzegowina sollten
eine zusammenhängende neutrale Zone bilden, die von keinem Heere
der beiden Kaiserreiche überschritten werden durfte. In der Zusatz-
konvention vom 15. Januar 1877 wurden die Abmachungen von
Reichstadt nochmals dahin erwähnt, daß im Falle einer Gebiets-
veränderung oder der Auflösung des ottomanischen Reiches die
Gründung eines großen in sich geschlossenen slawischen oder an-
deren Staates ausgeschlossen sein sollte; Bulgarien, Albanien und
1 Gr. Pol. Nr. 265 und 266.
40
1877
der Rest von Rumelien könnten als unabhängige Staaten errichtet
werden, Thessalien, ein Teil von Epirus und die Insel Kreta Grie-
chenland einverleibt und Konstantinopel mit einer Bannmeile von
noch zu bestimmendem Umfange eine freie Stadt werden. Im Ar-
tikel I beschränkten die Monarchen ihren etwaigen Landerwerb auf
folgende Gebiete: Österreich-Ungarn auf Bosnien und die Herze-
gowina unter Ausschluß des zwischen Serbien und Montenegro ge-
legenen Teiles, „über den die beiden Regierungen sich zu einigen
gedenken, wenn der Augenblick gekommen sein sollte, darüber zu
verfügen“. Rußland beschränkte seine Ansprüche in Europa auf
die Gegenden Beßarabiens, die die alten Grenzen des Reiches vor
1856 wiederherstellen würden.
Inzwischen hatte die Botschafterkonferenz in Konstantinopel —
11.—22. Dezember 1876 Vorkonferenz, 23. Dezember 1876 bis 20. Jan.
1877 eigentliche Konferenz — nichts Erhebliches ausgerichtet. Ruß-
land zeigte ein gewisses Entgegenkommen, die Türkei aber rechnete
im stillen auf Unterstützung durch England. Damals bereits trat ein
scharfer Gegensatz zwischen diesem und Rußland zutage, während
Deutschlands Vertreter, Botschafter Frhr. v. Werther, sich im Hinter-
gründe hielt. Er war angewiesen, darauf zu warten, bis seine Kolle-
gen aus Österreich und Rußland sich geeinigt hätten1; dann erst
sollte er von der festgestellten Übereinstimmung zwischen Rußland
und Österreich sein Votum abhängig machen, nicht aber die deut-
sche Stimme im Interesse des einen gegen den anderen in die Wag-
schale werfen. England wollte, wie immer, freie Hand behalten, und
so lag der Schwerpunkt der seinem Vertreter, Lord Salisbury, ge-
gebenen Weisungen darin, daß sich die englische Regierung, ohne
einen Druck auf die Türkei auszuüben, die völlige Freiheit ihrer
Entschließungen vorbehielt. Die Türken zogen aus dieser Haltung
der englischen Regierung die Folgerung, England werde sie im
Falle eines Krieges nicht im Stiche lassen, und blieben unnachgiebig.
Für Englands Haltung in der orientalischen Frage war der
ungünstige Eindruck mitbestimmend, den Lord Salisbury an Ort
und Stelle von der Türkei und im besonderen von den türkischen
Ministern empfing1 2. Auf der Durchreise nach Konstantinopel hatte
Lord Salisbury im November 1876 in Berlin wiederholt die Lage
mit Bismarck besprochen und für den ihm dargelegten deutschen
Standpunkt der Zurückhaltung volles Verständnis gezeigt3. Deutsch-
land, sagte ihm Bismarck, könne wenig geneigt sein, sich an einer
Politik zu beteiligen, die zu einer Ausdehnung des lokalen russisch-
türkischen Krieges nach Europa hin führen könnte4. Die Per-
1 Gr. Pol. Nr. 267.
2 Gr. Pol. Nr. 271.
3 Gr. Pol. Nr. 263.
4 Gr. Pol. Nr. 264.
41
Die Bismarckzeit
sönlichkeit Salisburys flößte Bismarck Vertrauen ein, was den
deutsch-englischen Beziehungen auch späterhin sehr zugute ge-
kommen ist.
So blieb denn Bismarcks Politik während der Besprechungen
in Konstantinopel immer die gleiche, Rußland und Österreich vor
Reibungen untereinander zu bewahren und gleichzeitig gute Be-
ziehungen zu England aufrechtzuerhalten1. Das war nicht immer
leicht, da Fürst Gortschakow in seinen Gesprächen mit dem Bot-
schafter v. Schweinitz wiederholt mit dem Gedanken der europäi-
schen Solidarität spielte und erklärte, wenn die Pforte ablehne und
die Botschafter von Konstantinopel abreisten, so müsse Europa sich
erklären, wie es die Beleidigung hinnehme, und was es tun wolle;
er, Gortschakow, stelle sich ganz auf das europäische Terrain. Bei
dieser Gedankenrichtung fühlte er sich natürlich von Deutschland
nicht hinreichend unterstützt und gewann auch den Zaren für diese
Auffassung. Dieser beklagte sich gegenüber Schweinitz lebhaft über
die mangelhafte Unterstützung Rußlands durch Deutschland1 2. Die
orientalische Frage sei keine russisch-türkische, keine slawische, son-
dern eine europäische der Humanität und Christenheit. Schweinitz
hatte ihm gegenüber keinen leichten Stand. Tiefes Mißtrauen be-
seelte hinfort Bismarck gegen den Fürsten Gortschakow, der ge-
meinsam mit dem panslawistischen General Ignatiew mehr Neigun-
gen für Paris als für Berlin zu empfinden schien. Schweinitz wurde
daher angewiesen, dem Fürsten Gortschakow nicht etwa durch
Kundgebungen einer berechtigten Empfindlichkeit sein Spiel gegen
Deutschland zu erleichtern3. Kaiser Wilhelm hielt bei aller Billigung
der Bismarckschen Politik gefühlsmäßig zum Zaren4.
Am 18. Januar 1877 erklärte sich der türkische Große Rat ein-
stimmig’ gegen die Vorschläge der Mächte. Rußlands besonderer Be-
vollmächtigter auf der Konstantimopeler Konferenz, General Ig-
natiew, suchte im März durch eine Rundreise an die in der orien-
talischen Frage interessierten Höfe diese für den russischen Stand-
punkt zu gewinnen, der darin gipfelte, entweder binnen vier bis
sechs Wochen einen gemeinsamen diplomatischen Schritt zu tun
oder Rußland allein Vorgehen zu lassen. Die angenehmste Lösung
für Rußland wäre es gewesen, mit europäischer Billigung eine ge-
meinsame militärische Aktion zweier oder dreier Mächte zustande
zu bringen. In diesem Sinne suchte General Ignatiew am 4. März
1877 auf den Fürsten Bismarck einzuwirken5. Dieser aber verstand
sich nur zu einer wohlwollenden Neutralität und zu einer Vermitt-
1 Gr. Pol. Nr. 270.
2 Gr. Pol. Nr. 272.
3 Gr. Pol. Nr. 273.
4 Gr. Pol. Nr. 274.
8 Gr. Pol. Nr. 276.
42
1877
luing bei Österreich zwecks Innehaltung derselben Linie. Kaiser Wil-
helm I. trat dieser Auffassung bei. Dafür beteuerte General Igna-
tiew, er sei ein entschiedener Freund der deutschen Allianz als
der einzigen für Rußland gedeihlichen und möglichen. Jede nähere
Beziehung Rußlands zu Frankreich stellte er in Abrede1.
Die Entscheidung über Krieg und Frieden lag jetzt in London.
Dort beschloß der Ministerrat am 13. März, auf eine Erörterung
der russischen Vorschläge einzugehen, falls das russische Kabinett
die sofortige Demobilisierung bestimmt zusicherte1 2. Kaiser Wilhelm
hoffte, daß der Zar auf den ihm gezeigten Ausweg bereitwillig ein-
gehen würde, und wünschte Schweinitz in diesem Sinne instruiert
zu sehen. Bismarck widersetzte sich diesem Wunsche, da er für
später eine Trübung der deutsch-russischen Beziehungen daraus be-
fürchtete3. Tatsächlich weigerte sich auch Rußland, demobilzu-
machen. Der vom General Ignatiew in London vorgelegte russische
Protokollentwurf fand daher dort keine Zustimmung. Graf Peter
Schuwalow, der damalige russische Botschafter in London, setzte
daraufhin einen neuen Protokollentwurf auf, der die Zustimmung der
Großmächte fand.
So entstand das „Londoner Protokoll“ vom 31. März 1877. Es
stellte die Verpflichtung der Türkei fest, die versprochenen Refor-
men einzuführen, nahm den Abschluß des Friedens mit Serbien zur
Kenntnis und bezeichnete die zwischen der Pforte, Serbien und Mon-
tenegro getroffenen oder noch zu treffenden Abmachungen als
einen Schritt vorwärts auf dem Wege zur allgemeinen Befriedung.
Falls die Pforte die Hoffnungen der Großmächte noch einmal ent-
täuschte, wurden gemeinsame Schritte der Großmächte angedroht4.
Lord Derby als Vertreter Englands und Graf Schuwalow gaben kurze
Sondererklärungen ab. England entsandte den russenfeindlichen La-
yard als interimistischen Botschafter nach Konstantinopel5. Seine Er-
nennung konnte von der Pforte so aufgefaßt werden, als wolle Eng-
land der Türkei wieder den alten Schutz gewähren.
Tatsächlich weigerte sich jetzt die Pforte, das Londoner Proto-
koll, an dem sie nicht beteiligt gewesen war, anzunehmen6. So
wurde der Krieg unvermeidlich. Auch Kaiser Wilhelm I. hielt die
blutige Auseinandersetzung für unabwendbar und suchte dahin zu
wirken, daß im Sinne der Lokalisierung des Konfliktes7 auch Eng-
land eine wohlwollende Neutralität gegen Rußland einnahm. Bis-
marck tat alles, um nach keiner Richtung hin den Anschein zu er-
1 Gr. Pol. Nr. 277—279.
2 Gr. Pol. Nr. 280.
3 Gr. Pol. Nr. 281.
4 Gr. Pol. Nr. 282.
5 Gr. Pol. Nr. 283.
6 Gr. Pol. Nr. 285.
7 Gr. Pol. Nr. 286, 287.
43
Die Bismarckzeit
regen, als suche Deutschland der russischen Regierung durch Zu-
sicherungen irgendwelcher Art den Entschluß zum Kriege zu er-
leichtern 1.
Inzwischen spielten Verhandlungen, England zur Annahme und
Vorbereitung eines Protektorates über Ägypten als Ausgleich für
Rußlands etwaige Erfolge im östlichen Mittelmeer zu bewegen1 2.
Hierfür suchte der frühere ägyptische Minister des Äußeren, Nubar
Pascha, die Londoner Staatsmänner zu gewinnen. Auch Bismarcks
Ansichten entsprach es, daß England sich Ägyptens versichern
müßte, „und daß es im Interesse des mitteleuropäischen Friedens
liege, wenn England lieber Pfand nehme, als Krieg führte3“.
Der russisch-türkische Krieg
Am 19. April 1877 teilte der Zar dem deutschen Kaiser den
Beginn des Krieges gegen die Türkei mit, wieder unter Betonung
des Gesichtspunktes, damit eine Pflicht gegen Europa zu erfüllen4.
Der Kaiser antwortete ihm am 28. April, indem er ihm wohlwollende
Neutralität versprach und den Schutz der russischen Untertanen in
der Türkei während des Krieges übernahm5. In London verbreitete
daraufhin die Presse, Deutschland verfolge selbstsüchtige Absichten;
es wolle zwar einer Vergrößerung der Macht Rußlands im Orient
zustimmen, einer englischen Machterweiterung in Ägypten aber nur
dann, wenn für Deutschland die Erwerbung Hollands gesichert sei.
Sogar die Königin von England soll zeitweise ähnlichen Gerüchten
Glauben geschenkt haben. Der deutsche Botschafter Graf Münster
wies diese Ausstreuung unter Hinweis darauf zurück, daß jeder
vernünftige Staatsmann in Deutschland in dem Besitze Hollands
eher eine Schwächung als eine Stärkung Deutschlands erblicken
müsse6.
Bismarck war damals durchaus geneigt, einen Ausgleich zwi-
schen Rußland und England zu fördern. Wenn England und Ruß-
land auf der Grundlage Ägyptens für England, des Schwarzen Meeres
für Rußland einig wurden, so diktierte er am 15. Juni 1877 in Kis-
singen7, dann könnten beide auf lange Zeit mit der Erhaltung des
Status quo zufrieden sein, seien aber doch wieder in ihren größten
Interessen auf eine Rivalität angewiesen, die ihnen eine Beteiligung
an Koalitionen gegen Deutschland sehr erschweren würde. Ein fran-
1 Gr. Pol. Nr. 288.
8 Gr. Pol. Nr. 289.
3 Gr. Pol. Nr. 290.
4 Gr. Pol. Nr. 291.
3 Gr. Pol. Nr. 292.
6 Gr. Pol. Nr. 293.
7 Gr. Pol. Nr. 294.
44
1877
zösisches Blatt hatte von dem „cauchemar des coalitions“ gespro-
chen, unter dem Bismarck leide. Hierzu bemerkte der Kanzler:
„Diese Art Alp wird für einen deutschen Minister noch lange, und
vielleicht immer, ein sehr berechtigter bleiben. Koalitionen gegen uns
können auf westmächtlicher Basis mit Zutritt Österreichs sich bilden,
gefährlicher vielleicht noch auf russisch-österreichisch-französischer;
eine große Intimität zwischen zweien der drei letztgenannten Mächte
würde der dritten unter ihnen jederzeit das Mittel zu einem sehr
empfindlichen Drucke auf uns bieten. In der Sorge vor diesen Even-
tualitäten, nicht sofort, aber im Laufe der Jahre, würde ich als
wünschenswerte Ergebnisse der orientalischen Krisis für uns an-
sehen: 1. Gravitierung der russischen und der österreichischen In-
teressen und gegenseitigen Rivalitäten nach Osten hin, 2. der Anlaß
für Rußland, eine starke Defensivstellung im Orient und an seinen
Küsten zu nehmen und unseres Bündnisses zu bedürfen, 3. für Eng-
land und Rußland ein befriedigender Status quo, der ihnen dasselbe
Interesse an Erhaltung des Bestehenden gibt, welches wir haben,
4. Loslösung Englands von dem uns feindlich bleibenden Frankreich
wegen Ägyptens und des Mittelmeeres, 5. Beziehungen zwischen
Rußland und Österreich, welche es beiden schwierig machen, die
antideutsche Konspiration gegen uns gemeinsam herzustellen, zu
welcher zentralistische oder klerikale Elemente in Österreich etwa
geneigt sein möchten.“ Dem Kanzler schwebte dabei das Bild nicht
etwa irgendeines Ländererwerbes, sondern einer politischen Ge-
samtsituation vor, „in welcher alle Mächte außer Frankreich unser
bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen
zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden“. Sollte ein englisch-
russischer Krieg nicht zu vermeiden sein, so erblickte Bismarck
sein Hauptziel in der Vermittlung eines beide Mächte auf Kosten
der Türkei befriedigenden Friedens.
In diesem Schriftstücke Bismarcks vom 15. Juni 1877 sind die
Grundlinien seiner Bündnispolitik bis 1890 deutlich erkennbar. Sie
hatte kein anderes Ziel als die Sicherung des deutschen Besitz-
standes, sie war defensiv und konservativ zugleich.
Im englischen Kabinett war damals niemand vorhanden, der
sich tatkräftig für das ägyptische Protektorat einsetzte. Die eng-
lischen Minister, meinte Nubar Pascha tief verstimmt, seien die ein-
zigen Engländer, die die Notwendigkeit Ägyptens für England nicht
begriffen. Man befürchtete im englischen Kabinett eine Verstimmung
Frankreichs und deutsche Vergrößerungspläne. Diese Besorgnis
wurde in London von Frankreich und Rußland aus genährt1.
England stand damals den Großmächten ziemlich isoliert gegen-
über, mit Sympathien eigentlich nur für Deutschland, aber mit
tiefem Mißtrauen gegen Rußland. So beschränkte sich denn Bismarck
1 Gr. Pol. Nr. 295.
45
Die Bismarckzeit
angesichts der immer noch vorhandenen Möglichkeiten eines eng-
lischen Eingreifens in den Orientkrieg auf die größte Zurückhal-
tung1. Dem englischen Botschafter in Berlin riet er dringend vom
Eingreifen seines Landes ab, enthielt sich aber auch jeder Vermitt-
lung zur Herbeiführung eines Friedens, da er befürchtete, Rußland
könnte darin einen wenig freundschaftlichen Akt erblicken. Deutsch-
lands Beziehungen zu Rußland waren ihm „bei den weiten Grenz-
beziehungen zu diesem Reiche viel wichtiger als die ganze Türkei1 2“.
Den Türken, die am 12. Dezember 1877 eine deutsche Friedens-
vermittlung erbaten, ließ er daher den Rat geben, wenn sie den
Frieden ernstlich wollten, sich nur an Rußland selbst zu wenden3.
Die deutscherseits abgelehnte Vermittlung bei Rußland über-
nahm nunmehr Ende Dezember 1877 England. Die Türkei hatte in
der stillen Hoffnung auf Unterstützung durch England endgültige
Schritte zur Erlangung des Friedens selbst nach der Übergabe der
Armee von Plewna immer wieder hinausgeschoben und betrachtete
sich nun als von England geschädigt4.
Einer Bitte der Türkei vom 19. Januar 1878, der deutsche Kaiser
möge einen mäßigenden Einfluß auf den Kaiser von Rußland aus-
üben, wollte Bismarck nicht entsprechen, da ein solcher Schritt
ein Heraustreten aus der Neutralität bedeuten würde5. Der Zar
hatte nämlich bereits am 9. Dezember 1877 die in dreizehn Punkte
gegliederten Friiedensbedingungen in Berlin und Wien vertraulich
mitteilen lassen, die er der Türkei zu stellen gedachte. Kaiser Wil-
helm gab daraufhin der Besorgnis Ausdruck, daß Rußlands Wünsche
dem Einverständnisse mit Österreich und der Aufrechterhaltung des
Drei-Kaiser-Bündnisses schädlich werden könnten. Österreich-Ungarn
empfand tatsächlich auch die russischen Bedingungen als viel zu
weitgehend. Eine Konferenz der Großmächte schien das einzige!
Mittel, um die bestehenden Gegensätze zu begleichen.
Bismarck hatte seine nur zu begründete persönliche Abneigung
gegen eine Konferenz unter deutschem Vorsitze schon 1876 scharf
genug zum Ausdruck gebracht6. Er war sich dessen klar bewußt,
daß politische Empfindlichkeiten der einen oder anderen Partei, viel-
leicht sogar aller Beteiligten, sich mit der Erinnerung an einen sol-
chen Kongreß verknüpfen könnten, und daß diese sich dann gegen
Deutschland richten würden.
Eine Konferenz war angesichts der scharfen österreichischen
Verstimmung gegen Rußland aber nicht mehr zu umgehen. Der
1 Or. Pol. Nr. 296.
2 Gr. Pol. Nr. 297, 298.
3 Gr. Pol. Nr. 299.
4 Gr. Pol. Nr. 300, 301.
6 Gr. Pol. Nr. 302.
« Siehe o. S. 36/37.
46
1878
österreich-ungarische Außenminister Graf Andrässy bestand durch-
aus darauf, da er in dem Verhalten der russischen Politik eine Bloß-
stellung seiner Regierung vor der öffentlichen Meinung erblickte.
Österreich, meinte er, sei nicht in der Lage, die der Pforte von
Rußland aufgezwungenen Bedingungen, soweit sie Österreichs In-
teressen als Nachbarstaat und seine Rechte als Signatarmacht be-
rührten, ohne weiteres hinzunehmen. Eine Konferenz sei notwendig,
wenn es nicht zu einem Konflikt kommen solle1.
Auf dem Kriegsschauplätze hatte sich die Lage inzwischen da-
durch erheblich verschärft, daß einerseits England eine Flotte ohne
Genehmigung des Sultans in den Bosporus einlaufen ließ, anderer-
seits Rußland Konstantinopel mit 30000 Mann zu besetzen drohte,
falls die englische Flotte nicht zurückgezogen wurde. England aber
wollte die Besetzung Konstantinopels durch russische Truppen natür-
lich nicht gestatten1 2.
Da sowohl von Wien wie von Petersburg aus Berlin als Sitz
der Konferenz befürwortet wurde, mußte Bismarck damit rechnen,
der deutschen Politik eine entscheidende Rolle bei den bevorstehen-
den Auseinandersetzungen angewiesen zu sehen. Von vornherein
schien es ihm ausgeschlossen, dem Wiener Kabinett mit Drohung
oder Gewalt den Willen Rußlands aufzunötigen. Bei einem Bruche
mit Österreich hatte Deutschland die zweitstärkste Militärmacht
Europas, Frankreich, zum Gegner und mußte damit rechnen, Frank-
reich alsbald zum Angriffe schreiten zu sehen, während es zugleich
Österreich bekämpfen mußte. Dann hatte es aber auch England zum
Gegner und keine Aussicht auf russische Hilfstruppen. War es ge-
rechtfertigt, das deutsche Volk in eine solche Lage zu bringen3?
Unter dem starken Drucke Österreich-Ungarns, das erklärte, die
Donaumonarchie sei nach den politischen Änderungen von 1866
darauf angewiesen, „im Osten eine dominierende Stellung einzu-
nehmen4“, kam es am 25. Februar 1878 in Wien zu vertraulichen
Vorbesprechungen zwischen dem russischen Botschafter v. No-
wikow, dem deutschen Botschafter Grafen zu Stolberg und dem
Grafen Andrässy5. Rußland lenkte ein wenig ein, so daß die Ge-
fahr eines Zusammenstoßes mit England wenigstens vertagt wurde6.
Trotzdem stand es im März 1878 mehrmals auf des Messers
Schneide, ob statt des eigentlich von allen Mächten begehrten Kon-
gresses ein neuer Krieg, und zwar zwischen Rußland und England,
entstehen sollte.
1 Gr. Pol. Nr. 303.
2 Gr. Pol. Nr. 306.
3 Gr. Pol. Nr. 310.
4 Gr. Pol. Nr. 319.
8 Gr. Pol. Nr. 325, 326.
6 Gr. Pol. Nr. 328—330.
47
Die Bismarckzeit
Am 3. März wurde der Präliminarfriedens vertrag zwi-
schen Rußland und der Türkei in San Stefano unterzeichnet1.
England sah dessen Bedingungen als unmöglich an. Bismarck setzte
sich daraufhin dafür ein, daß die russische Regierung die Abmachun-
gen von San Stefano bekanntgeben solle, damit geprüft werden
könne, inwieweit durch sie frühere europäische Verträge, nament-
lich der Pariser Frieden von 1856 und die Londoner Beschlüsse von
1871, berührt würden1 2. Eine Konferenz ohne Beteiligung Englands
schien ihm widersinnig3. In England bestand man darauf, gewisse
Vorfragen zwischen Rußland und England vor dem Zusammen-
tritt einer Konferenz erledigt zu sehen, und verlangte unter allen
Umständen den Vorsitz des Fürsten Bismarck4. Auch Frankreich
trat dem Gedanken einer solchen Vorkonferenz bei5. Nur Rußland
äußerte Bedenken, da Fürst Gortschakow den Erfolg seines per-
sönlichen Erscheinens in Berlin offenbar nicht durch eine Vor-
konferenz abgeschwächt sehen wollte. Der Zar ging nicht so weit
und vertraute „dem praktischen Sinne des Fürsten Bismarck.“ Dieser
wiederum hielt die amtliche Vorlage des ganzen Friedensvertrages
an die Konferenz für unerläßlich6. England schließlich forderte, daß
alle Bestimmungen des Vertrages von San Stefano zum Arbeits-
bereiche des Kongresses gehören sollten, während Gortschakow dies
zu umgehen wünschte. Auch Frankreich hatte gewisse Bedenken und
wollte, daß über Ägypten, Syrien, das Heilige Grab und Tunis auf
der Konferenz nicht gesprochen werden dürfe. Bismarck erklärte
beruhigend, daß auch er die Bildung von Gruppen und Koalitionen
nicht wünschte, die darauf ausgingen, den Minoritäten ihre An-
sichten aufzuzwingen. Entsprechend äußerte er sich nach London7.
Ohne das verantwortungsbewußte persönliche Auftreten des
russischen Botschafters in London, des Grafen Peter Schuwalow,
wäre der Kongreß vielleicht nicht zustande gekommen, da Eng-
land bereits ultimative Forderungen an Rußland stellte und Fürst
Gortschakow in gereiztester Form antwortete8. Jetzt trat Kaiser
Wilhelm I. mit der Auffassung hervor, es sei an der Zeit und
angebracht, auszusprechen, in welchem Maße Deutschland „die
Erhaltung des Friedens für Europa wünschen und verlangen“
müsse9.
Der 28. März 1878 bedeutete den Höhepunkt der Entwick-
1 Gr. Pol. Nr. 332.
2 Gr. Pol. Nr. 340.
3 Gr. Pol. Nr. 342.
* Gr. Pol. Nr. 347.
6 Gr. Pol. Nr. 348.
e Gr. Pol. Nr. 350—353.
7 Gr. Pol. Nr. 354, 355.
8 Gr. Pol. Nr. 362—368.
9 Gr. Pol. Nr. 369, 370.
48
1878
lung. In London hatte Lord Beaconsfield im Einverständnis mit
der Königin die Einberufung der Reserven beantragt, was gesetzlich
nur zulässig war, wenn ernste Verwicklungen drohten1. Lord Derby
wollte diesen ernsten Schritt weder England noch Europa gegenüber
mit seiner Verantwortlichkeit decken, wurde überstimmt und legte
sein Amt als Staatssekretär des Äußern nieder. Lord Salisbury wurde
sein Nachfolger1 2. Der deutsche Botschafter in London, Graf Münster,
verglich die damalige Stellung der Russen und Engländer zutreffend
mit zwei Pulverfässern, die jeden Augenblick durch unvorsichtiges
Verhalten der Türken und des englischen Botschafters in Konstan-
tinopel, Layard, zum Auffliegen gebraucht werden könnten.
Auch Österreich erschwerte die Lage und machte Wünsche
geltend, die ohne die englische Kriegsdrohung von Rußland viel-
leicht nicht zu erreichen gewesen wären. So wollte es durchaus
keine Gebietsvergrößerung Montenegros nach Norden zulassen und
beanspruchte Skutari; ferner sollten Bosnien und die Herzegowina
sofort an Österreich fallen. Zutreffend bemerkte der deutsche Bot-
schafter, Graf zu Stolberg am 1. April 18783 4, Österreich wolle die
ganze westliche Seite der Balkanhalbinsel und somit das ganze
Küstengebiet des Adriatischen Meeres in seine Macht- und Inter-
essensphäre ziehen. Graf Andrässy halte offenbar den gegenwärtigen
Zeitpunkt, wo Rußland bei der drohenden Haltung Englands auf
eine Verständigung mit der Donaumonarchie angewiesen sei, für
günstig, um für diese einen möglichst hohen Preis zu fordern.
Ähnlich urteilte General Ignatiew, der im März in Wien weilte1.
In dieser kritischen Lage trat Bismarck im Sinne der Auf-
fassung Kaiser Wilhelms I. mit einer Kundgebung für den Frieden
hervor. „Geleitet von der Überzeugung, daß weder England noch
Rußland bisher den Krieg als eine unabweisliche Notwendigkeit an-
sehen“, so ließ Bismarck am 9. April 1878 den deutschen Bot-
schaftern in London und Petersburg telegraphieren5, „gibt der
Kaiser, unser Allergnädigster Herr, die Hoffnung nicht auf, daß der
Frieden zwischen beiden Deutschland gleich befreundeten Mächten
werde erhalten werden“. Bei der unmittelbaren Nähe, in der die
englische Flotte und das russische Heer sich vor Konstantinopel
gegenüberständen, könnten unvorhergesehene Zufälle genügen, ver-
hängnisvolle Konflikte herbeizuführen. Bismarck fragte daher an,
ob die Kabinette geneigt sein würden, sich Deutschlands freund-
schaftlicher Vermittlung zu bedienen, um eine Übereinstimmung
.über Maßregeln herbeizuführen, durch die eine größere Entfer-
1 Gr. Pol. Nr. 373.
2 Gr. Pol. Nr. 375.
3 Gr. Pol. Nr. 377.
4 Gr. Pol. Nr. 380.
5 Gr. Pol. Nr. 381.
-4 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
49
Die Bismarckzeit
nung der Streitkräfte beider Mächte von einander tatsächlich her-
gestellt würde.
Bismarcks Schritt wurde entscheidend. Sowohl Fürst Gort-
schakow wie Lord Salisbury nahmen seinen Vorschlag an. Zwar
wurde über die Einzelheiten der praktischen Ausführung noch
leidenschaftlich hin und her gestritten, da Rußland als Sieger im
Türkenkriege nicht als gedemütigt erscheinen wollte. Es bedurfte
der ganzen diplomatischen Geschicklichkeit Bismarcks und der deut-
schen Botschafter in London und Petersburg, um das immer wieder
hervortretende Mißtrauen der Gegner zu beseitigen. Zutreffend
nannte damals Lord Salisbury die Auseinandersetzungen zwischen
London und Petersburg Waffenstillstandsverhandlungen ohne wirk-
lichen Krieg1. Es gelang aber noch im April, die Mächte der Be-
schickung des Kongresses geneigt zu machen.
Der Berliner Kongreß
Nunmehr begannen die Staatsmänner mit der Geltendmachung1
ihrer Wünsche. Österreich-Ungarn erstrebte in erster Linie, dem
Anwachsen des slawischen Einflusses auf dem Balkan „im Interesse
Europas“ Einhalt zu tun. Man forderte die Okkupation Bosniens und
der Herzegowina, und nur im Notfälle eine Annexion dieser Ge-
biete, da sie nicht populär sei und finanziell nicht nur keinen Ge-
winn, sondern geradezu eine Bürde bedeute; da aber eine Auf-
saugung dieser Gebiete durch Montenegro oder Serbien wahr-
scheinlich eintreten und dadurch ein dauernder Herd revolutionärer
und annexionistischer Gelüste geschaffen werden würde, so müsse
Österreich-Ungarn von zwei Übeln das kleinere wählen und sich
zur Annexion bequemen. Nur ein starker Staat, der seine Aufgabe
in der inneren Entwicklung dieser Länder suche, könne hier die
Ordnung hersteilen, die Bewohner gegeneinander schützen, sie an
ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben gewöhnen
und diese Länder einer besseren Zukunft entgegenführen. „Für un-
sere Monarchie selbst, so lautete der Schluß einer Denkschrift
vom 21. April 18781 2, „bedeutet (der Gebietszuwachs) keinen Macht-
züwaehs, sondern einen Akt der Notwehr gegen drohende Gefahren,
einen Akt, der gleichzeitig geeignet ist, den Frieden Europas vor
nahen Erschütterungen sicherzustellen, ein Opfer, das Österreich-
Ungarn auf sich nimmt, und dessen Früchte Europa zugute
kommen.“
Auch Rußland meldete sich mit weitgehenden Wünschen und
beanspruchte Deutschlands Unterstützung in allen Punkten. Der
1 Gr. Pol. Nr. 392.
2 Gr. Pol. Nr. 400.
50
1878
Zar ließ in Berlin sagen, Deutschland möge nicht nur im Hinblick
auf die alte treue Freundschaft, sondern mehr noch wegen seiner
eigensten Interessen sich ganz und offen auf die Seite der russischen,
so gemäßigten Forderungen stellen und ihre Annahme in Wien
nachdrücklich befürworten1.
Die innere Gegensätzlichkeit der österreichischen und russischen
Forderungen lag klar zutage. Schon jetzt war zu erkennen, wie be-
rechtigt Bismarcks Abneigung gegen einen Kongreß unter seinem
Vorsitze gewesen war.
Der vermittelnden Tätigkeit des Grafen Peter Schuwalow ge-
lang es im Mai 1878, die Einberufung der Konferenz für Juni nach
Berlin zu erreichen. Die Einladungsformel sollte so gehalten sein,
daß eine Erörterung sämtlicher Bestimmungen des Vertrages von
San Stefano dem Kongreß Vorbehalten wurde1 2. Am 3. Juni, einen
Tag nach dem Attentate Nobilings auf Kaiser Wilhelm I., erfolgten
die Einladungen. Der Kongreß selbst tagte vom 13. Juni bis zum
13. Juli in der deutschen Reichshauptstadt. Bismarck entfaltete
hierbei eine geradezu bewundernswürdige Tätigkeit, und immer
gelang es ihm, Gegensätze, häufig in Besprechungen unter vier
Augen, auszugleichen und so die praktischen Arbeiten als ein
„ehrlicher Makler“ zu fördern.
Die Hauptergebnisse des Berliner Kongresses, an dessen äußer-
lichen Verlauf uns das im Berliner Rathause befindliche große
Gemälde von Anton v. Werner so lebendig erinnert, waren im
großen und ganzen folgende: das Fürstentum Bulgarien wurde
gegenüber den Bestimmungen von San Stefano auf das Land
zwischen Donau und Balkan einschließlich Sofia verkleinert. Der
südliche Teil Bulgariens blieb als Provinz Ostrumelien unter der
Botmäßigkeit des Sultans, erhielt aber eigene Verwaltung unter
einem christlichen Generalgouverneur. Auch das autonome Bul-
garien blieb der Türkei tributpflichtig und ihrer Souveränität unter-
stellt. Die Dobrudscha fiel an das siegreiche Rumänien, das ebenso
wie Montenegro und Serbien unabhängig wurde. Die russischen
Truppen sollten Ostrumelien und Bulgarien innerhalb von neun
Monaten räumen, während in San Stefano zwei Jahre dafür ver-
einbart worden waren. Ferner sollte gemäß den Abmachungen von
Reichstadt und den Protokollen vom 15. Januar 18773 Bosnien
und die Herzegowina von Österreich-Ungarn besetzt und verwaltet
werden. Der Sandschak Nowibazar — zwischen Serbien und Mon-
tenegro — verblieb der Türkei; Österreich-Ungarn erhielt aber
Militär- und Handelsstraßen durch dieses Gebiet. Rußland gewann
1 Aufzeichnung des Staatssekretärs v. Bülow vom 6. Mai 1878; Gr. Pol. Nr. 404,
Anlage 1.
2 Gr. Pol. Nr. 407—409.
8 Siehe o. S. 40.
51
Die Bismarckzeit
aüs türkischem Besitz Ardachan, Kars und Batum, letzteres zur
Anlage eines Freihafens. Die Türkei mußte sich zu Reformen in
Armenien und zur Gewährung politischer Gleichberechtigung aller
Konfessionen bequemen. Die Meerengenbestimmung, wonach der
Bosporus und die Dardanellen im Kriege den Kriegsflotten der
Mächte verschlossen blieben, blieb aufrechterhalten.
Rußland zeigte sich von den Ergebnissen des Berliner Kon-
gresses wenig befriedigt. Gortschakows Plan, Rußland zur Vormacht
auf dem Balkan zu machen, war gescheitert, im Westen des Balkans
Österreich-Ungarn weiter vorgerückt, das von den Russen gefor-
derte Bulgarien nur in bescheidenem Umfange verwirklicht worden.
Selbst der gemäßigt denkende Graf Peter Schuwalow zeigte sich
enttäuscht. Ein großes Ergebnis aber war erreicht: die Lokalisierung
des Krieges und die Befestigung des europäischen Friedens auf
eine Reihe von Jahren. Ganz zweifellos aber hat der Berliner Kon-
greß die deutsch-russischen Beziehungen verschlechtert und da-
durch dem Drei-Kaiser-Bunde einen Teil seiner Stärke genommen.
Nicht lange, und man betrachtete in Rußland den Berliner Kon-
greß als eine europäische Koalition gegen Rußland unter Führung
des Fürsten Bismarck. Einstweilen aber zeigte sich Bismarck der
Gefahr einer völligen Entfremdung Rußlands durchaus gewachsen.
Österreich-Ungarn zögerte zunächst noch, Bosnien und die Her-
zegowina zu besetzen. Da zu befürchten stand, daß die Türkei viel-
leicht Schwierigkeiten machen würde, stellte Bismarck1, als nach
Abschluß des Berliner Kongresses die Wiener Verhandlungen mit
der Pforte über den Einmarsch in Bosnien immer noch nicht ab-
geschlossen waren, der Donaumonarchie seine volle Unterstützung
zur Einwirkung in Konstantinopel zur Verfügung. Der Türkei ließ
er raten, sich der Ausführung des Konferenzbeschlusses vom 28. Juni
nicht zu widersetzen, der auf Antrag Englands und unter Zustim-
mung Rußlands, Frankreichs und Italiens die Besetzung und Ver-
waltung Bosniens und der Herzegowina unter Protest der Türkei
der Donaumonarchie übertragen hatte. Deutschland werde in dieser
Frage mit seinem ganzen Einflüsse auf Österreichs Seite stehen.
Auch Georges Pages beschäftigt sich in seinem Senatsgutachten1 2
mit der Förderung, die Bismarck dem Vorgehen Österreichs in
Bosnien und der Herzegowina 1878 hat angedeihen lassen. Nach
seiner Auffassung war die Tätigkeit der Berliner Kanzlei damals
durchaus gegen Rußland gerichtet und ihr Ziel, dem weiteren Vor-
dringen des Slawentums auf der Balkanhalbinsel eine Schranke zu
ziehen und die Bildung eines großen Slawenstaates daselbst um
1 Or. Pol. Nr. 438, 439. Vgl. Bismarcks Randbemerkung zu Gr. Pol. Nr. 418.
2 Die Ursachen und die Verantwortlichkeiten des großen Krieges. Deutsche
Ausgabe, herausgegeben von Bernhard Schwertfeger. Berlin 1926. S. 187ff.
Vergl. o. S. 18.
52
1878
jeden Preis zu verhindern. Bismarck habe in dem Wettstreite zwi-
schen Rußland und Österreich auf dem Balkan eine der Formen
des Kampfes der slawischen gegen die germanische Rasse er-
blickt und es geradezu als ein Lebensinteresse Deutschlands an-
gesehen, Österreich vor dem Vordringen des Slawentums zu
schützen. Auch Windthorst habe in Erwiderung auf die Reichstags-
rede Bismarcks vom 19. Februar 1878 das Interesse Deutschlands
an der orientalischen Frage als ein bedeutendes und für die Zukunft
folgenschweres bezeichnet und ausgeführt, es handele sich darum,
ob das deutsche oder das slawische Element die Welt beherrschen
solle; deshalb gelte es, das deutsche Interesse in seinem ganzen
Umfange zu vertreten. Pages verzichtet aber bei diesem Anlasse auf
Vorwürfe gegen die Grundgedanken der Bismarckschen Bündnis-
politik, die sich damals von Rußland abzuwenden begann und einen
näheren Anschluß an die Donaumonarchie suchte.
Die Entstehung des deutsch-österreichischen Zweibundes
Die Verstimmung Rußlands gegen Deutschland und Bismarck
aus Anlaß des Berliner Kongresses trat bald zutage. Graf Peter
Schuwalow sprach sich schon im August 1878 offen darüber aus,
wie niedergeschlagen, ja geradezu verbittert der Zar sich über die
Ergebnisse des Berliner Kongresses zu ihm ausgesprochen habe.
Allen Gewinn habe Österreich eingeheimst und er, Graf Schuwalow,
habe sich nach Ansicht des Zaren vom Fürsten Bismarck hinter das
Licht führen lassen1. Vergebens hatte Schuwalow dem Zaren er-
widertj daß sowohl Lord Beaconsfield wie Graf Andrässy sich nur
durch Bismarck dazu hätten bestimmen lassen, den russischen For-
derungen bei der Abgrenzung Bulgariens, beim Sandschak von Sofia
und bei der Belassung von Batum bei Rußland nachzugeben; ohne
Deutschlands Hilfe würde jede dieser drei Fragen für Rußland
ein Kriegsfall geworden sein. Bismarck, nicht gewillt, eine so un-
gerechte Beurteilung seiner Politik durch Rußland zuzulassen, ließ
nunmehr in der deutschen Presse das Thema „mit Grazie variieren“,
daß Rußland in seiner auswärtigen Politik Besseres habe erreichen
können, wenn sie seit drei Jahren geschickter geführt worden wäre.
In der Person des Fürsten Gortschakow erkannte er seinen Haupt-
gegner.
In den zur Ausführung des Berliner Vertrages vom 13. Juli 1878
eingesetzten orientalischen Kommissionen stieß Rußland fast immer
auf den nahezu geschlossenen Widerstand der anderen Mächte.
Auch Deutschland hatte sich meist der österreichischen Auffassung
angeschlossen. Die russische Regierung trat daher anfangs August
1 Gr. Pol. Nr. 440.
53
Die Bismarckzeit
1879 mit einer Denkschrift an Deutschland heran, die darauf hinaus-
kam, Deutschland möge seine wohlwollende Vermittlerrolle, die es
auf dem Berliner Kongreß gespielt habe, auch auf die weiteren
Kommissionsverhandlungen ausdehnen.
Bismarck, damals in Kissingen zur Kur, übte kühle Zurück-
haltung. Dem russischen Geschäftsträger in Berlin, v. Arapow, sollte
vorsichtig und vertraulich gesagt werden1, Deutschland sehe sich
jetzt zur Zurückhaltung genötigt, nachdem sein Verhalten auf dem
Berliner Kongreß in der öffentlichen Meinung und Presse Rußlands
eine keineswegs freundschaftliche Würdigung gefunden habe;
Deutschland müsse seine Beziehungen zu anderen Mächten jetzt vor-
sichtiger behandeln, als es früher bei seinem Vertrauen auf die rus-
sische Freundschaft nötig gewesen sei. Die Haltung Rußlands
zwinge, an die Zukunft zu denken und sich andere Mächte nicht
zu Feinden zu machen für Fragen, in denen ein deutsches Interesse
nicht vorliege. Diese Lage der Dinge sei bedauerlich, aber Deutsch-
lands vollständige Isolierung für die Zukunft dürfe nicht von Ruß-
lands Willen abhängig werden.
Diese Gedankengänge sind für die Entwicklung der deutsch-
russischen Beziehungen und für die Entstehung des deutsch-öster-
reichischen Zweibundes maßgebend geworden1 2.
Am 8. August 1879 berichtete der dem Kaiser Alexander II.
auch menschlich nahestehende Botschafter v. Schweinitz an Bismarck
über zwei Unterredungen, die er mit dem Zaren gehabt hatte3.
Der Kaiser sei mehr als früher jetzt sein eigener Minister des Aus-
wärtigen, freier von fremden Einflüssen als sonst. Die bedrohlichen
Vorgänge im Inneren hätten ihn aber abhängiger von der öffent-
lichen Meinung und um seine Popularität besorgter gemacht. Diese
Popularität sei durch den letzten Krieg und die geringen Erfolge
Rußlands auf dem Berliner Kongreß vermindert. Beim Hinaus-
reiten zu einem Manöver hatte der Zar sich zu Schweinitz darüber
beschwert, daß Deutschland überall die Partei Österreichs nehme;
dieses habe ohne große Opfer zwei Provinzen annektieren können,
Rußland aber nur seinen alten bessarabischen Distrikt zurückbe-
kommen. „Wenn Sie wollen, daß die Freundschaft, welche hundert
Jahre lang uns verbunden hat, fortdauere, dann sollten Sie dies
ändern.“ Es sei ganz natürlich, daß sich in Rußland ein Gegen-
schlag vorbereite, das zeige schon die Sprache der Blätter; „cela
finira d’une maniere tres serieuse“. (Das wird ein sehr ernstes
Ende nehmen).
Obwohl Schweinitz in seinem Berichte betonte, daß der Ton
1 Or. Pol. Nr. 442.
2 Vergl. hierzu die Urteile Kaiser Wilhelms II. („Ereignisse und Gestalten aus
den Jahren 1878—1918“, S.9, „Aus meinem Leben 1859—1888“, S. 181).
2 Gr. Pol. Nr. 443.
54
1879
dieser letzten Worte mild und nichts weniger als drohend gewesen
sei, machte er doch auf Bismarck einen sehr tiefen Eindruck. Er blieb
dabei, Deutschland habe sich überhaupt nur aus Gefälligkeit für
Rußland auf die ganze orientalische Frage eingelassen. Russische
Drohungen in der Presse oder gar aus dem Munde des Kaisers
Alexander könnten Deutschland nötigen, diese Unparteilichkeit zwi-
schen beiden Nachbarn aufzugeben, aber gewiß nicht zu Gunsten
der drohenden Seite1. Der Kanzler ließ den Schweinitzschen Bericht
dem Kaiser vorlegen und ihn auf die Folgen vorsichtig aufmerk-
sam machen, die bei der großen Undankbarkeit Rußlands ein Thron-
wechsel in Rußland für Deutschland haben würde. Die Bezie-
hungen zu Österreich und England müßten daher sehr schonend
behandelt werden. Wir könnten uns nach den Erfahrungen seit
1875 unmöglich so weit für Rußland engagieren, daß es nachher
nur von seinem Belieben abhängen würde, uns vollständig in
Europa zu isolieren. Kaiser Wilhelm sollte aber nicht den Eindruck
gewinnen, als beabsichtige Bismarck eine plötzliche Wendung der
deutschen Politik1 2.
An dem gleichen 15. August 1879, an dem Bismarck diese
Weisungen von Kissingen nach Berlin gehen ließ, schrieb der Zar
einen Brief an Kaiser Wilhelm I., der für die Entwicklung der
deutsch-russischen Beziehungen eine ausschlaggebende Bedeutung
gewinnen sollte3. Dieses Schreiben steigerte Bismarcks Besorg-
nisse aufs äußerste. Der Zar beklagte sich über die russenfeind-
liche Haltung der deutschen Diplomatie, die mit allen Freund-
schaftsstraditionen der beiden Mächte in vollstem Widerspruche
stehe. Deutschland unterstütze überall die Österreicher. Ein solches
Verhalten könne traurige Folgen zeitigen und die Nationen gegen-
einander aufbringen, wie es die Presse der beiden Länder bereits
zu tun beginne. Ein Interesse Deutschlands, dasjenige Rußlands
zu opfern, könne er nicht anerkennen und erinnerte wiederum
an die russischerseits Deutschland 1870 geleisteten Dienste. „Ich
würde mir nicht erlaubt haben, Sie daran zu erinnern, aber die
Dinge nehmen eine zu ernste Wendung, als daß ich Ihnen die
Befürchtungen verhehlen dürfte, die mich erfüllen, und deren Folgen
für unsere beiden Länder unheilvoll werden könnten. Möge Gott
uns davor bewahren und Sie erleuchten.“
Dieser Brief bildete zweifellos eine ausdrückliche Bestätigung
der Eindrücke, über die der Botschafter v. Schweinitz am 8. August
berichtet hatte4. Bismarck war durch seinen Wortlaut stark betroffen.
Kaiser Wilhelm hatte den Brief nach Gastein geschickt, wo Bis-
1 Qr. Pol. Nr. 444.
2 Qr. Pol. Nr. 445.
8 Gr. Pol. Nr. 446.
4 Siehe o. S. 54 (Or. Pol. Nr. 443).
55
Die Bismarckzeit
marck damals weilte. Bismarck sandte ihn am 24. August zurück
und betonte sein Bedauern darüber, daß ein solcher Brief mit un-
verhüllten Drohungen überhaupt habe geschrieben werden können1.
Der deutschfeindliche Miljutin beherrsche den Kaiser, der statt des
türkischen Krieges lieber einen österreichischen geführt hätte. Jetzt
strebe man in Petersburg offenbar danach, entweder auch Öster-
reich gegen Deutschland zu gewinnen oder, nach der Steigerung
des russischen Heeres um 400000 Mann und in Gemeinschaft mit
Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn gewachsen zu sein.
Kaiser Wilhelm hatte gewünscht, dem Zaren möge in dem zu ent-
werfenden Antwortsbriefe „kein Zweifel an unserer alten Gesin-
nung gelassen werden“. Demgegenüber meinte Bismarck: „Jede
Nachgiebigkeit von unserer Seite wird nur dahin führen, daß
Miljutin und seine Freunde beim Kaiser Alexander recht zu be-
halten scheinen, wenn sie darauf hinweisen, daß der Weg der Dro-
hung der richtige sei, um von uns Konzessionen zu erlangen.“
Kaiser Wilhelm hatte aber den Weg der Nachgiebigkeit be-
reits beschritten und sich entschlossen, den Generalfeldmarschall
v. Manteuffel zur Begrüßung des Zaren nach Warschau zu ent-
senden und ihm das Antwortschreiben gleich mitzugeben. Bismarck
riet nunmehr, Manteuffel möge in Warschau über die beiden dro-
henden Stellen des Zarenbriefes gar nicht sprechen, aber durch-
blicken lassen, Deutschland könne sich Österreich und England nicht
verfeinden für Fragen, die ihm fernlägen; der Zar persönlich sei
scheinbar der einzige Freund Deutschlands in Rußland. „Unsere
Dankbarkeit .. . kann so weit nicht reichen, daß die deutsche
Politik für immer der russischen untergeordnet würde, und wir
Rußland zuliebe die Zukunft unserer Beziehungen zu Österreich
opfern.“ Bismarck bat sodann, seine eigene Rückreise von Gastein
über Wien antreten zu dürfen, um dort den Grafen Andrässy zu
sprechen.
Diesem Wunsche widersetzte sich der Kaiser, da Rußland eine
solche Reise als Bruch ansehen müsse. Der Antwortbrief Kaiser
Wilhelms an den Zaren bekam bei dieser russenfreundlichen Haltung
des Monarchen eine etwas mildere Fassung, als sie dem Kanzler
wohl ursprünglich vorgeschwebt hatte. Ein sehr geschickter histo-
rischer Rückblick stellte die gegenseitige Rechnung zwischen Ruß-
land und Deutschland in dem von Bismarck gewünschten Sinne
richtig, so daß die wohlwollende Neutralität Rußlands 1866 und
1870 durch die vorhergehende Haltung Preußens und durch die
Unterstützung Rußlands auf der Pontuskonferenz1 2 3 ausgeglichen er-
schien. Offenbar seien dem Zaren über die Haltung der deutschen
1 Or. Pol. Nr. 447.
2 Gr. Pol. Nr. 448 (Schloß Babelsberg', 28. August 1879).
3 Siehe o. S. 29.
56
1879
Politik irrige Nachrichten zugegangen. So sei Fürst Bismarck immer
der Advokat der russischen Interessen bei seinem Könige und Kaiser
gewesen trotz aller Angriffe in der russischen Presse. Er, Kaiser
Wilhelm selbst, betrachte die deutsch-russische Freundschaft als ein
heiliges Vermächtnis, „legs sacre“, seiner Vorfahren.
In Qastein fand am 27. und 28. August eine Zusammenkunft
des Grafen Andrässy mit Bismarck statt. Andrässy stand vor seinem
Rücktritt, bekundete aber seine Absicht, diesen schon angekün-
digten Rücktritt einstweilen noch zu verschieben, falls er Aussicht
habe, ein deutsch-österreichisches Defensivbündnis zu gemeinsamer
Abwehr jedes Angriffs, den Rußland allein oder im Bunde mit an-
deren Mächten gegen eine der beiden deutschen Mächte richten
könnte, mit Bismarck abschließen zu können. Er wollte diese Fest-
legung seines Landes in deutscher Richtung gern noch selbst durch-
führen, um seinen Nachfolger zu binden. Bismarck empfahl dem
Kaiser telegraphisch schon am 29. August, auf dieses Defensiv-
bündnis einzugehen1.
Inzwischen hatte der Zar den Brief des Kaisers in Warschau
erhalten und sich beeilt, auf Grund seiner Aussprache mit General
v. Manteuffel dem Kaiser eine persönliche Zusammenkunft am
3. September in Alexandrowo vorzuschlagen1 2. Kaiser Wilhelm ant-
wortete sofort zusagend, obwohl Bismarck von der Begegnung ab-
riet, ehe nicht der Zar nach Preußen gekommen sei3. Der Kaiser
blieb aber fest bei seiner Absicht und behauptete, die Verant-
wortung für eine Reise des Zaren nach Preußen nicht übernehmen
zu können4. Im übrigen faßte er die Begegnung als eine rein per-
sönliche Angelegenheit auf. Bismarcks Bestreben konnte daher nur
noch darauf gerichtet sein, zu verhindern, daß etwa durch auf-
fallende deutsch-russische Schritte eine Entfremdung Österreichs
erfolgte; in Österreich sei das Volk für die Anlehnung an Deutsch-
land und bringe außerdem England mit, verfalle aber feindlichen
Einflüssen, wenn es keinen Halt an Deutschland finde5.
Es entspann sich nunmehr ein scharfer Gegensatz zwischen
Kaiser und Kanzler, der in einer ungewöhnlichen Anzahl ausführ-
licher, für den Kaiser bestimmter Schriftsätze Bismarcks und ent-
sprechenden Gegenäußerungen des Monarchen ausgetragen wor-
den ist.
Zunächst legte der Kanzler seine Auffassungen am 31. August
in breiter Form dar. „Defensivallianz mit Österreich“, das ist der
1 Or. Pol. Nr. 449.
2 Qr. Pol. Nr. 450.
3 Qr. Pol. Nr. 451.
4 Qr. Pol. Nr. 452.
6 Qr. Pol. Nr. 453. Telegramm an Staatssekretär v. Bülow vom 1. Septem'
ber 1879.
57
Die Bismarckzeit
Zielpunkt seiner Ausführungen1. Sein Glaube an die Zuverlässigkeit
des Zaren ist erschüttert, und daher hält er eine gesicherte An-
lehnung an Österreich für unumgänglich nötig. Bezeichnend ist, daß
Bismarck sogar den großdeutschen Gedanken verwendete, um dem
Kaiser die Anlehnung an Österreich leichter zu machen. Schon bei
den Friedensverhandlungen in Nikolsburg 1866 habe er der tausend-
jährigen Gemeinsamkeit der gesamtdeutschen Geschichte gegen-
über das Gefühl gehabt, für die Verbindung, die damals zur Reform
der deutschen Verfassung habe zerstört werden müssen, früher
oder später einen Ersatz zu beschaffen.
Einen Krieg mit Rußland hielt Bismarck für das größte Übel,
schon weil für Deutschland kein Kampfziel vorlag als nur „die
Abwehr eines barbarischen Angriffs“. Bei den absolutistischen Ver-
hältnissen in Rußland koste es nur „ein einziges kaiserliches Wort,
nur eine Unterschrift, ohne Motive, ohne Verantwortlichkeit, und der
Krieg ist da“. Deshalb hielt er die Defensivallianz mit Österreich
für nötig, die keinerlei bedrohliche Tendenz gegen Rußland zu haben
brauche. „Meine amtliche Überzeugung geht dahin, daß wir das
Bündnis nur zu schließen brauchen, um den Krieg zu verhindern.
Rußland wird Frieden halten, wenn es die deutschen Mächte ohne
aggressive Tendenz zur Abwehr geeinigt weiß: es wird aber in ab-
sehbarer Frist den Frieden brechen, wenn diese Einigung unter-
bleibt.“
Die mit dem Grafen Andrässy gepflogenen Besprechungen
legte Bismarck in meisterhafter Form dar. „Zu seiner Information
als Privatmann“ habe Bismarck die Frage hingeworfen, ob An-
drässy als Politiker eine dem alten Deutschen Bunde entsprechende
Friedensliga für eine nützliche Institution halte und ob er glaube,
daß sein Kaiser ähnlichen Gedanken zugänglich sei. Deutschland
komme es nur auf die Wahrung des Friedens an, es sei zufrieden
mit dem, was es habe, und verlange nichts weiter als Frieden.
Graf Andrässy war auf die Anregung mit größter Lebhaftigkeit
eingegangen und hatte sofort erklärt, er wolle seinen Rücktritt
noch verschieben, wenn er dadurch den Abschluß eines solchen
Bündnisses sichern könnte. Bismarck bat nunmehr seinen Kaiser um
die grundsätzliche Ermächtigung, den Besuch Andrässys in Wien
zu erwidern und ihn dort über die Aufnahme zu verständigen, die
Bismarcks Bericht bei seinem Kaiser gefunden habe.
Dem Kaiser kam Bismarcks ausführliches und dringliches Schrei-
ben höchst unerwünscht. Er beauftragte sofort nach Empfang am
2. September den Staatssekretär des Äußeren v. Bülow1 2, Bismarck
mitzuteilen, daß er das Schreiben als nicht angekommen betrachte,
bis er den Zaren in Alexandrowo gesprochen haben würde. Bülow
1 Gr. Pol. Nr. 455.
2 Gr. Pol. Nr. 456.
58
1879
berichtete noch am gleichen Tage an Bismarck, der Kaiser habe den
Bericht mit großer Aufmerksamkeit gelesen und dem Kronprinzen
gesagt, die Denkschrift sei an und für sich vortrefflich, aber er
wolle zuvor selbst sehen und prüfen. Solche Allianzen, wie Bismarck
sie vorschlage, seien gegen seine Grundsätze. Nunmehr werde er
vom Zaren Erklärungen fordern und Bismarck seine Eindrücke voll-
ständig übermitteln.
Die Begegnung der beiden Kaiser in Alexandrowo fand am
3. und 4. September statt. Die Monarchen sprachen sich herzlich,
aber rückhaltlos aus. Für Kaiser Wilhelm war das Ergebnis, daß
er es von nun an erst recht als illoyal empfand, hinter dem Rücken
des Zaren irgendein Abkommen mit einer anderen Macht zu treffen.
Dem Kanzler berichtete er am 4. September und in den folgenden
Tagen in drei eigenhändigen Aufzeichnungen über seine Eindrücke1.
Noch ehe Bismarck in den Besitz des ersten Teiles der Auf-
zeichnungen des Kaisers gelangt war, berichtete er aus Gastein1 2
am 5. September unter Beifügung eines Briefes des Grafen An-
drassy, die Sondierung des Kaisers Franz Joseph sei bereits erfolgt;
dieser habe Andrässy ermächtigt, ein solches Abkommen zu ent-
werfen, sobald Kaiser Wilhelm I.sein grundsätzliches Einverständnis
erklärt habe. Die russische Gefahr war auch nach Andrässys An-
sicht groß; der Zar wolle, meinte er, zur Zeit keinen Krieg, aber den
soeben beendeten Krieg habe er persönlich auch nicht gewollt. Bis-
marck fügte hinzu, das Defensivbündnis mit Österreich bilde sogar
eine Möglichkeit, sich der erneuten russischen Freundschaft ohne
Gefahr hinzugeben. Selbst wenn das Defensivbündnis mit Österreich
genehmigt werde, könne Bismarck dem Kaiser niemals zu etwas
anderem raten als zur sorgfältigsten Pflege der russischen Bezie-
hungen, denn ein Krieg mit Rußland bleibe auch für ein mit Öster-
reich verbündetes Deutschland immer eine „schwere Kalamität“.
Dem Auswärtigen Amt ließ Bismarck mitteilen, er werde die
verantwortliche Leitung der Politik nicht weiterführen, falls seine
Anträge die Billigung des Kaisers nicht fänden. Der Rat im Kaiser-
lichen Gefolge Otto v. Bülow sollte in diesem Sinne auf den Kaiser
einzuwirken versuchen3. Bülow konnte aber nur feststellen4, daß der
Kaiser ganz russenfreundlich von Alexandrowo zurückgekehrt und
daß daher auf die Annahme der Vorschläge des Reichskanzlers
durchaus nicht zu rechnen sei. Der Kaiser wolle lieber vom Schau-
platze abtreten und die Regierung seinem Sohne übergeben, als
gegen seine bessere Überzeugung handeln und eine Perfidie gegen
Rußland begehen. Der Kaiser ließ aber sagen: „Ich habe dem Für-
1 Or. Pol. Nr. 457, 465, 466.
2 Qr. Pol. Nr. 458.
3 Gr. Pol. Nr. 459.
4 Gr. Pol. Nr. 460.
59
Die Bismarckzeit
sten das Terrain offengehalten; will er mit dem Grafen Andrässy
in eine Besprechung über gewisse Zukunftseventualitäten eintreten,
so mag es sein; aber eine Allianz — nein, da gehe ich nicht mit.
Dieselbe würde doch immer ihre Spitze gegen Rußland kehrein
und wäre in ihren Folgen unberechenbar. Der Fürst hat sich früher
selbst dagegen ausgesprochen, daß wir uns durch Allianzen die
Hände binden und dies ist noch jetzt meine volle Meinung; auch hat
er selbst früher gelegentlich Österreich für unzuverlässig erklärt.“
Der Kampf zwischen Kanzler und Kaiser nahm nun immer
schärfere Formen an. Bismarcks Lage war peinlich, da er sich
Österreich gegenüber in gewissem Sinne schon gebunden hatte.
Man wartete in Wien auf weitere Schritte. So wendete sich denn
der Kanzler am 7. September wiederum mit einer ausführlichen
Denkschrift an den damals in Königsberg weilenden Monarchen1.
Die Rechnung auf Rußlands Dankbarkeit sei eine unrichtige;
Deutschland habe die Dankesschuld für 1870 mehr als abgetragen
und bekomme von Rußland nichts als gereizte Vorwürfe und barsche
Forderungen neuer Leistungen. Mit der unberechenbaren Elementar-
gewalt der slawischen Revolution sei keine deutsche Verständigung
möglich. Der Zar selbst habe sich in einen slawischen Napoleo-
nismus hineingesteigert. Eines Tages könne sein Widerstand gegen
die ehrgeizigen slawischen Elemente zu Ende sein und einen neuen
Krieg erzeugen. Nachdrücklich wies Bismarck auch darauf hin, daß
Rußland schon in Frankreich und Italien die russische Bündnisfrage
habe sondieren lassen. Auch nach dem Urteil des Feldmarschalls
v. Manteuffel habe der Zar seine Abneigung gegen die französische
Republik überwunden. Bismarck bat schließlich den Monarchen in
eindringlichen Worten, ihn zu weiteren Besprechungen mit dem
Grafen Andrässy in Wien zu ermächtigen.
Nach wie vor erblickte der Kaiser in einer festen Abmachung
mit Österreich eine Perfidie gegen Rußland und erklärte, abdanken
zu wollen, falls Bismarck die Kabinettsfrage stelle. Der Kronprinz
trat für das österreichische Bündnis ein; von ihm stammte der ent-
scheidende Vorschlag, Bismarck möge die Erlaubnis zu Bespre-
chungen mit Andrässy als Faden für die Zukunft benutzen1 2. Der
Kaiser genehmigte denn auch schließlich am 9. September die Be-
sprechung mit Andrässy, ohne indes seine Überzeugung gegen den
Abschluß eines definitiven Abkommens zu ändern3.
Bismarck äußerte tiefe Enttäuschung. „Am 19. September wer-
den es siebzehn Jahre“, schrieb er am 9. September an den Ge-
sandten im Auswärtigen Amte v. Radowitz4, „daß ich ohne Unter-
1 Qr. Pol. Nr. 461.
2 Gr. Pol. Nr. 462.
3 Gr. Pol. Nr. 463.
4 Gr. Pol. Nr. 464.
60
1879
brechung in diesen und ähnlichen Kämpfen stehe. Ich glaube damit
meine Dienstpflicht seiner Majestät und dem Lande gegenüber er-
füllt zu haben. Ultra posse nemo obligatur.“
Von dem Inhalte seines Schreibens ließ Bismarck dem Kron-
prinzen mit dem Zusatze vertraulich Mitteilung machen, er sei zu
verbraucht, um den Rat des Kronprinzen noch zur Ausführung zu
bringen.
Die Aufzeichnungen Kaiser Wilhelms über Alexandrowo, die
er am 12. September in Stettin beendete1, stellen einen menschlich
überaus sympathischen vorläufigen Abschluß des Streites zwischen
Kaiser und Kanzler dar. Nach der Überzeugung des Kaisers wollten
weder der Zar noch seine hauptsächlichsten Ratgeber einen Krieg
mit Deutschland. Da mithin Bismarcks Voraussetzungen für den
Abschluß eines Bündnisses mit Österreich nicht stimmten, so wollte
der Kaiser ihn auch nicht zu „einer gegen Rußland gerichteten euro-
päischen Koalition defensiver Natur“ endgültig ermächtigen. Für ihn
seien die von Bismarck selbst in den Antwortsbrief an den Zaren
eingesetzten Worte „legs sacre de nos peres“ der innerste Ausdruck
seines Empfindens. Mit hoher sittlicher Würde schreibt der Kaiser:
„Setzen Sie sich einen Augenblick an meine Stelle. Ich stehe vor
meinem persönlichen Freund, nächstem Verwandten, Bundesgenossen
in guten und bösen Zeiten, um uns über übereilte und sogar miß-
verstandene Stellen eines Briefes aufzuklären, was zu einem erfreu-
lichen Resultat führt — und nun soll ich gleichzeitig eine feindliche
Koalition gegen diesen Souverän schließen, also hinter seinem
Rücken anders handeln, als ich sprach?“ Der Kaiser fühlte sich
schwer bedrückt, daß Bismarck dem Grafen Andrässy sein ganzes
Projekt nicht nur vorgetragen, sondern auch gestattet habe, seinem
Kaiser davon zu sprechen, der auch sofort darauf eingegangen sei.
Nun könne und wolle er, der Kaiser, Bismarck in seinen bereits ge-
tanen Schritten gegen Andrässy nicht desavouieren. „Sie mögen
also in Wien, wohin zu gehen bereits alle Zeitungen erzählen, die
Eventualitäten einer sich bis zum möglichen Bruche mit Ruß-
land steigernden Disharmonie und dann gefahrdrohend vorstellen
und in Pourparlers über die dann gemeinschaftlich mit Österreich
zu treffenden Maßnahmen eintreten. Aber zu irgend einem Ab-
schluß einer Konvention oder gar Alliance autorisiere ich
Sie, meinem Gewissen nach, nicht.“ Menschlich rührend klingt
das Schreiben aus: „Somit, hoffe ich, begegnen sich unsere An-
sichten wieder. Wenn dies, so Gott will, der Fall ist, so kann ich
getrost in die Zukunft sehen, die sonst für mich sehr dunkel werden
würde, und die freundlicher werdenden Verhältnisse zu Rußland in
Wahrheit fortsetzen sehen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie schmerz-
1 Gr. Pol. Nr. 465, 466.
61
Die Bismarckzeit
lieh mir diese Episode gewesen ist, wo es schien, daß wir uns
zum ersten Male seit siebzehn Jahren nicht verstanden. Ihrer Ant-
wort auf obige bedingte Autorisation sehe ich mit Ungeduld ent-
gegen und bin überzeugt, daß ein Verständnis zwischen uns ein-
tret en wird! Das wolle Gott!!“
Für Bismarck war nunmehr eine sehr schwierige Lage ge-
schaffen. Er mußte sich grundlegend entscheiden, ob er in einem
Falle, in dem er sich mit seiner vollsten persönlichen Autorität
für die Erreichung eines bestimmten politischen Zieles eingesetzt
hatte, seine staatsmännischen Erwägungen den ethischen Grund-
sätzen einer von allgemein menschlichem Standpunkte aus unbe-
dingt anzuerkennenden Persönlichkeitspolitik unterordnen wollte.
Der schon 82 Jahre zählende Monarch hatte seine Auffassung mit
einer solchen Energie vertreten, daß es auch für ihn sehr schwer
sein mußte, einzulenken. Bismarck entschloß sich trotzdem, den
von ihm für nötig gehaltenen Weg bis zu Ende zu gehen.
Noch von Gastein aus hatte er am 12. September den Bot-
schafter in Wien, Prinzen Heinrich VII. Reuß über den Stand der
Dinge vertraulich eingehend unterrichtet1. Auch ihm gegenüber
legte er sich dahin fest, daß er die Verantwortung für die deutsche
Politik nicht weiter übernehmen werde, wenn es ihm nicht ge-
linge, zu der mit Österreich zu vereinbarenden „Assekuranz“ die
Zustimmung des Kaisers zu gewinnen. Der Botschafter sollte ver-
traulich mit dem Grafen Andrässy über den Entwurf einer solchen
Verabredung verhandeln.
Ein Ausweg schien sich daraus zu ergeben, daß Kaiser Wilhelm
den Gedanken äußerte1 2, man könne die mit Österreich zu treffende
Abrede vielleicht dem Zaren loyal mitteilen. Bismarck sollte einen
Rußland schonenden und zur Mitteilung an den Zaren geeigneten
Vertragsentwurf telegraphisch übermitteln. Dieser aber hatte sich
inzwischen entschlossen, die Durchsetzung des Vertrages zur Ka-
binettsfrage zu machen, und für den Fall seines Rücktrittes den
Vizepräsidenten des Staatsministeriums Grafen zu Stolberg, von
der ganzen Sachlage unterrichten lassen3. Er hatte auch die Be-
fragung des Feldmarschalls Grafen Moltke angeregt. Dieser empfahl
gleichfalls4, in festere politische Verbindung mit Österreich zu treten.
Mit den Russen allein würde Deutschland auch ohne Verbündete
gut fertig werden; außerordentlich kompliziert aber werde die Lage,
wenn wir Frankreich als Gegner im Rücken hätten. Wir müßten
dann alle Kräfte aufbieten und jedes Mittel ergreifen, soweit die
1 Qr. Pol. Nr. 467.
2 Gr. Pol. Nr. 470.
8 Gr. Pol. Nr. 471, 472.
4 Gr. Pol. Nr. 473. Nach diesen Gesichtspunkten ist bei Kriegsbeginn 1914
verfahren worden.
62
1879
Rücksicht auf Österreich dies gestatte. Im Falle einer russisch-
französischen Koalition müsse man nach einer Seite mit möglichst
wenig Kräften defensiv auftreten, nach der anderen Seite aber mit
möglichst großer Macht offensiv, um durch kräftige Schläge eine
schnelle Entscheidung herbeizuführen. Dabei sei eine freundschaft-
liche Haltung Österreich-Ungarns von großem Werte, da es immer-
hin einen Teil der russischen Armee festhalten könne.
Kaiser Wilhelm hatte gewünscht, daß in der etwa mit Öster-
reich zu treffenden Verabredung Rußland nicht ausdrücklich ge-
nannt werden möge. Hiermit war Bismarck unter Voraussetzung der
österreichischen Zustimmung einverstanden, wie er überhaupt dem
Kaiser telegraphierte, daß in einem Defensivabkommen mit Öster-
reich ebensowenig eine Koalition gegen Rußland enthalten sei, wie
früher in dem deutschen Bundesverhältnis zwischen Preußen und
Österreich1. In Berlin stellte Qraf Stolberg den Text einer den
Reichskanzler zu Verhandlungen in Wien ermächtigenden Erklärung
fest. Danach sollten sich beide Mächte gegenseitig versprechen,
„auch ferner für die Erhaltung des Friedens und namentlich für
die Pflege ihrer friedlichen Beziehungen mit Rußland einzutreten;
in dem Falle aber, daß eine von ihnen von einer oder mehreren
Mächten angegriffen werden sollte, diesen Angriff gemeinsam ab-
zuwehren“1 2.
Noch einmal wandte sich Bismarck am 15. September mit
einem ausführlichen Schreiben an den Kaiser. Danach traute er
den mündlichen Erklärungen der russischen Staatsmänner zu Alexan-
drowo nur wenig. Rückhaltlos bringt er seine Bedenken zum Aus-
druck: Deutschland dürfe es nie darauf ankommen lassen, auf
dem europäischen Kontinent zwischen Rußland und Frankreich
neben dem niedergeworfenen Österreich allein übrigzubleiben. Da
Frankreich für eine nähere Beziehung wohl außer Rechnung
bleiben müsse, so habe Deutschland zwischen Rußland und Öster-
reich zu wählen; Österreich sei eine „notwendig friedliebende, de-
fensive und konservative Macht“, Rußland hingegen stehe unter
dem Einflüsse der „eroberungssüchtigen und kriegerischen sla-
wischen Revolution“. Schon habe Rußland in Frankreich Annä-
herungsversuche unternommen3. Auch Bismarck hoffte noch auf
Auswege, die es ermöglichten, ohne Verletzung der Herzens-
empfindungen des Kaisers ganz oder annähernd zum Ziele zu
kommen. In diesem Sinne schrieb er am 17. September an den
Botschafter in Wien, Prinzen Heinrich VII. Reuß4. Auch Qraf An-
drässy betonte die Hoffnung, die geplante Abmachung dem deut-
1 Or. Pol. Nr. 474.
2 Or. Pol. Nr. 476.
3 Gr. Pol. Nr. 477.
4 Gr. Pol. Nr. 478.
63
Die Bismarckzeit
sehen Kaiser annehmbar zu machen, erklärte aber sehr entschieden,
er werde nichts unterzeichnen, was nicht mit großer Präzision und
Klarheit den eigentlichen Zweck der Abmachung klarstelle; Ruß-
land nicht zu nennen, sei unmöglich1.
Am 21. September reiste Bismarck nach Wien und verhandelte
dort mit Andrässy. Am 24. berichtete er ausführlich über den
Gang der Besprechungen und fügte verschiedene Protokolle bei.
Sachlich blieb er bei der Forderung einer festen und vertrags-
mäßigen gegenseitigen Anlehnung Deutschlands und Österreichs.
Ein Memorandum1 2 wurde beigefügt, das allenfalls Rußland mitge-
teilt werden konnte. Nach langwierigen Auseinandersetzungen, die
den Kanzler dazu führten, am 28. September eine Sitzung des
Staatsministeriums anzuberaumen und darin zu erklären, er könne
für den Fall der Ablehnung des Defensivbündnisses zwischen
Deutschland und Österreich-Ungarn die Verantwortung für die
Weiterführung der deutschen Politik nicht mehr übernehmen3, wo-
bei sämtliche Staatsminister der von Bismarck vorgeschlagenen
Politik zustimmten, lenkte der Kaiser unter schweren inneren Kämp-
fen schließlich ein und genehmigte am 3. Oktober den schrift-
lichen Abschluß des Vertrages unter der Bedingung, daß in Peters-
burg eine entsprechende Erklärung abgegeben und dieser Erklä-
rung eine weitere auf den früheren Deutschen Bund bezügliche
Erläuterung hinzugefügt werde4.
Am 5. Oktober vollzog der Kaiser die Vollmacht für den
Prinzen Reuß zur Unterzeichnung des Vertrages5, erhob aber Be-
denken dagegen, daß nach dem Vertragsentwurf Österreich im
Falle eines französischen Angriffs gegen Deutschland diesem nicht
beizustehen habe. Er sprach die Hoffnung aus, daß der Reichs-
kanzler noch einen Änderungsversuch in Wien machen werde. Die
ganzen Auseinandersetzungen hatten den Monarchen derartig an-
gegriffen, daß sein Gesundheitszustand zu Befürchtungen Anlaß
gab. Bismarck suchte seine Gewissensbedenken durch ein aus-
führliches Telegramm vom 6. Oktober zu zerstreuen6. Ein Bünd-
nis, nach welchem Österreich uns schon gegen einen Angriff von
Frankreich allein beizustehen hätte, wäre nicht zu erlangen, son-
dern von Österreich schon wiederholt abgelehnt worden. Man dürfe
aber das Anerbieten Österreichs nicht von der Hand weisen, daß es
uns beistehen wolle, wenn Frankreich uns im Bunde mit Rußland
angreife. Diesen Standpunkt teilte übrigens auch der Feldmarschall
1 Gr. Pol. Nr. 480.
2 Gr. Pol. Nr. 483.
3 Gr. Pol. Nr. 487.
4 Gr. Pol. Nr. 492, 493.
5 Gr. Pol. Nr. 498, 499.
8 Gr. Pol. Nr. 300.
64
1879
Graf Moltke1. Eine Illoyalität gegenüber dem russischen Kaiser
lag nach Bismarcks Ansicht sicher nicht vor, wenn dieser durch
die Mitteilung des Memorandums1 2 von der Sachlage benachrichtigt
wurde.
Am 7. Oktober erfolgte endlich die Unterzeichnung des Ver-
trages in Wien durch den Prinzen Reuß und den Grafen Andrässy3.
Nun aber drohte noch über den Zeitpunkt der Ratifikation des Ver-
trages ein neuer Konflikt zwischen dem Kaiser und seinem Kanzler
auszubrechen4. Der Kaiser wollte die Ratifikation nicht eher vor-
nehmen, ehe er nicht den Entwurf des an den Zaren abzusendenden
Briefes in Händen hatte. Bismarck bestand indessen darauf, daß
eine Mitteilung an Rußland erst nach der Ratifikation geschehen
dürfe5. Schließlich erfolgte die Einigung dahin, daß der Kaiser
in einem persönlichen Briefe dem Zaren über die Tatsache einer
Abmachung zwischen Österreich und Deutschland vollen Aufschluß
gab, indem diese Abmachung in einen sehr geschickten Zusammen-
hang mit den aus dem Rücktritte des Grafen Andrässy für Deutsch-
land zu befürchtenden Gefahren gebracht und das mehrfach er-
wähnte Memorandum beigefügt wurde. Der Kaiser bedauerte in
seinem Briefe6 das zeitliche und peinliche Zusammenfallen der
Besprechungen Bismarck-Andrässy mit der Zusammenkunft von
Alexandrowo und wies nochmals nachdrücklich auf die Treibereien
der russischen Presse und der panslawistischen Partei sowie auf die
Gefahren des Nihilismus hin. Sollten diese „revolutionären Pläne“
einen Einfluß auf die äußere Politik Rußlands gewinnen, so würde
Rußland, das sprach der Kaiser offen aus, „einer Solidarität des
Widerstandes in den benachbarten Ländern“ begegnen. Der Zar ant-
wortete am 14. November7, ging auf jeden Punkt des kaiserlichen
Schreibens in Kürze ein und erklärte, daß er sich dem zwischen
Deutschland und Österreich geschlossenen Abkommen zugeselle;
er erblicke darin mit Freude eine Rückkehr zu einer vollkommenen
Entente der drei Kaiser, die Europa bereits die größten Dienste
erwiesen habe.
So war das mühsame Werk endlich unter Dach und Fach ge-
bracht. Besondere Aufmerksamkeit erregte der Abschluß in Eng-
land, wo man sich der Hoffnung hingab, nunmehr im Orient durch'
Deutschland und Österreich lebhafter als bisher unterstützt zu
1 Qr. Pol. Nr. 505. In Moltkes Schriftsätze vom 10. Oktober 1879 ist der be-
rühmte Satz enthalten: „In letzter Instanz läßt sich das militärische Gebiet vom
politischen nicht mehr trennen.“
2 Siehe o. S. 62 und 64.
3 Gr. Pol. Nr. 501.
1 Gr. Pol. Nr. 503.
5 Gr. Pol. Nr. 504.
3 Gr. Pol. Nr. 509.
7 Gr. Pol. Nr. 512.
5 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
65
Die Bismarckzeit
werden1. Bismarck lag es aber durchaus fern, jetzt etwa die eng-
lische Politik im Sinne eines aggressiven Vorgehens gegen Ruß-
land zu beeinflussen. Für Österreich, meinte er, sei es am besten,
mit England zu gehen, so oft es dazu sachliche Gründe habe,
England aber den Vortritt zu lassen, wo es nicht sicher sei, daß
England folge, wenn Österreich vorangehe1 2. Einen Bruch mit Ruß-
land müsse es vermeiden, da er zugleich einen Bruch mit Italien
bedeuten würde, denn dieses würde die Gelegenheit zu einem Ver-
suche benutzen, österreichische Gebiete an sich zu bringen. Hatte
doch im Sommer 1879 Rußland nicht nur in Frankreich, sondern
auch in Italien Fühlung genommen, um zu ermitteln, ob es im
Falle eines Krieges auf Unterstützung zu rechnen habe, und die
Italiener hatten erst dann ausweichend geantwortet, als sie in
Frankreich keine Ermutigung und von England eine drohende Ab-
mahnung erfahren hatten.
Daß Bismarck bei der Schaffung des deutsch-österreichischen
Bündnisses keinerlei Angriffsabsichten, etwa gegen Frankreich,
hegte, bestätigt auch Georges Pages3 bei der Darstellung der
Besprechungen Bismarcks mit dem damaligen französischen Bot-
schafter zu Berlin, Grafen de St. Vallier. Es heißt dort: „Das Bünd-
nis war durchaus nur zur Verteidigung bestimmt. Kein einziger
Artikel forderte die Gewährleistung des Besitzstandes der beiden
Kaiserreiche. Es richtete sich allein gegen Rußland. Endlich hatte
sich Österreich in keiner Weise verpflichtet, im Falle eines Krieges
zwischen Deutschland und Frankreich seine Streitkräfte zu denen
seines Bundesgenossen stoßen zu lassen; auch nicht, wenn Deutsch-
land angegriffen würde. Es sollte nur dann in Tätigkeit treten,
wenn Rußland sich mit Frankreich gegen Deutschland verbände.“
Trotzdem betont Pages als unvermeidliche Folge dieses Bünd-
nisses, daß die Politik der beiden Staaten nunmehr einen gemein-
samen Impuls erhalten hätte, und daß dieser Impuls von Berlin
kommen würde. Es sollte zwischen Deutschland und Österreich
keinen Punkt geben, in dem nicht Übereinstimmung herrschte.
Der Vertrag sollte das Werkzeug einer tätigen Politik sein. Wenn
sich Bismarck auch unbestreitbar lange Zeit seiner zur Wahrung
des Friedens bedient habe, indem er die ehrgeizigen Bestrebungen
Rußlands im Zaume hielt, so habe er sich doch sicherlich für die
Zukunft andere Vorteile davon versprochen. Nach Pages soll Bis-
marck schon damals Deutschland in enger Verbindung mit Öster-
reich-Ungarn auf den Entscheidungskampf zwischen Germanentum
und Slawentum vorbereitet haben. „Er arbeitete für den Frieden
1 Gr. Pol. Nr. 510, 511.
2 Gr. Pol. Nr. 513.
8 Die Ursachen und die Verantwortlichkeiten des großen Krieges. Deutsche Aus-
gabe. S. 193.
66
1879
in dem Sinne, daß er sich bemühte, den Zusammenstoß bis zu dem
vielleicht fernen Zeitpunkte hinauszuschieben, wo die Stellung seines
Verbündeten auf der Balkanhalbinsel stark genug sein würde, um
den Erfolg des Deutschtums ungefähr sicherzustellen. Aber indem
er Österreich bei der Ausdehnung und Befestigung seines dortigen
Einflusses behilflich war, erschütterte er den Frieden mit jedem
Tage mehr, weil er dadurch den slawischen Gegendruck hervor-
rief, und durch die Verbindung der deutschen Politik mit der Aus-
dehnungspolitik Österreichs auf dem Balkan verzichtete er von
vornherein auf die eigene Entschlußfreiheit.“
Dies ist — nach Pages — der Sinn und die Tragweite des
deutsch-österreichischen Bündnisses. Was Bismarck auch darüber
gesagt habe, es sei doch ein Werkzeug zur Erringung der Vor-
herrschaft gewesen. Alle späteren diplomatischen Unternehmungen
Bismarcks hätten nur das Gepräge ergänzender Sicherheiten ge-
tragen; die Grundlage habe stets das deutsch-österreichische Bünd-
nis gebildet und damit die Absicht eines beherrschenden Einflusses
Deutschlands auf die Politik der Donaumonarchie.
Über die Bedeutung des deutsch-österreichischen Bündnisses
herrschen auch unter den deutschen Historikern verschiedene Auf-
fassungen, wenn auch alle darin einig sind, in ihm hauptsächlich
ein Verteidigungsmittel und den reinen Ausdruck der Bismarck-
schen Sicherungspolitik zu erblicken. Aber über den Sinn und die
Tragweite des Bündnisses ist man verschiedener Meinung.
Erich Brandenburg1 verneint Bismarcks Absicht, durch das
Bündnis für Österreich zu „optieren“ und in dauernde Gegnerschaft
zu Rußland zu treten. Nach seiner Auffassung sollte Rußland an
einer gewaltsamen Lösung der Orientfrage durch Zertrümmerung
des Donaustaates verhindert werden. „Es sollte wissen, daß es bei
jedem Versuche dieser Art zugleich mit Deutschland zu kämpfen
haben werde. Sowohl Rußland wie Österreich sollten verhindert
werden, ohne Verständigung untereinander und mit Deutschland
entscheidende Schritte auf der Balkanhalbinsel zu tun.“ Aus diesem
Grunde brachte Bismarck bald nach Abschluß des deutsch-öster-
reichischen Bündnisses den Drei-Kaiser-Vertrag von 1881 und später
den Rückversicherungsvertrag zustande.
Adalbert Wahl bezeichnet im ersten Bande seiner auf den
neuesten Akten aufgebauten „Deutschen Geschichte von der Reichs-
gründung bis zum Ausbruch des Weltkrieges1 2“ den Zweibund als
„eine durchaus epochemachende Errungenschaft“. Zwar habe Bis-
marck nicht alles erreicht, was er wollte, aber der Zweibund
1 „Von Bismarck zum Weltkriege“, Berlin, Deutsche Verlagsgesellschaft für
Politik und Geschichte, 1925. 2. Auflage. S. 11/12.
2 Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1926, S. 433 ff.
5*
67
Die Bismarckzeit
habe doch endgültig die Gefahr der Koalition des Siebenjährigen
Krieges, die Bismarck so sehr fürchtete, beseitigt. An die Stelle des
nebelhaften und unsicheren Drei-Kaiser-Bündnisses sei ein wesent-
lich klarerer und zuverlässigerer Zustand getreten. „Unverkennbar
ist freilich auch, daß das neue System Gefahren in sich barg, und
zwar in doppelter Richtung: es konnte daraus eine unlösbare Ver-
quickung der Politik des gesunden Deutschland mit der des kranken
Österreich werden, und der streng defensive Charakter des Bundes
konnte einen allzu einseitig quietistischen Zug in die deutsche aus-
wärtige Politik bringen .. . Allein diese Gefahren, damals noch
keineswegs akut, konnten auch für die Dauer von einer klugen
Leitung vermieden werden.“
Am schärfsten urteilt Felix Rachfahl1: „Die Option Bis-
marcks in der Balkankrise der siebziger Jahre und das daraus her-
vorgegangene deutsch-österreichische Bündnis von 1879 bedeuteten,
in den universalgeschichtlichen Zusammenhang gerückt, grundsätz-
lich das Ende der russisch-preußischen Freundschaft, wie sie bis
dahin länger als zwei Menschenalter seit dem Anfänge des 19. Jahr-
hunderts bestanden hatte. Die deutsche Politik hatte damit einen
Weg betreten, der, wenngleich mit manchen Bindungen, Seiten-
biegungen, sogar anscheinend mitunter rückläufigen Kurven, doch
mit eherner Konsequenz zu dem Ziele hinführte, als welches sich
dem Auge des rückwärts gewandten Beschauers der Ausbruch des
Weltkrieges im Sommer 1914 darstellt .. . Immer wieder hat
Deutschland, wenn es darauf ankam, schützend seine Hand über
Österreich-Ungarn gehalten und die Balkanpolitik seines Alliierten
gedeckt, die Rußlands dagegen gehemmt, gekreuzt und zu Fall
gebracht. Das ist die wahre Wurzel des Weltkrieges, insonderheit,
was den unmittelbaren Anlaß zu seinem Ausbruche anbelangt ...
So hat Bismarck durch den Abschluß des Zweibundes eine Ent-
wicklung zum Abschlüsse gebracht und eine Situation geschaffen,
die zu meistern, solange er selbst die Schicksale des Deutsche^
Reiches leitete, wenngleich mühsam, ihm noch gelang, und die, aus
der wirklichen oder vorgestellten Not der Zeitumstände entsprungen,
für eine lange Spanne als eine glückliche Lösung eines weltbewe-
genden politischen Problems empfunden wurde, deren letzte Aus-
wirkungen jedoch beim Wechsel der Personen und der Dinge die
schwerste Katastrophe über die beteiligten Staaten heraufbeschwören
und ganz Europa, ja sogar die gesamte Welt ergreifen und in Mit-
leidenschaft ziehen sollten.“
Höchst wahrscheinlich hat Bismarck damals die Gefahren eines
russischen Angriffs zur Erreichung seines Zieles etwas stärker
hervortreten lassen, als er sie selbst einschätzte. Bis zu einem ge-
1 „Deutschland und die Weltpolitik 1871—1914.“ Band I „Die Bismarcksche
Ära“. Stuttgart 1923. E. H. Moritz, S. 306/307.
68
1879
wissen Grade hat ihn auch persönliche Gereiztheit gegen die rus-
sischen Staatsmänner, gegen den Fürsten Gortschakow, dem er die
„Komödie von 1875“ bei der Krieg-in-Sicht-Affäre nicht verzeihen
konnte1, und den Zaren persönlich mit bestimmt. Entscheidend aber
war doch, daß Bismarck unmittelbar nach Abschluß des deutsch-
österreichischen Bündnisses die Beziehungen nach Rußland hin wieder
näher knüpfte und als erstes praktisches Ziel seiner weiteren Poli-
tik die Wiederbelebung des Drei-Kaiser-Bündnisses zu verwirk-
lichen vermochte. Bismarck war stets bereit und infolge seiner
überlegenen Staatskunst auch imstande, sein Bündnissystem der
jeweiligen Lage anzupassen, mochte es auch noch so verschlungen
sich gestalten. Daß es seinen Nachfolgern nicht im gleichen Maße
gelingen würde, souverän von Fall zu Fall zu entscheiden und zu
handeln, das hat Bismarck kaum in Rechnung gestellt, darin ganz
den großen Männern der Vergangenheit gleich, die ihr eigenes
Lebenswerk gleichfalls auf dem eigenen Heroenausmaße auf-
bauten, ohne daran zu denken, ob sie geeignete Nachfolger finden
würden.
Die deutsch-französischen Beziehungen 1875—18851 2
Während Bismarcks Außenpolitik im Osten durch die Neu-
regelung seiner Beziehungen zu den beiden Kaisermächten und
durch die Entwicklung der Dinge auf dem Balkan nachdrücklich,
wenn auch nicht ausschließlich, in Anspruch genommen wurde,
hatte er nach Beseitigung der „Krieg-in-Sicht ?“-Krisis von 1875 zu
Frankreich die entgegenkommendsten Beziehungen unterhalten. Es
war ein Lieblingsgedanke Bismarcks, eine gemeinsame Tätigkeit
mit Frankreich und damit die Grundlage zu einer dauernden Ver-
ständigung zu finden. Diesen Gedanken hatte der Herzog von
Decazes im Frühjahr 1875 geäußert, und Bismarck griff ihn gern
auf3. Auch nach seiner Auffassung war „die auf irgendeinem
Terrain ostensibel auftretende Gemeinsamkeit deutscher und fran-
zösischer Politik ein Mittel zur Beruhigung der Kriegsbefürch-
tungen“4. Er begrüßte es daher, als die französische Regierung
sich bestrebte, das LehnsVerhältnis zwischen Tunis und der Pforte
zu lösen und Tunis in ein Abhängigkeitsverhältnis zu Frankreich
zu bringen.
Den Gedanken, Elsaß-Lothringen an Frankreich wieder zu-
rückzugeben, hat Bismarck jederzeit weit zurückgewiesen. Der fran-
1 Siehe o. S. 33.
2 Des besseren Überblickes wegen werden hier dje 10 Jahre von 1875—1885
zusammengefaßt.
3 Gr. Pol. Nr. 167, 168.
1 Gr. Pol. Nr. 172.
69
Die Bismarckzeit
zösische Botschafter in Berlin, Vicomte de Gontaut-Biron, hatte
bei einem Gespräche mit dem Gesandten im Auswärtigen Amte
v. Radowitz am 21. April 1875 von einer solchen Möglichkeit ge-
sprochen, allerdings gleich mit dem Hinzufügen, daß die deutschen
Militärs sie nie zugeben würden1. In Paris deutete im Dezember
1875 Thiers die Möglichkeit an, durch eine große Geldsumme Elsaß
und Lothringen wieder in den Besitz Frankreichs zu bringen. Bis-
marck ließ daraufhin an den deutschen Botschafter in Paris, Fürsten
v. Hohenlohe, schreiben: „So wünschenswert das Ziel“ (nämlich
einer Verständigung mit Frankreich), „so vollkommen unmöglich
ist freilich das Mittel. Dieselbe Notwendigkeit und gebieterische
Pflicht, welche trotz aller wohl vorhergesehenen Schwierigkeitein
des neuen Besitzes Deutschland dazu geführt haben, Elsaß und
Lothringen für sich anzueignen, verlangt auch, daß dieselben dau-
ernd bei Deutschland verbleiben. Der Besitz derselben bildet gegen-
über einer Nachbarnation von so unruhigem Charakter, und die
zugleich über so gewaltige Machtmittel gebietet, für Deutschland
die einzig sichere Schutzwehr . . . Der Besitz von Straßburg und
Metz ist für Deutschland eine nationale Notwendigkeit, nicht eine
Frage des amour propre. Wie schwer es den Franzosen auch werden
mag, dieser Überzeugung Raum zu geben, so bildet sie doch die
Grundbedingung für die Herstellung eines freundlichen Einver-
nehmens zwischen beiden Nationen1 2“. Diesen Standpunkt hat jede
deutsche Regierung bis in den letzten Monat des Weltkrieges hin-
ein unverrückbar festgehalten.
In den Jahren 1876 und 1877 gaben die deutsch-französischen
Beziehungen keinen Anlaß zu Besorgnissen. Auf beiden Seiten
war man zum Entgegenkommen bereit, wenn es Deutschland auch
ablehnte, die für 1878 geplante Pariser Weltausstellung zu be-
schicken3. Die Beteiligung deutscher Künstler durch Beschickung
der Aufstellung mit Gemälden und Bildwerken, die von Frank-
reich gewünscht wurde4, ist indes von Deutschland in jeder Weise
gefördert worden. Kaiser Wilhelm selbst stellte alle Gemälde aus
den Schlössern und aus dem Privatbesitz hierfür zur Verfügung.
Noch wirksamer erschien das politische Eintreten Deutsch-
lands für die Wünsche der französischen Staatsmänner in Afrika,
besonders in Tunis, wohin Frankreich zu Beginn des Jahres 1879
eine Expedition zu unternehmen sich anschickte. Nach dem Rück-
tritte Mac Mahons und der Wahl Grevys zum Präsidenten der Re-
publik, sowie der Übernahme des Ministeriums des Äußeren durch
Waddington besserten sich die französisch-deujschen Beziehungen
1 Or. Pol. Nr. 177.
2 Gr. Pol. Nr. 195.
8 Gr. Pol. Nr. 197—200.
4 Gr. Pol. Nr. 651.
70
1879
so weit, daß die französische Regierung im September 1879 die
Frage erörterte, Kaiser Wilhelm I. gelegentlich seiner Anwesen-
heit in Metz durch einen Spezialgesandten begrüßen zu lassen1.
Sie nahm nur davon Abstand, um nicht zu deutschfeindlichen
Kundgebungen in der Bevölkerung der französischen Grenzgebiete
Anlaß zu geben. Damals schon ergriffen französische Blätter, die
in russischem Solde standen, wie die „France“ und „Estafette“,
jede Gelegenheit, Waddington anzugreifen, weil er dem Gedanken
einer russisch-französischen Allianz sein Ohr verschloß.
Wie Bismarck, der die französischen Kolonialwünsche über-
all zu fördern suchte, in der Hauptfrage Frankreich gegenüber
dachte, geht aus einer grundlegenden Aufzeichnung vom 8. April
1880 hervor, die für den Fürsten Hohenlohe in Paris bestimmt
war1 2. Darin hieß es: „Uns liegt der Gedanke fern, jemals die
durch die Gleichartigkeit der monarchischen Interessen geeinten
Kräfte nach irgendeiner Seite hin, etwa gegen Frankreich, an-
griffsweise verwerten zu wollen. Unser Verständigungsgebiet mit
Frankreich erstreckt sich von Guinea bis nach Belgien hinan und
deckt alle romanischen Lande; nur auf deutsche Eroberungen
braucht Frankreich zu verzichten, um uns befreundet zu bleiben.
Je weniger wir ihm Einbrüche nach Osten gestatten können, desto
mehr sind wir — wie ja auch unsere Orientpolitik während der
letzten Jahre bewiesen hat — bereit, ihm zu Entschädigungen in
jeder anderen Richtung zu helfen .. . Die Abwesenheit politischer
Bedenken gestattet uns anzuerkennen, daß das französische Volk,
welches dank der stärkeren Beimischung germanischen Blutes als
die kräftigste unter den romanischen Nationen dasteht, die Stellung
einer zivilisatorischen Vormacht in der romanischen Welt sowohl
wie außerhalb Europas beanspruchen kann.“
Bismarck freute sich über jede Bemühung der französischen
Politik, für den nationalen Tatendrang ein Feld zu suchen, wo
eine Kollision mit deutschen Interessen nicht vorlag3. Zur Ver-
besserung der deutsch-französischen Beziehungen trug damals die
Persönlichkeit des französischen Botschafters in Berlin, Grafen de
St. Vallier4, wesentlich bei. In die inneren Verhältnisse Frankreichs
sich irgendwie einzumischen, hat Bismarck wiederholt nachdrück-
lich abgelehnt. Unbekümmert um die in Frankreich herrschende
Staatsform wünschte er ihm gegenüber die bisher geübte Politik
beizubehalten. Diese kennzeichnete er am 18. November 18835 als
wohlwollend auf allen Gebieten, die deutsche Interessen nicht be-
1 Qr. Pol. Nr. 658, 659.
2 Qr. Pol. Nr. 662.
3 Qr. Pol. Nr. 663.
4 Januar 1878 bis Dezember 1881.
5 Qr. Pol. Nr. 676.
71
Die Bismarckzeit
rührten. Einen französischen Angriff wollte er ruhig abwarten,
ohne ihm zuvorzukommen. „Ich würde dann dem Grundsatz treu
bleiben, den Krieg niemals um deswillen zu beginnen, weil man
annimmt, daß er sowieso unvermeidlich sei; man kann das eben
nicht vorher wissen.“ Immer war es sein Hauptziel, einen deutsch-
französischen Krieg, wenn irgend tunlich, zu vermeiden, da der
Krieg zwischen zwei so großen benachbarten Völkern auch für
den Sieger immer „eine Kalamität“ bilde, die ganz Europa schä-
digen würde1.
Darum übte Bismarck auch in der Marokkofrage zunächst
völlige Zurückhaltung. Schon seine Weisung an den deutschen
Vertreter auf der Madrider Konferenz — 4. Juni bis 3. Juli 1880
— war darauf hinausgekommen1 2, in allen Marokkofragen Hand
in Hand mit Frankreich zu gehen und tunlichst im Einvernehmen
mit dem französischen Botschafter zu handeln, „ohne dabei die-
jenige Zurückhaltung aufzugeben, welche die im Verhältnis zu
anderen Staaten mindere Bedeutung unserer Interessen in Marokko
angemessen erscheinen läßt“. Mit Recht befürchtete er, daß die
leiseste Einmischung Deutschlands in Frankreich stark verstimmen
würde. „Die Wahrnehmung,“ schrieb er am 26. Juni 1884 an den
deutschen Botschafter in Rom, v. Keudell3, „daß Deutschland nicht
nur Metz und Straßburg behalten will, sondern auch den Franzosen
die Möglichkeit mißgönnt, in überseeischen Erfolgen eine Ent-
schädigung für die Rheingrenze zu suchen, die Wahrnehmung,
daß Frankreich auf allen seinen Wegen Deutschland als Gegner
findet, würde die Partei der Revanche, den Nationalhaß der Fran-
zosen und ihre Energie uns gegenüber wesentlich kräftigen und den
Ausbruch eines neuen französischen Krieges beschleunigen, wo ich
dann nicht wüßte, welcher Kampfpreis uns bei eventuellem Siege
vorschweben könnte. Auch siegreich würde ein solcher Krieg eine
große Kalamität sein“.
So entstand schließlich eine afrikanische Interessengemeinschaft
zwischen Deutschland und Frankreich. In diesem Geiste tagte in
Berlin vom 15. November 1884 bis 26. Februar 1885 die sogenannte
westafrikanische (Kongo-)Konferenz, die mit der Annahme der Ge-
neralakte vom 26. Februar 1885 endete4. Auch in französischen Mili-
tärkreisen machte sich damals eine Entspannung Deutschland gegen-
über fühlbar5.
Mit der Unterstützung der französischen Politik in Afrika
wünschte Bismarck aber doch nicht so weit zu gehen, daß er sich
1 6. September 1883. Qr. Pol. Nr. 675.
2 Or. Pol. Nr. 664.
3 Qr. Pol. Nr. 679.
* Gr. Pol. Nr. 680—689.
6 Gr. Pol. Nr. 690.
72
1884
etwa mit England verfeindete. Auch ließ Bismarck den Franzosen
keinen Zweifel darüber, daß Deutschland sich von den verbündeten
Kaisern niemals trennen würde1. Trotzdem fand Graf Herbert Bis-
marck, der am 15. Juli 1884 zum Gesandten im Haag ernannt wor-
den war, anläßlich eines Besuches bei den französischen Staats-
männern in Paris im Herbst 1884 die denkbar günstigste Aufnahme.
Man sprach sogar von einer „Entente“, die auf die jetzige „Detente“
folgen würde1 2. Bismarck unterstützte den französischen Standpunkt
bei den Auseinandersetzungen mit England über die Regelung der
ägyptischen Finanzen3 und erwies sich 1885 der französischen Poli-
tik auch im Fernen Osten gefällig, als die Franzosen bei ihrem Ton-
kinfeldzuge gegen China empfindliche Niederlagen erlitten hatten.
Andererseits blieb er aber stets bemüht, nicht etwa die Spitze gegen
England zu nehmen und französischer zu sein als die Franzosen.
„Wir dürfen uns keine von beiden Mächten ohne Not verfeinden und
weder ihre Intimität anbahnen helfen, noch die Verstimmung zwi-
schen ihnen bis zum Kriege zwischen beiden fördern4“.
Daß das Revanchefieber in Frankreich noch nicht erloschen
war, zeigte im Sommer 1885 die Haltung der französischen Presse
bei der bevorstehenden Neuwahl zur französischen Deputierten-
kammer. Sogar der sonst gemäßigte „Temps“ forderte die Ver-
legung weiterer Truppenteile an die Ostgrenze im Hinblick auf
kommende Ereignisse. Anläßlich der deutsch-spanischen Spannung
wegen der deutschen Besetzung der Karolineninseln zeigte sich in
Frankreich sofort die Neigung, einen etwaigen deutsch-spanischen
Krieg für Revanchezwecke auszunutzen. „Fünfzehn Jahre freund-
lichen Entgegenkommens auf jedem Gebiete der Politik mit allei-
niger Ausnahme des Elsaß haben hierin eine Wandlung oder Er-
mäßigung nicht bewirken können“, schrieb Bismarck am 21. Sep-
tember 1885 an Hohenlohe5. Der französische Standpunkt blieb
nach wie vor der gleiche, wie ihn der Nachfolger des Grafen de St.
Vallier als Botschafter in Berlin, Baron de Courcel, in seinem Be-
richte vom 3. Dezember 1884 so treffend gekennzeichnet hat6: „Ich
glaube, daß in bezug auf erlittene Zerstückelungen eine Nation, wenn
sie nicht voller Gleichgültigkeit dem Schicksale Polens entgegeneilen
will, niemals etwas verzeihen und niemals etwas vergeben darf...
Die Gegenwart beruhigen, die Zukunft Vorbehalten, das ist das
Programm, das ich immer vor Augen gehabt habe, seitdem es sich
zwischen Frankreich und Deutschland darum gehandelt hat, die
1 Gr. Pol. Nr. 691—694.
2 Gr. Pol. Nr. 695.
3 Gr. Pol. Nr. 696—698.
4 Gr. Pol. Nr. 702.
5 Gr. Pol. Nr. 707.
6 „Die Ursachen lind die Verantwortlichkeiten des großen Krieges.“ (Von Emile
Bourgeois und Georges Pag es.) Deutsche Ausgabe S.386ff.
73
Die Bismarckzeit
Abwägung der gegenseitigen Interessen an die Stelle der Eitelkeit
und der Gefahren lärmender Provokationen zu setzen, die auf der
einen Seite ebensowenig aufrichtig sind wie auf der anderen. Seit dem
Beginne unserer Unterredungen1 habe ich mit dem Grafen Hatzfeldt
und selbst mit dem Kanzler festgestellt, daß zwischen uns niemals
vom Elsaß noch von Lothringen die Rede sein würde, daß dies ein
für den einen wie für den anderen gesperrtes Gebiet sei, wohin vor-
zudringen uns untersagt sein müßte, weil wir uns dort niemals in
gutem Einvernehmen begegnen könnten. ,Ich werde Ihnen niemals
vom Elsaß sprechen', habe ich gesagt; ,wenn Sie aber Ihrerseits auf-
richtig eine Verständigung über gewisse Punkte wünschen, so ver-
meiden Sie es, das Eisen wieder auf unsere Wunde zu legen, weil
dann die französische Nation niemals Herrin ihrer Empfindungen
bleiben würde'.“
Ganz in gleichem Sinne hat auch die belgische Diplomatie immer
das französische Problem beurteilt und von dem Revanchegeiste ge-
sprochen, der nie aufgehört habe, das französische Volk zu be-
seelen1 2. In diesem einen Punkte sind alle Versuche Bismarcks er-
folglos geblieben.
Das Drei-Kaiser-Bündnis vom 18. Juni 1881
Wir gehen wieder bis zum Jahre 1879 zurück. Das deutsch-
österreichische Bündnis war geschlossen3. Aber damals schon waren
Symptome für eine neue deutsch-russische Annäherung unver-
kennbar.
Unzweifelhaft hatte die Persönlichkeit des russischen Botschaf-
ters in Berlin d’Oubril zu der Spannung zwischen beiden Mächten
erheblich beigetragen. In seinem Antwortbriefe an Kaiser Wilhelm I.
vom 14. November hatte nun der Zar mitgeteilt, daß er den in
Berlin sehr willkommenen bisherigen Gesandten in Athen, Herrn
v. Saburow, zum Botschafter ernannt habe. Dieser, der ursprünglich
für Konstantinopel in Aussicht genommen gewesen war, hatte sich
schon im Sommer 1879 gelegentlich einer Durchreise durch Berlin
geradezu erschreckt über die Vereinsamung geäußert, in die Ruß-
land, besonders in den orientalischen Fragen, gelangt war, und die
Schuld dafür dem Fürsten Gortschakow zugeschoben. Als Saburow
im Januar 1880 als Botschafter nach Berlin kam, stand er alsbald
in den besten Beziehungen zu Bismarck, der immer wieder den
Wunsch bekundete, mit Rußland in Frieden und Freundschaft weiter-
1 Es handelte sich damals um die Regelung der ägyptischen Frage.
2 Baron Solvyns, London, 27. November 1891 (als einziges Beispiel für viele).
3 Siehe o. S. 65.
74
1880
zuleben1. Saburow machte seinerseits positive Vorschläge und er-
örterte mit Bismarck den russischen Standpunkt in der Frage der
Meerengen, deutete anfangs Februar auch bereits die Frage eines
Schutz- und Trutzbündnisses zwischen Deutschland und Rußland
an 1 2. Aus den damals eingeleiteten Verhandlungen ergab sich schließ-
lich ein neues Drei-Kaiser-Abkommen, das für Rußland die Sicher-
heit im Schwarzen Meer, für Österreich Beruhigung über seine Stel-
lung im Orient, für Deutschland die Aufrechterhaltung des allge-
meinen Friedens bedeuten sollte3.
Kaiser Wilhelm I. verfolgte die neue Annäherung mit lebhaf-
tester innerer Zustimmung. Er suchte daher in einem eigenhändigen
Schreiben vom 16. Januar 1881 an den Kaiser Franz Joseph diesen
zur Annahme eines Vertragsentwurfes zu veranlassen4, da ein Drei-
Kaiser-Bündnis ein großes moralisches Gewicht in der Wagschale
des europäischen Friedens bedeuten müßte.
Noch ehe das Bündnis zustande kam, wurde am 13. März 1881
in Petersburg Kaiser Alexander II. ermordet. Sein in die schweben-
den Verhandlungen eingeweihter Sohn Alexander III. betrachtete
den Abschluß des Bündnisses nicht nur als Vermächtnis seines Vaters,
sondern als einen Ausdruck seiner eigenen Überzeugung5. So wurde
denn am 18. Juni 1881 das Drei-Kaiser-Bündnis von Bismarck, dem
Grafen Szechenyi und dem Botschafter v. Saburow nebst einem Zu-
satzprotokoll6 in Berlin unterzeichnet. Der Vertrag bestimmte bei
dreijähriger Dauer, daß in dem Falle, wo eine der drei Kaiser-
mächte sich mit einer vierten Großmacht im Kriege befinden würde,
die beiden anderen ihr gegenüber eine wohlwollende Neutralität
aufrechtzuerhalten und ihre Tätigkeit der örtlichen Begrenzung des
Streitfalles zu widmen hätten. Rußland erklärte in Übereinstimmung
mit Deutschland seinen festen Entschluß, „die Interessen zu achten,
die sich aus der Österreich-Ungarn durch den Berliner Vertrag zu-
gesicherten Stellung ergeben“. Neue Veränderungen in dem territo-
rialen Besitzstände der europäischen Türkei sollten sich nur auf
Grund eines gemeinsamen Abkommens zwischen den Kaisermächten
vollziehen können. Der europäische und wechselseitig verpflichtende
Charakter des Grundsatzes der Schließung der Meerengen des Bos-
porus und der Dardanellen wurde anerkannt. Die Mächte wollten
gemeinsam darüber wachen, daß die Türkei von diesem Grundsätze
nicht zugunsten der Interessen irgendeiner Regierung abwich. In
einem geheimen Zusatzprotokoll hieß es hinsichtlich Bosniens und
der Herzegowina ausdrücklich: „Österreich-Ungarn behält sich vor,
1 Gr. Pol. Nr. 514, 515.
2 Gr. Pol. Nr. 517.
8 Gr. Pol. Nr. 518.
4 Gr. Pol. Nr. 524.
5 Gr. Pol. Nr. 526.
6 Gr. Pol. Nr. 532.
75
Die Bismarckzeit
sich diese beiden Provinzen in einem Augenblicke einzuverleiben,
den es für günstig halten wird.“
Die Gefahr einer Entfremdung zwischen Deutschland und Ruß-
land, die Kaiser Wilhelm I. so sehr gefürchtet hatte, war einst-
weilen beseitigt. Bismarck sah den Frieden der beiden östlichen
Kaiserreiche nunmehr als auf Jahre gesichert an und hielt die Ge-
fahr eines franko-russischen Zusammenschlusses für endgültig be-
ischworen1.
Österreich-Ungarns Bündnisvertrag mit Serbien
vom 16./28. Juni 1881
Durch das Drei-Kaiser-Bündnis gegen die Gefahr europäischer
Verwicklungen in hohem Maße gesichert, konnte Österreich-Ungarn
wenige Tage nach der Unterzeichnung des Drei-Kaiser-Bündnisses in
Berlin einen Vertrag mit Serbien in Belgrad abschließen1 2, der ihm
auch nach dieser Seite hin fast alle Sorge benahm. Serbien versprach,
keinerlei politische, religiöse oder andere Umtriebe gegen die öster-
reich-ungarische Monarchie einschließlich Bosniens, der Herzegowina
und des Sandschaks von Nowibazar zu dulden. Dagegen versprach
Österreich, die serbische Dynastie mit seinem ganzen Einflüsse zu
stützen und sich der Annahme des Königstitels durch den Fürsten
von Serbien zu gegebener Zeit nicht zu widersetzen, Serbien auch
bei den anderen europäischen Kabinetten zu unterstützen.
Im Falle eines Krieges, den Österreich-Ungarn mit einer oder
mehreren Mächten zu führen haben würde, versprach Serbien der
Donaumonarchie — wieder einschließlich Bosniens, der Herzegowina
und des Sandschaks von Nowibazar — eine freundschaftliche Neu-
tralität, und Österreich-Ungarn verpflichtete sich für den Fall, daß
Serbien von einem Kriege bedroht oder in einen solchen verwickelt
würde, in gleichem Sinne. Im Falle einer militärischen Kooperation
sollten die aufkommenden Fragen durch eine Militärkonvention ge-
regelt werden. Einem Zuwachse Serbiens an seinen Südgrenzen —
mit Ausnahme des Sandschaks von Nowibazar — wollte sich Öster-
reich-Ungarn nicht widersetzen.
Der Vertrag erhielt eine Gültigkeit von zehn Jahren. In einer
Zusatzerklärung wurde Serbien das Recht zugesprochen, über Ver-
träge, auch solche politischer Art, mit einer anderen Regierung zu
verhandeln und sie abzuschließen. Nur durften diese Verträge nicht
gegen den Geist und den Wortlaut des mit Österreich-Ungarn ge-
schlossenen Vertrages verstoßen. Die beiden Staaten versprachen
1 Gr. Pol. Nr. 531.
2 Vergl. Dr. A. F. Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-
Ungarns 1879—1914. Wien u. Leipzig 1920. Bd. 1, S. 18ff.
76
1881
sich dauernden Frieden und Freundschaft und wechselseitig eine
freundschaftliche Politik.
Durch diesen Vertrag wurde die von Österreich-Ungarn stets
gefürchtete Bildung eines großen serbischen Staates unter russi-
scher Patronanz mit einer Österreich feindlichen Richtung in hohem
Maße beschworen. Serbien gehörte damit ganz unzweifelhaft zum
westlichen Interessengebiet des Balkans, und die österreich-ungari-
sche Politik war in der Lage, ihre Beziehungen zu Serbien selbst zu
bestimmen. Die vertraglichen Bedingungen vom 16./28. Juni 1881
schufen hierfür jedenfalls alle nötigen Voraussetzungen. Auch
Deutschland konnte der weiteren Entwicklung der Dinge nunmehr
mit größerer Ruhe entgegensehen.
Der erste Dreibundvertrag vom 20. Mai 1882
Über Wien war im Oktober 1880 der Wunsch Italiens bekannt
geworden, in nähere Beziehungen zu Deutschland und Österreich-
Ungarn zu gelangen. Bismarck begrüßte die ersten Fühler auf
diesem Wege mit unverhohlenem Mißtrauen. Früher hatte er an die
Möglichkeit geglaubt, daß Italien ein sicherer und wertvoller Bundes-
genosse für Deutschland werden könne, war aber seit Jahren zweifel-
haft geworden. Man könne nicht einmal volle Zuversicht in den Be-
stand der dortigen Monarchie haben, ließ er am 19. Mai 1881 nach
Rom schreiben, und eine italienische Republik würde mit der fran-
zösischen gehen1. Jede Abmachung mit Italien würde im Wesen,
so äußerte er sich später, immer ein einseitiges Geschäft zum Vor-
teil Italiens sein1 2.
Am 18. Januar 1882 erschien der italienische Botschafter in
Wien beim Grafen Kälnoky, der seit November 1881 Nachfolger des
Barons Haymerle als Minister des Äußeren geworden war, und teilte
ihm den Entschluß des italienischen Königspaares mit, sich der Poli-
tik Österreich-Ungarns und Deutschlands eng anzuschließen. Kälnoky
ging freundlich darauf ein, und Bismarck riet, das, was die Italiener
jetzt ohne Anspruch auf Gegenleistung anböten, anzunehmen und so-
viel wie möglich zu verwerten3.
Zunächst bemühten sich die Italiener um einen Neutralitäts-
vertrag. Eine Hauptschwierigkeit für einen solchen lag nach Bis-
marcks Ansicht darin4, daß bei der militärischen Schwäche Ita-
liens die Machtverhältnisse und die von beiden Seiten zu erwarten-
den Leistungen sehr ungleich wären; trotzdem sei es ein nicht zu
1 Gr. Pol. Nr. 537.
2 Gr. Pol. Nr. 541 (Berlin, 31. Dezember 1881).
* Gr. Pol. Nr. 543, 544.
* Gr. Pol. Nr. 547, 548.
77
Die Bismarckzeit
unterschätzender Vorteil, im Falle eines von Frankreich im Bunde
mit Rußland unternommenen Krieges Italien, „wenn auch nur no-
minell und ohne erhebliche Leistung“, auf der Seite des deutsch-
österreichischen Bundes zu haben, denn dadurch würden die deut-
schen, sonst an den Alpen aufzustellenden Truppen frei. Von Rom
aus empfahl der Botschafter v. Keudell, den Moment zu ergreifen,
um einen wesentlichen Einfluß auf die Politik Italiens zu gewinnen1;
stütze man jetzt die dortige Monarchie, so sei in Zukunft auf eine
befreundete Macht zu rechnen; eine italienische Republik aber würde
eine geborene Feindin Deutschlands und Österreichs sein. Auch in
Wien versprach man sich Vorteile von dem Zutritte Italiens, zu-
mal das Mißtrauen gegen Rußland wieder gewachsen war1 2.
Nach Vorverhandlungen über die Frage, wie weit man bei der
Zusage des gegenseitigen Beistandes im Kriegsfälle gehen solle,
überreichte am 24. März 1882 in Wien der italienische Botschafter
Graf Robilant die endgültigen italienischen Vorschläge3. Sie waren
in vier Artikeln zusammengefaßt und kamen auf gegenseitige Unter-
stützung der drei Mächte in allgemeinen politischen Fragen, auf
die Zusage gegenseitigen Beistandes gegen einen unprovozierten
Angriff Frankreichs, auf wohlwollende bewaffnete Neutralität Ita-
liens für den Fall eines russischen Angriffs gegen Österreich oder
Deutschland und schließlich auf wohlwollende Neutralität in jedem
Falle hinaus, wo eine der vertragschließenden Mächte noch ander-
weitig in einen Krieg verwickelt werden sollte.
Bismarck war mit den italienischen Vorschlägen im allgemeinen
einverstanden und teilte auch nicht den Wunsch der Österreicher
nach einer Festlegung Italiens in dem Sinne, daß es bei einelm
deutsch-österreichischen Kriege mit Rußland zu aktivem Vorgehen
gegen Frankreich verpflichtet werden sollte, falls Frankreich durch
eine provozierende Haltung Deutschland oder Österreich zwingen
würde, Frankreich anzugreifen. Bismarck fand diese Eventualität zu
fein zugespitzt, als daß man den casus foederis für Italien dann
nachweisen könnte; sei Italien ehrlich und Herr seiner Ent-
schlüsse, so werde es von selbst interessiert sein, den Sieg Frank-
reichs zu hindern; für Deutschland genüge eine wohlwollende Neu-
tralität Italiens, denn eine Ersparnis österreichischer Streitkräfte
sei wichtiger als eine Gewinnung italienischer4.
Bei den weiteren Verhandlungen ließ Bismarck den Öster-
reichern überall die Vorhand, setzte sich aber dafür ein, daß
Österreich nicht durch unverbindliche Formen die Italiener zurück-
1 Gr. Pol. Nr. 549.
2 Gr. Pol. Nr. 550.
3 Gr. Pol. Nr. 556.
4 Gr. Pol. Nr. 557.
78
1882
schreckte1. Endlich am 20. Mai meldete der deutsche Botschafter,
Prinz Heinrich VII. Reuß, aus Wien, daß der Defensivvertrag.1
zwischen den drei Mächten vom Grafen Kälnoky, dem Grafen Robi-
lant und ihm selbst unterzeichnet worden sei. Dem für Deutsch-
land bestimmten Exemplar fügte der deutsche Botschafter den
Entwurf einer Ministerialerklärung bei1 2, über die sich die Vertrags-
unterzeichner geeinigt hatten, und die den italienischerseits aus-
gesprochenen Gedanken enthielt, daß die Festsetzungen des Drei-
bundvertrages nicht als gegen England gerichtet betrachtet werden
dürften.
So zeigte sich schon damals, daß Italiens Zugehörigkeit zum
Dreibunde für die beiden anderen Mächte nur dann von Wert sein
konnte, wenn und solange sich England nicht auf die Seite der
deutsch-österreichischen Gegner schlug.
Als Zweck des geheimzuhaltenden Dreibundvertrages, der auf
fünf Jahre abgeschlossen wurde, war angegeben, er sei konservativ
und defensiv und verfolge nur das Ziel einer Sicherung gegen die
Gefahren, die die Sicherheit der drei Staaten und die Ruhe Europas
bedrohen könnten. Im Falle eines Angriffes auf Italien durch Frank-
reich ohne Provokation von italienischer Seite waren Deutschland
und Österreich-Ungarn verpflichtet, ihm mit allen ihren Streitkräften
beizustehen. Dieselbe Bindung übernahm Italien im Falle eines nicht
unmittelbar herausgeforderten Angriffs Frankreichs auf Deutsch-
land. Der nicht provozierte Angriff auf eine oder zwei der vertrag-
schließenden Mächte löste den casus foederis für alle aus, falls der
Angriff von zwei oder mehreren Großmächten ausging. Bedrohte
nur eine Großmacht die Ruhe einer der vertragschließenden Mächte,
und sah diese sich dadurch zum Kriege genötigt, so waren die
beiden anderen zu wohlwollender Neutralität verpflichtet. Für
Deutschlands Stellung zum Dreibundvertrage ist eine Bemerkung des
Reichskanzlers aufschlußreich, daß die deutsche Diplomatie für die
Redaktion nach Form und Inhalt keine Verantwortung trage; für
Deutschland sei es lediglich darauf angekommen, dem verbündeten
Österreich für den Kriegsfall die Sorge und die Deckung seiner ita-
lienischen Grenze nach Möglichkeit abzunehmen3.
Zur Erleichterung des Überblickes sei hier gleich bemerkt, daß
der Dreibund folgende Erneuerungen erfahren hat:
20. Februar 1887 zweiter Dreibundvertrag;
6. Mai 1891 dritter Dreibundvertrag;
16. Mai 1896 stillschweigende Erneuerung des dritten
Dreibundvertrages;
1 Qr. Pol. Nr. 566—569.
2 Gr. Pol. Nr. 570, 571.
3 Gr. Pol. Nr. 572.
79
Die Bismarckzeit
28. Juni 1902 vierter Dreibundvertrag;
8. Juli 1907 stillschweigende Erneuerung des vier-
ten Dreibundvertrages;
5. Dezember 1912 fünfter Dreibundvertrag.
Die Bedeutung des Dreibundes wird in den Qeschichtswerken
der Neuzeit — hauptsächlich naturgemäß unter dem Gesichtswinkel
des Weltkrieges — sehr verschieden beurteilt. Uns interessiert in
erster Linie die Auffassung der Vertreter des „Fehlspruches von
Versailles“ — und da muß festgestellt werden, daß Georges Pages
in seinem Senatsgutachten1 den Dreibundvertrag vom 20. Mai 1882
nur als ergänzende Sicherheit bezeichnet, wenigstens in seinen An-
fängen, wie überhaupt alle diplomatischen Unternehmungen Bis-
marcks in jenen Jahren mehr oder weniger nur als ergänzende
Sicherheiten, Gegenversicherungen oder Rückversicherungen ge-
kennzeichnet werden müßten. Pages erblickt in ihnen nur vorläufige
Maßregeln, die, von den Umständen hervorgerufen, keine längere
Dauer haben sollten, als diese selbst.
Halten wir uns gegenwärtig, daß es noch niemals in der Welt-
geschichte Verträge gegeben hat, denen man Ewigkeitswert hätte
beimessen können, daß vielmehr ein jeder Vertrag von dem Wandel
aller Dinge abhängig bleibt, so können wir uns an dem erwähnten
einen Urteile aus dem französischen Lager völlig genügen lassen
und lehnen es ab, von der späteren Entwicklung rückwärts schlie-
ßend, Bismarcks Dreibund für alles spätere Unheil verantwortlich
zu machen.
Verlängerung des deutsch-österreichischen Zweibundes von 1879
und Hinzutritt Rumäniens
Bismarcks Sicherheitsbedürfnis war noch nicht erschöpft. Bei
Abschluß des Bündnisvertrages vom 7. Oktober 1879 war seine
Dauer auf vorläufig fünf Jahre festgesetzt worden. Ein Jahr vor
Ablauf wollten die vertragschließenden Mächte über die weitere
Dauer oder etwaige Abänderungen verhandeln.
Als nun im Februar 1883 der russische Botschafter v. Saburow
in Berlin die Verlängerung des Drei-Kaiser-Bündnisses vom 18. Juni
1881 anregte, wünschte Bismarck, vorher das Bündnis mit Öster-
reich erneuert zu sehen, und fand mit dieser Anregung in Wien
sofort freudiges Entgegenkommen2. Kaiser Wilhelm I. brachte bei
diesem Anlasse wieder seinen Wunsch vor, Österreich möge sein
1 „Die Ursachen und die Verantwortlichkeiten des Großen Krieges“, Deutsche
Ausgabe, S. 194.
a Gr. Pol. Nr. 573-576.
■80
1883
aktives Eingreifen auch für den Fall zusichern, daß Deutschland von
Frankreich angegriffen würde. Hierauf einzugehen, war man in
Wien nicht bereit, da Österreich-Ungarns Streitkräfte nicht aus-
reichen würden, um nach beiden Seiten hin Front zu machen, zumal
man sich auch gegen die Rumänen und Südslawen sichern müßte1.
Da auch Bismarck auf die Verpflichtung Österreich-Ungarns gegen
Frankreich wenig Wert legte1 2, wurde der Bündnisvertrag am
22. März 1883 durch ein einfaches Protokoll verlängert.
Als gemeinsamer Vertragspartner des Bündnisses mit Öster-
reich-Ungarn einerseits, des Drei-Kaiser-Bündnisses und schließ-
lich des Dreibundvertrages andererseits bildete Deutschland nun-
mehr den starken Mittelpunkt aller auf eine Befestigung des Frie-
dens in Europa gerichteten Bestrebungen. Da sich im August 1883
durch einen Besuch des Königs von Rumänien in Deutschland viel-
leicht die Möglichkeit bot, die „deutsch-österreichische Friedens-
liga mit Italien“ auch nach Osten hin zu erweitern und dadurch
die Politik Rumäniens, vielleicht auch Serbiens und der Pforte, in
feste Bahnen zu leiten, wünschte Bismarck auch Rumänien in die
Sicherheitskette einzufügen3.
In Wien war man einverstanden, und so kam im September
1883 der rumänische Ministerpräsident Bratianu nach vorherigen
Besprechungen mit Bismarck dorthin und verhandelte mit dem
Grafen Kälnoky. Die Minister wurden über den Text eines geheimen,
rein defensiven Friedens- und Freundschaftsvertrages einig, der
für fünf Jahre abgeschlossen werden sollte und im Artikel 2 für
Österreich-Ungarn die Verpflichtung enthielt, wenn Rumänien ohne
irgendeine Herausforderung seinerseits angegriffen werden sollte,
ihm rechtzeitig Hilfe und Beistand gegen den Angreifer zu leisten.
Wenn Österreich-Ungarn unter denselben Umständen in einem Teile
seiner Staaten, der Rumänien benachbart sei, angegriffen würde,
sollte der Casus foederis für Rumänien sogleich eintreten. Nötigen-
falls sollten die militärischen Fragen durch eine Militärkonvention
geregelt werden, und die beiden Staaten verpflichteten sich, im
Falle eines gemeinsamen Krieges getrennt weder über einen Frie-
den zu verhandeln, noch ihn abzuschließen.
Bismarck hielt es für ausreichend, wenn dieser Vertrag nur
zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien gezeichnet wurde, wo-
bei Deutschland den Österreichern die Gewißheit zu geben hätte,
daß der Casus foederis für Deutschland ebenso eintrete, wenn
Österreich sich zur Abwehr eines Angriffes auf Rumänien ent-
schließe4. Rumänischerseits wünschte man indes zu dreien abzu-
1 Qr. Pol. Nr. 579.
2 Or. Pol. Nr. 578.
3 Or. Pol. Nr. 583, 584.
4 Qr. Pol. Nr. 588.
ß Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
81
Die Bismarckzeit
schließen und betonte diesen Wunsch so stark, daß zeitweise das
Gelingen des ganzen Vertrages daran zu scheitern drohte. Unter
der Bedingung, die Kaiser Wilhelm I. und Bismarck als unabweis-
bar bezeichneten, daß in dem abzuschließenden Vertrage keine Ten-
denz gegen Rußland erkennbar sein dürfe, erklärte sich Deutschland
schließlich bereit, dem zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien
zu schließenden Vertrage in der Form einer Akzessionsakte beizu-
treten.
In dieser Weise wurde denn auch verfahren. Der Vertrag
zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien wurde am 30. Oktober
1883 in Wien abgeschlossen, und Deutschland sprach seinen Bei-
tritt in der Form einer Akzessionserklärung am gleichen Tage aus1.
Die Verlängerung des Drei-Kaiser-Bündnisses vom 27. März 1884
Schon anfangs Februar 1883 regte der russische Botschafter
v. Saburow in Berlin die Verlängerung des Bündnisses an1 2. Sowohl
der Zar wie der deutschfreundliche Nachfolger des Fürsten Gort-
schakow, Herr v. Giers, wünschten die Verlängerung, suchten aber
günstigere Bedingungen für die russische Politik auf dem Balkan
zu erlangen3. Hierauf einzugehen, bestand in Wien wenig Neigung,
während Bismarck in der Verlängerung des Vertrages hauptsächlich
ein Mittel sah, Rußlands Tätigkeit zu mäßigen oder zu lokalisieren,
denn in Rußland hetzten schon wieder die Panslawisten gegen
Deutschland, von dem sie behaupteten, es treibe Rußland zum
Kriege, um Österreich im Orient vorwärts zu bringen4.
Am 14. November 1883 stattete Giers dem Kanzler in Fried-
richsruh einen Besuch ab und suchte das deutsche Mißtrauen gegen
Rußland zu zerstreuen. Er bestritt jede aggressive Tendenz der
russischen Truppenverschiebungen, der Eisenbahn- und Festungsbau-
ten an der russischen Westgrenze und äußerte Bedenken für den
Fall eines Thronwechsels in Deutschland, da dann englische Einflüsse
am deutschen Kaiserhofe vorwiegen würden. Bismarck und Giers
waren sich darin einig, daß die Beziehungen Deutschlands zu Ruß-
land eine Kriegsgefahr nicht in sich bärgen, wohl aber diejenigen
Rußlands zu Österreich. Deutschland könne Österreich nicht im
Stiche lassen, erklärte Bismarck, da es dann von Rußland abhängen
würde, die sogenannte Kaunitzsche Koalition Rußland-Österreich-
Frankreich zustande zu bringen, der Deutschland nicht gewachsen
sei. Letzteres werde daher stets mit allen Kräften dahin wirkein,
1 Or. Pol. Nr. 597, 598.
2 Siehe o. S. 80.
3 Gr. Pol. Nr. 599—602.
* Gr. Pol. Nr. 606.
82
1883
zwischen Österreich und Rußland den Frieden zu bewahren und zu
befestigen. Beide Staatsmänner waren zu einer Verlängerung des
Drei-Kaiser-Bündnisses bereit1.
In Wien hatte man Bedenken, das ganze politische Zukunfts-
system auf der unsicheren Freundschaft Rußlands aufzubauen* 2.
In Petersburg aber bestand ein lebhaftes Interesse dafür, daß
Deutschland nicht etwa, über seine Ostflanke beruhigt, nun über
Frankreich herfalle3.
Gegenüber den immer wiederkehrenden Behauptungen, Deutsch-
land wolle Frankreich angreifen, hielt Bismarck nunmehr eine deut-
liche Sprache für geboten. Am 5. Februar 1884 ließ er an den
Botschafter v. Schweinitz nach Petersburg telegraphieren: „Solange
ich Minister bin, wird ein Angriff Deutschlands auf Frankreich
nicht stattfinden. Ich würde zurücktreten, wenn eine unmotivierte
Gewalttat befohlen würde4.“ Und in einer weiteren Weisung vom
gleichen Tage hieß es: „Deutschland hat mit den beiden anderen
Kaisermächten so wenige divergierende, konkurrierende oder Frik-
tionen fördernde Interessen, daß wir einen solchen Vertrag auf
ewig oder doch auf Menschenalter ohne Bedenken abschließen
könnten. Unser Bedürfnis ist eben nur Frieden und Verteidigung
unseres status quo“ 5.
Durch Bismarcks offene Erklärungen wurden nunmehr die per-
sönlichen Bedenken des Zaren gegen eine Verlängerung des Ver-
trages, die sich hauptsächlich auf die Tatsache gründeten, daß
Österreich Vertragspartner war, behoben. Am 27. März 1884 fand
in Berlin die Verlängerung des Drei-Kaiser-Bündnisses um weitere
drei Jahre durch ein Protokoll statt6. Der Zar hatte sich zu Schwei-
nitz dahin geäußert, er erwarte von der Erneuerung des Geheim-
vertrages großen Nutzen für Rußland und Deutschland; von Öster-
reich spreche er nicht, weil zwischen ihm und Rußland viele ent-
gegengesetzte Interessen beständen. Auch bat er dringend um Ge-
heimhaltung des Vertrages, denn in Rußland sehe man jede Ab-
machung mit Deutschland gern, ein Abkommen mit Österreich aber
werde große Unzufriedenheit zur Folge haben7.
Die erhebliche Verbesserung der deutsch-russischen Bezie-
hungen kam bald darauf in einem Besuche des Prinzen Wilhelm
am Zarenhofe zum Ausdruck. Der Prinz weilte vom 17. bis 26. Mai
1884 in Rußland, und der Zar ging lebhaft auf seine Ansicht ein,
das Drei-Kaiser-Bündnis sei nötig, um das Vordringen der An-
‘Or. Pol. Nr. 611.
2 Gr. Pol. Nr. 614.
3 Gr. Pol. Nr. 618.
4 Gr. Pol. Nr. 622.
6 Gr. Pol. Nr. 623.
8 Gr. Pol. Nr. 630.
7 Gr. Pol. Nr. 628.
6*
83
Die Bismarckzeit
archie zu bekämpfen1. Der Zar war von tiefem Mißtrauen gegen
Österreich beseelt und glaubte auch wohl selbst nicht an die Mög-
lichkeit einer Scheidelinie zwischen den österreichischen und russi-
schen Interessen im Orient. In Wien aber befürchtete man stets,
durch den russischen Panslawismus vom Balkan abgedrängt zu
werden1 2. Bismarck hingegen hielt es für möglich, daß Öster-
reich den Russen in Bulgarien und Rußland der österreichischen
Politik in Bosnien und Serbien freien Spielraum ließ3.
Eine Zusammenkunft der drei Kaiser in Skiernewice vom 15.
bis 17. September 1884, an der auch Bismarck und die Außen-
minister Rußlands und Österreich-Ungarns teilnahmen, verlief zur
Zufriedenheit und überdeckte einstweilen die latenten Gegensätze4.
Auch hierbei zeigte es sich, daß es nicht schwer war, zwischen
Rußland und Deutschland gute Beziehungen aufrechtzuerhalten.
Groß aber war die Sorge der Panslawisten, der österreichische
Einfluß auf dem Balkan würde jetzt zunehmen und die Donau-
monarchie vielleicht bald zur dauernden Einverleibung Bosniens und
der Herzegowina schreiten5.
Die bulgarische Krisis 1885—1887
Die innere Unmöglichkeit des Drei-Kaiser-Bündnisses sollte sich
zuerst in der bulgarischen Frage bemerkbar machen. Bulgarien war
eine der Schöpfungen des Berliner Kongresses. Im Frieden von
San Stefano hatte Rußland ein viel größeres Bulgarien durchzu-
setzen versucht. Der nivellierenden Tätigkeit des Berliner Kongresses
war es sodann zuzuschreiben, daß Bulgarien wesentlich verkleinert
wurde. Hauptsächlich Österreich und England hatten gegen eine
Vorschiebung der bulgarischen Grenzen bis an das Ägäische Meer
und über einen großen Teil Mazedoniens hinaus Einspruch erhoben.
Ganz gegen den Willen Ignatiews wurde das südlich vom Balkan
gelegene Land unter der Bezeichnung „Ostrumelien“ zu einer auto-
nomen Provinz des türkischen Reiches.
Bulgarien war somit ursprünglich ein Schoßkind Rußlands und
des panslawistischen Gedankens. In den Reihen der russischen
Armee hatte Prinz Alexander von Battenberg, der Sohn des Prinzen
Alexander von Hessen und bei Rhein, den russisch-türkischen Feld-
zug mitgemacht. Er war ein Lieblingsneffe des Zaren, dem engli-
schen Herrscherhause verwandt, ein deutscher Prinz und preu-
1 Or. Pol. Nr. 631—634.
2 Gr. Pol. Nr. 639.
3 Gr. Pol. Nr. 636.
4 Gr. Pol. Nr. 645—648.
6 Gr. Pol. Nr. 649.
84
1885
ßischer Offizier im Regiment der Qardes du corps und der Sohn
eines österreichischen Generals. „Prinz Alexander war also ein euro-
päisches Kompromiß, und sein endliches Schicksal war jenes aller
Kompromisse: ein Hin- und Hergezerrtwerden unter den wider-
sprechendsten Interessengegensätzen und der schließliche Untergang
trotz vollen Einsatzes seiner mit Intelligenz, Arbeitslust und Kühn-
heit begabten Persönlichkeit1.“
Als die erste Nationalversammlung des Fürstentums Bulgarien
in Tirnowo am 29. April 1879 den Prinzen Alexander zum Fürsten
erwählt hatte, schien zunächst eine Entwicklung Bulgariens in durch-
aus russischem Sinne wahrscheinlich. Sehr bald aber zeigte sich,
daß der Fürst keineswegs gewillt war, die Interessen seines Landes
dem Zaren unterzuordnen. Seit der Fürst sich entschlossen hatte,
russische Generale, die als Minister in Bulgarien tätig gewesen
waren, zu entlassen, fiel der Fürst in Petersburg völlig in Ungnade.
Aus diesem Grunde bildeten die Heiratspläne des Fürsten, der sich
mit einer Tochter des deutschen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, der
Prinzessin Viktoria von Preußen, zu vermählen wünschte, eine ge-
wisse Gefahr für die deutsch-russischen Beziehungen. Bismarck
setzte sich daher mit allen Mitteln für eine Verhinderung dieser
Heiratspläne ein.
Der leidenschaftliche Wunsch der Bevölkerung von Ostrumelien
führte am 18. September 1885 zu einem entscheidenden Schritte. In
allen Städten und Ortschaften „Südbulgariens“ wurde an diesem
Tage die Vereinigung mit Nordbulgarien proklamiert und Alexan-
der zum Fürsten ausgerufen. Dieser mußte nunmehr einen Ent-
schluß fassen. Er stellte sich an die Spitze der Bewegung und
verkündete am 20. September die Vereinigung beider Bulgarien.
An den Zaren wendete er sich mit der Bitte, dem bulgarischen Volke
in dieser schweren Krisis seinen Beistand zu gewähren, nachdem
die Vereinigung der beiden Länder ohne des Fürsten Zutun nun ein-
mal erfolgt sei.
Der Zar war aufs tiefste verstimmt. Schon am 23. September
berief er alle russischen Offiziere aus der bulgarischen Armee zu-
rück und äußerte zwei Tage später den Wunsch, die Entscheidung
über das Weitere einer Botschafterkonferenz in Konstantinopel zu!
unterbreiten.
Auch die Türkei setzte sich zur Wehr. Am 23. September rief
sie das Einschreiten der Großmächte gegen das einseitige Vorgehen
Bulgariens an und berief sich auf die Festsetzungen des Berliner
Vertrages von 1878. Eifersüchtig auf die durch die Vereinigung mit
Ostrumelien gesteigerte Macht Bulgariens erklärte König Milan vo»
Serbien, der weitere altserbische Gebiete zu erringen trachtete, am
1 E. Conte Corti, Alexander von Battenberg. Sein Kampf mit den Zaren und
Bismarck. Wien 1920. S. 57.
85
Die Bismarckzeit
13. November 1885 den Krieg an Bulgarien. Österreich-Ungarn hielt
sich an seiner Seite und bekannte sich auf Grund seines Vertrages
mit Serbien vom 16./28. Juni 1881 als verpflichtet, für eine Ge-
bietsentschädigung Serbiens einzutreten.
Bismarck hielt eine so weitgehende Verpflichtung der Donau-
monarchie nicht für gegeben1, wie er überhaupt nicht wünschte, die
erst durch den Berliner Kongreß geschaffenen Kleinstaaten auf dem
Balkan allzusehr ermutigt zu sehen. Beinahe prophetisch ließ er am
3. Oktober nach Wien schreiben, der serbische Ehrgeiz könne sich
unter veränderten Umständen auch einmal gegen Österreich selbst
wenden; Österreich möge sich daher nicht durch den Wunsch freund-
schaftlicher Beziehungen zu Milan und den Serben über die Grenzen
hinausführen lassen, innerhalb deren das Einvernehmen der drei
Kaiserhöfe gesichert sei1 2. Als die Kriegserklärung Serbiens drohte,
hatte er nach Wien telegraphieren lassen, ein serbisch-bulgarischelr
Streit brauche die Stellung der drei Kaisermächte zueinander nicht
zu alterieren3.
In Wien wünschte man der Pforte die Aufgabe der Beilegung
des serbisch-bulgarischen Konfliktes zuzuschieben. Das war insofern
schwierig, als Serbien anfangs militärische Vorteile errang. Bald
wendete sich aber das Kriegsglück. Fürst Alexander schlug die
Serben am 22. November bei Sliwnitza, rückte in Serbien ein und
errang am 27. und 28. November bei Pirot weitere Erfolge. Die Ver-
treter der Großmächte bemühten sich inzwischen um die Einstellung
der Feindseligkeiten.
König Milan begann einzulenken. Da auf bulgarischer Seite
wenig Neigung zu bestehen schien, sich ungünstige Bedingungen
aufzwingen zu lassen, sandte Graf Kälnoky den Grafen Kheven-
hüller mittels Extrazuges in das bulgarische Hauptquartier nach
Nisch, um dem Fürsten Alexander für den Fall seines Nichtein-
lenkens mit dem Einmärsche österreichischer Truppen in Serbien
zu drohen. Der österreichische Schritt war erfolgreich, konnte aber
Rußland auf den Plan rufen.
Bismarck, der sich mit aller Schärfe auf den Standpunkt des
Drei-Kaiser-Bündnisses stellte, durfte es als Erfolg seiner Haltung
buchen, daß Österreich in Petersburg erklärte, es werde ohne vor-
hergehende Verständigung mit seinen Alliierten nicht in Serbien
einrücken. Er sei nicht berechtigt, schrieb Bismarck am 6. Dezember
1885 an den deutschen Botschafter in Wien4, Prinzen Heinrich VII.
Reuß, die österreichische Politik zu kritisieren, „aber daß wir unsere
eigene auf diesem Wege eventuell bis zum Bruch mit Rußland mit
1 Gr. Pol. Nr. 957.
2 Gr. Pol. Nr. 958.
3 Gr. Pol. Nr. 962.
4 Gr. Pol. Nr. 969.
86
1885
engagieren lassen, wird man in Wien nicht erwarten können“. Immer
wieder wies er auf die Abgrenzung der russischen und österreichi-
schen Interessensphären an der serbisch-bulgarischen Grenze hin,
dabei eine Mitverantwortlichkeit für ein etwaiges Eingreifen Öster-
reichs auf dem Balkan rundweg ablehnend. Die abwartende Ruhe,
ließ er am 13. Dezember 1885 nach Wien schreiben, sei schwerer als
ein rascher Entschluß, aber nützlicher1. „Die Ereignisse auf der
Balkanhalbinsel haben für mich aus dem Gesichtspunkt der Bewah-
rung des Friedens zwischen Österreich und Rußland das größte In-
teresse; ich weiß aber keinen anderen Rat als Zurückhaltung. Wenn
man nicht sicher über das ist, was geschehen muß, und das ist hier
niemand, so tut man am besten nichts: dans le doute abstiens-toi1 2.“
Im Sommer 1886, nachdem Rußland durch die endgültige Schlie-
ßung des Hafens von Batum einen lange gehegten Wunsch ver-
wirklicht hatte, da das Bestehen dieses Hafens gemäß den Festset-
zungen des Berliner Vertrages sich als für Rußland sehr nachteilig
herausgestellt hatte3, wurden russische Bestrebungen bemerkbar,
den deutsch-österreichischen Beziehungen entgegenzuwirken. Ein-
flußreiche Freunde Deutschlands in Rußland hegten schon immer
den Wunsch, Deutschland möge sich mit Rußland allein verständigen
und Österreich fallen lassen4.
Die erhebliche Belastung der Beziehungen zwischen den drei
Kaisermächten durch die Vorgänge in Bulgarien, wo im August 1886
Fürst Alexander entthront wurde, bald darauf aber zurückgekehrt
war, um anfangs September endgültig abzudanken und das Land
zu verlassen, wurde durch einen Besuch des Prinzen Wilhelm beim
Zaren am 12. September 1886, soweit die russische Seite in Frage
kam, ausgeglichen. Die Entsendung des Prinzen entsprach einem
Wunsche Kaiser Wilhelms I., während der Vater des Prinzen, Kron-
prinz Friedrich Wilhelm, dagegen zu wirken versuchte. Der Kaiser
entschied jedoch, daß es bei der Reise sein Bewenden haben solle5.
Bismarck ließ für den Prinzen einen Instruktionsentwurf bearbeiten,
als dessen wesentlichster Inhalt die Befestigung des Drei-Kaiser-
Bündnisses und damit des europäischen Friedens hervortritt6. In
der bulgarischen Frage blieb Bismarck unverändert seiner Absicht
getreu, Zurückhaltung zu üben. Der österreichische Einfluß auf
dem Balkan schien ihm nicht hinreichend wichtig, um seinetwegen
den Frieden Europas in Frage zu stellen7.
1 Gr. Pol. Nr. 972.
2 Im Zweifelsfalle übe Zurückhaltung.
8 Gr. Pol. Nr. 973—976.
4 Gr. Pol. Nr. 980.
5 Gr. Pol. Nr. 981—984.
6 Gr. Pol. Nr. 985.
7 Gr. Pol. Nr. 987.
SJ
Die Bismarckzeit
Die durch den Besuch des Prinzen Wilhelm in Brest-Litowsk
geförderte deutschgünstige Stimmung im amtlichen Rußland hielt
nicht lange vor, denn schon im November 1886 beklagte man sich
wieder über nicht genügende Vertretung der russischen Wünsche
durch Deutschland. Der Zar beschwerte sich, daß bei allen Bal-
kanangelegenheiten deutscherseits immer auf Österreich Rücksicht
genommen und von der Schonung österreichischer Interessen in
Serbien und ähnlichen Dingen gesprochen werde1. In zunehmendem
Maße befreundete man sich in Rußland mit dem Gedanken eines
Krieges mit Österreich1 2 und wünschte, Deutschland auf dem Balkan
und Österreich gegenüber weiter vorzuschieben als bisher. Bis-
marck erklärte daraufhin: „Drohen werden wir in Wien nicht;
man droht uns zuviel in der russischen Presse, als daß wir uns
Österreich entfremden könnten3/'
Botschafter v. Schweinitz tat inzwischen alles, um bei dem Zaren
nicht die fixe Idee sich festsetzen zu lassen, daß nach einem Thron-
wechsel in Deutschland der deutsch-russische Krieg unvermeidlich
sei4. Bismarcks Absicht blieb unverändert die gleiche, das Drei-
Kaiser-Bündnis weiter zu spinnen, solange noch ein Faden daran
sei. Sein Mißtrauen gegen Rußland wurde erheblich dadurch ge-
steigert, daß in Paris russische Eröffnungen im Sinne gemeinsamer
antideutscher Politik gemacht worden sein sollten.
Bismarcks lebhaftes Eintreten für gute deutsch-russische Be-
ziehungen erregte in der Donaumonarchie, jedenfalls bei einem
großen Teile der Wortführer der öffentlichen Meinung und ganz
besonders in Ungarn, allmählich lebhafte Abneigung. In Ungarn,
wo eine stark chauvinistische und antirussische Stimmung herrschte,
war man mit dem Drei-Kaiser-Bündnisse schon seit längerer Zeit
nicht mehr zufrieden und verlangte ein energisches Vorgehen der
Wiener Regierung in der bulgarischen Frage. Bismarck aber wies
es durchaus ab, Deutschlands Kräfte für egoistische ungarische
Zukunftspläne in Vorspann zu stellen. Das Bündnis mit Österreich-
Ungarn bedeutete ihm nur eine Versicherung des Besitzstandes,
nicht aber eine Erwerbsgenossenschaft5. In Bulgarien sprach er
Rußland das Vorrecht zu und wünschte nicht, Deutschland um
Bulgariens willen in einen von Österreich provozierten Krieg hin-
einziehen zu lassen, nur um ungarische Ambitionen oder Revanche-
gelüste gegen Rußland zu befriedigen, da Frankreich sicher den
Kriegsfall zu einem Angriffe auf Deutschland benutzen würde6.
1 Gr. Pol. Nr. 991.
2 Gr. Pol. Nr. 993.
3 Gr. Pol. Nr. 996.
4 Gr. Pol. Nr. 998.
6 Gr. Pol. Nr. 1008.
6 Gr. Pol. Nr. 1009.
88
1886
Österreich sollte Rußland in Bulgarien gewähren lassen, während
Serbien zu Österreichs Zone gehöre.
Ohne Bismarcks mäßigenden Einfluß wäre es im Spätherbste
1886 vielleicht doch zum Kriege zwischen Rußland und Österreich
um Bulgariens willen gekommen. Immer wieder ließ Bismarck nach
Wien mitteilen, zwischen Österreich und Deutschland bestehe ledig-
lich ein Defensivbündnis, dessen Tragweite man an der Donau nicht
überschätzen solle; Deutschland wünsche nicht, aus der Linie seiner
ausschließlich deutschen Interessen herauszutreten, und betrachte es
als die Hauptaufgabe seiner Politik, die Freundschaft der drei
Kaiserhöfe zu befestigen1. Als Bismarck in Wien öffentlich fest-
gestellt sehen wollte, daß es sich zwischen den beiden Mächten
nur um ein Defensivbündnis handele, äußerte Graf Kälnoky seine
schmerzliche Enttäuschung, was Bismarck zum Verzicht auf seine
Absicht veranlaßte1 2.
Nunmehr regte Österreich an, die ostrumelische Frage vor
das Forum aller Signatarmächte des Berliner Kongresses zu bringen.
Bismarck überlegte daraufhin ernstlich, ob die Fortsetzung des
Bündnisses mit Österreich angezeigt sei. „Die Maßlosigkeit der An-
sprüche, welche Graf Andrässy an unser österreichisches Bündnis
stellt3, das Verlangen einer vollständigen Einstellung des Deutschen
Reiches in den Dienst ungarischer Wünsche, muß uns für die Fort-
setzung des Bündnisses sehr bedenklich machen. Wir beabsichtigen
nicht, durch das Bündnis uns an einen ungarischen Kometenschweif
zu binden, sondern einen regelrechten Kreislauf in berechenbaren
Dimensionen herzustellen4“. Für diese Haltung gegenüber Öster-
reich waren die ungünstigen Berichte mitbestimmend, die Bismarck
über den Zustand des dortigen Heerwesens, der Vorräte und Zeug-
häuser erhielt5.
Kaiser Franz Joseph war ernstlich verstimmt und fühlte sich
ganz persönlich von Deutschland verlassen. In diesem Sinne sprach
er mit dem deutschen Militärattache Obersten Grafen v. Wedel6.
Bismarck spielte daraufhin auf die Möglichkeit eines bevorstehenden
deutsch-französischen Krieges an und ließ sagen, es sei kein Be-
weis von Wohlwollen, wenn Österreich auf Deutschlands schwierige
Lage so wenig Rücksicht nehme und nicht verstehen wolle, daß
Deutschland den Krieg mit Rußland zu vermeiden suche.
Aber auch der Zar war tief verstimmt. Bismarck ließ im De-
1 Or. Pol. Nr. 1014, 1015.
2 Or. Pol. Nr. 1017.
3 Graf Andrässy hatte am 13. November 1886 in den Delegationen von der un-
natürlichen Gruppierung des Drei-Kaiser-Bündnisses und von der unhaltbaren
Stellung gesprochen, in der sich Deutschland befinde.
4 Gr. Pol. Nr. 1022.
5 Gr. Pol. Nr. 1023.
* Gr. Pol. Nr. 1025.
89
Die Bismarckzeit
zember 1886 einen auf seine Person berechneten Erlaß für den Bot-
schafter v. Schweinitz entwerfen1 und das Schriftstück vorerst dem
Minister v. Qiers zur Kenntnis mitteilen1 2. Dieser erklärte gerade-
heraus, der Zar wolle kein Bündnis mit Deutschland gegen Öster-
reich, er möchte aber ein Bündnis ohne Österreich; Österreich
stehe zwischen Deutschland und Rußland3. Die Art, wie der Zar
den Bismarckschen Erlaß, den ihm nach gewissen Änderungen Herr
v. Qiers am 4. Januar 1887 vorlas, aufnahm, erfüllte Bismarck mit
der Sorge, daß im Falle eines französischen Angriffes auf Deutsch-
land eine Rückendeckung durch Rußland wie 1870 voraussichtlich
ausbleiben dürfte. In seiner so oft erwähnten Reichstagsrede vom
11. Januar 1887 zur Septennatsvorlage hob er die deutsch-öster-
reichische Freundschaft stark hervor. Einen Bruch mit Rußland
wegen der bulgarischen Frage wies er weit von sich und sprach dabei
die berühmt gewordenen Worte: „Was ist uns Bulgarien?“ „Es ist
uns vollständig gleichgültig, wer in Bulgarien regiert, und was aus
Bulgarien überhaupt wird, — das wiederhole ich hier; ich wieder-
hole alles, was ich früher mit dem viel mißbrauchten und totgerit-
tenen Ausdruck von den Knochen des pommerschen Grenadiers
gesagt habe: die ganze orientalische Frage ist für uns keine Kriegs-
frage.“
Diese Rede bewirkte eine erhebliche Ernüchterung der öffent-
lichen Meinung in Österreich. Kaiser Franz Joseph war „ernst und
bis zu einem gewissen Grade niedergeschlagen“, wie der deutsche
Militärattache in Wien, Oberst Graf Wedel, am 15. Januar 1887 be-
richtete4, erklärte sich aber bereit, die Mittel zu einer annehmbaren
Auseinandersetzung mit Rußland zu suchen und zu finden.
Wieder einmal war es der Bismarckseben Staatskunst gelungen,
die innere Gegensätzlichkeit der östlichen Kaisermächte auf dem
Balkan zu bannen und den Krieg zu vermeiden. Aus allen Doku-
menten dieser Epoche tritt aber klar hervor, daß es nur einer ganz
überlegenen Staatskunst und nur einer Persönlichkeit von unbe-
strittenem internationalen Ansehen gelingen konnte, ein deutsches
Bündnis mit Rußland und Österreich-Ungarn zugleich in die Zu-
kunft hinüberzuretten.
Der Streit um Bulgarien war im Frühjahr 1887 noch keineswegs
erledigt. Da man in Rußland, nachdem eine bulgarische Regent-
schaft die Regierung übernommen hatte, immer noch eine Rückkehr
des Fürsten Alexander befürchtete, bildete Bismarcks abweisendes
Verhalten gegenüber einer bulgarischen Mission, die bei den Groß-
mächten herumreiste, um sich dort für die Gestaltung der bulga-
1 Or. Pol. Nr. 1001.
2 Gr. Pol. Nr. 1002.
3 Gr. Pol. Nr. 1003.
4 Gr. Pol. Nr. 1027.
90
1887
rischen Verhältnisse Rat zu holen, eine Beruhigung für Rußland.
Für den Zaren war es Ehrensache geworden1, eine Rückkehr des
Battenbergers nach Bulgarien unter allen Umständen zu verhindern.
Man wünschte in Petersburg, einen provisorischen Regenten von
russischer Nationalität nach Bulgarien zu entsenden. Da Bismarck
diesen Wunsch unterstützte, schlug Rußland den General Ernroth
vor. Für diese Kandidatur suchte Bismarck bei den Mächten Stim-
mung zu machen, ohne aber den ersten Schritt zu tun1 2; auf die Rolle
des „bouc emissaire“, wie zur Zeit des Berliner Kongresses, wollte
er nicht noch einmal hineinfallen, wie er am 13. Juni 1887 an
Schweinitz schrieb.
Am 7. Juli 1887 wählte die in Tirnowo zusammengetretene
große Sobranje den Prinzen Ferdinand von Coburg zum Fürsten von
Bulgarien. Dieser war gewillt, bereits im August feierlich in Sofia
einzuziehen. In Berlin hatte man sich schon bereit erklärt, den
General Ernroth als provisorischen Regenten zu unterstützen. Rus-
sischerseits lag der Wunsch vor, den Coburger wieder zu besei-
tigen, Österreich aber wollte ein Erscheinen der Russen in Bulgarien
unter keinen Umständen dulden. Auch wollte Kaiser Franz Joseph
der Ernennung des Generals Ernroth seine Zustimmung nicht
geben3. Bismarck aber hielt unerschüttert an seiner „Demarkations-
linie“ fest, die Bulgarien zu Rußland und Bosnien ebenso wie
Serbien zu Österreich wies4. „Die orientalische Frage ist ein Ge-
duldspiel; wer warten kann, gewinnt.“
Der Rückversicherungsvertrag vom 18. Juni 1887
Bei solchen Gegensätzlichkeiten zwischen Rußland und Öster-
reich-Ungarn war an eine Erneuerung des Drei-Kaiser-Bündnisses
nicht zu denken. Schon am 17. Dezember 1886 hatte Schweinitz
aus Petersburg gemeldet, daß eine amtliche Mitteilung der russi-
schen Regierung im „Regierungsboten“ eine Absage an Österreich
enthalte. Graf Peter Schuwalow bemühte sich inzwischen um einen
Vertragsentwurf für ein deutsch-russisches Geheimabkommen, das
er an die Stelle des Drei-Kaiser-Bündnisses zu setzen wünschte und
überbrachte einen solchen Entwurf am 1Ö. Januar 1887 dem Grafen
Herbert Bismarck5. Bismarck war mit diesem Entwürfe im wesent-
lichen einverstanden, hoffte aber doch noch auf eine Beteiligung
Österreichs 6.
1 Gr. Pol. Nr. 1030.
2 Qr. Pol. Nr. 1040, 1043.
3 Qr. Pol. Nr. 1053.
4 Qr. Pol. Nr. 1052.
5 Qr. Pol. Nr. 1063.
6 Qr. Pol. Nr. 1065.
91
Die Bismarckzeit
Im April 1887 wurde es klar, daß der Zar unter keinen Um-
ständen wieder mit Österreich abschließen wollte1. In Wien fürch-
tete man die Verantwortung, falls die vertragsmäßige Fühlung
mit Rußland verloren ging, und bekundete daher die Absicht, das
Drei-Kaiser-Bündnis zu erneuern. Bismarck ließ daraufhin nach Wien
mitteilen, daß der Zar einer Erneuerung des Bündnisses zu dreien
abgeneigt sei1 2; dem Grafen Schuwalow aber hatte er offen erklärt,
Deutschland sei und bleibe vertragsmäßig verpflichtet, Österreich
gegen einen Angriff Rußlands von Hause aus mit der vollen ver-
fügbaren Macht beizustehen.
So kam es unter erheblichem Mißtrauen Bismarcks gegen Ruß-
land im Sommer 1887 zum Abschluß des sogenannten Rückver-
sicherungsvertrages. Um das Mißtrauen Rußlands zu entkräften,
hatte sich Bismarck entschlossen, dem Grafen Paul Schuwalow am
12. Juni 1887 von dem Inhalte des deutsch-österreichischen Ver-
trages Kenntnis zu geben. Daraufhin übersandte ihm Schuwalow am
13. Juni den Gesamtentwurf das neuen Geheimvertrages. Bismarck
suchte aber zu vermeiden, daß Rußland die für Deutschland aus
dem Geheimabkommen zu erwartenden Vorteile etwa überschätzte.
Darauf ist es auch wohl zurückzuführen, daß er schließlich die
Vertragsdauer auf drei statt auf fünf Jahre vorschlug3; zu fünf
Jahren wäre Bismarck bereit gewesen, wenn früher und einfacher
abgeschlossen worden wäre; die russischen Zögerungen hatten ihn
bedenklich gemacht. „Schuwalow nahm an, daß unser Vertrags-
bedürfnis stärker sei, als es ist, und ich wünschte, ihm diese Über-
schätzung zu benehmen4“.
Der noch heute in der historischen Literatur leidenschaftlich
umstrittene Rückversicherungsvertrag vom 18. Juni 18875 6 bestand
aus einem Hauptvertrage von sechs Artikeln und einem „ganz ge-
heimen Zusatzprotokoll“ von drei Punkten. Falls eine der beiden
Mächte sich mit einer dritten Großmacht im Kriege befinden sollte,
hatte die andere Partei eine wohlwollende Neutralität zu bewahren
und die Lokalisierung des Streites zu versuchen. Diese Bestimmung
sollte auf einen Krieg gegen Österreich oder Frankreich keine An-
wendung finden, falls dieser Krieg durch einen Angriff einer der
beiden vertragsschließenden Mächte hervorgerufen wurde.
Im zweiten Artikel erkannte Deutschland die geschichtlich er-
worbenen Rechte Rußlands auf der Balkanhalbinsel und seinen vor-
wiegenden und entscheidenden Einfluß in Bulgarien und Ostru-
1 Gr. Pol. Nr. 1073.
2 Gr. Pol. Nr. 1078, 1080.
3 Gr. Pol. Nr. 1093.
4 Randbemerkung Bismarcks zu einem Berichte des Botschafters v. Schweinitz
vom 23. Juni 1887. Gr. Pol. Nr. 1093.
6 Gr. Pol. Nr. 1092.
92
1887
melien an. Beide Höfe verpflichteten sich, keine Änderung des
status quo auf dem Balkan ohne vorheriges Einverständnis zuzu-
lassen.
Artikel 3 stellte den „europäischen und gegenseitig bindenden
Charakter des Grundsatzes der Schließung der Meerengen des
Bosporus und der Dardanellen“ fest. Die Mächte wollten gemein-
sam darüber wachen, daß die Türkei von dieser Regel keine Aus-
nahme zugunsten der Interessen irgendeiner Regierung machen und
nicht etwa den Teil ihres Reiches, den die Meerengen bildeten, für
militärische Operationen einer kriegführenden Macht hergeben
dürfte.
Das „Zusatzprotokoll“ enthielt hinsichtlich Bulgariens das Ver-
sprechen Deutschlands, Rußland bei der Wiederherstellung einer
geordneten und gesetzmäßigen Regierung in Bulgarien beizustehen.
Deutschland versprach ferner, in keinem Falle seine Zustimmung
zur Wiedereinsetzung des Prinzen von Battenberg zu geben. Ferner
verpflichtete sich Deutschland für den Fall, daß Rußland sich in
die Notwendigkeit versetzt sehen sollte, die Aufgabe der Vertei-
digung des Zuganges zum Schwarzen Meere selbst zu übernehmen,
zu wohlwollender Neutralität und zur moralischen und diplo-
matischen Unterstützung der von Rußland für notwendig erach-
teten Schritte.
In Rußland war man von dem Vertrage durchaus befriedigt, und
kein Gefühl der Enttäuschung schien zurückgeblieben1. Dabei hatte
Schweinitz stets betont, daß Deutschland weder sein Bündnis mit
Österreich noch seine Freundschaft mit irgendeiner anderen Macht
aufs Spiel setzen wolle. Der Zar hatte den Termin zur Erneuerung
des Drei-Kaiser-Bündnisses einfach ablaufen lassen, und Bismarck
war auf den Gedanken seiner Verlängerung gegenüber den russi-
schen Staatsmännern nicht mehr zurückgekommen, weil die Russen
nicht den Eindruck gewinnen sollten, als wenn Deutschland und
Österreich besorgter und friedensbedürftiger wären als Rußland
selbst.
Als Bismarck diese Gedankengänge am 30. Mai2 nach Wien
mitteilen ließ, sprach er sich über die nunmehr geschaffene Lage
deutlich aus. Es hieß in seiner Weisung für den dortigen Bot-
schafter: „Ein großer Krieg, der ganz Europa umfaßte, würde aller-
dings nach Ansicht Seiner Durchlaucht ,. . eine allgemeine Kala-
mität sein: er möchte ausfallen, wie er wollte, so würden alle Be-
teiligten schwer dadurch geschädigt werden. Dennoch ist es aber
Seiner Durchlaucht Überzeugung, daß wir nicht nur vollkommen
widerstandsfähig sind, sondern daß die Chancen schließlich nicht
zugunsten Frankreichs und Rußlands stehen würden, sobald nur die
1 Gr. Pol. Nr. 1093.
3 Gr. Pol. Nr. 1095.
03
Die Bismarckzeit
Kräfte Deutschlands und Österreichs fest geeinigt bleiben und, durch
keine Verwicklungen mit Italien beschränkt, bei einem ungerechten
Angriffskriege in der Verteidigung den Feinden gegenüber-
stehen und für ihre Existenz zu fechten haben würden. Schon allein
zwischen uns und Frankreich würde auf den Ausfall des Krieges
die Frage, für wen es ein Angriffs- und für wen ein Verteidigungs-
krieg sei, erheblichen Einfluß üben. Ein deutscher Angriff auf
Frankreich würde dort mehr Kräfte zur Hebung bringen, als für
einen französischen Angriff auf Deutschland wirksam werden könn-
ten; und ebenso würde in ganz Deutschland und in Österreich die
Energie des Widerstandes gegen einen russischen Angriff eine sehr
viel größere sein als diejenige, welche in einem wegen orienta-
lischer Interessen und Machtfragen begonnenen Kriege zu unserer
Verfügung stehen würde. Wir werden uns deshalb, soweit der Rat
des Herrn Reichskanzlers befolgt wird, durch keine Art franzö-
sischer Provokationen und Unverschämtheiten zu einer aggressiven
Rolle drängen lassen; sollten wir dennoch in die Lage gebracht
werden, uns zu irgendeiner Zeit mit einer russisch-französisqhen
Koalition im Kriege zu befinden, so würde das nach Ansicht Seiner
Durchlaucht eine bedauerliche und opfervolle, aber keineswegs eine
verzweifelte Situation sein1“.
In dieser Weisung Bismarcks ist die ganze Problematik un-
serer Auseinandersetzungen über die Frage der Schuld am Welt-
kriege schon vorgedeutet, und es ist eine melancholische Betrach-
tung, sich vorzustellen, welchen Ausweg Bismarck 1914 aus der
für Deutschland so unheilvoll ernst gewordenen Lage erstrebt haben
würde!
Die Schwierigkeiten der deutschen Politik waren durch den
Rückversicherungsvertrag zweifellos gewachsen. So war es schon
mißlich, daß die Tatsache dieses Vertrages dem Kaiser Franz Joseph
nicht mitgeteilt werden durfte. Bismarck entschloß sich, die Be-
ziehungen zwischen den drei Kaisermächten weiterhin ebenso zu
pflegen, als wenn das Drei-Kaiser-Bündnis nochmals erneuert
worden wäre1 2. Daß der Kaiser Franz Joseph gegen Deutschland
mißtrauisch werden könnte, falls er den Abschluß des Rückver-
sicherungsvertrages erführe, glaubte Bismarck nicht, schätzte auch
jedenfalls die Gefahr eines österreichischen Mißtrauens geringer
ein als die eines russischen. Kaiser Franz Joseph müsse annehmen,
meinte Bismarck, zumal, wenn das deutsch-österreichische Bündnis
verlängert würde, daß Deutschland durch den Rückversicherungs-
vertrag nur für drei Jahre die Möglichkeit eines russisch-franzö-
1 Graf Herbert Bismarck an den Botschafter in Wien, Prinzen Heinrich VII. Reuß,
30. Juni 1887. Gr. Pol. Nr. 1095.
2 Gr. Pol. Nr. 1098.
94
1887
sichen Bündnisses habe aus der Welt schaffen wollen1. In diesem
Sinne bat Bismarck seinen Monarchen, als Kaiser Franz Joseph sich
Ende Juli 1887 zu einem Besuche Kaiser Wilhelms I. in Gastein
anschickte, keine Andeutung über den Rückversicherungsvertrag
zu machen. Der Haupteffekt des Vertrages bleibe immer, „daß wir
drei Jahre hindurch die Zusicherung haben, daß Rußland neutral
bleibt, wenn wir von Frankreich angegriffen werden. Einen Angriff
Frankreichs auf Deutschland infolge innerer französischer Zustände
und Vorgänge halte ich nach wie vor für die nächstliegende Wahr-
scheinlichkeit einer Friedensstörung in Europa, viel wahrschein-
licher als die eines russischen Orientkrieges1 2“.
Die Veröffentlichung des deutsch-österreichischen Bündnisses
Es war nur eine logische Folge der Nichtverlängerung des Drei-
Kaiser-Bündnisses, daß Deutschland, wenn es Österreich nicht ver-
lieren wollte, auch diesem gegenüber irgendeinen vertrauensvollen
Schritt tun mußte. Einen solchen erblickte Bismarck in einer zu gün-
tiger Stunde erfolgenden Veröffentlichung des deutsch-österreichi-
schen Geheim Vertrages von 1879. Noch vor der Unterzeichnung des
deutsch - russischen Rückversicherungsvertrages hatte daher Bis-
marck in Wien erklären lassen, er halte es für besser, wenn das
deutsch-österreichische Bundesverhältnis veröffentlicht würde. In
Wien war man damit einverstanden, und es handelte sich nur noch
um die Wahl des günstigen Augenblickes3.
Schwierig war für Bismarck bei seinen Verhandlungen mit
Rußland über den Rückversicherungsvertrag immer die Entschei-
dung der Frage gewesen, wieweit Rußland in die deutsch-öster-
reichischen Bündnisbeziehungen eingeweiht werden durfte. In Ruß-
land kannte niemand den Inhalt des Vertrages von 1879, also auch
nicht seine gegen Rußland gerichtete Spitze. Graf Schuwalow, mit
dem Bismarck verhandelte, hatte nur unbestimmte Nachrichten über
den Inhalt des Vertrages und unterschätzte daher seine Tragweite.
Der Kanzler hatte ihm nur ausweichend gesagt, der Bestand sowohl
Österreichs sowie Rußlands als unabhängiger europäischer Groß-
mächte sei für das europäische Gleichgewicht und für Deutschlands
Zukunft in demselben unentbehrlich4.
Bismarck wünschte, bei passendem Anlaß auch das italienische
und englische Kabinett mit dem deutsch-österreichischen Bündnis
vertraulich bekannt zu machen. Österreich dagegen wollte den Inhalt
1 Qr. Pol. Nr. 1099.
2 Qr. Pol. Nr. 1100.
s Qr. Pol. Nr. 1101, 1102.
* Qr. Pol. Nr. 1103.
95
Die Bismarckzeit
des Vertrages einstweilen nur Rußland mitgeteilt wissen. Bismarck
sagte daraufhin dem Grafen Schuwalow noch vor Abschluß des
Rückversicherungsvertrages, Deutschland stehe mit Österreich-Un-
garn in einem besonderen Vertragsverhältnis, das auch nach Ab-
lauf des Vertrages zu dreien fortdauern werde; Deutschland sei
und bleibe vertragsmäßig verpflichtet, Österreich gegen einen An-
griff Rußlands von Hause aus mit der vollen verfügbaren Macht
beizustehen. In Deutschlands Interesse liege es, daß keine der beiden
befreundeten Großmächte eine „tödliche Verwundung“ davontrage
oder in ihrer Unabhängigkeit geschädigt werde1.
Für die Beurteilung unserer Beziehungen zu Österreich-Ungarn
vor Ausbruch des Weltkrieges ist es wichtig zu wissen, welche
Stellung hierzu Bismarck, der Schöpfer des deutsch-österreichischen
Bündnisses, eingenommen hat. Ihm schien es sehr bedenklich, daß
man in Österreich-Ungarn, besonders in der Presse, die Tragweite
des Bündnisses überschätzte. Man glaubte sich daher berechtigt,
von Deutschland weitgehende Unterstützung in allen möglichen
Fragen zu fordern. Hierzu bemerkte Bismarck in einem Schreiben
an den Botschafter in Wien vom 23. Mai 18871 2: „Die Folge ist, daß
Deutschland der Untreue angeklagt wird, sobald es solche öster-
reichischen Interessen nicht vertreten will, welche nicht in dem-
selben Maße wie der ungeschmälerte Bestand des österreichisch-
ungarischen Gesamtstaates an sich zugleich ein deutsches Interesse
bilden. Es wird deshalb mit der Zeit immer notwendiger werden,
daß nicht nur Rußland, sondern auch die Völker Österreich-Ungarns
sich über die Tragweite unseres Bündnisses mehr als bisher klar
werden und aufhören, sie zu überschätzen. Wir können es nicht
hinnehmen, daß infolge dieser auf der Unkenntnis mit dem Inhalt
des Vertrages beruhenden Überschätzung Presse und Publikum in
Österreich mit unserer korrekten Handhabung des Bündnisses stets
unbefriedigt bleiben, weil man stets von uns erwartet, daß wir
auch alle Sonderinteressen der österreichischen Politik mit unserem
ganzen Gewicht und Einfluß und auf Kosten unserer friedlichen
Beziehungen zu Rußland unterstützen werden. Unser Vertrag legt
uns eine Verpflichtung zum Eintreten für solche österreichischen
Interessen, welche nicht auch die unseren sind, nicht auf, sondern
spricht nur von der Verteidigung Österreich-Ungarns gegen rus-
sischen Angriff.“
Eine schickliche Gelegenheit zu der von Wien gewünschten
Veröffentlichung des deutsch-österreichischen Vertrages — ein
Wunsch, den auch Bismarck teilte, da er Österreich gegenüber
irgendeinen vertrauensvollen Schritt tun wollte — stellte sich zu-
1 Vergl. die deutsche Erklärung anläßlich der russisch-österreichischen Kriegs-
gefahr von 1876. Siehe o. S. 38/39.
2 Qr. Pol. Nr. 1104. Wf \ '
96
1888
nächst nicht ein. Schließlich erfolgte die Veröffentlichung am 3. Fe-
bruar 1888 unter Vorausschickung eines kurzen, die Veröffent-
lichung begründenden Schriftsatzes, der auf die rein defensive Grund-
absicht des Vertrages hinwies. Bismarck war für die Veröffent-
lichung lebhaft eingetreten, da er glaubte, die Überzeugung von der
defensiven Notwendigkeit eines etwa kommenden Krieges werde
in der Bevölkerung Österreich-Ungarns leichter Eingang finden,
wenn sie den Bündnistext kenne1.
Die Entwicklung der englisch-deutschen Beziehungen bis 1887
Schon vor dem Berliner Kongreß war Bismarck für eine Er-
mutigung der englischen Absichten auf Ägypten eingetreten, um
so einen Ausgleich zwischen Rußland und England zu fördern1 2.
Damals vermochten sich die leitenden Männer der englischen Politik
in der ägyptischen Frage noch nicht zu einem Entschlüsse durch-
zuringen. Auf dem Berliner Kongresse hatte sodann Bismarck im
Interesse des Weltfriedens dauernd zwischen Rußland und Eng-
land vermittelt. Die anhaltende Unsicherheit Bismarcks über die
wahre Stellung Rußlands zu Deutschland führte ihn bereits im
Herbste 1879 zu Sondierungen in England. Damals schien England
zur politischen Unterstützung Deutschlands gegen Rußland bereit3.
Bismarcks Erwartungen wurden aber nicht in vollem Maße erfüllt,
da die englischen Staatsmänner stets Bedenken trugen, sich zu
binden4.
Im Verlaufe der Balkanwirren kam es schließlich zu einer völ-
ligen Vereinsamung Englands auf dem Kontinent. Diese verschärfte
sich noch durch Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und
England über Kolonialfragen. Bismarck sah das englische Kabinett
von einem Abenteuer zum anderen gleiten und folgerte daraus, daß
England keine zuverlässige politische Anlehnung mehr biete5. Diese
Auffassung hielt er auch gegenüber dem Kronprinzen Friedrich Wil-
helm fest, der bestrebt war, ein vertrauteres Verhältnis zwischen
England und Deutschland herzustellen6. In London ließ Bismarck
betonen, daß England bei einer etwaigen Annexion Ägyptens dem
Widerspruche Deutschlands nicht begegnen werde, die Freundschaft
mit dem britischen Reiche sei für Deutschland wichtiger als das
Schicksal Ägyptens.
1 Gr. Pol. Nr. 1109—1116.
2 Gr. Pol. Nr. 294. Vergl. o. S. 44 f.
3 Gr. Pol. Nr. 709, 712.
4 Gr. Pol. Nr. 713.
6 Gr. Pol. Nr. 725. (Berlin, 15. Januar 1882.)
6 Kronprinz Friedrich Wilhelm an Fürst Bismarck, 4. September 1882. Gr. Pol.
Nr. 726.
1 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
97
Die Bismarckzeit
Die auf Grund dieser Erklärungen freundlicher gewordenen
deutsch-englischen Beziehungen verschlechterten sich, als im Früh-
jahr 1884 deutsche Kolonialfragen zur Sprache kamen. Es handelte
sich zunächst um die Interessen deutscher Untertanen auf den Fidji,-
Inseln, sodann um das Gebiet von Angra Pequena. Auch über Neu-
Guinea, Kamerun, Santa Lucia und Sansibar sowie die Inseln im
Stillen Ozean erfolgten Aussprachen1. Zeitweise faßte Bismarck den
Erwerb der Insel Helgoland ins Auge1 2, stellte diesen Gedanken
aber als noch nicht spruchreif alsbald wieder zurück3 4.
Als Rußland im Frühjahr 1885 angriffsweise gegen Afgha-
nistan vorzugehen anfing, rückte die Gefahr eines englisch-russischen
Krieges, der auch auf die Türkei übergreifen konnte, in drohende
Nähe. Bismarck tat alles, um die Türkei neutral zu erhalten und so
den Krieg, falls er wirklich kam, zu begrenzen1. In London
schwankte die Stimmung zwischen Krieg und Frieden, beruhigte
sich aber allmählich und machte sich mit dem Gedanken eines
Schiedsgerichts vertraut5. Daß Kaiser Wilhelm I. ein solches Schieds-
richteramt nicht zu übernehmen wünschte, wurde in England alsbald
dahin ausgelegt, daß Deutschland zu einem Kriege zwischen Eng-
land und Rußland treiben wolle. Die englische Presse, so die
„Times“, empfahl daher eine Verbindung Englands mit Rußland
und Frankreich in antideutschem Sinne.
Vor dieser Gefahr wollte Bismarck Deutschland bewahren. In
einem Schreiben vom 27. Mai 1885 an den Kaiser kennzeichnete
er die große Gefahr eines russisch-englischen Bündnisses für
Deutschland. Ein solches sei jederzeit in der Lage, sich durch
Frankreich zu verstärken, wenn die russisch-englische Politik bei
Deutschland Widerstand finde: „es wäre die Basis für eine Koalition
gegen uns gegeben, wie sie gefährlicher Deutschland nicht gegen-
übertreten kann6“.
Nach dem am 8. Juni 1885 erfolgten Sturze des Kabinetts
Gladstone übernahm der deutschfreundliche Lord Salisbury die
Bildung des neuen Ministeriums. Er stellte die verloren gegangenes
Fühlung zu Bismarck alsbald wieder her und betonte in einem
Schreiben vom 2. Juli an Bismarck7, Englands Wunsch gehe nach
Frieden. Dem Botschafter Grafen Münster gegenüber bezog er sich
auf einen Ausspruch Bismarcks, daß der Frieden Europas gesichert
sei, wenn Deutschland, England und Österreich zusammenhielten8.
1 Gr. Pol. Nr. 760.
2 Schreiben vom 5. Mai 1884 an den Grafen Münster. Gr. Pol. Nr. 738.
3 Gr. Pol. Nr. 740, 741.
4 Gr. Pol. Nr. 764, 765.
ß Gr. Pol. Nr. 773—776.
e Gr. Pol. Nr. 776, 777.
7 Gr. Pol. Nr. 782.
8 Gr. Pol. Nr. 781.
98
1885
Dem Grafen Münster und seinem ihn im November 1885 ersetzendem
Nachfolger, dem Grafen Hatzfeldt, sprach Salisbury die Hoffnung
aus, daß das gute Verhältnis zu Deutschland, wie es alle vernünf-
tigen Menschen in England wünschten und wie es im Interesse
beider Nationen liege, sich immer mehr befestigen werde1. In der
bulgarischen Frage war Salisbury zur Zurückhaltung geneigt und
bekundete im Spätherbst 1885 wiederum den Wunsch nach mög-
lichst guten Beziehungen zu Deutschland1 2.
In England hatten schon früher leitende Männer ein Bündnis
mit Deutschland gewünscht. Bismarck bedauerte nur, daß sie nie-
mals ein Angebot gemacht hätten. „Wenn England klare und feste
Ziele hätte, und vor allem den Mut, sich öffentlich dazu zu be-
kennen, so würde es jedes Bündnis finden, welches es brauchen
könnte; aber wenn zu den parlamentarischen Schwankungen noch
Mangel an Entschlossenheit und Aufrichtigkeit kommt und die Nei-
gung, den Bundesgenossen mit einer gewissen egoistischen Bauern-
fängerei zu verbrauchen, so sieht sich jeder vor ... So lange Eng-
land für gemeinsame Interessen nicht gemeinsam fechten will, ohne
erst den Bundesgenossen ins Feuer zu schicken, wird es Bündnisse
schwerlich finden3“.
Koloniale Reibungen über Samoa und Sansibar verschlechterten
im Frühjahr 1886 die Beziehungen aufs neue. Nach Bismarcks
Überzeugung konnten fortdauernde Friktionen auf kolonialen Ge-
bieten schließlich zu einer politischen Gegnerschaft überhaupt
führen4. Er hielt ein scharfes Vorgehen für angezeigt und ließ am
29. September nach London schreiben, Deutschland sei zwar ge-
neigt, England überall und nicht nur in der ägyptischen Frage
gefällig zu sein, erwarte aber ein Entgegenkommen in den Kolo-
nialfragen betreffend Sansibar und Samoa5. Im Herbst 1886 nahmen
nun die Verhandlungen in London einen erfreulicheren Verlauf,
und auch zwischen England und Frankreich bahnte sich ein gutes
Einvernehmen in der ägyptischen Frage an, wobei Bismarck gern
die „Briefträgerrolle“ übernahm6.
Von besonderer Wichtigkeit für Bismarcks Bündnissystem waren
die Beziehungen zwischen England und Österreich. In England
wurde schon gegen Ende des Jahres 1885 der Wunsch laut, mit
Österreich in nähere politische Beziehungen zu gelangen. Man hoffte,
die Verfechtung der englischen Interessen im Nahen Orient haupt-
sächlich Österreich überlassen zu können7. Nach Salisburys Auffas-
1 Or. Pol. Nr. 785.
2 Gr. Pol. Nr. 786.
3 Berlin, 9. Dezember 1885. Gr. Pol. Nr. 789.
4 Gr. Pol. Nr. 790.
5 Gr. Pol. Nr. 797.
* Gr. Pol. Nr. 806.
7 Gr. Pol. Nr. 861.
7*
99
Die Bismarckzeit
sung war Österreich berufen und in der Lage, „den Teil der Auf-
gaben zu übernehmen, den England als Seemacht nicht ausführen
könne1“.
Bismarck vertrat den Standpunkt, Österreich könne England
wohl unterstützen, es aber nicht vertreten, und England sollte nicht
darauf rechnen, daß andere ihm die Kastanien aus dem Feuer
holten1 2. Zu einer aktiven Unterstützung der englischen Politik in
Orientfragen war er nicht zu bewegen3. Den für die deutsche
Politik richtigen Weg erblickte er allein „in der Erhaltung des
Friedens und in der Ausübung jedes uns in Wien möglichen Ein-
flusses zu diesem Zwecke4“. In England aber war man der Mei-
nung, daß zwischen ihm und Österreich eine Verständigung ohne
jede Schwierigkeit zustande kommen werde, sobald nur Bismarck
sie fördere5. Zu einer bindenden Verabredung kam es aber nicht,
da England sich in Rücksicht auf seine parlamentarische Regierung
nicht festlegen wollte. Bismarck hielt das auch gar nicht einmal
für nötig, sondern glaubte den Frieden schon gesichert, wenn
England nur durchblicken ließ, daß es einen Angriff auf Österreich
als Kriegsfall ansehen würde6. Immerhin wurde erreicht, daß eine
gewisse Solidarität der englisch-österreichischen Interessen für den
Fall russischer Übergriffe öffentlich bekundet wurde, so z. B. in
einer Rede Lord Salisburys vom 9. November 18867.
Der zweite Dreibundvertrag vom 20. Februar 1887
Am 20. Februar 1887 wurde der zweite Dreibundvertrag abge-
schlossen. Die erste Anregung zu seiner Erneuerung war von ita-
lienischer Seite ausgegangen8. Die beiden anderen Mächte gingen
gern darauf ein, da etwaigen französischen Annäherungsversuchen
an Italien dadurch die Spitze abgebrochen wurde. Frankreich
suchte damals tatsächlich zu einem Abkommen mit Italien zu ge-
langen und bot ihm dafür seine Unterstützung in Tripolis an9.
Italien hegte nun den Wunsch, innerhalb des Dreibundes etwas mehr
zur Geltung zu kommen10 und machte seinerseits Vorschläge, wonach
für den Fall eines Krieges 200000 Mann jenseits der Alpen zur
1 Gr. Pol. Nr. 863.
2 Gr. Pol. Nr. 864.
3 Gr. Pol. Nr. 867.
4 Gr. Pol. Nr. 873 (Friedrichsruh, 27. November 1886).
8 Gr. Pol. Nr. 874.
6 Gr. Pol. Nr. 875.
7 Gr. Pol. Nr. 878.
8 Gr. Pol. Nr. 820 (Wien, 10. Oktober 1885).
9 Gr. Pol. Nr. 829.
10 Gr. Pol. Nr. 831.
100
1887
Unterstützung der Deutschen nach dem Rhein oder durch Öster-
reich gegen die Russen geschickt werden sollten1.
Bismarck hatte hiergegen keine Bedenken, in Wien aber fürch-
tete man, zu neuen Verpflichtungen ohne entsprechende Gegen-
leistungen veranlaßt zu werden. Man wünschte dort eine Ver-
pflichtung Italiens in dem Sinne, daß es gemeinschaftliche Sache
mit Österreich machen sollte, falls Österreich ohne Herausforderung
seinerseits in einen Krieg mit Rußland verwickelt wurde1 2. Deutsch-
land erstrebte vor allem die italienische Beihilfe im Falle eines
Krieges gegen Frankreich3. Bei den langwierigen Verhandlungen
ergab sich wiederum mit voller Deutlichkeit, daß auf Italien in
einem Zukunftskriege nur gerechnet werden konnte, falls nicht
etwa England zu den Gegnern des Dreibundes gehörte4.
Der zweite Dreibundvertrag vom 20. Februar 1887 setzte eine
Dauer von fünf weiteren Jahren fest. Ein Separat vertrag zwischen
Deutschland und Italien vom gleichen Tage und für die gleiche
Dauer bestimmte, daß im Falle eines Krieges zwischen Italien
und Frankreich, der durch französische Ausdehnungsgelüste in
Nordafrika zum Nachteile Italiens hervorgerufen sei, Deutschland
auf Anruf Italiens .mit in den Krieg zu treten habe5.
Die Mittelmeerverständigung von 1887
Am 31. Januar 1887 berichtete der deutsche Botschafter in
London, Graf Hatzfeldt, über amtliche Annäherungsversuche der
italienischen Regierung in London. Als Bismarck erfuhr, daß die
geplante Verabredung in keiner Hinsicht gegen Österreich gerichtet
sein sollte, ließ er Lord Salisbury vertraulich sagen, Deutschland
würde sich über jede Annäherung der beiden Regierungen freuen
und eine Bürgschaft des Friedens darin erblicken. Wenn diese
beiden Mächte in Verbindung mit Österreich stark genug wären,
russische Friedensstörungen zu hindern, und wenn auf der anderen
Seite Deutschland und Frankreich einander so aufwögen, daß ein
Schwert das andere in der Scheide halte, so wäre damit das
Gleichgewicht und der Friede in Europa gesichert; beides hänge
nur von England ab6.
Gegen eine Allianz mit Italien hatte Salisbury große Bedenken,
wenn er sich auch darüber klar war, daß England durch längeres
1 Gr. Pol. Nr. 836.
2 Gr. Pol. Nr. 839.
3 Gr. Pol. Nr. 840.
4 Gr. Pol. Nr. 841 (Friedrichsruh, 27. Dezember 1886).
6 Gr. Pol. Nr. 858—860.
6 Bismarck an den Grafen Hatzfeldt, 3. Februar 1887. Gr. Pol. Nr. 883.
101
Die Bismarckzeit
Zögern m eine für seine Interessen gefährliche Vereinsamung ge-
drängt werden müsse. Bismarck förderte daher die italienisch-eng-
lischen Besprechungen nach Möglichkeit. England ließ er mitteilen,
daß es auch fernerhin auf Deutschlands Unterstützung in Ägypten
rechnen könne1. Eigene politische Wünsche habe Deutschland dort
nicht geltend zu machen. Die Voraussetzung für den Frieden sei,
daß Deutschland Frankreich gegenüber das Gegengewicht bilde,
während gegen Rußland das durch Italien und England beschützte
Österreich die Wage halte. Bismarck kam also der englischen
Auffassung vom Gleichgewicht der Kräfte in weitem Maße ent-
gegen.
Am 12. Februar 1887 einigten sich England und Italien durch
einen Notenaustausch über die Aufrechterhaltung des status quo
an den Küsten des Mittelmeeres, der Adria, des Ägäischen und des
Schwarzen Meeres. Im Bedarfsfälle sollte verhindert werden, unter
der Form einer Annexion, Okkupation, eines Protektorats oder auf
irgendeine andere Weise die bestehende Lage zum Nachteile der
beiden Mächte zu ändern. Italien versprach, das Werk Großbritan-
niens in Ägypten zu unterstützen, England bekundete seine Ge-
neigtheit, im Falle eines Angriffs durch eine dritte Macht die Aktion
Italiens auf jedem beliebigen anderen Punkte der Nordküste von
Afrika und besonders in Tripolitanien und in der Cyrenaika zu
unterstützen. Schließlich versprachen sich die beiden Mächte
wechselseitige Unterstützung im Mittelmeer für jeden Streitfall, der
zwischen ihnen und einer dritten Macht entstehen könnte1 2. Italiens
Wunsch, die beiden Noten möchten dem Schlußprotokolle des
Dreibundvertrages vom 20. Februar 1887 angefügt werden3, wo-
durch eine moralische Bindung auch Deutschlands für das Mittel-
meerabkommen erzielt worden wäre, lehnte Deutschland im Hin-
blick auf seine Beziehungen zu Rußland ab.
Die italienisch-englische Verständigung betrachtete man deut-
scherseits als einen nicht zu unterschätzenden und auch deutschen
Erfolg. England hatte durch diese Verständigung mit Italien die
weitgehendste Zusicherung gemacht, zu der es als parlamentarischer
Staat in der Lage war; es hatte versprochen, sich für den Fall
eines deutsch-französischen Krieges aktiv derjenigen Staatengruppe
anzuschließen, die für den Frieden im Nahen Orient eintrat. Ob
allerdings das englische Parlament diese Versprechungen erfüllen
würde, blieb abzuwarten4.
In Wien war man über diese Entwicklung sehr erfreut. Auch
1 Gr. Pol. Nr. 884 und 889.
2 Gr. Pol. Nr. 890, 891.
3 Siehe o. S. 100.
4 Gr. Pol. Nr. 893, 894.
102
1887
Bismarck hoffte, daß man dort auf eine von London ergehende An-
regung bereit sein würde, der Verständigung beizutreten1. Er er-
blickte darin eine „empfehlenswerte Vorsichtsmaßregel“1 2. Deutsch-
land sollte aber Rußland nicht dadurch mißtrauisch machen, daß es
sich gleichfalls an den englisch-italienisch-österreichischen Verhand-
lungen beteilegte. So erfolgte am 23. März 1887 der Beitritt Öster-
reich-Ungarns durch einen Notenaustausch zwischen dem Grafen
Kärolyi und Salisbury3.
Bald darauf erfolgte eine neue Annäherung Englands an
Deutschland. In einer vertraulichen Unterredung zwischen Salisbury
und dem Grafen Hatzfeldt am 2. August 1887 deutete ersterer eine
Wendung der englischen Politik an. Damals gerade hatte sich die
Lage zwischen Rußland und England durch die afghanische Grenz-
regelung vom 22. Juli 1887 entspannt.. Nunmehr deutete Salisbury
an, der wirkliche und gefährliche Gegner Englands wie Deutsch-
lands sei nicht Rußland, sondern Frankreich4.
Auch Bismarck trat für eine Annäherung Englands an Rußland
ein. Er wollte sie gern anbahnen und auch für Österreichs Hinzutritt
wirken; nur sollten sich England und Rußland nicht auf Kosten
Österreichs vertragen. Auch die Einbeziehung Italiens schien ihm
nicht unerreichbar5. Das Ergebnis seiner Bemühungen war Salis-
burys Entschluß, an seiner bisherigen Orientpolitik ohne Feindselig-
keit gegen Rußland festzuhalten6.
Die Verschlimmerung der Lage in Bulgarien7, wohin der Zar,
der die Wahl des Prinzen Ferdinand von Coburg nicht anerkannte,
gern einen russischen Thronverweser in der Person des Generals
Ernroth gesandt hätte, löste in Italien den Wunsch nach einer Mili-
tärkonvention zwischen den Mittelmeermächten aus, ein Gedanke,
auf den Salisbury nicht einging. Bismarck erklärte Crispi8, Italien
werde Deutschland auf seiner Seite finden, falls es etwa von Frank-
reich angegriffen würde. Als Gegenleistung versprach Crispi, der
Bismarck in Friedrichsruh im Oktober 1887 besuchte, Österreich mit
1Ö0000 bis 200000 Mann zu unterstützen, falls Rußland gegen die
Türkei militärisch vorginge oder in Bulgarien einrückte; unter keinen
Umständen könne Italien zugeben, daß Rußland am Mittelmeer
Fuß fasse9.
1 Or. Pol. Nr. 895—900.
2 Gr. Pol. Nr. 901.
3 Qr. Pol. Nr. 903—906.
4 Gr. Pol. Nr. 907.
6 Gr. Pol. Nr. 908.
6 Gr. Pol. Nr. 909—913.
7 Siehe o. S. 90/91.
8 Dieser war am 8. August 1887 zum italienischen Ministerpräsidenten und
Außenminister ernannt worden.
9 Gr. Pol. Nr. 916, 917.
103
Die Bismarckzeit
Wiederum erschien Bismarck, trotz seiner gewollten Zurück-
haltung in allen Fragen des Nahen Orients, als Mittelpunkt der euro-
päischen Politik.
In Konstantinopel stellten die Vertreter Österreichs, Italiens
und Englands im Herbste 1887 den Entwurf einer Vereinbarung der
drei Mächte auf, wonach die Pforte ihre Souveränitätsrechte über
Bulgarien keiner anderen Macht abtreten oder übertragen, dort auch
nicht einschreiten, aber auch keine Zwangsmaßregeln dulden durfte1.
Der Sinn der Abmachung war die Erhaltung des Sultans in antirussi-
schem Fahrwasser. In England zögerte man zunächst, wünschte
jedenfalls, vor einer Entscheidung von dem deutsch-österreichischen
Abkommen von 1879 Kenntnis zu erhalten1 2. Hierauf ging Bismarck
ein3. In diesem Zusammenhänge schrieb Bismarck am 22. November
1887 seinen später so berühmt gewordenen, fälschlich als Bündnisan-
gebot an England ausgelegten Brief an Lord Salisbury4. Salisbury
antwortete am 30. November und ließ seine Bedenken gegen die Ver-
ständigung zwischen England, Österreich und Italien gegenüber der
Türkei fallen.
Die endgültige Erledigung des Abkommens geschah dann in
der von England gewünschten Form, daß Österreich und Italien
am 12. bzw. 16. Dezember 1887 gleichlautende Noten an die eng-
lische Regierung richteten, die von dort zustimmend beantwortet
wurden5. Danach standen England, Österreich und Italien gegenüber
der bulgarisch-türkischen Frage geschlossen nebeneinander.
Die deutsch-französischen und deutsch-russischen Beziehungen seit
1885 und die Kriegsgefahr von 1887
Im Oktober 1885 war der bisherige Botschafter in London, Graf
Münster, an Stelle des zum Statthalter von Elsaß-Lothringen ernann-
ten Fürsten Hohenlohe zum Botschafter in Paris ernannt worden. Als
Militärattache stand ihm damals Oberstleutnant v. Villaume zur Seite.
Dieser gewann die Überzeugung, daß die Revanche-Idee in Frank-
reich noch keineswegs erloschen sei, und daß Deutschland sich
gegen Überraschungen sichern müsse6. Höhere französische Offiziere
scheuten sich nicht, öffentlich den Haß gegen Deutschland zu schü-
ren und den heiligen Krieg zu predigen, allen voran General Bou-
langer, der die „France militaire“ zu seinem Leiborgan erhob. Auch
erschien es Bismarck bedenklich, daß die Annäherungsversuche
1 Or. Pol. Nr. 918.
2 Gr. Pol. Nr. 924.
3 Gr. Pol. Nr. 927.
1 Gr. Pol. Nr. 930.
3 Gr. Pol. Nr. 932-940.
* Bericht vom 28. Februar 1886. Gr. Pol. Nr. 1223.
104
1886
Frankreichs an Rußland sich mehrten. Er machte daher den russi-
schen Botschafter in Berlin, Grafen Schuwalow, auf die politischen
Wirkungen eines Zustandes aufmerksam, der sich in deutschfeind-
lichen Agitationsreisen einflußreicher Franzosen wie Deroulede in
Rußland und in fraternisierenden Reden russischer Generale in
Frankreich bekunde1.
Ende September 1886 teilte der englische Geschäftsträger in
Paris dem Grafen Münster im Vertrauen mit, Rußland habe der
französischen Regierung Allianzangebote gemacht1 2. Man ging aber
in Paris auf die anscheinend vom Zaren selbst herrührenden Allianz-
fühler nur zögernd ein, da man die Anlehnung an Deutschland nicht
verlieren wollte, offenbar um Deutschlands Mitwirkung gegen die
englische Okkupation Ägyptens zu gewinnen.
Botschafter von Schweinitz wurde beauftragt, dem Ursprünge
dieser Allianzfühler nachzugehen. Nach seiner Meinung war die Ge-
fahr nicht allzu groß, daß der Zar sich an das republikanische Frank-
reich anschließen könnte, solange man ihm die Aussicht beließ, mit
deutscher Zustimmung an die Meerengen Vordringen zu können3.
Villaumes Anschauungen von einem französischen Kriegswillen
wurden im deutschen Generalstabe nicht überall geteilt. Der dama-
lige Generalquartiermeister Graf Waldersee hielt die Gefahr eines
französischen Angriffes nicht für vorliegend, rechnete aber damit,
daß Frankreich sofort zum Kriege schreiten würde, falls Deutsch-
land etwa von anderer Seite in ernste Verwicklungen geriete4. Bis-
marck ließ daher in London sondieren, was wohl England im Falle
einer kriegerischen Verwicklung zwischen Österreich und Rußland
und eines dann sicher eintretenden französischen Angriffs auf
Deutschland tun werde. Lord Churchill erwiderte, er halte in diesem
Falle eine Unterstützung Deutschlands durch England für möglich;
jedenfalls würde England den Schutz der deutschen Kolonien gegen
etwaige Angriffe übernehmen. Nach Bismarcks Ansicht wurde aber
das Schicksal unserer Schutzgebiete bei einem deutsch-französischen
Kriege niemals zur See, sondern lediglich durch die deutsche Land-
armee entschieden5. Der ihm allzu optimistisch scheinenden Auf-
fassung des Grafen Münster von der Friedensstimmung in Frank-
reich, die Münster in seinem Neujahrsglückwünsche dem Kaiser
Wilhelm I. selbst mitteilen wollte, trat Bismarck unter Hinweis darauf
entgegen, daß sich das vom Grafen Münster angezweifelte Vater-
landsgefühl der Franzosen, sobald Frankreich einmal im Kriege sei,
zu gleicher Höhe entwickeln würde, wie bei allen ähnlichen Vor-
1 Kissingen, 22. Juli 1886. Gr. Pol. Nr. 1199.
2 Gr. Pol. Nr. 1200.
3 9. November 1886. Gr. Pol. Nr. 1206.
1 16. November 1886. Gr. Pol. Nr. 1234.
5 11. Dezember 1886. Gr. Pol. Nr. 1235.
105
Die Bismarckzeit
kommnissen der französischen Geschichte. „Ich wünschte“, schrieb
er am 4. Januar 1887 an den Grafen Münster, „die Überlegenheit der
Deutschen im Vaterlandsgefühl, welche Euere Exzellenz entspre-
chend Ihrer eigenen Gesinnung bei Ihren Landsleuten voraussetzen,
bestände in Wahrheit“1. Graf Münster mußte seinen an den Kaiser
gerichteten Brief zurückziehen.
Im Frühjahr 1887 verschärften sich die Kriegsbesorgnisse. Auf
französischer Seite konnte damals ein Zweifel über die Friedens-
absichten Bismarcks gar nicht bestehen, nachdem er in seiner großen
Reichstagsrede vom 11. Januar 1887 mit aller Entschiedenheit er-
klärt hatte, Frankreich unter keinen Umständen angreifen zu wollen.
Aber ihn erfüllte die Tätigkeit des Generals Boulanger dauernd mit
Sorge, wie es ihn auch beunruhigte, daß sich der russische Botschaf-
ter in Paris, Baron Mohrenheim, mit großem Nachdruck für die
Belassung des Generals in seiner Stellung als Kriegsminister ein-
setzte. In Wien ließ Bismarck erklären, eine wirkliche Beunruhigung
vor einem Angriffe Deutschlands könne in Frankreich nicht wohl
vorhanden sein; Deutschland würde niemals einen Krieg aus dem
Grunde führen, weil es früher oder später wahrscheinlich doch zu
einem solchen kommen könnte; die Franzosen besäßen gar nichts,
was Deutschland reizen könnte; der Krieg bleibe immer ein großes
Übel, selbst für den siegenden Teil1 2. Auf die Wünsche der Militärs
komme es nicht an. „Das Militärische wird bei uns in erster Linie
durch Seine Majestät den Kaiser repräsentiert, und dieser sowohl
wie der Kronprinz sind allen kriegerischen Unternehmungen ab-
geneigt.“
An den Botschafter v. Schweinitz in Petersburg schrieb Bis-
marck am 25. Februar3, Deutschland werde den aussichtslosen Ver-
such, Frankreich als Großmacht zu vernichten, niemals unternehmen;
eine Nation von 40 Millionen Europäern von der Begabung und dem
Selbstgefühl der Franzosen könne man nicht vernichten; sollte es
aber zu einem Kriege kommen, so würde sich im Falle eines deut-
schen Sieges eine schonende Behandlung empfehlen, geradeso wie
Österreich gegenüber 1866. „Wenn ich im Reichstage anders ge-
sprochen habe, so geschah es, um vom Kriege abzuschrecken. Ge-
lingt letzteres nicht, so würden wir nach der ersten gewonnenen
Schlacht Frankreich unter günstigen Bedingungen den Frieden
bieten.“
Immer wieder wehrte sich Bismarck dagegen, wenn von einer
Militärpartei in Deutschland gesprochen wurde. Wenn es auf diese
ankäme, ließ er nach Wien schreiben4, so würden sämtliche euro-
1 Qr. Pol. Nr. 1241.
8 Berlin, 16. Februar 1887. Or. Pol. Nr. 1249.
3 Gr. Pol. Nr. 1253.
4 Gr. Pol. Nr. 1256.
106
1887
päischen Großstaaten unaufhörlich dicht vor dem Kriege stehen,
„denn die Mehrzahl des Militärs rasselt überall gern mit dem Säbel,
wenn sie es auch vielfach nur unter der Gewißheit tut, daß der
Friede nicht gebrochen werden wird.“
Im April 1887 erregte die Schnäbele-Affäre die öffentliche
Meinung in Deutschland und Frankreich aufs höchste. Bismarck
kam dem französischen Standpunkte weit entgegen und beseitigte
dadurch die Krisis1. Einen Monat später stellte Boulanger in der
französischen Deputiertenkammer den Antrag, im Herbste die Probe-
mobilmachung eines Armeekorps durchführen zu dürfen. Graf Mün-
ster erklärte sofort, daß Deutschland dann zu ähnlichen Maßnahmen
gezwungen sein würde2. Am 17. Mai erfolgte der Sturz des Kabinetts
Goblet, und General Boulanger wurde in das neue Ministerium Rou-
vier nicht mit übernommen, was auf die deutsch-französischen Be-
ziehungen entspannend wirkte.
Nunmehr erfolgten Annäherungsversuche Frankreichs in dem
Sinne, Deutschland zur Unterstützung des französischen Standpunk-
tes in der ägyptischen Frage mit Front gegen England zu bewegen3.
Bismarck war aber der Ansicht, daß Deutschland in Frankreich nie-
mals das Maß von Wohlwollen gewinnen könne, das für eine Ver-
stimmung mit England Ersatz zu bieten imstande sei. Dafür kam er
Frankreich auf anderen Gebieten entgegen, so in der Frage der Pro-
bemobilmachung eines Armeekorps im September, die fern von der
deutschen Grenze in Toulouse stattfinden sollte4, und auch anläßlich
eines vom 4. bis 8. Juli 1887 vor dem Reichsgericht in Leipzig statt-
findenden Landesverratsprozesses gegen einige Elsaß-Lothringer,
der das ganze weit verzweigte Spionagesystem Frankreichs gegen
Deutschland und den Anteil Schnäbeles an diesem Treiben klar-
stellte 5.
Inzwischen machte die russisch-französische Annäherung weitere
Fortschritte. Im August und September 1887 durchreiste Deroulede,
von den panslawistischen Kreisen überall lebhaft begrüßt, von neuem
das Zarenreich. Trotzdem glaubten weder Schweinitz noch der Ge-
schäftsträger Bernhard v. Bülow, daß der Zar zu einer Allianz mit
Frankreich entschlossen sei. Bismarck blieb mißtrauisch und meinte,
Alexander II. habe auch den türkischen Krieg nicht gewollt und ihn
dennoch geführt.
Eine fühlbare Entspannung der deutsch-russischen Beziehungen
aus dem Rückversicherungsvertrage hatte sich im Herbste 1887 noch
nicht ergeben, als in Berlin bekannt wurde, daß das russische Kaiser-
1 Gr. Pol. Nr.
2 Gr. Pol. Nr.
3 Gr. Pol. Nr.
4 Gr. Pol. Nr.
6 Gr. Pol. Nr.
1257—1264.
1265.
1269.
1273.
1274.
107
Die Bismarckzeit
paar im Spätherbste voraussichtlich einen Besuch in Berlin machen
werde. Angesichts der erneuten scharfen Angriffe der russischen
Presse und der ostentativen Auszeichnung deutschfeindlicher Per-
sönlichkeiten in Rußland hatte Bismarck dem Gedanken, als sei der
Friede für Deutschland wichtiger als für Rußland, überall, wo man
ihn voraussetzen konnte, entgegentreten lassen. „Wir lieben den
Frieden“, ließ er am 9. Oktober 1887 nach Petersburg schreiben1,
„und selbst siegreiche Kriege zu führen, widerspricht unseren Inter-
essen wie unseren Neigungen; aber wir sind stark genug, um jedem
Angriff, auch dem gleichzeitigen von Frankreich und Rußland, selbst
ohne Bundesgenossen gewachsen zu sein.“ Drohungen mit einer
russisch-französischen Koalition würden daher Deutschland nie zu
einem Entgegenkommen veranlassen, zu dem es nicht ohnehin bereit
sei. Als Großfürst Nikolaus während seiner Überfahrt von Teneriffa
nach Dünkirchen an Bord eines französischen Dampfers einen Trink-
spruch auf Frankreich ausgebracht hatte, der nach Meldungen fran-
zösischer Blätter auf einen baldigen gemeinsamen Krieg Rußlands
und Frankreichs gegen Deutschland anspielte, ließ Bismarck in Pe-
tersburg darüber Beschwerde führen, daß der Zar den jungen Groß-
fürsten nicht irgendwie öffentlich getadelt hätte; es sei offenbar gar
keine Disziplin mehr in der russischen Familie, und dieses letzte Er-
lebnis habe den Kaiser aufs tiefste verletzt1 2.
Als in Frankreich bekannt wurde, daß die Zarenfamilie am
18. November 1887 nach Berlin kommen wolle, warnten franzö-
sische Zeitungen schon vorher vor einem solchen Akte russischer
Schwäche3 4. Der Besuch kam aber doch zustande, und die beiden
Monarchen sprachen sich persönlich aus, Kaiser Wilhelm I. unter An-
lehnung an eine von Bismarck entworfene ausführliche Denkschrift
in französischer Sprache1. Diese Denkschrift war sehr bemerkens-
wert. Der Friedenswille des Zaren wurde darin anerkannt und als
selbstverständlich bezeichnet, denn selbst ein siegreicher Krieg werde
in mehr als einem Lande die Revolution entfesseln. An Vorwürfen
wurde nicht gespart: in Rußland hetze man zum Kriege und ermutige
Frankreich; der Rückversicherungsvertrag sei nicht öffentlich, und
während seiner Dauer rüste man schon für seinen Abbruch. So
müsse man in Deutschland den Eindruck gewinnen, als wolle Ruß-
land mit diesem Vertrage nur Zeit gewinnen, um die russischen und
französischen Rüstungen zu vollenden. Komme es aber zum Kriege,
so könne Österreich nicht umhin, die polnische Frage wieder auf-
leben zu lassen.
Der Zar, der mit seiner Familie auf der Rückseite von Kopen-
1 Qr. Pol. Nr. 1119.
2 Or. Pol. Nr. 1120. (Berlin, 12. Oktober 1887.)
3 Qr. Pol. Nr. 1124.
4 Gr. Pol. Nr. 1127.
108
1887
hagen nach Petersburg am 18. November in Berlin eintraf, um schon
abends weiterzufahren, gewährte auch Bismarck eine Audienz in
der russischen Botschaft. Er gab bei diesem Anlasse seinen fried-
lichen Gesinnungen und seinem Entschlüsse, Deutschland keinesfalls
anzugreifen, sowie sich auch auf keine aggressive Koalition einzu-
lassen, den unzweideutigsten Ausdruck. Auch bei dieser Gelegenheit
wiederholte Bismarck, daß ein Angriff Rußlands auf Österreich
Deutschland zum vertragsmäßigen Beistände verpflichten würde1.
In Petersburg betrachteten deutschfreundliche Kreise die Ergeb-
nisse des Zarenbesuches mit Genugtuung, da der Monarch der anti-
deutschen Agitation nunmehr Einhalt gebieten werde1 2, in Deutsch-
land blieb aber ein gewisses Mißtrauen dennoch zurück. Schon am
Tage nach dem Zarenbesuche gab Graf Herbert Bismarck Weisung,
etwaige feindselige Äußerungen der russischen Presse gegen
Deutschland zu sammeln, und tatsächlich hetzte schon Ende No-
vember der „Grashdanin“ wieder in der alten Weise gegen Deutsch-
land 3.
Die Wirkung des Zarenbesuches war also nur eine äußerliche
gewesen. Die Gegensätze ließen sich mit den Mitteln der Persönlich-
keitspolitik nicht mehr beschwören, zumal auch scharfe wirtschaft-
liche Gegensätze die beiden Länder damals entfremdet hatten. Ruß-
land hatte auch hier den ersten Schritt getan und im Mai 1887 einen
Ukas erscheinen lassen, der hauptsächlich gegen den deutschen Er-
werb von Grundbesitz und Immobilien in den westlichen Provinzen
Rußlands gerichtet war. In Deutschland setzte daraufhin ein Feld-
zug der Zeitungen gegen die Anlage deutscher Kapitalien in russi-
schen Werten ein. Auf Bismarcks Betreiben erfolgte sodann am
10. November 1887 eine Verfügung des Reichsbankdirektoriums,
wonach Lombarddarlehen auf russische Wertpapiere nicht mehr ge-
währt werden durften4. Diese Maßnahme hat zweifellos das wirt-
schaftlich anlehnungsbedürftige Rußland zunächst auf finanziellem
Gebiete in die Arme Frankreichs geführt, eine Entwicklung, über
die auch die belgischen Gesandten im gleichen Sinne berichtet
haben.
Vorgreifend sei hier gleich bemerkt, daß Bismarcks Nachfolger
Caprivi sieben Jahre später, am 24. Oktober 1894, die Aufhebung
des Lombardverbotes bei Kaiser Wilhelm II. anregte, die dann auch
zwei Tage später erfolgte. Damals waren die russischen Papiere
bis auf einen verhältnismäßig unerheblichen Betrag bereits nach
Frankreich abgeflossen und hatten dort ihren Kurswert erheblich er-
höht, so daß an einen Rückstrom der enormen Beträge russischer
1 Gr. Pol. Nr. 1129.
2 Gr. Pol. Nr. 1133.
8 Gr. Pol. Nr. 1135, 1136.
4 Gr. Pol. Nr. 1140—1142.
109
Die Bismarckzeit
Werte aus Frankreich nach Deutschland 1894 kaum noch gedacht
werden konnte1.
In der bulgarischen Frage war anläßlich des Zarenbesuches am
18. November in Berlin die von der Türkei erhoffte Verständigung
nicht erfolgt1 2. Bismarck hatte aber in seiner Audienz beim Zaren die
Möglichkeit, ihn über die gefälschte Korrespondenz des Prinzen
Ferdinand von Coburg aufzuklären, die dem Zaren in die Hände
gespielt worden war, um ihn in der bulgarischen Frage gegen Bis-
marck einzunehmen und von der Berliner Reise abzubringen3. Prinz
Ferdinand von Coburg war von der bulgarischen Nationalversamm-
lung zum Fürsten erwählt worden und hatte am 2. August 1887 den
Thron bestiegen, konnte aber gegenüber dem passiven Widerstande
Rußlands gegen den „Coburgischen Usurpator“ zunächst die An-
erkennung der Großmächte und der Türkei nicht erlangen. Dieser
Zwischenzustand, während dessen z. B. auch Österreich-Ungarn den
Fürsten nicht als legal anerkannte, mit der bulgarischen Regierung
aber als mit einer tatsächlich bestehenden diplomatische Bezie-
hungen unterhielt, hat bis zum Jahre 1894 gedauert.
Militärische russische Maßregeln an der polnischen Grenze schon
vor dem Novemberbesuche des Zaren in Berlin erregten in Wien leb-
hafte Beunruhigung, die auch von Bismarck geteilt wurde, zumal
Giers sie als unerläßlich notwendig erklärte und man in russischen
Militärkreisen den Zeitpunkt zur Abrechnung mit Österreich für gün-
stig hielt4. Bismarck setzte seinen ganzen Einfluß ein, um in Wien
vor unvorsichtigen Schritten zu warnen. War man dort doch allzu-
sehr geneigt, sich auf die „mächtige Unterstützung“ durch Deutsch-
land zu verlassen. Bismarck ließ aber keinen Zweifel darüber, daß
der Bündnisfall für Deutschland nur im Falle eines russischen An-
griffes auf Österreich eintreten würde5 6. Österreich sollte sich daher
nicht zu einem Angriffe auf Rußland herausfordern, sich aber auch'
nicht in einen Zustand falscher Sicherheit einwiegen lassen®.
Bismarcks Mahnung nach Wien verfehlte ihre Wirkung nicht,
löste aber dort einerseits eine gewisse Enttäuschung, andererseits
den Wunsch aus, daß der österreichische und deutsche Generalstab
in Besprechungen über einen gemeinsamen Operationsplan im Falle
eines Krieges eintreten möchten. Hierfür setzte sich Kaiser Franz
Joseph selbst ein7. Nach anfänglichen Bedenken willigten Kaiser
Wilhelm I. und Bismarck ein, Bismarck unter der Voraussetzung, daß
bei den Besprechungen nicht etwa eine gemeinsame Tätigkeit der
1 Gr. Pol. Nr. 1143.
2 Gr. Pol. Nr. 1131, 1132.
3 Gr. Pol. Nr. 1144—1149.
« Gr. Pol. Nr. 1150—1153.
6 Gr. Pol. Nr. 1156.
6 Gr. Pol. Nr. 1157—1159.
» Gr. Pol. Nr. 1161, 1162.
110
1887
beiden Heere schon damals in einer bestimmten Richtung’ und in be-
stimmter Stärke festgelegt werden dürfe1. Durchaus wollte er ver-
hindert sehen, „daß die politische Geschäftsführung gewissermaßen
auf den Generalstab überginge, und daß die Militärs ä tout prix in
Wien auf den Krieg drängten1 2“. Für alle Verhandlungen, die nicht
zwischen den dazu berufenen Organen des diplomatischen Dienstes
beider Höfe stattfänden, lehnte er die Verantwortung ab. „Die
gegenwärtige politische Situation ist eine außerordentlich schwie-
rige und empfindliche, und ich würde die Verantwortlichkeit für
ihre weitere Entwicklung nicht übernehmen können, wenn mili-
tärische Verhandlungen stattfänden, mit deren Inhalt und Tragweite
ich mich vom politischen Standpunkte nicht einverstanden erklären
könnte. . . Unsere Politik hat die Aufgabe, den Krieg wenn möglich
ganz zu verhüten, und geht das nicht, ihn doch zu verschieben. An
einer anderen würde ich nicht mitwirken können3.“ Moltke, der
diese Anschauungen durchaus teilte, entschloß sich daher zur Zu-
rückhaltung gegenüber dem österreichischen Unterhändler. So kamen
denn die Besprechungen über die Mitteilung gewisser österreichi-
scher Wünsche im Berliner Großen Generalstabe nicht hinaus4.
Mit überlegener Stärke wirkte Bismarck damals den öster-
reichischen Wünschen entgegen. Er hegte begründete Besorgnis,
Österreich könne den Begriff des Casus foederis auch auf den Fall
ausdehnen, daß Österreich in der Sorge vor einem russischen An-
griff seinerseits aggressiv gegen Rußland vorginge. Kam es so, so
wollte Bismarck Deutschland nicht zur Unterstützung Österreichs
einsetzen. „Das bisherige Ziel der kaiserlichen Politik“, ließ er
am 20. Dezember 1887 schreiben5, „ist die Erhaltung des Friedens,
und unser System geheimer Verträge setzt eine Prämie für fried-
liches Verhalten insofern aus, als wir Österreich beistehen, wenn
Rußland den Frieden bricht, und nach dem russischen Vertrage neu-
tral bleiben, wenn Österreich den Frieden bricht. Wir können und
dürfen also den Österreichern nichts versprechen, keine Aufstellung,
keine Mobilmachung, wenn sie die Angreifenden sind.“ Weiter
schrieb er am 27. Dezember 1887 an den Prinzen Reuß6, er könne
sich des Eindrucks nicht erwehren, daß man in gewissen militäri-
schen Kreisen Wiens das Defensivbündnis zu verschieben suche;
er müsse deshalb wiederholen, daß es für keinerlei offensive Zwecke
geschlossen worden sei; Graf Kälnoky sei ganz derselben Ansicht;
„wir müssen nur beiderseits darauf achten, daß die Berechtigung,
1 Gr. Pol. Nr. 1179.
2 19. Dezember 1887. Gr. Pol. Nr. 1181.
3 Gr. Pol. Nr. 1182.
4 Gr. Pol. Nr. 1183, 1185.
5 Gr. Pol. Nr. 1184.
6 Gr. Pol. Nr. 1186.
111
Die Bismarckzeit
unsere Monarchen politisch zu beraten, nicht faktisch unseren
Händen entgleite und auf die Generalstäbe übergehe1“.
Einen Präventivkrieg lehnte Bismarck ab. „Die Größe der Ka-
lamität, welche für die Völker Österreich-Ungarns und Deutschlands
mit einem französisch-russischen Kriege, wie immer er ausfallen
mag, verbunden sein wird, legt uns die Pflicht auf, den Ausbruch
desselben, wenn wir können, zu verhüten und jedenfalls der gött-
lichen Vorsehung nicht dadurch vorzugreifen, daß wir ihn herbei-
führen, ehe er sich uns aufdrängt.“
So brachte es Bismarck dahin, daß Österreich — nicht ohne
Verstimmung gegen Deutschland — darauf verzichtete, den Bünd-
nisfall zu erweitern1 2. Neue Versuche des Grafen Kälnoky, ihn be-
grifflich endgültig klarzustellen, lehnte Bismarck ab. „Das ist eine
Zirkelquadratur“, meinte er, „definitiv nicht klarzustellen und durch
keinen Vertragstext theoretisch lösbar, sobald man nicht der bona
fides des Verbündeten mehr vertraut als dem Wortlaut der Klau-
seln.“ Verhandlungen über Phrasen seien unfruchtbar. Österreichs
Hauptsicherheit liege nicht in Klauseln und Worttexten, „sondern
in der unzweifelhaften Tatsache, daß die ungeschwächte Existenz
Österreichs ein Lebensbedürfnis für uns und für das europäische
Gleichgewicht ist3“.
In Berlin begannen sodann im Januar 1888 Besprechungen zwi-
schen den deutschen, österreichischen und italienischen Generalstabs-
offizieren über die Transportverhältnisse im Falle eines Krieges, be-
sonders auf der Brennerbahn, die für die Heranschaffung der ita-
lienischen Truppen von Wichtigkeit war4.
Der Ausklang der Heroenzeit
Anläßlich des Jahreswechsels 1887/1888 tat Kaiser Wilhelm I.
einen bedeutsamen Schritt im Sinne des Friedens. Am 5. Januar 1888
richtete er ein von der Hand des Prinzen Wilhelm geschriebenes
eindringliches Friedensbekenntnis in französischer Sprache an den
Zaren5 6 und fügte diesem Briefe Zusammenstellungen bei, die den
friedlichen Charakter der deutschen Politik unter Darlegung der im
1 Vgl. auch Or. Pol. Nr. 1187 (Berlin, 29. Dezember 1887).
2 Gr. Pol. Nr. 1190, 1191, 1192.
3 Gr. Pol. Nr. 1194.
4 Gr. Pol. Nr. 1195—1197, 1290—1327. Die Besprechungen erfolgten auf der
Grundlage einer Unterstützung des deutschen Heeres am Rhein durch fünf bis
sechs italienische Armeekorps und zwei bis drei Kavalleriedivisionen. Im Früh-
jahr 1889 wünschte man italienischerseits, die militärischen Vereinbarungen auch
auf die Marine auszudehnen, da die Mitwirkung der österreichischen Flotte im
Mittelländischen Meere unumgänglich nötig sei. Bismarck hielt aber die Erörte-
rung der Flottenfrage noch für verfrüht.
6 Gr. Pol. Nr. 1174.
112
1888
Osten des Reiches getroffenen militärischen Maßnahmen, der neu
geschaffenen deutschen Eisenbahnlinien und Festungsbauten außer
Frage stellten. „Alle meine Gedanken sind auf den Frieden gerichtet,
nicht nur wegen meines Alters, sondern auch wegen der Wirkung,
die auf mich das Bewußtsein der Pflichten ausübt, die ich meinen
Untertanen gegenüber habe, und ebenso die Gefühle, die mir das
Herannahen des Augenblickes einflößt, wo ich vor Gott über die
Art Rechenschaft abzulegen haben werde, mit der ich diese Pflichten
erfüllt habe, die Seine Vorsehung mir auferlegt hat. Ich habe die
Überzeugung, daß Sie denken wie ich, und daß wir in der Lage
sein werden, unsere Völker gegen die Geißel eines Krieges zu schüt-
zen, dessen Ergebnisse, wie sein Ausgang auch sei, nur den Feinden
aller Monarchien in Europa zugute kommen würden.“ Kaiser Ale-
xander III. sprach sich über dieses Handschreiben dem Botschafter
v. Schweinitz gegenüber zwar dankbar aus, entschloß sich aber doch
im Laufe einer langen Unterredung am 26. Januar 1888 zu dem be-
deutsamen Bekenntnis, daß die russische Regierung sich der franzö-
sischen zu nähern versucht habe; eine weitere Schwächung Frank-
reichs könne Rußland nicht zulassen. In seinem Antwortbriefe an
den deutschen Kaiser vom 25. Januar 1888 betonte der Zar, die An-
nahme einer Kriegseventualität zwischen Deutschland und Rußland
scheine ihm ganz unmöglich1.
Kaiser Friedrich III.
Das hohe Lebensalter Kaiser Wilhems I., ebenso wie das
schwere und schon als unheilbar erkannte Leiden seines Sohnes,
ließen damals in der großen Politik, nicht nur Deutschlands, Berech-
nungen auf lange Sicht nicht zu. Einstweilen aber, solange Bismarck
das Steuer der deutschen Außenpolitik führte, bildete er, und zwar
voraussichtlich noch auf längere Zeit, den ruhenden Pol in der
Erscheinungen Flucht.
Am 9. März 1888 verstarb Kaiser Wilhelm I., tief betrauert von
seinem Volke, anerkannt von der ganzen Welt. Der Kurs der deut-
schen Außenpolitik blieb der alte, und so konnte auch die franzö-
sisch-italienische Spannung, die im Frühjahr 1888 aus Frankreichs
Streben erwuchs, das Gebiet von Tunis auf Kosten von Tripolis
zu erweitern, den Weltfrieden nicht gefährden* 2.
Die tödliche Krankheit Kaiser Friedrichs III. bewirkte während
der nur 100 Tage seiner Regierung eine Art Gottesfrieden auf dem
Gebiete der Außenpolitik. Es blieb dem Monarchen aber nicht er-
spart, in einer für ihn persönlich sehr peinlichen Angelegenheit die
' Qr. Pol. Nr. 1177.
2 Or. Pol. Nr. 1278—1281.
■8 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
113
Die Bismarckzeit
Linie der Bismarckschen Außenpolitik gegen den Willen seiner Ge-
mahlin durchführen zu müssen. Nach dem Rücktritte des Fürsten
Alexander von Bulgarien bestand der Plan seiner Vermählung mit
der Prinzessin Viktoria, der Tochter des Kaisers Friedrich, unverän-
dert fort1 und wurde auch von englischer Seite lebhaft unterstützt.
Bismarck befürchtete eine unheilvolle Verschlechterung der deutsch-
russischen Beziehungen von einer derartig auffallenden Bevorzugung
das Battenbergers durch den deutschen Kaiser, zumal in dem ge-
heimen Zusatzprotokoll zum Rückversicherungsvertrage vom 18. Juni
1887 ausdrücklich ausgesprochen worden war, Deutschland ver-
spreche, in keinem Falle seine Zustimmung zur Wiedereinsetzung
des Prinzen von Battenberg zu geben1 2. Auf Grund der Erlasse Kaiser
Friedrichs III. hatte gerade damals der Zar die Überzeugung ge-
äußert, daß jetzt kein Krieg und kein Angriff von deutscher Seite zu
befürchten sei3.
Am 31. März 1888 erging ohne Vorwissen des Kanzlers eine
telegraphische Aufforderung an den Prinzen von Battenberg, sich
am Ostermontage bei Kaiser Friedrich III. zu melden. Bismarck
wirkte diesem Besuche mit allen Mitteln entgegen und ließ zunächst
bei Schweinitz in Petersburg telegraphisch anfragen, ob er und
Giers seine Ansicht teilten, daß der Empfang dieses vermutlich von
der Königin von England angeregten Besuches in Rußland den Ein-
druck einer antirussischen Demonstration und einer Änderung der
deutschen Politik machen würde4. In einer Denkschrift setzte Bis-
marck dem Kaiser seine Bedenken gegen eine Annäherung oder
Auszeichnung des Prinzen Alexander von Battenberg auseinander.
Die Mit- und Nachwelt würde es sich nicht erklären können, wel-
ches Interesse die deutsche Politik bewogen haben könnte, dem
Prinzen Gunstbezeigungen zu gewähren, durch die das bis dahin
mühsam gepflegte Verhältnis zum Kaiser von Rußland getrübt und
der Frieden der Nationen dynastischen Konvenienzen geopfert wer-
den konnte5. Der Kanzler erklärte, die Verantwortung dafür nicht
übernehmen zu können, wenn durch eine antirussische Demonstra-
tion die bisherige friedliche Politik Deutschlands geändert würde,
und setzte seinen Willen durch6. Seine Hoffnung, Minister v. Giers
würde sich in demselben Sinne wie er über die Bedeutung einer An-
näherung des Prinzen von Battenberg äußern, war aber nicht in
1 Siehe oben S. 85.
2 Gr. Pol. Nr. 1092. Siehe oben S. 93.
3 Gr. Pol. Nr. 1329.
4 Gr. Pol. Nr. 1330.
6 Gr. Pol. Nr. 1331.
6 Gr. Pol. Nr. 1332—1337. Vgl. die Schilderung dieser Vorgänge bei E. Conte
Corti, Alexander von Battenberg. Sein Kampf mit den Zaren und Bismarck.
Wien 1920.
114
1888
Erfüllung gegangen, und Bismarck stellte fest, daß das Petersburger
Kabinett nicht den Mut seiner Meinung zu haben scheine.
Wie man damals in Rußland über die deutsche Politik dachte,
erwies mit besonderer Eindringlichkeit ein Besuch, den Großfürst
Wladimir im April 1888 in Berlin machte. Der überaus deutsch-
freundliche Großfürst sprach sich mit dem Grafen Herbert Bis-
marck aus und bezeichnete das Bündnis mit Österreich als den
schwarzen Punkt in den deutsch-russischen Beziehungen; man könne
nun einmal die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß Bismarck
1879 zu Wien verhandelt habe, während der Zar und der deutsche
Kaiser sich in Alexandrowo begrüßten1. Allerdings habe ja Bismarck
den Text des deutsch-österreichischen Vertrages loyal nach Rußland
mitgeteilt, aber der schwarze Punkt sei geblieben.
Unstimmigkeiten über die Rußland gegenüber weiterhin ein-
zuschlagende Politik traten zwischen Bismarck und dem damaligen
Kronprinzen Wilhelm bereits im April 1888 zutage. In einem Wiener
Berichte vom 28. April 1888 fand sich ein Hinweis auf die Ansicht
der Generalstabsoffiziere in Wien und in Berlin, es sei vielleicht doch
besser gewesen, wenn man im Herbst 1887 zur Zertrümmerung der
russischen Macht geschritten wäre, noch ehe sie gefährlich wurde1 2;
Der Kronprinz stimmte dieser Auffassung in einer Randbemerkung
zu. Bismarck war entgegengesetzter Meinung und schrieb am 3. Mai
dem deutschen Botschafter in Wien3, das russische Reich sei un-
zerstörbar, es würde auch nach seiner etwaigen Niederlage unser
geborener und revanchebedürftiger Gegner bleiben, genau wie es
Frankreich im Westen sei. Kronprinz Wilhelm versah diesen Bericht
mit verschiedenen Anmerkungen, denen Bismarck wiederum ent-
gegentrat und die er zum Gegenstände eines ausführlichen, sehr
ernsten Schreibens an den Kronprinzen machte4. Dieser antwortete
am 10. Mai einlenkend und schloß mit dem Hinweise, daß der
Kanzler mit dem besten Gewissen bei einem etwa erfolgenden Re-
gierungswechsel „mit derselben Sicherheit wie bisher das friedliche
Verhalten der deutschen Politik in Aussicht zu stellen imstande sein
werde I :
Ende April 1888 hatte Frankreich sondieren lassen, ob auf eine
Beteiligung Deutschlands an der Pariser Ausstellung von 1889 zu
rechnen sein würde. Deutschland lehnte unter Hinweis auf die außer-
ordentlich unfreundliche Haltung der französischen öffentlichen Mei-
nung gegen alles, was deutsch sei, rundweg ab5. Im Mai führten die
1 Gr. Pol. Nr. 1338. Siehe oben S. 57 ff.
2 Gr. Pol. Nr. 1339.
3 Gr. Pol. Nr. 1340.
4 9. Mai 1888. Gr. Pol. Nr. 1341.
5 Gr. Pol. Nr. 1282.
8*
115
Die Bismarckzeit
sich häufenden Schwierigkeiten in den Grenzgebieten deutscherseits
zur Einrichtung des Paßzwanges. Deutsche Studenten aus Freiburg
waren am 8. April in Beifort mißhandelt worden, und die franzö-
sischen, nach Deutschland reisenden Offiziere unterlagen nicht ent-
fernt einer solchen Behelligung und Überwachung wie die deut-
schen Offiziere in Frankreich. Mit den neuen Paßmaßregeln sollte
auch der französischen Spionage und Agitation in Elsaß-Lothringen
ein Ziel gesetzt werden1.
Kaiser Wilhelm II.
Am 15. Juni 1888 erlag Kaiser Friedrich III. seinem qualvollen
Leiden, und sein Sohn, Kaiser Wilhelm II., bestieg den Thron. In
Frankreich trat daraufhin, wie der Geschäftsträger v. Schoen aus
Paris berichtete, ein gewisses Streben nach nüchterner Ruhe und ein
Abflauen der Revancherufe zutage. Vielleicht befürchtete man, daß
der junge Herrscher leichter zum Schwerte greifen könnte, als es
bei seinem Vater und Großvater zu erwarten gewesen war. Ab-
kühlend wirkte auch auf Frankreich, daß der Kaiser im Juli seinen
ersten Besuch als Souverän gerade in Petersburg abstattete. Von
da an besserten sich die deutsch-französischen Beziehungen wesent-
lich, zumal Bismarck bei einem im Oktober zwischen Italien und
Frankreich über Tunis entstehenden Konflikte Italien zurückhielt1 2.
Daß die elsaß-lothringische Frage aber immer im Vordergründe der
französischen Wünsche geblieben ist, erwies unter anderem der
Fühler, den der französische Großfinanzmann und Deputierte Chri-
stof le anfangs März 1890 beim Grafen Bismarck im Auswärtigen
Amte unternahm. Als Vorbedingung einer Entente oder womöglich
Allianz zwischen Deutschland und Frankreich bezeichnete er die
„Retrozession“ Elsaß-Lothringens3 4.
Der Besuch Kaiser Wilhelms II. beim Zaren fand vom 20. bis
24. Juli statt. Graf Herbert Bismarck begleitete den Kaiser, für den
der Kanzler eine ausführliche Denkschrift hatte ausarbeiten lassen1.
Sie beleuchtete treffend die Schwierigkeiten einer deutschen Politik
zwischen Österreich und Rußland. Österreich bedürfe der Anlehnung
an uns, Rußland aber nicht. Rußland könne nach seiner geographi-
schen Lage unser Bündnis ohne Lebensgefahr entbehren, Österreich
aber müsse, um das zu können, starke andere Bundesgenossen fin-
den. Darum müsse Deutschland an Österreich festhalten. Geschehe
das nicht, so verfalle es der russischen Leitung. Man dürfe daher
1 Gr. Pol. Nr. 1283—1285.
2 Gr. Pol. Nr. 1287.
3 Gr. Pol. Nr. 1289.
4 Gr. Pol. Nr. 1343.
116
1888
dem Zaren nicht auf Kosten Österreichs Dinge im Orient verspre-
chen, die uns die Freundschaft Österreichs kosten könnten. Der erste
Besuch des Kaisers müsse daher ein freundschaftlicher, nachbar-
licher, politisch uninteressierter sein: gerade dann werde er die beste
Wirkung haben.
Der Besuch fand programmäßig statt und erreichte nach dem
Urteil des Botschafters v. Schweinitz die Linie des Wünschens-
werten1. Einen grundlegenden Irrtum beging allerdings Graf Bis-
marck, der nach Ausweis seines eigenen Berichtes vom 22. Juli1 2 zu
Giers bemerkte, Deutschland werde wirtschaftliche Anträge Ruß-
lands immer mit aller Rücksicht aufnehmen und prüfen, die wirt-
schaftlichen und politischen Beziehungen großer Staaten hätten aber
an sich miteinander nichts zu tun. Damit wollte er wohl den Fehler
des Lombardverbotes von 1887 vor sich selbst beschönigen.
Die Gesamtwirkung des Kaiserbesuches kennzeichnete der
Kanzler am 2. August 1888 dahin, der Kaiser habe den Eindruck
mitgebracht, daß weder der status quo im Orient noch der Frieden
Deutschlands und seiner Verbündeten von einer Störung durch russi-
sche Angriffe oder Provokationen bedroht sei3.
Die innere Gegensätzlichkeit Rußlands und Österreichs ließ
sich nur überdecken, aber nicht beseitigen. Schon wenige Monate
nach der Thronbesteigung Kaiser Wilhelms II. wurde das deutlich,
als neue Verstärkungen der russischen Armee erfolgten4. Auch die
Unsicherheit über Bulgarien blieb ein beängstigendes Symptom, und
als am 30. Mai 1889 der Zar seinen berühmt gewordenen Trink-
spruch auf den Fürsten von Montenegro als den einzigen aufrichti-
gen und treuen Freund Rußlands ausbrachte, konnte dieses für die
deutsch-russischen Beziehungen wenig schmeichelhafte Eingeständ-
nis der russischen Vereinsamung nicht anders als beunruhigend wir-
ken5. Eine österreichische Annäherung an Rußland hielt Bismarck
für ausgeschlossen, solange nicht in England Gladstone oder dessen
Geist regiere. Englische Besorgnisse wegen einer solchen Annähe-
rung hielt er daher für gegenstandslos 6.
Vom 2. bis 7. August 1889 besuchte Kaiser Wilhelm II. England
und empfing bald darauf in Berlin den Besuch des Kaisers Franz
Joseph (12.—15. August). Der Zar, der vom 11. bis 13. Oktober 1889
zum Besuche in Berlin weilte, äußerte sich besorgt über irgend-
1 Gr. Pol. Nr. 1347.
2 Gr. Pol. Nr. 1345.
3 Gr. Pol. Nr. 1349.
4 Gr. Pol. Nr. 1350—1352.
5 Gr. Pol. Nr. 1356.
0 Gr. Pol. Nr. 1357.
117
Die Bismarckzeit
welche neuen Abmachungen zwischen Deutschland und anderen Re-
gierungen mit antirussischer Spitze. Bismarck konnte den Monarchen
persönlich beruhigen und ihm auch seine Sorgen benehmen, daß
etwa aus der bevorstehenden Reise des Kaiserpaares nach Griechen-
land und Konstantinopel russische Besorgnisse gerechtfertigt seien.
Eine Aufnahme der Pforte in den Dreibund sei nicht möglich, das
deutsche Volk könne nicht die Verpflichtung übernehmen, für die
Zukunft von Bagdad Krieg mit Rußland zu führen. Hinsichtlich der
deutsch-englischen Beziehungen sagte Bismarck dem Zaren, keine
englische Regierung sei imstande, ein Bündnis mit einer anderen
Großmacht ohne parlamentarische Sanktion abzuschließen; Deutsch-
land habe viele gemeinschaftliche Interessen mit England, seine
traditionellen Beziehungen mit dieser Macht schlössen jeden Streit
mit ihr aus; Englands Machtstellung erhalten zu sehen, sei mithin
von vitalem Interesse für Deutschland. Diese Sachlage sei eine von
selbst gegebene und mache den Abschluß eines Bündnisses zwischen
England und Deutschland überflüssig. Mit Österreich-Ungarn be-
stehe nur der bekannte Bündnisvertrag von 1879 und darüber hinaus
kein Abkommen1. Der Zar äußerte daraufhin seine völlige Beruhi-
gung1 2.
Die Entlassung des Fürsten Bismarck
Die weltgeschichtlichen Vorgänge bei der Entlassung des
Fürsten Bismarck im März 1890 zu erörtern, über die bereits eine
umfangreiche Literatur existiert, ist hier nicht am Platze. Den un-
mittelbaren Anlaß boten die Berichte des Konsuls Raffauf aus Kiew
über russische Mobilmachungsvorbereitungen. Der Kaiser glaubte,
aus ihnen einen russischen Willen zum Kriege und den schon er-
folgten Beginn des russischen Aufmarsches entnehmen zu müssen3.
Der Kanzler hätte ihn schon längst auf die furchtbar drohende
Gefahr aufmerksam machen sollen; es sei die höchste Zeit, die
Österreicher zu warnen und Gegenmaßregeln zu treffen. Bismarck
konnte sich vollkommen rechtfertigen und widerlegte die Befürch-
tungen des Kaisers in ruhiger und überzeugender Form4. Die jäh
unternommene und überstürzte Kanzlerkrisis endete am 20. März
1890 mit der Verabschiedung des Fürsten Bismarck. Da sein Sohn
Graf Herbert sich seinem Vater anschloß, traten fast ohne die
Möglichkeit einer Überleitung der Geschäfte die beiden wichtig-
1 Gr. Pol. Nr. 1358.
2 Gr. Pol. Nr. 1359.
3 Eigenhändiges Handbillet des Kaisers an Bismarck vom 17. März 1890. Gr.
Pol. Nr. 1361.
4 Gr. Pol. Nr. 1360 und 1362.
118
1890
sten Persönlichkeiten der deutschen Außenpolitik gleichzeitig von
ihren Ämtern zurück.
Der Eindruck des Kanzlersturzes in der ganzen Welt war ein
ungeheurer. In Frankreich erblickte man in ihm hauptsächlich eine
Schwächung des Dreibundes und hoffte auf eine Veränderung der
politischen Qesamtlage. Die Zukunft wurde als besorgniserregend
beurteilt, da die Befürchtung naheliege, die deutsche Politik könne
kriegerischen Verwicklungen zugetrieben werden und die europäi-
schen Fragen sich zu unlösbaren Knoten verschlingen, nachdem die
kundige Hand des Meisters zur Lösung fehle. In Petersburg bewirkte
der Sturz des Fürsten das Gefühl einer gewissen Erleichterung,
andererseits aber auch das einer gesteigerten Unsicherheit, da Bis-
marck fast drei Jahrzehnte lang die sicherste Bürgschaft guter Be-
ziehungen zwischen den beiden Reichen gewesen sei. Besonders
beunruhigend wirkte die an den Zaren gelangende Nachricht, der
Abgang des Fürsten sei nicht von inneren Fragen, sondern durch
eine Meinungsverschiedenheit über die künftige Gestaltung der Be-
ziehungen zu Rußland herbeigeführt worden1. Einen Trost fand
man, wie der Militärbevollmächtigte in Petersburg, Oberst v. Vil-
laume, am 10. April 1890 berichtete2, hauptsächlich in der Stelle des
kaiserlichen Erlasses vom 20. März an Bismarck, in der es hieß:
„Auch im Auslande wird Ihrer weisen und tatkräftigen Friedens-
politik, die ich auch künftig aus voller Überzeugung zur Richtschnur
meines Handelns zu machen entschlossen bin, alle Zeit mit ruhm-
voller Anerkennung gedacht werden“.
Rückblick auf die Bismarckzeit
An dieser Stelle gilt es haltzumachen, um noch einmal die Frage
zu erörtern, was Bismarcks Abgang damals für Deutschland bedeu-
tete. Als der Fürst nach gefallener Entscheidung am 1. April 1890 in
Friedrichsruh seinen Geburtstag beging, widmete ihm Ernst v. Wil-
denbruch als Inschrift zu einem Lorbeerkranze die Verse3:
Du gehst von Deinem Werke,
Dein Werk geht nicht von Dir,
Denn, wo Du bist, ist Deutschland,
Du warst, drum wurden wir.
Was wir durch Dich geworden,
Wir wissen’s und die Welt;
Was ohne Dich wir bleiben,
__________Gott sei’s anheimgestellt!
1 Gr. Pol. Nr. 1365.
2 Gr. Pol. Nr. 1364.
3 Bert hold Litzmann, Emst von Wildenbruch. Berlin, (G. Grote), II, 84.
119
Die Bismarckzeit
Das war gefühlsmäßig gedacht, traf aber doch, wie wir uns heute, so
viele Jahre später, noch mit tiefer innerer Erschütterung bekennen
müssen, den Kern der Dinge.
In seinem wichtigen Diktat vom 15. Juni 18771 hatte Bismarck
bei Erörterung des ihm nachgesagten „Alpdruckes der Koalitionen“
als Hauptziel seiner Bündnispolitik eine politische Gesamtlage be-
zeichnet, „in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen
und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander
nach Möglichkeit abgehalten werden“.
Das ist in der Tat die Summe der Bismarckschen Bündnispolitik
gewesen. Zwei Gefahren bedrohten das junge deutsche Kaiserreich:
der nie völlig erlöschende Wunsch Frankreichs nach Wiedergewinn
Elsaß-Lothringens und nach Revanche für die Niederlagen von 1870,
in noch höherem Maße aber die Balkanfrage mit ihren in stets neuen
Formen auftretenden Gefahren. Bismarck hat kein Mittel unversucht
gelassen, um Frankreich zu versöhnen und ihm, wie selbst der Se-
natsgutachter Georges Pages zugeben muß, koloniale Unternehmun-
gen ermöglicht, „die sich als gewinnbringend herausstellten, und
deren Früchte wir heute ernten“1 2. Frankreich hatte in Tunis seine
Schutzherrschaft errichtet, Tunesien zur Ruhe gebracht und die Er-
oberung von Tonkin in die Wege geleitet. Niemals aber war es
Bismarck gelungen, Frankreich den Verlust Elsaß-Lothringens ver-
gessen zu machen. Mit dem Tage, wo er dies klar erkannte, war
sein ganzes Bestreben mehr noch als bisher darauf gerichtet, Frank-
reich von den anderen europäischen Großmächten, insonderheit
von Rußland, fernzuhalten, um so der Gefahr einer Zweifrontenbe-
drohung zu entgehen. Im Ziele völlig geradlinig ging die Bis-
marcksche Bündnispolitik diesen Weg.
Zunächst galt es für ihn, die für Deutschland lebensgefährliche
Möglichkeit der sogenannten Kaunitzschen Koalition — Rußland,
Österreich, Frankreich — auszuschalten. Diesem Zwecke diente das
Drei-Kaiser-Bündnis. Zunehmende Unsicherheit über die russische
Persönlichkeitspolitik des Zaren ließen Bismarck nach dem Berliner
Kongreß auf eine neue Gruppierung sinnen, mittelst deren er die
russische Gefahr auszuschalten vermochte. Er fand sie in dem
deutsch-österreichischen Bündnis von 1879 und wußte dieses seinem
Monarchen trotz seiner heftigsten persönlichen Abneigung gegen
eine solche Neuorientierung der deutschen Bündnispolitik aufzuzwin-
gen. So Österreichs versichert, zog er Rußland wieder heran und be-
lebte den Gedanken des Drei-Kaiser-Bündnisses aufs neue. Als es
ihm vollends gelang, auch Italien und Rumänien an die beiden deut-
schen Kaisermächte mit anzuschließen, während gleichzeitig das
1 Siehe oben S. 44/45. Or. Pol. Nr. 294.
2 Die Ursachen und die Verantwortlichkeiten des großen Krieges. Deutsche
Ausgabe. S. 204.
120
Rückblick auf die Bismarckzeit
Drei-Kaiser-Bündnis Weiterbestand, hatte er sein großes Ziel ver-
wirklicht: alle Mächte außer Frankreich bedurften Deutschlands und
wurden von Koalitionen gegen Deutschland durch ihre gegensei-
tigen Beziehungen abgehalten.
Von entscheidender Bedeutung für die innere Festigkeit des
Dreibundes waren die deutsch-englischen Beziehungen. England war,
wie Friedrich Meinecke zutreffend ausführt1, „das notwendige Kom-
plement, um den Dreibund fest zusammenzuhalten, um Deutschland
vor gefährlichen Gegenkoalitionen zu bewahren und äußersten Falles
den Kampf gegen Rußland und Frankreich mit guten Siegesaussich-
ten zu führen.“ Immer hat daher Bismarck seine Beziehungen zu
England auf das sorgfältigste gepflegt und Verstimmungen, be-
sonders auf kolonialem Gebiete, die unausbleiblich waren, niemals
zu ernsten Erschwerungen anwachsen lassen. Nur zu genau wußte
er, daß gute deutsch-englische Beziehungen die unerläßliche Vor-
aussetzung für die Friedenstendenz, ja geradezu für den Bestand
des Dreibundes bildeten. Alle seine Bestrebungen sind daher wäh-
rend der nie völlig erlöschenden Wirren auf dem Balkan von 1875
ab darauf gerichtet gewesen, England nicht zu verlieren. Die
Krönung dieser Bestrebungen durch ein deutsch-englisches Bünd-
nis ist ihm versagt geblieben, hauptsächlich deshalb, weil die par-
lamentarischen Einrichtungen Englands ein solches Bündnis mit
irgendeiner fremden Macht ernstlich erschwerten, dann aber auch
weil Österreich-Ungarn als Vertragspartner Deutschlands für ein
englisches Bündnis nur einen geringen Anreiz bot. Immerhin aber
ist es Bismarck gelungen, die englische Politik mit den Mittel-
meerzielen der beiden Dreibundgenossen Österreich-Ungarn und
Italien durch den sogenannten Balkandreibund vom 12. und 16. De-
zember 1887 in weitgehende Übereinstimmung zu bringen1 2.
Wohl die unerwünschteste Auswirkung der orientalischen Krisen
bildete die zunehmende Entfremdung Rußlands und Österreich-
Ungarns. Sie lag in der Gegensätzlichkeit der Interessen dieser
beiden Balkangroßmächte zwangsläufig begründet und mußte um so
schärfer in Erscheinung treten, je mehr das türkische Reich zerfiel
und die aufstrebenden jungen Balkanstaaten an Selbständigkeit und
Tatendrang Zunahmen. Mit größter Sorglichkeit suchte Bismarck
die Interessensphären der beiden Großmächte auf dem Balkan
gegeneinander abzugrenzen, Bulgarien in die russische, Serbien in
die österreichische Zone zu verweisen. Auf die Dauer stellte es sich
aber als unmöglich heraus, dem russischen Panslawismus bei seinem
Vormarsche auf Konstantinopel und die Meerengen Zügel anzulegen
und Österreieh-Ungarn zur Begrenzung seiner Ansprüche zu be-
1 Geschichte des deutsch-englischen Bündinisproblems 1890—1901. S. 11.
2 Vgl. o. S. 104 und Dr. A. F. Pribram, Die politischen Geheimverträge
Österreich-Ungarns 1879—1914 (Wien und Leipzig 1920), S. 51 ff.
121
Die Bismarckzeit
wegen. An dieser Unmöglichkeit ging schließlich das Bündnis der
drei Kaiser zu Bruch. Bismarck gelang es aber sofort, durch den
Rückversicherungsvertrag für Deutschland eine neue Sicherung zu
schaffen und trotz allen Mißtrauens, das an der Wiege dieses Ver-
trages Pate gestanden hat, Rußland wenigstens zunächst einmal
für drei Jahre von einem vertraglichen Anschlüsse an Frankreich
abzuhalten.
So sah das Bündnissystem aus, das Bismarck im März 1890
seinem Nachfolger überließ. Sorgfältig war ein Stein auf den anderen
geschichtet1. Der Bau bedurfte aber, wie jedes Menschenwerk, wenn
es nicht zerfallen soll, sorgfältiger Beobachtung und weiterer Pflege.
Für den Nachfolger Bismarcks gab es keine wichtigere Aufgabe als
gründliches Durchdenken der Grundlagen des Bismarckschen Bünd-
nissystems nach jeder Richtung hin. Nimmermehr aber konnte es
seine Pflicht sein, schematisch an dem bestehenden Zustande fest-
zuhalten. Das gerade hätte Bismarcks staatsmännischer Anschauung
am wenigsten entsprochen. Deutlich hat er sich hierüber in seinen
„Gedanken und Erinnerungen“ ausgesprochen1 2, wenn er sagt: „Die
internationale Politik ist ein flüssiges Element, das unter Umständen
zeitweilig fest wird, aber bei Veränderungen der Atmosphäre in
seinen ursprünglichen Aggregatzustand zurückfällt. Die clausula re-
bus sic stantibus wird bei Staatsverträgen, die Leistungen bedingen,
stillschweigend angenommen. Der Dreibund ist eine strategische
Stellung, welche angesichts der zur Zeit seines Abschlusses drohen-
den Gefahren ratsam und unter den obwaltenden Verhältnissen zu
erreichen war. Er ist von Zeit zu Zeit verlängert worden, und es
mag gelingen, ihn weiter zu verlängern; aber ewige Dauer ist keinem
Vertrage zwischen Großmächten gesichert, und es wäre unweise, ihn
als sichere Grundlage für alle Möglichkeiten betrachten zu wollen,
durch die in Zukunft die Verhältnisse, Bedürfnisse und Stimmungen
verändert werden können, unter denen er zustande gebracht wurde. Er
hat die Bedeutung einer strategischen Stellungnahme in der europäi-
schen Politik nach Maßgabe ihrer Lage zur Zeit des Abschlusses;
aber ein für jeden Wechsel haltbares ewiges Fundament bildet er für
alle Zukunft ebenso wenig, wie viele frühere Tripel- und Quadrupel-
Allianzen der letzten Jahrhunderte und insbesondere die Heilige Alli-
anz und der Deutsche Bund. Er dispensiert nicht von dem toujours
en vedette!“.
Dieser Auffassung sollten wir uns stets bewußt sein, wenn wir
die Entwicklung der deutschen Politik von 1890 bis 1914 verfolgen.
1 Vgl. hierzu das Urteil des holländischen Professors Dr. N. Japikse, „Europa
und Bismarcks Friedenspolitik“. (Deutsche Ausgabe), S. 195—196. (Deutsche
Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin W 8. 1927).
2 Bd. 2, S. 158/159.
122
Rückblick auf die Bismarckzeit
Bismarck selbst hätte niemals unnachgiebig und scharf an seinen
einmal geschaffenen Bündnissen festgehalten, sondern den Entschluß
gefunden, sie zu ändern, wenn ihm dies erforderlich schien. Seine
hohe Meisterschaft gewährte ihm hierzu jederzeit die Mittel, wenn
auch nicht verkannt werden darf, daß Bismarck, insbesondere bei
der Behandlung Rußlands, auch Fehler gemacht hat, die sich unter
seinen Nachfolgern als für Deutschland schädlich ausgewirkt haben.
Das Lombardverbot von 1887 war zweifellos ein solcher Fehler, zu
dem ihn vielleicht seine Neigung verführt hat, Rußland seine Macht
fühlen zu lassen, um es zum Einlenken zu bringen. In wie hohem
Grade wirtschaftliche Verhältnisse die Beziehungen der Staaten zu-
einander bedingen, ist dabei kaum hinreichend in Rechnung gezogen
worden. So fand das anleihebedürftige Rußland damals die ihm in
Deutschland versagte Anlehnung auf dem französischen Markte, und
es begann jene Entwicklung, die über immer neue Anleihen hin-
weg schließlich das Zarenreich zum vertraglichen Anschluß an
Frankreich geführt hat.
Einstweilen stand dieser Entwicklung noch der bis 1890 gültige
Rückversicherungsvertrag im Wege. Gleich in die ersten Tage des
„Neuen Kurses“ hinein drängte sich aber die Frage, wie man sich
in Berlin zu der von den Russen gewünschten Erneuerung dieses
Vertrages stellen sollte. Eine schicksalsvolle Erschwerung bildete
die Verdrängung Bismarcks aus seiner Stellung in einer so rauhen
Form, daß die neuen Lenker der deutschen Außenpolitik kaum eine
persönliche Möglichkeit besaßen, sich über die folgenschweren
Grundlagen des zu fassenden Entschlusses mit dem Schöpfer des
Rückversicherungsvertrages von Mund zu Mund auszusprechen.
Unter so ungünstigen Vorzeichen begann die neue Ära!
B. Der Neue Kurs
1890—1901
„Irrtümer in der Kabinettspolitik der großen Mächte strafen
sich nicht sofort, . . . aber unschädlich sind sie nie. Die
geschichtliche Logik ist noch genauer in ihren Revisionen
als unsere Oberrechen kam mer.“
Otto Fürst v. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. II, S.218
Von der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages
bis Ende 1894
Am Abend vor der Entlassung des Fürsten Bismarck teilte der
russische Botschafter in Berlin, Graf Schuwalow, dem Sohne des
Kanzlers mit, er sei vom Zaren ermächtigt, den im Juni 1890 ab-
laufenden geheimen deutsch-russischen Vertrag auf sechs Jahre zu
verlängern „und zwar in der Absicht, diese Abmachung nunmehr
als eine dauernde anzusehen1“; im Falle der Entlassung des Fürsten
müsse er erst neue Weisungen von seiner Regierung einholen2.
Kaiser Wilhelm II. ließ den Botschafter bitten, zu ihm zu kommen,
und erklärte ihm, er befinde sich in der traurigen Notwendigkeit,
sich vom Kanzler zu trennen. In den Beziehungen zu Rußland solle
aber nichts geändert werden; der Kaiser sei vielmehr ganz bereit,
auf die Gedankengänge des Zaren einzugehen; er wolle nur den
Frieden außen und Ordnung im Innern. Daraufhin ließ der Zar mit-
teilen, er sei bereit, die Verhandlungen zum Abschluß zu bringen.
Eine sofortige Weitergabe dieser Nachricht an den Kaiser scheint
nicht erfolgt zu sein; Graf Herbert Bismarck schrieb ihm vielmehr
am 20. März 1890, Schuwalow habe ihm mitgeteilt, daß russischer-
seits auf eine Verlängerung des Vertrages verzichtet werde, nach-
dem Fürst Bismarck aus seinen Ämtern entlassen sei3.
Bei den nunmehr beginnenden Verhandlungen über den
Rückversicherungsvertrag in Berlin, zu denen auch der Botschafter
v. Schweinitz aus Petersburg herangezogen wurde, siegte schließ-
lich die Auffassung des Reichskanzlers v. Caprivi, des Unterstaats-
sekretärs im Auswärtigen Amte, Grafen Berchem, und des Vor-
tragenden Rates v. Holstein. Nach ihrer Meinung waren die Fest-
setzungen des Vertrages weniger ihrem Wortlaute als ihrem Sinne
nach mit dem Dreibunde, mit dem rumänischen Vertrage und mit
der deutscherseits auf England geübten Einwirkung nicht wohl in
Einklang zu bringen. Das immerhin mögliche Bekanntwerden des
Vertrages gefährde den Dreibund und sei geeignet, England von
Deutschland abzuwenden. Der Kaiser beschloß hierauf, auf die Er-
neuerung zu verzichten4. Botschafter v. Schweinitz kehrte nach
Petersburg zurück und berichtete von dort alsbald, Herr v. Giers
rGr. Pol. Nr. 1366.
2 Gr. Pol. Nr. 1373.
8 Gr. Pol. Nr. 1367.
1 Gr. Pol. Nr. 1369.
127
Der Neue Kurs. 1890—1901
halte trotz aller ihm gemachten Mitteilungen immer noch an der
Hoffnung fest, daß irgendein Notenaustausch oder vielleicht ein
Briefwechsel zwischen den Monarchen an die Stelle des bisherigen
Vertrages treten könne. Schweinitz hielt es nicht für ratsam, die
Hand, welche der Zar nochmals ausstreckte, zurückzustoßen, und
empfahl, irgend etwas Schriftliches mit Rußland zu vereinbaren.
In Berlin wurde nunmehr die Frage nochmals erörtert. In dem
immer wieder aufs neue betonten Wunsche der russischen Regie-
rung, den Vertrag verlängert zu sehen, glaubte Caprivi die Ab-
sicht zu erkennen, den Dreibund zu sprengen und Italien ebenso wie
England gegen Deutschland einzunehmen1. Schweinitz wurde daher
am 29. Mai angewiesen, die Anerbietungen des russischen Ministers
des Äußeren „höflich und freundlich, aber definitiv abzulehnen“,
ohne daß auf russischer Seite eine Verstimmung zurückbleibe1 2.
Aus den „Denkwürdigkeiten des Botschafters General v. Schweinitz“
ist zu entnehmen, daß ihm mit diesem Aufträge etwas Unmögliches
zugemutet wurde. Die bestimmte Form, in der Schweinitz die russi-
schen Wünsche auftragsgemäß abweisen mußte, verstimmte in
Petersburg auf das Tiefste3. Rückblickend darf man sagen, daß es
jedenfalls vorzuziehen gewesen wäre, den so dringend geltend ge-
machten russischen Wünschen zu entsprechen und irgend etwas
Schriftliches, sei es auch noch so allgemein gehalten, an die Stelle
des ablaufenden Vertrages treten zu lassen. Was in Rußland bitter
empfunden wurde, das war vor allem der Fortfall des geheimen
Zusatzprotokolls mit dem in Ziffer 24 gegebenen Versprechen einer
moralischen und diplomatischen deutschen Unterstützung Rußlands
für den Fall, daß der Zar sich entschließen sollte, die Aufgabe der
Verteidigung eines Zuganges zum Schwarzen Meere selbst zu über-
nehmen, „um den Schlüssel seines Reiches in der Hand zu be-
halten“. Nun hatte Deutschland den Vertrag nicht erneuert, stand
also hinfort als Verbündeter Österreich-Ungarns allen russischen
Ausdehnungswünschen auf dem Balkan abwehrend, wenn nicht
feindlich entgegen.
Rußland war aber jetzt auch in keiner Weise mehr an Deutsch-
land amtlich gebunden und somit in der Lage, auf die französische
Annäherungspolitik in ganz anderem Maße als bisher einzugehen.
„Aus dem Bollwerk der Sicherungen nach möglichst vielen Seiten
hin, das Bismarck mit unendlicher Mühe allmählich um das Deutsche
Reich aufgebaut hatte, wurde ein wichtiger Teil herausgebrochen
und niedergelegt. Die geheime Bindung mit der gewaltigen Groß-
macht an der östlichen Grenze sollte künftighin nicht mehr weiter
1 Or. Pol. Nr. 1379.
2 Or. Pol. Nr. 1380.
» Or. Pol. Nr. 1382.
4 Siehe oben S. 92/93,
128
Von der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages bis Ende 1894
bestehen1.“ Für den Kaiser und Caprivi war Schließlich der Ge-
danke ausschlaggebend gewesen, es sei unmöglich, „unserer öffent-
lichen Meinung gegenüber ein kompliziertes Bündnissystem auch
nach dem Ausscheiden des Fürsten Bismarck aufrechtzuerhalten1 2“.
Für die französische Politik boten sich nunmehr ganz andere
Aussichten. Lange schon hatte die Republik das Zarenreich um-
worben, um aus ihrer außenpolitischen Isolierung herauszugelangen.
Nunmehr machte die Annäherung schnellere Fortschritte, und es
bot sich vielleicht auch schon Gelegenheit, in das feste Gefüge des
Dreibundes Bresche zu legen, indem man versuchte, sich Italien zu
nähern.
Ein Besuch des Reichskanzlers v. Caprivi in Italien führte zwar
im November 1890 dazu, daß der Ministerpräsident Crispi Italien
noch enger an Österreich binden zu wollen erklärte und den Wunsch
nach einer Erneuerung des Dreibundes aussprach3 4. Damals aber
schon glaubte man in Berlin nicht recht an eine Mitwirkung
italienischer Streitkräfte in einem Kriege gegen Rußland und Frank-
reich1. Die große Rührigkeit der französischen Diplomatie Italien
gegenüber ließ einen frühzeitigen Beginn der Verhandlungen über
die Erneuerung des Dreibundvertrages erwünscht erscheinen, zu-
mal Frankreich auch auf handelspolitischem Gebiete sich Italien zu
nähern und dabei das Maß der italienischen Verpflichtungen gegen
den Dreibund kennen zu lernen suchte5. In Berlin wünschte man
aber nicht, Italien gegenüber größere Verpflichtungen zu übernehmen
als bisher, und erkannte deutlich die Abhängigkeit der italienischen
Bundesgenossenschaft von dem Verhalten Englands, das als vierter
im Bunde Italien die Sorgen um seine Küsten abnehmen mußte6.
Der Dreibundvertrag wurde am 6. Mai 1891 erneuert, wobei sich
die drei Mächte in einem besonderen Protokoll auf wirtschaftlichem
Gebiete über die Behandlung als meistbegünstigte Nation hinaus
alle Erleichterungen und alle besonderen Vorteile versprachen, die
mit den Anforderungen eines jeden der drei Staaten und mit ihren
wechselseitigen Verpflichtungen gegenüber dritten Mächten verein-
bar waren7. Wie wenig man aber in Deutschland daran dachte, den
Abschluß des Dreibundes zu kriegerischen Unternehmungen aus-
zunutzen, zeigte sich im Sommer 1891, als österreichischerseits der
Wunsch geäußert wurde, die Beteiligung Kaiser Wilhelms II. an
den österreichischen Manövern zu einem Kriegsrate über einen etwa-
1 Friedrich Stieve, Deutschland und Europa 1890—1914. S. 20. Vgl. auch
Dr. Heinrich Schnee, „Nationalismus und Imperialismus“, S. 219.
2 Or. Pol. Nr. 1378.
3 Or. Pol. Nr. 1396.
4 Or. Pol. Nr. 1398.
5 Or. Pol. Nr. 1407, 1418.
6 Or. Pol. Nr. 1412.
7 Or. Pol. Nr. 1426, 1427.
9 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
129
Der Neue Kurs. 1890—1901
igen künftigen Feldzug gegen Rußland zu benutzen. Sowohl der
Reichskanzler v. Caprivi wie der Chef des Generalstabes Graf
Schlieffen wendeten sich gegen diesen Vorschlag1.
Inzwischen machte die französisch-russische Annäherung weitere
Fortschritte. Noch am 4. Januar 1891 hatte Botschafter Graf Münster
dem Reichskanzler gemeldet, daß er an den Abschluß einer festen
russisch-französischen Allianz noch immer nicht glaube, wohl aber
an militärische Verabredungen für den Fall eines Krieges1 2. Die
Erneuerung des Dreibundes am 6. Mai 1891 bewirkte in den
politischen Kreisen Petersburgs eine niedergeschlagene Stimmung,
als durch das Eintreffen eines französischen Geschwaders unter
dem General Gervais am 23. Juli 1891 in Kronstadt ein völliger Stim-
mungsumschwung eintrat. Botschafter v. Schweinitz, der in Kron-
stadt nicht mit zugegen gewesen war und am 1. August 1891 nach
Petersburg zurückkehrte, fand alle seine russischen und diplomati-
schen Bekannten unter dem überwältigenden Eindrücke der Kron-
stadter Vorgänge3. Nach seiner Meinung hatte man in Rußland der
Erneuerung des Dreibundes „eine sensationelle Manifestation“
gegenüberstellen wollen.
Der Gedanke des Zweibundes wurde in ganz Frankreich bald un-
geheuer volkstümlich4. Trotzdem glaubte Graf Münster im Frühjahr
1892 an eine erhebliche Erkaltung der französischen Russenliebe5.
Schon im August 1892 fanden die auf Abschluß einer Militär-
konvention mit Rußland gerichteten französischen Wünsche ihre Er-
füllung. Der Zar lud den General Boisdeffre zu den Augustmanövern
ein. Bei dieser Gelegenheit kam am 17. August eine Militärkonven-
tion zum Abschluß, die eine nähere Beziehung zwischen den General-
stäben der beiden Länder schon im Frieden anbahnte. Dem Wort-
laute nach war die Militärkonvention nur auf die Notwendigkeiten
eines Verteidigungskrieges gegen einen Angriff des Dreibundes be-
rechnet. Falls Frankreich von Deutschland oder von Italien mit
Unterstützung Deutschlands angegriffen wurde, sollte Rußland alle
seine verfügbaren Kräfte zum Angriff auf Deutschland verwenden.
Umgekehrt hatte Frankreich, falls Rußland von Deutschland oder
von Österreich mit Unterstützung Deutschlands angegriffen wurde,
alle seine verfügbaren Kräfte zum Kampfe gegen Deutschland zu
verwenden. Die zum Einsätze gegen Deutschland verfügbaren Streit-
kräfte wurden französischerseits auf 1300000 Mann, russischerseits
auf 700000 bis 800000 Mann festgesetzt. Diese Kräfte sollten sich
zu entscheidendem Kampfe sofort eiligst einsetzen, derart, daß
Deutschland gleichzeitig im Osten und im Westen zu kämpfen habe.
1 Gr. Pol. Nr. 1433.
2 Gr. Pol. Nr. 1492.
3 Gr. Pol. Nr. 1504.
4 Gr. Pol. Nr. 1510.
5 Gr. Pol. Nr. 1516, 1517.
130
Von der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages bis Ende 1894
Hierin sowie in der Festsetzung, daß Frankreich und Rußland auf
die erste Nachricht von der Mobilmachung einer der Dreibund-
mächte ohne vorheriges Übereinkommen sofort und gleichzeitig die
Gesamtheit ihrer Streitkräfte mobilzumachen und sie so nahe als
möglich an ihren Grenzen zu versammeln hatten, lag die Haupt-
gefahr der neuen Abmachung für Deutschland. Durch Notenaus-
tausch vom 27. Dezember 1893 und 4. Januar 1894 zwischen dem
russischen Außenminister und dem französischen Botschafter in
Petersburg erhielt die Militärkonvention politische Gültigkeit.
Trotz mannigfacher Verstimmungen zwischen Rußland und
Frankreich, besonders während des Panama-Skandals, den der Zar
sehr übel aufnahm, gelang es doch den unermüdlichen Anstrengun-
gen des französischen Botschafters in Petersburg, Grafen Montebello,
einen russischen Flottenbesuch in Toulon im Oktober 1893 durch-
zusetzen1. Jetzt konnte kein Zweifel mehr darüber walten, daß die
russisch-französische Entente in ein innigeres Stadium getreten war.
Botschafter v. Werder, der Nachfolger des Botschafters v. Schwei-
nitz in Petersburg, erblickte mit Recht in dieser innigen Verbrüde-
rung eine Gefahr für den Frieden1 2.
Am 11. Januar 1893 hatte Caprivi bei der Begründung der
großen am 23. November 1892 eingebrachten Militärvorlage von
der Möglichkeit des Zweifrontenkrieges und der Wahrscheinlichkeit
militärischer Abmachungen zu Wasser und zu Lande zwischen Frank-
reich und Rußland gesprochen3. Der Zar äußerte sich besorgt dar-
über und ließ seine Friedensliebe betonen. Herr v. Giers aber er-
klärte dem deutschen Botschafter, Rußland besitze zwar mit Frank-
reich keine Allianz, habe sich aber doch nach Bildung des Drei-
bundes für etwaige Fälle nach einem Verbündeten umsehen müssen.
Bismarck habe, besonders auch durch seine Finanzmaßregeln, Ruß-
land in die Arme Frankreichs getrieben4. Handelspolitische Verstim-
mungen zwischen Rußland und Deutschland fanden im Frühjahr 1894
durch den Abschluß eines Handelsvertrages ihre Beendigung5. Eben-
so wirkte auch die Aufhebung des Lombardverbotes am 26. Oktober
1894 entspannend6. Eine freundlichere Stimmung Deutschland
gegenüber war unverkennbar. In diesem Sinne bewirkte auch die
Verlobung des Großfürsten-Thronfolgers mit der Prinzessin Alix von
Hessen7 eine erhebliche Ernüchterung des chauvinistischen Pan-
slawismus.
1 Or. Pol. Nr. 1529 ff.
2 Gr. Pol. Nr. 1534.
3 Gr. Pol. Nr. 1645.
4 29. April 1893. Gr. Pol. Nr. 1655.
5 Gr. Pol. Nr. 1667 ff.
6 Gr. Pol. Nr. 1143.
7 Die Verlobung erfolgte am 20. April 1894 in Coburg. Gr. Pol. Nr. 1671.
9*
131
Nach dem Ableben seines Vaters bestieg am 1. November 1894
Zar Nikolaus II. den russischen Kaiserthron.
Die deutsch-englischen Beziehungen 1890 bis Ende 1894
Schon im Frühjahr 1889 zeigte sich in England Geneigtheit,
Deutschland für sein Entgegenkommen in Afrika Helgoland abzu-
treten. Bismarck hatte aber damals den Augenblick für den Erwerb
dieser Insel noch nicht für gekommen gehalten.
In London ergriff im Dezember 1889 Lord Salisbury die Ge-
legenheit einer entgegenkommenden Aussprache mit dem deutschen
Botschafter Grafen Hatzfeldt1. Im Mai 1890 kamen sodann Salisbury
und Graf Hatzfeldt im Foreign Office zusammen und verhandelten
über die Abtretung von Helgoland gegen die Übernahme des eng-
lischen Protektorats über die Insel Sansibar. Graf Hatzfeldt erhielt
Weisung, vor allem auf den Erwerb Helgolands Bedacht zu nehmen1 2.
Am 1. Juli 1890 wurde das deutsch-englische Abkommen über
Helgoland endgültig abgeschlossen, wobei den Einwohnern das
Recht der Option gewährt wurde3. Deutschlands und Englands afri-
kanische Besitzungen wurden auf Grund der vorher erfolgten Eini-
gung in dem Vertrage genau begrenzt. Anfangs schien es, als wenn
Frankreich anläßlich des zwischen Deutschland und England ge-
schlossenen Vertrages Kompensationen fordern wolle. Beide ver-
tragschließenden Mächte gingen in dieser Frage gemeinsam vor:
Frankreich erhob keinen Einspruch gegen den Erwerb der fest-
ländischen Besitzungen des Sultans von Sansibar und der Insel Mafia
durch Deutschland; dagegen erkannte Deutschland die Schutzherr-
schaft Frankreichs über Madagaskar mit allen Folgen an4.
Immer schon war es Italiens Wunsch gewesen, die Beziehungen
des Dreibundes zu England möglichst ausgestaltet zu sehen. Man
hielt in Rom das mit England bestehende geheime Abkommen5
für nicht ausreichend und wollte England gern dazu bewegen, auch
Abmachungen über Mittelmeerfragen zu treffen. Alle Versuche, die
Italien über Berlin und Wien unternahm, blieben aber zum Schei-
tern verurteilt, da Lord Salisbury sich nicht in höherem Maße als
bisher zu binden wünschte6. Auch das liberale Kabinett mit Lord
Rosebery als Außenminister, das im Sommer 1892 an die Stelle des
konservativen Ministeriums Salisbury trat, war für einen näheren An-
schluß an Italien nicht zu haben.
In den Jahren 1892 bis 1894 gewannen Mittelmeerfragen für
1 Or. Pol. Nr. 1674.
2 Gr. Pol. Nr. 1680, 1681.
3 Gr. Pol. Nr. 1686, 1689.
4 Note vom 17. November 1890. Gr. Pol. Nr. 1704.
6 Siehe oben S. 102.
6 Gr. Pol. Nr. 1720, 1722, 1724.
132
Die deutsch-englischen Beziehungen 1890—1894
die Gruppierung der Großmächte immer größere Bedeutung. Das
Verhalten der Engländer in Ägypten, die Sorge Italiens, durch das
Vordringen der Franzosen in Tunesien bei der Verfolgung seiner
eigenen nordafrikanischen Expansionswünsche zu kurz zu kommen,
französische Bestrebungen, als Kompensation für das englische Pro-
tektorat in Sansibar Entschädigungen in Tunis zu erhalten, standen
dauernd zwischen den Mächten. Hierbei bestrebte sich Italien,
Deutschland in den Vordergrund zu schieben. In Berlin befürchtete
man mit Recht, daß die Balkanhalbinsel nicht ruhig zu halten sei,
wenn Italien und Frankreich sich anschickten, Tripolis zu teilen,
wünschte aber unter allen Umständen, bei keiner Mittelmeerfrage
ins Vordertreffen geschoben zu werden1. Für gewisse Fälle stellte
man schon 1890 Italien eine Unterstützung für Tripolis in Aussicht.
Als angebliche französische Übergriffe auf türkisches Gebiet im
Hinterlande von Tripolitanien im Frühjahr 1891 die europäische
Diplomatie aufs neue zu beunruhigen begannen, ging Deutschland,
vorsichtig wie bisher, über die Betonung seiner Solidarität mit
Italien nicht hinaus1 2.
Immer neue ägyptische Schwierigkeiten ließen 1892 und 1893
die Großmächte nicht zur Ruhe kommen. Deutschland vertrat den
Standpunkt, die Türkei möge sich mit England verständigen und
auf die französischen Ratschläge nicht eingehen3 4. Auch im Sommer
1893 war Deutschland bereit, England in der ägyptischen Frage zu
unterstützen. Im übrigen übte man Zurückhaltung. „Die Selbständig-
keit unserer Politik“, schrieb Unterstaatssekretär Frhr. v. Rotenhan
am 29. Juni 1894 an den deutschen Generalkonsul in Kairo1, „sind
wir berechtigt, uns unter allen Umständen zu wahren, aber deren
Betätigung in Ägypten, wo die englischen, französischen und ita-
lienischen Interessen im Vordergründe stehen, können wir ohne Be-
einträchtigung unseres nationalen Selbstgefühls auf ein Minimum
beschränken“.
So hielt sich Deutschland auch im Frühjahr 1893, als sich neue
Streitigkeiten über die Grenze zwischen Tunis und Tripolis ergaben,
durchaus zurück, erteilte der Türkei aber den Rat, ihr Besitzrecht,
soweit es unzweifelhaft sei, im Wege militärischer Besetzung zu
wahren5. In der Marokkofrage6 übte Deutschland gleichfalls Zu-
rückhaltung. Immer handelte es sich hierbei in den Jahren 1890
bis 1894 um einen Ausgleich der italienischen und französischen
Wünsche mit England. Dieses wiederum hielt mit starrer Beharr-
1 Or. Pol. Nr. 1887, 1890.
2 Gr. Pol. Nr. 1901—1903.
3 Gr. Pol. Nr. 1821.
4 Gr. Pol. Nr. 1850.
6 Gr. Pol. Nr. 1904, 1905.
6 Gr. Pol. Nr. 1914—1971.
133
Der Neue Kurs. 1890—1901
lichkeit an dem Grundsätze fest, die jeweils an der Macht befind-
lichen Politiker nicht Verpflichtungen übernehmen zu lassen, die von
ihren Nachfolgern eines Tages eingelöst werden müßten. Deutsch-
land betonte stets, daß es in Marokko keine unmittelbaren Inter-
essen habe. Allen Versuchen Italiens, Deutschland in Mittelmeer-
fragen den Vortritt aufzudrängen, hat die deutsche Politik in den
Jahren 1890—1894 erfolgreich widerstanden. Unbestreitbar war da-
bei England in der stärkeren Position, denn es konnte den Gegen-
satz des Dreibundes und der russisch-französischen Entente für sich
ausnutzen und von Fall zu Fäll das Zünglein an der Wage des euro-
päischen Gleichgewichtes bilden.
Sind die Beziehungen zwischen dem Dreibunde einerseits und
England andererseits durch die Wünsche der italienischen Afrika-
politik dauernd auf das Stärkste beeinflußt gewesen, da Italien seine
Vormachtstellung in Abessinien immer weiter auszudehnen strebte,
so hat doch die deutsche Politik immer ausgleichend zu wirken,
Italien zu beruhigen und auf ein Zusammengehen mit England hin-
zuwirken gesucht. Dabei stand Deutschland selbst seit 1893 in
schwierigen Auseinandersetzungen mit England in seinen eigenen
Kolon ialfragen.
Die Kämpfe zwischen der deutschen Schutztruppe in Südwest-
afrika und dem Hottentottenhäuptling Hendrik Witboi im Frühjahr
1893 führten zu Gegensätzen mit England, ebenso gab es Streitig-
keiten in der Frage der Anwerbung von chinesischen Kulis für die
Pflanzungsunternehmungen der Neu-Guinea-Kompagnie1. Für Kame-
run gelang im November 1893 der Abschluß eines deutsch-eng-
lischen Abkommens über die Begrenzung der beiderseitigen Inter-
essensphären und beseitigte die jahrelangen Zwistigkeiten zwischen
den deutschen und englischen Unternehmern1 2.
Ernstliche Auseinandersetzungen ergaben sich im April 1894
aus dem deutschen Wunsche, Samoa an Deutschland abgetreten zu
sehen. Bisher hatten sich Amerika, England und Deutschland in die
Verwaltung der Inselgruppe geteilt. Amerika wünschte nun zurück-
zutreten, und das schien eine gute Gelegenheit für Deutschland,
in den Alleinbesitz zu gelangen. Graf Hatzfeldt wurde angewiesen,
diesen Wunsch in London zu vertreten, England lehnte aber jedes
Entgegenkommen ab3. Es kam zu einer erheblichen Trübung der
weltpolitischen Lage, zumal damals auch Schwierigkeiten zwischen
Frankreich und dem Kongostaate die internationale Atmosphäre be-
lasteten.
Auch Deutschland war als Nachbar des Kongostaates daran
interessiert, und so mußte die Nachricht, daß zwischen England
1 Or. Pol. Nr. 2018—2020.
2 Gr. Pol. Nr. 2022, 2023.
s Gr. Pol. Nr. 2024—2029, 2039.
134
Die deutsch-englischen Beziehungen 1890—1894
und dem Kongostaate ohne Verständigung Deutschlands eine Ver-
einbarung über eine Ausdehnung des letzteren abgeschlossen wor-
den sei, in Berlin alarmierend wirken. Deutschland erklärte schließ-
lich, an der Existenz des Kongostaates kein Interesse mehr zu haben
und die französische Nachbarschaft vorzuziehen, falls der Kongo-
staat sich im Widerspruch mit seiner Neutralität dazu hergebe, der
englischen Aggressiv-Politik in Afrika Vorschub zu leisten1.
Eine Rückwirkung der kolonialen Mißhelligkeiten auf die
deutsch-englischen Beziehungen ließ sich nicht ganz ausschließen,
zumal Deutschland versuchte, zur Erreichung seiner Ziele auf Eng-
land einen wirklich fühlbaren Druck an verschiedenen Punkten,
hauptsächlich in der ägyptischen Frage, auszuüben. Eine gewisse
Annäherung an Frankreich in der Kongofrage verschärfte die
deutsch-englische Spannung2. Mit unter der Einwirkung der Wiener
Politik lenkte England im Sommer 1894 etwas ein. Da auch Belgien
sich entgegenkommend verhielt, konnte der Konflikt am 17. Juni
1894 als beendet gelten3. In Wien und Rom herrschte lebhafte Be-
friedigung, England und Deutschland wieder miteinander versöhnt
zu sehen4.
Deutschland und der Nahe Orient 1890 bis Ende 1894
Während der ganzen Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. hat
die türkische Frage niemals aufgehört, eine europäische zu sein.
Ein wesentliches Moment der Beunruhigung bildete nach wie vor
die bulgarische Frage, da der Zar mit der Persönlichkeit des
Fürsten Ferdinand nicht einverstanden war, wenn er auch gewalt-
same Unternehmungen zu dessen Sturz ablehnte. Deutscherseits
hielt man sich an Bismarcks Grundsatz, russische Wünsche bezüg-
lich Bulgariens zu unterstützen, nicht aber eine den russischen
Wünschen entsprechende Initiative zu ergreifen5. Die Erhaltung des
europäischen Friedens wurde bei diesen Erwägungen immer in den
Vordergrund geschoben.
Die türkischen Befestigungen an den Dardanellen und am Bos-
porus schienen nicht mehr ausreichend, um die Türkei zu einer
wirksamen Schließung der Meerengen zu befähigen. Auf eine Ver-
besserung der türkischen Verteidigungsmittel am Bosporus hin-
zuwirken, hielt aber Caprivi erst dann für angezeigt, wenn Eng-
land über seine Entschlossenheit keinen Zweifel ließ, gegen jeden
russischen Landungsversuch auf dem Boden der europäischen Türkei
einzuschreiten 6.
1 Gr. PolTNr. 2030—2034.
2 Gr. Pol. Nr. 2040—2049.
3 Gr. Pol. Nr. 2054—2064.
4 Gr. Pol. Nr. 2069—2072.
6 Gr. Pol. Nr. 2084—2086.
6 11. Mai 1890. Gr. Pol. Nr. 2087.
135
Der Neue Kurs. 1890—1901
Als Staatssekretär Frhr. v. Marschall im Juli 1891 den Kaiser
nach England begleitete, sprach er sich mit Lord Salisbury auch
über die Orientfragen aus und versicherte, England könne stets auf
Deutschlands Sympathie und Unterstützung rechnen, wenn es für
die Erhaltung und Festigung seines Einflusses im Orient eintrete1.
Die Nachricht vom Spätherbste 1893, daß England seiner Herrschaft
im Mittelmeer kein vitales Interesse mehr beizumessen scheine und
sogar eine russische Besetzung Konstantinopels ertragen werde,
mußte daher beunruhigend wirken1 2. Lord Rosebery ließ aber keinen
Zweifel daran, daß England seine Rolle in der europäischen Politik
aufrechtzuerhalten dachte3. Ein neuer Botschafter, Sir Philip Currie,
wurde als Botschafter nach Konstantinopel entsandt. Er nahm so-
fort eine entschiedene Haltung ein, entsprechend der englischen Ab-
sicht, den Kampf gegen Rußland, falls es die freie Durchfahrt durch
die Meerengen erzwingen wolle, aufzunehmen und im Mittelmeer
allein mit der englischen Flotte zu führen4. Hierzu bedürfe es auch
nicht der Mithilfe Österreich-Ungarns und Italiens.
In Deutschland bewahrte man Zurückhaltung; Caprivi war nicht
gewillt, sich in dieser Frage vorschieben zu lassen. Österreich-Ungarn
sollte in seinem Versuche, sich mit England zu verständigen, nicht
entmutigt werden; für Deutschland war eine friedliche Lösung der
Meerengenfrage unter allen Umständen vorzuziehen5. Caprivi wollte
sich aber nicht durch Österreich-Ungarn zur Übernahme von Ver-
pflichtungen drängen lassen, die über den Dreibundvertrag hinaus-
gingen.
Im Frühjahr 1893 war auch die armenische Frage aufs neue
aufgelebt. Neue Unruhen brachen im November 1894 aus, und Ende
Dezember 1894 fand eine Verständigung zwischen Rußland, Frank-
reich, England und der Türkei über diese Frage statt, um eine arme-
nische Untersuchungskommission zu schaffen6. Deutschland blieb
im Hintergründe und ließ den armenischen Dreibund — England,
Rußland, Frankreich — gewähren.
Im Fernen Osten wurden die europäischen Großmächte durch
die am 1. August 1894 erfolgende Kriegserklärung Japans an China
in Mitleidenschaft gezogen. Beide Mächte hatten anläßlich eines im
Süden von Korea entstandenen Aufruhrs Truppen zur Wiederherstel-
lung der Ordnung dorthin entsandt. Als dieser Zweck erfüllt war,
weigerten sich die Japaner, ihre Truppen zurückzuziehen, ehe nicht
die koreanische Regierung gewisse Reformen eingeführt habe.
1 Gr. Pol. Nr. 2111.
2 Gr. Pol. Nr. 2135.
3 Gespräch mit Graf Hatzfeldt vom 5. Dezember 1893. Gr. Pol. Nr. 2137.
4 Gr. Pol. Nr. 2149.
5 Gr. Pol. Nr. 2151—2155.
6 Gr. Pol. Nr. 2198, 2200.
136
Deutschland und der Nahe Orient 1890 bis Ende 1894
China rief auch die deutsche Regierung an, damit sie in Japan
im Sinne einer Räumung Koreas vermitteln möge. Auch England
wünschte, Deutschland an einer Intervention der Mächte in Ost-
asien beteiligt zu sehen. Deutschland vertrat zunächst den Stand-
punkt, in Korea seien in erster Linie England und Rußland inter-
essiert1.
Nun ließ aber die schwere Niederlage der Chinesen zu Lande
und zu Wasser die Lage der in China weilenden Fremden gefährdet
erscheinen. England regte am 7. Oktober 1894 an, Deutschland möge
sich mit England, Frankreich, Rußland und den Vereinigten Staaten
zu einer Intervention zwischen Japan und China vereinigen1 2. In
Berlin hielt man diese Anregung für verfrüht und lehnte auch eine
Vermittlungsbitte der Chinesen vom 12. November 1894 höflich, aber
bestimmt ab3.
Hatte bis jetzt die deutsche Regierung eine für Japan durch-
aus freundliche Haltung beobachtet, so änderte sich das vom No-
vember 1894 ab. Der Gedanke eines Besitzerwerbes in China —
der Kaiser dachte anfänglich an Formosa4 — trat in den Vorder-
grund. In einem Berichte vom 23. November 1894 erwähnte der
deutsche Gesandte in Peking, Frhr. Schenck zu Schweinsberg, zum
ersten Male den Erwerb der Kiautschou-Bai als ein für Deutschland
erstrebenswertes Ziel.
Die Jahre 1895 bis 1897
Anfangs März 1895 bat die chinesische Regierung Deutschland
vertraulich, sich bei Japan im Sinne maßvoller Friedensbedingun-
gen verwenden zu wollen. Deutschland gab diese Anregung am
6. März an Japan weiter und bemerkte, eine japanische Forderung
von Gebietsabtretungen auf dem Festlande würde besonders ge-
eignet sein, ein Einschreiten der Mächte hervorzurufen5. England
hielt sich wohlweislich im Hintergründe, um seine Beziehungen zu
Japan nicht zu verschlechtern. Rußland und Frankreich hielten die ja-
panischen Forderungen an China für übertrieben und wollten inson-
derheit die Besitzergreifung der Halbinsel Liaotung mit Port Arthur
durch Japan nicht dulden6. In Berlin war man der irrtümlichen Mei-
nung, durch ein Zusammengehen mit Rußland in dieser asiatischen
Angelegenheit, falls sich Frankreich von einer Beteiligung an den von
Rußland angeregten Schritten ausschloß, die französisch-russischen
Beziehungen lockern, die deutsch-russischen aber bessern zu können.
1 Gr. Pol. Nr. 2213.
2 Gr. Pol. Nr. 2215.
3 Gr. Pol. Nr. 2218.
4 Gr. Pol. Nr. 2219.
6 Gr. Pol. Nr. 2226.
6 Gr. Pol. Nr. 2227—2237.
137
Der Neue Kurs. 1890—1901
Auch hoffte man, von einem dankbaren China die Abtretung oder
Pachtung eines Platzes für eine Flotten- oder Kohlenstation zu er-
halten1.
Unglücklicherweise befand sich damals als Vertreter Deutsch-
lands der Gesandte Frhr. v. Gutschmid in Tokio, der den Japanern
geradezu feindlich gegenüberstand und alle ihm zugehenden Weisun-
gen seiner Regierung mit unverkennbarem Vergnügen so scharf
wie möglich ausführte1 2. Bei einem gemeinsamen Schritte der drei
Botschafter in Tokio am 23. April 1895 sprach zuerst der russische,
dann der französische Gesandte und schließlich der deutsche, dieser
aber in so scharfer Tonart, daß der japanische Vizeminister Hayashi
davon ganz betroffen war. Gutschmid ging so weit, seine münd-
lichen Äußerungen noch durch eine schroffe, schriftliche Erklärung
zu übertrumpfen. Triumphierend meldete Gutschmid nach Berlin:
„Meine Sprache machte augenscheinlich Eindruck3.“
Deutschlands Hoffnung, durch sein Verhalten gegenüber Japan
zu vertrauensvolleren Beziehungen mit Rußland zu gelangen und
dadurch seine europäische Lage zu erleichtern, ging nicht in Er-
füllung. Die deutsche Politik geriet vielmehr in eine zunehmende
Isolierung hinein und erreichte durch ihr damaliges Verhalten nur
die Zerstörung der unzweifelhaft freundschaftlichen Empfindungen,
die Japan damals noch für Deutschland empfand4. Die japanischen
Staatsmänner erkannten noch damals rückhaltlos an, was Japan dem
deutschen Einflüsse und im besonderen die japanische Armee der
deutschen Ausbildung verdanke.
Am 17. April 1895 wurde der Frieden von Schimonoseki ge-
schlossen, für Deutschland mit dem Ergebnis, daß Japan sich durch
Deutschland um die Früchte seines Sieges gebracht wähnte. Als
zwölf Jahre später der deutsche Botschafter Frhr. Mumm v. Schwar-
zenstein auf Grund einer Unterredung mit dem Vicomte Hayashi
nach Berlin meldete, die damalige unfreundliche Haltung der japa-
nischen Presse gegen Deutschland stamme noch immer aus der Zeit
von Schimonoseki, ließ der Reichskanzler Fürst Bülow im Auswärti-
gen Amt Ermittlungen darüber anstellen und auch die Botschafts-
akten in Tokio daraufhin durchsehen5. Als Ergebnis wurde festge-
stellt, daß das schroffe Auftreten Gutschmids tatsächlich den Absich-
ten der deutschen Regierung nicht entsprochen hat. Die Auswirkung
der damaligen Ungeschicklichkeit eines deutschen Vertreters haben
wir im Weltkriege büßen müssen.
1 Gr. Pol. Nr. 2238—2240.
2 Gr. Pol. Nr. 2243—2250.
3 Gr. Pol. Nr. 2251.
1 Gr. Pol. Nr. 2254—2258, 2269, 2275, 2283—2305.
6 Gr. Pol. Nr. 2307.
138
Die Jahre 1895 bis 1897
In Rußland hatte Kaiser Nikolaus II. am 1. November 1894 den
Thron bestiegen. Er stand einstweilen stark unter dem Einflüsse
seiner Mutter und war von Franzosenfreunden umgeben1. Doch be-
kundete er bald den Wunsch, mit Kaiser Wilhelm II. in den aller-
besten Beziehungen zu bleiben2; das gute Einvernehmen mit Frank-
reich habe auch für Deutschland den Wert einer Sicherung des
Friedens, da Rußland in diesem Sinne auf Frankreich einzuwirken
vermöge. Diesen Gedankengängen trat Kaiser Wilhelm rückhaltlos
bei. Die Geschäfte als Kanzler führte seit 29. Oktober 1894 Fürst
Hohenlohe. Seine Ernennung hatte in Paris, wo der Fürst 1874 bis
1885 Botschafter gewesen war, den allerbesten Eindruck gemacht.
Man deutete sie als ein erneutes Zeichen der Friedensliebe des deut-
schen Kaisers3.
Unter der Einwirkung des Dreyfusprozesses lebte damals in
ganz Frankreich die Krankheit der Spionenriecherei fieberhaft auf.
Der „Matin“ ging so weit, die Abschaffung der Militärattaches zu
fordern und bezeichnete die deutsche Botschaft als die Zentralstelle
der deutschen Spionage in Frankreich. Dem persönlichen Auftreten
des neuen deutschen Botschafters, Grafen Münster, gelang es, eine
Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den Regierungen zu
verhindern. Frankreich mußte sich zu einer kurzen dementierenden
Erklärung verstehen4.
Trotz der Verstimmungen des Dreyfusprozesses ließ der deut-
sche Kaiser im Februar 1895 die französische Regierung zur Ent-
sendung von Kriegsschiffen anläßlich der geplanten feierlichen Er-
öffnung des Nord-Ostsee-Kanals einladen. Die Eröffnung erfolgte
am 19. Juni 1895. In Frankreich hatte man die Einladung nach
mannigfachen Bedenken angenommen, regte sich aber darüber auf,
daß etwa die beiden deutschen Schiffe „Weißenburg“ und „Wörth“
in Kiel anwesend sein könnten. Der damalige Notenwechsel über
diese Angelegenheit wirft ein grelles Licht auf die Überempfind-
lichkeit der Franzosen. Das Auswärtige Amt teilte schließlich nach
Paris mit, daß Schiffe vom Tiefgange der „Weißenburg“ und
„Wörth“ aus technischen Gründen an der Feierlichkeit der Kanal-
durchfahrt nicht mit teilnehmen würden.
Angesichts der sich immer freundschaftlicher gestaltenden Be-
ziehungen zwischen Kaiser Wilhelm II. und dem j'ungen Zaren ver-
folgte der Kaiser das Ziel, im Interesse des europäischen Friedens
„Rußland in Ostasien festzunageln, damit es sich weniger mit Europa
und dem europäischen Orient beschäftige. Rußland müsse unter Ver-
wertung der Macht der orthodoxen Kirche und der Moskauer Kreise
als Vorkämpfer des orthodoxen Christentums und des Kreuzes,
rQr. Pol. Nr. 2308.
2 Gr. Pol. Nr. 2313.
3 Gr. Pol. Nr. 2329.
4 Gr. Pol. Nr. 2330—2342.
139
Der Neue Kurs. 1890—1901
als Hort der Zivilisation gegen die drohende Gefahr eines durch
Japan mobilisierten chinesischen Ansturms vorgeschoben werden1.“
Diesem Gedankengange entsprach im September 1895 die Über-
bringung der vom Kaiser entworfenen allegorischen Zeichnung mit
der Unterschrift: „Völker Europas, wahret Eure heiligsten Güter!“
durch den Flügeladjutanten, Oberst v. Moltke, nach Petersburg1 2.
In Rußland trat an die Stelle des am 26. Januar 1895 verstorbenen
Herrn v. Giers im März der bisherige russische Botschafter in
Wien, Fürst Lobanow, der zu einer englandfeindlichen Politik zu
neigen und Italien an die russisch-französische Gruppe heranziehen
zu wollen schien3. Der deutsche Staatssekretär Frhr. v. Marschall,
der im März 1890 an die Stelle des Grafen Herbert v. Bismarck ge-
treten war, hielt es daraufhin für angezeigt, hauptsächlich den
Dreibund zu erhalten, bis Rußland vielleicht einmal wünschte, sich
ohne Frankreich mit Deutschland und seinen Freunden zu vereini-
gen; die franko-russische Gruppe bilde eine Gefahr, und deshalb
sei es für Deutschland wünschenswert, wenn sich das englisch-ita-
lienisch-österreichische Zusammengehen im Mittelmeer noch weiter
entwickele4.
Offensichtlich waren damals Frankreich und Rußland bestrebt,
Italien in Afrika Schwierigkeiten zu bereiten, um es auf diese Weise
einzuschüchtern oder lahmzulegen5. Rom bekundete daraufhin den
Wunsch, auf den Dreibund und das Wohlwollen Englands gestützt zu
einer aktiveren Politik überzugehen. Die italienischen Pläne führten
Lord Salisbury zu der Erwägung, ob man nicht den Italienern, statt
sie bei ihren „sterilen“ Unternehmungen in Afrika zu fördern, die
türkischen Provinzen Albanien und Tripolis geben sollte. In Ver-
bindung hiermit dachte Salisbury an eine Aufteilung der Türkei. Der
Schwierigkeiten einer gütlichen Teilung unter den Interessenten des
türkischen Erbes war er sich dabei wohl bewußt6. Deutschland ging
auf die englische Anregung nicht ein, sondern hielt sich vorsichtig
zurück. In einer Teilung der Türkei lagen gewisse Gefahren für die
Aufrechterhaltung des Dreibundes, und man war in Berlin nicht
mit Unrecht der Meinung, daß nach der bisherigen unsicheren Politik
Englands niemand mehr an bestimmte Ziele der englischen Politik
und an ihre folgerichtige Durchführung glauben könne7.
In Abessinien suchte Italien seine Vormachtstellung immer wei-
ter auszudehnen. Dauernd prallten italienische und englische Wün-
sche aufeinander, so bei der Abtretung von Zeila. Italien hatte im
1 Or. Pol. Nr. 2318.
2 Or. Pol. Nr. 2321, 2322.
3 Or. Pol. Nr. 2324—2327.
4 15. November 1895. Gr. Pol. Nr. 2328.
8 Gr. Pol. Nr. 2369.
6 Gr. Pol. Nr. 2372.
7 Gr. Pol. Nr. 2387—2393.
140
Die Jahre 1895 bis 1897
Frühjahr 1895 seine militärischen Operationen in Abessinien abge-
brochen, nahm sie aber anfangs Oktober 1895 wieder auf und erlitt
alsbald Rückschläge. Die Kolonne des Majors Toselli wurde am
7. Dezember 1895 im Süden von Makalla umzingelt und aufgerieben,
weitere unglückliche Ereignisse schlossen sich an, die man in Italien
auf die fortdauernde französische Einfuhr von Kriegsgerät nach
Abessinien und auf die unfreundliche Haltung der englischen Re-
gierung zurückführte. Es bedurfte der Zustimmung Englands zu
einer Truppenlandung in Zeila, die Salisbury anfangs nicht zugeben
wollte, da er befürchtete, die Italiener würden es behalten wollen1.
Die Engländer schützten daher vor, Zeila sei als Operationsbasis
nach dem Innern ungeeignet. Marschall bemühte sich vergebens,
die englische Regierung zu einem größeren Entgegenkommen gegen
Italien zu bewegen, und zog in Erwägung, „die sich etwa bietenden
Gelegenheiten, wo ein plus oder minus von Entgegenkommen unse-
rerseits gegenüber England etwa in Betracht käme, zu benutzen, um
den Engländern fühlbar zu machen, daß es in der Politik wie überall
im Leben eine Gegenseitigkeit auch für Ungefälligkeiten gibt1 2“.
In diese Stimmung hinein platzte die Nachricht, daß 800 Mann
bewaffneter Truppen unter Jameson auf Johannisburg zögen, und
daß der Präsident der Burenrepublik den Befehl gegeben habe,
ein weiteres Vordringen der feindlichen Truppen mit Waffengewalt
zu verhindern. Staatssekretär Frhr. v. Marschall hielt den Augen-
blick für gekommen, nunmehr eine starke Politik England gegen-
über durchzusetzen3. So entsprang das viel umstrittene Krüger-
telegramm vom 3. Januar 1896 nicht etwa einer impulsiven Auf-
wallung des Kaisers, sondern es stellte einen wohlerwogenen Akt
des Auswärtigen Amtes dar. Es ist auch nicht richtig, daß Marschall
die ursprüngliche Fassung des Krügertelegrammes in manchen Aus-
drücken gemildert habe. Der Kaiser hat seine schweren Bedenken
gegen die Absendung des Telegramms geltend zu machen versucht.
Als der Reichskanzler und der Staatssekretär indes auf seiner Unter-
zeichnung und Absendung unter Betonung ihrer Verantwortlichkeit
für die Folgen bestanden, gab der Monarch ihnen nach.
Das Krügertelegramm hat bei der Mentalität des englischen
Volkes eine geradezu ungeheure Wirkung ausgeübt, die über eine
zeitlich begrenzte Verstimmung weit hinausging. Sie öffnete vielen
Engländern, ihrer Auffassung nach, zum ersten Male die Augen für
die Erkenntnis einer dem englischen Handel und der englischen Vor-
machtstellung von Deutschland drohenden Gefahr. Daß die Span-
nung zwischen den amtlichen Behörden allmählich nachließ und im
März 1896 englischerseits als beseitigt bezeichnet werden konnte,
1 Qr. Pol. Nr. 2748—2760.
2 28. Dezember 1895. Qr. Pol. Nr. 2759.
3 Or. Pol. Nr. 2585—2589.
141
Der Neue Kurs. 1890—1901
änderte nichts an der Tatsache, daß ein unheilvoller, in die Zukunft
weiter wirkender Schritt geschehen war1.
In den Fragen des Nahen Orients wurde das Zusammenwirken
der Großmächte im Sinne der bisherigen Gruppierungen vom Herbst
1895 ab gleichfalls auf neue Proben gestellt1 2. Armenische Demon-
strationen in Stambul veranlaßten im September 1895 die Groß-
mächte zu neuen scharfen Vorstellungen. Auch Deutschland schloß
sich an. Der unter diesem Zwange sich bekundende türkische Re-
formwille schuf vorübergehend eine Entspannung3 4. Der aus Eng-
land, Frankreich und Rußland bestehende sogenannte Armenische
Dreibund gelangte aber niemals zu endgültigen Ergebnissen, da es
an einer geschlossenen Einmütigkeit der drei Mächte fehlte. Immer
wieder wurden neue Schritte in Konstantinopel nötig, an denen sich
gelegentlich auch Deutschland beteiligte, während England sich be-
mühte, auch Wien und Rom zum Eingreifen zu veranlassen1.
Die Wiener Politik wurde nach dem Rücktritt des Grafen Käl-
noky seit 15. Mai 1895 vom Grafen Goluchowski geleitet. In Golu-
chowski hatte Kaiser Franz Joseph einen Minister gefunden, der aus
eigener Überzeugung den Standpunkt des Kaisers vertrat. Der Kaiser
wollte, wie Botschafter Graf zu Eulenburg am 8. August 1895 be-
richtete5, nach Möglichkeit dasjenige sichern, was ihm als Äquivalent
für die verlorenen italienischen Länder und für die Vorherrschaft
in Deutschland zugefallen war. Dazu gehörte die Aufrechterhaltung
seines Einflusses auf dem Balkan, auch in Bulgarien, wodurch
gegen den Sinn der von Bismarck immer vertretenen Interessen-
teilung ein Gegensatz gegen Rußland gegeben war6. Goluchowski
begann, die Unterstützung seiner Orientpolitik, die er bei Deutsch-
land nicht fand, bei England zu suchen7, fand aber auch dort nicht
das von ihm gewünschte Entgegenkommen8. Fürst Hohenlohe ließ
dem Wiener Kabinett keinen Zweifel darüber, daß Österreich-Un-
garn jede Aktion gegen Rußland auf eigenes Risiko unternehmen
müsse9; deutscherseits sollte aber jede Äußerung vermieden wer-
den, die einer Verständigung der Dreibundgenossen über die Orient-
frage mit England hätte abträglich sein können.
Als man in Wien im November 1895 ein tatkräftigeres Vor-
gehen gegen Konstantinopel für angezeigt hielt und die Entsendung
von Kriegsschiffen nach den Meerengen erwog, beteiligte sich auch
1 Or. Pol. Nr. 2590—2639.
2 Gr. Pol. Nr. 2394-2437.
3 Gr. Pol. Nr. 2434—2444.
4 Gr. Pol. Nr. 2472—2476.
6 Gr. Pol. Nr. 2488.
6 Gr. Pol. Nr. 2489.
7 Gr. Pol. Nr. 2491.
8 Gr. Pol. Nr. 2496-2498.
9 Gr. Pol. Nr. 2501.
142
Die Jahre 1895 bis 1897
Deutschland, aber nur mit einem Schiffe. Der deutsche Botschafter
in Konstantinopel arbeitete aber an der Beilegung der dortigen
Schwierigkeiten tatkräftig mit1.
In den Wintermonaten 1895/1896 erfolgten Versuche Österreich-
Ungarns und Italiens, die Mittelmeerentente zwischen Ita-
lien, England und Österreich in Anlehnung an die Abmachun-
gen von 1887 wieder zu beleben1 2. Wiederum wußte England allen
seine Haltung in der Zukunft beeinflussenden Festlegungen auszu-
weichen, während andererseits Italien und auch Österreich-Ungarn
großen Wert darauf legten, die Abmachungen von 1887 in irgend-
einer Form bestätigt zu sehen. Zwischen den Dreibundmächten nahm
Deutschland eine vorsichtig abwägende Haltung ein und suchte seine
Dreibundgenossen immer in dem Sinne zu beeinflussen, daß sie
sich nicht gegen unsichere Versprechungen Englands zu unvorsich-
tigen Schritten ihrer Mittelmeer- und Balkanpolitik hinreißen ließen3.
Ein Beitritt Englands zum Dreibunde stellte sich als praktisch un-
durchführbar heraus4.
Ohne seine Dreibundgenossen zu verständigen, regte Öster-
reich-Ungarn im Januar 1896 die Erneuerung des Mittelmeer-Ab-
kommens von 1887 in London an, fand aber nur geringes Entgegen-
kommen. Wieder betonte Lord Salisbury, England könne sich nicht
binden; die öffentliche Meinung Englands über die Türkei würde
ihm nicht gestatten, eine Verpflichtung zum Schutze Konstantinopels
gegen die Russen einzugehen5. Auch in Rom erkannte man bald,
daß Lord Salisbury die früheren Abmachungen Englands mit Öster-
reich und Italien nicht geradezu verleugnete, aber neue oder engere
Verpflichtungen nicht übernehmen wollte6. Graf Goluchowski war
tief verstimmt, zumal etwa zu gleicher Zeit Fürst Hohenlohe einen
ganz ähnlichen Standpunkt in bezug auf die Wünsche der öster-
reichischen Politik im Balkan einnahm. Graf Goluchowski hatte
wissen wollen, wie sich Deutschland im Falle einer russischen Be-
setzung der Meerengen verhalten würde. Ganz wie es auch in Eng-
land immer geschah, vertrat Fürst Hohenlohe den Grundsatz, „daß
zukünftige Ereignisse, deren Eintritt völlig ungewiß ist, nicht Gegen-
stand bindender Entscheidungen sein“ könnten7. — „Die Gründe,“
heißt es in einem Schreiben des Fürsten Hohenlohe an den Kaiser
vom 2. Februar 1896, das uns einen Vergleich mit Deutschlands
Lage gegenüber Österreich vor Ausbruch des Weltkrieges sehr
nahe legt, „welche uns seinerzeit veranlaßt hatten, die auf den
1 Gr. Pol. Nr. 2505—2537.
2 Siehe oben S. 102/103.
3 Gr. Pol. Nr. 2538—2568.
4 Gr. Pol. Nr. 2569.
6 Gr. Pol. Nr. 2664.
6 Gr. Pol. Nr. 2666.
7 Gr. Pol. Nr. 2671.
143.
Der Neue Kurs. 1890-1901
Orient und das Mittelmeer bezüglichen Fragen aus den Bündnis-
verträgen auszuscheiden und den Casus foederis mit Österreich-
Ungarn auf den Fall eines gegen dieses Reich gerichteten
Angriffs Rußlands zu beschränken, bestehen unverändert fort. Woll-
ten wir über die ausdrücklichen Bestimmungen jener Verträge hinaus
Österreich-Ungarn unsere Unterstützung Zusagen, falls es in einem
russischen Vorgehen nach Konstantinopel einen Casus belli erblicken
zu müssen glaubt, so würden wir die Verantwortlichkeit für etwaige
aggressive Pläne des Wiener Kabinetts übernehmen, die Grundlagen
unserer bewährten Orientpolitik preisgeben und damit für uns die
Gefahr eines Krieges nach zwei Fronten steigern; wollten wir um-
gekehrt dem Wiener Kabinett erklären, daß wir Österreich-Ungarn
bei einem Kriege mit Rußland aus Anlaß der Meerengenfrage seinem
Schicksal preisgeben würden, so hieße dies unsere Verbündeten ent-
mutigen und dem Pessimismus zutreiben“. Als Grundsatz der deut-
schen Politik bezeichnete es schließlich Fürst Hohenlohe, Wien dar-
auf aufmerksam zu machen, daß es auf eigene Verantwortlichkeit
handele, wenn es aus einem solchen Anlasse in einen Krieg mit
Rußland gerate; Deutschland werde aber nicht zugeben, daß Öster-
reich-Ungarns Großmachtstellung ernsthaft bedroht werde. Hohen-
lohe hielt es für richtig, von einer „Definierung der wiederholt von
österreichischer Seite angeregten Frage, wann wir im konkreten
Falle den Casus foederis als eingetreten betrachten würden, zur
Zeit abzusehen1“.
In Wien war man enttäuscht und beklagte das Sinken des öster-
reich-ungarischen Einflusses infolge der nicht hinreichenden Berück-
sichtigung seiner einzigen ernsthaften auswärtigen Interessen, näm-
lich der orientalischen1 2. Demgegenüber vertrat Fürst Hohenlohe
mit Festigkeit als Grundgedanken des Dreibundes, diesen nicht zum
Mittel für unbestimmte Pläne Österreichs im Orient verwenden zu
lassen. „Österreich muß mit dem defensiven Charakter des Drei-
bundes zufrieden sein, wenn es nicht zugrunde gehen will3.“ Die
Politik des Dreibundes kennzeichnete Fürst Hohenlohe am 7. März
1896 wie folgt: „Zusammenhalten, sich ruhig halten, seiner eigenen
Stärke vertrauen und keine anderen Bündnisse suchen, sei es, wo
es sei4.“
Vom 10.—13. März 1896 weilte Graf Goluchowski in Berlin,
und es geschah alles, ihn aus seiner Stimmung „der enttäuschten
Hoffnungen und sorgenvollen Ungewißheiten“ wieder herauszu-
bringen5. Das gelang auch bis zu einem gewissen Grade. Golu-
1 5. Februar 1896. Gr. Pol. Nr. 2672.
2 Gr. Pol. Nr. 2673.
2 Gr. Pol. Nr. 2674.
* Gr. Pol. Nr. 2677.
s Gr. Pol. Nr. 2678.
144
Die Jahre 1895 bis 1897
chowski erklärte bei diesem Anlasse, er habe nie ernstlich gehofft,
mit seinem Londoner Anträge auf Erneuerung des Abkommens von
1887 bei Lord Salisbury durchzudringen1.
Im Geiste der Anschauungen des Fürsten Hohenlohe über die
Ziele des Dreibundes erfolgte am 16. Mai 1896 die stillschweigende
Erneuerung des dritten Dreibundvertrages. Italienische
Wünsche, Österreich-Ungarn möge im Mittelmeer, Deutschland im
Orient größere Verpflichtungen als bisher übernehmen, wurden
nicht berücksichtigt, zumal die Italiener nach dem schweren Rück-
schläge von Adua1 2 ihre Ansprüche mäßigten. Da am 16. Mai 1896
der Termin ablief, bis zu dem Italien den Vertrag hätte kündigen
müssen, bestand er auf weitere sechs Jahre zu Recht. Doch ver-
traten die italienischen Staatsmänner bei sich bietender Gelegenheit
die Auffassung, daß der Dreibund, da er ein Bund zur Erhaltung
des Friedens sei, Italien nicht hindere, auch mit anderen Mächten
freundliche Beziehungen zu pflegen3.
Die italienische Politik war im Frühjahr 1896 immer von dem
Wunsche beherrscht gewesen, aus den afrikanischen Schwierigkeiten
herausgelangen, ohne den Dreibund aufzugeben4. Der Dreibund
aber war auch nach der Auffassung des damaligen Reichskanzlers
Fürsten Hohenlohe, die Botschafter B. v. Bülow in Rom vertreten
mußte, ein „pacte conservatoire“, nicht aber eine Erwerbsgesell-
schaft5. Für Italien die Gefahr eines Weltkrieges auf sich zu nehmen,
nur um ihm die Eroberung von Abessinien zu sichern, war Fürst
Hohenlohe nicht gewillt6.
Die schwere Niederlage der Italiener bei Adua am 3. März 1896
steigerte den Wert der deutschen Freundschaft für Italien, zumal
man sich in London wenig geneigt zeigte, Italien entgegenzukom-
men. Lord Salisbury machte aus seiner Meinung kein Hehl, daß er
das abessinische Unternehmen der Italiener stets für unüberlegt und
verfehlt gehalten habe7. Hier griff Kaiser Wilhelm II. persönlich
ein, indem er unter dem frischen Eindrücke der Hiobsbotschaft aus
Abessinien sich mit dem englischen Botschafter in Berlin, Sir
Frank Lascelles, eingehend über die politische Lage, über die Ten-
denzen der russischen Politik und über die Notwendigkeit eines An-
schlusses Englands an den Dreibund aussprach8. Lord Salisbury be-
tonte daraufhin den Wunsch Englands, sich an den Dreibund anzu-
lehnen; es werde aber nie ein Versprechen übernehmen, das für
1 Gr. Pol. Nr. 2680.
2 Siehe unten.
3 Gr. Pol. Nr. 2796—2814.
4 Gr. Pol. Nr. 2764.
5 Gr. Pol. Nr. 2766.
6 Gr. Pol. Nr. 2765.
7 Gr. Pol. Nr. 2773.
8 Gr. Pol. Nr. 2770, 2771.
10 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
145
Der Neue Kurs. 1890—1901
irgendeine zukünftige Möglichkeit die Verpflichtung zum Kriege
enthalte1.
In Italien mußte das Ministerium Crispi dem Kabinett di Rudini
Platz machen. Das Hauptbestreben der neuen Männer war, weitere
militärische Mißerfolge und allzu große finanzielle Opfer in Afrika
zu vermeiden, sowie das italienische Nationalgefühl mit der Not-
wendigkeit des Rückzuges in Eryträa zu versöhnen1 2. Die alsbald
mit Menelik angeknüpften Friedensverhandlungen zerschlugen sich
aber zunächst. Unter freundschaftlicher Vermittlung des deut-
schen Kaisers kam schließlich am 26. Oktober 1896 der Friedens-
schluß Italiens mit Abessinien zustande3. Da inzwischen auch der
Dreibund am 16. Mai 1896 erneuert worden war, schien die Stellung
des italienischen Kabinetts, wie überhaupt Italiens außenpolitische
Lage wesentlich befestigt. Die französisch-italienischen Beziehungen
hatten sich während der für Italien kritischen Monate des Jahres
1896 stets „im Zustande latenter Feindseligkeit“ befunden4. Die
öffentliche Meinung Italiens wandte sich aber schon damals unver-
kennbar vom Dreibunde ab und wünschte bessere Beziehungen zu
Frankreich5.
Die Erkaltung der Dreibundbeziehungen in der öffentlichen
Meinung Italiens wurde bis zu einem gewissen Qrade durch die
Verlängerung des zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien ge-
schlossenen Bündnisvertrages, die am 30. September 1896 in Sinaia
erfolgte, ausgeglichen. Das deutsche Auswärtige Amt wünschte alles
zu vermeiden, was als eine unmittelbare Einbeziehung Rumäniens
in den Dreibundvertrag gedeutet werden konnte, um die Beziehun-
gen zu Rußland nicht zu verschlechtern und es nicht an Frankreichs
Seite drängen zu lassen. Man beschränkte sich daher in Berlin dar-
auf, von der Tatsache der Vertrags Verlängerung nur Kenntnis zu
nehmen6, ebenso wie man es auch vermied, auf militärische Bespre-
chungen mit Österreich-Ungarn und Rumänien gemeinsam einzu-
gehen7.
Die Sorge, Rußland an die Seite Frankreichs gleiten zu sehen,
hat damals die deutsche Politik maßgebend bestimmt. Zunächst ließ
Kaiser Wilhelm II. keine Gelegenheit außer acht, um die deutsch-
französischen Beziehungen zu verbessern. Gleichzeitig setzte er sich
dafür ein, die deutsch-russischen Beziehungen im Interesse der Er-
haltung des Weltfriedens enger zu knüpfen. Den ersten greifbaren
Anlaß dazu bildete die Krönung des Zarenpaares in Moskau am
1 Gr. Pol. Nr. 2779.
2 Or. Pol. Nr. 2780, 2781.
3 Gr. Pol. Nr. 2790—2795.
4 Gr. Pol. Nr. 2816, 2817.
6 Gr. Pol. Nr. 2820—2823.
6 Gr. Pol. Nr. 2828.
7 Gr. Pol. Nr. 2833—2836.
146
Die Jahre 1895 bis 1897
26. Mai 1896, zu der als Vertreter des Kaisers Prinz Heinrich ent-
sandt wurde.
Die russisch-französische Annäherung machte aber unaufhalt-
same Fortschritte. In Paris wurde die Moskauer Krönung gefeiert,
als ob der Zar gleichzeitig französischer Kaiser und Frankreich
durch Personalunion mit Rußland verbunden wäre1. Die Begeiste-
rung der Franzosen für den Zweibund wurde im Sommer 1896
durch die Nachricht ins Ungemessene gesteigert, daß das Zarenpaar
im Anschluß an seine Antrittsbesuche in Wien, Deutschland und
England anfangs Oktober 1896 für mehrere Tage nach Frankreich
kommen wolle1 2.
Am 5. September 1896 traf das russische Kaiserpaar anläßlich
der Kaisermanöver in Schlesien zum Besuche in Breslau ein und
begab sich anschließend nach Kiel zur Besichtigung der deutschen
Flotte, nachdem der Kaiser den Zaren am 5. September zum Ad-
miral ä la suite der deutschen Marine ernannt hatte. Bei dem Zu-
sammensein der Monarchen waren hauptsächlich wirtschaftliche
Fragen erörtert worden, und Kaiser Wilhelm hatte den Gedanken
vertreten, daß er bereit sei, mit Frankreich zur Verteidigung des
europäischen Kontinents gegen die von Amerika drohenden Handels-
maßnahmen zusammenzugehen3. Als Nachfolger des am 30. August
1896 verstorbenen russischen Außenministers Fürsten Lobanow hatte
Schischkin an den Besprechungen teilgenommen; an seine Stelle trat
am 13. Januar 1897 Graf Murawiew.
Das große Ereignis des Zarenbesuches in Frankreich ging pro-
grammäßig vonstatten. Am 5. Oktober landete das Kaiserpaar in
Cherbourg, weilte vom 6.—8. Oktober in Paris und wohnte am
9. Oktober einer großen Parade in Chälons bei. Chauvinistische
Kundgebungen waren, offenbar einem Wunsche des Zaren ent-
sprechend, nicht vorgekommen4. In den feierlichen Ansprachen war
das Wort „alliance“ vermieden worden. Doch hatten die Franzosen
damals zum ersten Male den Ausdruck „duplice“ verwendet. Wenn
auch das Wort „alliance“ in den offiziellen Reden fehlte und um-
schrieben wurde, so war eine solche doch tatsächlich vorhanden, und
Deutschland mußte damit rechnen.
War es Kaiser Wilhelm II. 1896 tatsächlich gelungen, seine Be-
ziehungen zu Rußland freundlicher zu gestalten, und dadurch auch
zu der Beilegung eines im Sommer 1896 zwischen Rußland und
Deutschland entstandenen Zollkrieges durch eine Konferenz in Berlin
beizutragen, so schuf die auf Bismarck persönlich zurückgehende
Veröffentlichung des Artikels vom 24. Oktober 1896 in den „Ham-
1 Qr. Pol. Nr. 2853.
2 Gr. Pol. Nr. 2855.
3 Gr. Pol. Nr. 2858—2862.
4 Gr. Pol. Nr. 2863, 2866.
io*
147
Der Neue Kurs. 1890—1901
burger Nachrichten“ über das bisher sorgfältig gehütete Geheimnis
des Rückversicherungsvertrages und seiner Nichterneuerung im Jahre
1890 „Fürst Bismarck und Rußland“ eine erhebliche Verstimmung
der russischen Staatsmänner gegen Deutschland. Minister Witte be-
zeichnete die Enthüllung als ein „böses unpatriotisches Machwerk“,
das darauf ausgehe, die Regierung bloßzustellen1. In der russischen
Presse vertrat man die Auffassung, daß die Enthüllungen des Fürsten
Bismarck an der gegenwärtigen Lage nichts zu ändern vermöchten;
das französisch-russische Bündnis sei die beste Garantie für die Er-
haltung des Weltfriedens; in Deutschland werde es den Chauvinis-
mus zügeln; Deutschland könne nicht eher auf eine Besserung seiner
politischen Lage hoffen, „als bis es nicht Elsaß-Lothringen an Frank-
reich zurückgegeben, sich vom Dreibund losgesagt habe und davon
abstehe, Österreich-Ungarn zu einer aggressiven Orientpolitik auf-
zureizen1 2“. Auch der belgische Gesandte in Berlin Baron Greindl hat
damals die Veröffentlichung des Fürsten Bismarck mit scharfen
Worten verurteilt.
Die Persönlichkeit des jungen Zaren wurde schon 1896 ziemlich
ungünstig beurteilt. Kaiser Wilhelm II. kennzeichnete ihn bei einer
Aussprache mit dem englischen Botschafter Sir Frank Lascelles als
von den besten Intentionen beseelt, aber jedes Rückgrats erman-
gelnd, so daß er unstet umherschwanke3. Auch Kaiser Franz Joseph
äußerte sich besorgt über die immer mehr hervortretende Willens-
schwäche des Monarchen; er wünsche zweifellos den Frieden zu
wahren und mit sämtlichen Mächten in freundschaftlichen Bezie-
hungen zu bleiben, könne aber unter Umständen und gewiß gegen
seinen Willen in kriegerische Verwicklungen hineingetrieben werden,
wenn irgendein kräftigerer Wille als der seinige es verstände, die
Leidenschaften im Volke zu wecken. Es erschien ihm fraglich, ob
Kaiser Nikolaus imstande sein würde, der gewaltigen Strömung der
sogenannten russischen Patrioten zu widerstehen, zumal bei den
Russen der Gedanke immer stärker wurde, Rußland sei berufen, die
Welt zu beherrschen4.
Die Besorgnisse des alten Kaisers sind durch 1914 zum Unglück
der Welt überraschend bestätigt worden. Derselbe Zar, der in der
Geschichte als Schöpfer der Haager Friedenskonferenz und als
erster Bekenner des Abrüstungsgedankens fortleben wird, erlag dem
ungestümen Andringen seiner panslawistischen und militärischen
Umgebung.
1 Gr. Pol. Nr. 2873.
2 Birschewija-Wjedomosti vom 3. November 1896. Gr. Pol. Nr. 2878.
3 Gr. Pol. Nr. 2881.
i Gr. Pol. Nr. 2882.
148
Der Nahe Orient. 1896—1897
Der Nahe Orient. 1896—1897
Im Frühjahr 1896 zeigte sich Rußland bereit, den Prinzen Fer-
dinand von Bulgarien als Fürsten anzuerkennen, nachdem der Fürst
in den Glaubenswechsel seines Sohnes gewilligt hatte. In Berlin
trat man dafür ein, daß auch Wien zustimmte, wenn man auch be-
fürchtete, der ehrgeizige Fürst werde nunmehr nach der Erlangung
von Mazedonien und nach dem Königstitel streben.
Das Wiederaufleben der armenischen Frage führte im Sommer
1896 zu neuen Erörterungen der Großmächte über die Meerengen-
frage. Für die deutsche Politik stand von vornherein fest, daß man
alles vermeiden wollte, was geeignet schien, den Zerfall der Türkei
zu beschleunigen. War dieser Zerfall nicht aufzuhalten, so war man
bereit, Rußland unbehindert ins Mittelmeer gelangen zu lassen.
Österreich wollte die Besetzung Konstantinopels durch die Russen
nicht dulden und England die Meerengen für alle Nationen geöffnet
sehen. Angesichts der russischen Haltung schien es schließlich das
beste, das damalige Verhältnis aufrechtzuerhalten und die Türkei
als „Portier“ an den Dardanellen zu belassen1. So einigten sich denn
auch die Kaiser von Deutschland und Rußland bei ihrem schlesischen
Zusammensein im September 1896 dahin, den vertragsmäßig fest-
gelegten Status quo im Orient zu erhalten und die Autorität des Sul-
tans zu stützen1 2. Für die deutsche Politik bildete die voraussicht-
liche Haltung Englands und Rußlands in dieser Frage den Angel-
punkt aller Erwägungen3.
Schon im Dezember 1895 hatten sich neue mazedonische Wir-
ren angekündigt. In Rußland zeigte man sich besorgt, beteuerte
aber, nicht an eine Änderung des Status quo der Türkei zu den-
ken, während man in Wien die Ansicht vertrat, die mazedonische
Frage würde vollständig tot sein, sobald Rußland seine Hände davon
zurückziehe. Da auch auf der Insel Kreta, die von jeher zu Aufstän-
den gegen die türkische Herrschaft geneigt war, seit Ende 1895 Un-
ruhen im Gange waren, die im Juni 1896 zu blutigen Kämpfen zwi-
schen türkischen Truppen und der von griechischer Seite unterstütz-
ten christlichen Bevölkerung führten4, schien es für die Großmächte
unerläßlich, den immerwährenden Beunruhigungen, die von der
Türkei ausgingen, durch die Schaffung einer durchgreifenden Re-
form endlich ein Ziel zu setzen. Trotz der Botschafterkonferenzen,
die 1896 und 1897 in Konstantinopel stattfanden, konnte der Aus-
bruch griechisch-türkischer Feindseligkeiten nicht verhindert werden.
Über das Kreta und Griechenland gegenüber einzuschlagende Ver-
1 Gr. Pol. Nr. 2921.
2 Gr. Pol. Nr. 2925.
3 Gr. Pol. Nr. 2926—2942.
4 Gr. Pol. Nr. 2992—3063.
149
Der Neue Kurs. 1890—1901
fahren vermochten sich die Großmächte nicht zu einigen, da Eng-
lands Haltung stets zweifelhaft blieb und man in London dem öster-
reichischen Vorschläge einer Blockade Kretas nicht zustimmen
wollte1. Schließlich schuf ein vom Sultan erlassenes Reform-Iradee
auf Kreta eine gewisse Beruhigung. Im Januar 1897 aber entstanden
neue Verwicklungen, die schließlich im April 1897 zum grie-
chisch-türkischen Kriege führten.
Alle Großmächte fürchteten das Aufleben der Orientfrage, und
so dachte man zeitweise daran, Kreta durch Rußland, England,
Frankreich und Italien gemeinsam besetzen zu lassen1 2. Am meisten
aber fürchtete man das Übergreifen von Kriegshandlungen auf den
Balkan, zumal England für ein entschiedenes Vorgehen nicht zu
haben war3. Kaiser Wilhelm folgerte aus den damaligen Erfahrungen
die dringende Notwendigkeit einer stärkeren Ausgestaltung der deut-
schen Flotte, da sich Deutschland mangels einer solchen im Konzert
der Großmächte niemals habe durchsetzen können4.
Der griechisch-türkische Krieg nahm von Anfang an für die
Griechen den denkbar ungünstigsten Verlauf, so daß sie sich schon
im Mai 1897 genötigt sahen, die Vermittlung der Mächte behufs
Erlangung eines Waffenstillstandes anzurufen5. Nach schwierigen
Verhandlungen kam es schließlich zum Frieden. Die Griechen be-
hielten Thessalien, hatten aber der Türkei ihre Kriegskosten zu er-
setzen6. Der endgültige Friedensschluß erfolgte am 4. Dezember
1897 in Konstantinopel.
Die Reise des Kaisers Franz Joseph zum Zaren Nikolaus nach
Petersburg im April 1897 brachte eine auch der deutschen Politik
sehr erwünschte Annäherung zwischen den beiden Kaisermächten
in den auf den Orient bezüglichen Fragen zustande. An der Mon-
archenbegegnung nahmen auch die Außenminister, Graf Golu-
chowski und Graf Murawiew, teil. Man einigte sich auf den Wortlaut
von Noten, die die beiden Kaisermächte nach Belgrad, Sofia, Buka-
rest und Cetinje richten wollten, des Inhalts, beide Souveräne seien
fest entschlossen, den allgemeinen Frieden, das Prinzip der Ordnung
und den Status quo in der europäischen Türkei aufrechtzuerhalten7.
Als Hauptgewinn der Vereinbarung bezeichnete Graf Goluchowski
die Unantastbarkeit des durch den Berliner Vertrag Österreich zuer-
kannten Besitzes, nämlich Bosniens, der Herzegowina und eines
Teiles des Sandschaks, der notwendig sei, um Serbien und Monte-
1 Gr. Pol. Nr. 3045.
2 Gr. Pol. Nr. 3200.
3 Gr. Pol. Nr. 3206.
4 Gr. Pol. Nr. 3215.
5 Gr. Pol. Nr. 3226—3230.
6 Gr. Pol. Nr. 3243—3249.
7 Gr. Pol. Nr. 3121—3125. Vgl. Dr. A. F. Pribram, Die politischen Geheim-
verträge Österreich-Ungarns 1879—1914, Bd. 1, S. 78ff.
150
Der Nahe Orient. 1896—1897
negro im Süden des österreich-ungarischen Besitzes auseinander-
zuhalten. Albanien sollte selbständig bleiben, da man in Wien in
Rücksicht auf die Interessen im Ädriatischen Meere niemals zu-
geben wollte, daß eine fremde Macht dort irgendwie Fuß fasse. Eine
etwaige Aufteilung der anderen Gebiete der europäischen Türkei
sollte nur nach einer freundschaftlichen Verständigung zwischen den
beiden Mächten erfolgen dürfen. Doch durfte bei dieser Aufteilung
keiner der Balkanstaaten eine das Gleichgewicht der Kräfte im Bal-
kangebiete störende Vergrößerung erhalten1. Da aus der russisch-
österreichischen Vereinbarung aber alle Fragen ausgeschieden wor-
den waren, die sich auf Konstantinopel und die Meerengen bezogen,
so kam ihr nach Marschalls Urteil doch nur ein provisorischer Cha-
rakter zu, und sie schien jedenfalls nicht geeignet, „die orientalische
Frage, welche sich in erster Linie an den Besitz Konstantinopels
knüpft, für immer von der politischen Tagesordnung verschwinden
zu lassen1 2“. Nach Ansicht des Vortragenden Rates v. Holstein lag
es nicht in Deutschlands Interesse, daß Österreich die Abmachung zu
optimistisch beurteilte, da der Wert der deutschen Anlehnung da-
durch vermindert erscheine. Auch schien es ihm bedenklich, daß das
Wiener Kabinett den Italienern jeden Einfluß auf Albanien absprach.
Rußland müßte sich außerdem wegen der Meerengenfrage von
Österreich-Ungarn benachteiligt finden. „Durch das Petersburger
Abkommen ist also für Rußland wie für Italien Klarheit darüber ge-
schaffen, daß Österreich-Ungarn ihnen gewisse Wertobjekte vor-
enthalten will. Zweifellos liegen hierin die Keime eines verschärften
Antagonismus dieser beiden gegen Österreich-Ungarn. Diese Zu-
kunftsgefahr ist die Schattenseite des Vertrages. Die Lichtseite ist die
durch denselben gewonnene hohe Wahrscheinlichkeit, daß Rußland
während der nächsten Jahre in Europa Ruhe haben möchte3.“
Die deutsch-russischen Beziehungen wurden auch 1897 durch
die Vorgänge auf dem Balkan und die Haltung der Großmächte auf
den Konstantinopeler Botschafterkonferenzen entscheidend beein-
flußt. Am 30. Januar 1897 traf der neuernannte Verweser des russi-
schen Außenministeriums Graf Murawiew in Berlin ein und wurde
am 1. Februar auch vom deutschen Kaiser in Kiel empfangen. Graf
Murawiew zeigte sich bereit, mit der deutschen Politik zum Zwecke
der Erhaltung des Friedens, des Status quo und der Integrität des
türkischen Reiches zusammenzugehen4. Zu einem Vorgehen gegen
England, etwa in der Form einer Koalition des Kontinents gegen
das Inselreich, wollte sich Fürst Hohenlohe nicht bestimmen lassen.
Die deutsche Politik strebte vielmehr an, England in allen Fällen
1 Gr. Pol. Nr. 3126.
2 Gr. Pol. Nr. 3127.
3 Gr. Pol. Nr. 3130.
4 Gr. Pol. Nr. 3426.
151
Der Neue Kurs. 1890—1901
den Beitritt zu den Entschließungen der Kontinentalmächte frei-
zuhalten L
Vom 7. bis 10. August 1897 weilte das deutsche Kaiserpaar,
begleitet vom Reichskanzler Fürsten Hohenlohe und vom Botschafter
Bernhard v. Bülow, der seit dem 28. Juni 1897 den Staatssekretär
des Auswärtigen Amtes vertrat, in Petersburg. Der Verkehr der
Kaiserpaare war ein herzlicher, und die später gewechselten Tele-
gramme der Monarchen zeigten einen sehr freundschaftlichen Ton.
Der Zar hatte den Kaiser zum russischen Admiral ernannt1 2.
Der außenpolitische Erfolg dieses Besuches durfte dennoch
nicht überwertet werden, da bald darauf auf Grund einer besonders
herzlich abgefaßten Einladung des Zaren Präsident Felix Faure in
Petersburg weilte. Ganz wider Erwarten wurde der Zar dem franzö-
sischen Präsidenten gegenüber von Stunde zu Stunde entgegenkom-
mender, und bei dem großen Abschiedsfrühstück an Bord des
„Pothuau“ gebrauchte Felix Faure den Ausdruck: „Die beiden ver-
einigten und alliierten Nationen“, während der Zar in seiner Er-
widerungsrede von den beiden „befreundeten und alliierten“ Natio-
nen sprach. Diese Worte lösten in Frankreich den größten Enthusias-
mus aus. „Wenn der Ausdruck alliance auch nicht gefallen ist,“
meinte Fürst Radolin in einem Petersburger Berichte vom 28. August
18973, „auf den die Franzosen wie auf das gelobte Land hinblicken,
so genügen doch die erwähnten Worte, um die Franzosen nahezu in
Frenesie zu versetzen ... Es mag sein, daß der so milde und freund-
liche Kaiser sich im Laufe der Zeit eine herzlichere Auffassung für
Deutschland angeeignet hat, was ich nicht nur nicht in Abrede stelle,
sondern sogar glaube, so ist doch leider bei den Charaktereigen-
schaften des Kaisers darauf nicht unbedingt zu bauen. Er gilt allge-
mein als schwach und kann leicht, wie mir viele absolut loyale und
hochgestellte Russen sagen, im gegebenen Momente, ohne es viel-
leicht zu wollen, zu manchem fortgerissen werden, über dessen Trag-
weite er sich vielleicht keine Rechenschaft gibt.“
Die Wirkung des Präsidentenbesuches war nach dem Urteil
unparteiischer und wohlunterrichteter Kreise eine Zunahme des Re-
vanchegedankens in Frankreich. An die Möglichkeit, daß sich eine
französisch-englische Annäherung an die Befestigung des Zwei-
bundes anschließen könne, glaubten die deutschen Diplomaten da-
mals nicht. Nach dem Urteil des Fürsten Radolin in Petersburg
bildete gerade die Gegnerschaft gegen England einen prägnanten
Zug in der Physiognomie der russischen Politik4. Nach seiner An-
sicht konnte eine französisch-englische Entente cordiale nur auf
1 Gr. Pol. Nr. 3427—3429.
2 Gr. Pol. Nr. 3438—3444.
3 Gr. Pol. Nr. 3447.
4 Gr. Pol. Nr. 3435.
152
Der Nahe Orient. 1896—1897
Kosten der bestehenden französisch-russischen hergestellt werden,
und jede Annäherung Frankreichs an England mußte bei geschickter
Ausnutzung durch Deutschland eine Annäherung Rußlands an
Deutschland hervorrufen.
Trotzdem war man in Berlin vorsichtig genug, im September
1897 einen vom russischen Generalstabschef General Obrutschew
stammenden Vorschlag abzulehnen, wonach die Kontinentalmächte
auf der Basis und zur Erhaltung des Status quo bis 1900 ein Schutz-
und Trutzbündnis untereinander abschließen sollten1. Die scharfe
Betonung des Zweibundverhältnisses bei dem Besuche des Präsi-
denten Faure in Petersburg hatte in Berlin verstimmt, und man hielt
es dort jetzt für angezeigt, freundliche Beziehungen zu England zu
pflegen. Man entschloß sich daher dazu, den Vorschlag des Generals
Obrutschew im strengsten Vertrauen und gegen Zusicherung völliger
Geheimhaltung durch den Botschafter Grafen Hatzfeldt in London
zur Kenntnis des Lords Salisbury bringen zu lassen2.
Für eine möglichst freundliche Gestaltung der deutsch-franzö-
sischen Beziehungen hatte Kaiser Wilhelm II. im Verlaufe des
Jahres 1897 getan, was in seinen Kräften stand, so anläßlich des
Duells des französischen Marineattaches in Berlin Buchard3, anläß-
lich der Erkrankung des Generals Gallifet, des großen Brandes in
einem Pariser Wohltätigkeitsbasar vom 4. Mai 1897, bei dem die
Herzogin von Alemjon, Schwester der Kaiserin von Österreich und
ehemalige Braut König Ludwigs II. von Bayern, nebst vielen Mit-
gliedern der französischen Aristokratie ums Leben kam. Botschafter
Graf Münster wirkte, wo er konnte, für Verbesserung der gegensei-
tigen Beziehungen und suchte das Vorkommen von Grenzzwischen-
fällen zu verhindern, ein Entgegenkommen, das ihm durch die Ver-
leihung des Großkreuzes der Ehrenlegion gedankt worden ist.
Angesichts des französisch-russischen Zweibundes wurde für
Deutschland die Frage immer wichtiger, wie es sich zu England
stellen sollte. Kaiser Wilhelm II. hatte wiederholt erwogen, eine
Kontinentalliga gegen England oder wenigstens einen Schutzbund
gegen koloniale Übergriffe Englands zustande zu bringen. Als gegen
Ende Oktober 1896 Anzeichen dafür zu sprechen schienen, daß eine
englische Flottendemonstration im Persischen Golf bevorstehe, griff
der Kaiser diese Gedankengänge wieder auf. Er wünschte baldige
Verhandlungen mit Petersburg und Paris über eine gemeinsame Ab-
wehr zur Garantie des gegenseitigen Kolonialbesitzes. „Es zeigt sich
wiederum zur Evidenz, wie töricht es war, vor zehn Jahren Kolonial-
politik anzufangen, ohne eine Flotte zu haben, und diese Politik zu
entwickeln, ohne im Ausbau der Flotte gleichen Schritt zu halten4.“
^Qr. Pol. Nr. 3451.
2 Gr. Pol. Nr. 3452.
3 Gr. Pol. Nr. 3453, 3454.
4 An den Reichskanzler Fürsten Hohenlohe, 25. Oktober 1896. Gr. Pol. Nr. 3396.
153
Der Neue Kurs. 1890—1901
Staatssekretär Frhr. v. Marschall hielt eine Annäherung Deutsch-
lands an die franko-russische Gruppe aus diesem Anlaß nicht für
nötig, da sie nur Deutschlands Stellung gegenüber dem Zweibunde
vermindern, den Dreibund aber gefährden werde. Da auch Bot-
schafter Graf Hatzfeldt sich scharf gegen die Gedankengänge des
Kaisers aussprach, gelang es, ihn von weiterer Verfolgung seines
Planes abzubringen. Sein Verhalten während des Frühjahrs 1897 be-
wies, daß ihm in der Hauptsache an einer deutsch-englischen Ent-
spannung gelegen war1. So trat er denn auch den Vorschlägen des
Botschafters Grafen Hatzfeldt hinsichtlich einer unmittelbaren Ver-
ständigung mit England über die Transvaalfrage gern bei.
Am 30. Juli 1897 kündigte England den deutsch-englischen
Handelsvertrag vom 30. Mai 1865, regte aber zugleich den Abschluß
eines neuen Meistbegünstigungsvertrages an. Kaiser Wilhelm war
über die plötzliche Kündigung sehr erregt und erblickte darin Eng-
lands Wunsch, die deutsche Industrie zu vernichten1 2. „Hätten wir
eine starke, achtunggebietende Flotte gehabt, wäre Kündigung nicht
erfolgt,“ telegraphierte er am 1. August 1897 an den Fürsten Hohen-
lohe; „als Antwort muß eine schleunige bedeutende Vermehrung
unserer Neubauten ins Auge gefaßt werden3.“ Der Kanzler suchte
den Monarchen zu beruhigen, indem er darauf hinwies, daß das
gleichzeitig erfolgte Angebot eines mit England abzuschließenden
Meistbegünstigungsvertrages auf ein bevorstehendes befriedigendes
Verständnis mit England hindeute. Auch Hohenlohe hielt eine Ver-
mehrung der deutschen Flotte zum Schutze des deutschen Handels
für erwünscht und unter gewissen Voraussetzungen für erreichbar.
Die Erwerbung Kiautschous 1897
Schon im Februar 1895 hatte man deutscherseits Erwägungen
über einen etwaigen Besitzerwerb in Ostasien angestellt. Deutsche
Wünsche nach Erwerb einer oder mehrerer Kohlen- und Flotten-
stationen in China waren für die Beteiligung Deutschlands an dem
„ostasiatischen Dreibunde“ mitbestimmend gewesen. Vizeadmiral
Hollmann hatte in einem Berichte vom 17. April 18954 bereits auf
Kiautschou, wenn auch nicht in erster Linie, hingewiesen.
Allmählich trat in den weiteren Verhandlungen die Kiautschou-
bucht in den Vordergrund. Admiral v. Knorr erhielt am 30. Novem-
ber 1896 den Auftrag5, einen Plan zur Besitzergreifung der Kiaut-
schoubucht und die Bereitstellung der Mittel vorzubereiten. Die Fest-
1 Gr. Pol. Nr. 3403—3405.
2 Gr. Pol. Nr. 3411—3413.
8 Gr. Pol. Nr. 3414.
4 Gr. Pol. Nr. 3646.
5 Gr. Pol. Nr. 3669, 3670.
154
Die Erwerbung Kiautschous 1897
haltung des Platzes bis zum Eintreffen einer genügend starken Gar-
nisontruppe sollte der Marine, im besonderen der Kreuzerdivision
zufallen, und die Aufstellung einer Kolonialtruppe in die Wege ge-
leitet werden. Die wichtige Zustimmung Rußlands wollte Hohenlohe
während des Kaiserbesuches beim Zaren — 7. bis 11. August 1897
— unmittelbar regeln. Kaiser Wilhelm fragte damals den Zaren, ob
Rußland Absichten auf die Kiautschoubucht habe. Der Zar erwiderte
nicht gerade ablehnend1, so daß Staatssekretär B. v. Bülow in einer
Aufzeichnung vom 17. August 1897 festzulegen vermochte, Ruß-
land werde gegen den Übergang der Bucht in deutschen Besitz
später nichts einzuwenden haben1 2. In Petersburg wurde mitgeteilt,
die deutsche Regierung werde nunmehr an die chinesische mit der
Mitteilung herantreten, daß im Laufe des kommenden Winters im
Notfälle zeitweilig deutsche Kriegsschiffe in der Kiautschoubucht vor
Anker gehen würden. In Peking betonte man, Kiautschou sei aber
doch chinesisches Gebiet. Im Oktober 1897 liefen deutsche Schiffe in
die Kiautschoubucht ein3.
Die Ermordung zweier deutscher katholischer Missionare in
der Provinz Südschantung am 4. November 1897 brachte die An-
gelegenheit vorwärts. Kaiser Wilhelm II. forderte sofort ausgiebige
Sühne durch energisches Eingreifen der Flotte. Admiral v. Diederichs
erhielt Weisung, sofort mit seinem ganzen Geschwader von Wusung
nach Kiautschou zu gehen, dort geeignete Punkte und Ortschaften
zu besetzen und vollkommene Sühne zu erzwingen. In Peking wurde
Genugtuung gefordert. Mit dem Zaren setzte sich der Kaiser tele-
graphisch in Verbindung. Dieser antwortete, daß er über Kiautschou
nichts zu erlauben oder zu verhindern habe4. Die Gelegenheit zu
schnellem Handeln schien gekommen, und der Kaiser freute sich,
die bisherige „schwankende und laue Politik in Ostasien energischer
gestalten“ zu können5.
Mit der Besetzung Kiautschous durch das deutsche Geschwader
des Admirals v. Diederichs am 14. November 1897 wurde nunmehr
eine vollendete Tatsache geschaffen. Schwierige Verhandlungen mit
China waren erforderlich, da man dort von einer Begünstigung
Deutschlands in der Hafenfrage ähnliche Schritte der anderen Groß-
mächte befürchtete. Der vertragsmäßige Abschluß des am 4. Januar
1898 durch Notenaustausch in Peking festgelegten Abkommens über
die pachtweise Überlassung von Kiautschou an Deutschland und
über die Eisenbahn- und Bergwerkskonzessionen erfolgte erst am
6. März 1898. Deutscherseits beabsichtigte man, Kiautschou in
1 Gr. Pol. Nr. 3679.
2 Gr. Pol. Nr. 3680.
3 Gr. Pol. Nr. 3685.
4 Gr. Pol. Nr. 3686—3689.
6 Gr. Pol. Nr. 3690.
155
Der Neue Kurs. 1890—1901
freiem Verkehr zu einem der bedeutenderen Punkte des ostasiati-
schen Handels zu machen1.
Im Zusammenhänge mit Deutschlands Vorgehen in Kiautschou
stand das Einlaufen eines russischen Geschwaders in Port Arthur
am 19. September 1897, das von Kaiser Wilhelm II. mit einem
freundlichen Telegramm an den Zaren begrüßt wurde. „Meine Sym-
pathie und Hülfe sollen im Notfälle nicht fehlen,“ telegraphierte;
ihm der Kaiser1 2. Die russische Regierung begann alsbald, mit China
über die dauernde oder zeitweilige Überlassung von Port Arthur
und Talienwan zu verhandeln, obwohl Graf Murawiew gelegentlich
behauptete, Rußland bedürfe keines Hafens an der chinesischen
Küste3. England machte erst im Frühjahr 1898 Ansprüche geltend.
Das Jahr 1898
Die Jahre 1898—1904, in denen Deutschland hauptsächlich die
Politik der freien Hand zu treiben suchte, sind dadurch für die
Stellung Deutschlands in der Welt sehr bedeutungsvoll geworden,
daß am Ende der Entwicklung die Verständigung Englands und
Frankreichs, die sogenannte Entente cordiale vom 8. April 1904, ge-
standen hat.
Inmitten der sich immer mehr verschärfenden Welthändel mußte
Deutschland sich entschließen, nach welcher Seite es sich anlehnen
wollte. Zwar bestand der von Bismarck zusammengefügte Drei-
bund scheinbar noch in alter Kraft. Es traten aber doch immer aufs
neue Erscheinungen zutage, die auf eine Lockerung des Dreibund-
verhältnisses deuteten. Welchen Weg sollte Deutschland gehen?
War die Anlehnung an England oder an Rußland geboten?
England war seiner ganzen parlamentarisch-politischen Tradi-
tion gemäß keiner Macht gegenüber fest und endgültig gebunden,
Rußland aber hatte durch seine militärischen Abmachungen mit
Frankreich und durch seine zunehmende wirtschaftliche Abhängig-
keit vom französischen Kapital seine Selbständigkeit bereits bis zu
einem hohen Maße eingebüßt. Eine weitere Anlehnung für Deutsch-
land schien aber schon infolge des bedrohlichen Vordringens des
Tschechentums in Österreich geboten. Die innere Schwäche des
Dreibundes zeigte sich immer deutlicher. Unverhohlen sprachen
Tschechen von ihren Hoffnungen auf ein russisch-österreichisches
Bündnis, das dazu berufen wäre, den morschen Dreibund zu er-
setzen. Schon sprach man gelegentlich davon, wie lange die Regie-
rung des alternden Kaisers „imstande und in der Laune sein werde,
dem slawischen Druck der Gesamtmonarchie zu widerstehen“4.
1 Gr. Pol. Nr. 3747.
2 Gr. Pol. Nr. 3739.
3 Gr. Pol. Nr. 3742 und 3753.
4 Gr. Pol. Nr. 3513.
156
Das Jahr 1898
Kaiser Wilhelm II. hatte die Vorgänge in Österreich immer
sorgenvoll betrachtet. Ein Bericht des ihm befreundeten Botschafters
Grafen zu Eulenburg vom 1. März 18981 erfüllte ihn mit Sorgen für
die Zukunft des Dreibundes und löste den Wunsch aus, „uns bei-
zeiten eine feste Brücke nach Rußland bereitzustellen“. War dies
nach der bisherigen Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen
und insonderheit der Zweibundverhältnisse noch möglich? War Ruß-
land noch frei, war es geneigt, in dauernde und zuverlässige Be-
ziehungen zu Deutschland einzutreten? Reichte die persönliche In-
timität der beiden Herrscher aus, um ein solches Ergebnis sicher-
zustellen? Mußte nicht ein historischer Rückblick auf Rußlands Ver-
halten in den vergangenen Jahrzehnten, besonders im Anschluß an
den Berliner Kongreß, die Leiter der deutschen Politik mit Miß-
trauen erfüllen?
Diese und ähnliche Gedanken sind damals von den verantwort-
lichen Staatsmännern Deutschlands wiederholt erörtert worden. Stets
aber hat man schließlich an dem deutsch-österreichischen Bündnisse
festgehalten und nur immer zu feilen und zu bessern gesucht, wo
es irgend möglich war. Die entscheidende Frage der Abkehr vom
Dreibunde ist niemals ernstlich erwogen worden.
Im März 1898 wurde die deutsche Politik vor ihre seit Bestehen
des Reiches vielleicht wichtigste Entscheidung gestellt. Aus London
berichtete der Botschafter Graf Hatzfeldt über Annäherungsversuche
Englands, die hauptsächlich von Chamberlain unternommen wur-
den1 2. Chamberlain setzte dem deutschen Botschafter auseinander,
die politische Lage habe jetzt eine Wendung genommen, die es Eng-
land nicht mehr gestatte, „die bisherige traditionelle Politik der
Isolierung aufrechtzuerhalten“. Die englische Regierung stehe vor
der Notwendigkeit, demnächst weittragende Entschlüsse zu fassen,
und würde jetzt auf die Zustimmung der öffentlichen Meinung rech-
nen können, wenn sie sich nach Allianzen umsehe, die ihr die auch
von ihr gewünschte Aufrechterhaltung des Friedens erleichterten.
England und Deutschland hätten ziemlich dieselben Interessen, und
etwa vorhandene kleine koloniale Gegensätze ließen sich ausgleichen,
wenn man zu einer Verständigung über die großen politischen Fra-
gen gelangen könnte.
Hier lag ein nicht mißzuverstehendes unmittelbares Bündnis-
angebot vor. Deutschland mußte sich entscheiden, ob es die ihm
dargebotene Hand ergreifen oder seine Unabhängigkeit zwischen
Rußland und England beibehalten wollte. Alles hing davon ab, wie
weit sich Deutschland wirklich auf die russische Politik verlassen
konnte. Hierüber aber herrschte in der Wilhelmstraße — mit
unter dem Eindrücke der deutschen amtlichen Berichterstattung aus
1 Gr- Pol. Nr. 3471.
2 Gr. Pol. Nr. 3782.
157
Der Neue Kurs. 1890—1901
Frankreich — dauernd eine gewisse Unklarheit. Man kannte die
ganze Tragweite der russisch-französischen Abmachungen nicht und
unterschätzte daher den Zweibund. Immer beherrschte die deutsche
Politik der Gedanke, daß ein wirklich ernsthaftes Zusammengehen
des zaristischen autokratischen Rußland mit der von allen Fiebern
des Parlamentarismus geschüttelten französischen Republik letzten
Endes doch eine Unmöglichkeit sei. In Berlin hoffte man, die ge-
meinsame Notwendigkeit der Erhaltung des monarchischen Grund-
satzes in Europa werde Rußland doch immer wieder an die Seite
Deutschlands führen. Aber gerade in Rußland war der politische
Boden von revolutionären Gefahren derart unterwühlt, daß von ihm
ein wirkungsvoller Schutz des monarchischen Gedankens kaum er-
hofft werden konnte. In dieser Beziehung bedurfte es eher fremder
Unterstützung von außen her.
Staatssekretär Bernhard v. Bülow stand den englischen An-
näherungsversuchen mißtrauisch gegenüber. Er hielt es für ausge-
schlossen, der englischen Regierung Zusicherungen zu geben1, und
erblickte in dem Vorschläge Chamberlains einen für Deutschland
gefährlichen Schritt. So mußte denn der Botschafter Graf Hatzfeldt
in London eine ausweichende Haltung annehmen, auch als Cham-
berlain am 25. April 1898 nochmals auf den alsbaldigen Abschluß
einer Defensivallianz zwischen Deutschland und England zurückkam,
wobei er sich große Mühe gab, die Einwendungen des deutschen
Botschafters zu widerlegen1 2.
Einen sehr weitgehenden Schritt tat Kaiser Wilhelm II., als er
am 30. Mai 1898 dem Zaren die englischen Bündnisversuche unter
Hinzufügung der Frage mitteilte, was der Zar ihm bieten könne,
falls der Kaiser das englische Bündnis ablehne3. Die Antwort des
Zaren vom 3. Juni 1898 war abweisend und enthielt die Bemerkung,
der Kaiser möge selbst entscheiden, was für sein Land das Beste
und Notwendigste sei4; auch ihm, dem Zaren, seien englische An-
erbietungen, und zwar gelegentlich der Unterhandlungen mit China,
gemacht worden. Durch diese Mitteilung wurde das deutsche Miß-
trauen gegen England noch gesteigert: Botschafter Graf Hatzfeldt
erhielt die Weisung, die englischen Bemühungen um eine Allianz
mit Deutschland freundlich, aber dilatorisch zu behandeln, so daß
die Möglichkeit einer späteren Verständigung offenbleibe5.
Dem englischen Botschafter in Berlin, Sir Frank Lascelles, er-
klärte Bülow anfangs Juni 1898, gegen eine Allianz mit England
müsse eine jede gewissenhafte deutsche Regierung drei große Be-
1 Gr. Pol. Nr. 3783—3787.
2 Gr. Pol. Nr. 3791—3794.
3 Gr. Pol. Nr. 3799.
4 Gr. Pol. Nr. 3803.
6 Gr. Pol. Nr. 3801.
158
Das Jahr 1898
denken haben. Erstens müsse die Sicherheit vorliegen, daß das
Parlament die Allianz ratifiziere; zweitens müsse klargestellt sein,
was England als Rückversicherung und Rückendeckung für die aus
einem deutsch-englischen Bündnisse zu erwartende Verschlechte-
rung der deutsch-russischen Beziehungen zu bieten habe, und drit-
tens müsse England in kolonialen Angelegenheiten entgegenkom-
mender werden1.
Deutschland wich also aus. Der Kaiser war immer besonders
darüber verstimmt gewesen, daß England jeder Abmachung mit
Deutschland eine Spitze gegen Rußland zu geben versucht hatte1 2.
Das einzige Ergebnis der englischen Annäherungsversuche an
Deutschland im Frühjahr 1898 war das deutsch-englische Abkommen
über die portugiesischen Kolonien vom 30. August 1898. Portugal
wollte seine ständigen Geldverlegenheiten durch die Aufgabe sei-
ner afrikanischen Kolonien Mozambique, Angola und Portugie-
sisch-Timor beseitigen. Nach langwierigen Verhandlungen3 zwi-
schen Deutschland und England verständigten sich beide Mächte
über die afrikanischen Gebiete, und am 30. August 1898 wurden in
London die Verträge unterzeichnet. Sie bestanden aus einer Kon-
vention, einer Geheimkonvention und einer geheimen Note. Sobald
entweder die deutsche oder die großbritannische Regierung es für
angezeigt hielt, dem Ersuchen um ein Portugal zu gewährendes Dar-
lehen gegen Verpfändung der Zoll- und sonstigen Einnahmen von
Mozambique, Angola und des portugiesischen Teiles der Insel Timor
Folge zu geben, versprach sie, der anderen Regierung von dieser
Tatsache Mitteilung zu machen, die berechtigt war, einen Teil der
gewünschten Gesamtsumme darzuleihen. Die geheime Konvention
enthielt Bestimmungen für den Fall, daß Portugal auf seine souve-
ränen Rechte über Mozambique, Angola und Portugiesisch-Timor
verzichten oder diese Gebiete auf irgendeine andere Weise verlieren
sollte. In der geheimen Note sicherten sich die beiden Staaten volles
Einverständnis bei allen etwaigen Gebietsabtretungen und gegen-
seitige Zugeständnisse von möglichst gleichem Werte zu4.
Nun handelte es sich darum, die Ausführung der Verträge durch
eine Verständigung mit Portugal sicherzustellen. In England wurde
die Tatsache des mit Deutschland abgeschlossenen Abkommens nicht
hinreichend geheimgehalten. Schleuniger Abschluß mit Portugal
schien nunmehr für Deutschland angezeigt, zumal eine Einmischung
des Zweibundes zu befürchten stand. In Portugal war man aber
einstweilen nicht bereit, auf die deutsch-englischen Vorschläge ein-
zugehen. Da ein Druck auf die portugiesische Regierung nicht er-
1 Gr. Pol. Nr. 3805.
2 Gr. Pol. Nr. 3802.
3 Gr. Pol. Nr. 3806—3871.
4 Gr. Pol. Nr. 3872.
159
Der Neue Kurs. 1890—1901
wünscht schien, beschloß man in London und Berlin, die weitere
Entwicklung der Dinge abzuwarten1.
England war im Frühjahr 1898 auch mit Qebietswünschen in
Ostasien hervorgetreten. Man erklärte, das Gleichgewicht der Macht-
verhältnisse im Golfe von Petschili sei bedroht, und machte An-
sprüche auf Wei-hai-wei geltend, das man pachten wollte, sobald die
Japaner es geräumt hätten. Wei-hai-wei war damals der einzige Kriegs-
hafen Chinas, das ihn mindestens mit zu benutzen wünschte. Ruß-
land arbeitete dahin, China zu verpflichten, daß es Wei-hai-wei an
keine fremde Macht abtreten dürfte, und wollte Deutschland in
diesem Sinne zu Sonderschritten veranlassen1 2. Nach der Ansicht
Kaiser Wilhelms II. konnte man England im Golfe von Petschili
ruhig gewähren lassen, wenn es nur versprach, Wei-hai-wei ledig-
lich als Flottenstützpunkt zu benutzen. Staatssekretär Bernhard v.
Bülow erblickte in dieser Haltung Rußlands für die deutsche Regie-
rung den Vorteil, inmitten der Großmächte ganz frei disponieren
zu können3. Die langwierigen Verhandlungen zur Sicherstellung
Deutschlands gegen englische Eingriffe in die deutsche Interessen-
sphäre in Ostasien führten anfangs September 1898 zu einer Eini-
gung. Das Flußgebiet des Jangtse, die Provinzen südlich dieses
Flusses und die Provinz Schansi wurden als englische Interessen-
sphäre anerkannt, die Provinz Schantung aber und das Tal des
Hwangho Deutschland zugesprochen. China hatte es verstanden, die
widerstreitenden Interessen der verschiedenen Nationen gegenein-
ander auszuspielen. Erst Ende Mai 1899 erlangte die vereinigte
deutsch-englische Gruppe von der chinesischen Regierung die Ge-
nehmigung zum Bau einer Eisenbahn von Tientsin nach Tsching-
kiang.
Im Frühjahr 1898 mußte sich Deutschland, nachdem es einmal
in die Weltpolitik eingetreten war, darüber klar werden, wie es
sich zu dem drohenden amerikanisch-spanischen Kriege stel-
len sollte. Schon seit 1895 waren auf der spanischen Insel Kuba
aufständische Bewegungen im Gange, die von Nordamerika her
fortdauernd mit Geld und Waffen unterstützt wurden, so daß
es den Spaniern nicht gelang, die Ordnung auf der Insel herzustellen.
Im September 1897 hatten die Vereinigten Staaten gegen die spani-
sche Kriegführung auf Kuba Einspruch erhoben. Kaiser Wilhelm II.
erwog damals einen Schritt der europäischen Kontinentalmächte
zugunsten Spaniens, da dessen monarchische Regierungsform durch
einen etwaigen Verlust Kubas bedroht schien. Er ließ seinen Ge-
danken aber sofort fallen, nachdem er auf die Gefahren hingewiesen
worden war, die daraus entstehen könnten, wenn Deutschland in
1 Gr. Pol. Nr. 3873—3883.
2 Gr. Pol. Nr. 3762.
* Gr. Pol. Nr. 3764—3768.
160
Das Jahr 1898
einer derartigen Frage die Führung übernähme, ohne der Haltung
der anderen Großmächte im voraus sicher zu sein1. Als im Frühjahr
Spanien mit Anregungen an Deutschland herantrat, die Führung
gegen die „republikanischen Übergriffe Amerikas“ zu übernehmen,
wurde der deutsche Botschafter in Madrid, v. Radowitz, dahin ver-
ständigt, „daß Seine Majestät der Kaiser nach ernster Prüfung dieser
Angelegenheit zu seinem tiefen Bedauern sich außerstande sieht, zur
Beilegung des spanisch-amerikanischen Krieges mitzuwirken, so-
lange nicht Frankreich fest und unzweideutig zu dieser Frage Stel-
lung genommen und seine Mitwirkung, ohne den erwähnten Vor-
behalt nach Rußland hin, in bestimmte Aussicht gestellt hat1 2“. Der
Vorbehalt bezog sich auf die republikanische Staatsform Frankreichs,
da ja gerade Frankreich schwerlich ein Interesse an der Erhaltung
der Monarchie in Spanien haben konnte.
Trotz eines gemeinsamen diplomatischen Schrittes der Groß-
mächte in Washington kam es doch zum Kriege. Deutschland blieb
während seines Verlaufes seinem Wunsche der Nichteinmischung
treu, entsandte aber im Frühjahr 1898 zwei Kriegsschiffe vom ost-
asiatischen Kreuzergeschwader nach den Philippinen, wo sich die
eingeborenen Tagalen aufs neue gegen die spanische Herrschaft
erhoben hatten. Wenn man auch in Berlin eine unerbetene Einmi-
schung in den spanisch-amerikanischen Krieg nicht beabsichtigte, so
erwog man doch die Erwerbung weiterer maritimer Stützpunkte in
Ostasien. Der deutsche Botschafter in Washington, v. Holleben,
wurde daher beauftragt3, die Stimmung der Amerikaner im Hin-
blick auf diesen Wunsch der deutschen Politik zu erkunden. Auch
die Karolinen hätte man gern erworben und rechnete in dieser Be-
ziehung auf das Entgegenkommen der Vereinigten Staaten4. Hatte
doch der amerikanische Botschafter in Berlin, White, eine Erwei-
terung der deutschen Kolonialmacht als eine Erweiterung der Zivi-
lisation und damit als einen Segen für die Welt bezeichnet, denn
Deutschland habe in den wenigen Jahren seines kolonialen Wirkens
schon gezeigt, was es könne5.
Nachdem im Juli 1898 Frankreich die Vermittlung zwischen den
kriegführenden Staaten übernommen hatte, kamen die Erörterungen
über die Zukunft der Inseln in schnelleren Fluß. Spanien mußte sich
entschließen, die amerikanischen Friedensbedingungen anzunehmen,
und den Rest seines Kolonialbesitzes politisch möglichst vorteilhaft
zu verwerten suchen6. Am 10. September 1898 einigten sich Deutsch-
1 Gr. Pol. Nr. 4118—4120.
2 17. März 1898. Or. Pol. Nr. 4126.
3 1. Juli 1898. Gr. Pol. Nr. 4151.
4 Gr. Pol. Nr. 4154—4159.
6 Gr. Pol. Nr. 4157.
3 Gr. Pol. Nr. 4165, 4166.
U Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
161
Der Neue Kurs. 1890—1901
land und Spanien über die Abtretung der Inseln Kusaie, Ponape und
Jap vom Karolinen-Archipel an Deutschland gegen eine pekuniäre
Entschädigung von noch zu bestimmender Höhe1. Am 21. September
1898 wurde die Verständigung dahin erweitert, daß auch die Karo-
linen- mit den Palauinseln ebenso wie die Marianen, ausgenommen
Quam, an Deutschland abgetreten werden sollten1 2. In Washington
ließ die deutsche Regierung mitteilen, sie rechne darauf, daß Ame-
rika ihr bei dem Kauf der Südseeinseln keine Schwierigkeiten be-
reiten werde; Deutschland werde amerikanischen Wünschen nach
einer für eine amerikanische Kabellegung günstig gelegenen Insel
der deutschen Marschallgruppe entgegenkommen. Amerika verzich-
tete daraufhin auf die Insel Kusaie, nicht ohne eine gewisse Ver-
stimmung, wie überhaupt die Amerikaner von nun an gegen Deutsch-
lands ostasiatische Politik mißtrauisch wurden3.
Deutschlands Politik hatte auch in dem schweren englisch-
französischen Konflikt über Faschoda ihre Stellung zu
wählen. Der französische Major Marchand war im Frühjahr 1897
mit einer französischen Expedition vom Ubangi her in der Richtung
nach dem oberen Nil aufgebrochen und hatte von vornherein die
Aufmerksamkeit der englischen Regierung erregt, die mit Eifersucht
ihre Besitz- und Einflußsphäre am oberen Nil vor jeder fremden
Unternehmung zu schützen suchte. Im Juli 1898 traf nun Marchand
mit seiner Expedition in Faschoda am Nil ein. Dort hatte der eng-
lische Sirdar Sir H. Kitchener die ägyptische Flagge hissen lassen
und eine Besatzung in den Ort gelegt. Marchand erklärte ihm am
19. September 1898 bei einer persönlichen Begegnung, er werde auf
seinem Posten bleiben und Weisungen seiner Regierung abwarten4.
In Paris erhob alsbald der englische Botschafter ernstlich Protest
gegen das Vordrängen Marchands nach Faschoda, da der ganze
Sudan unter der Souveränität des Sultans zu Ägypten gehöre. Die
öffentliche Meinung in England Wurde derart erregt, daß Lord Salis-
bury auch für den Fall eines Krieges auf die Zustimmung des Par-
laments hätte rechnen können. Mitte Oktober 1898 demonstrierte
das britische Kanalgeschwader vor Brest, und alles wurde für den
Kriegsfall instandgesetzt5.
In dieser kritischen Lage wendete sich Kaiser Wilhelm II., der
gerade seine Orientreise angetreten hatte, an den Zaren mit der An-
1 Gr. Pol. Nr. 4172.
2 Gr. Pol. Nr. 4188, 4189.
3 Gr. Pol. Nr. 4190, 4191. Der endgültige Abschluß zwischen Spanien und
Deutschland erfolgte im Februar 1899. Nachdem die Königin-Regentin am
17. März 1899 den Friedensvertrag mit den Vereinigten Staaten unterzeichnet
hatte, erfolgte am 15. bzw. 19. Juni 1899 die Annahme des deutsch-spanischen
Abkommens durch die Cortes.
4 Gr. Pol. Nr. 3884—3888.
5 Gr. Pol. Nr. 3895—3899.
162
Das Jahr 1898
frage, wie seine Haltung im Falle eines Zusammenstoßes zwischen
England und Frankreich sein würde1. Der Zar hatte erst vor zwei
Monaten, am 24. August, den Mächten den Zusammentritt einer all-
gemeinen Abrüstungskonferenz vorschlagen lassen. Man hatte da-
mals in Berlin damit gerechnet, daß Graf Murawiew, von Frank-
reich gedrängt, um ein Scheitern des Konferenzgedankens an fran-
zösischer Ablehnung zu verhindern, sich Deutschland als ehrlicher
Makler anbieten würde, um eine Annäherung zwischen Deutschland
und Frankreich zu versuchen. Hierauf einzugehen, war man in Berlin
nicht geneigt1 2 gewesen. In Rußland bemühte man sich nun ernstlich
um die Beilegung des Faschodakonfliktes, und Graf Murawiew
weilte zu diesem Zwecke im Oktober 1898 längere Zeit in Paris.
Auf die Anfrage Kaiser Wilhelms vom 28. Oktober erwiderte
der Zar am 3. November telegraphisch nach Jerusalem3, er wisse
nichts von einem bevorstehenden Konflikte zwischen Frankreich
und England; Graf Murawiew, der gerade von Paris zurückgekehrt
sei, glaube nicht, daß der Faschodazwischenfall zu einem ernsten
Mißverständnisse führen würde. Der Zar wollte offenbar in die
Sache nicht hineingezogen werden, zumal Delcasse betont hatte,
die Faschodafrage gehe doch Frankreich und England und keine
dritte Macht an4. In Frankreich entschloß man sich anfangs No-
vember zur Zurückberufung Marchands. Trotzdem wurden die
Kriegsvorbereitungen in England eifrig fortgeführt, obwohl Rußland
in London dauernd für eine freundlichere Gestaltung der Bezie-
hungen zu Frankreich zu wirken versuchte, bis schließlich im Früh-
jahr 1899 eine wirkliche Entspannung eintrat. Deutschlands freund-
liche Haltung England gegenüber hatte mit dazu beigetragen,
Frankreich zur Nachgiebigkeit zu bestimmen5.
Auch der Nahe Orient hat 1898 die große Politik der europäi-
schen Kabinette verschiedentlich beschäftigt. Durch den Abschluß
des griechisch-türkischen Krieges im September 1897 hatten weder
die griechische noch die kretensische Frage ihre endgültige Lösung
gefunden. Schon im Dezember 1897 entstanden auf Kreta neue Un-
ruhen. Die Großmächte erwogen die Ernennung des Prinzen Georg
von Griechenland zum Gouverneur, vermochten sich aber darüber
nicht zu einigen, so daß die kretensische Frage, wie es der deutsche
Botschafter in Konstantinopel, Frhr. v. Marschall, am 26. Februar
1898 ausdrückte, „in ein Stadium vollkommener Versumpfung“ ge-
riet6. Aufstände der Mohamedaner gegen die englische Besatzung
1 28. Oktober 1898. Gr. Pol. Nr. 3900.
2 Gr. Pol. Nr. 3526.
3 Gr. Pol. Nr. 3905.
4 Gr. Pol. Nr. 3897.
6 Gr. Pol. Nr. 3945.
6 Gr. Pol. Nr. 3287.
li*
163
Der Neue Kurs. 1890—1901
führten im September 1898 zu neuen Schritten der Großmächte und
später zur Ernennung des Prinzen Georg1. Kaiser Wilhelm war beim
Zaren dafür eingetreten, sich der schwer bedrängten Türkei an-
zunehmen.
Deutschlands Orient-Interessen führten im Herbst 1898 zu der
schon erwähnten Orientreise des deutschen Kaisers. Am 20. Oktober
1897 hatte der bisherige Staatssekretär Frhr. v. Marschall den Posten
als Botschafter in Konstantinopel übernommen und sein Amt als
Leiter des Auswärtigen Amtes an den bisherigen Botschafter in Rom,
Bernhard v. Bülow, abgegeben. Seine fortlaufende Berichterstattung
legt die deutsch-türkische Politik in weitgehendstem Maße klar.
Einen großen Teil des Ansehens, das Deutschland in der Türkei ge-
noß, schob Marschall den deutschen Offizieren und ihren Leistun-
gen zu, hauptsächlich dem General Frhr. v. der Goltz, der den Tür-
ken den augenfälligen Beweis deutschen Wissens und Könnens ge-
liefert habe1 2. Während Rußland immer das Ziel verfolgte, die Türkei
an der Stärkung ihrer Wehrkraft zu hindern3, gründete sich das Ver-
trauen der Türken auf Deutschland nach Marschalls Ansicht auf die
Überzeugung, daß Deutschland, weil es den Frieden wolle, auch für
die Erhaltung des ottomanischen Reiches eintreten werde. In wirt-
schaftlicher Beziehung bildeten die Konzessionsverträge für den
Bau der Bagdadbahn, deren erster schon am 4. Oktober 1888 ge-
schlossen war, ein politisch-wirtschaftliches Band zwischen Deutsch-
land und der Türkei. Die deutsch-englischen Beziehungen waren
zeitweise dadurch belastet gewesen, daß die Bagdadbahn einen Teil
des Zukunftsweges nach Indien bildete4. Die englischen Staats-
männer aber hatten im Anfänge der 90er Jahre den Wunsch be-
kundet, die ihnen wertvolle deutsche Freundschaft nicht durch eine
Störung der deutschen Eisenbahnprojekte in Kleinasien gefährden
zu lassen5. Botschafter v. Marschall vertrat den Standpunkt, die ana-
tolische Bahn bis Bagdad fortzusetzen, da Deutschland trotz russi-
scher Einsprüche sich nicht dazu bringen lassen dürfe, auf die wirt-
schaftliche Entwicklung eines weiten Gebietes zu verzichten, dessen
wir für unsere Industrie bedürften6. Kaiser Wilhelm trat diesen
Auffassungen bei. Seine Orientreise sollte ihn in die Lage setzen,
eigene Eindrücke zu sammeln.
Der Kaiser hatte die Absicht bekundet, an der feierlichen Ein-
weihung der neu erbauten Kirche in Jerusalem teilzunehmen. Die
von allen Mächten, besonders auch von Frankreich, das sich als Pro-
1 Or. Pol. Nr. 3309.
2 Qr. Pol. Nr. 3339.
8 Or. Pol. Nr. 3340.
4 Qr. Pol. Nr. 3958—3966.
5 Gr. Pol. Nr. 3970—3974.
6 9. April 1898. Or. Pol. Nr. 3975.
164
Das Jahr 1898
tektor der Christen im Orient fühlte, mit eifersüchtiger Aufmerk-
samkeit verfolgte Reise begann mit einem Besuche in Konstantinopel
vom 18. bis 22. Oktober. Am 29. Oktober kam das Kaiserpaar in
Jerusalem an, um dort die Einweihung der evangelischen Erlöser-
kirche vorzunehmen. In Damaskus fand die Reise ihren Abschluß.
Bei dieser Gelegenheit hielt der Kaiser am 8. November jene bekannt
gewordene Rede, die mit den Worten schloß: „Möge Seine Majestät
der Sultan und mögen die dreihundert Millionen Mohamedaner, die
auf der Welt zerstreut lebend in ihm ihren Kalifen verehren, dessen
versichert sein, daß zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund
sein wird1.“ Ein anfangs geplanter Abstecher nach Ägypten wurde
aufgegeben, da sich die Lage in Frankreich durch den Faschodakon-
flikt und durch die Dreyfusaffäre1 2 gefährlich zugespitzt hatte. Für
die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der
Türkei war die Kaiserreise von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Das Jahr 1899
Im Frühjahr fuhr Prinz Heinrich von Preußen als Chef des
in Ostasien stationierten deutschen Kreuzergeschwaders nach dort-
hin ab. Bei diesem Anlasse verfaßte Staatssekretär v. Bülow zur
politischen Orientierung des Prinzen eine ausführliche Aufzeich-
nung3. Als Grundlinie für Deutschlands damalige Politik in Ost-
asien wurde darin festgestellt, soweit es sich mit unserer Würde
vertrage und ohne Einbuße an unserer Stellung möglich sei, Konr
flikte zu vermeiden und bei Konflikten zwischen dritten Mächten
uns wenigstens freie Hand zu bewahren. Der Gesandte in Peking
war daher angewiesen worden, unbeschadet der ausgezeichneten
deutsch-russischen Beziehungen auch die Fortdauer des bestehenden
guten Verhältnisses zu England sich angelegen sein zu lassen. „Wir
binden uns auf diese Weise nicht vorzeitig die Hände und können
uns im gegebenen Moment auf diejenige Seite schlagen, die als-
dann unseren Interessen am besten entspricht.“
Nachdrücklich wies Bülow den Prinzen darauf hin, daß das
deutsche Kreuzergeschwader den Gegenstand besonderen Argwohns
in den Vereinigten Staaten bilde. Durch den Erwerb der Karolinen
und Marianen werde jetzt Deutschland zum Nachbarn der Ameri-
kaner auf den Philippinen. Bei der großen Bedeutung des ameri-
1 Gr. Pol. Nr. 3345.
2 Gr. Pol. Nr. 3586—3618. Ein Schriftstück, das angeblich von dem früheren
deutschen Militärattache Oberst v. Schwartzkoppen herrühren sollte und als haupt-
sächliches Beweisstück für die Schuld des Kapitäns Dreyfus galt, war als Fäl-
schung des Oberstleutnants Henry, der Selbstmord beging, festgestellt worden.
Der französische Ministerrat beschloß die Revision des Prozesses am 26. Sep-
tember 1898.
3 Gr. Pol. Nr. 3566 und 3778.
165
Der Neue Kurs. 1890—1901
kanischen Marktes für Deutschland sei die deutsche Regierung ernst-
lich bemüht, „die wirtschaftlichen Differenzen zwischen Deutsch-
land und den Vereinigten Staaten in freundlicher Weise zu beglei-
chen und die Samoahändel im Wege der Verständigung wenigstens
für einige Zeit aus der Welt zu schaffen“. Jede Trübung der deut-
schen Beziehungen zu England oder den Vereinigten Staaten würde
unfehlbar eine Annäherung dieser beiden Großmächte zur Folge
haben. In Europa halte Deutschland an der Dreibundkombination
„als vorläufigem Ausgangspunkt“ so lange wie möglich fest. Bülow
beklagte in diesem Zusammenhänge die Verworrenheit der inner-
politischen Lage in Österreich-Ungarn und die unbezweifelbare fran-
zösisch-italienische Annäherung. „Alles dies nötigt uns noch mehr
als früher, uns beizeiten anderweite Kombinationen für den Fall
offenzuhalten, wo früher oder später der Dreibund versagen sollte.“
Hierbei sei vornehmlich an Rußland und England zu denken. Von
Rußland trennten uns keinerlei aktuelle Fragen vitaler Art, die tradi-
tionellen dynastischen Bande bildeten noch immer den festesten
Hort des europäischen Friedens. Deshalb habe Deutschland auch
das russische Friedensmanifest wohlwollend aufgenommen, so zwei-
felhaft der praktische Nutzen dieser Kundgebung auch sei. Deutsch-
land werde sich daher auch an der Haager Konferenz beteiligen.
Zwischen Deutschland und England liege der gemeinsame Punkt in
Ostafrika, und dort habe eine befriedigende Abgrenzung der beider-
seitigen Interessensphären für den Fall eines zu gewärtigenden Zu-
sammenbruchs des portugiesischen Kolonialreiches stattgefunden.
„Die Gegensätze zwischen Deutschland und England blieben jedoch
auf dem Gebiet des sogenannten friedlichen Wettbewerbs. Da diese
Gegensätze der Natur der Sache nach unüberbrückbare sind, so
kann das Bemühen der Regierung Seiner Majestät nur darauf ge-
richtet sein, einem Überschlagen derselben von dem wirtschaft-
lichen auf das politische Gebiet nach Möglichkeit vorzubeugen und
im übrigen für den Austrag des Kampfes der Tüchtigkeit des deut-
schen Kaufmannes und Industriellen nach Kräften fair play zu
sichern ... Den französischen Annäherungsversuchen an uns stehen
wir höflich, aber ohne Illusionen gegenüber ... In den für die
europäische Politik im Vordergrund stehenden großen Gegensätzen,
die einmal zwischen England und Frankreich und sodann wiederum
zwischen England und Rußland vorliegen, kann es für uns auch in
Zukunft einstweilen nur richtig sein, eine abwartende Mittelstellung
einzunehmen.“
Bülows Darlegungen sind besonders dadurch bemerkenswert,
daß er die innere Zersetzung des Dreibundes deutlich hervorhebt
und auch schon davon spricht, „anderweite Kombinationen für
den Fall offenzuhalten, wo früher oder später der Dreibund ver-
sagen sollte“. Im übrigen war die für den Prinzen Heinrich be-
166
Das Jahr 1899
stimmte Darlegung der reinste Ausdruck der von Bülow getriebe-
nen Politik der freien Hand.
Bülows Erwartungen gegenüber Frankreich waren durchaus
skeptisch. Unter einer Voraussetzung war er bereit, mit Rußland
oder mit Rußland und Frankreich sofort jedes Abkommen und jede
Allianz abzuschließen, nämlich wenn Rußland und Frankreich sich
„zu allseitiger Garantierung des gegenwärtigen Besitzstandes der
drei Mächte“ bereit erklärten. Der russische Botschafter Graf Osten-
Sacken, mit dem Bülow diesen Gedanken im Mai 1899 besprach1,
erklärte damals, daß dies für die Franzosen noch nicht möglich
sei. Deutschland mußte dauernd damit rechnen, daß Frankreich ihm
feindlich gegenüberstehe und von seiner Politik der Leidenschaft
nicht ablassen würde. Trotzdem blieb Kaiser Wilhelm unablässig
bemüht, den Franzosen in ritterlicher Weise entgegenzukommen.
So besuchte er während seiner Nordlandreise im Juli 1899 bei Bergen
das französische Schulschiff „Iphigenie“ und richtete daraufhin
ein Begrüßungstelegramm an den französischen Präsidenten, lud
auch 67 Kadetten auf die „Hohenzollern“ ein1 2. Als aus Paris ge-
meldet wurde, diese Vorgänge hätten in Frankreich keine gute Presse
gehabt, vermerkte der Kaiser, eine solche brauche er nicht, gut
Ding wolle Weile haben3. Am 18. August 1899 hielt der Kaiser bei
der Einweihung eines Denkmals für das erste Garde-Regiment zu
Fuß auf dem Schlachtfelde von St. Privat eine Rede, in der er
auch der französischen Armee ritterlich gedachte. Seine Absicht,
bei diesem Anlasse einen Lorbeerkranz auf das bedeutendste, in
der Nähe befindliche französische Grabdenkmal als Huldigung für
die Tapferkeit des französischen Heeres niederlegen zu lassen, hatte
er fallen lassen müssen, da General Gallifet im Hinblick auf die
Erregung der Gemüter durch den Dreyfus-Prozeß davon abgeraten
hatte4.
Zu der gleichen Zeit gelang es dem in Petersburg weilen-
den Minister Delcasse, eine ausdrückliche Erneuerung der Zwei-
bund-Abmachungen von 1891 und 1892 mittelst eines Notenaus-
tausches vom 9. August 1899 durchzusetzen. Dabei wurde als Ziel
des Zweibundes neben der Erhaltung des Weltfriedens ausdrück-
lich die Wahrung des europäischen Gleichgewichts bezeichnet und
die Dauer der französisch-russischen Militärkonvention, die nach
der bisherigen Bestimmung mit der Auflösung des Dreibundes ihr
Ende finden sollte, mit der Dauer des Zweibundes gleichgesetzt.
Die neuen, der deutschen Diplomatie unbekannt bleibenden Ab-
machungen richteten ihre Spitze deutlich gegen eine Vergrößerung
1 Gr. Pol. Nr. 3567.
2 Gr. Pol. Nr. 3569.
3 Gr. Pol. Nr. 3570.
4 Gr. Pol. Nr. 3571—3575, 3581.
167
Der Neue Kurs. 1890—1901
Deutschlands in dem Falle, daß es nach dem Tode Kaiser Franz
Josephs zu einer Auflösung Österreich-Ungarns gekommen wäre1.
Auch in seinen Auseinandersetzungen mit England, die sich
an Faschoda anschlossen, war Delcasse erfolgreich gewesen. Eine
englisch-französische Erklärung vom 21. März 1899 begrenzte die
beiderseitigen Besitzungen südlich und westlich vom Niger und die
Interessensphären östlich des Niger. Beide Teile gestanden sich
gleichartige Behandlung in den strittigen Qebieten zu1 2. Eine stets
drohende Ursache zu Konflikten war beseitigt und damit auf dem
Wege zur Entente cordiale ein wesentlicher Schritt getan.
Wie schon erwähnt, war es Deutschland gelungen, mit Spanien
ein Abkommen über den Ankauf der von Deutschland erstrebten
Südsee-Inseln abzuschließen, das im Juni durch die Cortes geneh-
migt wurde. Die Leiter der spanischen Politik hätten nun gern
eine Liga der Kontinentalmächte Frankreich, Deutschland und Ruß-
land gegen England Zustandekommen sehen, um sich nicht ganz in
die Arme Frankreichs werfen zu müssen. In Berlin lehnte man das
ab, da alle derartigen Versuche im Laufe der letzten dreißig Jahre
auf politischem oder wirtschaftlichem Gebiete stets ohne prak-
tisches Ergebnis geblieben seien3. Auch Frankreich verhielt sich
gegenüber den spanischen Wünschen zurückhaltend4. Bezeichnend
war, daß die Königin-Regentin von Spanien als Mittel für die För-
derung einer deutsch-französischen Annäherung ein stärkeres deut-
sches Eintreten für Elsaß-Lothringen empfahl. So könne vielleicht
der Schwager des deutschen Kaisers an die Spitze von Elsaß-
Lothringen gestellt und dabei mehr den übrigen deutschen Bundes-
fürsten angenähert werden: das würde nicht nur auf die Elsaß-
Lothringer, sondern auch auf die Franzosen Eindruck machen.
Die erste Haager Friedenskonferenz.
18. Mai bis 29. Juli 1899
Am 24. August 1898 hatte in Petersburg Graf Murawiew die
Botschafter der Mächte durch eine von ihm selbst Unterzeichnete
Denkschrift überrascht, die auf die eigene Initiative des Zaren
zurückging. Darin wurde von der Aufrechterhaltung des allgemei-
nen Friedens und einer Herabsetzung der übermäßigen Rüstungen,
die auf allen Nationen lasteten, gesprochen. Die humanitären und
hochherzigen Bestrebungen des Zaren seien ganz und gar darauf
gerichtet. Es gehe nicht länger an, die geistigen und physischen
Kräfte der Völker, ihre Arbeit und ihr Kapital zum größeren Teile
ihrer natürlichen Verwendung zu entziehen und unergiebig zu ver-
1 Gr. Pol. Nr. 3577, 3578.
2 Gr. Pol. Nr. 3942, 3943.
* Gr. Pol. Nr. 4206.
4 Gr. Pol. Nr. 4208-4211.
168
Die Erste Haager Friedenskonferenz
brauchen. Den unablässigen Rüstungen ein Ziel zu setzen und nach
Mitteln zu suchen, um den Unglücksfällen zu begegnen, die die
ganze Welt bedrohten, sei die erhabenste Pflicht aller Staaten.
Von diesem Gefühl durchdrungen, schlage der Zar allen Regierun-
gen den Zusammentritt einer Konferenz vor, die sich mit diesen
ernsten Problemen beschäftigen solle1.
Kaiser Wilhelm II. hielt den russischen Vorschlag für eine
Utopie und befürchtete, daß das Manifest des Zaren den deutschen
Demokraten und der Opposition eine brillante Agitationswaffe zur
Verfügung stellen würde. Nach seiner Ansicht steckte in dem rus-
sichen Vorschläge eine Portion Teufelei, indem dem Ablehnenden
das Motiv des Friedensbruches untergeschoben werden sollte. Ruß-
land besitze keine Finanzquellen mehr und mache daher jetzt seinen
Konferenzvorschlag 1 2.
In Berlin suchte man hauptsächlich mit England über den rus-
sischen Vorschlag zu einer übereinstimmenden Auffassung zu gelan-
gen. Die besondere Wärme aber, mit der Kaiser Nikolaus den deut-
schen Kaiser ersucht hatte, seine Pläne zu fördern, erforderte eine
persönliche Antwort des Monarchen. Eine solche richtete der Kaiser
am 29. August 1898 an den Zaren3 und verhehlte darin nicht die
außerordentliche Schwierigkeit der Frage. Den menschlichen Grund-
gedanken des Vorschlages erkannte er an, wenn er auch an seiner
praktischen Verwirklichung Zweifel hegte. In Wien behandelte Graf
Goluchowski den russischen Vorschlag mit „wohlwollender Heiter-
keit“, eine Kennzeichnung, der Kaiser Wilhelm II. widersprach, da
er die Sache als eine sehr ernste betrachtete4.
Um die Weihnachtszeit 1898 hatten sich die russischen Vor-
schläge zu einem Programm für die Friedenskonferenz verdich-
tet. Alle politischen Fragen sollten von ihr ausgeschlossen sein.
Deutschland erklärte, sich an der allgemeinen Erörterung der ange-
regten Fragen gern beteiligen zu wollen, und trat dem russischen
Programmentwurf vom 11. Januar 1899 bei5.
Die weiteren Vorbereitungen der Ersten Haager Friedenskonfe-
renz vollzogen sich unter allseitigem Mißtrauen der Mächte. Einen
üblen Auftakt bildete auch das Manifest des Zaren vom 15. Februar
1899, durch das er die Verfassung Finnlands umstieß.
Deutscherseits wurde der Botschafter Graf Münster als Erster
deutscher Delegierter für die Haager Konferenz ausersehen, die
Völkerrechtslehrer Professor Frhr. v. Stengel und Professor Zorn
ihm beigegeben. Als militärische Sachverständige entsandte Deutsch-
1 Qr. Pol. Nr. 4215.
2 Qr. Pol. Nr. 4219.
3 Qr. Pol. Nr. 4222.
4 Qr. Pol. Nr. 4224.
6 Qr. Pol. Nr. 4233—4235.
169
Der Neue Kurs. 1890—1901
land den früheren Pariser Militärattache, Obersten Groß v. Schwarz-
hoff, und den damaligen Pariser Marineattache, Kapitän zur See
Siegel. Graf Münster war über sein neues Amt wenig erbaut. „Leeres
Strohdreschen“, schrieb er am 24. März 1899 an den Staatssekretär
v. Bülow, „ist stets eine undankbare Aufgabe, besonders wenn es,
wie in diesem Falle, russisches Stroh ist, denn darin findet sich
immer viel giftiges Unkraut. Die Aufgabe ist besonders deshalb
schwierig, weil eine Konferenz wie diese, bei der die Mächte sich
durch Botschafter und frühere Minister vertreten lassen, nicht mit
einem Fiasko enden darf und ein Vorbereiten des ewigen Friedens
eine kindische Illusion ist1.“
Kaiser Wilhelm sah der Konferenz mit großer Sorge entgegen.
Er selbst hatte durch seine Politik zweifellos zehn Jahre des Frie-
dens tatsächlich bereits gesichert. In der Friedenskonferenz er-
blickte er nur einen russischen Schlag gegen Deutschlands militä-
rische Fortentwicklung. „Ich lasse mich aber gar nicht dadurch be-
irren“, schrieb er unter einen Bericht Bülows über eine Unterredung
mit dem russischen Vertreter auf der Haager Friedenskonferenz,
Herrn v. Staal. „Die Konferenzkomödie mache ich mit, aber den
Degen behalte ich zum Walzer an der Seite1 2.“
Die Friedenskonferenz trat am 18. Mai 1899 im Haag zusammen
und wurde am 29. Juli geschlossen. Hinsichtlich der Rüstungen
hatte Graf Murawiew vorgeschlagen, durch eine internationale Ver-
ständigung für fünf Jahre die Nichterhöhung der Effektivstärken der
von den Staaten unterhaltenen Truppen — ohne Kolonialtruppen —
durchzusetzen. Deutscherseits machte Oberst Groß v. Schwarzhoff
geltend, es sei nicht angängig, dem nationalen Werke der Ver-
teidigung eine Konvention entgegensetzen zu wollen. Auch der fran-
zösische Erste Delegierte Bourgeois schloß sich der deutschen Auf-
fassung an, daß die Militärkosten weder in Deutschland noch in
Frankreich erdrückend seien, bezeichnete aber eine Begrenzung der
militärischen, augenblicklich auf der Welt lastenden Verpflichtun-
gen für das Anwachsen des materiellen und moralischen Wohlstan-
des als in hohem Maße wünschenswert3.
Umfangreiche Erörterungen galten der Frage der Unverletzlich-
keit des Privateigentums zur See. Hier war hauptsächlich England
nicht gewillt, sein Kriegsinstrument durch Kommissionsbeschlüsse
irgendwelcher Art verringern zu lassen. Der Marinedelegierte, Vize-
admiral John Fisher, befürchtete, daß eine Unverletzlichkeitserklä-
rung des Privateigentums auf See den bisherigen Schutz der Kriegs-
flotte mehr oder weniger entbehrlich scheinen lassen würde. „Engr
land hat den festen Entschluß“, berichtete Kapitän zur See Siegel am
1 Gr. Pol. Nr. 4250.
2 Gr. Pol. Nr. 4257.
3 Gr. Pol. Nr. 4261.
170
Die Erste Haager Friedenskonferenz
28. Juni 1899, „das Kriegsinstrument, das es in seiner Flotte besitzt,
im Falle der Notwendigkeit mit aller Kraft und aller Rücksichts-
losigkeit zu gebrauchen, nach dem Grundsätze: Macht ist Recht1.“
In der dritten Kommission der Haager Konferenz wurde über
die Schiedsgerichtsfrage verhandelt. Die deutschen Akten bringen
eine zusammenhängende Berichterstattung des Professors Zorn über
alle Einzelheiten1 2. Der Standpunkt der deutschen Regierung ist
in einem für die italienische Regierung bestimmten kurzen Schrift-
sätze dahin erläutert, daß man die Errichtung eines ständigen
Gerichtshofes zur Schlichtung internationaler Konflikte für gefähr-
lich, um nicht zu sagen naturwidrig hielt; bei jeder auftauchen-
den bedeutenderen Frage sei eine jede Großmacht mehr oder weni-
ger erheblich interessiert, und es werde dann im Einzelfalle nicht
leicht sein, Staaten ausfindig zu machen, die das erste Erforder-
nis der Richterqualität, die Parteilosigkeit, besäßen3. Graf Münster
befürwortete verschiedentlich eine versöhnliche Haltung in der
Schiedsgerichtsfrage. Offenbar hat der Vortragende Rat v. Hol-
stein damals gemeinsam mit dem Direktor der Rechtsabteilung
des Auswärtigen Amtes, Hellwig, die Seele des Widerstandes gegen
jede Nachgiebigkeit Deutschlands gebildet4.
Am 15. Juni 1899 war man in Berlin schon so weit, daß man
dem Grafen Münster den Auftrag gab, Deutschlands Rücktritt von
der Einrichtung einer ständigen Schiedsinstanz zu erklären. Graf
Münster warnte telegraphisch, durch eine solche Erklärung Deutsch-
lands sehr gute Position auf das Spiel zu setzen, da sich eine Spren-
gung der dritten Kommission, vielleicht sogar der ganzen Haager
Konferenz, daraus ergeben könne. Graf Münster schickte den Pro-
fessor Zorn nach Berlin, um den für Deutschlands Beurteilung
in der Welt gefährlichen Beschluß abzuwenden. Seinen Vorstellun-
gen gelang es, Bülow zum Einlenken zu bewegen, zumal auch aus
Petersburg berichtet wurde, das Odium für das Fiasko der Konfe-
renz werde im Falle der Vereitelung eines ständigen Schiedsgerichts
durch den Widerstand Deutschlands von Rußland aus für die Zu-
kunft allein Deutschland zugeschoben werden5.
So wurde denn Graf Münster angewiesen, „sein Verhalten in
der Schiedsgerichtsfrage auf der Grundlage einzurichten, daß wir
bereit seien, auf den von Rußland befürworteten Vorschlag eines
permanenten Schiedsgerichts und eines permanenten Bureaus ein-
zugehen, jedoch selbstverständlich nur in derjenigen Gestalt, welche
1 Qr. Pol. Nr. 4274.
2 Qr. Pol. Nr. 4278, 4282—4284, 4301, 4304, 4316, 4329, 4332—4334, 4337,
4338, 4345, 4346.
3 Qr. Pol. Nr. 4302.
4 Gr. Pol. Nr. 4312.
6 Qr. Pol. Nr. 4316, 4317.
171
Der Neue Kurs. 1890—1901
jener Vorschlag jetzt angenommen habe, mit allen etwa noch weiter
erreichbaren Modifikationen und lediglich versuchsweise“. Der
deutsche Botschafter in Petersburg sollte dort darlegen, „wie unsere
sachlichen Bedenken gegen den Schiedsgerichtsvorschlag zwar nicht
entkräftet wären,“ daß aber gleichwohl der Kaiser, um dem Kaiser
Nikolaus einen Beweis treuer Freundschaft zu geben, sich entr
schlossen habe, den Grafen Münster in der mitgeteilten Weise zu
instruieren1. Der Kaiser machte zu diesem grundlegenden Schreiben
Bülows die Schlußbemerkung: „Ich habe in Wiesbaden versprochen,
dem Zaren zu einer befriedigenden Lösung meine Hülfe angedeihen
zu lassen! Damit er sich nicht vor Europa blamiere, stimme ich dem
Unsinn zu! Aber ich werde in meiner Praxis auch für später mich
nur auf Gott und mein scharfes Schwert verlassen und berufen!“
Dann fügte der Monarch noch einen schwer wiederzugebenden
Ausdruck hinzu, der seinen ganzen Unwillen über die Haager Kon-
ferenz erkennen ließ. In Wirklichkeit aber ist der Monarch dem
Gedanken einer friedlichen Lösung aufkommender Konflikte stets
treu geblieben und hat bald darauf, als die Beschlagnahme deut-
scher Dampfer während des Transvaalkonfliktes zu einer deutsch-
englischen Auseinandersetzung führte, selbst die Einsetzung eines
Schiedsgerichtes vorschlagen lassen.
Am 29. Juli 1899 wurde die Konferenz in feierlicher Sitzung ge-
schlossen. Ein Schreiben Bülows an den Kaiser vom 20. Dezember
1899 vermittelt uns das Schlußergebnis der ersten Haager Konfe-
renz, soweit Deutschlands Standpunkt in Betracht kommt1 2.
Graf Münster hat die Konferenz scharf verurteilt und darin
nur die Absicht erblickt, die Wehrkraft der europäischen Staa-
ten zu schädigen, ihre Unabhängigkeit durch Schiedsgerichte zu
schwächen, den kleineren Staaten größeren Einfluß zu gewähren
und die Großen durch die Kleinen zu neutralisieren. Man müsse
doch, meinte er, mit geistiger Blindheit geschlagen sein, wenn man
an die Aufrichtigkeit des Zaren und seiner Ratgeber glauben wolle3.
Kaiser Wilhelm II. hat den russischen Konferenzgedanken als den
albernen Streich eines träumerhaften Knaben gekennzeichnet4. Für
Deutschland war das Ergebnis der Konferenz, daß nach dem über-
einstimmenden Votum der maßgebenden Ressorts der Beitritt
Deutschlands zu der „Konvention über die friedliche Beilegung der
internationalen Konflikte“, sowie zu der „Konvention über die An-
wendung der Genfer Konvention auf den Seekrieg“ für unbedenk-
lich gehalten wurde. Auch die „Konvention betreffend die Gesetze
und Gebräuche des Landkrieges“ wurde angenommen, ebenso wie
1 Or. Pol. Nr. 4320.
2 Or. Pol. Nr. 4354.
s Or. Pol. Nr. 4351.
* Or. Pol. Nr. 4320.
172
Die Erste Haager Friedenskonferenz
die drei Erklärungen, die das Verbot des Schleuderns von Ge-
schossen aus Luftballons, das Verbot der Verwendung von Ge-
schossen mit zerstörenden oder Stickgasen und das Verbot der Ver-
wendung von Geschossen mit veränderlichem Mantel aussprachen.
Die Unterzeichnung der Konventionen und Erklärungen erfolgte am
28. Dezember 1899 im Haag.
Über die wirkliche Bedeutung der Haager Friedenskonferenz
hat sich Professor Philipp Zorn im Heft 9 des „Archivs für Politik
und Geschichte" 1924 wie folgt geäußert: „Das Verhalten Deutsch-
lands auf der ersten Haager Friedenskonferenz ist schon vor dem
Weltkriege vielfach einer herben Kritik unterzogen worden, und
während des Weltkrieges hat sich diese Kritik durch die die ganze
Welt vergiftende Northcliffepresse zu unerhörter Heftigkeit gesteigert,
und man hat dies deutsche Verhalten als eines der Hauptargumente
für die größte und infamste Lüge der Weltgeschichte, die im Ver-
sailler Frieden, Artikel 231, niedergelegte Behauptung von der Al-
leinschuld Deutschlands an der Weltkatastrophe, verwertet.
„Diese Behauptung entbehrt, wie dies auch die jetzt veröffent-
lichten Akten des Urkundenwerkes bezeugen werden, jeder Be-
gründung.
„Deutschland hat, wenn auch widerwillig, das russische Kon-
ferenzprogramm angenommen und an seiner Durchführung eifrig
und ehrlich mitgearbeitet. Daß es den damals noch vollkommen un-
reifen und bis zum heutigen Tage noch nicht zur Reife gelangten Ab-
rüstungsgedanken zu Fall brachte, ist richtig; aber Deutschland
stand hierbei nicht allein, sondern wurde von sämtlichen Großmäch-
ten unterstützt; das zur Prüfung dieser Frage eingesetzte Komitee
war in der Ablehnung einstimmig gegen Rußland, und die Gesamt-
konferenz billigte diese Ablehnung. Dem fakultativen Schiedsgericht
und der gesicherten Ordnung des Verfahrens stimmte Deutschland
ohne jeden Vorbehalt zu; das Obligatorium dagegen lehnte es grund-
sätzlich ab, auch hierin unterstützt von zahlreichen anderen Staaten.
Daß darin Deutschland zu weit ging, ist meine persönliche Über-
zeugung; der Artikel 10 des Martensschen Entwurfes hätte unbe-
denklich angenommen werden können. Aber eine gerechte Beurtei-
lung wird anerkennen müssen, daß bei der völligen Unerprobtheit
der Sache die deutschen Bedenken staatsmännischer Vorsicht doch
wohl verständlich waren und keineswegs die Behauptung rechtferti-
gen, Deutschland sei in imperialistischer Selbstsucht der alleinige
Friedensstörer auf der ersten Friedenskonferenz gewesen.
„Gegen den ständigen Schiedshof nahm das Auswärtige Amt
gleichfalls eine schroff ablehnende Stellung ein. Aber es gelang doch
schließlich, diesen Widerspruch des Auswärtigen Amtes, wenn auch
nach langwierigen kritischen Erörterungen, zu beseitigen, und
Deutschland hat den ständigen Schiedshof ohne jeden Vorbehalt
173
Der Neue Kurs. 1890—1901
angenommen und weiterhin an seiner Verwirklichung und prak-
tischen Betätigung regsten Anteil genommen; der spätere große Ge-
danke des ständigen Prisenhofes ging von Deutschland aus und gibt
den Beweis, wie sehr inzwischen das Auswärtige Amt sich in den
Gedanken der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit eingelebt und
vertieft hat. Es entbehrt demnach für ein ruhiges unparteiisches Ur-
teil jeder Begründung, wenn man Deutschland aus seinem Verhalten
gegenüber der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit den Vorwurf
machen will, als sei es in bewußter militaristischer Überhebung und
im Bestreben nach militärischer Weltherrschaft grundsätzlicher Geg-
ner aller Bestrebungen auf friedliche Erledigung internationaler
Streitfälle gewesen. Dies war Deutschland niemals, im Gegenteil;
sowohl die Bismarcksche als die Wilhelminische Politik verfolgten
als ihr Hauptziel die Erhaltung des Weltfriedens . . .
„Zu allen Zeiten war auch die kaiserliche Politik Wilhelms II.
die gleiche ehrliche und feste Friedenspolitik, wie es die Politik Bis-
marcks 1875 und 1888 gewesen war.
„An dem ehrlichen Friedenswillen Deutschlands kann kein
Zweifel obwalten; das hat heute schon die Weltgeschichte außer
Zweifel gestellt. Ob das Verhalten anderer Staaten zu dem gleichen
Urteil berechtigt, ist eine andere Frage . .
Deutschlands Beziehungen zu Rußland während des Jahres 1899
wurden durch die Entwicklung der Dinge im Nahen Orient seit Früh-
jahr 1899 aufs neue auf die Probe gestellt.
Ein kaiserliches Iradee vom 29. Januar 1899 hatte der anatoli-
schen Eisenbahngesellschaft endgültig die Konzession zur Erbauung
eines großen Handelshafens in Haidarpascha erteilt1. Die russische
Regierung äußerte alsbald Besorgnisse unter Hinweis auf die Siche-
rung des Schwarzen Meeres und seines Zuganges 1 2. Man suchte mit
Deutschland zu einem Abkommen über die Meerengen und Klein-
asien zu gelangen. In Berlin hielt man die Voraussetzungen für einen
festen Vertrag nicht gegeben, da Rußland mit Frankreich verbündet
sei und letzteres aus seinem Wunsche kein Hehl mache, bei erster
sich bietender Gelegenheit Deutschland anzugreifen. Das von Ruß-
land empfohlene Abkommen über die Meerengen und Kleinasien
könne die Wirkung haben, Mächte, die bisher noch Rücksicht auf
Deutschland nähmen, zu festen Gegnern Deutschlands zu machen.
Graf Murawiew gab sich noch nicht zufrieden und erklärte, Rußland
wolle sich mit den deutschen Fortschritten in Kleinasien abfinden
und auch weitere Fortschritte gutheißen, wenn „Deutschland seiner-
seits die traditionellen ausschließlichen Ansprüche Rußlands auf den.
1 Or. Pol. Nr. 3978.
2 Qr. Pol. Nr. 4015, 4016.
174
Das Jahr 1899
Bosporus unzweideutig anerkenne und dementsprechend gegebenen-
falls auch auf die anderen Mächte einwirke1.“
Beschwerden, die Murawiew über den deutschen Militärattache
in der Türkei, Major Morgen, erhob, und die man in Berlin als an-
maßend empfand, führten zu einer erheblichen deutsch-russischen
Verstimmung1 2. Der deutsche Botschafter in Petersburg wurde an-
gewiesen, aus eigener Initiative auf die Meerengenfrage nicht mehr
zurückzukommen und sich ausweichend zu verhalten, falls die Rus-
sen das Thema wieder aufbrächten.
Im November 1899 erhielt die anatolische Eisenbahngesell-
schaft die Vorkonzession für die Bagdadbahn. Frankreich, Rußland
und gelegentlich auch England hatten gegen diese Bevorzugung
der Deutschen zu wirken versucht, fanden sich aber schließlich da-
mit ab. Bülow hatte in der deutschen Presse immer den Standpunkt
vertreten lassen, daß es der deutschen Politik auf ein Zusammen-
gehen mit Rußland und mit England auch in diesen Fragen des
Nahen Orient ankomme3.
Schärfere Gegensätze zu England ergaben sich in der Samoa-
frage. Schon in den neunziger Jahren war es ein Ziel der deutschen Ko-
lonialpolitik gewesen, Samoa an Deutschland abgetreten zu sehen.
Bisher hatten sich Amerika, England und Deutschland in die Ver-
waltung der Inselgruppe geteilt, und der Wunsch Amerikas, sich aus
Samoa zurückzuziehen, schien für Deutschland eine gute Gelegen-
heit, in den Alleinbesitz der Inseln zu gelangen.
In Apia waren anläßlich des Todes des Königs Malietoa schwere
Unruhen entstanden, da der bisher verbannt gewesene Thronprä-
tendent Mataafa zum Könige gewählt und diese Wahl von den Kon-
suln Deutschlands, Englands und Amerikas zunächst gebilligt, spä-
ter aber von dem amerikanischen Oberrichter Chambers für un-
gültig erklärt worden war. Die Verjagung der von den Konsuln ein-
gesetzten provisorischen Regierung führte im Frühjahr 1899 zum
Eingreifen englischer und amerikanischer Kriegsschiffe und zum
offenen Bürgerkrieg zwischen den Eingeborenen.
Für Deutschland schien es geboten, die Samoafrage durch
eine Teilung der Inseln aus der Welt zu schaffen4. Graf Hatzfeldt
erhielt Anweisung, mit England darüber zu verhandeln. Dieser fand
anfangs wenig Entgegenkommen, zumal Chamberlain nach Ableh-
nung seiner Bündnis Vorschläge von 1898 zweifellos gegen Deutsch-
land gereizt war. So äußerte er anfangs Mai zu Hatzfeldt, für ein
deutsch-englisches Bündnis sei es jetzt zu spät. Bülow kennzeich-
nete die nunmehr für Deutschland erforderliche Politik dahin, sich
1 Gr. Pol. Nr. 4021, 4022.
2 Gr. Pol. Nr. 4025—4027.
3 Gr. Pol. Nr. 3992—3994.
4 Gr. Pol. Nr. 4028. Siehe oben S. 134.
175
Der Neue Kurs. 1890—1901
nicht zu binden und ruhig abzuwarten, ob Englands Haltung die
Fortsetzung der deutschen bisherigen wohlwollenden Neutralität
möglich mache1. Die Verstimmung des deutschen Kaisers gegen
Lord Salisbury wegen seiner Haltung in der Samoafrage fand in
einem Briefe des Kaisers vom 22. Mai 1899 an die Königin von Eng-
land einen lebhaften Ausdruck1 2. Die Königin antwortete am 12. Juni
kurz und mit schärfster Zurückweisung und fügte eine von Salisbury
stammende Aufzeichnung bei, wonach ein Grund für die Un-
zufriedenheit des Kaisers wegen des britischen Verhaltens in der
Samoafrage nicht gegeben sei3.
Im Herbst 1899 erwog man in Berlin zeitweise die Aufgabe
der Samoanischen Forderungen. Da sich aber die vom Chef des
Admiralstabes der Marine und vom Staatssekretär des Reichs-
marineamtes eingeforderten Gutachten gegen den Verzicht aus-
sprachen, ließ man weiter verhandeln4. Unter Verzicht auf die
deutsche Exterritorialität in Sansibar gelang es Deutschland schließ-
lich den Vertrag über Samoa, die Tongainseln, Salomonsinseln und
Sansibar vom 14. November 1899 abzuschließen. Deutschland erhielt
die Insel Opolu und Sawai, England die Tongainseln mit Einschluß
Vavaus.
Gerade während der Monate, in denen die Haager Friedenskon-
ferenz vorbereitet wurde, erwiesen die Vorgänge der praktischen
Politik, daß von einem Zeitalter des ewigen Friedens noch keines-
wegs gesprochen werden konnte. Eine kriegerische Ausein-
andersetzung zwischen England und den Buren kündigte
sich an.
Am 21. März 1899 richtete der Kolonialminister Chamberlain in
einer Unterhausrede scharfe, beinahe schon drohende Anklagen gegen
die Burenrepublik wegen der Behandlung der Uitlanders, auf die
Präsident Krüger am 24. März antwortete. Deutschland und Holland
nahmen sofort einen vermittelnden Standpunkt ein. Der Krieg wurde
aber unvermeidlich, nachdem im Juli 1899 in den Verhandlungen
zwischen England und der Burenrepublik die Souveränitätsfrage auf-
geworfen worden war. In England wollte man die Unabhängigkeit
der südafrikanischen Republik nicht zugeben. War Präsident Krü-
ger anfangs zu einem gewissen Entgegenkommen in der Uitlanders-
frage bereit gewesen, so zog er nach einer scharf ablehnenden Note
der englischen Regierung vom 28. August das angebotene Entgegen-
kommen am 2. September 1899 wieder zurück5. Nun wurde die
Lage unhaltbar. Am 9. Oktober ließ Chamberlain dem deutschen
1 Gr. Pol. Nr. 4072.
2 Gr. Pol. Nr. 4074.
3 Gr. Pol. Nr. 4076.
4 Gr. Pol. Nr. 4107.
5 Gr. Pol. Nr. 4356—4390.
176
Das Jahr 1899
Botschafter in London mitteilen, er könne den Krieg mit Transvaal
als unbedingt sicher betrachten. Am 10. Oktober richtete die Trans-
vaal-Regierung ein Ultimatum an England, das dort am 13. Oktober
eine scharfe Ablehnung fand. Nunmehr trat mit dem Einrücken von
Truppen der beiden Burenrepubliken in Natal der tatsächliche Kriegs-
zustand ein.
Trotz aller Sympathien für die Buren nahm Deutschland von
vornherein einen vermittelnden Standpunkt ein. Trotzdem beschwerte
man sich in England dauernd über die deutsche Presse. Aktenmäßig
steht fest1, daß die deutsche Regierung während des ganzen Buren-
krieges streng neutral geblieben ist und weder amtlich noch halb-
amtlich und auch nicht durch Mittelspersonen den Versuch gemacht
hat, Frankreich und Rußland zur Intervention im südafrikanischen
Kriege zu bewegen. Ein Besuch des deutschen Kaiserpaares in Eng-
land (20./28. November) stellte keine Parteinahme gegen die Buren
dar, entlastete aber Deutschland von dem Verdachte, bei der Partei-
nahme des Kontinents für die Buren in vorderster Linie zu stehen.
Mit Recht erhoffte Botschafter Graf Hatzfeldt von diesem Besuche
segensreiche Folgen für die Zukunft1 2. Eine bedauerliche Wirkung
ergab sich aber aus einer Rede Chamberlains vom 29. November,
in der er geradezu von einer neuen Tripelallianz zwischen der ger-
manischen Rasse und den zwei großen Zweigen der Angelsachsen
sprach. Bülow fühlte sich nunmehr veranlaßt, am 11. Dezember
der englisch-deutschen Beziehungen in einer so kühlen Weise zu
gedenken, daß seine Worte in England verstimmend wirkten. Cham-
berlain unterließ daraufhin weitere Bündnisangebote an Deutschland.
Wie sehr der deutsche Kaiser bemüht gewesen ist, England und
Transvaal gegenüber strenge Neutralität zu üben, ergibt sich aus
dem Verbot der Teilnahme preußischer Offiziere, auch des Beurlaub-
tenstandes, an den Kämpfen in Südafrika. In der Frage der Kontrolle
der Delagoabai wirkte England mit Deutschland zusammen.
Das Jahr 1900
Deutschlands streng neutrale und geradezu englandfreundliche
Haltung während des Burenkrieges war schon im Dezember 1899
durch die unberechtigte Beschlagnahme deutscher Dampfer ernst-
lich in Frage gestellt worden. Die Engländer hatten den Reichspost-
dampfer „Bundesrat“ vor der Delagoabai angehalten, was in
Deutschland große Verstimmung erregte3. Als anfangs Januar 1900
Nachrichten eingingen, daß die Engländer noch zwei weitere
deutsche Dampfer beschlagnahmt hätten, forderte Deutschland un-
1 Gr. Pol. Nr. 4393—4411.
2 Gr. Pol. Nr. 4401.
8 Gr. Pol. Nr. 4412—4426.
12 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
177
Der Neue Kurs. 1890—1901
verzüglich die Einsetzung eines Schiedsgerichts oder einer gemisch-
ten Kommission. England gab die Schiffe wieder heraus, und am
19. Januar 1900 vermochte Graf Bülow im Reichstage zu erklären,
die englische Regierung habe in dieser Angelegenheit einen völligen
Rückzug angetreten1.
Die öffentliche Meinung der ganzen Welt beschäftigte sich beim
Beginn des Jahres 1900 lebhaft mit der Frage, ob es nicht Sache der
europäischen Festlandsmächte sei, durch eine Intervention den
Burenkrieg zu beenden. Der deutsche Kaiser hat aber allen Ver-
suchen, ihn aus seiner neutralen Haltung herauszulocken, fest
widerstanden1 2.
Anfangs März 1900 ließ Murawiew in Berlin den Gedanken an-
regen, dem südafrikanischen Kriege durch eine gemeinsame Ver-
mittlung Rußlands, Frankreichs und Deutschlands ein Ende zu
machen. Deutschland wünschte nicht hervorzutreten, solange es
nicht der Haltung Frankreichs völlig sicher war. Diese Sicherheit
mußte nach Bülows Ansicht durch eine Abmachung geboten sein,
durch die die vertragschließenden Mächte sich für eine längere Reihe
von Jahren ihren europäischen Besitzstand gegenseitig garantierten.
Deutschland ließ also Rußland den Vortritt, während Frankreich
auch das Kabinett von Washington mit heranzuziehen wünschte.
Rußland aber zeigte wenig Neigung, die Führung zu übernehmen3.
Am 6. März 1900 lief in London ein Telegramm der beiden
Burenrepubliken ein, worin sie Frieden unter Wahrung der Unab-
hängigkeit der beiden Republiken vorschlugen. Die Lage der Buren
hatte sich bereits so verschlimmert, daß die europäischen Mächte
ihren Untergang für unabwendbar hielten. Da die Buren in London
abgewiesen wurden, wendeten sie sich am 10. März auch an
Deutschland, Österreich und die Schweiz mit der Bitte um freund-
schaftliche Vermittlung4.
Deutschland erklärte sich zur Mitwirkung bei einer freundschaft-
lichen Vermittlung bereit, falls festgestellt sei, daß beide Gegner
eine solche wünschten. Da die Engländer aber jeden Versuch der
Einmischung ablehnten, blieb den Buren schließlich nichts anderes
übrig als die unmittelbare Verhandlung mit England5. Auch die Ent-
sendung einer Burendeputation nach Holland und Amerika ver-
mochte trotz begeisterter Aufnahme durch das Publikum ein Vor-
gehen der amtlichen Regierungen nicht zu erreichen. In Berlin
wurden die Deputierten ebensowenig empfangen wie einige Mo-
nate später, im Dezember 1900, Präsident Krüger. So schleppte sich
1 Or. Pol. Nr. 4452.
2 Qr. Pol. Nr. 4465, 4470, 4471.
3 Qr. Pol. Nr. 4474, 4476.
4 Qr. Pol. Nr. 4481.
6 Gr. Pol. Nr. 4485—4497.
178
Das Jahr 1900
denn der Krieg trotz aller Erfolge, die seit Januar 1900 Lord Roberts
erntete, noch weitere Jahre hin. Für Deutschland blieb nichts anderes
übrig, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Dies war jedenfalls die
Auffassung Kaiser Wilhelms II., wenn er auch im Februar 1900
einige „Aphorismen über den Krieg in Transvaal“ dem englischen
Thronfolger hatte zukommen lassen1. Erst am 31. März 1902 be-
endete der Frieden von Pretoria den Burenkrieg.
Die herbste Enttäuschung für alle diejenigen, die in der ersten
Haager Konferenz einen Fortschritt auf dem Wege zum ewigen Frie-
den erblickt hatten, bildeten der Boxeraufstand in China und
das sich daraus ergebende Vorgehen der europäischen Mächte.
End Mai 1900 erfuhr man in Berlin, daß aufrührerische Boxer bis in
unmittelbare Nähe von Peking vorgedrungen seien, und daß Gefahr
für die Mitglieder der Gesandtschaften und die in Peking befind-
lichen Staatsangehörigen der fremden Mächte bestehe. Die chinesi-
sche Regierung, so berichtete der Gesandte Frhr. v. Ketteier, sei
zum energischen Eingreifen der Truppen unwillig und unfähig1 2.
Die Gesandten von England, Frankreich, Rußland, Italien, Japan,
Österreich und Amerika hatten schon Marinesoldaten zum Schutze
der Gesandtschaften und der in Peking weilenden Fremden nach
dort beordert. Ketteier empfahl dringend die Entsendung von fünfzig
Mann aus Tsingtau. Der Kaiser war einverstanden, und am 3. Juni
traf ein deutsches Detachement gemeinsam mit einer österreichischen
Abteilung in Peking ein. Damit wurde die Beteiligung Deutschlands
an der Beseitigung der chinesischen Wirren eingeleitet, die in ihrem
weiteren Verlaufe für die deutsche Politik zum erstenmal die Mög-
lichkeit schuf, durch Stellung des Oberbefehlshabers einer internatio-
nalen Truppenabteilung im fernen Ostasien weltpolitisch an vor-
derster Stelle zu stehen. Nachdem der deutsche Gesandte Frhr.
v. Ketteier in Peking am 20. Juni 1900 ermordet worden war, durfte
damit gerechnet werden, daß die anderen Mächte Deutschland den
Vortritt überlassen würden. Die Dinge haben sich damals so abge-
spielt, daß die deutsche Regierung zunächst in London sondieren
ließ und zu verstehen gab, Deutschland werde den Oberbefehl über-
nehmen, falls England einen dahingehenden Antrag stelle3. Darauf-
hin wendete sich Kaiser Wilhelm II. am 5. August in einem persön-
lichen Telegramme an den Zaren4 und fragte ihn, ob es sein be-
sonderer Wunsch sei, daß ein russischer General den Oberbefehl
übernehmen solle. Falls der Zar wünsche, daß ein deutscher Ge-
neral gewählt würde, so stelle er für diesen Fall den Feldmarschall
1 Gr. Pol. Nr. 4507—4510.
2 Gr. Pol. Nr. 4511.
3 Gr. Pol. Nr. 4584.
4 Gr. Pol. Nr. 4601.
12*
179
Der Neue Kurs. 1890—1901
Grafen Waldersee zur Verfügung. Der Zar antwortete telegraphisch,
er freue sich, dem Kaiser mitteilen zu können, daß er der Ernennung
Waldersees durchaus zustimme. Der Vorschlag zu seiner Ernennung
ist somit vom deutschen Kaiser ausgegangen1.
Auf den Zaren machten die Vorgänge in China einen tiefen
Eindruck. Die „Illusionen seiner geträumten Friedenspolitik“ waren
dahin1 2. Die russische Politik benutzte aber alsbald die chinesischen
Wirren zur Erweiterung ihres Einflusses auf die Mandschurei, wo
sie sich schon seit Jahren durch das Eisenbahnabkommen mit China
von 1896 und durch die Besitznahme von Port Arthur von 1898 eine
Machtstellung geschaffen hatte. Zusammenstöße zwischen russischen
und chinesischen Truppen führten Ende Juli 1900 zur Besetzung
weiterer Teile der Mandschurei, so daß man im Herbst bereits von
einem russischen Geheimabkommen mit China und einem Protek-
torat über die Mandschurei zu sprechen begann.
Deutschland erschien damals als ehrlicher Makler zwischen Eng-
land und Rußland in allen zur Erörterung stehenden Fragen der
Eisenbahnkonzessionen und der von Rußland gewünschten Erwer-
bungen bei Tientsin. Mit England gelang ihm am 16. Oktober 1900
das sogenannte Jangtse-Abkommen: beide Regierungen ver-
sprachen sich wechselseitig, die augenblickliche Verwicklung nicht
zur Erlangung irgendwelcher territorialen Vorteile in chinesischen
Gebieten ausnutzen zu wollen. Ihre Politik sollte darauf gerichtet
sein, den Territorialbestand des chinesischen Reiches unvermindert
aufrechtzuerhalten. Falls eine andere Macht sich die Verwicklungen in
China zunutze machen sollte, so behielten sich England und Deutsch-
land vor, sich wegen der zu unternehmenden etwaigen Schritte vor-
her zu verständigen3. Die deutsche Politik hat damals zwischen den
widerstrebenden Interessen der Mächte, besonders Englands und
Rußlands, dauernd zu lavieren gehabt. So vermied sie es, sich wegen
der von England gewünschten Verdrängung der Russen von Tientsin
„lediglich England zu Gefallen auf eine Aktion von nicht zu be-
messender Tragweite einzulassen4“.
Am 17. Oktober 1900 übernahm Staatssekretär v. Bülow an Stelle
des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst die Geschäfte
als Reichskanzler. Vom Beginn seiner Kanzlerzeit an beherrschte
die Frage der ostasiatischen Kriegsentschädigung die internationale
Politik. Waren doch mehrere Großmächte mit völlig widerstreiten-
den Interessen an der Niederwerfung des Boxeraufstandes in China
beteiligt, und besonders Rußland und England versuchten, ihre
ostasiatischen Wünsche bei diesem Anlasse zur Geltung zu bringen.
1 Gr. Pol. Nr. 4602.
2 Gr. Pol. Nr. 4355. Bericht des Fürsten Radolin vom 1. August 1900.
3 Gr. Pol. Nr. 4744.
4 Gr. Pol. Nr. 4792.
180
Das Jahr 1900
Solange es sich um Übergriffe Rußlands handelte, wie bei den
Verhandlungen über den Mandschureivertrag, unterstützte Deutsch-
land die englische Politik. Mit dem Fortschreiten der Verhand-
lungen über die Kriegsentschädigung stellte es sich aber immer
deutlicher heraus, daß hauptsächlich England den Abschluß der
Friedensverhandlungen hinauszögerte und dadurch eine Heimkehr
des Feldmarschalls Grafen Waldersee, der in China stehenden Ex-
peditionskorps und des Panzergeschwaders unmöglich machte.
Deutschland trieb die vom Standpunkt der damaligen Verhältnisse
aus vielleicht wünschenswerte Politik der freien Hand, entfremdete
sich aber nach Ausweis der Dokumente1 schließlich sowohl Eng-
land wie Rußland und blieb in der Mitte allein zurück. Deutscher-
seits hatte man für das gemeinsame bewaffnete Einschreiten in
China höhere Aufwendungen machen müssen als die anderen Staa-
ten1 2 3 und wollte daher die Kriegskostenfrage eher geklärt sehen,
als die Expeditionstruppen aus China zurückgezogen wurden.
Die deutsch-russischen Beziehungen wurden durch Kaiser Wil-
helm II. auch im Verlaufe des Jahres 1900 sorgfältig gepflegt.
Eine persönliche Begegnung der beiden Monarchen kam aber in-
folge der internationalen Verwicklungen des Jahres 1900 nicht
zustande. Eine Einladung des Kaisers an den Zaren, an den Sep-
tembermanövern in Pommern teilzunehmen, wurde von diesem ab-
gelehnt, und auch ein geplanter Besuch des Kaisers beim Zaren
unterblieb wegen der deutschen Verstimmung über das Verhalten
der Russen in China3. Nach Bülows Ansicht empfahl sich nun-
mehr eine freundliche Zurückhaltung des Monarchen gegenüber
Rußland4. Als Bülow Kanzler geworden war, ergriff er die erste
passende Gelegenheit, um im Reichstage das gute und vertrauens-
volle Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland hervorzuheben.
Die deutsch-französischen Beziehungen waren 1900 im ganzen
erfreulich. Zeitweise sprachen französische Staatsmänner sogar von
einem gemeinsamen deutsch-französischen Vorgehen im Orient5.
Zu der am 14. April 1900 eröffneten Pariser großen Weltausstellung
entsandte Deutschland das stärkste Kontingent an Besuchern. Fürst
Münster meldete aus Paris, die Franzosen wünschten jetzt wirklich
ein besseres Nachbarverhältnis zu Deutschland, und empfahl, ihnen
entgegenzukommen, da niemand in Frankreich mehr ernstlich an
die Wiedereroberung Elsaß-Lothringens denke6. Aber auch Mün-
ster mußte am 10. Oktober 1900 zugeben, daß nur das Mißtrauen
1 Or. Pol. Nr. 4840—4901.
2 Qr. Pol. Nr. 4846.
3 Qr. Pol. Nr. 5377, 5378.
4 Qr. Pol. Nr. 5379.
6 Qr. Pol. Nr. 5863.
6 Gr. Pol. Nr. 5864.
181
Der Neue Kurs. 1890—1901
gegen Rußland und England die französische öffentliche Meinung
zu Deutschland treibe1. In diesem Zusammenhänge erwähnte er
den nicht ernst zu nehmenden Vorschlag, Lothringen gegen Mada-
gaskar zu vertauschen, Metz zu schleifen oder zu neutralisieren.
Das Elsaß hätten die Franzosen längst aufgegeben, und in mehreren
Jahren würde auch Lothringen vergessen werden. Hierzu vermerkte
Kaiser Wilhelm II. ironisch, dann sei doch ein Plebiszit zu seinen
Gunsten viel einfacher, wonach er sechs Monate in Paris, sechs Mo-
nate in Berlin zu regieren habe; dann sei das Reich Karls des Großen
wieder beieinander und Frankreich mit den Reichslanden wieder
Verbunden1 2.
Die Hoffnung der Franzosen, daß der Zar die Ausstellung per-
sönlich besuchen werde, ging nicht in Erfüllung. Dafür erhielt
Präsident Loubet ein Handschreiben des Zaren und zugleich den
Andreasorden.
Ende November 1900 trat Fürst Radolin als Botschafter in
Paris an die Stelle des Fürsten Münster.
Das Jahr 1901
Das Jahr 1901 wurde außenpolitisch für Deutschland durch
den am 22. Januar erfolgten Tod der Königin Viktoria von England,
durch den Weitergang des Burenkrieges und durch die Abwicklung
der ostasiatischen Expedition bestimmt.
Auf die Nachricht von der schweren Erkrankung der Königin
eilte Kaiser Wilhelm II. am 19. Januar nach England. Sein Be-
such trug wesentlich zur Verbesserung der deutsch-englischen Be-
ziehungen bei. Da der Monarch bis nach der Beisetzung der Königin
in England blieb, bot sich mannigfache Gelegenheit, die Möglich-
keiten eines deutsch-englischen Bündnisses zu erörtern.
Im Januar hatte Chamberlain wieder der Ansicht Ausdruck ver-
liehen, für England sei die Zeit der splendid isolation vorüber, und
es müsse sich für die Zukunft nach Bundesgenossen Umsehen. Die
Wahl sei zwischen Rußland und Frankreich und dem Dreibunde.
Er selbst zog ein Zusammengehen mit Deutschland sowie den An-
schluß an den Dreibund vor und empfahl zunächst den Abschluß
eines geheimen Abkommens in bezug auf Marokko3. Bülow war
dafür, zunächst abzuwarten. Graf Hatzfeldt sollte die Engländer
freundlich anhören, ohne weiter entgegenzukommen4.
Bei seinem Eintreffen in England erfuhr Kaiser Wilhelm II.
1 Or. Pol. Nr. 5867.
2 Gr. Pol. Nr. 5867.
3 Gr. Pol. Nr. 4979.
* Gr. Pol. Nr. 4981.
182
Das Jahr 1901
durch den Botschaftsrat Frhr. v. Eckardstein von den Chamberlain-
schen Plänen1. Bülow blieb dabei, man dürfe England kein zu
großes „Empressement“ zeigen, da dies nur ihre Ansprüche erhöhen
würde, müsse sie aber in der Überzeugung erhalten, „daß wir den
Fortbestand eines mächtigen England wünschen, an eine Solidarität
der deutschen und englischen politischen, kulturellen und auch
wirtschaftlichen Interessen glauben und uns deshalb bei richtigem
Verhalten von englischer Seite mit der Zeit auch zu dieser oder
jener Verständigung mit England bereit finden lassen würden2“.
In London hatte Kaiser Wilhelm II. mit seinem Onkel, dem Könige
Eduard, lange politische Gespräche, in denen eine starke Abneigung
des Königs gegen Rußland sowohl wie gegen Frankreich zum
Ausdruck zu kommen schien3. Der Kaiser verhandelte auch aus-
führlich mit dem Minister des Äußern, Lord Lansdowne. Hier-
bei brachte er zum Ausdruck, daß die Zukunft der slawischen oder
der germanischen Rasse gehören werde. Die lateinischen Völker
schritten nicht mehr voran und würden in Europa und der Welt
nicht mehr den Ausschlag geben können. Deshalb müsse die ger-
manische Rasse um so fester zusammenstehen. Er, der Kaiser,
wolle den Frieden erhalten, damit das Mosaikgebilde des Deut-
schen Reiches Zeit habe, sich zu einer festen Masse zu verdichten,
und damit der deutsche Handel seine friedlichen Wege wandeln
könne. Den Weltmarkt offenzuhalten, sei das gemeinsame Ziel
Englands, wie Deutschlands und ganz Europas.
Daß Deutschland für seinen engeren Anschluß an England
Kompensationen und Garantien verlangen könne, schien damals
den deutschen Staatsmännern unzweifelhaft. Graf Hatzfeldt be-
urteilte Englands Lage so, daß es den drohenden Schwierigkeiten
der Zukunft gegenüber in China und anderwärts allein nicht weiter
könne, ohne sich auf eine mächtige kontinentale Allianz zu stützen.
Sollte Deutschland nun auf die englischen Vorschläge eingehen?
Graf Hatzfeldt hatte immer einen vorsichtigen Standpunkt ver-
treten. Jetzt aber erklärte er es doch für seine Pflicht, offen aus-
zusprechen, daß eine grundsätzliche und unbedingte Ablehnung der
Vorschläge sofort zu einem Wechsel der englischen Politik in China
und zum Versuche unmittelbarer Verständigung mit Rußland und
Frankreich über die schwebenden Fragen führen würde4. Hatte doch
England schon anfangs Februar in Berlin angefragt, ob Deutschland
dem aggressiven Vorgehen Rußlands in China weiter zusehen, oder
ob es sich dazu verstehen werde, in Gemeinschaft mit England und
Japan Rußland Einhalt zu gebieten. Die japanische Regierung
Gr. Pol. Nr. 4982.
Gr. Pol. Nr. 4983.
Gr. Pol. Nr. 4986, 4987.
Gr. Pol. Nr. 4988.
183
Der Neue Kurs. 1890—1901
wünschte einen gemeinsamen Schritt der Mächte gegen das bevor-
stehende Mandschurei-Abkommen1.
In Deutschland wollte man vor allem neutral bleiben, wenn
man auch anerkannte, daß die Lage der Engländer eine schwierige
sei1 2. In Peking ließ Deutschland erklären, die chinesische Re-
gierung möge, ehe sie nicht ihre Verpflichtungen gegenüber der
Gesamtheit der Mächte übersehen könne, und ehe nicht die Er-
füllung dieser Verpflichtungen gesichert sei, Einzelverträge von
territorialer oder finanzieller Bedeutung mit irgendwelchen Staaten
oder Gesellschaften nicht eingehen. In dieser Einwirkung auf China
lag eine bedeutungsvolle Unterstützung der damaligen englischen
Politik3. Im übrigen hielt sich Deutschland zurück, um den Vor-
tritt bei allen maßgebenden Entschließungen den in Ostasien stärker
interessierten Mächten zu überlassen. Kündigte sich doch bereits in
Ostasien Japans Wunsch zu einem energischen Vorgehen gegen
russische Ausdehnungsgelüste in Korea und Nordchina an4.
Naturgemäß ergab sich aus Deutschlands Haltung eine gewisse
Verstimmung Rußlands. Kaiser Wilhelm II. mißtraute der damaligen
russischen Politik und hielt ein Zusammengehen von Japan und
England für ausreichend, um Rußland in Ostasien in Schach zu
halten5.
Am 5. März 1901 fand Reichskanzler v. Bülow im Reichstage
Gelegenheit, sich über die Probleme der großen Politik zu äußern.
Ein Abgeordneter hatte an der Englandfreundlichkeit des Kaisers
Anstoß genommen. Bülow erklärte darauf, in Deutschlands Ver-
hältnis zu England habe sich politisch nichts geändert, und wir
seien gern bereit, auf der Basis gegenseitiger Rücksichtnahme und
absoluter Parität mit England in Frieden und Freundschaft zu
leben. Wenn der Kaiser durch seinen Aufenthalt in England die
Bahn für die Fortsetzung eines solchen normalen und guten Ver-
hältnisses zwischen Deutschland und England freigemacht habe, so
sei das für beide Länder und für den Weltfrieden nur nützlich.
Für den Kaiser sei nur die gewissenhafte Sorge für die Sicherung
des Reiches maßgebend6.
Je mehr die anderen Mächte in Ostasien gegeneinander ver-
stimmt wurden, um so mehr hielt sich Deutschland zurück, da es
dort fast nur Handelsinteressen besaß. Japan zeigte es Entgegen-
kommen, so daß sowohl England wie Japan mit Deutschlands
Neutralität bestimmt zu rechnen vermochten, auch für den Fall
1 Or. Pol. Nr. 4808, 4809.
2 Gr. Pol. Nr. 4810.
3 Gr. Pol. Nr. 4813, 4814.
4 Gr. Pol. Nr. 4815—4817.
5 Gr. Pol. Nr. 4818—4824.
6 Gr. Pol. Nr. 4825.
184
Das Jahr 1901
eines russisch-japanischen Konfliktes1. Rußland drängte China nun
dauernd zum Abschluß eines Mandschurei-Vertrages und drohte
im März 1901 mit Gewalt. In Berlin beschwerte sich der russische
Botschafter über die Haltung Deutschlands in Ostasien, worauf ihm
erwidert wurde, die russische Regierung habe Deutschland letzthin
mehrfach vor vollendete Tatsachen gestellt und es dadurch unmög-
lich gemacht, die deutsche Politik rechtzeitig in russenfreundlichem
Sinne zu orientieren oder bestehende Bedenken in Petersburg recht-
zeitig geltend zu machen. Rußland habe seine Maßnahmen in einem
von allen Mächten kriegerisch besetzten Lande ohne Zustimmung
der Mitokkupanten getroffen. Angesichts der starken ihm gezeigten
Widerstände zog Rußland seine Wünsche nach einem Mandschurei-
Abkommen anfangs April 1901 zurück, nicht ohne die Verant-
wortung dafür, daß diese lediglich friedlichen Zwecken dienende
Abmachung gescheitert sei, der durch die übrigen Mächte beein-
flußten Haltung Chinas zuzuschieben1 2.
Am 16. Januar 1901 hatte China den Friedensvertrag unter-
zeichnet. Die Verhandlungen über die Kriegsentschädigung und
Räumung zogen sich aber noch bis zum Sommer hin. Die Haupt-
verzögerung schien von England auszugehen, worauf sich die deut-
sche Politik wiederum Rußland näherte. Vorgreifend sei bemerkt,
daß deutscherseits die Auflösung des Oberkommandos in China
Ende Mai 1901 stattfand3. Am 20. August 1901 erfolgte die Ver-
öffentlichung des Schlußprotokolls über die Kriegsentschädigungs-
frage, und am 7. September 1901 wurde es in aller Form von den
Vertretern der Mächte und den Bevollmächtigten der chinesischen
Regierung vollzogen4. Die weiteren Verhandlungen über die end-
gültige Regelung der Kriegsentschädigung an die Mächte und über
die Sicherung ihrer Abtragung, sowie über die Räumung der von
den Mächten noch besetzten Teile Chinas, insbesondere Tientsins
und Shanghais, zogen sich bis in das Jahr 1903 hin. Deutscherseits
kann man auf Grund der Gesamtheit der vorliegenden Dokumente
für die deutsche Regierung mit Recht in Anspruch nehmen, daß sie
in dieser grundlegenden Frage das Möglichste zur Erhaltung der
Einigkeit unter den Mächten und damit zur Erhaltung des Weltfrie-
dens getan hat.
Die englisch-deutschen Verhandlungen waren inzwischen weiter-
geführt worden. Bülow wünschte den Faden weiterzuspinnen und
übersandte dem Legationsrat Frhr. v. Eckardstein am 5. März 1901
die Abschrift des Briefes des Fürsten Bismarck an Lord Salisbury
1 Gr. Pol. Nr. 4826—4832.
3 Gr. Pol. Nr. 4838, 4839.
3 Gr. Pol. Nr. 4918—4924.
4 Gr. Pol. Nr. 4941.
185
Der Neue Kurs. 1890—1901
vom 22. November 1887 und die Antwort Lord Salisburys vom
30. November 18871. Der Kanzler wies darauf hin, daß die politische
Lage Deutschlands England gegenüber noch so sei wie damals:
heute so wenig wie 1887 könne Deutschland im Falle eines Krieges
mit zwei Fronten auf englische Unterstützung rechnen; es müsse
daher Bedenken tragen, einer politischen Richtung zu folgen, durch
die es sich mit Rußland entzweien würde. Herr v. Eckardstein sollte
Lord Lansdowne auf diesen Briefwechsel aufmerksam machen und
seinen Standpunkt festzustellen suchen1 2.
Lord Lansdowne beschäftigte sich nunmehr mit einem auf
längere Zeit berechneten Defensivabkommen zwischen England und
Deutschland. Ein solches hielt man in Berlin nicht für ungünstig, zu-
mal es nicht ausgeschlossen schien, das Verhältnis zu England später
allmählich auszubauen. Am liebsten hätte man es in Berlin gesehen,
wenn sich England dazu entschlossen hätte, sich an den Dreibund
anzuschließen. Dem wirkte aber die russisch-französische Diplo-
matie in London nachdrücklich entgegen3. Kaiser Wilhelm II. selbst
blieb den englischen Staatsmännern gegenüber, nach Ausweis seiner
Randbemerkungen, mißtrauisch4.
Einen neuen Gedanken brachte die deutsche Diplomatie im
April 1901 dadurch in die Verhandlungen mit England, daß man der
österreich-ungarischen Monarchie eine Hauptrolle dabei zudachte,
so daß Wien gewissermaßen zum Mittelpunkte der Bündnisverhand-
lungen werden sollte. Es schien zeitweise beinahe, als wenn Lord
Salisbury geneigt wäre, auch darauf einzugehen, wenn auch die eng-
lischen Staatsmänner besorgt auf den kommenden Zusammenbruch
Österreichs hinblickten, der nach dem Tode des Kaisers Franz Jo-
seph ihrer Meinung nach nicht lange ausbleiben könnte.
Im April 1901 begannen Gerüchte umzulaufen, wonach Deutsch-
land und England ein Abkommen über die ostasiatische Politik vor-
bereiteten und demnächst Japan zum Beitritt auffordern wollten,
wobei Japan freie Hand in Korea erhalten sollte. Baron Hayashi, der
japanische Gesandte in London, hatte in diesem Sinne den Lega-
tionsrat Frhr. v. Eckardstein sondiert. Zweifellos wünschte damals
die japanische Regierung eine Erweiterung des deutsch-englischen
Abkommens in ihrem Sinne5. Lord Lansdowne war aber damals
noch keineswegs zum Abschlüsse eines Bündnisses mit Japan ent-
schlossen. Er wünschte vor allem, die beiden Angelegenheiten eines
englischen Defensivabkommens mit dem Dreibunde und eines
deutsch-englisch-japanischen Spezialabkommens in bezug auf Ost-
1 Qr. Pol. Nr. 930 und 936. Siehe o. S. 104.
2 Gr. Pol. Nr. 4992, 4993.
3 Gr. Pol. Nr. 4994—4998.
4 Gr. Pol. Nr. 4999.
8 Gr. Pol. Nr. 5036, 5037.
186
Das Jahr 1901
asien ganz getrennt zu behandeln1. Aus den Memoiren des Barons
Hayashi wissen wir, daß Japan die Zuziehung Deutschlands zu den
englisch-japanischen Verhandlungen im Spätherbste 1901 wünschte
und später nach abgeschlossenem Bündnis die Aufforderung
Deutschlands zum Beitritt zur Sprache gebracht hat. Beide Male
wurde es von Lord Lansdowne abgewiesen. So kam es denn zu
einem geheimen englisch-japanischen Vertrage über Korea (30. Ja-
nuar 1902), dessen Abschluß Lord Lansdowne dem deutschen Bot-
schafter am 1. Februar 1902 mitteilte1 2. Beide Mächte erkannten sich
gegenseitig das Recht zu, in Wahrung ihrer Interessen gegen fremde
Angriffe oder innere Unruhen dort alle erforderlichen Maßnahmen
zu treffen. Wurde bei Wahrung dieser Interessen eine der beiden
Mächte in Krieg verwickelt, so sollte die andere neutral bleiben.
Falls eine zweite fremde Macht dem Kriege gegen den einen Verbün-
deten beitrat, sollte ihm der andere zu Hilfe kommen und gemeinsam
Krieg führen und Frieden schließen.
Die deutsch-englischen Besprechungen waren Mitte Mai 1901
erst so wenig weit gediehen, daß Hatzfeldt vorschlug, die bisher
nur akademischen Gedanken zu Papier zu bringen und Punkt für
Punkt zu beraten. Besorgnis erregte auf deutscher Seite nur immer,
daß der Casus foederis schwer festzustellen war. Auf Verhandlungen
mit Österreich und Italien wollte sich Lord Salisbury nicht einlassen,
solange er nicht unter der Hand mit Deutschland im reinen sei. Die
deutschen Staatsmänner wünschten indes den glatten Anschluß Eng-
lands an den Dreibund und identifizierten Deutschlands Interessen
mit dem Fortbestände der österreich-ungarischen Gesamtmonarchie.
Großbritannien mit seinen Kolonien sollte als ein Ganzes betrachtet
werden, so daß also der Bündnisfall eintrat, wenn Großbritannien
durch einen Angriff auf irgendeine britische Kolonie oder wenn der
Dreibund durch einen Angriff auf irgendeinen Dreibundstaat sich
zur Verteidigung genötigt sah3.
Lord Lansdowne wünschte nunmehr näheres über die Dreibund-
verträge zu wissen. Ihm schriftlich darauf antworten zu lassen, trug
man in Berlin Bedenken, insbesondere Holstein, der von tiefstem
Mißtrauen gegen die Engländer beseelt blieb. Graf Hatzfeldt mußte
daraufhin ausweichend antworten4.
In Hamburg war damals Graf Metternich preußischer Gesandter.
Offenbar auf Anregung von Berlin hat er am 1. Juni 1901 eine aus-
führliche Denkschrift über die Frage, ob eine Anlehnung Englands
an den Dreibund für diesen, insbesondere für Deutschland, erstre-
1 Gr. Pol. Nr. 5038—5040.
2 Gr. Pol. Nr. 5043.
3 Gr. Pol. Nr. 5006—5010.
4 Gr. Pol. Nr. 5012—5017.
187
Der Neue Kurs. 1890—1901
benswert sei, an Bülow gesandt1. In diesem Berichte äußerte Met-
ternich zahlreiche Bedenken. Als zu Lande fechtender Bundesgenosse
war nach seiner Ansicht England nichts wert; die englische Flotte
könne aber Deutschland kaum etwas nützen, außer etwa falls.
Deutschland mit den Vereinigten Staaten zusammenpralle. Trotzdem
verkannte er nicht die Vorteile eines Bündnisses mit England, das
aber jedenfalls ein öffentliches und von den Parlamenten genehmig-
tes sein müßte. Auch der Vortragende Rat v. Holstein äußerte sich
zu dieser Frage. Nach seiner Meinung mußte ein Bündnis Englands
mit Deutschland allein die Lage Deutschlands verschlechtern, wäh-
rend er eine Angliederung Englands an den Dreibund als ein Ereig-
nis von großer und günstiger Bedeutung für diesen ansah1 2.
In London waren die maßgebenden Persönlichkeiten durch den
freundlichen Empfang des französischen Generals Bonnal durch den
deutschen Kaiser Ende Mai mißtrauisch gemacht worden. Man
fürchtete damals in London, die deutsche Politik beschäftige sich mit
dem Hintergedanken einer für England unerwünschten deutsch-fran-
zösischen Annäherung. Für England wäre das besonders unbequem
gewesen, da man befürchten mußte, Frankreich könne jetzt die ma-
rokkanische Frage aufrollen, in der die englischen Interessen den
französischen schroff gegenüberstanden3.
Anfangs August 1901 wurde es klar, daß England sich vielleicht
an Deutschland, niemals aber an den Dreibund als Ganzes an-
schließen werde. Da Kaiser Wilhelm II. offenbar von dem Stande
der Verhandlungen mit England damals keine hinreichende Kenntnis
besaß, war es erforderlich, ihn für den am 11. August anläßlich des
Ablebens der Kaiserin Friedrich bevorstehenden Besuch König
Eduards VII. in Homburg v. d. H. eingehender vorzubereiten. Der
Kanzler hielt dem Monarchen einen Vortrag über die marokka-
nische Frage, der darauf hinauskam, Deutschland müsse still-
schweigend abwarten und die Dinge sich entwickeln lassen. Der
Sultan von Marokko hatte damals eine außerordentliche Gesandt-
schaft unter Führung des Kriegsministers el Menebhi nach London
und Berlin entsandt, während eine zweite Abordnung nach Paris und
Petersburg ging4. Menebhi wurde nach seiner Rückkunft vom Sultan,
der vielleicht durch die Magerkeit der von ihm erzielten Ergebnisse
enttäuscht war, ungnädig empfangen, so daß Deutschland und Eng-
land energisch für Menebhi eintraten. Deutschland wollte sich
aber in der marokkanischen Frage von England nicht vorschieben
lassen. „Wir können für englische Interessen“., verzeichnete der
Stellvertretende Staatssekretär v. Mühlberg am 9. August 1901, „nur
1 Gr. Pol. Nr. 5018.
2 Gr. Pol. Nr. 5019.
3 Gr. Pol. Nr. 5020, 5021.
1 Gr. Pol. Nr. 5177, 5184, 5185.
188
Das Jahr 1901
dann eintreten, wenn ein Mittel gefunden wird, um uns die volle
Gegenseitigkeit zu sichern. Dann allerdings, wenn dieses Mittel ge-
funden wurde, könnte ein Zusammengehen mit England die Lebens-
dauer des Dreibundes wesentlich verlängern1.“ Hinsichtlich der
Möglichkeiten eines Abkommens mit England hatte der Kaiser die
Ansicht, ein solches müsse gleichzeitig mit den beiden anderen Drei-
bundmächten abgeschlossen werden, auch müsse das englische Parla-
ment mit sicherer Aussicht auf Annahme durch eine starke Mehr-
heit den Wunsch nach Abschluß eines solchen Abkommens aus-
sprechen. Der Bündnisgedanke wurde durch diese Forderungen,
die offenbar auf den Reichskanzler selbst zurückgingen, wesentlich
beschwert.
Am 23. August fand in Wilhelmshöhe die diplomatisch sehr
sorgfältig vorbereitete Unterredung zwischen Kaiser Wilhelm II.
und König Eduard VII. statt. Der englische König war von seinem
Botschafter in Berlin, Sir Frank Lascelles, begleitet und hatte von
Lord Lansdowne ein Memorandum erhalten, das nach dessen An-
sicht nur zur persönlichen Orientierung des Königs dienen sollte und
in großer Eile unmittelbar vor der Abreise des Königs nieder-
geschrieben worden war1 2. König Eduard hatte aber schon bei
seinem ersten Besuche in Homburg v.d.H. am 11. August dieses
Schriftstück dem deutschen Kaiser übergeben, der daraufhin vom
Auswärtigen Amte ein Gegenmemorandum ausarbeiten und dem
Könige zustellen ließ. Darin waren Punkt für Punkt die in dem eng-
lischen Schriftstücke behandelten Gegenstände besprochen3. Sie be-
zogen sich auf die Haltung der Mächte in China, auf ein Zusammen-
gehen Deutschlands mit England, Amerika und Japan und auf die
Besitzrechte in Kueit (Bagdadbahn) sowie einige Einzelheiten. Hin-
sichtlich Marokkos stimmten beide Mächte darin überein, eine Politik
der Zurückhaltung zu befolgen.
Über den Verlauf der Monarchenbegegnung in Wilhelmshöhe
am 23. August 1901 hat Kaiser Wilhelm II. selbst ausführliche Auf-
zeichnungen veranlaßt4. Der Kaiser hatte von der altmodischen Po-
litikerschule gesprochen, die die Aufgabe der Politik darin gesehen
hätte, die einzelnen Staaten des Kontinente hin und her zu gruppie-
ren, gegeneinander auszuspielen und zu verhetzen. Mit diesem Re-
zept sei aber jetzt nichts mehr anzufangen, die Politik spiele sich jetzt
draußen in der Welt ab, die Gegensätze innerhalb Europas seien im
Verblassen. „Hier in der Mitte Europas stehe ich mit meiner starken
Armee, und ich werde zusammen mit meinen Verbündeten, deren ich
sicher bin, dafür Sorge tragen, daß alles ruhig bleibt.“ Der König
1 Qr. Pol. Nr. 5183.
2 Qr. Pol. Nr. 5033.
3 Qr. Pol. Nr. 5034, 5035.
4 Qr. Pol. Nr. 5023.
189
Der Neue Kurs. 1890—1901
erkannte, ebenso wie sein Botschafter, die hohen Verdienste des
Deutschen Reiches als Friedenshort an. Auf die englische Politik
übergehend bemerkte darauf der Kaiser, England werde wohl tun,
zu berücksichtigen, daß sich auf dem Kontinent eine starke Strö-
mung zugunsten einer kontinentalen wirtschaftlichen Union geltend
mache. „England muß sich klar werden, auf welche Seite es sich
stellen will; es wird endlich Farbe bekennen müssen. Wenn es
glaubt, daß es seine Interessen an die Seite der europäischen Zentral-
mächte weisen, so werde ich das mit Freude begrüßen; es würde das
ein Zusammengehen mit dem Dreibunde bedeuten.“ Aber nur auf
Grund ganz fester Abmachungen könne verhandelt werden, und
ohne den Dreibund lasse er, der Kaiser, sich auf nichts ein. Im Ver-
laufe der Unterredung wurde auch der Gedanke erörtert, daß Eng-
land in Ostasien ohne Japan an seiner Seite auf die Dauer nicht be-
stehen könne. Wie sehr eine englisch-japanische Annäherung den
englischen Staatsmännern erforderlich schien, ergab sich ja alsbald
aus dem weiteren Verlaufe der Verhandlungen und dem am 30. Ja-
nuar 1902 erfolgenden Geheimvertrage über Korea1.
Man muß sich vor Augen halten, daß während der geschilderten
Monarchenbegegnung der Burenkrieg noch nicht beendet war. Ende
August wußte eine Brüsseler Depesche mitzuteilen, daß der Zar
wahrscheinlich auf seiner demnächstigen Reise nach Deutschland und
Frankreich mit Kaiser Wilhelm II. und dem Präsidenten Loubet die
Frage des noch immer weitergehenden Burenkrieges erörtern und
eine freundschaftliche Intervention vorschlagen werde. In Deutsch-
land vertrat man den Standpunkt, ein franko-russisches Anerbieten
werde auch ohne deutsche Beteiligung sicher zum Ziele führen1 2.
Kaiser Wilhelm II. hatte den Zaren schon am 20. April zu den
Herbstmanövern von Flotte und Heer in der Nähe von Danzig ein-
geladen und der Zar die Einladung angenommen. Der bevor-
stehende Zarenbesuch wurde politisch gründlich vorbereitet, und
Bülow ließ für den Gebrauch des Kaisers knappe „Aphorismen“ über
die wichtigsten der zwischen Deutschland und Rußland schwebenden
politischen Fragen ausarbeiten, die ihn instand setzen sollten, An-
fragen, Wünsche oder Klagen des Zaren sofort zu beantworten3.
Sie waren darauf abgestellt, die großen Linien der deutschen Politik
von gewissen Vorwürfen zu entlasten, die im Lager des Zweibundes
geflissentlich verbreitet wurden. Deutschlands Orientpolitik wurde mit
Recht als eine durchaus friedliche gekennzeichnet, die nichts anderes
wünsche, als für die jährliche deutsche Bevölkerungszunahme um
eine halbe Million Seelen in der Türkei ein Absatzgebiet zu finden.
Es sei unwahr, daß die deutsche Politik Österreich-Ungarn auf dem
1 Siehe o. S. 187.
2 Or. Pol. Nr. 5066.
8 Gr. Pol. Nr. 5387, 5392. (7. August 1901.)
190
Das Jahr 1901
Balkan vorschiebe, um hierdurch selbst an das Mittelmeer vorzu-
dringen. Auch die Bagdadbahn sei nur ein kommerzielles, nicht aber
ein politisches Unternehmen, und französisches, englisches und russi-
sches Kapital seien daran beteiligt. Zu einer Intervention im südafri-
kanischen Kriege wolle sich Deutschland nicht vorschieben lassen,
um nicht das Tischtuch zwischen sich und England zu zerschneiden.
Als der Zar vom 11. bis 13. September als Gast des Kaisers auf
der Reede von Heia weilte, ist von der Beendigung des südafrikani-
schen Krieges gar nicht die Rede gewesen1. Graf Lamsdorff, der den
Zaren begleitete, betonte wiederholt, wenn Deutschland und Rußland
zusammengingen, sei der Friede Europas gesichert: daher sei ein
Bündnis zwischen diesen beiden Mächten der größte Segen und das
zu erstrebende Ziel. Alle maßgebenden russischen Blätter sprachen
sich damals gleichfalls in diesem Sinne aus 2. Der Zar erklärte mit Be-
stimmtheit, daß er eine Festsetzung der Japaner in Korea niemals
dulden würde, denn eine solche bedeute eine neue Bosporusfrage
in Ostasien. Mit Ungeduld erwartete er die Vollendung der sibiri-
schen Bahn3, für die er französisches Geld brauchte.
Um Frankreich nicht zu verstimmen, das ihm den Nichtbesuch
der Pariser Weltausstellung4 noch nicht vergessen hatte, entschloß
sich der Zar, anschließend an die Danziger Tage mit seiner Gemah-
lin nach Frankreich zu reisen. Der Besuch berührte Dünkirchen,
Compiegne und Reims, und das Zarenpaar kehrte am 21. Septem-
ber, ohne Paris berührt zu haben, nach Petersburg zurück. In Reims
waren bei einem Frühstück nur die üblichen Trinksprüche auf die
wechselseitigen Armeen ausgebracht worden. In der französischen
Presse wurde der Besuch nur kühl beurteilt5. In Rußland wieder an-
gekommen, begrüßte der Zar den deutschen Kaiser mit einem herz-
lich gehaltenen Telegramm, auf das der Kaiser tags darauf aus Ro-
minten ebenso antwortete6. Wie wenig aber die Monarchenbesuche
an tatsächlichen politischen Ergebnissen zu zeitigen vermochten,
zeigte sich schon im Dezember 1901 im Anschluß an den Wresche-
ner Schulprozeß, der am 4. Dezember in Warschau stattfand.
Deutschfeindliche Demonstrationen fanden statt, und die russische
Presse erschöpfte sich in maßlosen Angriffen gegen das Deutsche
Reich und die deutsche Politik7.
Inzwischen hatten sich die südafrikanischen Republiken im Ok-
tober 1901 an das Bureau des dauernden Schiedsgerichtshofes im
Haag mit der Bitte gewendet, dieser möge dem blutigen Konflikte
rGr. Pol. Nr. 5067.
2 Gr. Pol. Nr. 5393—5396.
3 Gr. Pol. Nr. 5399.
4 Siehe o. S. 182.
6 Gr. Pol. Nr. 5895—5899.
8 Gr. Pol. Nr. 5397—5398.
7 Gr. Pol. Nr. 5400, 5401.
191,
Der Neue Kurs. 1890—1901
zwischen Großbritannien und den Republiken ein Ende bereiten. Der
russische Geschäftsträger in Berlin teilte diese Tatsache mit. Deutsch-
land wünschte sich aber an einem Schritte, der in London ungünstig
aufgefaßt werden konnte, nicht zu beteiligen und ließ dies nach Pe-
tersburg mitteilen1. Um so mehr verstimmte in Berlin eine Rede
Chamberlains, die er in Edinburg am 25. Oktober hielt, und in der er
die Kriegführung der Engländer unter ungeschickter Berufung auf
frühere Kriege, darunter auf den von 1870/71, verteidigte. In
Deutschland erfolgten lebhafte Entrüstungskundgebungen, und der
deutsche Botschafter in London, Graf Metternich, wurde beauftragt,
sich darüber zu beklagen; solche Reden erschwerten der deut-
schen Regierung ihr Bestreben, „trotz der in Deutschland wie in
allen übrigen kontinentalen Ländern durch den südafrikanischen
Krieg erzeugten antienglischen Stimmung in ihrer für England so
freundlichen Haltung zu beharren1 2“.
Die englisch-deutschen Beziehungen waren durch die Haltung
der englischen Regierung in der Frage der südafrikanischen Rekla-
mationen wesentlich verschlechtert worden. Die englischen Militär-
behörden in Südafrika hatten im Hinblick auf den Burenkrieg zahl-
reiche Fremde, darunter auch viele Reichsdeutsche, aus den besetz-
ten Gebieten ausgewiesen, die nun auf Schadloshaltung drangen. Im
März 1901 war endlich in London eine Transvaal-Entschädigungs-
kommission zusammengetreten, die aber sehr schwerfällig arbeitete,
so daß in Deutschland Presse und Reichstag sich mit steigender Un-
geduld und Heftigkeit der Entschädigungsfrage bemächtigten. Erst
dem Grafen Metternich, dem Nachfolger des am 23. Mai 1901 ver-
storbenen Grafen Hatzfeldt als Botschafter in London, gelang es, die
englische Regierung zur Zahlung einer Abfindungssumme zu be-
wegen und diese durch Notenaustausch vom 19. Oktober 1901 fest-
legen zu lassen3. Die Verstimmung in beiden Ländern war unver-
kennbar.
Als der englische Botschafter in Berlin am 27. Dezember 1901
im Auswärtigen Amte vorsprach und im Aufträge König Edu-
ards VII. mitteilte, der König wünsche nach wie vor ein Zusammen-
gehen Deutschlands und Englands in allen Punkten, es sei aber
schwierig, dieses Zusammengehen in einem förmlichen Vertrage zu
stipulieren, mußte man dies wohl schon als einen Epilog auf die ge-
scheiterten Bündnisverhandlungen betrachten. In seinem Neujahrs-
briefe vom 30. Dezember 1901 an König Eduard4 stellte sich Kaiser
Wilhelm II. fest auf denselben Standpunkt. Es sei Grund genug vor-
1 Gr. Pol. Nr. 5069—5071.
2 Gr. Pol. Nr. 5074.
3 Gr. Pol. Nr. 5025, 5026.
4 Gr. Pol. Nr. 5029.
192
Das Jahr 1901
handen, Frieden zu halten, wechselseitige Anerkennung und Gegen-
seitigkeit zu pflegen und alles Trennende zu unterdrücken. Die
Presse in beiden Ländern sei furchtbar, aber in Deutschland habe
das nichts zu sagen, denn er, der Kaiser, sei der einzige Schiedsrich-
ter und Herr der deutschen auswärtigen Politik, und die Regierung
und das Land müßten ihm folgen. „Möge Deine Regierung dies nie
vergessen und mich niemals in die Gefahr bringen, einen Kurs wäh-
len zu müssen, der ein Unglück für uns beide sein könnte.“
Den Abschluß der englisch-deutschen Bündnisbemühungen bil-
dete Ende Dezember 1901 ein Besuch des Grafen Metternich bei Lord
Lansdowne. Letzterer betonte seinen Wunsch und seine Hoffnung,
stets mit Deutschland Zusammengehen zu können. Metternich hatte so-
dann daran erinnert, daß es sich bei den Verhandlungen nicht nur um
den einfachen Beitritt Englands zum Dreibunde gehandelt habe. Der
Dreibund und England würden selbständige Gruppen gebildet haben,
wobei sich der eine dem anderen gegenüber verpflichtet haben
würde, sich gegenseitig zu unterstützen, falls er von zwei Seiten zu-
gleich angegriffen wurde. Dies wäre eine äußerst einfache Formel
gewesen, die den allgemeinen Frieden voraussichtlich für eine Gene-
ration sichergestellt haben würde. Da bei dieser einfachen Bündnis-
formel der größte Vorteil auf seiten Englands gelegen haben würde,
das mitsamt seinen Kolonien durch die Macht des Dreibundes ge-
schützt und gestützt worden wäre, so habe er, Graf Metternich, sich
gewundert, daß nichts aus der Sache geworden sei. Lansdowne er-
widerte, man sei nur ängstlich gewesen, der großen Frage unter den
gegebenen Verhältnissen näherzutreten, worauf Metternich die Stim-
mung zwischen den beiden Völkern beklagte und die Schlußfolge-
rung zog: „Wir würden also jeder unsere eigenen Wege zu gehen
haben, ohne daß sich dieselben deshalb zu kreuzen hätten. Ich wisse
vielmehr, daß meine Regierung den aufrichtigen Wunsch habe, in
Freundschaft und Frieden mit England zu leben. Ob allerdings jemals
eine Gelegenheit, wie sie im letzten Sommer sich geboten hätte,
wiederkehren würde, könne niemand Voraussagen. In der Politik wie
in allem anderen gebe es keinen Stillstand, und wie es in zwei Jahren
aussehen würde, wisse niemand1.“ Lord Salisbury aber sagte Ende
Dezember zu Metternich, Englands Sicherheit hänge nicht so sehr
von Bündnissen, wie von seinen Kreidefelsen und seiner Flotte ab.
Die Politik der freien Hand, wie sie Bülow vorschwebte, findet
in den Ereignissen des Jahres 1901 ihren sinnfälligen Ausdruck. In-
mitten der Welthändel erstrebt Deutschland die Anlehnung von Fall
zu Fall auf Grund freier Wahl und pflegt dabei die Beziehungen
sowohl zu Rußland, wie zu England. Die englisch-deutsche Annähe- 1
1 Qr. Pol. Nr. 5030.
Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
193
Der Neue Kurs. 1890—1901
rung scheitert an der Abneigung der englischen Staatsmänner gegen
die Anlehnung an den Dreibund trotz der Besuche des englischen
Königs beim deutschen Kaiser. Bald darauf erfolgt der Besuch des
Zaren in Danzig, dessen Wert aber durch seine Reise nach Frank-
reich verringert erscheint. Der Zweibund steht in voller Kraft und
wird hauptsächlich von der wirtschaftlichen Abhängigkeit Rußlands
getragen. England hat den Anschluß an Deutschland nicht gefunden,
sichert durch ein schon jetzt vorbereitetes Abkommen mit Japan
seine Stellung in Ostasien und geht bereits auf den Abbau seiner
Gegensätze zu Frankreich aus. Schon war gelegentlich das Schreck-
gespenst einer englisch-russischen Verständigung am diplomatischen
Himmel aufgetaucht. Die Möglichkeit eines deutsch-englischen Zu-
sammenschlusses aber war, wie Graf Metternich zutreffend hervor-
hob, nicht genutzt worden, und es stand dahin, ob sich eine weitere
Gelegenheit dazu jemals wieder bieten würde. Deutschland trieb,
allein auf seine Dreibundgenossen gestützt und bei zunehmender
Annäherung Italiens an die Zweibundgruppe, der weltpolitischen
Vereinsamung entgegen.
Der Ausgang des Jahres 1901 mit der endgültigen Absage Eng-
lands und mit der stolzen Berufung Salisburys darauf, daß Englands
Sicherheit nicht so sehr von Bündnissen wie von seinen Kreidefelsen
und von seiner Flotte abhänge, leitete eine neue Epoche der engli-
schen Außenpolitik ein. Wollte England aus seiner „glänzenden Ver-
einsamung“ herausgelangen, so blieb ihm nichts anderes übrig als
die Bereinigung seiner Gegensätze zu den Zweibundmächten und
eine stärkere Anlehnung an Japan, dessen aufstrebende Macht für die
Entwicklung der Dinge in Ostasien über kurz oder lang maßgebend
werden mußte.
Das letztgenannte Ziel war am leichtesten erreichbar. Japan
selbst wünschte den Anschluß an England. Deutschland blieb bei-
seite stehen und freute sich schließlich dessen, da nun eine Ver-
schlechterung seiner Beziehungen zu Rußland um Ostasiens willen
ausgeschlossen schien. Durchaus zutreffend hatte Graf Metternich
im September 1901 darauf hingewiesen, es werde auf die Dauer nicht
möglich sein, zwischen England und Rußland zu lavieren, und hatte
deshalb, als er die Aussicht auf ein englisches Bündnis mehr und
mehr schwinden sah, empfohlen, jetzt eine festere Anknüpfung an
Rußland zu versuchen1. Bülows Ziel war damals und während der
ganzen geschilderten Epoche, bei fortgesetzter sorgsamer Pflege
der Beziehungen zu Rußland auch das Verhältnis zu England mög-
lichst freundlich zu gestalten. Man glaubte damals in der Wilhelm-
straße ganz fest daran, daß ein endgültiger Anschluß Englands an
Frankreich sehr unwahrscheinlich und an Rußland für alle Zeit aus- 1
1 Gr. Pol. Nr. 5024.
194
Das Jahr 1901
geschlossen sei. Von dieser falschen Voraussetzung ausgehend ließ
man die Möglichkeit eines Anschlusses an England ungenutzt. Man
glaubte, wie Erich Brandenburg überzeugend ausführt1, ange-
sichts der Unmöglichkeit einer Verständigung Englands mit dem
Zweibunde gefahrlos noch länger warten zu können, weil England
schließlich doch auf uns angewiesen sei und unsere Bedingungen
werde annehmen müssen. „Dagegen glaubte man, wir selbst hätten
die freie Wahl des Verbündeten. Durch die freundliche Gestaltung
unserer Beziehungen zu Rußland und die vorübergehende Zurück-
haltung der Russen in den Balkanfragen ließ man sich verleiten, die
beiden unübersteiglichen Hindernisse für ein Kontinentalbündnis, die
elsaß-lothringische Frage und die österreichisch-russische Rivalität
am Balkan, zu unterschätzen. In Wirklichkeit war es Deutschland,
das nicht die Wahl des Verbündeten hatte, zum mindesten solange
es nicht den Dreibund preisgeben und sich auf Österreichs Kosten
ganz mit Rußland einigen wollte... Indem so unsere politischen
Lenker durch vorsichtig erwogene Paragraphen der Gefahr entgehen
wollten, von England ausgenutzt und im Stiche gelassen zu wer-
den, beschworen sie die viel größere Gefahr herauf, unseren natür-
lichen Bundesgenossen in die Arme der Gegner zu treiben und selbst
der Isolierung zu verfallen. Sie selbst hatten noch immer die Vor-
stellung, daß sie richtig gehandelt hätten, weil England schließlich
doch wiederkommen müsse und werde. ,Wir dürfen, meinte Bülow1 2,
keine Unruhe noch Ungeduld, noch Eile merken lassen, müssen aber
die Hoffnung am Horizont schillern lassen. In dieser Hoffnung liegt
doch schließlich die sicherste Gewähr gegen eine Kapitulation der
Engländer vor Rußland'. Es ist schwer begreiflich, daß er glauben
konnte, die Engländer würden sich lange mit der bloßen Hoffnung
auf das deutsche Bündnis begnügen. Sie hatten die Hand geboten
und zurückgezogen, als man bei uns das Einschlagen an schwierige
Bedingungen knüpfte. Sie kamen nicht mehr wieder, sondern gingen
zu unseren Gegnern."
Zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt Friedrich Meinecke
in seiner „Geschichte des deutsch-englischen Bündnisproblems 1890
bis 1901" (S. 227/228): „Wenn Deutschland seine Dreibundsforde-
rung zurückgezogen hätte, so wäre das deutsch-englische Bündnis
menschlichem Ermessen nach zustande gekommen und der Lauf der
Weltgeschichte ein ganz anderer geworden. Mit tiefster Bewegung
wird jeder, der die Geschichte des deutsch-englischen Bündnispro-
blems bis zu diesem Punkte verfolgt hat, in die beiden Abgründe
schauen, die sich rechts und links unseres Weges nun auftun, in den
einen, der im grellen Lichte der Wirklichkeit daliegt und die Er-
eignisse und Katastrophen enthält, die sich vollzogen haben, — in
1 „Von Bismarck zum Weltkriege.“ 2. Auflage. Berlin 1925. S. 158 ff.
2 1. November 1901. Or. Pol. Nr. 5027.
13*
195
Der Neue Kurs. 1890—1901
den anderen dunklen der ungeborenen Schicksale, der bloßen Mög-
lichkeit dessen, was hätte geschehen können. Wer das Geschehene
ganz verstehen will, darf den Versuch nicht scheuen, auch die
Schattenbilder des Ungeschehenen zu betrachten.“
C. Deutschlands weltpolitische Vereinsamung
1902-1914
Mit Beginn des Jahres 1902 ist eine andere Behandlungsart
unseres „Weltkrieges der Dokumente“, eine stärkere Hervorhebung
der großen Linien unter Vernachlässigung der Einzelheiten, ange-
zeigt. Galt es zunächst, in dem Bismarckschen Bau des Deutschen
Reiches die Grundlagen zu erkennen, auf denen wir heute noch
fußen, und die Mittel der Staatskunst, mit denen er sein Werk gegen
die Gefahren der Zukunft zu sichern versuchte, — dies alles be-
dingte eine breitere Darstellung an der Hand des großen Akten-
werkes —, so mußte auch für die ersten zwölf Jahre der Nach-
bismarckzeit — 1900 bis Ende 1901 — die Darstellung eine ein-
gehendere sein, da Deutschland in diesem Zeitabschnitt immerhin
noch als bestimmendes Glied der europäischen, zeitweise auch der
Weltpolitik erschien. Zwischen 1890 und 1901 zehrte Deutschland
von dem gewaltigen Ansehen, daß ihm die Bismarcksche Staatskunst
geschaffen hatte.
Nachdem die deutsch-englischen Bündnisverhandlungen des
Jahres 1901 ergebnislos zum Abschluß gelangt waren, hatte Deutsch-
land die außenpolitische Vorhand verloren. Vom Frühjahr 1902 ab
gerät es in zunehmendem Maße in die Weltvereinsamung hinein.
Seine gewaltige Machtstellung zu Lande ist ungebrochen, aber immer
deutlicher tritt der innere Verfall des Dreibundes, die Zersetzung
Österreich-Ungarns undi das Abgleiten Italiens an die franko-russi-
sche Gruppe zutage. In zunehmendem Maße wird Deutschland, ehe-
mals ein bestimmendes Subjekt der europäischen Politik, zu ihrem
Objekt und gerät außenpolitisch in die Hinterhand. Zielbewußt aber
sammelt auf der Gegenseite England alle Kräfte um sich und umgibt
mit immer wachsender Zielbewußtheit Deutschland mit einem Ringe
von Freundschaften und Ententen, dessen offensiver oder defensiver
Charakter je nach dem Standpunkte des Beurteilenden noch heute
leidenschaftlich umstritten wird, der aber in jedem Falle Deutsch-
land einengte und ihm die politische Initiative nahm.
Alles, was sich in der deutschen Politik zwischen 1902 und dem
Ausbruche des Weltkrieges ereignet hat, ist „Gegenwehr gegen die
Einkreisung“, immer erneuerter deutscher Versuch, den europäischen
Frieden aufrechtzuerhalten und sich nicht von der gegnerischen
Gruppe das Gesetz des Handelns vorschreiben zu lassen. Diesem
Zwecke diente folgerichtig die gewaltige Verstärkung der deutschen
Wehrmacht zu Lande und zu Wasser, der Versuch, alle Schwierig-
keiten im Lager des Dreibundes zu begleichen und schließlich —
199
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
ein wahrhaft verzweifeltes Mittel — die Unterstützung Österreich-
Ungarns in seiner Balkanpolitik, da man den letzten zuverlässigen
Dreibundgenossen nicht verlieren, ihn nicht bündnisunfähig werden
lassen wollte und ihn aus diesem Grunde in weitem Maße unter-
stützen zu müssen für nötig hielt.
Für die Jahre 1902 bis zur Krisis des Weltkrieges kommt es
für unsere Zwecke darauf an, einen historisch möglichst klar an-
geordneten Überblick im Anschlüsse an das große Aktenwerk des
Auswärtigen Amtes, aber unter Abweichung von seiner inneren An-
ordnung und unter Einbeziehung der diplomatischen Aktenstücke aus
anderen Lagern, zu gewinnen. Dadurch soll zugleich zum Ausdruck
kommen, daß der deutschen Außenpolitik von 1902 bis 1914, da ihr
die bestimmenden Merkmale eigener Initiative fehlen und fast alles
nur Ab- und Gegenwehr ist, eine wesentlich geringere Bedeutung
zukommt als in den früheren Jahrzehnten.
Das Jahr 1902
Folgerichtig und energisch ging England, nachdem ein näherer
Anschluß an Deutschland nicht gelungen war, darauf aus, seine
Gegensätzlichkeiten zu den anderen Mächten eine nach der anderen
zu begleichen. Am 1. Februar 1902 ließ in London Lord Lansdowne
den deutschen Botschafter Grafen Metternich wissen, daß ein ge-
heimer Vertrag zwischen der englischen und der japanischen Regie-
rung über Korea abgeschlossen sei. Beide Mächte erkannten sich
gegenseitig das Recht zu, in Wahrung ihrer Interessen gegen fremde
Angriffe oder innere Unruhen dort alle erforderlichen Maßnahmen
zu treffen. Wurde bei Wahrung dieser Interessen eine der beiden
Mächte in Krieg verwickelt, so sollte die andere neutral bleiben.
Falls eine zweite fremde Macht dem Kriege gegen den einen Ver-
bündeten beitrat, so sollte ihm der andere zu Hilfe kommen und
gemeinsam Krieg führen und Frieden schließen1.
Nach der Ansicht des Reichskanzlers Grafen Bülow wurde durch
dieses Abkommen Deutschland nicht berührt, das an Korea kein be-
sonderes Interesse habe und im Falle eines wegen dieser Halbinsel
von Japan unternommenen Krieges ihm gegenüber eine korrekte,
aber wohlwollende Neutralität beobachten werde. Nach Bülows
Ansicht bestand auf englischer Seite ein Hauptmotiv zu diesem
Vertrage in der Hoffnung, „mit diesem Vertrage in der Hand
vielleicht doch noch endlich Rußland zu der bisher immer ver-
geblich angestrebten Verständigung mit England zu bewegen1 2/'.
Bülow wünschte daher, den neuen Vertrag allen dritten Mäch-
ten, auch Rußland gegenüber, gänzlich zu ignorieren, zumal man
1 Gr. Pol. Nr. 5043. (Siehe o. S. 186.)
2 Gr. Pol. Nr. 5044.
200
Das Jahr 1902
in Petersburg geneigt schien, das Zustandekommen des neuen Ver-
trages vornehmlich auf deutsche Einwirkung zurückzuführen.
Der russische Außenminister Graf Lamsdorff befürchtete, daß
der Vertrag den Zusammenschluß noch weiterer Mächte hervorrufen
könne, und hätte es gern gesehen, wenn Deutschland und Rußland
ihr Zusammengehen im Fernen Osten durch irgendeine öffentliche
Erklärung bekundeten1. Hierauf ging man aber in Berlin nicht ein.
Nunmehr einigten sich Rußland und Frankreich über eine gemein-
same Erklärung vom 16. März 19022, die den Grundsätzen des
englisch-japanischen Abkommens beitrat, für den Fall eines aggres-
siven Vorgehens dritter Mächte oder neuer Unruhen in China für
Frankreich und Rußland aber weitere Schritte vorbehielt. Eine An-
näherung Englands an Rußland in den vorderasiatischen Angelegen-
heiten — der Bagdadbahn, einschließlich der Frage von Kueit und
hinsichtlich Persiens — schien vorläufig noch im weiten Felde zu
liegen 3.
Auf seiten des Dreibundes zeitigte das Jahr 1902 eine Er-
neuerung der bisherigen Bündnisverträge. Den Beginn machte der
rumänische Vertrag. Die Rumänen äußerten den Wunsch, in der-
selben Weise an den Dreibund angeschlossen zu sein wie die drei
Großmächte und außerdem eine stärkere Deckung gegen einen etwa-
igen Angriff Bulgariens zu erhalten. In Wien war man geneigt, den
Rumänen entgegenzukommen, während man in Berlin die Besorg-
nis hegte, Rumänien könne, gestützt auf den Dreibund, sich zum
Vorgehen gegen Bulgarien entschließen. So kam es schließlich am
17. April 1902 zur Unterzeichnung des österreichisch-ungarisch-rumä-
nischen Vertrages; sein Text entsprach dem früheren, enthielt aber
am Schluß eine Klausel, wonach der Vertrag ohne vorausgegangene
Kündigung immer wieder auf drei Jahre als verlängert gelten sollte.
Emern Wunsche des Königs Karol entsprechend vollzog Deutschland
seinen Beitritt nicht nur in Form eines Notenaustausches, sondern
eines von den Souveränen ratifizierten Schriftstückes4.
Am 1. Juni — tags zuvor hatte der Friede von Pretoria den
Burenkrieg beendet — erfolgte in Berlin die Unterzeichnung eines
Protokolls zwischen Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reiche
über die Fortdauer des im Jahre 1879 zwischen Deutschland und
Österreich-Ungarn geschlossenen Vertrages. Im Laufe der Erörte-
rungen über die im Sommer 1902 fällige Erneuerung des Dreibundes
hatte die Wiener Regierung den Wunsch zum Ausdruck gebracht,
daß neben dem Dreibunde die fortdauernde Geltung des 1879 in
Wien abgeschlossenen und bereits 1883 einmal verlängerten ge-
heimen Defensivvertrages zwischen Deutschland und Österreich-
rQr. Pol. Nr. 5049.
2 Gr. Pol. Nr. 5064.
3 Gr. Pol. Nr. 5211—5368.
1 Gr. Pol. Nr. 5797—5816.
201
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Ungarn durch einen besonderen diplomatischen Akt außer Zweifel
gestellt werden möchte. Das darauf bezügliche Protokoll Unterzeich-
neten am 1. Juni 1902 der Reichskanzler Graf Bülow und der Bot-
schafter v. Szögyenyi-Marich L
Vor der Erneuerung des Dreibundes wünschte Italien weitere
Verpflichtungen der Großmächte, besonders hinsichtlich der Garantie
des Status quo auf der Balkanhalbinsel, durchzusetzen, während man
in Berlin von dem alten und bewährten Grundsätze nicht abweichen
wollte, daß Balkanfragen Deutschland immer in zweiter Linie an-
gingen, und daß es für Deutschland daher immer nötig sein werde,
über derartige Fragen mit Österreich-Ungarn und Rußland vorher
Fühlung zu nehmen. Nach langwierigen Verhandlungen wurde der
Dreibundvertrag, der sogenannte vierte Dreibundvertrag, am 28. Juni
in Berlin in unveränderter Form unterzeichnet1 2.
Wie sorgfältig man in Deutschland damals bemüht gewesen ist,
gute Beziehungen zu Rußland zu pflegen, ergibt sich aus der Begeg-
nung Kaiser Wilhelms II. mit dem Zaren vom 6.—8. August 1902
auf der Reede von Reval. Diese Begegnung war sorgfältig vorbereitet
worden und nahm bei der Möglichkeit verschiedener Aussprachen
zwischen dem deutschen Reichskanzler und dem Grafen Lamsdorff
einen durchaus befriedigenden Verlauf. Als Ergebnis teilte Kaiser
Wilhelm II. bei seinem Novemberbesuche in England mit ausdrück-
licher Billigung des Zaren dort mit, daß der Zar als Oberhaupt des
Zweibundes, Kaiser Wilhelm II. als das Oberhaupt des Dreibundes,
nur das eine große Ziel im Auge hätten, den Frieden für ihre Na-
tionen und ihre Freunde zu sichern3. Ein zu stark betontes Heran-
rücken der deutschen Politik an Rußland lag indes trotz der Intimität
der Monarchen damals nicht in der Absicht der deutschen Staats-
männer. Nach der Ansicht des Vortragenden Rates v. Holstein ge-
wann nur Rußland dadurch, während Deutschland keinen ersicht-
lichen Gewinn daraus zu ziehen vermochte. Eine nähere Verbin-
dung Deutschlands mit Rußland sei unmöglich; sie müsse die gegen-
seitige Garantie des Besitzstandes als deutsche Mindestforderung zur
Voraussetzung haben, und diese Garantie werde Rußland aus Rück-
sicht auf Frankreich nicht gewähren wollen4.
Für die deutsche Politik schien es, schon in Rücksicht auf den
Balkan, immer am vorteilhaftesten, daß Rußland und Österreich-
Ungarn sich einigten. Die Beunruhigung Mazedoniens durch bulgari-
sche Elemente im Frühjahr 1902, das von Tag zu Tag zunehmende
Bandenunwesen ließ eine Einigung der beiden am Balkan hauptsäch-
lich interessierten Großmächte dringend erforderlich erscheinen. Die
1 Gr. Pol. Nr. 5695—5702.
2 Gr. Pol. Nr. 5703—5774.
3 Gr. Pol. Nr. 5402—5420.
4 Gr. Pol. Nr. 5421.
202
Das Jahr 1902
im 117. Kapitel des großen Aktenwerkes enthaltenen Berichte des
deutschen Botschafters in Konstantinopel, Frhr. v. Marschall, lassen
deutlich erkennen, wie sehr sich Deutschland damals zurückgehalten,
jede Verständigung zwischen Rußland und Österreich-Ungarn aber
zu fördern gesucht hat. So bildete es denn für die deutsche Politik
eine gewisse Beruhigung, daß Graf Lamsdorff gegen Ende des
Jahres 1902 persönlich nach Wien kam und sich dort mit dem Grafen
Goluchowski eingehend aussprach. Die beiden Staatsmänner einigten
sich im Sinne der Entente von 18971 über diejenigen Maßnahmen,
deren Durchführung man der Pforte hauptsächlich auferlegen müsse,
um die mazedonischen Wirren zu beenden. In Berlin hielt man es für
geraten, sich zunächst zurückzuhalten. Der Erfolg der russisch-öster-
reichischen Einigung war aber, daß die bulgarische Regierung end-
lich ernstliche Maßregeln zur Verhütung der Bandenbildung unter-
nahm 1 2.
Für das innere Gefüge des Dreibundes war die Entwicklung
der Beziehungen zwischen Italien und Frankreich wichtig. Italien
ging offensichtlich auf den Abbau seiner Gegensätze gegen Frank-
reich aus, um in Mittelmeerfragen freiere Hand zu gewinnen. Reichs-
kanzler Graf Bülow erblickte darin nichts Beunruhigendes. Wir
hätten, ließ er am 18. Dezember 1901 an den Botschafter Grafen
Metternich nach London telegraphieren, nicht mehr, wie in den
ersten Jahrzehnten nach dem deutsch-französischen Kriege, einen
konzentrischen Angriff zu gewärtigen. Deutschland habe den großen
Fragen der Weltpolitik im Mittelmeer, in Persien und in Ostasien
gegenüber die Freiheit der Entscheidung. „Wenn eine derselben in
Bewegung kommt, werden die dem Wirbel zunächst liegenden Staa-
ten sich voraussichtlich vor dem Beginn der Aktion über Deutsch-
lands Stellung orientieren3/'
Der Dreibundgedanke war damals in Italien noch nicht er-
schüttert; man verließ sich nicht unbedingt auf Frankreich und er-
blickte in der damaligen europäischen Gruppierung die beste Frie-
densbürgschaft. Nur befürchtete der deutsche Botschafter in Rom,
Graf Wedel, daß der italienische „Erwerbstrieb“ im Laufe der Zeit
sich einmal wieder Südtirol, Triest und Albanien zuwenden könnte;
daraus müßte sich dann ein feindlicher Zusammenstoß mit Öster-
reich ergeben4.
Einstweilen lag den Italienern sehr daran, Frankreich und auch
England für die Duldung einer italienischen Besetzung von Tripolis
zu gewinnen. Deutschland sowohl wie England erklärten, Italien bei
1 Siehe o. S. 150.
2 Kapitel 117 des großen Aktenwerkes; Gr. Pol. Nr. 5427 bis 5515,
3 Gr. Pol. Nr. 5835.
4 Gr. Pol. Nr. 5836.
203
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
seinen Absichten auf Tripolis unterstützen zu wollen, was natur-
gemäß am Goldenen Horn lebhafte Unruhe hervorrief.
Schon im Mai 1902 war aus einer Kammerrede des Ministers
Prinetti zu erkennen, daß die italienisch-französische Annäherung
Fortschritte gemacht hatte. In dieser Rede fand sich der Hin-
weis, der Dreibund enthalte nichts Aggressives gegen Frankreich
und könne demgemäß keinerlei Hindernis für die Erhaltung und
Weiterentwicklung der herzlichen Beziehungen zu Italiens lateini-
schem Schwestervolke sein. Am 1. November 1902 erfolgte ein fran-
zösisch-italienischer Notenaustausch, der vor Deutschland geheim-
gehalten wurde. Darin verpflichtete sich Italien in aller Form, eine
strikte Neutralität zu bewahren, falls Frankreich der Gegenstand
eines unmittelbaren oder mittelbaren Angriffs seitens einer oder
mehrerer Mächte sein würde. Diese Verpflichtung sollte auch für den
Fall gelten, daß Frankreich sich infolge einer unmittelbaren Heraus-
forderung gezwungen sähe, für die Verteidigung seiner Ehre oder
seiner Sicherheit die Initiative zu einer Kriegserklärung zu ergreifen.
Ein solches Abkommen war mit dem Geiste des Dreibundvertrages
ebensowenig vereinbar wie mit dessen Wortlaute. Deshalb wurde es
vor Deutschland streng geheimgehalten1.
Die deutsch-englischen Beziehungen wurden durch den Ausgang
des Burenkrieges stark beeinflußt. König Eduard VII. hatte die Nach-
richt des Friedensschlusses von Pretoria sofort an Kaiser Wilhelm II.
telegraphiert, dieser umgehend seine Glückwünsche aussprechen
lassen. Zu der feierlichen Krönung des Königs am 9. August 1902
entsandte der deutsche Kaiser eine Deputation, der auch Feldmar-
schall Graf Waldersee angehörte. Graf Waldersee benutzte die Ge-
legenheit eines militärischen Diners zu einigen anerkennenden Bemer-
kungen über das Verhalten der englischen Armee im Burenkriege,
und in London tat der Botschafter Graf Metternich alles, was in
seinen Kräften stand, um die Stimmung in beiden Ländern zu ver-
bessern1 2.
Die Reise der drei Burengenerale Botha, Dewet und Delarey,
die der Bereitstellung von Mitteln für die notleidenden Buren galt,
nach Europa schuf für die deutsche Politik neue Verlegenheiten, da
einerseits die öffentliche Meinung in Deutschland für die Buren ein-
trat, andererseits aber der geplante Empfang der Burengenerale
durch den deutschen Kaiser die Beziehungen zu England zu ver-
schlechtern drohte. Der Kaiser war anfangs zu diesem Empfange ent-
schlossen, nahm aber sofort davon Abstand, als er erfuhr, wie sehr
die englische öffentliche Meinung sich darüber erregt hatte. Der
Nichtempfang der Buren hat damals wesentlich dazu beigetragen,
den deutschen Kaiser zum Gegenstände von Angriffen in der deut-
1 Gr. Pol. Nr. 5836—5859.
2 Gr. Pol. Nr. 5080—5089.
204
Das Jahr 1902
sehen Presse zu machen, ohne die erhoffte Besserung der deutsch-
englischen Beziehungen zu bewirken. Die Hetze gegen Deutschland
wurde, wie Qraf Metternich am 19. Januar 1903 berichtete, fortge-
setzt; Metternich empfahl daher als die beste Politik, sich möglichst
wenig um England zu bekümmern und abzuwarten, bis die Erbitte-
rung vergehe. Die englische Regierung sei korrekt, und am wenig-
sten Verstimmung herrsche in den höheren Gesellschaftskreisen, viel-
leicht auch in der unteren Schicht der Bevölkerung, den Massen der
Arbeiter. „Alles, was dazwischen liegt und mit dem Kopf und der
Feder arbeitet, ist aber der großen Mehrzahl nach uns feindlich ge-
sinnt1.“
In der Dardanellenfrage hatte England Jahre hindurch Zurück-
haltung geübt und dieses empfindliche Problem schlummern lassen.
Grundsätzlich hielt es an der vereinbarten Schließung der Darda-
nellen fest und hatte daher gelegentlich der Durchfahrt zweier
russischer Kriegsschiffe in Konstantinopel Vorstellungen erhoben.
Im August 1902 suchte nun Rußland für vier in Frankreich ge-
baute, zur Vermehrung der Schwarzen-Meer-Flotte bestimmte Tor-
pedoboote die Erlaubnis zur Fahrt durch die Meerengen nach. In
England wollte man die Durchsendung der Torpedoflotte nicht ohne
weiteres geschehen lassen und wünschte Deutschlands Auffassung in
dieser Frage zu erfahren1 2. Deutschland antwortete, es müsse sich,
solange eine authentische Auslegung des Artikels 63 des Berliner
Vertrages nicht vorliege, seine Stellung noch Vorbehalten, wollte sich
auch an einem Protest gegen die Durchfahrt der russischen Torpedo-
boote nicht beteiligen. Zu einem solchen ist es auch tatsächlich nicht
gekommen, so daß die vier Torpedoboote im Januar 1903 unter Han-
delsflagge die Dardanellen passieren durften3.
Im Dezember 1902 vereinigten sich deutsche und englische
Kriegsschiffe zu gemeinsamem Vorgehen gegen die venezo-
lanische Küste. Venezuela war 1899 und 1900 der Schauplatz von
Bürgerkriegen gewesen, in denen die deutschen Ansiedler und Han-
delsgesellschaften schwere Schädigungen an Geld und Gut erlitten
hatten. Diplomatische Verhandlungen, die Deutschland und Eng-
land im Winter 1901/02 eröffneten, um eine Vergütung des ange-
richteten Schadens zu erreichen, waren ergebnislos verlaufen. Als
Kaiser Wilhelm II. im November 1902 als Gast König Eduards VII.
in Sandringham weilte, einigten sie sich über ein gemeinsames Vor-
gehen. Deutsche und englische Kriegsschiffe brachten sodann im
Dezember 1902 die venezolanische Regierung bald zum Einlenken.
Leider ergaben sich bei der diplomatischen Abwicklung verschie-
dentlich Verstimmungen mit England, da sich die öffentliche Mei-
1 Qr. Pol. Nr. 5104.
2 Or. Pol. Nr. 5646—5657.
3 Or. Pol. Nr. 5658—5667.
205
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
nung Englands immer mehr gegen ein Zusammengehen mit Deutsch-
land in der Venezuela-Frage ereiferte. Der protokollarische Abschluß
vom 13. Februar 1903 bildete schließlich doch ein leidlich befriedi-
gendes Ergebnis1.
Wie stand es, nachdem England sich anfangs des Jahres 1902
Japan genähert hatte, nun mit dem Abbau der englisch-französischen
Gegensätze? Am gleichen Tage, an dem der englisch-japanische
Vertrag unterzeichnet wurde, am 30. Januar 1902, hatte Botschafter
Graf Metternich aus London telegraphiert, daß seit etwa zehn Tagen
Verhandlungen zwischen Chamberlain und dem französischen Bot-
schafter in London behufs Austragung sämtlicher zwischen Frank-
reich und England bestehender Differenzen in kolonialen Fragen
schweben sollten1 2; die marokkanische Frage werde hierbei von den
anderen getrennt behandelt. Der Erwerb von Marokko galt damals
als das große Ziel des französischen Außenministers Delcasse3. Die
deutsche Regierung erörterte nunmehr die marokkanische Frage in
Petersburg in freundschaftlicher Weise und wies darauf hin, daß ein
offensives Vorgehen Frankreichs gegen Marokko ein Vorgehen Ita-
liens gegen Tripolis und damit eine Aufrollung der Orientfrage zur
Folge haben könne. Graf Lamsdorff äußerte nunmehr in Paris Be-
denken, und Delcasse erklärte daraufhin, er habe nicht die Absicht,
gegen Marokko vorzugehen4. Diese Vorgänge trugen dazu bei,
Delcasse zu zeigen, daß Deutschland der marokkanischen Politik
Frankreichs nicht traue.
Aus den deutschen Berichten des Jahres 1902 soll hier noch auf
den des Botschafters in Paris, Fürsten Radolin, vom 22. März hin-
gewiesen werden, der sich zum ersten Male mit der Persönlichkeit
Poincares beschäftigte5. Poincare wurde damals in Frankreich viel-
fach als kommender Mann bezeichnet. Fürst Radolin kennzeichnete
ihn als einen der besten Pariser Advokaten, einen ausgezeichneten,
vielseitigen und in finanzieller Hinsicht makellosen Redner. „Von
den Radikalen wird Poincare als ,Arriviste‘ bezeichnet, als ein
Streber, dem es auf eine politische Schwenkung mehr oder weniger
nicht ankomme, wenn er damit seine ehrgeizigen Ziele zu erreichen
hoffe.“ Kaiser Wilhelm II. machte hierzu die Randbemerkung: „An-
genehmer Mitarbeiter am europäischen Frieden!“
Zu einer kolonialen Verständigung zwischen Deutschland und
Frankreich kam es nicht; nach Ansicht der deutschen Staatsmänner
deshalb, weil Delcasse hauptsächlich den Wunsch hegte, sich mit
England zu einigen6.
1 Or. Pol. Nr. 5106—5151.
2 Or. Pol. Nr. 5186.
3 Gr. Pol. Nr. 5888.
4 Or. Pol. Nr. 5196.
5 Gr. Pol. Nr. 5875.
6 Gr. Pol. Nr. 5885, 5886.
206
Das Jahr 1903
Das Jahr 1903
Schon seit März 1902 verfolgte man in der Wilhelmstraße sor-
genvoll die Zuspitzung der Beziehungen zwischen Rußland und
Japan. Man war entschlossen, im Falle eines japanischen Krieges um
Korea beiden Mächten gegenüber neutral zu bleiben, um den Kampf,
falls er unvermeidlich war, auf seinen Herd zu beschränken. So hatte
denn auch Kaiser Wilhelm II. bei seiner Zusammenkunft mit dem
Zaren in Reval vom 6.—8. August1 dem Zaren keinerlei bindende
Versprechungen für den Fall eines ostasiatischen Krieges gemacht.
Im Frühjahr 1903 nahm die ostasiatische Frage dadurch einen
bedrohlichen Charakter an, daß Rußland trotz seiner im Vertrage
mit China vom 8. April 1902 eingegangenen Verpflichtungen die
damals zugesagte Räumung der Mandschurei binnen Jahresfrist hin-
auszuzögern anfing. Hieraus konnte sich ein Konflikt mit Japan er-
geben. So rechnete man denn schon im Herbst 1903 in den europäi-
schen Kanzleien mit ziemlicher Sicherheit damit, daß die Japaner den
Krieg mit Rußland schon in Rücksicht auf die englische Allianz,
vor allem aber deshalb bald beginnen würden, weil die russische
Stellung in Ostasien täglich an Stärke gewann1 2.
Im Frühjahr 1903 wurde die Gefahr eines englischen An-
schlusses an den russisch-französischen Zweibund beunruhigend
erkennbar. Der damals aus seiner Stellung als erster Sekretär
bei der Botschaft in London ausgeschiedene Frhr. v. Eckard-
stein berichtete am 10. Mai 19033 über seinen bestimmten Eindruck,
daß zwischen der englischen und der französischen Regierung er-
neute Verhandlungen über den endgültigen Ausgleich sämtlicher
zwischen beiden Ländern schwebender Fragen im Gange seien. Man
wolle die sogenannten kleinen französisch-englischen Kolonialfragen
— Hebriden, Madagaskar, Sansibar, Westafrika — regeln und auch
zu einer provisorischen Einigung über Marokko zu gelangen suchen.
Eckardsteins Ansichten veranlaßten den Reichskanzler, seinen
Bericht den deutschen Vertretern in Petersburg, Paris und London
mit der Bitte um Meinungsäußerung mitzuteilen. Die daraufhin er-
statteten Berichte bildeten sodann die Grundlage einer vom Reichs-
kanzler für Kaiser Wilhelm II. bestimmten Niederschrift vom
20. Mai4. Darin betonte Bülow, daß Eckardstein mit seinem Urteil
bisher allein stehe, und daß sich eine Verständigung zwischen Ruß-
land und England noch schwerer erreichen lassen werde als zwi-
schen Frankreich und England. Auch nach der Auffassung des da-
1 Siehe o. S. 202.
2 Or. Pol. Nr. 5920—5925.
3 Gr. Pol. Nr. 5369.
* Gr. Pol. Nr. 5375.
207
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
maligen Botschafters in London, Grafen Metternich, würde die eng-
lische Regierung sich wohl hüten, Deutschland gewaltsam noch mehr
in die Arme Rußlands zu drängen. „Was die Zukunft birgt, weiß
niemand. Soweit sich aber an der Hand der Tatsachen und der ge-
gebenen Verhältnisse ein Urteil bilden läßt, ist weder Aussicht für
eine russische Anleihe in London, noch für eine russisch-englische
Verständigung mit dem Bindeglied Delcasse vorhanden.“ Man
müsse daher gegenüber der erbitterten und voreingenommenen
Stimmung in England ruhig abwarten, meinte Metternich1.
Im Osten Europas vollzog sich 1903 eine gewisse Entspannung,
indem sich Rußland, das den Rücken für seine ostasiatischen Pläne
frei haben wollte, und Österreich-Ungarn über ihre Balkanpolitik
einigten. Die beiden Kaisermächte verabredeten im Februar 1903 ein
der türkischen Regierung zu überreichendes Reformprogramm. Bald
darauf schuf die tödliche Verwundung des russischen Konsuls
Tscherbina in Mitrowitza durch einen fanatischen Albanesen eine
neue Verschärfung der Lage. Rußland forderte von der Türkei Ge-
nugtuung und drängte auf eine gewaltsame Niederwerfung des alba-
nischen Aufstandes. Zeitweise drohte ein bewaffneter Konflikt zwi-
schen der Türkei und Bulgarien auszubrechen. Die Kriegsgefahr lag
darin, daß die Türken überzeugt waren, Rußland werde im Falle eines
türkisch-bulgarischen Krieges keine Hand für Bulgarien rühren.
Im August 1903 führte die Ermordung des russischen Kon-
suls Rostkowsky in Monastir durch einen türkischen Wachtposten
zu einer russischen Sühneforderung und zum Einlaufen einer russi-
schen Flotte in die türkischen Gewässer. Nunmehr lenkte die Pforte
ein, und die russische Flotte wurde nach Sebastopol zurückgezogen.
Fast schien es im Herbst 1903, als wenn ein großer Balkankon-
flikt ausbrechen sollte. Um die Frage, ob die Großmächte eine Bot-
schafterkonferenz einberufen oder andere dringende Schritte unter-
nehmen sollten, wurde während des ganzen Monats September 1903
hin und her verhandelt. Für Deutschland schien die Hauptsache, in
naher Fühlung mit Österreich zu bleiben, da die russische Balkan-
politik wie in allen früheren Jahren so auch 1903 undurchsichtig und
zweideutig blieb. Ein Besuch des deutschen Kaisers am 18. und
19. September bei Kaiser Franz Joseph in Wien bot Gelegen-
heit zu Besprechungen Bülows mit dem Grafen Goluchowski.
Hierbei wurde es klar, daß Österreich-Ungarn die Bildung
eines Groß-Serbiens oder Groß-Montenegros unter keinen Umstän-
den zulassen und auch Konstantinopel nicht an Rußland fallen
lassen wollte. Von dem Augenblicke an, meinte Graf Goluchowski,
wo Rußland in Konstantinopel stände, oder zwischen Adria und 1
1 Gr. Pol. Nr. 5376.
208
Das Jahr 1903
Donau ein großer slawischer Staat sich bilde, sei Österreich nicht
mehr zu regieren; die zentrifugalen slawischen Elemente würden es
auseinandersprengen; bevor Österreich die eine oder andere dieser
beiden Möglichkeiten zulasse, würde es lieber an das Schwert appel-
lieren1. Als Zukunftsideal schwebte ihm dabei offenbar vor, „die
türkische Herrschaft allmählich durch autonome Staatswesen zu er-
setzen und ein möglichst großes Griechenland, ein großes Rumänien,
ein großes Bulgarien, ein schwaches Serbien, ein kleines Montenegro
und schließlich auch ein selbständiges Albanien zu schaffen“.
Bald nach dem Besuche Kaiser Wilhelms II. in Wien traf der
Zar in der österreichischen Hauptstadt ein. Begleitet von ihren
Außenministern reisten die Monarchen zur Gemsjagd nach Mürzsteg.
Das Ergebnis der dortigen Besprechungen waren die „Mürzsteger
Punktationen“ vom 2.0ktober 19031 2. Die beiden Kaisermächte
einigten sich dahin, der Pforte ein gemeinsames Memorandum über-
reichen zu lassen. Möglichst lange Hinausschiebung weiterer Gebiets-
veränderungen auf dem Balkan, scharfer Druck auf die Türkei zur
Durchführung der Reformen in Mazedonien und die Schaffung einer
mazedonischen Gendarmerie unter europäischen Offizieren bildeten
den Hauptinhalt der Mürzsteger Verabredungen. Deutschland ent-
hielt sich jeder Einwirkung auf die Einzelheiten des Reformpro-
gramms. Erst auf das wiederholte Drängen Rußlands und Öster-
reichs hat sich Kaiser Wilhelm II. im Januar 1904 bereitfinden lassen,
sich an der im Mürzsteger Programm festgelegten Reorganisation
der Gendarmerie durch Stellung eines deutschen Stabsoffiziers, des
Majors v. Alten, zu beteiligen. Auch gelegentlich des Besuches, den
der Zar am 4. und 5. November 1903 dem deutschen Kaiser in Wies-
baden und in Wolfsgarten bei Darmstadt abstattete, kam immer
wieder die Geneigtheit der deutschen Politik zum Ausdruck, die
Türkei auf den einzig richtigen Weg, nämlich auf die Befolgung der
Ratschläge Österreichs und Rußlands, hinzuweisen. So blieb der
Türkei schließlich nichts anderes übrig, als dem Drucke der beiden
Großmächte zu weichen und in eine Reorganisation der Gendarmerie
zu willigen3.
Diejenigen Persönlichkeiten der deutschen Politik, die an eine
Annäherung Englands an Frankreich nicht recht glauben wollten,
unterschätzten den persönlichen Einfluß König Eduards VII., der
nicht nur bei seinen Reisen — so weilte er vom 1. bis 4. Mai 1903
wiederum in Paris —, sondern auch bei sonstigen Anlässen seine po-
litischen Ziele klar im Auge behielt und jede Gelegenheit benutzte,
um sie zu fördern. So vermochte er die Abneigung der französischen
1 Gr. Pol. Nr. 5609.
2 Gr. Pol. Nr. 5611, 5612.
3 Gr. Pol. Nr. 5614—5639.
U Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
209
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
nationalistischen Presse, die von einer Annäherung Frankreichs an
England nichts wissen wollte, durch seinen persönlichen Einfluß zu
überwinden1.
Trotzdem lockerte Frankreich nicht etwa seine Beziehungen zu
Rußland, wie sich im August 1903 aus einer Reise des französischen
Generalstabschefs Pendezec nach Petersburg ergab. Pendezec hatte
schon im Februar 1901 in Petersburg geweilt, um sich über ver-
schiedene Fragen der Mobilmachung und Organisation der beiden
verbündeten Armeen mit dem russischen Generalstabschef Sacharow
auszusprechen1 2. Sein damaliger Besuch führte zum Ausbau der
ausschließlich strategischen Bahn Bologoi-Sielce, da man bei
den Verhandlungen feststellte, daß die Bahnlinien von Petersburg
nach Warschau und von Moskau nach Warschau für einen Mobil-
machungsfall zu weit auseinander lägen. Delcasse hatte damals die
sofortige Inangriffnahme dieser Bahn zur Vorbedingung der von
Rußland erbetenen neuen Anleihe gemacht. Zum ersten Male gelang
es Frankreich, die wirtschaftliche Lage Rußlands auszunutzen, um
eine weitgehende politische Konzession zu erlangen, deren zukünf-
tige Folgen unter Umständen für Deutschland von schwerwiegender
Bedeutung werden konnten und tatsächlich auch geworden sind3.
Bei der im August 1903 stattfindenden Reise des Generals Pen-
dezec, die in aller Stille erfolgte, handelte es sich nicht nur um den
Besuch der großen Manöver zwischen Petersburg und Wilna, son-
dern vor allem um Abmachungen militärischer Natur, die sich nach
der Auffassung des damaligen deutschen Militärattaches in Paris,
Majors v. Hugo, ausschließlich gegen Deutschland richteten. Pen-
dezec beklagte sich lebhaft über die Lässigkeit bei den russischen
strategischen Bahnbauten.
Die Intimität zwischen den Ländern des Zweibundes hat in den
ersten Jahren des neuen Jahrhunderts ihrer Stärke nach geschwankt.
So erregte es anfangs 1903 in Petersburg Verstimmung, daß Frank-
reich in Bulgarien seine eigenen Wege ging und auf Rußland in der
mazedonischen Frage nach Ausweis des französischen Gelbbuches
nur wenig Rücksicht nahm4. Trotz aller gelegentlichen Verstimmun-
gen blieb aber der Einfluß Rußlands auf Frankreich doch immer
noch so stark, daß nach der Auffassung des Reichskanzlers Grafen
Bülow5 jede französische Regierung sich im entscheidenden Augen-
blicke nach Rußland richten würde „wie der Maikäfer am Bindfa-
den“. Er hielt es daher für richtig, die bisherige für Rußland „freund-
1 Gr. Pol. Nr. 5913.
2 Gr. Pol. Nr. 5891.
3 Gr. Pol. Nr. 5893, 5894.
4 Gr. Pol. Nr. 5907, 5908.
5 Telegramm vom 31. März 1903 an den Kaiser. Gr. Pol. Nr. 5910.
210
Das Jahr 1903
liehe, ruhige und sichere Politik“ fortzusetzen und den Grafen Lams-
dorff in dem Gedanken zu bestärken, daß das alte Drei-Kaiser-Bünd-
nis für die russische Autokratie alles in allem die beste Kombination
sei. Delcasses Kokettieren mit England würde nur dann für Deutsch-
land bedenklich werden, „wenn es dem französischen Minister des
Äußeren gelänge, auch zwischen England und Rußland eine Annähe-
rung und damit die in den siebziger Jahren von Gambetta ange-
strebte französisch-englisch-russische Entente herbeizuführen... Von
heute auf morgen werden sich die bestehenden Gruppierungen aber
nicht ändern, und wir können meo voto die Dinge gar nicht poma-
dig genug nehmen1.“
Trotzdem machte die Annäherung zwischen dem Zweibunde
und England Fortschritte. Gerade während der russische Außen-
minister Graf Lamsdorff Ende Oktober 1903 in Paris weilte, wurde
dort der am 14. Oktober zwischen England und Frankreich abge-
schlossene Schiedsgerichtsvertrag lebhaft gefeiert. Als kurz darauf
der Zar in einem Briefe an den Präsidenten Loubet seine besondere
Genugtuung über das französisch-englische Abkommen und über
die französisch-italienische Annäherung aussprach, beunruhigte die-
ser Vorgang den deutschen Kaiser doch wesentlich; er hielt eine all-
gemeine Koalition gegen Deutschland nicht für unmöglich1 2 und
betonte, daß er dem Zaren anders als auf der Basis voller Gegensei-
tigkeit und gegenseitiger Garantie bei der bevorstehenden Zusam-
menkunft in Wiesbaden und Wolfsgarten keinerlei Zusicherungen
geben werde.
Am 4. November begegneten sich die Monarchen in Wiesbaden.
Bei dieser Gelegenheit unterließ es Kaiser Wilhelm II., Fragen der
auswärtigen Politik zu berühren. Die Folge war, daß Kaiser Nikolaus
tags darauf in Wolfsgarten selbst die Rede darauf brachte. Mit
großem Freimute sprach er sich über die Lage aus und betonte dabei
auch, dem Kaiser sei ja bekannt, daß er, der Zar, mit Frankreich
im Bündnis stehe. Er müsse aber die Beziehungen mit Frankreich
aufrechterhalten, um die Franzosen an der Leine zu halten und sie
zu zügeln, da sie sonst Unruhe und Unheil stifteten und Frank-
reich dann sofort zu den Engländern übergehen würde.
Über die politischen Besprechungen in Wolfsgarten sind wir
durch eine Aufzeichnung des Reichskanzlers Grafen Bülow vom
7. November 1903 genau unterrichtet3. Bülows Ansichten über die
zweckmäßigste Weiterführung der deutschen Politik wurden dadurch
bestärkt. Nach seiner Auffassung, die er in einem Schreiben an den
Kaiser vom 19. Oktober 1903, also als Vorbereitunjg für den Zaren-
1 Erlaß an Herrn v. Holstein. Sorrent, 3. April 1903. Gr. Pol. No. 5911.
2 Gr. Pol. Nr. 5918.
3 Gr. Pol. Nr. 5422.
H*
211
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
besuch niedergelegt hatte1, empfahl es sich nicht, die deutsche An-
näherung an Rußland allzu demonstrativ zu betonen, da man dadurch
die Franzosen ängstige und sie desto fester an Rußland ketten würde.
„Die Orientfrage ist der Keil, welcher den Zweibund langsam, aber
sicher auseinandertreiben wird. Aber dieser Prozeß ist heute erst
in seinen Anfängen. Wir fördern denselben am besten dadurch, daß
wir ruhig in unserer bisherigen Reservestellung bleiben und es den
zunächst interessierten Mächten überlassen, sich auseinanderzu-
setzen.“
Die Monarchen hatten in Wolfsgarten auch über die Möglichkeit
eines russisch-japanischen Konfliktes gesprochen. In Übereinstim-
mung mit den Anschauungen des Reichskanzlers hatte Kaiser Wil-
helm II. dem Zaren weder für eine Rückendeckung in Ostasien noch
für die Dardanellenfrage eine Zusicherung gegeben. Er trat damit
Bülows Anschauung bei, daß nämlich Deutschland einem russisch-
japanischen Duell — und zwar bis ans Ende — ruhig zuschauen
solle, „daß aber das Hinzutreten noch anderer Mächte Situationen
von unabsehbarer Tragweite schaffen könne, und daß einer solchen
Eventualität gegenüber es unmöglich sei, sich im voraus zu binden1“.
Die politische Qesamtlage forderte für Deutschland damals tat-
sächlich eine vorsichtige Zurückhaltung, da auch das innere Oefüge
des Dreibundes mancherlei Bedenken aufwies. Die innere Gegensätz-
lichkeit der italienischen und österreich-ungarischen Balkanwünsche
trat immer mehr in Erscheinung. Im besonderen wurde es deutlich,
daß Italien eine Festsetzung des Donaustaates in Albanien nicht dul-
den wollte, und der Gedanke des Erwerbes von Triest und Trient
saß in der italienischen Bevölkerung so tief, daß sich Ende August
1903 in Udine anläßlich der Anwesenheit des Königs Viktor Emanuel
während der großen Manöver Kundgebungen gegen Österreich er-
eignet hatten. Damals schon berichtete der Botschafter Graf
Karl v. Wedel aus Wien, daß es nach seiner Ansicht ein schwerer
Fehler sein würde, die feindliche Stimmung des italienischen Publi-
kums gegen Österreich zu übersehen und die Augen vor den Erschei-
nungen des österreichisch-ungarischen inneren Gärungsprozesses zu
verschließen; Deutschland müsse mit den Tschechen, Polen und
Klerikalen in Österreich als mit seinen mehr oder weniger offenen
Gegnern rechnen1 2. Als Kaiser Wilhelm II. mit dem Reichskanzler,
wie erwähnt, am 18. und 19. September 1903 in Wien weilte, hatte
sich Graf Goluchowski über das Verhältnis zwischen Österreich und
Italien mit großem Ernste geäußert, ebenso auch der Kaiser Franz
Joseph selbst.
Am 3. November 1903 bildete in Rom Giolitti ein neues Mini-
sterium, und Tittoni übernahm das Auswärtige Amt. Beide Minister
1 Gr. Pol. Nr. 5916.
2 Gr. Pol. Nr. 5779. 14. September 1903.
212
Das Jahr 1903
betonten ihre Dreibundfreundlichkeit1. Trotzdem war unverkennbar,
daß die zunehmende Franzosenfreundschaft in Italien sich meist mit
Abneigung gegen deutsches Wesen deckte. Den italienischen Jüng-
lingen erschienen, wie Botschafter Graf Monts am 15. Dezember
1903 berichtete1 2, damals schon Patriotismus und Irredentismus bei-
nahe als identische Begriffe. Nur mit Mühe gelang es den führen-
den Staatsmännern unserer Dreibundgenossen, gegen Ende des Jah-
res 1903 einen drohenden Zollkrieg zwischen den beiden Staaten
durch ein Provisorium hintanzuhalten. In Rom schätzte man schon
damals die Machtmittel der Donaumonarchie ungünstig ein. Für
die an der Erhaltung des Dreibundes festhaltenden Staatsmänner war
es keine leichte Aufgabe, von Fall zu Fall die Gegensätze zu über-
brücken und eine gemeinsame Politik der beiden Mächte in den
Balkanfragen sicherzustellen 3.
So waren die Vorgänge des Jahres 1903 nur zu sehr geeignet,
die Leiter der deutschen Politik nachdenklich zu stimmen. War
Deutschland als Vormacht des Dreibundes noch wie bisher in der
Lage, seinen eigenen Frieden und damit den Frieden Europas zu
verbürgen? War es wirklich so, daß Deutschland in gemächlicher
Ruhe der weiteren Entwicklung unbesorgt zusehen konnte? Die Er-
eignisse des Jahres 1904 sollten bald die Antwort darauf geben.
Das Jahr 1904
Der Abschluß der Entente cordiale
Am 9. April 1904 überraschte der „Temps“ die Welt durch die
Bekanntgabe des am 8. April in London zum Abschluß gelangten
englisch-französischen Abkommens, das die Entente cordiale zwi-
schen beiden Mächten besiegelte. Es umfaßte eine „Deklaration be-
treffend Ägypten und Marokko“, den Entwurf eines Khedivialdekre-
tes über die Neuordnung des ägyptischen Schulden- und Finanz-
wesens, eine Konvention bezüglich der Neufundländer Fischerei und
der Grenzen Senegambiens und schließlich eine Deklaration bezüg-
lich Siams, Madagaskars und der neuen Hebriden. Frankreich ließ
England in der Verwaltung Ägyptens freie Hand, an dessen politi-
schen Beziehungen nichts geändert wurde; England ermächtigte
Frankreich, in Marokko für Ordnung und Ruhe zu sorgen, während
Spaniens Rechte Vorbehalten blieben4.
Welche Bedeutung hatte die Entente cordiale für Deutschland?
Hierüber galt es in Berlin möglichst Klarheit zu gewinnen. In Über-
1 Qr. Pol. Nr. 5785.
2 Gr. Pol. Nr. 5789.
8 Gr. Pol. Nr. 5792—5796.
4 Gr. Pol. Nr. 6373.
213
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
einstimmung mit den Vortragenden Räten v. Holstein und Ham-
mann entschloß sich Bülow, das Kolonialabkommen in der deutschen
Presse „ohne jede Gereiztheit noch Eifersucht als ein neues Symp-
tom für die friedliche Gestaltung der Weltlage“ besprechen zu
lassen K
Kaiser Wilhelm II. faßte den Abschluß der Entente cordiale we-
sentlich ernster auf. Es ist dies einer der Fälle, wo er das politische
Gesamtbild zweifellos richtiger gesehen hat als seine Ratgeber. So
telegraphierte er denn am 19. April 1904 aus Syrakus, wo er damals
auf seiner Mittelmeerreise weilte, an den Reichskanzler1 2: „Das
jüngste englisch-französische Abkommen gibt mir doch nach man-
cher Richtung hin zu denken. Ich finde, daß die Franzosen den Vor-
teil ihrer augenblicklichen politischen Lage mit bemerkenswertem
Geschick ausgenutzt haben. Sie haben es fertig gebracht, ohne das
Band mit Rußland zu lockern, sich von England ihre Freundschaft
teuer bezahlen zu lassen. Die präponderierende Stellung, die sie
nunmehr in Marokko erlangt haben, ist unstreitig ein großer Gewinn
für sie, den sie mit der Aufgabe des Restes ihrer mehr theoretischen
als faktischen Rechte in Ägypten billig eingeheimst haben. Da un-
sere Handelsinteressen in Marokko bedeutend sind, hoffe ich, daß
unsererseits für die nötigen Garantien gesorgt worden ist, damit
unser Handel dort nicht leidet. England andererseits hat in Ägypten
ganz freie Hand erlangt. Die möglichen Reibungspunkte mit Frank-
reich sind durch das Abkommen für England wesentlich einge-
schränkt worden, und letzteres hat dadurch an Bewegungsfreiheit
auch sonst in der Welt viel gewonnen. Es ist nur natürlich, daß die
zunehmende Freundschaft mit Frankreich und die sich daraus er-
gebende Sicherheit, daß von dieser Seite nichts zu befürchten ist, für
England jede Rücksichtnahme auf uns mehr und mehr in den Hinter-
grund treten lassen wird .. .“
Dieses Telegramm setzte Bülow in eine gewisse Verlegenheit,
die sich darin aussprach, daß er sofort den Geheimrat v. Holstein
aufforderte, die Hauptgesichtspunkte für eine an den Kaiser zu rich-
tende Erwiderung aufzusetzen. Seine und Holsteins gemeinsame
Auffassung geht aus einem Telegramm hervor, das er am 20. April
an den Kaiser nach Catania richtete3. Danach bedeutete das neue
Abkommen zunächst eine gegenseitige Garantie gegen Beteiligung
Frankreichs oder Englands am ostasiatischen Kriege, der inzwischen
ausgebrochen war. „Zweifellos aber gewinnen beide Mächte durch
dieses Abkommen wie durch ihre Annäherung an internationalem
Gewicht und an Bewegungsfreiheit. Auch wird die Anziehungskraft
der anglo-französischen Entente auf Italien noch stärker sein, wie es
1 Qr. Pol. Nr. 6374.
2 Gr. Pol. Nr. 6378.
3 Gr. Pol. Nr. 6379.
214
Das Jahr 1904
schon ohnehin die Anziehungskraft jeder der beiden Westmächte
war. Ein gewisser Grad von Abkühlung wird vermutlich erst ein-
treten, wenn die Friedensunterhandlungen zwischen Rußland und
Japan beginnen. Voraussichtlich wird sich dann England bemühen,
durch Unterstützung des japanischen Programms die ostasiatische
Stellung Rußlands möglichst einzuschränken, während Frankreich
zögern wird, den Russen Dinge zuzumuten, die für das tiefverletzte
russische Nationalgefühl schwer annehmbar sind.“ Schließlich ver-
sicherte Bülow dem Kaiser, daß die deutschen Handelsbeziehungen
zu Marokko den Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit bildeten.
Bülow brachte also die auch von ihm in ihrer Bedeutung kaum un-
terschätzte Entente cordiale damals hauptsächlich in Beziehung zu
dem ostasiatischen Kriege und nahm ihr dadurch einen erheblichen
Teil ihrer Tragweite. Die Hauptvorteile der Entente lagen zweifellos
auf seiten Englands, das sich damit eine Rückversicherung gegen
die Gefahren seines japanischen Bündnisses geschaffen hatte, indem
die immerhin denkbare Koalition von Rußland, Deutschland und
Frankreich durch Sicherstellung der englischen Beziehungen zu
wenigstens einer der in Frage kommenden Großmächte, nämlich zu
Frankreich, im Keime erstickt wurde1. Auch wirkte die Annäherung
zwischen England und Frankreich, wie auch Holstein klar erkannte1 2,
ungünstig auf die Lebenskraft des Dreibundgedankens in Italien.
Zwar hatte am 26. März 1904 eine politisch günstig verlaufene Zu-
sammenkunft des Königs Viktor Emanuel mit dem deutschen Kaiser
an Bord der „Hohenzollern“ in Neapel stattgefunden; die damals
erzielten Ergebnisse wurden aber im April anläßlich eines Empfanges
des Präsidenten Loubet in Neapel mehr als ausgeglichen. Der Wert
Italiens für den Dreibund verringerte sich täglich mehr3.
In Berlin war man damals sehr besorgt, daß französisch-ita-
lienische Abmachungen getroffen worden seien, die Italiens Stel-
lung im Dreibunde entwerten mußten. Ein solches Abkommen be-
stritt man in Rom auf das Entschiedenste. Der dortige deutsche Bot-
schafter Graf Monts hielt es daher für das beste, vom Dreibunde
möglichst wenig zu sprechen4 und die Dreibundrolle ruhig fort- oder
ablaufen zu lassen. Eine Auflösung des Dreibundes wäre zweifel-
los von französischer Seite als großer Triumph ausgewertet worden.
Auch Bülow war dieser Ansicht und befürchtete, man werde bei
einer Auflösung des Dreibundes — und zwar nicht nur in Frankreich
— sagen, „daß unsere Politik nach dem Rücktritt des Fürsten Bis-
marck erst das Bündnis mit Rußland, dann die guten Beziehungen
zu England und endlich den Dreibund preisgegeben hätte.“ Diese
1 Or. Pol. Nr. 6386.
2 Gr. Pol. Nr. 6388.
3 Gr. Pol. Nr. 6399-6411.
4 Gr. Pol. Nr. 6417—6418.
215
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Ansicht, der Bülow in einer Randbemerkung zu einem Berichte des
Grafen Monts vom 21. Mai 19041 Ausdruck gab, ist zutreffend, denn
tatsächlich stand Deutschland schon damals inmitten der Großmächte
allein, einzig gestützt auf Österreich-Ungarn und ohne noch einen
wertvollen Anschluß nach irgendeiner Seite hin finden zu können.
Für die deutsche Politik gegenüber Italien führte diese Erwägung
dazu, daß man Italien bei seinen tripolitanischen Wünschen möglichst
gewähren lassen wollte, solange es nur seine Aufmerksamkeit und
Rührigkeit nicht auf die Adria richtete 1 2. Italienischerseits setzten sich
die leitenden Persönlichkeiten damals stark dafür ein, eine Begeg-
nung Kaiser Wilhelms II. mit dem Präsidenten Loubet in den italie-
nischen Gewässern zustande zu bringen, da nach ihrer Ansicht ohne
ein besseres Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich die
kontinentalen Dinge nie zur Ruhe kommen konnten3. Der Kaiser
war zu der Begegnung durchaus bereit, die aber nicht zustande
kam, da man eine Verstimmung des Königs Viktor Emanuel daraus
befürchtete4.
Der russisch-japanische Krieg
Der russisch-japanische Krieg bildete für Deutschland die erste
ernstliche Probe auf seine im letzten Jahrzehnt geübte Politik der
freien Hand. Man hatte die Zuspitzung der Beziehungen zwischen
Rußland und Japan schon seit März 1902 sorgenvoll betrachtet und
war entschlossen, im Falle eines japanischen Krieges um Korea
strenge Neutralität zu üben5. Im Herbst 1903 rechnete man in den
europäischen Kanzleien schon ziemlich sicher damit, daß die Japaner
den Krieg mit Rußland schon in Rücksicht auf ihr Bündnis mit Eng-
land bald beginnen würden, um Rußland in Ostasien nicht zu stark
werden zu lassen6. Deutschland ließ Japan wissen, daß geheime, auf
Ostasien anwendbare Verträge oder Klauseln deutscherseits nicht
vorhanden seien7.
Für Rußland war es ein Hauptgegenstand der Besorgnis, ob bei
einer ostasiatischen Verwicklung sein Zweibundgenosse den Bünd-
nisfall als gegeben ansehen würde. Die Franzosen vertraten aber den
Standpunkt, das Bündnis habe nur auf Europa Bezug, und gaben sich
außerdem den Anschein, nicht an die Möglichkeit des Krieges zu
glauben.
Kaiser Wilhelm hielt den Krieg für sicher und war besorgt, ob
Rußland seiner Aufgabe gewachsen sein würde, „den Schutz und die
1 Gr. Pol. Nr. 6419.
2 Gr. Pol. Nr. 6420.
3 Gr. Pol. Nr. 6442.
4 Gr. Pol. Nr. 6440.
5 Gr. Pol. Nr. 5920.
6 Gr. Pol. Nr. 5925.
7 Gr. Pol. Nr. 5928.
216
Der russisch-japanische Krieg
Abwehr gegen die gelbe Rasse für die weiße Rasse und damit für
die christliche Zivilisation zu übernehmen1“. In Berlin enthielt man
sich sorgfältig aller Äußerungen, die als Ermutigung zum Kriege
hätten gedeutet werden können. An einer Vermittlung zwischen den
streitenden Parteien, die über England und Frankreich angeregt
wurde, wollte sich die deutsche Regierung aber auch nicht beteiligen,
falls nicht die beiden streitenden Teile dem Wunsche nach Vermitt-
lung vorher unzweideutigen Ausdruck gegeben hätten1 2. Bestimmend
für diese Zurückhaltung waren die Erinnerungen an die Vorgänge
von Schimonoseki3, die man möglichst abzuschwächen suchte.
Am 7. Februar 1904 überreichte der japanische Gesandte in Ber-
lin den Wortlaut einer Note, die sein Petersburger Kollege an den
Grafen Lamsdorff zu richten beauftragt war. Darin erklärte die japa-
nische Regierung zum Schutze ihrer bedrohten Stellung den Abbruch
ihrer Verhandlungen mit Rußland und schob diesem die Verant-
wortung für den Krieg zu.
Bei der Sinnesart Kaiser Wilhelms II. und bei seinen nahen per-
sönlichen Beziehungen zum Zaren war es nur allzu natürlich, wenn
er innerlich für Rußland Partei nahm. So äußerte er lebhafte Besorg-
nis, daß Kaiser Nikolaus in seinen Auseinandersetzungen mit Japan
seine Stellung als Monarch nicht hinreichend wahre. Der Reichskanz-
ler machte ihn aber darauf aufmerksam, daß die größte Zurück-
haltung geboten sei; für andere Herrscher und Völker sei der
deutsche Kaiser nicht verantwortlich4. So verhinderte denn Bülow
auch eine nordische Allianz zum Schutze der Ostsee, von der schon
bei der Zusammenkunft des Zaren mit dem Kaiser am 4. und 5. No-
vember 1903 in Wiesbaden und Wolfsgarten die Rede gewesen war5.
Mit Recht betonte Bülow, daß die Ostsee mit dem Stillen Ozean und
dem Schwarzen Meere eine der drei maritimen Angriffsfronten des
russischen Reiches bilde, und daß sie sogar von besonderer Bedeu-
tung sei, weil die Hauptstadt Petersburg in ihrem Bereiche lag.
Untersagte Deutschland einem Angreifer den Eingang in die Ostsee,
so machte es damit die Feinde Rußlands tatsächlich zu den seinigen.
Dadurch wurde entweder Deutschland in den Krieg mit hineinge-
zogen oder aber die Feinde Rußlands wurden durch das Hinüber-
treten Deutschlands auf die russische Seite veranlaßt, auf den Krieg
zu verzichten. „Im letzteren Falle würde sich, wie das schon nach
dem Berliner Kongreß geschah, die scharfe Spitze des Hasses von
Rußland ab und Deutschland zukehren, und wir würden für unsere
1 Gr. Pol. Nr. 5937.
a Gr. Pol. Nr. 5938—5941.
3 Siehe o. S. 138.
4 Aufzeichnung des Reichskanzlers Grafen Bülow vom 14. Februar 1904. Gr.
Pol. Nr. 5961.
8 Siehe o. S. 209.
217
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
kolonialen und Handelsinteressen auf dem ganzen Erdball fortan mit
der vereinten Gegnerschaft von England, Amerika und Japan zu
rechnen haben1.“ Bülow richtete daher folgerichtig alle seine Be-
strebungen auf die Lokalisierung des Krieges und wirkte im Interesse
des Weltfriedens auch für die möglichste Ausschaltung von Gefah-
ren im Nahen Osten durch Förderung eines bulgarisch-türkischen
Vertrages, der am Tage der Entente cordiale, am 8. April 1904,
unterzeichnet wurde und einen „bedeutenden Schritt zur zeitweiligen
Beruhigung der Balkanhalbinsel“ bildete2. Das Anormale in den
türkisch-bulgarischen Beziehungen war nach Möglichkeit beseitigt
und dadurch der Einmischung Dritter soviel wie möglich der Boden
entzogen.
Der russisch-japanische Krieg, aus Rußlands Weigerung zur
Räumung der Mandschurei und zur Gewährung der japanischen
Vorherrschaft in Korea erwachsen, begann für Rußland in unglück-
lichster Weise. Schon in der Nacht vom 8. zum 9. Februar 1904 füg-
ten japanische Torpedoboote der russischen Flotte vor Port Arthur
schwere Verluste zu. Am 9. Februar beschoß Admiral Togo die
Festung. Während Rußland unter Kuropatkin als Oberbefehlshaber
auf der nur eingleisigen und durch den Baikalsee unterbrochenen
sibirischen Bahn langsam seine Truppen nach Ostasien vorschob,
gingen die schnell versammelten japanischen Heere bald zur Offen-
sive über, schlossen Port Arthur ein und gewannen binnen kurzem
die Oberhand zur See und zu Lande. Kuropatkin wurde in
seiner befestigten Stellung bei Liaoyang im August 1904 durch den
Marschall Oyama angegriffen und nach zwölftägigem schweren
Ringen auf Mukden zurückgedrängt. Dort verstärkte er sich, ohne
daß es ihm aber gelang, Port Arthur zu entsetzen.
Der Wunsch, diesen wichtigen russischen Hafen wenn irgend
möglich zu retten, führte im Herbst 1904 zu der Entsendung der
Flotte des baltischen Meeres unter Admiral Roschestwensky von
Libau nach Ostasien. Deutschland war an dieser, einen gewaltigen
Umweg bedeutenden Fahrt insofern beteiligt, als die russische Re-
gierung mit der Hamburg-Amerika-Linie einen Vertrag für die
Kohlen Versorgung des baltischen Geschwaders abgeschlossen hatte.
In Japan erblickte man darin eine Abweichung von der Neutralität,
ein Standpunkt, dem auch England halb und halb beitrat. Dia
deutsche Regierung geriet dadurch in eine schwierige Lage. Sie
suchte einerseits auf die Hamburg-Amerika-Linie in dem Sinne ein-
zuwirken, daß sie auf die Lieferung der Kohlen verzichtete, wäh-
rend man andererseits doch wünschte, diese Lieferung fortsetzen
zu können, ohne daß eine Kriegsgefahr für Deutschland daraus ent-
stehen durfte. Schließlich erzielte Generaldirektor Ballin von den * 3
1 Qr. Pol. Nr. 5962.
3 Or. Pol. Nr. 6024.
218
Der russisch-japanische Krieg
Russen das Zugeständnis, daß die deutschen Kohlenschiffe nur nach
neutralen Häfen und nicht weiter als bis Saigon zu fahren brauchten.
Von dort aus wollte Roschestwensky sich mit Küstendampfern, die
an Ort und Stelle gechartert werden sollten, helfen. Vorgreifend
sei hier gleich bemerkt, daß nach der Seeschlacht von Tschusima am
27. und 28. Mai 1905 der russische Admiral gegen die Hamburg-
Amerika-Linie den Vorwurf erhoben hat, er sei in seinen Bewe-
gungen durch das Zurückbleiben der deutschen Kohlenschiffe hinter
ihren kontraktlich übernommenen Verpflichtungen gehindert und
aufgehalten worden. Deutschland verdarb es auf diese Weise nicht
nur mit Japan, sondern auch mit Rußland. In der Wilhelmstraße
hatte man zwischen der Geringschätzung des Kaisers für die gelbe
Rasse und seinem Wunsche, sich dem Zaren nach Möglichkeit ge-
fällig zu erweisen, den staatsmännisch gebotenen Ausgleich nicht ge-
funden. „Dans le doute abstiens-toi!“ lautet die von Bismarck so
oft erwähnte diplomatische Regel, die hier leider nicht befolgt wor-
den ist1.
Wenige Tage nach der Abfahrt der russischen Ostseeflotte von
Libau erfolgte in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1904 der
Zwischenfall an der Doggerbank, der auch die deutsche Politik in
seine Kreise ziehen sollte. Die russische Flotte beschoß englische
Fischerfahrzeuge, die sie für japanische Torpedoboote hielt, und
verursachte dadurch in England eine ungeheure Aufregung. Eng-
land schien zu rücksichtslosen Schritten gegenüber Rußland ent-
schlossen, und Deutschland hatte sich gegen den Vorwurf zu vertei-
digen, die Nervosität der russischen Flottenführung durch Nach-
richten über japanische Gefahren beim Auslaufen aus der Ostsee
verursacht zu haben. Die Erregung in England legte sich aber bald1 2 3.
Für Kaiser Wilhelm II. bildete der Zwischenfall an der Dogger-
bank den Ausgangspunkt für Erwägungen, wie er Rußland helfen
könne. Am 27. Oktober 1904 richtete er ein Telegramm an den
Zaren, wonach es angesichts des zu erwartenden japanischen und
britischen Protestes gegen die Kohlenversorgung für Deutschland
und Rußland angezeigt sei, sich zusammenzuschließen und Frankreich
an seine Verpflichtungen aus dem Zweibundvertrage zu erinnern3.
Der Zar ging sofort darauf ein, daß Deutschland, Rußland und
Frankreich sich über eine Abmachung einig werden möchten, um
die anglo-japanische Anmaßung zunichte zu machen. Er ersuchte
den Kaiser, die Richtlinien eines solchen Vertrages entwerfen und
ihn wissen zu lassen. Sobald beide Staaten sie angenommen hätten,
sei Frankreich gebunden, sich seinem Verbündeten anzuschließen.
1 Or. Pol. Nr. 6077—6099.
2 Gr. Pol. Nr. 6101—6117.
3 Gr. Pol. Nr. 6118.
219
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Diese Kombination sei ihm oft in den Sinn gekommen; sie würde
Frieden und Ruhe für die Welt bedeuten1.
Schon tags darauf unterbreitete Bülow dem Kaiser den Entwurf
eines Briefes an den Zaren und eines Geheimabkommens von drei
Punkten. Danach sollte, falls eines der beiden Kaiserreiche von einer
europäischen Macht angegriffen werde, das andere ihm mit allen
Land- und Seestreitkräften helfen. Die beiden Verbündeten sollten
gemeinsame Sache machen, um Frankreich an seine Verpflichtungen
aus dem Zweibundvertrage zu erinnern. Keine der Mächte sollte zur
Schließung eines Separatfriedens berechtigt sein, und die Verpflich-
tung gegenseitigen Beistandes wurde auch auf den Fall ausgedehnt,
daß Handlungen während des noch dauernden Krieges, wie die
Lieferung von Kohlen an eine kriegführende Partei, etwa nach dem
Kriege zu Ansprüchen einer dritten Macht Anlaß geben sollten1 2.
Der Plan zerschlug sich, da der Zar den Vertrag vor der
deutsch-russischen Unterzeichnung den Franzosen zugänglich ma-
chen und man hierauf in Berlin nicht eingehen wollte. Bald darauf
verschlechterten sich auch die persönlichen Beziehungen der Mon-
archen. Je lebhafter Kaiser Wilhelm II. den Abschluß eines Defensiv-
abkommens mit Rußland wünschte, um so peinlicher berührte ihn
die Tatsache eines ohne sein Vorwissen abgeschlossenen öster-
reichisch-russischen Neutralitätsabkommens, das am 15. Oktober 1904
in Petersburg unterzeichnet worden war3. In diesem Abkommen
gingen die beiden Mächte von der Tatsache aus, daß sie beide in
den Balkanländern eine konservative Politik zu verfolgen wünschten.
Sie einigten sich auf eine loyale und vollkommene Neutralität für den
Fall, wo eine der beiden vertragschließenden Parteien sich allein und
ohne Herausforderung ihrerseits mit einer dritten Macht im Kriegs-
zustände befinden sollte, die sich gegen die Sicherheit oder den Sta-
tus quo wende. Das Abkommen sollte sich nicht auf die Balkanländer
beziehen und so lange gültig sein, wie die beiden Großmächte ihre
Ententepolitik in den türkischen Angelegenheiten verfolgten; ferner
sollte es streng geheim gehalten und einer anderen Regierung nur
nach vorhergehender Einigung zwischen Wien und Petersburg mit-
geteilt werden dürfen. Dieser Bestimmung gemäß teilte Kaiser
Franz Joseph dem deutschen Kaiser den Abschluß am 1. Novem-
ber4 und der Zar am 25. November 1904 mit5. Der Kaiser von
Österreich führte als Gründe für den Abschluß des Übereinkommens
mit Rußland die bedenklichen Erscheinungen in Italien an und wies
1 Gr. Pol. Nr. 6119.
2 Gr. Pol. Nr. 6120.
3 Vgl. Dr. A. F. Pribram „Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns
1879—1914“. Band 1, S. 98.
4 Gr. Pol. Nr. 7344.
5 Gr. Pol. Nr. 7345.
220
Der russisch-japanische Krieg
ferner darauf hin, daß Rußland angesichts seines japanischen Krie-
ges sich eine größere Bewegungsfreiheit zu sichern suchen müsse.
Der Zar erwähnte in seinem Telegramm, daß die Balkanfragen von
dem Übereinkommen ausgeschlossen sein sollten; der Kaiser werde
den Abschluß sicher mit freundlicher Sympathie begrüßen, da er sich
ja immer um den allgemeinen Frieden bemühe. Das Abkommen
hatte für Rußland den Wert, daß es nötigenfalls die österreichische
Grenze von Truppen zu entblößen vermochte1. Diese Entente hat
etwa bis Frühjahr 1908 bestanden.
Gegen Ende des Jahres 1904 verschlechterten sich die deutsch-
russischen Beziehungen, zumal Bülow in Petersburg andeuten ließ,
daß sich Deutschland durch die Kohlenversorgung der baltischen
Flotte der Möglichkeit eines Konfliktes mit England und Japan
gegenüber sehe und Garantien für diesen Fall verlangen müsse. Zeit-
weise dachte man in Berlin auch an ein Abstoppen der Kohlenliefe-
rung, was aber in Rußland geradezu als feindseliger Akt empfunden
worden wäre und in den Beziehungen zwischen Deutschland und
Rußland einen Riß hervorrufen konnte, der vielleicht England zum
Vorgehen gegen Rußland ermutigt hätte1 2. Die Möglichkeit eines
englischen Angriffskrieges stellte aber der deutsche Botschafter
Graf Metternich durchaus in Abrede. Kein Abkommen mit Rußland
könne uns Sicherheit gegen England gewähren, weil Rußland gar
nicht in der Lage sei, uns mit kriegerischen Machtmitteln gegen
England beizustehen, weder zu Wasser noch zu Lande. „Von dem
Moment, wo wir die Sache Rußlands zu unserer eigenen machen, er-
wächst uns die Kriegsgefahr3.“ Graf Metternich empfahl Zurück-
haltung gegenüber Rußland, und der Reichskanzler trat seiner Auf-
fassung bei. Am 21. Dezember 1904 schrieb daraufhin der Kaiser an
den Zaren, es sei unmöglich, Frankreich ins Vertrauen zu ziehen,
bevor eine endgültige Regelung zwischen Deutschland und Rußland
erfolgt sei, und daher für alle Parteien vielleicht am besten, in der
jetzigen Haltung gegenseitiger Unabhängigkeit zu beharren4.
Im Jahre 1905, im Vertrage von Björkoe, haben die deutsch-
russischen Verhandlungen von 1904 ihre Fortsetzung und ihren Ab-
schluß gefunden, wiederum mit dem Ergebnis, daß wegen der engen
Beziehungen Rußlands zu Frankreich ein vorheriger Abschluß zwi-
schen Deutschland und Rußland allein sich als unmöglich erwies.
Die Marokkokrise
Durch die Entente cordiale vom 8. April 1904 hatte England
Frankreich ermächtigt, in Marokko für Ordnung und Ruhe zu
1 Qr. Pol. Nr. 7347.
4 Qr. Pol. Nr. 6138.
■* Gr. Pol. Nr. 6140.
4 Or. Pol. Nr. 6141.
221
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
sorgen, wobei Spaniens Rechte Vorbehalten blieben. Spanien hatte
sich schon im Sommer 1903 mit Frankreich über Marokko zu ver-
ständigen gesucht. Damals beanspruchte Frankreich anfangs ganz
Marokko für sich, bot aber sodann einen Teil unter der Bedingung
eines Schutz- und Trutzbündnisses Spanien an. Schließlich war man
überein gekommen, Marokko in der Weise zu teilen, daß Frankreich’
den am Atlantischen Ozean gelegenen südlichen Teil, Spanien die
nördliche Hälfte am Mittelmeer erhielt1. Damals schon hatte man
in Berlin betont, Deutschland müsse bei der Aufteilung des Landes
unbedingt mit berücksichtigt werden. Als Kaiser Wilhelm II. bei
Beginn seiner Mittelmeerfahrt am 16. März 1904 mit König Al-
fons XIII. in Vigo zusammentraf, billigte er ausdrücklich das spa-
nische Abkommen mit Frankreich und betonte, Deutschland wolle
keinen Territorialerwerb in Marokko; Deutschland beschränke sich
dort lediglich auf Wahrung der kommerziellen Freiheit. Auch emp-
fahl der Kaiser dem jungen Könige ein gutes Verhältnis zu Frank-
reich1 2. Der deutsche Botschafter in Madrid v. Radowitz erinnerte,
als er hierüber nach Berlin berichtete, schon damals daran, daß
Deutschland die Möglichkeit von Kompensationen bei der marokka-
nischen Auseinandersetzung doch schon ins Auge gefaßt habe, und
daß darüber bereits vertraulich mit den Spaniern gesprochen wor-
den sei. Der Kaiser hatte auf diese Erinnerung erwidert, es sei
jetzt kein Qrund vorhanden, darauf zurückzukommen: er suche in
Marokko nichts anderes als Vorteile für unseren Handel und für Aus-
breitung der Zivilisation3. Die deutsche Marokkopolitik wurde damit
in gewissem Sinne doch schon festgelegt, in dem Sinne wenigstens,
daß ein stärkeres deutsches Interesse an Marokko im Frühjahr 1904
noch nicht zutage getreten war.
Der Abschluß der Entente cordiale wirkte in Madrid etwas
enttäuschend. Man fühlte sich übergangen und war nicht geneigt,
diese Abmachung so ohne weiteres hinzunehmen. Deutschland unter-
stützte im stillen die spanischen Forderungen, und so kam es am
3. Oktober zum Abschluß eines französisch-spanischen Abkommens
über Algier und Marokko auf der Grundlage der Unverletzlichkeit
des marokkanischen Reiches und unter der Souveränität des Sul-
tans4. In Madrid war man mit dem erzielten Ergebnis zufrieden, be-
zweifelte aber, ob von französischer Seite eine ehrliche und tat-
sächliche Ausführung der zugunsten Spaniens getroffenen Bestim-
mungen beabsichtigt sei.
Schon während Kaiser Wilhelm II. sich im März 1904 auf seiner
Mittelmeerfahrt in Messina befand, ging in Berlin die Meldung von
1 Gr. Pol. Nr. 5197—5207.
3 Gr. Pol. Nr. 5208—5210.
3 Gr. Pol. Nr. 5209.
4 Gr. Pol. Nr. 6481—6511.
222
Die Marokkokrise von 1904
Übergriffen der scherifischen Regierung ein. Der Reichskanzler bat
den Kaiser am 30. März um Genehmigung, ein Kriegsschiff zur
Unterstützung der deutschen Forderungen und Beschwerden nach
Tanger senden zu dürfen, da sich die scherifische Regierung schon
seit Jahr und Tag allen Verpflichtungen gegen Deutschland zu ent-
ziehen suche. „Unsere politische und wirtschaftliche Stellung in
Marokko, namentlich auch den übrigen dort engagierten Mächten
gegenüber, dürfte es .. . unumgänglich machen, diesen Widerstand
zu brechen1.“
Der Kaiser war sehr ungehalten darüber, erst jetzt, nach seiner
Abreise aus Berlin, von diesen Schwierigkeiten zu erfahren. Die
Entsendung eines Kriegsschiffes lehnte er ab, da eine einseitige krie-
gerische Aktion Deutschlands in diesem Augenblicke das Mißtrauen
Englands, Frankreichs und Spaniens wachrufen müßte1 2.
Im Auswärtigen Amte mehrten sich damals die Stimmen, die
ein gewaltsames Einschreiten in Marokko für erforderlich hielten.
Fürst Lichnowsky, damals Vortragender Rat im Auswärtigen Amt,
empfahl dies sogar aus Prestigegründen: „Wir brauchen einen
Erfolg in der auswärtigen Politik, da doch allgemein die englisch-
französische Verständigung wie auch die italienisch-französische An-
näherung als eine Niederlage für uns aufgefaßt wird3.“ Nur waren
die Meinungen darüber geteilt, ob in einem solchen Falle die fran-
zösische oder noch weitere Regierungen von den beabsichtigten
Schritten vorher in Kenntnis gesetzt werden sollten. Angesichts der
ablehnenden Haltung des Kaisers übte aber die deutsche Regierung
damals strengste Zurückhaltung4.
Eine Aufzeichnung des Vortragenden Rats v. Holstein vom
3. Juni 19045 bedeutet einen Markstein in der deutschen Marokko-
politik. Holstein ging davon aus, daß Frankreich sich unter völliger
Nichtachtung der berechtigten Interessen Dritter mit Ausnahme
Spaniens zur Aneignung Marokkos anschicke. Marokko sei eines der
wenigen Länder, wo Deutschland für seinen Handel noch freie Kon-
kurrenz habe, und so werde Deutschland durch das französische
Monopol erheblich geschädigt. „Noch bedenklicher wäre jedoch die
Schädigung, welche das Ansehen Deutschlands erleiden würde, wenn
wir uns stillschweigend gefallen ließen, daß über deutsche Interessen
ohne deutsche Mitwirkung verfügt wird. Zu den Aufgaben einer
Großmacht gehört nicht nur der Schutz ihrer Territorialgrenzen,
sondern auch die Verteidigung der außerhalb dieser Grenzen gelege-
nen berechtigten Interessen .. . Daß Frankreich als Nachbar in Ma-
1 Gr. Pol. Nr. 6512.
2 Gr. Pol. Nr. 6513.
3 Gr. Pol. Nr. 6516.
4 Gr. Pol. Nr. 6517, 6518.
5 Gr. Pol. Nr. 6521.
223
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
rokko ein stärkeres Recht hat als wir, kann keinenfalls zugegeben
werden .. . Deutschland hat nicht nur aus materiellen Gründen,
sondern mehr noch zur Wahrung seines Prestiges gegen die beab-
sichtigte Aneignung Marokkos durch Frankreich Einspruch zu er-
heben. Lassen wir uns jetzt in Marokko stillschweigend auf die Füße
treten, so ermutigen wir zur Wiederholung anderswo.“
Der Reichskanzler schloß sich dieser Auffassung an, wollte aber
Frankreich gegenüber zunächst vorsichtig zu Werke gehen1. Er
ließ in London sondieren, wie sich England zu einer deutsch-franzö-
sischen Auseinandersetzung über Marokko stellen würde. Der Bot-
schafter Graf Metternich gewann damals den Eindruck, daß Deutsch-
land unbekümmert um England gegen Frankreich fest auftreten
könne, wenn es das Vertragsrecht auf seiner Seite habe; wenn aber
irgendeine Macht es versuchen sollte, den Franzosen politisch den
Rang streitig zu machen, so würde die englische Diplomatie und
auch die öffentliche Meinung auf Seite der Franzosen zu finden sein1 2.
Die deutsche Berichterstattung aus Tanger empfahl damals
immer wieder ein starkes Auftreten Deutschlands, die Stellung eines
Ultimatums, verstärkt durch eine Flottendemonstration. Es gelang
dem Reichskanzler aber nicht, zu so weitgehenden Schritten das
kaiserliche Einverständnis zu erlangen. Besonders widersetzte der
Monarch sich im September und Oktober einem militärischen Vor-
gehen in Marokko3. Man erwog daher in Berlin nunmehr eine un-
mittelbare Aussprache mit der französischen Regierung. Vielleicht
kam man so am weitesten, da — auch nach Auffassung des Ge-
schäftsträgers v. Kühlmann in Tanger4 — die abwartende Politik
Deutschlands in der marokkanischen Frage ihre Früchte zu tragen
begann. Nach seiner Meinung mußte die internationale Lage Frank-
reichs dazu beitragen, ihm eindringlich zu Gemüte zu führen, wie
unvollständig jede Lösung der marokkanischen Fragen ohne die
deutsche Sanktion sei. Der Reichskanzler trat dieser Auffassung bei5.
Das Jahr 1905
Die Marokkokrise
Die Auffassung des Geheimrats v. Holstein, daß Deutschland
nicht nur aus materiellen Gründen, sondern mehr noch zur Wahrung
seines Prestiges gegen die beabsichtigte Aneignung Marokkos durch
Frankreich Einspruch zu erheben habe6, wurde mit Beginn des
Jahres 1905 verwirklicht. Nach den Berichten des deutschen Konsu-
1 Gr. Pol. Nr. 6523—6525.
2 Gr. Pol. Nr. 6527.
3 Gr. Pol. Nr. 6528—6534.
4 9. November 1904. Gr. Pol. Nr. 6536.
« Gr. Pol. Nr. 6537.
6 Siehe oben. (Gr. Pol. Nr. 6521.)
224
Die Marokkokrise 1905
latsverwesers Dr. Vassei in Fes wünschte man in Marokko zu wissen,
ob man auf die moralische Unterstützung Deutschlands zählen
könne, wenn man sich weitgehenden französischen Zumutungen
widersetze. In einer Weisung vom 2. Januar 1905 erklärte nunmehr
der Reichskanzler, Deutschland könne zwar nicht so weit gehen, den
Marokkanern Unterstützung in Aussicht zu stellen, aber doch immer-
hin durchblicken lassen, daß Deutschland an den marokkanischen
Angelegenheiten auch ein politisches Interesse nehme1. Dabei
wünschte er von vornherein ein gemeinsames Vorgehen des deut-
schen Geschäftsträgers in Tanger, v. Kühlmann, mit dem amerika-
nischen dortigen Vertreter.
Je mehr die Franzosen die Schwierigkeit ihrer Stellung in Ma-
rokko zu erkennen begannen, um so lebhafter betonten die Marokka-
ner ihren Wunsch nach Anlehnung an Deutschland. Der Sultan ent-
schloß sich Ende Januar zur Einberufung einer Nationalversamm-
lung, die über Reformen beraten sollte, ein Schritt, der in Paris sehr
verstimmte. Deutscherseits hielt man die Nationalversammlung für
erwünscht, da der Sultan sich dann hinter die „Volksstimmung“ ver-
schanzen konnte, um französische Forderungen als unmöglich zu-
rückzuweisen. Man entschloß sich auch, an der marokkanischen
Küste die deutsche Flagge zu zeigen und bestimmte hierfür das
Kriegsschiff „Stein“, dessen Erscheinen vor Tanger im Februar 1905
einen starken moralischen Eindruck machte1 2.
Sollte Deutschland sich jetzt ganz hinter Marokko stellen? In
dieser schwierigen Frage wagte der Reichskanzler nun doch nicht
allein vorzugehen und suchte zunächst den amerikanischen Stand-
punkt festzustellen. Präsident Roosevelt lehnte es durchaus ab, sich
auf Marokko einzulassen, da er sich hierdurch den schwersten An-
griffen in seinem Lande aussetzen würde3. Er kam aber immerhin
der deutschen Regierung so weit entgegen, daß er versprach, seinen
neuen Gesandten in Marokko anzuweisen, er möge sich mit seinem
deutschen Kollegen in enge Fühlung setzen. Dieses kleine Zu-
geständnis ermöglichte es dem deutschen Kanzler, bei Gelegenheit
darauf hinzuweisen, daß Deutschland und die Vereinigten Staaten
von Amerika der Erhaltung des jetzigen Zustandes in Marokko gün-
stig gestimmt seien4.
Eine bevorstehende Mittelmeerreise des Kaisers brachte den
Kanzler auf den Gedanken, mit der Landung des Monarchen in
Tanger einen besonderen politischen Trumpf auszuspielen. Der Kai-
ser war nach Ausweis der Akten zu dieser Landung wenig geneigt,
fügte sich aber schließlich dem Wunsche des Reichskanzlers.
1 Gr. Pol. Nr. 6538—6544.
2 Gr. Pol. Nr. 6557.
3 Gr. Pol. Nr. 6559.
4 Gr. Pol. Nr. 6560, 6561.
16 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
225
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Die erste Mitteilung über den Besuch von Tanger erfolgte am
20. März 1905 durch einen von Bülow veranlaßten Artikel in der
„Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“. Der Besuch des Kaisers
werde, wie Bülow dem Kaiser schrieb, Herrn Delcasse in Verlegen-
heit setzen, seine Pläne durchkreuzen und den deutschen wirtschaft-
lichen Interessen in Marokko förderlich sein1.
Mit dieser Zielsetzung war der Kaiser einverstanden, hatte aber
doch bald Bedenken gegen die zu erwartende politische Ausschlach-
tung seines Besuches; es solle sofort, ließ er dem Reichskanzler
mitteilen, nach Tanger telegraphiert werden, daß es höchst zweifel-
haft sei, ob er landen werde; er reise nur inkognito als Tourist und
wünsche keine Audienzen und Empfänge. Bülow bat aber den Kaiser
dringend, an den bisherigen Reiseplänen nichts zu ändern, da sonst
daraus leicht ein Rückzug vor Frankreich gefolgert werden könne1 2.
Je näher der Zeitpunkt für die Landung in Tanger herannahte,
um so stärker wuchs die Aufregung in der europäischen Presse.
Bülows Absicht war es, mit dieser Landung die von Holstein emp-
fohlene Politik ein energisches Stück vorwärts zu bringen. Anders
läßt sich seine Weisung vom 24. März an das Auswärtige Amt nicht
deuten: „Wenn die Diplomaten nach Tanger und Marokko fragen,
so bitte ich, ihnen gar nichts zu antworten und dazu ein ernstes und
impassibeles Gesicht zu machen. Unsere Haltung in dieser Beziehung
gleiche vorläufig derjenigen der Sphinx, die, von neugierigen Tou-
risten umlagert, auch nichts verrät3.“ Ganz in gleichem Geiste be-
glückwünschte der Reichskanzler den Monarchen telegraphisch am
27. März zu seiner vor Antritt seiner Mittelmeerreise in Bremen ge-
haltenen Rede, in der er ausführte, er habe sich auf Grund seiner Er-
fahrungen aus der Geschichte gelobt, niemals nach einer öden Welt-
herrschaft zu streben. „Die Rede,“ telegraphierte Bülow an den
Kaiser nach Lissabon, „war eine gute Ouvertüre für den Besuch in
Tanger, auf welchen jetzt die Augen des Inlandes und Auslandes ge-
richtet sind. Durch diesen Besuch ist Delcasse zum erstenmal seit
lange in eine verlegene Situation versetzt worden. Verläuft der Be-
such in Tanger nach Wunsch, so steht Delcasse mit seiner deutsch-
feindlichen Politik als blamierter Europäer da4.“ In weiteren nach
Lissabon gerichteten Telegrammen legte der Kanzler alle Einzel-
heiten des auf etwa fünf Stunden berechneten Besuches in Tanger
fest. Er empfahl dem Kaiser, Frankreich, ohne ein unfreundliches
Wort über Frankreich zu sagen, in Marokko seinerseits zu ignorie-
ren, das französische Vorgehen gegen Marokko gänzlich unerwähnt
zu lassen und auch den französischen Geschäftsträger in Tanger,
1 Gr. Pol. Nr. 6563.
2 Gr. Pol. Nr. 6564—6566.
3 Gr. Pol. Nr. 6573.
1 Gr. Pol. Nr. 6574.
226
Die Marokkokrise 1905
Graf Cherisey, mit keiner Ansprache, sondern nur mit einem still-
schweigenden Gruße zu beehren. Falls irgendein Diplomat den Kai-
ser auf die französische Marokkopolitik anredete, sollte der Kaiser
antworten, diese sei ihm gänzlich unbekannt. Die Frage, ob Deutsch-
land Marokkos wegen einen Krieg mit Frankreich riskieren solle,
könne überhaupt nicht in Betracht kommen, aber Deutschland müsse
jetzt seine Endziele unklar lassen. „Wir können mit dem Sultan von
Marokko nicht füglich ein Bündnis schließen. Wir geben aber ande-
rerseits, wenn wir dem Sultan die moralische Anlehnung an Deutsch-
land gänzlich entziehen und ihm alle Hoffnung abschneiden, erheb-
liche deutsche Interessen preis . . . Euer Majestät Besuch in Tanger
steht augenblicklich im Mittelpunkt des Weltinteresses. In Lissabon
wird versucht werden, Ew. Majestät über unsere Endabsichten über
Marokko auszuholen. Je mehr Ew. Majestät bis zur Ankunft in
Tanger die Sphinx spielen, und je weniger bis dahin unsere Stel-
lungnahme erkennbar wird, um so mächtiger wird der Besuch in
Tanger wirken1.“
Dieses Telegramm läßt keinerlei Zweifel darüber zu, daß es
Bülows eigenste Politik gewesen ist, die den Kaiser nach Tanger
geführt hat. Bülow blieb auch fest, als die russische Presse sich
stark für den französischen Bundesgenossen einsetzte und die
deutsche Marokkopolitik in giftiger Weise angriff, und ließ sofort
in Petersburg Vorstellungen dagegen erheben.
Noch in letzter Stunde schien der Kaiserbesuch in Frage ge-
stellt werden zu sollen, zumal auch in der persönlichen Umgebung
des Kaisers Widerstände dagegen sich geltend machten. Der Kaiser
selbst war, wie der ihn begleitende Gesandte v. Schoen am 31. März
1905 aus Gibraltar telegraphierte, bis zum letzten Augenblick schwan-
kend und geneigt, den Besuch unter Vorwand von Landungsschwie-
rigkeiten zu vermeiden. Mit Hilfe des Generalleutnants v. Scholl,
der an Land geschickt wurde und ermutigende Nachrichten brachte,
gelang es, wie sich Schoen ausdrückte, „das Zögern plötzlich zu
überwinden und Ausführung der historischen Tat auszulösen, die
mit Bravour durchgeführt wurde2.“
Dem Gesandten v. Schoen verdanken wir auch eine Schilderung
des Kaiserbesuches. Danach war alles würdig verlaufen und die Un-
terredungen des Kaisers, mit Ausnahme derjenigen mit dem französi-
schen Geschäftsträger Grafen Cherisey, waren farblos. Graf Cherisey
überbrachte Grüße Delcasses, worauf der Kaiser betonte, er wünsche
für Deutschland freien Handel und volle Gleichberechtigung mit den
anderen Nationen. Deshalb werde er sich mit dem Sultan als einem
gleichberechtigten freien Herrscher eines unabhängigen Landes un-
mittelbar verständigen, seinen berechtigten Ansprüchen Geltung zu
1 Or. Pol. Nr. 6576.
2 Gr. Pol. Nr. 6588.
15*
227
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
verschaffen suchen, und er erwarte, daß diese auch von Frankreich
gebührend respektiert würden. Graf Cherisey erbleichte bei diesen
Worten, wollte antworten, „wurde jedoch durch kurze Verabschie-
dung verhindert und zog gesenkten Hauptes ab.“ Nach Schoens’
Urteil war der Kaiser selbst von seinem Besuche durchaus befriedigt.
Nach allem, was vorhergegangen war, muß man allerdings an-
nehmen, daß diese Befriedigung mehr der endlichen Erledigung
eines als lästig empfundenen politischen Auftrages gegolten hat.
Darauf deutet auch der Brief des Kaisers vom 11. August 1905 an
Bülow hin, in dem es heißt1: „Vergessen Sie nicht, daß Sie mich
persönlich gegen meinen Willen in Tanger eingesetzt ha-
ben, um einen Erfolg in Ihrer Marokkopolitik zu haben.“ Seine Po-
litik habe davon profitieren sollen. Die Tangerfahrt erweist sich da-
durch als ein wohlüberlegtes Stück der Bülowschen Politik, und es
hat nicht geringer Mühe bedurft, um dieser Politik den von Bülow
gewünschten Ablauf zu sichern.
Deutschland hatte nunmehr seinen Entschluß, in Marokko mit-
zureden, so stark bekundet, daß es ein Zurückweichen nicht mehr
gab. Bülows Hoffnung war, daß Deutschland in seiner mächtigen
und auch rechtlich unangreifbaren Stellung die Erledigung der
marokkanischen Frage mit Ruhe abwarten könne. Frankreich werde
voraussichtlich isoliert bleiben, Rußland sei mit sich selbst beschäf-
tigt, und für England sei es angesichts der Haltung des Präsidenten
Roosevelt und der öffentlichen Meinung sehr schwierig, Frankreich
größere Gefälligkeiten zu leisten1 2.
In Paris mußte der deutsche Botschafter nunmehr eine unnach-
giebige Haltung annehmen. Dieser Gedanke entsprach der Auf-
fassung des Herrn v. Holstein, daß der Kaiser durch seine dem
Grafen Cherisey in Tanger abgegebene Erklärung die deutsche Po-
litik festgelegt habe; ein Zurückweichen würde auf gleichem Niveau
mit Olmütz stehen und Faschoda vergessen machen. Holstein hielt
es auch für höchst unwahrscheinlich, daß eine Konferenz gegen das
Votum von Deutschland und Amerika den Franzosen Marokko als
Beute überlassen würde. Lehne aber Frankreich die Konferenz ab,
so setze es sich allen Vertragsmächten gegenüber ins Unrecht. Die
Aussichten für Deutschland seien also gut. „Durch müssen wir,
nach dem, was Seine Majestät gesagt hat.“ Hierzu vermerkte Bülow:
„Nicht deshalb, sondern im Hinblick auf die Gesamtsituation, und
weil das Interesse des Landes es verlangt.“ Auch betonte er, man
dürfe Seine Majestät nicht so sehr in den Vordergrund schieben3.
Über die weiteren deutsch-französischen Verhandlungen sind
1 Or. Pol. Nr. 6237.
2 Or. Pol. Nr. 6599.
8 Or. Pol. Nr. 6601.
228
Die Marokkokrise 1905
wir durch das große Aktenwerk auf das Genaueste unterrichtet.
Die Hauptmarksteine der Entwicklung waren:
ein im Aufträge Delcasses über Rom in Berlin unternomme-
ner Schritt, wonach Frankreich bereit war, dem deutschen Kai-
ser irgendeine von Deutschland zu bezeichnende Genugtuung
zu gewähren, um darauf die Marokkofrage gemeinsam zu re-
geln; hierin erblickte Bülow eine persönliche Machenschaft Del-
casses und blieb zurückhaltend1;
eine Anregung Rouviers, des damaligen französischen Mi-
nisterpräsidenten, ob nicht der deutsche Kaiser in irgendeiner
Form die Erklärung abgeben könne, Deutschland könne nicht
dulden, von Frankreich außerhalb der marokkanischen Frage
gehalten zu werden, es liege aber nicht in der Absicht Deutsch-
lands, den Frieden Europas zu stören1 2;
schließlich die anfangs Mai in Paris beginnende Kampagne
gegen Delcasse. Hierbei trat zutage, daß Rouvier es nicht zu
einem offenen Bruch mit Delcasse kommen lassen, sondern
eine günstige Gelegenheit abwarten wollte, um ihn dann fallen
zu lassen, zumal Delcasse in der Person des Präsidenten Loubet
und des Königs Eduard VII. über starke Stützen verfügte3.
Am 6. Juni 1905 trat Delcasse zurück. Bei einem Ministerrate
hatten sich an diesem Tage sämtliche Minister für Rouvier und
gegen Delcasse ausgesprochen, und der Präsident Loubet hatte keine
Schwierigkeiten gemacht, Delcasse zu opfern, an dessen Stelle als
Außenminister nunmehr der Ministerpräsident Rouvier trat4.
Im Augenblick des Rücktrittes Delcasses bat Rouvier die
deutsche Regierung um eine Erklärung, daß diese beabsichtige, ihm
gegenüber eine freundschaftliche Politik zu verfolgen. Bülow ließ
erwidern, Deutschland werde nach der Entfernung des Herrn Del-
casse mit demselben guten Willen wie früher an die Aufgabe heran-
gehen, den Schaden wieder auszugleichen, den Delcasse in den Be-
ziehungen der beiden großen Nachbarvölker angerichtet habe. Dies
könne aber nur allmählich geschehen, und Deutschland brauche den
Charakter seiner rein defensiven Politik nicht zu ändern. Jetzt aber
könne Deutschland den Sultan nicht im Augenblick im Stich lassen,
wo er, Deutschlands Rat folgend, die Einladung zur Konferenz
habe abgehen lassen.
Wie sehr es Kaiser Wilhelm begrüßte, daß es nicht etwa um
Marokkos willen 1905 zum Kriege gekommen ist, ersieht man aus
der Tatsache, daß er den Bankier W. Betzold, der sich als Ver-
trauensmann Rouviers um die Schlichtung der Gegensätze zwischen
1 Gr. Pol. Nr. 6645—6651.
2 Gr. Pol. Nr. 6652.
3 Gr. Pol. Nr. 6654—6660.
4 Als solcher im Amte bis 1906.
229
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Frankreich und Deutschland besonders verdient gemacht hatte, mit
dem Kronenorden 2. Klasse auszeichnete, obwohl eine niedrigere
Ordensstufe zur Verleihung vorgeschlagen worden war, und zwar
mit der Begründung, Betzold habe uns vor einem Kriege bewahrt1.
In der Zeit vom Rücktritt Delcasses bis zum Antritt der Nord-
landsreise des deutschen Kaisers am 9. Juli einigten sich Deutschland
und Frankreich in langwierigen und mitunter peinlichen Verhand-
lungen über die Marokkokonferenz1 2. Einen Tag vor der geplanten
Abreise konnte Fürst Radolin aus Paris telegraphisch melden, daß
das Abkommen über die Konferenz soeben unterzeichnet worden
sei. Es bestand in einem Briefe Rouviers an den Fürsten Radolin,
wonach die Regierung der Republik ihre ursprünglichen Einwen-
dungen gegen die Konferenz fallen ließ, da sie sich überzeugt habe,
daß die deutsche Regierung keinerlei Ziele verfolge, die die berech-
tigten Interessen Frankreichs in Marokko in Frage stellten oder mit
den Rechten Frankreichs aus früheren Verträgen in Widerspruch
ständen. Außerdem einigten sich Deutschland und Frankreich dahin,
ihre zur Zeit in Fes befindlichen Gesandtschaften nach Tanger zu-
jrückzuberufen, sobald die Konferenz zusammengetreten sei.
Nachdem Frankreich die Konferenz angenommen hatte, war
Deutschland bereit, sich mit ihm im einzelnen über das Programm
und die Ziele der Konferenz zu verständigen. Als Verhandlungsort
schlug der Sultan Tanger vor, während man französischerseits den
Haag oder Genf vorgezogen hätte3. Die Hoffnung der deutschen
Staatsmänner, daß Präsident Roosevelt sich für die Konferenz weiter
interessieren würde, ging nicht in Erfüllung4.
Ehe der weitere Verlauf der Marokkoverhandlungen während
des Jahres 1905 geschildert wird, bleibt zunächst nachzuholen, was
inzwischen seitens der deutschen Politik Rußland gegenüber ge-
schah, und wie der russisch-japanische Krieg sein Ende fand.
Der Vertrag von Björkoe
Auf dem ostasiatischen Kriegsschauplätze begann das Jahr 1905
für Rußland mit schweren Niederlagen. Am 2. Januar fiel Port
Arthur5. Der Kaiser nahm daran lebhaften Anteil und bekundete
sofort seine freundschaftliche Gesinnung für den Zaren, indem er
ihn um Mitteilung seiner Zukunftspläne bat, um den Kurs der
deutschen Politik danach einrichten zu können6.
1 Vgl. Qr. Pol. Nr. 6645, 6646, 6685 u. a. m.
2 Or. Pol. Nr. 6686—6770.
3 Or. Pol. Nr. 6771—6777.
4 Gr. Pol. Nr. 6778.
6 Bei dieser Gelegenheit verlieh der deutsche Kaiser dem russischen Kommandan-
ten, General Stoessel, der die Festung übergeben hatte, und dem Besieger von
Port Arthur, dem General Nogi, den Pour le merite.
6 Gr. Pol. Nr. 6180.
230
Der Vertrag von Björkoe
Bald erlitt Rußland neue Unglücksfälle. Die große Entschei-
dungsschlacht bei Mukden endete nach verlustreichen, beinahe vier-
zehntägigen Kämpfen mit der Niederlage der Russen. Am 10. März
1905 zogen die Japaner siegreich in Mukden ein. Nunmehr kamen
von überall her Gerüchte über Friedensbestrebungen, die im Ein-
verständnis mit dem Zaren von England und Frankreich betrieben
würden. Eine Nachricht des Wolffschen Telegraphenbureaus vom
11. März hierüber erregte Kaiser Wilhelm II. aufs höchste. Er be-
zeichnete es in einem Telegramm an den Reichskanzler als unerhört,
daß Deutschland, das dem Zaren treu zur Seite gestanden habe, jetzt
wieder ganz unbeachtet bleibe, und erwog einen Glückwunsch an den
Kaiser von Japan. Auch dachte er daran, dem Generalstabschef der
japanischen Armee den „Pour le merite“ zu verleihen. Das Wolff-
telegramm wurde noch am 11. März dementiert. Bülow meldete dies
telegraphisch dem Kaiser und riet dringend von einem Glück-
wünsche an den Kaiser von Japan wegen des Sieges von Mukden
oder von einer einseitigen Dekorierung japanischer Generale wäh-
rend der Dauer des Krieges ab, da ein solches Verfahren nicht nur
den Zaren, sondern auch das russische Volk tief verletzen müsse1.
Zeitweise war der Kaiser damals durchaus geneigt, auch für Japan
einzutreten, da es während der letzten zehn Jahre bewiesen habe,
daß es verdiene, als gleichberechtigtes Mitglied in die Reihe der zivi-
lisierten Großmächte einzutreten1 2. Bülow war hingegen der An-
sicht, daß die Zeit für Rußland laufe, und daß es daher vom
russischen Standpunkte aus falsch sei, einen voreiligen Frieden zu
schließen. In diesem Sinne suchte er den Bruder des Kaisers, den
Prinzen Heinrich, zu einem Warnungsbriefe an den Zaren zu ver-
anlassen3.
Die letzten Hoffnungen der Russen wurden durch die Vernich-
tung der baltischen Flotte unter Admiral Roschestwensky in der
Seeschlacht von Tschusima am 27. und 28. Mai vereitelt. Admiral
Togo erfocht einen völligen Sieg; von 26 russischen Schiffen ent-
kamen nur vier nach Wladiwostok oder Manila. Nunmehr gehörte
die See den Japanern, die jetzt in der Lage waren, alle möglichen
Reserven ungehindert nach Korea und der Mandschurei zu bringen
und die Belagerung von Wladiwostok vorzubereiten. Kaiser Wilhelm
empfahl daher am 3. Juni dem Zaren, Frieden zu schließen, und er-
klärte sich bereit, sich vertraulich mit dem Präsidenten Roosevelt in
Verbindung zu setzen, falls der Zar es wünsche. Der Zar trat
daraufhin selbst mit dem amerikanischen Botschafter in Peters-
burg in Fühlung und ernannte den Grafen Witte zum Friedens-
unterhändler. Immer aber betonte er, Rußland könne nicht zugeben,
1 Gr. Pol. Nr. 6187, 6188.
2 Gr. Pol. Nr. 6189.
3 Gr. Pol. Nr. 6191.
231
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
daß es besiegt sei, es wolle keinen Rubel Kriegskosten zahlen und
keinen Zoll russischen Gebietes abtreten. Einstweilen aber zeitigte
das Herannahen russisch-japanischer Friedensunterhandlungen noch
ein für Deutschland sehr bedeutungsvolles Vorspiel.
Der Reichskanzler Fürst Bülow weilte auf Norderney, als am
20. Juli 1905 ganz unvermittelt ein Telegramm des Kaisers bei ihm
eintraf, wonach eine Begegnung des Zaren mit dem Kaiser unmittel-
bar bevorstand. Der Kaiser hatte am 18. Juli beim Zaren angefragt,
ob er irgendwelche Wünsche für ihn habe, der Zar darauf sofort ge-
antwortet, ob man sich nicht in Björkoesund nahe Viborg treffen
könne1.
Der Kaiser wollte nun sofort eine Abschrift des dem Zaren Im
November 1904 vorgeschlagenen Defensivbündnisses telegraphisch
mitgeteilt haben1 2. Hier zeigte sich ein Weg, auf dem man die ge-
wünschte nähere Verbindung zwischen Rußland und Deutschland
vielleicht doch noch erreichen konnte. Bülow zog nur den Vortragen-
den Rat v. Holstein ins Vertrauen, der offenbar gegen den Schritt
des Kaisers schwere Bedenken hegte. Er telegraphierte die Fassung
des Vertragsentwurfes nach Norderney, fügte aber tags darauf hinzu,
daß man nach der Zusammenkunft der Monarchen, besonders in
Rußland, nur allzu geneigt sein werde, den deutschen Kaiser für das
verantwortlich zu machen, was der Zar in der nächsten Zeit tue oder
unterlasse.
Die Dinge entwickelten sich mit reißender Schnelligkeit. Bülow
hatte dem Kaiser am 22. Juli den Vertragsentwurf mitgeteilt und
darauf hingewiesen, daß der neue Bündnisvertrag, falls es wirklich
zur Angliederung Deutschlands an den russisch-französischen Zwei-
bund komme, seinem ganzen Inhalte nach öffentlich bekannt ge-
geben werden müsse; Deutschland verliere sonst für immer das Ver-
trauen Roosevelts und der Amerikaner.
Schon am 24. Juli nachmittags erhielt Bülow ein Telegramm des
Kaisers aus Björkoe, wonach der Vertrag soeben von den beiden
Kaisern unterschrieben und vom Marineminister Birilew und dem
Gesandten v. Tschirschky, der den Kaiser auf seiner Fahrt als Ver-
treter des Auswärtigen Amtes begleitete, gegengezeichnet worden
sei. Der Zar erblicke in diesem Vertrage den Abschluß der elsaß-
lothringischen Frage für immer. Bülow beglückwünschte sofort den
Kaiser zu diesem Erfolge. Dieser selbst sah in dem Vertrage von
Björkoe einen Wendepunkt in der Geschichte Europas und eine
große Erleichterung für Deutschland, „das endlich aus der scheuß-
lichen Greifzange Gallien-Rußland befreit werden wird“. Am 25. Juli
1 Vgl. für das Weitere „Die Kriegsschuldfrage“, 2. Jahrgang, S. 453 ff. (Russische
Akten aus Bd. 5 des Roten [Krasny-] Archivs) und meinen Aufsatz im „Archiv
für Politik und Geschichte“, 4. Bd., Berlin 1925, S. 160ff.
2 Siehe o. S. 219 ff.
232
Der Vertrag von Björkoe
übersandte er dem Reichskanzler einen ganz ausführlichen, in
den herzlichsten Ausdrücken abgefaßten Bericht über das Zu-
standekommen des Vertrages und fügte einen von ihm eigenhändig
geschriebenen Vertragstext bei1. Aus ihm ging hervor, daß laut
Artikel 3 der Vertrag erst nach Abschluß des Friedens zwischen
Rußland und Japan wirksam werden, und daß nach Artikel 1 im
Falle des Angriffes einer europäischen Macht auf eine der beiden
vertragschließenden Parteien, also Rußland oder Deutschland, die
Hilfeleistung der anderen mit allen Land- und Seestreitkräften auf
Europa begrenzt sein sollte.
Diese Begrenzung der Vertragshilfe auf Europa in Artikel 1
machte nach Ansicht des Reichskanzlers den Vertrag für Deutsch-
land wertlos, weil in Europa Rußland seinem deutschen Verbündeten
mit seiner aufgeriebenen Flotte überhaupt nicht und mit seinem
Heere nichts gegen England nützen könne1 2. In diesem Sinne erhob
er am 28. Juli telegraphisch Bedenken beim Kaiser, der ihm er-
widerte, er habe diese Änderung nach reiflicher Erwägung vorge-
nommen, denn sonst wäre Deutschland zur Mitwirkung in Asien
verpflichtet gewesen. Komme es zum Kriege mit England, so liege
die russische Hilfe für Deutschland nicht in Asien und dem chi-
märischen Druck auf Indien, sondern in der Tatsache, daß Ruß-
land Deutschland absolute Rückenfreiheit in Europa gewähre; der
Krieg mit zwei Fronten verwandele sich dann in einen solchen mit
nur einer Front, nämlich gegen Frankreich allein, natürlich unter der
Voraussetzung, daß Frankreich, um England zu helfen, gegen
Deutschland mobilmache, was der Kaiser nicht für ausgeschlossen
hielt. Er glaubte damals ernstlich an einen englischen Angriff und
besprach mit dem ihn auf der Reise begleitenden General v. Moltke,
der im Winter den Grafen Schlieffen als Generalstabschef ersetzen
sollte, die sich ergebenden Möglichkeiten. Kam es zum Kriege mit
England, so mußte für Deutschland Klarheit über die Haltung Bel-
giens und Frankreichs geschaffen werden. Im Kriegsfälle mit Eng-
land sollte daher der Reichskanzler sofort nach Brüssel und Paris
Sommationen abgehen lassen, um die Haltung dieser Staaten zu
klären.
Die englisch-deutschen Beziehungen hatten sich seit Beginn
des russisch-japanischen Krieges wesentlich verschlechtert. Schon im
November 1904 hatte die englische Presse eine sehr deutschfeindliche
Haltung eingenommen, so daß der Kaiser ernstlich an die Gefahr
eines Überfalles durch England zu glauben begann und für diesen
Fall Sicherungsmaßregeln getroffen sehen wollte. Es kam aber nicht
dazu, da auch Admiral v. Tirpitz beruhigend auf den Kaiser ein-
1 Gr. Pol. Nr. 6220.
2 Gr. Pol. Nr. 6222.
233
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
wirkte1. Der Reichskanzler nahm damals die Frage so ernst, daß er
im Dezember 1904 sowohl den Botschafter Grafen Metternich wie
den Militärattache Major Grafen v. der Schulenburg nach Berlin
entbot, um mit ihnen über die Frage der englisch-deutschen Be-
ziehungen zu verhandeln. Auch mit dem englischen Botschafter
sprach er sich eingehend aus und faßte schließlich sein Urteil in
einem Schreiben an den Kaiser vom 26. Dezember 1904 dahin zu-
sammen, es sei die Hauptsache, „daß wir mit Geduld und Spucke
über die nächsten Jahre wegkommen, keine Zwischenfälle hervor-
rufen, keinen sichtbaren Grund zu Argwohn geben1 2“. Eine englische
Angriffsabsicht hielt insbesondere Graf Metternich nicht für vor-
liegend. König Eduard VII. sprach sich zu dem deutschen Marine-
attache Kapitän z. S. Coerper dahin aus, daß er mit allen Ländern Frie-
den zu halten entschlossen sei, und daß England nie einen Krieg mit
irgendeinem Lande provozieren werde, „mit Deutschland am aller-
wenigsten, denn einmal liegt absolut kein Grund dazu vor, und
dann würde ein Krieg zwischen beiden Ländern das größte Unglück
für beide sein3“. Die Besorgnis vor England blieb aber bei den
deutschen Staatsmännern immer lebendig, und gerade die Sorge vor
England war es auch, die nach Bülows Ansicht die Beschränkung
der russischen Vertragshilfe auf Europa so einschneidend machte,
denn wenn die Möglichkeit eines russischen Vorgehens in Asien aus-
drücklich ausgeschaltet wurde, so lag für England um so weniger
Anlaß vor, einen Angriff auf Deutschland zu unterlassen4.
Aus den Akten des Auswärtigen Amtes geht nicht mit völliger
Klarheit hervor, was den Fürsten Bülow dazu veranlaßt hat, die
Beschränkung der russischen Vertragshilfe auf Europa damals für
so bedeutsam zu halten, daß er am 3. August sein Rücktrittsgesuch
einreichte. Der Kaiser war aufs tiefste betroffen. Mit allen Mitteln
persönlichster Überredungskunst erreichte er es, daß Bülow sein
Entlassungsgesuch zurückzog; deutete er doch in seinem Schreiben
vom 11. August aus Wilhelmshöhe sogar an, daß er den Abgang des
Kanzlers nicht zu überleben gedenke5.
Inzwischen hatten zwischen Deutschland und den Vereinigten
Staaten schon seit Monaten Erörterungen über eine möglichst bal-
dige Beendigung des russisch-japanischen Krieges stattgefunden.
Kaiser Wilhelm II. und Präsident Roosevelt wirkten in dem Be-
streben zusammen, Japan auch im Falle seines vollständigen Sieges
zu Wasser und zu Lande zu einer Mäßigung seiner Bedingungen,
Rußland aber zu einer entgegenkommenden Haltung zu bewegen.
1 Or. Pol. Nr. 6149—6152.
2 Gr. Pol. Nr. 6157.
3 Bericht vom 12. Januar 1905; Gr. Pol. Nr. 6161.
4 Gr. Pol. Nr. 6229.
8 Gr. Pol. Nr. 6237.
234
Der Vertrag von Björkoe
Grundsatz dabei war, daß nicht etwa China der Leidtragende wer-
den, und daß der Grundsatz der offenen Tür in Ostasien von keiner
Seite angetastet werden dürfe. Schon seit Beginn des Jahres 1905
war Roosevelt damit beschäftigt, die Stellung der anderen Groß-
mächte zu diesen Fragen festzustellen1. Gegen die Berufung eines
Friedenskongresses aber, etwa nach Paris, wie im März 1905 ver-
fautete, hatten sowohl der Kaiser wie Roosevelt schwere Bedenken1 2.
Nach der Seeschlacht von Tschusima erklärte sich Kaiser Wil-
helm II. bereit, die Friedensbemühungen des Präsidenten beim Zaren
zu unterstützen3. Schwierigkeiten bereitete dauernd die Haltung
Englands, das sich weigerte, mäßigend auf Japan einzuwirken. Das
Zusammentreffen des deutschen Kaisers mit dem Zaren bei Björkoe
aber, von dem der Kaiser den Präsidenten am 28. Juli verstän-
digte, gewährte dem Kaiser die Möglichkeit, die Zustimmung des
Zaren zu den Friedensschritten des Präsidenten sicherzustellen4.
So führten denn die am 5. August auf amerikanischem Boden,
in Portsmouth, begonnenen Friedensunterhandlungen schon am 29.
August zu einem endgültigen Frieden. Der Kaiser und Roosevelt
wechselten daraufhin herzliche Telegramme, und Kaiser Wilhelm
sprach dem Zaren seine Glückwünsche zu diesem Frieden aus, der
es Rußland ermöglichte, mit allen Ehren aus dem Kriege hervor-
zugehen 5.
Die Bedeutung des Friedens von Portsmouth vom 5. September
1905 war eine weltgeschichtliche. Japan hatte seine Anerkennung
als militärisch und kulturell ebenbürtige Großmacht erreicht, die
Vormacht im Fernen Osten erlangt und mit der Herrschaft über
Korea, das durch den Vertrag vom 17. November 1905 bald ganz
unter die japanische Vormundschaft trat, auf dem asiatischen Kon-
tinent festen Fuß gefaßt. Rußland aber war von den chinesischen
Küsten abgedrängt.
Nach Abschluß des Friedens von Portsmouth wurde unter Ver-
mittlung Frankreichs eifrig an einer japanisch-englischen und an der
von den französischen Staatsmännern immer schon gewünschten
Annäherung Englands an Rußland gearbeitet6. Schon am 27.Sep-
tember 1905 erfolgte die Verlängerung des englisch-japanischen
Bündnisvertrages7, und etwa zu gleicher Zeit begann die englische
Regierung, sich den zentralasiatischen Fragen — Tibet, Afghanistan,
Persien — im Sinne der Beseitigung überflüssiger Reibungsflächen
1 Gr. Po,l. Nr. 6276 ff.
2 Gr. Po,l. Nr. 6298.
3 Gr. Pol. Nr. 6312.
4 Gr. Pol. Nr. 6319.
5 30. August 1905. Gr. Pol. Nr. 6334.
6 Gr. Pol. Nr. 6341.
7 Gr. Pol. Nr. 6338.
235
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
zwischen England und Rußland zuzuwenden1. Die Annäherung
Englands an Rußland beurteilte Fürst Bülow als sehr bedenklich,
da sie nach seiner Auffassung notwendigerweise eine Spitze gegen
Deutschland haben mußte und in absehbarer Zeit zu einem großen
internationalen Kriege führen konnte. Wünsche Rußland, ein mon-
archisches Staatswesen zu bleiben, so sei dies nur dadurch zu er-
reichen, daß das Zarenreich an einem monarchischen Deutschland
eine starke nachbarliche Stütze finde1 2.
Welche Wirkung aber hatte nun der Björkoe-Vertrag auf die
deutsch-russischen Beziehungen ausgeübt?
In Rußland hatte bald nach der Rückkehr des Zaren ein Sturm-
lauf gegen den Vertrag eingesetzt, den Graf Lamsdorff als eine
Überrumplung Rußlands empfand. Trotz der Begeisterung, die der
russische Minister Witte am 26. September 1905 bei seinem Be-
suche des deutschen Kaisers in Rominten über den ihm vertrau-
lich mitgeteilten Vertrag äußerte, schoben die russischen Staats-
männer das Inkrafttreten des Vertrages von Björkoe zunächst
hinaus, bis man wisse, wie Frankreich sich dazu stellen werde.
Die Monarchen wechselten mehrere Briefe darüber, bis schließlich
am 23. November der Zar mitteilte, Rußland habe keinen Grund,
seinen alten Verbündeten aufzugeben oder ihn zu verletzen. Es sei
daher nötig, das Björkoe-Abkommen durch eine Erklärung zu er-
gänzen, wonach der Artikel 1 — Angriff einer europäischen Macht
auf Deutschland oder Rußland mit dadurch bedingter Hilfeleistung
der anderen Macht mit allen Land- und Seestreitkräften — auf
den Fall eines Krieges mit Frankreich keinerlei Anwendung finden
sollte3. Kaiser Wilhelm erblickte in diesem Vorbehalte des Zaren
eine „direkte Annullierung des Vertrages“ und fühlte sich tief ver-
letzt. In zwei Telegrammen an den Zaren vom 26. und 28. Novem-
ber, in denen er auf die Marokkoverhandlungen hinwies und schließ-
lich die Unterstützung des Zaren für die deutsche Marokkopolitik
erbat, kam das deutlich zum Ausdruck. Die Rückantwort des Zaren
vom 2. Dezember 1905 war kurz und enthielt nur die Bemerkung,
das russische Bündnis mit Frankreich diene nur der Verteidigung;
der Zar werde alles tun, was in seiner Macht stehe, um die Marokko-
konferenz im Sinne einer allgemeinen Verständigung auszugestalten.
Der Björkoe-Vertrag war somit durch das Verhalten der russi-
schen Staatsmänner um seine eigentliche Bedeutung gebracht wor-
den. Deutscherseits hielt man aber an seinen Bestimmungen noch
fest, wenn man auch schon davon überzeugt war, daß ihm eine prak-
tische Bedeutung kaum noch zukomme.
1 Gr. Pol. Nr. 6363.
2 Gr. Pol. Nr. 6364.
3 Gr. Pol. Nr. 6254.
236
Verhandlungen vor der Marokko-Konferenz
Die deutsch-französischen Verhandlungen vor der
Marokko-Konferenz
Nachdem Frankreich die Marokkokonferenz angenommen hatte,
war Deutschland bereit, sich mit ihm über deren Programm und
Ziele zu verständigen. In Bülows Beurteilung der gesamten Marokko-
aktion trat in Verbindung mit den soeben geschilderten Vorgängen
von Björkoe jetzt ein bemerkenswerter Umschwung ein. „Wir
müssen“, telegraphierte er am 31. Juli 1905 an das Auswärtige Amt,
„uns die Möglichkeit reservieren, Frankreich in dem Augenblick, wo
dieses sich wegen seines Anschlusses an die deutsch-russische Ver-
ständigung zu entscheiden hat, auch freie Hand in Marokko ge-
währen zu können. Eine bessere Verwendung könnte Marokko für
uns nicht finden, und das wäre der weitaus günstigste Abschluß
unserer Marokkokampagne. Um dies zu erreichen, dürfen wir un-
seren prinzipiellen und allgemeinen Standpunkt in der Marokkofrage
nicht vorzeitig preisgeben. Die Franzosen dürfen aber auch nicht
glauben, daß unsere letzten Absichten dahin gingen, in Marokko
selbst endgültig Fuß zu fassen. Es erscheint mir ratsamer, die Ma-
rokkofrage bis auf weiteres versumpfen zu lassen, als sie zu brüs-
kieren. Schiebereien oder Drohungen wegen Marokkos in diesem
Augenblick würden Frankreich nur noch enger an England heran-
drängen und gleichzeitig Kaiser Nikolaus in die Meinung versetzen,
daß er unmittelbar nach Björkoe gezwungen werden solle, zwi-
schen uns und Frankreich zu optieren1.“ In diesem Sinne wurde
Fürst Radolin verständigt.
Wenn nach diesen Äußerungen Bülow die deutsche Marokko-
aktion eigentlich nur noch als ein taktisches Mittel ansah, so er-
gaben sich doch bei den anschließenden Erörterungen, die von an-
fangs September 1905 an hauptsächlich durch den nach Paris ent-
sandten, für Tanger bestimmten Gesandten Dr. Rosen geführt wur-
den, mancherlei Schwierigkeiten. Dr. Rosen begegnete in Paris über-
all dem Ausdruck des Wunsches nach einem guten Einvernehmen
mit Deutschland. Den Höhepunkt der Verhandlungen in Paris bildete
der 22. September, an dem der russische Minister v. Witte auf seiner
Rückkehr von den Friedensverhandlungen in Portsmouth und vor
seiner bereits geschilderten Anwesenheit in Rominten2 in Paris zu-
nächst mit dem Fürsten Radolin und Dr. Rosen, nachher mit Rouvier
verhandelte. Nach Wittes Auffassung konnte, wenn eine Verständi-
gung damals nicht zustande kam, nur England der Nutznießer sein.
Fürst Radolin wünschte den Eindruck zu vermeiden, als wenn
Deutschland sich ohne die Vermittlung Wittes mit Frankreich nicht
hätte einigen können; er ließ daher am 24. September die Pariser * 8
1 Gr. Pol. Nr. 6782.
8 Siehe o. S. 236.
237
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Presse benachrichtigen, daß die deutsch-französische Übereinstim-
mung schon unzweifelhaft festgestellt sei, und daß es sich nur noch
um die Redaktion von Einzelfragen handele.
Vom September ab erscheint deutscherseits als Verhandlungsziel
nur noch, nicht etwa als von Frankreich gedemütigt zu erschei-
nen. Man einigte sich schließlich dahin, daß es auf der Kon-
ferenz, wie sich Bülow ausdrückte, weder Besieger noch Besiegte
geben sollte1. Am 28. September Unterzeichneten in Paris Fürst
Radolin und Rouvier den Programmentwurf für die Marokkokon-
ferenz1 2. Darauf trat eine wesentliche Entspannung der Lage ein.
Englischerseits vertrat die Presse nachdrücklich den Gedan-
ken, eine deutsch-französische Verständigung stelle die vertrags-
rechtliche Gültigkeit des englisch-französischen Abkommens vom
8. April 1904 in Frage. König Eduard VII., der auf Grund der deut-
schen Marokkopolitik das Vertrauen zu Kaiser Wilhelm II. ver-
loren haben sollte, wurde gelegentlich mit der damaligen anti-
deutschen Agitation Englands, auch nach Ansicht des Präsidenten
Roosevelt, in Verbindung gebracht. Aber Botschafter Graf Metternich
glaubte nicht daran, daß der König oder seine Regierung, noch
selbst das gegen Deutschland verhetzte englische Volk einen Krieg
mit Deutschland wünschten, wenn es auch Anlässe gäbe, die einen
solchen herbeiführen könnten3. Der König sprach sich Metternich
gegenüber deutlich dahin aus, daß er die deutsche Marokkopolitik
für verfehlt halte4. Im Spätherbst 1905 bereitete sich aber in der
öffentlichen Meinung Englands ein Umschwung zugunsten Deutsch-
lands vor. Graf Metternich hielt den psychologischen Moment für
eine Wiederannäherung der beiden Völker für gekommen, zumal
Sir Edward Grey im Dezember 1905 das Ministerium des Äußeren
übernahm, und man von der liberalen Richtung erwartete, daß sie
zwar an der Entente mit Frankreich festhalten wolle, ohne aber den
Gegensatz gegen Deutschland zu betonen. Sir Edward Grey erklärte
denn auch, die englische Regierung werde die französische auf der
Grundlage des von Deutschland und Frankreich angenommenen
Programms für die Marokkokonferenz unterstützen. Kaiser Wilhelm
aber blieb überzeugt, daß England tatsächlich Frankreich ein An-
gebot mit Waffenunterstützung gemacht habe5.
Schon bei der Vorbereitung der Konferenz ergaben sich Schwie-
rigkeiten. So gelang es dem deutschen Gesandten in Tanger, dem
Grafen Tattenbach, nicht ohne weiteres, den Sultan von Marokko zur
formellen Einberufung der Konferenz nach Algeciras zu veranlassen,
1 Qr. Pol. Nr. 6815, 6828.
2 Gr. Pol. Nr. 6832.
3 Gr. Pol. Nr. 6867.
4 14. August 1905. Gr. Pol. Nr. 6870.
6 Gr. Pol. Nr. 6887.
238
Verhandlungen vor der Marokko-Konferenz
da man in der Umgebung des Sultans wenig Neigung zu Reformen
spürte. Nachdem Deutschland den Signatarmächten der Madrider
Konferenz und der russischen Regierung das Konferenzprogramm
mitgeteilt hatte, begann die eigentliche diplomatische Vorarbeit, zu
der der Reichskanzler am 23. November 1905 den Auftrag erteilte1.
Als das Hauptziel der deutschen Politik bezeichnete er es hierbei,,
„daß wir auf dieser Konferenz nicht isoliert dastehen. Wenn wir in
einer Frage, in der wir uns einmal engagiert haben, die Mehrheit
oder gar alle anderen gegen uns haben, so nützen auch Forschheit
und Drohungen nichts, da unsere Situation dann nach allem Vorher-
gegangenen etwas beinahe Lächerliches haben würde“. Deshalb
legte Bülow auch großen Wert darauf, sich einer zustimmenden Hal-
tung Amerikas zu versichern1 2.
Auch in Frankreich fürchtete man eine diplomatische Nieder-
lage, die Rouvier unter allen Umständen vermeiden wollte, während
es als Hauptziel der deutschen Politik erschien, einen diplomatischen
Triumph der Franzosen über Deutschland zu verhindern. Diese
Möglichkeit sei für uns unter keinen Umständen annehmbar, erklärte
der Reichskanzler am 23. Dezember 1905 in einer Besprechung der
marokkanischen Frage im Auswärtigen Amt3.
Am 29. Dezember 1905 erhielt der Botschafter in Paris, Fürst
Radolin, seine Weisungen. Danach sollte Radolin, wenn er auf
Marokko angeredet wurde, es vermeiden, auf Einzelheiten einzu-
gehen, aber durch seine gesamte Haltung Deutschlands Festigkeit
und Entschlossenheit bei aller Mäßigung zum Ausdruck bringen.
Vor allem sollte er nicht die Illusion aufkommen lassen, als wenn
Deutschland es nur auf einen Bluff abgesehen hätte, „und als würde
es uns an dem Entschluß fehlen, im Notfälle eher die Konsequenzen
einer uns aufgenötigten Situation zu ziehen, als daß wir uns vor
einem die deutsche Ehre und das deutsche Ansehen verletzenden
Ansinnen beugen sollten“. Fürst Radolin sollte durch sein Verhalten
die Tätigkeit der deutschen Konferenzdelegierten, des Botschafters
v. Radowitz und des Grafen Tattenbach, möglichst wirksam unter-
stützen. „Unser Bestreben auf der Konferenz wird dahin gerichtet
sein, daß dieselbe mit einer friedlichen Verständigung abschließt,
bei der beide Teile ihre Rechnung, wenigstens für jetzt, finden. Wir
trachten nicht nach einem diplomatischen Siege über Frankreich.
Ebensowenig aber würden wir es dulden, wenn Frankreich ver-
suchen sollte, auf der Konferenz einen Triumph über uns davon zu
tragen. Wir verlangen in Marokko nichts weiter als die Offene Tür
für Handel und Gewerbebetrieb aller Nationen, und wir können von
diesem Verlangen nicht abgehen. Gesteht Frankreich die Offene Tür
1 Gr. Pol. Nr. 6900.
2 Gr. Pol. Nr. 6896, 6897, 6926.
3 Gr. Pol. Nr. 6914.
239
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
rückhaltlos zu, so ist der friedliche Ausgang der Konferenz sicher.
Wenn aber Frankreich den Versuch machen sollte, die im Prinzip
auch von ihm anerkannte Offene Tür direkt oder etwa irgendwie
indirekt, ganz oder teilweise zu verschließen, so müßte ein Beharren
Frankreichs auf solchem Wege sonder Zweifel eine sehr kritische
Situation herbeiführen und einen schweren Konflikt mit uns unver-
meidlich machen. Es ist von entscheidender Wichtigkeit, daß die
französischen Staatsmänner über die hiernach in der Konferenz un-
bedingt liegende Gefahr von vornherein völlig klar sehen1.“ Vom
Kaiser erhielt Fürst Radolin, der am Jahresende in Berlin weilte,
noch mündliche Weisungen, wonach die Erörterung der mit der
Konferenz zusammenhängenden Fragen hauptsächlich auf die Kon-
ferenz selbst beschränkt werden sollte. Bülow ergänzte das dahin,
daß Fürst Radolin nicht nur beobachten und berichten, sondern vor
allem dafür sorgen sollte, „daß die Franzosen in diejenige Stimmung
und Gemütsverfassung gelangen, welche allein einen friedlichen,
günstigen und glücklichen Ausgang der Konferenz ermöglichen
kann1 2“.
So schloß das Jahr 1905 bei den europäischen Großmächten in
unruhiger Erwartung dessen, was die Konferenz von Algeciras
bringen würde. Auch die zweite Haager Friedenskonferenz warf
bereits ihre Schatten voraus, nachdem Ende September 1905 Ruß-
land die baldige Mitteilung eines genaueren Programms für diese
Konferenz angekündigt hatte3. Weitere Schritte waren aber bis Ende
1905 russischerseits nicht erfolgt.
Das Jahr 1906
Die Konferenz von Algeciras
Wollte Deutschland auf der Konferenz von Algeciras nicht
völlig isoliert erscheinen, so mußte es sich hauptsächlich auf seine
Dreibundgenossen stützen. Auf Österreich-Ungarns Gefolgschaft
durfte man rechnen. Italien aber ließ schon vor Beginn der Konferenz
erkennen, daß es sich an seine Abmachungen mit Frankreich ge-
bunden fühlte und daher für Deutschland nicht in der von ihm ge-
wünschten unumwundenen Weise eintreten würde4.
Von der größten Bedeutung war Englands voraussichtliche Hal-
tung. Hierüber erstattete der Botschafter Graf Metternich am 3. Ja-
nuar 1906 einen außerordentlich wichtigen Bericht. Sir Edward Grey
hatte in einer Besprechung mit dem Botschafter seine Sorgen vor der
kommenden Konferenz nicht verhehlt und den Wunsch der eng-
1 Gr. Pol. Nr. 6916.
2 Gr. Pol. Nr. 6917, 6918.
3 Gr. Pol. Nr. 7798.
4 Gr. Pol. Nr. 6921.
240
Die Konferenz von Algeciras
lischen Regierung betont, daß die deutsch-französische Spannung
nachlassen möge. Die englische Regierung wünsche, in ein freund-
schaftliches Verhältnis zu Deutschland zu treten; auf der Konferenz
aber müsse sie den französischen Standpunkt vertreten. Falls es zu
einem Kriege zwischen Deutschland und Frankreich komme, der als
eine Folge des englisch-französischen Abkommens erscheine, so
würde das englische Volk eine jede englische Regierung, ob konser-
vativ oder liberal, dazu zwingen, Frankreich Hilfe zu leisten. Auf
eine unterstützende Haltung Englands konnte also Deutschland nicht
rechnen. Die Marokkofrage wurde in England allgemein als eine
Kraftprobe auf die englisch-französische Entente aufgefaßt und die
deutsche Marokkopolitik als ein Versuch, diese zu sprengen1.
Metternichs Bericht stimmte den Reichskanzler ernst, denn er
telegraphierte am 9. Januar an Metternich: „Unsere Marokkopolitik
ist durchaus kein Versuch, die englisch-französische Entente zu
sprengen. Die ganze Marokkofrage ist überhaupt nicht von solcher
eminenten Wichtigkeit, als daß wir daraus vorzüglich eine Frage
unseres Prestiges machten. Wir haben den aufrichtigen Wunsch,
bei aller Wahrung unserer Würde wie der Frankreichs aus der Ma-
rokkokonferenz so herauszukommen, daß es weder einen Sieger
noch einen Besiegten gibt.“ Diese Formel wurde auch von der fran-
zösischen Seite gern aufgenommen und nachdrücklich immer wieder
in den Vordergrund der zeitweise sehr peinlich werdenden Unter-
handlungen geschoben.
Die Konferenz in Algeciras dauerte vom 16. Januar bis zum
7. April 1906. Geheimrat v. Holstein, mit dem der Reichskanzler alle
Phasen der Marokkoverhandlungen eingehend besprach, und dem
er für die dort einzuschlagende Politik einen maßgebenden Einfluß
einräumte, nannte in einer Aufzeichnung vom 18. Januar 1906 als
einziges Ziel der deutschen Politik, daß für Deutschland kein Grund
vorliege, „die wirtschaftlichen Interessen und Aussichten, welche wir
bisher in Marokko hatten, ohne weiteres den Franzosen zu opfern 1 2“.
Die Hauptfragen der Konferenz waren die Neuordnung der ma-
rokkanischen Polizei und die Errichtung einer marokkanischen Bank.
In beiden Hauptpunkten suchte Deutschland die Zustimmung zu-
nächst seiner Dreibundgenossen, sodann vor allem Amerikas, zu er-
langen. Obwohl Amerika stets in höflicher Form seine Zurückhaltung
betonte, gab man deutscherseits diese Versuche nicht auf.
Die Hoffnung des deutschen Ersten Delegierten auf der Kon-
ferenz, des Botschafters v. Radowitz, Deutschland werde auf der
Konferenz nicht isoliert bleiben, ging nicht in Erfüllüng. Man hat
das offenbar in Berlin nicht rechtzeitig genug erkannt, denn in einem
1 Gr. Pol. Nr. 6923, 6924.
a Gr. Pol. Nr. 6953.
16 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
241
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Telegramm Bülows an Radowitz vom 7. Februar ist immer noch
davon die Rede, daß Deutschland eine Isolierung jetzt nicht mehr
zu befürchten habe1. Zwei Tage später mußte Radowitz diese Auf-
fassung gründlich enttäuschen1 2. Nur der österreichische Vertreter
Graf Welsersheimb stimmte bedingungslos für Deutschland.
Bei dem hartnäckigen Kampfe in Algeciras, der nun einsetzte,
hat man bei Durchsicht der Akten das Gefühl, daß sie deutscherseits
einen solchen diplomatischen Aufwand an Zeit und Kraft wirklich
nicht verdienten. Der für Deutschland aus seiner Marokkopolitik zu
erhoffende Gewinn schien z. B. den englischen Staatsmännern so
unklar, daß sie annahmen, Deutschland verfolge weitere Ziele,
vielleicht die Festsetzung an der atlantischen Küste Marokkos und
den Gewinn einer dortigen Kohlenstation oder eines Hafens. Der
neue Kriegs- und Marineminister Haldane betonte, die englische
Regierung stehe unbedingt auf dem französischen Standpunkte und
finde die Ansprüche Frankreichs maßvoll; Deutschland möge doch
endlich mit seinen Forderungen hervortreten3. In Petersburg end-
lich, wo man durch die Ereignisse von Björkoe in den Wunsch
des deutschen Kaisers eingeweiht war, Frankreich dem deutsch-
russischen Geheimbündnisse zuzugesellen, verstand man nicht, was
Deutschland eigentlich in Algeciras beabsichtigte4. Da Rußland
nicht verstehen wollte, warum Deutschland in der marokkanischen
Polizeifrage so hartnäckig für ein internationales Recht eintrat,
Amerika nervös zu werden anfing, und auch von österreichischer
Seite auf die Unannehmlichkeiten eines Alleinstehens der beiden
verbündeten Großmächte in Algeciras hingewiesen wurde, schien
gegen Ende Februar 1906 eine Zeitlang ein auch nur leidlicher Aus-
gang der Konferenz ungewiß. Dem Grafen Welsersheimb gelang es,
durch einen Vermittlungsvorschlag in der Polizeifrage einen Aus-
weg aus der Sackgasse zu eröffnen. Der Reichskanzler, dem es
offensichtlich jetzt darum zu tun war, sich von der Holsteinschen
Politik der Unnachgiebigkeit in der Marokkofrage freizumachen,
sprach jetzt von der Ermöglichung einer ehrenvollen Verständigung5.
Auch bei den Erörterungen über eine marokkanische Staatsbank
trat Deutschlands Vereinsamung zutage. Eine feste französisch-
englisch-russisch-spanische Gruppe trat ihm entgegen, der italie-
nische und amerikanische Unterhändler vermieden eine klare Stel-
lungnahme, und nur Österreich-Ungarn stand fest zu Deutschland.
Bülow, der die Leitung der Marokko-Aktion in Berlin, offenbar aus
Mißtrauen gegen Holstein, von Ende Februar 1906 ab in der Haupt-
1 Gr. Pal. Nr. 6987.
2 Gr. Pal. Nr. 6990.
3 Gr. Pal. Nr. 7022.
4 Gr. Pol. Nr. 7026, 7027.
5 Gr. Pol. Nr. 7046.
242
Die Konferenz von Algeciras
sache selbst in der Hand behielt, erkannte die Gefahr eines Ver-
steifens auf einzelne Sonderpunkte und zeigte Entgegenkommen.
In den Darlegungen der Professoren Bourgeois und Pages1
erscheint, besonders auch bei der Schilderung der deutschen Ma-
rokkopolitik, immer der deutsche Kaiser persönlich als verant-
wortlicher Träger des Gesamtgeschehens. Wie unberechtigt dieses
Urteil ist, das allerdings abgegeben wurde, ehe die große Akten-
veröffentlichung des deutschen Auswärtigen Amtes das Licht der
Welt erblickt hatte, ergibt sich aus zahlreichen Randbemerkungen
des Monarchen, mit besonderer Deutlichkeit aber aus solchen, die
der Kaiser zu einem Berichte des deutschen Botschafters in Rom,
Grafen Monts, vom 3. März 1906 gemacht hat1 2. Graf Monts be-
richtete auf Grund einer Besprechung mit dem italienischen Bot-
schafter Pansa, mit dem er in Rom zusammengetroffen war, die
englisch-französische Entente vom 8. April 1904 sei nicht als etwas
Vorübergehendes anzusehen; die Engländer wenigstens hätten sie
in der Absicht abgeschlossen, daß sie mindestens für ein Menschen-
alter ihre Nachwirkung äußern sollte. Kaiser Wilhelm II. bemerkte
hierzu: „Also für meine Generation ist eine Beziehung zu Gallien
nicht mehr zu erhoffen,“ und an den Schluß des Berichtes setzte er
die Worte: „England ist mit Frankreich von der deutschen Presse
,zusammen geschimpft' worden, und nun sind sie zusammen und
Gallien unter englischem Einfluß; das ist uns für das erste verloren.
Italien hält sich dazu — Krimkrieg-Koalition — und wir haben das
Nachsehen!“
Für den deutschen Kaiser, der eine Aussöhnung Frankreichs
mit Deutschland als sein Lebensziel betrachtete, war diese Erfah-
rung um so bitterer, als auch sein Wunsch der Annäherung an Ruß-
land nicht in Erfüllung ging. Auf Amerika war gleichfalls nicht zu
rechnen. Man verstand auch dort nicht recht, was Deutschland in
Marokko eigentlich vorhatte. Bülow erkannte die darin liegende Ge-
fahr und telegraphierte am 19. März an den deutschen Botschafter
Frhr. Speck v. Sternburg nach Washington, der Kaiser habe nie an
einen Krieg wegen Marokkos gedacht, und Deutschland wolle
nichts anderes als die wirtschaftliche Gleichberechtigung in Ma-
rokko; die Erhaltung des bisherigen Vertrauens zwischen Berlin
und Washington und die unverzügliche Beseitigung aller Mißver-
ständnisse erscheine ihm wichtiger als die ganze Marokkoangele-
genheit. Damit sprach der Reichskanzler über die deutsche Ma-
rokkopolitik bis zu diesem Zeitpunkte ein geradezu vernichtendes Ur-
teil aus 3.
1 Siehe o. S. 17/18.
2 Qr. Pol. Nr. 7064.
3 Qr. Pol. Nr. 7118.
16*
243
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Die innere Festigkeit des Dreibundes ließ auf der Konferenz
viel zu wünschen übrig. Von Italien war zu befürchten, daß es sich
unter Umständen sogar gegen Deutschland stellen würde. Gelinge
es Deutschland, mit Frankreich oder mit England in feste oder
freundschaftliche Verbindungen zu treten, meinte Graf Monts1, so
werde die italienische Politik in den alten Bahnen bleiben. Hierzu
vermerkte der Kaiser: „Italien bleibt nur so lange bei uns, als wir
mit England befreundet sind. Kommt das nicht wieder, so wird es
aus dem Dreibunde ausscheiden.“
Am 27. März erfolgte in Algeciras die Annahme des Polizei-Re-
glements, und Radowitz konnte nach Berlin melden, über alle Haupt-
fragen sei Einverständnis erzielt1 2. Am Jahrestage des deutschen
Kaiserbesuches in Tanger, am 31. März, gelangten die Verhand-
lungen durch eine endgültige Vereinbarung zum Abschluß. Die Un-
terzeichnung der Generalakte und des Schlußprotokolls der Kon-
ferenz erfolgte am 7. April.
In Berlin atmete man auf. An den Kaiser Franz Joseph sandte
Kaiser Wilhelm II. am 5. April ein herzliches Danktelegramm für
die Unterstützung in Algeciras, und am 13. April telegraphierte er
an den Grafen Goluchowski: „Sie haben sich als brillanter Sekun-
dant auf der Mensur erwiesen und können gleichen Dienstes in
gleichem Falle auch von mir gewiß sein.“ Der Wortlaut dieses Te-
legramms, das starkes Aufsehen erregt hat, ist wahrscheinlich ohne
die Mitwirkung des Auswärtigen Amtes entstanden3.
Der Ritt über den Bodensee war beendet, das erzielte Ergebnis
überaus gering. Reichskanzler Fürst Bülow, der seiner Arbeitskraft
während der Wochen von Algeciras allzuviel zugemutet hatte, er-
litt am 5. April im Reichstage einen ernsten Ohnmachtsanfall. An
dem gleichen Tage erhielt der Vortragende Rat v. Holstein seinen im
Unmut schon wiederholt erbetenen Abschied und verließ endlich
den Schauplatz seines für Deutschland unheilvollen Wirkens4.
Was hatte Deutschland in Algeciras erreicht? Zunächst eine Zu-
sammenschweißung Frankreichs und Englands, sodann eine nahezu
vollständige Selbstisolierung und schließlich auch noch eine Verstim-
mung mit Rußland. Italien hatte sich gegen Deutschland gestellt,
und der eigentliche Sieger der Konferenz war vielleicht England,
denn dieses hatte nach dem Urteil des amerikanischen Vertreters
in Algeciras, Sir Henry White5, alles eingesteckt, was ihm Frank-
reich seinerzeit für Marokko gewährte. Nach Whites Ansicht hätte
eine direkte Aussprache zwischen Frankreich und Deutschland
1 Bericht vom 11. März 1906. Or. Pol. Nr. 7103.
2 Gr. Pol. Nr. 7134, 7135, 7136.
3 Gr. Poll. Nr. 7139.
4 Gr. Pol. Nr. 7143.
6 Gr. Pol. Nr. 7147.
244
Die Konferenz von Algeciras
schneller und leichter zum Ziele geführt. In Paris aber war die
Stimmung durchaus zu Ungunsten Deutschlands umgeschlagen. „Das
dürfte zunächst auch noch so bleiben“, berichtete der Geschäfts-
träger v. Flotow am 23. April 1906 aus Paris1, „und wird mit
Ruhe und Geduld von uns hingenommen werden müssen. Trotzdem
darf man die Hoffnung hegen, daß es bei ruhiger und stetiger Fort-
entwicklung unserer Politik gegenüber Frankreich, — ohne Schroff-
heit, aber auch ohne allzu große, hier der Gefahr einer mißverständ-
lichen Auffassung ausgesetzte Avancen — möglich sein wird, die
deutsch-französischen Beziehungen, wenn auch nicht in freundschaft-
liche, so doch in korrekte und normale Bahnen zurückzuleiten.“
Italien schien für den Dreibund verloren. Ministerpräsident
Tittoni hatte am 8. März 1906 davon gesprochen, Italien werde,
„von Herzen treu dem Dreibunde“ die Traditionen der Intimität mit
England und der aufrichtigen Freundschaft mit Frankreich aufrecht-
erhalten. Dazu hatte Kaiser Wilhelm II. vermerkt: „Niemand kann
zween Herren dienen, steht in der Bibel; also drei Herren erst recht
nicht! Frankreich, England und dem Dreibunde, das ist völlig aus-
geschlossen! Es wird darauf hinauskommen, daß Italien sich zur
britisch-gallischen Gruppe hält! Wir tun gut, damit zu rechnen
und diesen ,Alliierten* in den Rauch zu schreiben1 2!“ In Rom wollte
man aber die Anlehnung an den Dreibund noch nicht verlieren.
Fürst Bülow hielt es nunmehr erst recht für geboten, die
Beziehungen zu Österreich noch sorgfältiger zu pflegen als bisher.
Der Kaiserstaat sei jetzt unser einziger wirklich zuverlässiger Bun-
desgenosse, und es komme darauf an, daß Deutschland seine „rela-
tive politische Isolierung“ den Österreichern möglichst wenig zu
erkennen gebe3 4. Für seinen Besuch, den Kaiser Wilhelm II. am 6.
und 7. Juni 1906 in Wien machte, empfahl der Kanzler dem Kaiser,
sich über die deutsch-englischen Beziehungen optimistisch zu äußern,
die inneren Verhältnisse in Österreich und Ungarn aber gar nicht zu
berühren, da sie so sehr unklar und verfahren seien.
Der Besuch des deutschen Kaisers in Wien verlief zu voller
Zufriedenheit. Kaiser Franz Joseph betonte die Notwendigkeit, die
Italiener im Dreibunde festzuhalten, da sie sonst Österreich sehr
unbequem werden könnten. Diesem Gedanken entsprach auch ein
gemeinsames Telegramm der beiden Kaiser an den König von Ita-
lien, über das besonders Graf Goluchowski sehr erfreut war, denn
nach seiner Meinung gab es zwischen Österreich und Italien nur
zwei Möglichkeiten, Bündnis oder Krieg Italiens Verhalten in
1 Gr. Pol. Nr. 7149.
2 Gr. Pol. Nr. 7150.
3 Gr. Pol. Nr. 7154.
4 Gr. Pol. Nr. 7155.
245
Deutschlands Vereinsamung-, 1902—1914
Algeciras aber hatte den deutschen Botschafter Grafen Monts so
verstimmt, daß er das deutsch-italienische Bündnis als positiv un-
fruchtbar bezeichnete, da an eine aktive Hilfe Italiens im Kriegs-
fälle nicht zu denken sei; wie weit aber die diplomatische Hilfe
Italiens reiche, habe der Marokkozwischenfall erwiesen. Vielleicht
müsse man den Dreibundvertrag ändern, wenn es nicht vorzuziehen
sei, eine Verbindung ganz zu lösen, die Italien ungleich größere
Vorteile biete als den Mittelmächten1. In Berlin machte man sich in-
dessen diese scharfe Auffassung nicht zu eigen. Staatssekretär
v. Tschirschky stellte vielmehr bei seinen Besuchen in Wien und
Rom im Oktober 1906 die Verlängerung des Dreibundvertrages für
1907 in unveränderter Form sicher1 2.
Die politische Spannung Europas hatte zu Anfang des Jahres
1906 einen hohen Grad erreicht und vielfach militärische Erwä-
gungen und Maßregeln ausgelöst. Überall herrschte eine nervöse
Stimmung. So sprach man anfangs Januar von einer Probemobil-
machung der französischen Truppen gegenüber der deutschen
Grenze. Der Generalstabschef, General v. Moltke, glaubte aber nicht
an offensive Absichten der Franzosen3 4. Militärische Vorbereitungen
wurden damals auch in England getroffen und erweiterten sich
bald zu einer neuen Organisation des ganzen Armeewesens. Lord
Haldane hat selbst zugegeben, daß er von seinem Amtsantritt als
Staatssekretär des Krieges von Dezember 1905 an sein Möglichstes
dafür getan habe, um England militärisch für alle Möglichkeiten
vorzubereiten. In diesen Zusammenhang müssen auch die franzö-
sisch-englischen Generalstabsbesprechungen und die englischen Ver-
suche eingereiht werden, Näheres über die belgischen Absichten für
den Fall einer Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutsch-
land zu erfahren und auf die Steigerung der belgischen Abwehr-
mittel einen Einfluß zu gewinnen. Die durch unsere Veröffent-
lichungen über die Conventions-anglo-belges zu allgemeiner Kennt-
nis gelangten Besprechungen zwischen dem englischen Militär-
attache Bamardiston und dem belgischen Generalstabschef General
Ducarne begannen Mitte Januar 1906, also kurz vor Beginn der Kon-
ferenz von Algeciras, und endeten im April4.
Wie man damals militärischerseits über Englands Verhalten in
einem Zukunftskriege dachte, geht aus einem Berichte des deutschen
Militärattaches in London, Rittmeisters Grafen v. der Schulenburg,
deutlich hervor. Schulenbürg rechnete bestimmt mit einer Beteili-
gung Englands an einem deutsch-französischen Kriege. Ganz Eng-
1 Gr. Pol. Nr. 7156—7158.
2 Die stillschweigende Erneuerung des vierten Dreibundvertrages ist am 8. Juli
1907 erfolgt.
3 Gr. Pol. Nr. 6937—6942.
4 Siehe o. S. 21, Anm. 2.
246
Das Jahr 1906
land werde sich dann auf Frankreichs Seite stellen, und die öffent-
liche Meinung werde voraussichtlich England dazu treiben, „den
Krieg zu Wasser und zu Lande mitzumachen, um Deutschland nach
Möglichkeit zu schwächen, seine Flotte zu vernichten und seinen
Welthandel wieder an sich zu reißen1.“
Schulenburg rechnete in einem solchen Falle bestimmt mit der
Landung einer englischen Armee, voraussichtlich in Belgien.
Am 23. Februar 1906 äußerte sich General v. Moltke in
einem Berichte an den Reichskanzler über die voraussichtliche Hal-
tung Englands in einem Zukunftskriege und in diesem Zusammen-
hänge auch über das Problem der Verletzung der belgischen Neu-
tralität. Eine etwaige Festsetzung Deutschlands an der belgisch-
holländischen Küste bedeute eine beständige Invasionsgefahr für
England, und die Selbsterhaltung Englands verlange daher sein Ein-
greifen in einen kontinentalen Krieg. Die Heranführung der eng-
lischen Landarmee sei für den Fall, daß die deutsche Flotte nicht
vorher vernichtet sei, nach der belgischen oder holländischen Küste,
sonst nach der jütischen oder schleswigschen Küste geplant1 2. Die
Teilnahme einer englischen Militärmission unter General French an
den französischen Manövern 1906, an denen übrigens auch der bel-
gische Generalstabschef Ducarne teilgenommen hat, bestärkte die
deutschen Staatsmänner in der Überzeugung, daß bei diesem Anlasse
ein englisch-französisch-belgisches Einvernehmen über eine gemein-
same kriegerische Aktion gegen Deutschland herbeigeführt worden
sei. Unklar blieb man sich aber darüber, ob ein solches Zusammen-
wirken nur für den Fall verabredet worden sei, daß Deutschland
die belgische Neutralität verletzte. Was Belgien selbst anbetrifft,
so ist es anscheinend über diese Linie nicht hinausgegangen.
Als im September 1906 Einest Judet im „Eclair“ zehn Artikel
über die englisch-französische Entente und ihre militärische Aus-
gestaltung erscheinen ließ, erregten diese Aufsätze zwar großes
Aufsehen, wurden aber in der Presse absolut totgeschwiegen, die
sich offenbar damals einer von der Regierung ausgegebenen Parole
sofort gefügt hat. In England sprach Haldane dem Gerüchte, das
die Teilnahme des Generals French an den französischen Manövern
mit einer englisch-französischen Militärkonvention in Verbindung
brachte, jede Glaubwürdigkeit ab; in Paris aber leugnete man nicht,
daß militärtechnische Unterredungen zwischen French und den fran-
zösischen Generalen stattgefunden hätten3. Etwas Sicheres konnte
man aus Paris nicht erfahren. Aufsehen erregte aber, daß Clemen-
ceau am 20. November 1906 auf eine Anfrage nach dem Bestehen
1 Qr. Pol. Nr. 6946. (Bericht vom 31. Januar 1906.)
2 Qr. Pol. Nr. 7226.
3 Qr. Pol. Nr. 7227—7231.
247
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
einer anglo-französischen Militärkonvention eine ganz ausweichende
Antwort gab1.
Nach deutscher Auffassung bildete die Persönlichkeit Clemen-
ceaus, der in dem seit 13. März 1906 gebildeten Kabinett Sarrien
Minister des Innern gewesen war und am 18. Oktober 1906 selbst
das Amt als Ministerpräsident übernahm, eine Gefahr für den Welt-
frieden. Korrekte deutsch-französische Beziehungen erschienen nun
als das Höchstmaß des Erreichbaren. Im Kabinett spielte Clemen-
ceau von vornherein die maßgebende Rolle. „Daß er der eigentliche
Minister des Äußeren und der eigentliche Kriegsminister ist, ist
sicher“, berichtete Fürst Radolin am 31. Oktober 19061 2.
Eine neue Phase der deutsch-französischen Beziehungen wurde
gegen Ende des Jahres durch die Ernennung Jules Cambons zum
Berliner Botschafter eingeleitet. Dem Kaiser war die Wahl Cambons,
der bis dahin Botschafter in Madrid gewesen war, nicht sympa-
thisch, da er von der Tatsache, daß sein Bruder, Paul Cambon,
Botschafter in London war, ein unerwünschtes Zusammenspiel be-
fürchtete; er fügte sich aber in diese Ernennung und erteilte Jules
Cambon das Agrement3.
Die deutsch-französischen Beziehungen wurden naturgemäß
durch die weitere Entwicklung der marokkanischen Dinge stark be-
einflußt. In den maßgebenden Kreisen Marokkos galt Frankreich
als endgültiger Sieger von Algeciras, und nur mit Mühe konnte der
deutsche Gesandte Rosen dem Gedanken Eingang verschaffen, daß
die Konferenz doch auch einen recht erheblichen Faktor der Inter-
nationalisierung Marokkos bedeute. Er hatte sich immer gegen
den Argwohn der Franzosen zu verteidigen, als wolle er die deut-
sche Regierung zu einer unnachgiebigen Haltung drängen und be-
sondere Vorteile für Deutschland herausschlagen. Schließlich erbat
er Weisung, ob er in Zukunft jede Reibung mit den Franzosen ver-
meiden, oder ob er „durch gelegentliche Rückzugsgefechte das Auf-
geben der deutschen politischen Stellung in Marokko zu maskieren“
habe4. Der Wunsch Kaiser Wilhelms II. war es jedenfalls, Frank-
reich hiefort in Marokko ruhig gewähren zu lassen5.
Iswolski und Aehrenthal
Während des Jahres 1906 betraten zwei Persönlichkeiten die
politische Bühne, die für die Gestaltung der Beziehungen zwischen
den europäischen Großmächten bestimmend geworden sind.
1 Gr. Pol. Nr. 7232, 7233.
2 Gr. Pol. Nr. 7239.
3 Gr. Pol. Nr. 7240—7242.
4 Gr. Pol. Nr. 7276—7300.
6 Gr. Pol. Nr. 7293.
248
Iswolski und Aehrenthal
Am 12. Mai ernannte der Zar Iswolski zum Minister des Äußern.
Seitens der deutschen Diplomaten wurde er ganz verschieden be-
urteilt, beifällig vom Botschafter v. Schoen, der ihn von Kopen-
hagen her kannte und von ihm eine sorgfältige Pflege der deutsch-
russischen Beziehungen erwartete. Frhr. v. Aehrenthal, damals noch
Vertreter der Donaumonarchie in Petersburg, erhoffte von seiner Er-
nennung eine Wiederbelebung des Drei-Kaiser-Gedankens1. Als
Iswolski Ende Oktober 1906 in Berlin weilte, wo er auch von
Kaiser Wilhelm II. in Audienz empfangen wurde, vertrat er noch
einen durchaus deutschfreundlichen Standpunkt, sprach sich über
die russisch-englischen Pläne bezüglich Persiens offen aus und teilte
auch mit, daß er der Einladung zu einem Besuche in London aus
dem Wege gegangen sei1 2.
Wenige Tage vorher, am 24. Oktober 1906, war Aehrenthal an
Stelle des Grafen Goluchowski zum Minister der Auswärtigen An-
gelegenheiten ernannt worden. Er griff sofort seinen Lieblings-
gedanken einer festeren Gestaltung des Verhältnisses der drei
Kaisermächte mit Lebhaftigkeit auf. So brachte er bei Überreichung
seines Abberufungsschreibens in Petersburg zum Ausdruck, daß er
mit treuem Festhalten am Dreibunde eine aufrichtige Freundschaft
für Rußland verbinde, und benutzte die Gelegenheit, sich mit Is-
wolski über die Fortführung des Mürzsteger Programms3 gründ-
lich auszusprechen. Der Gedanke einer gewissen Annäherung an
Österreich war in den ersten Regierungswochen Iswolskis unver-
kennbar und kam auch in der Herzlichkeit des Empfanges zum Aus-
druck, den der Zar dem neuen Botschafter in Petersburg, Grafen
Berchtold, zuteil werden ließ4. Als Aehrenthal am 14. und 15.No-
vember 1906 in Berlin weilte, bekundete er dem Reichskanzler
Fürsten Bülow gegenüber allerdings bereits ein gewisses Mißtrauen
gegen Iswolski. Auch bei dieser Gelegenheit ließ er den Drei-
Kaiser-Gedanken lebhaft anklingen. Die Verschlechterung der Be-
ziehungen zwischen Österreich und Serbien, die im Sommer 1906
fast zu einem Zollkriege führte, beunruhigte Iswolski, so daß er
Aehrenthal darauf aufmerksam machte, ein scharfes Vorgehen Öster-
reichs gegen Serbien würde von der russischen öffentlichen Meinung
vielleicht mit Unmut betrachtet werden. Iswolski suchte daher in
Belgrad beruhigend zu wirken5.
1 Gr. Pol. Nr. 7357.
2 Gr. Pol. Nr. 7364.
3 Siehe o. S. 209.
4 Gr. Pol. Nr. 7372.
8 Gr. Pol. Nr. 7370. Bericht des Botschafters v. Schoen. Petersburg, 14. Novem-
ber 1906.
249
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Die Vorbereitung der Zweiten Haager Friedens-
konferenz
Schon im September 1905 hatte Rußland Einladungen zur
Zweiten Haager Friedenskonferenz ergehen lassen und damit den
von den Vereinigten Staaten schon seit Herbst 1904 geförderten
Gedanken einer Wiederholung der Haager Konferenz der Verwirk-
lichung entgegengeführt. Ein russischer Schriftsatz, der in Berlin
anfangs April 1906 überreicht wurde1, machte nähere Mitteilungen
über die zu behandelnden Fragen. Neben den Gesetzen und Ge-
bräuchen des Landkrieges sollte auch die Seekriegführung erörtert
werden, und man kündigte bereits an, daß die bevorstehende Kon-
ferenz vielleicht zu einer allgemeinen Einschränkung der Rüstungen
führen könne. Auch eine vom 23.—25. Juli 1906 in London statt-
findende interparlamentarische Konferenz setzte sich nachdrücklich
für den Abrüstungs- und Schiedsgerichtsgedanken ein. Dem Plane,
Berlin zum Sitz der Konferenz zu machen, stimmte der Reichs-
kanzler in Anlehnung an einen Bericht des Botschafters Grafen
Metternich vom 2. August 1906 zu1 2. Nach seiner Ansicht mußte eine
solche Konferenz Deutschlands internationale Stellung erleichtern:
„Jetzt liegt die Situation so, daß man uns für reaktionär, rauf-
lustig und eroberungslüstern hält (bzw. mit einem Anschein von
Berechtigung ausgibt), während wir in Wirklichkeit eine sehr fried-
liche Politik machen. Andere Mächte, welche weniger friedlich und
enthaltsam sind als wir, wissen sich dagegen geschickt in den
Mantel moderner, humaner und liberaler Anschauung zu drapieren.
Dieses unsere Stellung schwächende, unsere Politik lähmende und
selbst unsere Rüstungen hemmende Mißverhältnis würde aufhören,
wenn wir eine interparlamentarische Konferenz in Berlin unter
freundlicher Haltung der kaiserlichen Regierung und Seiner Majestät
des Kaisers zu einer solchen abhalten ließen3.“
Kaiser Wilhelm II. sah sich vor eine wichtige Entscheidung ge-
stellt. Seiner Meinung nach war es England bei der Vorbringung
der Abrüstungsfrage im Haag nicht so sehr um eine Verminderung
der Marinerüstungen als vielmehr darum zu tun, näheres über die
deutschen Flottenpläne zu erfahren. Da er nicht die Absicht hatte,
sich in den Ausbau der deutschen Flotte hineinreden zu lassen,
faßte er den Entschluß, die neue Konferenz nur zu beschicken, wenn
die Abrüstungsfrage ganz ausgeschaltet bleibe. Einige Monate später,
im Dezember 1906, ließ er aber seinen Widerspruch unter der Vor-
aussetzung fallen, daß auf dem Kongreß keine Angriffe gegen die
1 Gr. Pol. Nr. 7802.
2 Gr. Pol. Nr. 7811.
3 Gr. Pol. Nr. 7812.
250
Die Vorbereitung der 2. Haager Friedenskonferenz
preußische Armee oder die deutsche Marine erhoben werden dürften.
So ist es denn tatsächlich zwei Jahre später, vom 17.—19. September
1908, zu einer interparlamentarischen Konferenz in Berlin gekom-
men, die im Namen der kaiserlichen Regierung durch den Fürsten
Bülow amtlich begrüßt wurde.
Vom November 1906 an trat in England und Deutschland die
Frage des Baues von Dreadnoughts in den Vordergrund des Inter-
esses. Man hatte in England bestimmt damit gerechnet, daß die
hohen Kosten, die Abmessungen des Kaiser-Wilhelm-Kanals und der
deutschen Docks Deutschland davon abhalten würden, England
im Bau von Dreadnoughts nachzufolgen. Um so größer war die Ent-
täuschung, als Deutschland trotz aller Schwierigkeiten Schiffe von
gleicher Stärke zu bauen sich entschloß1. Auf eine Anregung des
Präsidenten Roosevelt, den Bau von Dreadnoughts auf der nächsten
Haager Konferenz verbieten zu lassen, ging der Kaiser nicht ein1 2.
Er ließ dem Präsidenten sagen, hierfür sei zunächst die Zustimmung
von England und Japan erforderlich, da diese Mächte im Bau von
Schlachtschiffen am weitesten vorgeschritten seien.
Auch während eines Besuches, den König Eduard VII. seinem
kaiserlichen Neffen im Schloß Friedrichshof im Taunus am 15.
und 16. August 1906 abstattete, war viel von der bevorstehenden
Haager Konferenz die Rede gewesen. König Eduard hatte sie
als Humbug bezeichnet; sie sei nicht nur unnütz, da sich im Ernst-
fälle doch niemand an ihre Beschlüsse halten würde, sondern ge-
radezu gefährlich. Der Kaiser regte an, daß Deutschland und Eng-
land sich für den Fall des Zustandekommens der Konferenz über
einige Hauptfragen, vor allem über die maritimen, vorher verstän-
digen möchten. Das englische Kabinett hat dieser Anregung aber
keine Folge gegeben. Nachdrücklich hat der Kaiser damals seinen
Wunsch nach intimeren Beziehungen zwischen den beiden Ländern
bekundet und jede aggressive Tendenz des Flottenbaues in Abrede
gestellt3.
Das Jahr 1907
Schon in seiner Reichstagsrede vom 15. November 1906 hatte
Fürst Bülow von einer „Einkreisung“ gesprochen und die Hoffnung
ausgedrückt, die englisch-französische Entente werde sich als ein
Bündnis friedlichen Charakters erweisen und gute Beziehungen bei-
der Mächte zu Deutschland nicht ausschließen. „Sollte dies jedoch
nicht der Fall sein, sollte man versuchen, uns einzukreisen, zu iso-
lieren und lahmzulegen, dann allerdings werde ein solcher Druck mit
1 Gr. Pol. Nr. 7769—7778.
2 Gr. Pol. Nr. 7817—7822.
3 Gr. Pol. Nr. 7815.
251
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Notwendigkeit Gegendruck hervorrufen und die Gefahr einer Ex-
plosion heraufbeschwören1.“
Das Jahr 1907 stellte diejenige Entwicklung, die wir seitdem
als die Einkreisungspolitik König Eduards VII. zu betrachten ge-
wöhnt sind, hell vor aller Augen. Den geschickten Meisterhänden
des englischen Königs gelang es zunächst, bei den Zusammenkünften
des Monarchen mit anderen Staatslenkern und Persönlichkeiten von
politischem Einfluß Gegensätze auszugleichen, Ententen anzubah-
nen und zum Abschluß zu bringen, die sich alle um Deutschland
herum, aber ohne Deutschlands unmittelbare Beteiligung vollzogen.
Schon im Jahre 1907 tritt die Weltvereinsamung, in die Deutschland
mit seiner Politik seit Abgang des Fürsten Bismarck geraten war,
grell in Erscheinung. Alles, was während dieses Jahres deutscher-
seits geschah, ist mehr oder weniger als Abwehr gegen die sich
vollziehende Einkreisung aufzufassen. Eigene bestimmende Merk-
male fehlten der deutschen Politik damals durchaus. Weiterfristung
des Bestehenden, allmählicher Abbau der durch die bisherige Ma-
rokkopolitik verschärften Gegensätze, Abwarten des Kommenden,
ohne die innere Unruhe allzu deutlich hervortreten zu lassen, das
ungefähr ist das Bild der deutschen Politik im Jahre 1907 und auch
noch darüber hinaus. Die politische Initiative war auf die Gegen-
seite übergegangen.
Zeichnen wir zunächst in großen Zügen die tatsächlichen Er-
eignisse.
Die deutsch-französischen Beziehungen besserten sich ein wenig.
Clemenceau zeigte ein gewisses Entgegenkommen1 2, und Jules Cam-
bon trat seinen Posten als Botschafter in Berlin mit der Erklärung
an, an der Beseitigung der noch vorhandenen Reibungsflächen zwi-
schen Frankreich und Deutschland und an der Schaffung der Grund-
lage zu einem engeren und intimeren Einverständnis arbeiten zu
wollen3. Kaiser Wilhelm II. ließ aber keinen Zweifel daran, daß
er mit der von Holstein durchgesetzten Marokkopolitik des vorigen
Jahres durchaus nicht einverstanden gewesen sei. Auch nach seiner
Meinung hatte die Algeciraskonferenz eine Verständigung zwischen
Frankreich und Deutschland einleiten sollen4.
Das Zusammentreffen König Eduards VII. mit dem Könige von
Spanien bei Cartagena am 8. und 9. April, mit dem Könige von
Italien in Gaeta am 18. April 1907, nachdem das englische Königspaar
bereits im Februar des Jahres in Paris geweilt hatte, erregten mit
Recht die Aufmerksamkeit der politischen Welt. Kurz vorher hatte
1 Hier zitiert nach Erich Brandenburg: „Von Bismarck zum Weltkriege“.
2. Auflage, S.231.
2 Gr. Pol. Nr. 7246.
3 Gr. Pol. Nr. 7254.
4 Gr. Pol. Nr. 7252.
252
Das Jahr 1907
sich die Lage in Marokko durch die Ermordung des französischen
Arztes Dr. Mauchamp und durch die daraufhin gestellten fran-
zösischen Sühneforderungen wieder verschärft1. Nun erfolgte Schlag
auf Schlag zunächst am 16. Mai der englisch-französisch-spanische
Notenaustausch über die Erhaltung des Status quo im Mittelmeer,
der nach der Auffassung Kaiser Wilhelms II. durch das Freiwerden
der englischen Mittelmeerflotte gewissermaßen seine Spitze gegen
Deutschland richtete, eine Auffassung, die durch das Verhalten der
französischen Diplomatie zweifellos genährt wurde1 2. Am 10. Juni
wurde ein Abkommen zwischen Frankreich und Japan unterzeichnet,
und zwar mit Vorwissen und unter Billigung Rußlands, das beide
Mächte verpflichtete, „sich gegenseitig zu unterstützen, um den
Frieden und die Sicherheit in jenen Gegenden (Ostasien) sicherzu-
stellen, im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der gegenseitigen
Lage und der Territorialrechte beider vertragschließenden Parteien
auf dem asiatischen Festlande“. Auch dieses Abkommen hatte eine
unverkennbare Spitze gegen Deutschland und zugleich gegen Ame-
rika; es zielte darauf ab, diese beiden Mächte in Ostasien möglichst
auszuschalten.
Größere Bedeutung noch hatte das russisch-japanische Ab-
kommen vom 30. Juli, da es die letzten Gegensätze zwischen den
alten Kriegsgegnern beseitigte. Iswolski selbst teilte dem Botschafter
v. Schoen den Abschluß dieses Abkommens tags darauf streng ver-
traulich mit. Er legte gerade auf dieses Abkommen, ebenso wie auf
die französisch-japanische Verständigung, den größten Wert, da er
die japanische Gefahr für Rußland übertrieben hoch einschätzte.
Man sprach damals in der Presse viel von einer gegen
Deutschland gerichteten Koalition zwischen England, Japan, Frank-
reich und Rußland. Darauf angesprochen hatte Iswolski dem deut-
schen Botschafter zugegeben, daß auch der englisch-französisch-
spanische Notenaustausch vom 16. Mai 1907 über die Aufrechterhal-
tung des Status quo im Mittelmeer ihm als „ein Glied in einer von
England geschmiedeten, für Deutschland nicht erfreulichen Kette“
erscheine3; er halte ein derartiges Abkommen nicht für nützlich
und werde die Hand zu ähnlichen Abmachungen nicht bieten. Die
dem Abschluß nahe Verständigung Rußlands mit Japan und Eng-
land habe einen ganz anderen Charakter, da sie sich auf ganz be-
stimmte, scharf umgrenzte Fragen und Gebiete und auf die Be-
seitigung von Reibungsflächen beziehe. Diese Abkommen hätten
keinerlei Spitze gegen irgendeine andere Macht, am wenigsten gegen
Deutschland4.
1 Or. Pol. Nr. 7320—7326.
2 Qr. Pol. Nr. 7256.
2 Or. Pol. Nr. 8543.
4 Gr. Pol. Nr. 8544.
253
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
An einer Verständigung Englands mit Rußland war englischer-
seits schon seit Ende 1905 gearbeitet worden. Rußland zeigte an-
fangs eine gewisse Zurückhaltung, vom Herbst 1906 an aber steu-
erte das russische Außenministerium mehr und mehr in das eng-
lische Fahrwasser. „Nette Aussichten!“, vermerkte der Kaiser zu
einem Berichte des Geschäftsträgers v. Miquel aus Petersburg vom
19. September 19061. „Man kann also in Zukunft mit der Alliance
franco-russe, Entente cordiale franco-anglaise und Entente anglo-
russe rechnen, mit Spanien, Italien, Portugal als Anhängsel dazu im
zweiten Treffen!“ Die Verhandlungen schritten aber nur langsam
vorwärts, da Iswolski zeitweilig die in Ausführung des Friedens-
vertrages von Portsmouth notwendig werdenden Verhandlungen mit
Japan als Hindernis für die Weiterführung der mit England in
Angriff genommenen Fragen vorschob. Deutschland hat nichts ge-
tan, um dem Ausgleiche entgegenzuwirken, auch nicht anläßlich der
Zusammenkunft der Kaiser von Deutschland und Rußland in Swine-
münde vom 3.—6. August 1907. Iswolski wurde bei dieser Gelegen-
heit vom deutschen Kaiser sehr zuvorkommend behandelt. Hinsicht-
lich des bevorstehenden Abkommens mit England sagte Iswolski
nur, daß es sich lediglich auf Tibet, Afghanistan und Persien be-
ziehen werde1 2.
Die englisch-russische Vereinbarung über Ostasien
erfolgte am 31. August. Beide Länder einigten sich über ihre Inter-
essengebiete, wobei Persien hauptsächlich für Rußland, Afghanistan für
England bestimmt, Tibet aber von beiden Mächten als Teil des chine-
sischen Reiches anerkannt wurde. Fürst Bülow ließ daraufhin sofort
der deutschen Presse den Wunsch mitteilen, das Abkommen ruhig
und sachlich zu besprechen und es nicht etwa zu einer englisch-
russischen Allianz aufzubauschen oder ohne Not als Verletzung
deutscher Interessen hinzustellen3. Nach dem Urteil des Geschäfts-
trägers v. Miquel4 lag die Bedeutung des neuen Abkommens nicht
so sehr in Asien, sondern vielmehr in Europa, wo sich seine Folgen
auf längere Zeit hinaus bemerkbar machen dürften. „Dieser Zweck
dürfte England vor allem den dringenden Wunsch nach einer freund-
schaftlichen Abrechnung nahegelegt haben. Der englische Einfluß
muß in Europa steigen, nachdem die Reibungsflächen mit Ruß-
land beseitigt sind.“ Diesem Urteil stimmte der Kaiser durchaus
bei und äußerte die Befürchtung, daß England uns in Europa nun
noch unangenehmer werden würde als bisher.
Eine unmittelbare Auswirkung des Abkommens schien im Ok-
tober 1907 die Reise des englischen Generalissimus Sir John French
1 Or. Pol. Nr. 8518.
2 Gr. Pol. Nr. 7378.
3 Gr. Pol. Nr. 8534.
4 Petersburg, 25. September 1907. Gr. Pol. Nr. 8536.
254
Das Jahr 1907
zu sein, die in Berlin große Beunruhigung auslöste. „Die Einkrei-
sungspolitik geht weiter ihren ruhigen, unveränderlichen Gang,“ das
war das Urteil des Kaisers auf Grund dieser ihm beispiellos erschei-
nenden Entsendung eines englischen Generals nach Petersburg1. Es
war wohl in der Hauptsache der Ausfluß einer verzweifelten Stim-
mung gegenüber der fortschreitenden Einkreisung, wenn im Herbst
1907 auf deutscher Seite eine Entente zwischen Deutschland, den
Vereinigten Staaten und China erörtert wurde. Vielleicht spielte da-
bei die Hoffnung mit, Rußland von der japanisch-französisch-eng-
lischen Gruppe loslösen und unter gewissen Voraussetzungen an die
deutsch-amerikanisch-chinesische Gruppe heranziehen zu können.
Deutschlands Hoffnung, Amerika würde sich mit Deutschland und
China verständigen, wurde durch die anfangs Dezember 1908 ein-
gehende Nachricht eines zwischen Japan und den Vereinigten Staaten
abgeschlossenen Abkommens vom 1. Dezember 1908, wie hier gleich
vorgreifend bemerkt werden mag, grausam enttäuscht.
Deutschland mußte nunmehr alle Anstrengungen darauf richten,
den Dreibund in möglichster Stärke zu erhalten. In Marokko, wo
Ende Juli 1907 die Ermordung mehrerer Europäer in Casablanca zu
neuen Weiterungen führte, legte sich daher die deutsche Politik
auf Wunsch Kaiser Wilhelms II. große Zurückhaltung auf, um die
Franzosen nicht „zu reizen oder kopfscheu zu machen1 2“. „Wir legen
dem Vorgehen der Franzosen in Marokko keine Hindernisse in den
Weg,“ bemerkte Bülow zu einem Berichte des deutschen Geschäfts-
trägers in Paris, Frhr. v. der Lancken, vom 2. September 19073;
„unser Verhalten ist freundschaftlich und loyal. Voraussetzung ist
dabei, daß die Franzosen im Rahmen von Algeciras bleiben und für
den Ersatz der Verluste sorgen, die deutsche Staatsangehörige er-
leiden.“ Die Entwicklung der Dinge in Marokko führte aber infolge
der Ausrufung Mulay Hafids an Stelle seines Bruders Abdul Asis
zum Sultan im August 1907 in der weiteren Folge doch wieder zu
einer Verschlechterung der deutsch-französischen Beziehungen.
Die Zweite Haager Friedenskonferenz
Die Zweite Haager Friedenskonferenz hatte eine lange und
peinliche Vorgeschichte4. Besonders beunruhigend wirkte von vorn-
herein der von England stark betonte Wunsch, die Abrüstungs-
frage auf der Konferenz zu erörtern. Als König Eduard VII. am 15.
und 16. August 1906 mit seinem kaiserlichen Neffen im Schlosse
Friedrichshof die bevorstehende Konferenz besprach, verurteilte auch
1 Gr. Pol. Nr. 853S.
3 Gr. Pol. Nr. 8282.
3 Gr. Pol. Nr. 8293.
4 Vgl. o. S. 240 und 250.
255
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
er sie als „Humbug“, während Kaiser Wilhelm II. seine volle Über-
zeugung bekundete, daß die Konferenz besser unterbleiben würde1.
Sie konnte, wie der Kaiser zu Sir Frank Lascelles sagte, eine Quelle
gefährlichster Art für Trübungen und Reibungen werden.
Vom Standpunkte der deutschen Politik aus schien es wichtig,
daß die Großmächte sich über die zu behandelnden Fragen schon
vorher einigten. Hierbei ergab sich im Verlaufe des Frühjahres 1907,
daß auch Deutschland bereit war, sich der akademischen Bespre-
chung der Rüstungsbeschränkung nicht zu widersetzen, voraus-
gesetzt, daß sich die Mächte zuvor über die Form und die Grenzen
der Diskussion verständigten1 2. England jedenfalls zeigte sich fest
entschlossen, die Abrüstungsfrage aufzuwerfen, und Iswolski er-
klärte es als unmöglich, England die Erörterung dieses Punktes auf
der Konferenz zu verwehren. Da auch Aehrenthal bedenklich wurde,
drohte für Deutschland die Gefahr, auf der Konferenz ganz ver-
einsamt dazustehen3, zumal auch Italien für eine Zulassung der
Abrüstungsfrage eintrat4. Schließlich legte Fürst Bülow am 30. April
in seiner großen Reichstagsrede dar, warum sich Deutschland von
einer Erörterung der Abrüstungsfrage nichts verspreche. Danach
wollte sich Deutschland an einer nach seiner Überzeugung „wenn
nicht bedenklichen, so doch unpraktischen Diskussion“ nicht be-
teiligen, ohne aber diese Auffassung anderen aufzwingen zu wollen;
komme bei der Erörterung etwas Praktisches heraus, so werde man
in Deutschland gewissenhaft prüfen, ob es dem Schutze des Friedens,
den nationalen Interessen und der besonderen Lage Deutschlands
entspreche5.
Die Konferenz begann am 15. Juni und schloß erst am 18. Ok-
tober 1907. Über ihren Verlauf hat Deutschlands Hauptdelegierter,
der von Konstantinopel herbeigeholte Botschafter Frhr. v. Marschall,
eine Reihe wertvoller Berichte erstattet, die weit über den politischen
Inhalt der damaligen Verhandlungen hinaus uns ein anschauliches
Bild der Vorgänge vermitteln6. Die Konferenz war in vier Kommis-
sionen eingeteilt, deren erste unter dem Vorsitze des früheren Mini-
sters des Äußern Bourgeois sich mit dem Ausbau des internationalen
Schiedswesens befaßte. Die zweite Kommission behandelte das
Landkriegsrecht; als deutsches Mitglied gehörte ihr Generalmajor
v. Gündell an. Das Seekriegsrecht wurde in der dritten, das See-
beuterecht in der vierten Kommission behandelt.
1 Gr. Pol. Nr. 7815.
2 Gr. Pol. Nr. 7872.
3 Gr. Pol. Nr. 7901.
4 Gr. Pol. Nr. 7912.
5 Gr. Pol. Nr. 7930.
6 Gr. Pol. Nr. 7959, 7961, 7963—7965. Außerdem liegt eine große Zahl von
Einzelberichten vor.
256
Die Zweite Haager Friedenskonferenz
Für die deutschen Delegierten waren im Auswärtigen Amte
sorgfältige Vorarbeiten hergestellt worden1. Unter allen Umständen
wollte man den Versuch vereiteln, Deutschland in der Abrüstungs-
frage zu isolieren und in den Augen der Welt als Friedensstörer er-
scheinen zu lassen. Der englische Abrüstungsantrag wurde am
17. August 1907 abgelehnt1 2, der Weltschiedsvertrag am 7. Oktober
19073. Bei den Erörterungen des Seekriegsrechtes und der Kriegs-
kontrebande wurde eine endgültige Einigung nicht erzielt, da Eng-
land das geltende Seebeuterecht dem einseitig national-englischen
Bedürfnis entsprechend umzugestalten und diejenigen Staaten, die
ehemals für die völlige Abschaffung des Begriffs der Kontrebande
gestimmt hatten, zu einer Sondererörterung zu veranlassen suchte4.
In welchem Geiste England seine Interessen damals wahrnahm,
ergab sich klar aus einer Rede Sir Edward Greys anfangs Februar
1908. Danach hatten die Instruktionen der englischen Vertreter im
Haag dahin gelautet, daß sie unter richtiger Einschätzung der Ab-
hängigkeit Englands von der Seeherrschaft ihre Zustimmung zu
allen Anträgen verweigern sollten, die eine Schwächung der Offen-
sivkraft der englischen Flotten bezweckten. Garantierte England
dem feindlichen Privateigentum auf See seine Sicherheit, so hätte
es eine seiner Hauptoffensivwaffen gegen die Kontinentalmächte
aus der Hand gegeben5.
Die Hoffnung der Engländer, Deutschland auf dem Umwege
über die Haager Konferenz zu einer Einschränkung des deutschen
Flottenbaues zu veranlassen, ging nicht in Erfüllung. Aber auch
ein obligatorisches Schiedsgerichtsverfahren war auf der Konferenz
nicht zustande gekommen, und hierfür schob man Deutschland und
Österreich-Ungarn die Hauptverantwortung zu. „Die beiden führen-
den Dreibundmächte erschienen so der öffentlichen Meinung der
ganzen Welt gegenüber isoliert und boten ihren Feinden unbezahl-
baren Stoff zur Verhetzung. Daß die Annahme der vorgeschlagenen
Fassung irgendeinen der späteren Kriege verhindert haben würde,
können nur politische Kinder glauben. Wohl aber würde die Zu-
stimmung Deutschlands manches Mißtrauen gegen unsere feindlichen
Absichten beseitigt und den späteren Verleumdungsfeldzug gegen
uns erschwert haben6.“
Das Jahr 1907 fand noch einmal die Großmächte in gemein-
samer Arbeit vereinigt, als es nämlich galt, den norwegischen In-
1 Gr. Pol. Nr. 7958.
2 Gr. Pol. Nr. 7983, 7984.
3 Gr. Pol. Nr. 8000, 8001.
4 Gr. Pol. Nr. 8015, 8022.
5 Gr. Pol. Nr. 8023.
6 Erich Brandenburg, Von Bismarck zum Weltkriege. 2.Auflage, S.246.
17 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
257
Deutschlands Vereinsamung;. 1902—1914
tegritätsvertrag vom 2. November 1907 zu schließen1. Die Kündi-
gung der schwedisch-norwegischen Union durch Norwegen war
am 7. Juni 1905 erfolgt. Norwegen hatte nun Ende 1906 angeregt,
ob nicht seine Neutralität und Integrität von Deutschland, England,
Frankreich und Rußland garantiert werden könnten. Nach langwieri-
gen Verhandlungen einigten sich die Mächte schließlich auf den er-
wähnten Integritätsvertrag. Norwegen verpflichtete sich, keiner
Macht weder in Form des Besatzungs- noch irgendeines anderen
Verfügungsrechts irgendeinen Teil norwegischen Gebietes zu über-
lassen; die Großmächte erkannten die Unverletzbarkeit Norwegens
an und verpflichteten sich, sie zu achten. Deutschland erwies bei
den Verhandlungen, wie sehr es ihm auf eine friedliche Verständi-
gung mit England und Rußland ankam.
Nun hatte Rußland den Wunsch, den Nichtuferstaaten der
Ostsee, in erster Linie also England, die Möglichkeit zur Einmi-
schung in die Angelegenheiten der Ostsee zu nehmen und bei dieser
Gelegenheit Rußland von den Fesseln zu befreien, die es hinsicht-
lich der Aalandsinseln in der Konvention vom 30. März 1856 hatte
auf sich nehmen müssen. Im weiteren Verlaufe der Verhandlungen
kam es schließlich am 23. April 1908 zum Abschluß sowohl eines
Ostsee- wie eines Nordseeabkommens über die Aufrechterhaltung
des Status quo in diesen Gewässern. An ersterem waren Deutsch-
land, Rußland, Schweden und Dänemark, an dem Nordseeabkommen
Deutschland, England, Frankreich, die Niederlande, Dänemark und
Schweden beteiligt. Daß England von dem baltischen Abkommen
ausgeschlossen war, wurde, wie der Geschäftsträger v. Stumm am
30. April 1908 aus London berichtete, dort vielfach als eine De-
mütigung empfunden. Zwischen Deutschland und England stand
nach wie vor die ungelöste Flottenfrage. Die stetig wachsende See-
macht Deutschlands bildete, auch nach Auffassung des anfangs
März 1907 von seiner Stellung als Marineattache abberufenen Kapi-
täns Coerper, das größte Hindernis für Englands politische Ak-
tionsfreiheit. „Das ist“, hatte er am 14. März 1907 an den Admiral
v.Tirpitz berichtet1 2, „der Kernpunkt des mangelhaften Verhältnisses
der beiden Nationen zueinander. Alle anderen häufig angeführten
Gründe — Konkurrenz im Handel, Industrie und Schiffahrt, Partei-
nahme im Transvaalkriege pp. — sind nebensächlicher Art.“
Coerper gibt bei diesem Anlasse einen guten Überblick über den
Wechsel der englischen Anschauungen hinsichtlich der deutschen
Flotte. Noch im Jahre 1898 habe man sie in England als eine quan-
tite negligeable betrachtet und es nicht für möglich gehalten, daß
Deutschland neben seiner Riesenarmee auch noch eine starke Flotte
1 Qr. Pol. Nr. 8082.
2 Gr. Pol. Nr. 7785.
258
Das Jahr 1907
erhalten könne. Das Programm von 1899, persönliche Eindrücke von
Engländern, die sie vom Ausbau der deutschen Flotte gewannen,
und die Durchführung des deutschen Flottenprogramms bewirkten
eine Änderung. In der englischen Presse und im täglichen Gespräch
wurde der Gedanke erörtert, ob man nicht der deutschen Flotten-
politik Einhalt gebieten und im Weigerungsfälle die deutsche Flotte
vernichten solle, ehe sie zu stark werde. Nach der Seeschlacht von
Tschusima, die den Beweis dafür erbrachte, daß es nicht das Material
allein sei, das die Schlachten gewinne, wuchs die Sorge der Eng-
länder. Man erkannte die deutsche Flotte als Machtfaktor an und
wollte mit Dreadnoughts und Invincibles das englische Übergewicht
unbestritten wieder hersteilen. Daß Deutschland auf diesem Wege
folgen könne, hielt man für ausgeschlossen.
Der Übergang zum Dreadnought-Bau mußte, wenn von diesem
Zeitpunkte ab alle älteren Typen als entwertet galten, den bisherigen
Vorsprung Englands zur See nahezu in Frage stellen, falls Deutsch-
land sich gleichfalls zum Bau von Dreadnoughts entschloß. Daher
Englands Bemühungen um die Erörterung der Abrüstung auf der
Zweiten Haager Konferenz. Die Frage des Flottenwettbewerbs
wurde zu einer Frage der Dreadnoughts1.
Mußte man nun, wie Admiral v. Tirpitz in einer Denkschrift
vom 20. April 1907 aus Anlaß der bevorstehenden Haager Konfe-
renz über die Bedeutung des Seebeuterechts2 ausgeführt hatte, in
Deutschland einen Krieg mit England in Rechnung stellen? Nach
Ansicht des Admirals v. Tirpitz wurde diese Gefahr in Deutsch-
land vielfach nicht richtig eingeschätzt. „Dieser Zustand der bestän-
digen Gefahr eines Krieges mit England, der durch irgendein poli-
tisches Vorkommnis jeden Augenblick wieder akut werden kann,
wird erst aufhören und direkt Umschlagen in den Wunsch Englands,
sich uns zu nähern, wenn unsere Flotte weiter erstarkt ist. Bis zu
diesem Punkt muß unsere Flottenentwicklung geführt werden. Über
den ganz wehrlosen Zustand, der unsere Lage in den letzten Jahren
so besonders gefährlich machte, sind wir jetzt schon heraus, und mit
jedem Jahr wird unsere Lage günstiger.“
Im Gegensätze zu Tirpitz glaubte der Botschafter Graf Metter-
nich, daß die allgemeine Beunruhigung in England mit dem Wach-
sen der deutschen Flotte zunehmen, nicht abnehmen werde. Es sei
möglich, daß aus der Zunahme der Beunruhigung in England ent-
weder schon bald oder erst im Laufe der Jahre der aggressive Ge-
danke geboren werde, zu kämpfen, ehe es zu spät sei. „Wir sind ent-
schlossen, unsere Flotte auszubauen, und müssen daher die damit
verbundene Gefahr eines Krieges mit England mit in den Kauf neh- * 3
1 Gr. Pol. Nr. 7787.
3 Gr. Pol. Nr. 8006.
17*
259
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
men. Wir müssen uns aber hüten, die Ursachen unseres Verhältnisses
zu England auf einem falschen Terrain zu suchen, und sollen ver-
suchen, den Argwohn und die Beunruhigung, welche unsere Flotte
in England erzeugt, durch die Anbahnung eines vertrauensvollen
und freundschaftlichen politischen Verhältnisses zwischen beiden
Ländern auszugleichen. Gelingt dies während der nächsten Jahre
nicht, so wird die Lage infolge der Erstarkung unserer Flotte noch
gespannter und gefährlicher werden, denn so stark wird sie auch
in zehn Jahren nicht sein, daß der Engländer sich unbedingt vor ihr
beugen muß1.“ Dieses Urteil des Grafen Metternich ist in den
kommenden Jahren durch die Tatsachen in vollstem Umfange be-
stätigt worden.
Der Besuch König Eduards VII. in Wilhelmshöhe bei Kaiser
Wilhelm II. und in Ischl bei Kaiser Franz Joseph am 15. August
bewirkte eine gewisse deutsch-englische Entspannung, wenn der po-
litische Wert dieser Begegnungen auch durch die Tatsache etwas
herabgemindert schien, daß der König am 21. August in Marienbad
mit Clemenceau und am 5. September mit Iswolski zusammentraf.
Die Besserung der Beziehungen kam auch darin zum Ausdruck, daß
England Deutschland seine Hilfe zur Verfügung stellte, um von der
Kapkolonie aus in Deutsch-Südwestafrika, wo seit Monaten gegen
die aufständischen Hereros gekämpft wurde, den Hottentottenhäupt-
ling Morenga unschädlich zu machen1 2 3.
Vom 10. bis 18. November 1907 weilte das deutsche Kaiserpaar
in England. Daran anschließend nahm Kaiser Wilhelm II. einen
dreiwöchentlichen Aufenthalt in Highcliffe-Castle. Er fühlte sich
dringend erholungsbedürftig, da ihn die äußerst peinlichen Ent-
hüllungen des Ende Oktober 1907 zum Abschluß gebrachten Pro-
zesses Moltke-Harden körperlich und seelisch stark mitgenommen
hatten. Fast hätte er sich entschlossen, die englische Reise daraufhin
zu unterlassen, ließ sich aber durch den König überreden, doch an
dem Besuche festzuhalten.
Den Kaiser begleitete auf seiner Reise der neue Staatssekretär
des Äußeren v. Schoen. Der Reichskanzler war auf Grund einiger
taktloser Ausfälle gegen ihn in der englischen Presse zurück-
geblieben.
Staatssekretär v. Schoen beurteilte die Wirkungen des Kaiser-
besuches recht optimistisch3; der Geschäftsträger in London v. Stumm
warnte aber in seinem Berichte vom 25. November 1907 vor Illu-
sionen, da einem höheren Wärmegrade in den deutsch-englischen
1 Gr. Pol. Nr. 8008.
2 Gr. Pol. Nr. 8165.
3 Aufzeichnung des Staatssekretärs v. Schoen. Berlin, 20. November 1907. Gr.
Pol. Nr. 8171.
260
Das Jahr 1907
Beziehungen bis auf weiteres immer die Rücksicht auf Frankreich
und der Ausbau der deutschen Flotte im Wege stehen würden. Ins-
besondere habe das vor einigen Tagen bekanntgewordene neue
deutsche Marineprogramm wieder starke Beunruhigung hervor-
gerufen.
Am 14. November hatte nämlich der Bundesrat die Einbrin-
gung einer neuen Flottenvorlage an den Reichstag genehmigt, wo-
nach die Lebensdauer der Linienschiffe von 25 auf 20 Jahre herab-
gesetzt und eine Verteilung der Ersatzbauten für die Jahre 1908 bis
1917 in der Weise vorgesehen wurde, daß zunächst für die Jahre
1908—1911 jährlich je drei Linienschiffe und zwei kleine Kreuzer
neu aufgelegt werden sollten. Diese Flottennovelle bedeutete zu-
gleich eine Verjüngung des Schiffsmaterials und einen wesentlichen
Zuwachs an Kampfkraft. Sofort forderte die englische Presse eine
Vergrößerung der eigenen Flotte. Der Kriegsminister Haldane ver-
langte außerdem eine Verstärkung der englischen Armee und Land-
verteidigung. Gelegentlich wurde bereits von der Einführung der all-
gemeinen Wehrpflicht gesprochen.
In einer Rede in Hüll am 18. Dezember 1907 bezog sich Haldane
ausdrücklich auf den deutschen Kaiser: „Ich glaube,“ so sagte der
Kriegsminister, „daß es keinen Mann gibt, der aufrichtiger den Frie-
den der Welt wünscht, als den Deutschen Kaiser. Seine Majestät
aber ist der Auffassung, daß der Frieden nur für den gesichert ist,
der gerüstet ist, und er vermehrt daher nicht nur die Ausgaben für
seine Flotte, sondern auch für seine Armee1.“
Deutschlands Lage bei Abschluß des Jahres 1907
Das Jahr 1907 hatte eine völlig neue Gruppierung der Groß-
mächte zum Abschluß gebracht. Dem Dreibunde stand der um
England erweiterte Zweibund gegenüber. Zwar war der Dreibund
am 8. Juli 1907 stillschweigend erneuert worden, aber es hatte sich
doch schon allzu deutlich herausgestellt, daß auf Italien im Falle
einer kriegerischen Verwicklung nur sehr bedingt gerechnet werden
durfte. Die Entwicklung der Dinge auf dem Balkan, das Schicksal
der europäischen und der asiatischen Türkei bildeten den Gegen-
stand dauernder Sorgen, da man bei der Teilung des türkischen
Erbes unbedingt mit einer feindlichen Richtung der beiden Groß-
machtgruppen rechnen mußte.
Was blieb, nachdem England den Anschluß an die Gegenseite
gefunden hatte, für die deutsche Politik noch zu tun übrig? Die:
eigene Selbsterhaltung nötigte dazu, jedes Mittel zur Stärkung des
Dreibundes zu ergreifen, und wo sich irgend die Gelegenheit dazu
bot, einen allzu engen Zusammenschluß der anderen Machtgruppe 1
1 Gr. Pol. Nr. 8175.
261
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
nicht zustande kommen zu lassen. „Wohl spähte man gelegentlich
nach anderen Bundesgenossen aus,“ so kennzeichnet Erich Branden-
burg die Lage gegen Ende des Jahres 1907 *, „aber wo waren sie
zu finden? Japan stand in nahen Beziehungen zur Entente. Die Er-
neuerung des alten Dreikaiserbündnisses mit Rußland war unter den
neuen Verhältnissen kaum denkbar, wenn auch Aehrenthal noch
immer mit diesem Gedanken kokettierte. Der Kaiser sprach ge-
legentlich von einer .Rückversicherung mit Theodore Roosevelt1 2',
aber an eine Bindung der Vereinigten Staaten zur Mitwirkung in
europäischen, vorderasiatischen oder afrikanischen Streitigkeiten war
doch im Grunde nie ernstlich zu denken. Man konnte nur versuchen,
wie Graf Monts empfahl, ein allgemeines freundschaftliches Verhält-
nis zu Amerika und womöglich auch weiterhin zu Rußland zu er-
streben. Der Erfolg war unsicher; Deutschland und Österreich stan-
den einsam inmitten von feindlichen oder wenig freundlich ge-
sinnten Mächten.“
Wie haben die französischen Senatsgutachter Bourgeois und
Pages Deutschlands Lage 1907 beurteilt? Wörtlich heißt es hier-
über in dem von Bourgeois bearbeiteten Teile des Gutachtens3:
„Wenn Deutschland sich, wie aus seinen fortgesetzten Klagen her-
vorging, durch die Bande, die in der ganzen Welt im Anschluß an
das russisch-französische Bündnis und die Entente cordiale ge-
knüpft worden waren, bedroht sah, hätte es da nicht in der Friedens-
konferenz das geeignete Werkzeug zu seiner Verteidigung gefun-
den? Es zog diesem Fetzen Papier seinen Degen vor und machte ihn
scharf. Mit seinem ,glänzenden Sekundanten', Österreich-Ungarn,
und dem minder glänzenden Dritten im Bunde, der Türkei, setzte
es seine Rüstungen fort. Ständig seine guten Absichten beteuernd,
behielt es sich die Stunde vor, wo die vom Friedenswillen der Völker
und ihren Herrschern gefesselte Kraft der Mittelmächte sich von
diesem Zwange losmachen würde, um einen Plan politischer und
wirtschaftlicher Größe zu verwirklichen, den Europa nicht annehmen
konnte, ohne in Knechtschaft zu geraten.“ Weiter behauptet Bour-
geois, die deutschen Geschichtsschreiber hätten planmäßig und in
vollem Umfange die Verschwörungen vernachlässigt, die der Kaiser
und seine Ratgeber in den Jahren von 1904 bis 1908 „in der Verfol-
gung politischer und wirtschaftlicher Interessen, die nur durch den
Krieg verwirklicht werden konnten,“ gegen den Weltfrieden an-
gezettelt hätten. Bourgeois hat diese Beschuldigung erhoben, als die
Akten des deutschen Auswärtigen Amtes noch nicht veröffentlicht
waren. Ihre objektive Prüfung ergibt, daß von planmäßigen deut-
1 Von Bismarck zum Weltkriege. 2. Auflage. S. 235.
2 17. Januar 1907. Or. Pol. Nr. 7203.
3 Die Ursachen und die Verantwortlichkeiten des Großen Krieges. Deutsche
Ausgabe, S. 321/322.
262
Deutschlands Lage Ende 1907
sehen Verschwörungen gegen den Weltfrieden durchaus nicht ge-
sprochen werden kann, daß Deutschland vielmehr der Entwicklung
der Dinge mit größter Besorgnis zugesehen hat, ohne daran etwas
Entscheidendes ändern zu können. Bei zunehmender Schwächung des
Dreibundes erwiesen sich Deutschlands Versuche zu einem näheren
Anschlüsse an Rußland als ebenso aussichtslos wie an die Ver-
einigten Staaten von Nordamerika.
Für die Vertretung des deutschen Standpunktes ist es von
hohem Werte, die Berichte der belgischen Vorkriegsdiplomaten hier-
zu zu Worte kommen zu lassen. Schon der deutsche Kronprinz hat
in seinem Buche „Ich suche die Wahrheit1!“ nachdrücklich darauf
hingewiesen, eine wie gewaltige Bedeutung diesen Berichten zu-
kommt. Sie gehören unbedingt in die Kampffront des Weltkrieges
der Dokumente, „denn sie begleiten alle diese Vorgänge ganz un-
parteiisch mit ihren Erklärungen wie der Chor in der Tragödie“.
Nur einige kurze Hinweise mögen zeigen, wie die belgischen
Diplomaten die politischen Ereignisse des Jahres 1907 beurteilt
haben.
„Wird es Eduard VII. gelingen,“ berichtete der belgische Ge-
sandte Leghait am 6. Februar 1907 nach Brüssel1 2, „alle zu über-
zeugen, daß der von ihm mit soviel Nachdruck bei der Werbung
um die Freundschaft eines starken Frankreichs verfolgte Zweck
völlig uneigennützig ist und nichts weiter im Auge hat, als die
Schaffung eines zur Aufrechterhaltung des Friedens fähigen euro-
päischen Gleichgewichtes?“ Am 9. Februar, als die englischen Ma-
jestäten Paris wieder verlassen hatten, berichtete er: „Man wird
sich nicht verhehlen dürfen, daß diese Taktik, die äußerlich den
Zweck verfolgt, den Krieg zu vermeiden, leicht in Berlin ein be-
trächtliches Unbehagen hervorrufen und den Wunsch erzeugen
kann, alles zu versuchen, um aus der Umklammerung wieder heraus-
zukommen, mit der die englische Politik Deutschland einengt.“
Strebte Deutschland nach der Weltherrschaft? Baron Greindl, der
belgische Gesandte in Berlin, war im Gegenteil der Meinung, daß
Frankreich sich ebenso wie vor 1870 in alles einmische: „Jedesmal,
wenn Frankreich sich im Laufe der Geschichte stark genug dazu
fühlte, hat es den Versuch gemacht, sich die Vorherrschaft über die
ganze Welt anzumaßen. Jetzt gibt ihm die Entente cordiale mit
England den Mut dazu3.“ Und am 18.April berichtete er4: „Wie
der Bündnisvertrag mit Japan, die Entente cordiale mit Frankreich,
die mit Rußland schwebenden Verhandlungen, so ist der Besuch
1 J. G. Cotta, Stuttgart/Berlin 1925. S. 312 u. 315.
2 Belgische Dokumente. Neue Auflage. Bd. 3, S. 178 ff.
3 Belgische Aktenstücke Nr. 27.
4 Belgische Aktenstücke Nr. 29.
263
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
des Königs von England beim Könige von Spanien1 ein Manöver
in dem von Seiner Majestät Eduard VII. persönlich mit ebensoviel
Ausdauer wie Erfolg geleiteten Feldzuge zur Isolierung Deutsch-
lands... Dieser Eifer, Mächte, die niemand bedroht, angeblich zu
Verteidigungszwecken zu einigen, kann mit vollem Rechte verdächtig
erscheinen. Man kann in Berlin das vom Könige von England Herrn
Delcasse gemachte Angebot von 100000 Mann nicht vergessen. Wir
selbst haben die seltsamen Eröffnungen des Obersten Bamardiston
an General Ducarne1 2 zu verzeichnen, und wer weiß, ob es nicht
noch andere ähnliche Intrigen gegeben hat, die nicht zu unserer
Kenntnis gekommen sind.“
Auch der belgische Gesandte in London, Graf Lalaing, stand in
seinen Urteilen auf seiten Deutschlands. „Es ist klar“, berichtete er
am 24.Mai 19073, „daß das amtliche England im stillen eine deutsch-
feindliche Politik befolgt, die auf eine Isolierung Deutschlands ab-
zielt, und daß König Eduard es nicht verschmäht hat, seinen persön-
lichen Einfluß in den Dienst dieser Idee zu stellen.“ Ganz ähnlich
berichtete Leghait am 17. Juni 1907 aus Paris4: „England bereitet sein
Gelände in bewunderungswürdiger Weise vor. Aber hat Frankreich,
das sich seiner Politik anschließt, alle nötigen Sicherheiten dafür, daß
es nicht eines Tages ihr Opfer wird? .. . Um sich augenblicklich viel-
leicht nur gegen eingebildete Gefahren zu sichern oder die Stellung
der Lenker seiner inneren Politik zu befestigen, lädt Frankreich eine
Dankesschuld auf sich, die ihm an dem Tage schwer erscheinen
wird, wo England enthüllen wird, zu welchem Zwecke es die um
sich gruppierten Kräfte benutzen will.“ Dem Brüsseler Außenmini-
sterium erschien es damals offenbar zu heikel, diese England schwer
belastenden Ausführungen des Pariser Gesandten unverkürzt an die
anderen belgischen Diplomaten weiterzugeben. Es nahm in dem Be-
richte einige Streichungen vor, ließ aber doch die Bemerkung stehen,
daß man sich fragen müsse, welches die Drohungen seien, die so
große Abwehrmittel erforderten, und es fehle nicht an Leuten, die
befürchteten, daß man durch derartige Friedenssicherungen den
Krieg heraufbeschwöre; man müsse an ein viel engeres Band als
eine Entente cordiale zwischen Frankreich und England glauben, das
geheim bleiben werde, bis die Umstände zur Bekanntgabe der Ab-
machungen nötigten. Offenbar hatte man dabei die französisch-eng-
lischen Militärabmachungen im Auge5.
Die Berichterstattung der Belgier über das Jahr 1907 klang in
der Bestätigung der Tatsache aus, daß England die Führung der
1 Siehe o. S.252.
2 Siehe o. S. 246.
3 Belgische Aktenstücke Nr. 30.
4 Belgische Aktenstücke Nr. 33.
5 Die Belgischen Dokumente. Neue Ausgabe, Bd. 3, S. 216 ff.
264
Deutschlands Lage Ende 1907
europäischen Politik übernommen habe. Den belgischen Gesandten,
nicht etwa nur dem „deutschfreundlichen“ Baron Greindl, erschien
der deutsche Kaiser nach wie vor als starker Hort des Friedens. Seine
Friedensliebe sei zweifellos echt, denn der Kaiser habe sie während
einer Regierung von neunzehn Jahren durch die Tat bewiesen. „Es
ist zu wünschen,“ berichtete Baron Greindl am 19. November 19071,
„daß der König von England von denselben Gefühlen bewegt sein
möge“.
Sache der unparteiischen Geschichtsschreibung wird es sein,
endgültig darüber zu entscheiden, ob man aus der geschilderten
Entwicklung der deutschen Politik vom Abgänge des Fürsten Bis-
marck bis zum Ende des Jahres 1907 Weltherrschaftspläne heraus-
lesen kann. Ohne dem Urteil der Geschichte vorgreifen zu wollen,
darf soviel schon heute gesagt werden, daß die Summe der uns bis
heute bekannten Dokumente einer solchen Auffassung auf das
Schärfste widerspricht.
Das Jahr 1908
Die bisherigen Darlegungen sind von der Auffassung ausgegan-
gen, daß zunächst der von Bismarck geschaffene Bau des Deutschen
Reiches an der Hand der deutschen Dokumente in voller Deutlich-
keit dargelegt werden mußte. Sodann galt es, die Entwicklung der
deutschen Politik, die Jahre der tastenden Erhaltung des Bestehen-
den, den neuen Kurs, die Politik der freien Hand und schließlich die
Weltisolierung der Mittelmächte zu schildern. In allen diesen Jahren,
von 1890 bis Ende 1907, war die deutsche Politik immer in irgend-
einem Sinne aktiv bestimmend oder wenigstens mit bestimmend.
Mit Beginn des Jahres 1908 ändert sich das von Grund auf. Der Ring
der Bündnisse und Ententen um Deutschland herum ist geschlossen,
die politische Initiative an die Gegenseite übergegangen. Deutsch-
land kämpft politisch nur noch für die Erhaltung des Dreibundes
und sucht, allen weltpolitischen Verwicklungen aus dem Wege zu
gehen. Bei einer ganz offensichtlichen und immer fortschreiten-
den Verringerung der Dreibundstärke geht Deutschland nunmehr
darauf aus, sich selbst, seine eigene Verteidigungskraft zu Lande und
zu Wasser so weit zu stärken, wie irgend möglich, um seine Gegner
von einem Waffengange abzuhalten. Damit wächst die Bedeutung
Österreich-Ungarns, des letzten sicheren Bundesgenossen, den man
nicht auch noch verlieren wollte, und der Türkei als der Besitzerin
des kleinasiatischen Gebietes, wo allein Deutschland noch hoffen
durfte, wirtschaftliche Fortschritte größeren Ausmaßes zu erzielen.
—;--------- . i
1 Die belgischen Dokumente. Neue Ausgabe. Band 3, S. 258ff.
265
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Die Schilderung der Entwicklung von 1908 bis 1914 darf daher
wesentlich kürzer gehalten sein, als es für die Jahre bis Ende 1907
möglich war.
Mit Beginn des Jahres 1908 wurde es deutlich1, daß Rußland
nach seinen schweren Niederlagen in Ostasien nunmehr seine alte
Balkanpolitik wieder aufnahm. Für Iswolski, der von jeher ein
überzeugter Vertreter einer russisch-englischen Annäherung gewesen
war, bildete das russisch-französische Bündnis die Grundlage seiner
Politik. Wollte Rußland aus der Entente cordiale vom 8. April 1904
Vorteil ziehen, so mußte es sich England nähern. „Durch die Be-
folgung einer solchen Politik mußte Rußland zugleich nicht nur
seine Stellung als Verbündeter Frankreichs verstärken, sondern auch
dem ganzen Gebäude des Zweibundes — England und Frankreich —
eine neue und feste Grundlage verleihen1 2.“
Die russische Balkanpolitik war nun aber durch die Mürzsteger
Punktationen vom 2. Oktober 19033 und in gewissem Sinne auch
durch das russisch-österreichische Neutralitätsabkommen vom 15.
Oktober 1904 bedingt4. Beide Mächte hatten ihre Absicht bekundet,
an dem bestehenden Zustande festzuhalten. Dem neuen Leiter der
österreichischen Politik Baron Aehrenthal blieb es Vorbehalten,
Rußland den Rücktritt von den bisherigen Abmachungen zu erleich-
tern. Am 27. Januar 1908 verkündete er plötzlich in einer Dele-
gationsrede seine Absicht, eine Bahn durch das Sandschak zu bauen.
Deutschland war vorher nicht verständigt worden5, wurde aber
nunmehr von russischer Seite bald beschuldigt, Wien dazu ermutigt
zu haben. Die Erörterungen über die Sandschakbahn endeten mit
einer schweren Verstimmung der leitenden Staatsmänner in Wien
und Petersburg. Da sich auch in der Frage der mazedonischen
Reformen Gegensätze ergaben, mußte die bisherige österreichisch-
russische Entente schon Ende März 1908 als endgültig erledigt
angesehen werden6. Rußland näherte sich England, und an die Ab-
machungen von Mürzsteg hielt sich Iswolski nicht mehr gebunden.
Die englisch-deutschen Beziehungen standen während des
Jahres 1908 durchaus unter dem Eindruck der neuen deutschen
Flottenvorlage. Der unter dem Vorsitz des Generals Keim stehende
Flottenverein griff die Marinevorlage als ungenügend lebhaft an.
In England aber erklärte Sir Edward Grey, die erweiterten Flotten-
programme der anderen Staaten machten es für England unmöglich,
1 Gr. Pol. Nr. 8761.
2 Memoires de Alexandre Iswolski 1906—1910. Paris, S. 60ff.
* Siehe o. S. 209.
4 Siehe o. S. 220.
6 Gr. Pol. Nr. 8704.
6 Gr. Pol. Nr. 8772, 8774.
266
Das Jahr 1908
weitere Beschränkungen des eigenen Flottenbaues vorzunehmen1.
Als Admiral v. Tirpitz in einer Reichstagsrede vom 29. Januar 1908
die Ansicht bekämpfte, daß die deutsche Flottenvorlage in England
Beunruhigung habe hervorrufen müssen, erwiderten die „Times“,
das deutsche Flottenprogramm müsse auf seiten Englands die
äußerste Wachsamkeit erregen1 2.
In dieses Stadium der gegenseitigen Beziehungen griff Kaiser
Wilhelm II. mit einem persönlichen Schreiben an den ihm gut be-
kannten Ersten Lord der englischen Admiralität, Lord Tweedmouth,
ein. „Es ist durchaus widersinnig und unwahr3“, hieß es darin, „daß
die deutsche Flottenvorlage eine Seemacht liefern soll, die als eine
Herausforderung der britischen Herrschaft zur See gemeint sei.
Die deutsche Flotte wird überhaupt gegen niemanden gebaut. Sie
wird lediglich für die Bedürfnisse Deutschlands gebaut, die mit dem
rasch anwachsenden Handel dieses Landes Zusammenhängen ...
Sie enthält nichts Überraschendes, Heimliches oder Verstecktes, und
jeder Leser kann mit der größten Leichtigkeit den ganzen für die
Entwicklung der Flotte entworfenen Plan verfolgen.“ Das ewige
Hervorkehren der deutschen Gefahr erscheine ihm, dem Kaiser, als
der großen britischen Nation mit ihrem weltumspannenden Reiche
und ihrer gewaltigen Seemacht, die ungefähr fünfmal so groß sei als
die deutsche, äußerst unwürdig, wenn nicht geradezu komisch. Die
deutsche Flottenvorlage sei nicht gegen England gerichtet, und er,
der Kaiser, hoffe, daß die englische Kriegsflagge stets auf derselben
Seite wehen werde wie die deutsche. Lord Tweedmouth geriet durch
diesen Brief in einige Verlegenheit, antwortete aber dem Kaiser unter
Beifügung eines Berichtes, den er mit den genauen Voranschlägen
für den Jahrgang 1908/1909 dem Parlament vorzulegen beabsich-
tigte. König Eduard, den der Kaiser über den an Lord Tweedmouth
gerichteten Brief verständigt hatte, erblickte darin einen auffallen-
den Schritt und schrieb dem Kaiser, man könne die englische Presse
nicht daran verhindern, die Aufmerksamkeit auf das starke Wachs-
tum im deutschen Kriegsschiffsbau zu lenken, das England zwinge,
auch seine Seemacht zu vermehren4.
Am 6. März teilte Oberst Repington in den „Times“ mit, daß
der deutsche Kaiser an Lord Tweedmouth ein Schreiben gerichtet
und den Versuch gemacht habe, den für das englische Marinebudget
verantwortlichen Minister im deutschen Sinne zu beeinflussen5. Er
forderte, daß das kaiserliche Schreiben und seine Beantwortung un-
verzüglich dem englischen Parlamente vorgelegt werden müsse.
1 Gr. Pol. Nr. 8177.
2 Gr. Pol. Nr. 8179.
3 Gr. Pol. Nr. 8181.
4 Gr. Pol. Nr. 8183.
5 Gr. Pol. Nr. 8186.
267
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Kaiser Wilhelm II. weilte damals gerade in Wilhelmshaven. Der
Reichskanzler, der von dem Privatbriefe des Kaisers an Lord Tweed-
mouth ebensowenig vorher verständigt worden war wie das Aus-
wärtige Amt, bat den Kaiser telegraphisch um den Wortlaut des
Schreibens und wünschte, seinen Inhalt zu veröffentlichen, wenn das-
selbe auch mit der Antwort des Lords Tweedmouth möglich sei1.
Das hielten aber die amtlichen Leiter der englischen Politik nicht
für möglich. Eine üble Folgeerscheinung des Briefwechsels war
zweifellos, daß in den Verhandlungen des englischen Parlaments
über das Marinebudget von nun an gelegentlich Hinweise auf die
deutsche Flotte an die Stelle der früheren meist allgemeineren Be-
zugnahmen auf die Flottenrüstungen fremder Mächte traten1 2.
Auch im deutschen Reichstage kam der Tweedmouthbrief zur
Sprache. Fürst Bülow verteidigte am 24. März 1908 den Kaiser gegen
die Unterstellung, daß sein Brief bezweckt habe, den für das englische
Marinebudget verantwortlichen Minister im deutschen Sinne zu be-
einflussen. „So wenig wir England das Recht bestreiten, sich auf
denjenigen Flottenstandard einzurichten, den seine verantwortlichen
Staatsmänner für notwendig halten, um die britische Weltmacht auf-
rechtzuerhalten, ohne daß wir darin eine Drohung gegen uns er-
blicken, so wenig kann man es uns verargen, wenn wir nicht wün-
schen, daß unsere Schiffsbauten als eine gegen England gerichtete
Herausforderung hingestellt werden.“
Eine vertrauliche Unterredung des dem Könige Eduard VII.
nahestehenden englischen Finanzmannes Sir Ernest Cassel mit dem
ihm befreundeten Generaldirektor Ballin von der Hamburg-Amerika-
Linie im Juni 1908 brachte Klarheit darüber, daß König Eduard tief
davon durchdrungen war, der rasche Ausbau der deutschen Flotte
bedrohe die englische Stellung zur See. Zwar wisse der König, daß
Kaiser Wilhelm II. niemals leichtfertig auf Händel ausgehen werde
und seiner innersten Natur nach den Schrecken eines Krieges wider-
strebe. Er, der König, müsse aber dafür sorgen, seinem Sohne die
ihm überkommene Stellung Englands auf den Meeren so zu hinter-
lassen, daß sie auch der Nachfolger des Kaisers nicht anfechten
könne. Nach der Ansicht Sir Ernest Cassels war die Sorge vor der
deutschen Gefahr die treibende Kraft für die ganze Ententepolitik des
Königs3. In diesem Sinne muß nach Ausweis der vorliegenden Akten
auch die englisch-französische Intimität gedeutet werden, die am
25.Mai 1908 beim Besuche des Präsidenten Falberes in England4,
bald darauf, am 9. und 10. Juni, bei der Begegnung des englischen
1 Gr. Pol. Nr. 8191.
2 Gr. Pol. Nr. 8195.
3 Gr. Pol. 8199.
4 Gr. Pol. Nr. 8201, 8202.
268
Das Jahr 1908
und des russischen Monarchen in Reval1 und bei einem Besuche
Delcasses in London zu Tage trat. Delcasse wurde am 24. Juni von
König Eduard VII. in Audienz empfangen und in London wie ein
Held gefeiert1 2.
Deutschlands damalige Lage in der Welt hat Botschafter Graf
Metternich in einem ausführlichen und meisterlich abgefaßten Be-
richte vom 5. Juni 1908 dahin gekennzeichnet3, daß Deutschland
früher bei einem Kriege mit Frankreich zum mindesten auf die
wohlwollende Neutralität Englands habe rechnen können. Jetzt
müsse man bereits von einer übelwollenden Neutralität spre-
chen und ziemlich sicher sogar mit der offenen Feindschaft Eng-
lands rechnen. An eine innere Feindschaft des englischen Volkes
gegen Deutschland glaubte Metternich nicht, wohl aber an die zu-
nehmende Furcht vor der deutschen Überlegenheit. Bei allen Unter-
redungen mit maßgebenden Engländern war ihm die Sorge vor der
deutschen Flotte immer wieder entgegengetreten. Die Monarchen-
begegnung von Reval galt in der Weltpresse fast überall als eine Be-
stätigung der französisch-englisch-russischen Freundschaft, und in der
Pariser Presse zeigte sich nur allzu deutlich die Schadenfreude über
Deutschlands Vereinsamung4. „Deutschland soll nicht bedroht wer-
den, man verwahrt sich gegen die ,Einkreisungspolitik' “, berichtete
Graf Pourtales am 12. Juni 1908 aus Petersburg5; „man will aber
überall, wo sich Gelegenheit dazu bietet, den angeblichen Gelüsten
Deutschlands, seine Weltmachtstellung zu betätigen, wie inAlgeciras,
gemeinsam diplomatisch entgegentreten.“ Der Kaiser vermerkte zu
diesem Berichte: „Daher Reichsfinanzreform! Viel indirekte Steu-
ern; starke Flotte, starkes Heer! Pulver trocken!“ Tatsächlich haben
die Vertreter Englands bei der Zusammenkunft von Reval die russi-
schen Staatsmänner, wie aus dem Berichte des Admirals Sir John
Fisher über Reval hervorgeht, zur Verstärkung der russischen Kriegs-
rüstung gegen Deutschland aufgefordert, damit Rußland etwa im
Jahre 1915 bei der vorausgesetzten Zuspitzung des deutsch-englischen
Verhältnisses als Schiedsrichter gegen Deutschland auftreten könne 6.
Von Reval zurückgekehrt suchte Iswolski den deutschen Bot-
schafter Grafen Pourtales über die dortigen Besprechungen zu be-
ruhigen, hatte dabei aber wenig Erfolg. Graf Pourtales blieb bei
seiner Auffassung, daß die russisch-englische Intimität in Reval eine
engere geworden sei, und daß sich diese Tatsache in dem Spiele der
1 Qr. Pol. Nr. 8803—8808.
2 Gr. Pol. Nr. 8211.
3 Gr. Pol. Nr. 8209.
4 Gr. Pol. Nr. 8803, 8804.
5 Gr. Pol. Nr. 8807.
18 Vgl. B. v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke. S.777, und Admiral Sir John
Fisher, Memories. S. 187.
269
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Diplomatie demnächst nicht zu Deutschlands Vorteil auswirken
werde1.
Eine nicht unbedenkliche Wendung nahm unter der Nachwir-
kung der Zusammenkunft von Reval die deutsche Politik gegen-
über Österreich-Ungarn. Aehrenthal wehrte sich starrsinnig gegen
die in der österreichischen Presse laut werdenden pessimistischen
Urteile und suchte die Tragweite der englisch-russischen Annähe-
rung nach Möglichkeit abzuschwächen. Der deutsche Botschafter
v. Tschirschky empfahl daher in Berlin, auf die Eigenheiten Aehren-
thals jetzt jede mögliche Rücksicht zu nehmen1 2.
Ein Rundschreiben, das Fürst Bülow am 25. Juni 1908 den preu-
ßischen Gesandten in München, Dresden, Stuttgart und Karlsruhe zu-
gehen ließ3, zeigt den Ernst seiner damaligen Auffassung. „Wir
haben damit zu rechnen,“ führte er im Anschluß an die Monarchen-
begegnung von Reval aus, „daß, wenn wir oder Österreich-Ungarn
mit einer der Ententemächte in einen ernsteren Interessenkonflikt
geraten sollten, die bis dahin noch losen und vagen Ententen und
Verständigungen sich zu konkreten Bündnissen verdichten würden,
so daß wir zusammen mit Österreich-Ungarn uns einer starken
Koalition gegenübersehen könnten... Diese Ententen und Allianzen
sind also ihrem Ursprung nach eher defensiven Charakters. Man
würde aber vielleicht nicht zögern, auch aggressiv gegen uns vor-
zugehen und uns womöglich niederzuzwingen, wenn man sich dazu
die Macht zutraute.“ Für unsere Haltung im Orient und auf der Bal-
kanhalbinsel, wo wir nur wirtschaftliche Interessen hätten, seien und
blieben die Wünsche, Bedürfnisse und Interessen des uns eng be-
freundeten und verbündeten Österreich-Ungarns in erster Linie maß-
gebend. Die Lage sei für beide mitteleuropäischen Monarchien in
gleichem Maße ernst. Deshalb sei es nötig, die militärische Rüstung
zu Wasser und zu Lande so achtunggebietend wie möglich zu machen
und neben der militärischen auch die finanzielle und wirtschaftliche
Rüstung nicht zu vernachlässigen. „Treues Zusammenstehen mit
Österreich-Ungarn soll und muß auch in Zukunft der oberste Grund-
satz der deutschen Auswärtigen Politik bleiben.“ Der deutsche Bot-
schafter in Wien v. Tschirschky erhielt Auftrag, scharf darauf zu
achten, daß Baron Aehrenthal keine plötzliche Schwenkung nach der
englischen Seite machte. Eine starke Abhängigkeit der deutschen
Politik von der österreichischen trat bereits damals in Erscheinung,
während der Besuch des Präsidenten Falberes beim Zaren auf der
Reede von Reval am 27. und 28. Juli die wachsende Intimität der
Entente nochmals unterstrich4.
1 Gr. Pol. Nr. 8810.
3 Gr. Pol. Nr. 8819.
3 Gr. Pol. Nr. 8820.
4 Gr. Pol. Nr. 8828, 8829.
270
Das Jahr 1908
Inzwischen bereiteten sich in der Türkei grundlegende Ver-
änderungen vor. Sie gingen aus von der jungtürkischen Bewegung.
Für die ganze Welt war es eine ungeheure Überraschung, als
in der Türkei, die seit Jahrzehnten den Gegenstand von Reform-
wünschen der Mächte gebildet hatte, im Juli 1908 aus der Korrup-
tion des Staates und aus den Reformwünschen patriotischer Türken
zunächst eine Militärrevolte und daraus allmählich die sogenannte
jungtürkische Revolution entstand, die eine völlige Umwälzung der
Staatsgrundlagen und die Einführung einer konstitutionellen Ver-
fassung herbeiführte.
Die anfängliche Militärrevolte wuchs sich schon im Juli 1908
zu einer nationalen Bewegung großen Umfanges aus. Sultan Abdul
Hamid, über diesen jähen Verlauf erschrocken, entschloß sich zur
Wiederherstellung der Verfassung von 1876 und ordnete die Vor-
bereitung von Parlamentswahlen an.
Bei seinen nahen Beziehungen zur Türkei war es für Deutsch-
land in erster Linie wichtig, rechtzeitig zu erkennen, ob die jung-
türkische Bewegung sich auch gegen die fremden Mächte richten
würde. Als Vertreter des nach Deutschland beurlaubten Botschafters
v. Marschall weilte damals der Gesandte v. Kiderlen am Goldenen
Horn. Er setzte seinen Einfluß dafür ein, daß der Sultan den einmal
beschrittenen Weg in loyaler Weise weiter verfolgte1. Kaiser Wil-
helm II. ließ am Goldenen Horn erklären, daß er die eingeleitete
Reformaktion mit den besten Wünschen begleite1 2. In die weitere
Entwicklung einzugreifen, hat man in Berlin vermieden, da eine
solche Einmischung von außen nach Kiderlens Auffassung der Be-
wegung eine bedenkliche Richtung geben konnte3.
Durch die türkische Verfassungsbewegung geriet Österreich-
Ungarn mit Rücksicht auf Bosnien und die Herzegowina in eine
etwas schwierige Lage, und auch die umliegenden Balkanstaaten
Bulgarien, Serbien und Griechenland konnten die Möglichkeit einer
dauernden Erstarkung der Türkei nur mit sauersüßer Miene be-
trachten. Italien sah seine heimlichen Gelüste auf Tripolis und auf
Albanien im gewissen Sinne eingeschränkt, und auch England und
Rußland verfolgten die Entwicklung mit Besorgnis. In der Türkei
herrschte damals eine starke Sympathie für England, während
Deutschland allmählich in die unbequeme und nicht ungefährliche
Rolle des einzigen Freundes hineingeraten war4. In Wien erhoffte
man aus der neu erwachten orientalischen Frage eine englisch-
deutsche Annäherung.
1 Gr. Pol. Nr. 8881.
3 Gr. Pol. Nr. 8888.
3 Gr. Pol. Nr. 8898.
4 Gr. Pol. Nr. 8911.
271
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Am 11. August 1908 besuchte König Eduard VII. auf seiner
Reise nach Ischl, wo er den Kaiser Franz Joseph am 12. und 13.
begrüßte, den deutschen Kaiser in Homburg v. d. H. In Begleitung
des Königs befand sich der Unterstaatssekretär Sir C. H. Hardinge,
mit dem sich Kaiser Wilhelm II. eingehend aussprach. Der eng-
lische Staatsmann erklärte bei dieser Gelegenheit in deutlichen
Worten, daß Deutschland den Bau seiner Flotte stoppen oder
jedenfalls langsamer bauen möge, was der Kaiser scharf zurück-
wies1. Er erblickte in einer derartigen englischen Bevormundung
des deutschen Flottenbaues eine Anmaßung und nahm aus diesem
Grunde auch seit einiger Zeit gegen die Berichterstattung des Grafen
Metternich aus London eine sehr kritische Haltung ein. „Wir werden
uns niemals vorschreiben lassen, wie unsere Rüstung beschaffen sein
soll,“ vermerkte er zu einem Berichte des Botschafters vom 16. Juli1 2,
den man als einen Wendepunkt in den Beziehungen des Kaisers zu
Metternich betrachten darf. „Die deutsche Flotte ist gegen niemand
gebaut und auch nicht gegen England, sondern nach unserem Be-
dürfnis. Das ist ganz klar im Flottengesetz gesagt und seit elf Jahren
unbeanstandet geblieben! Dies Gesetz wird bis ins letzte Tüttelchen
ausgeführt; ob es den Briten paßt oder nicht, ist egal! Wollen sie
den Krieg, mögen sie ihn anfangen, wir fürchten ihn nicht.“
Nicht nur Metternich, sondern auch der Geschäftsträger in
London W. v. Stumm erblickte in der deutschen Flottenpolitik das
Haupthindernis für bessere deutsch-englische Beziehungen. „Wie
ein Alpdruck,“ berichtete er am 20. August 1908 an den Kanzler,
„lastet auf der ganzen Nation die Furcht vor dem deutschen Schreck-
gespenst3.“ So wurde auch die Reise des Schatzkanzlers Lloyd
George nach Deutschland im August 1908 vielfach mit seinem
Wunsche erklärt, zu einer Verständigung mit Deutschland über den
Flottenbau zu gelangen4. Auch in Italien interessierte man sich
lebhaft dafür5.
Fürst Bülow hatte in dieser Zeit die nicht leichte Aufgabe, sich
zwischen dem energischen Standpunkte des Kaisers, der sich in die
Flottenfrage durchaus nicht hineinreden lassen wollte, und der von
ihm für nötig erachteten Rücksicht auf England einen mittleren Kurs
zu hajten. Wie schwer das für einen Staatsmann seiner Art sein
mußte, ergibt sein Schreiben vom 26. August an den Kaiser6. Er
bat darin den Monarchen, nicht daran zu zweifeln, daß er die
Flottenbestrebungen des Kaisers nicht nur mit dem Kopfe, sondern
1 Gr. Pol. Nr. 8222—8227.
* Gr. Pol. Nr. 8217.
3 Gr. Pol. Nr. 8237.
4 Gr. Pol. Nr. 8232—8236.
B Gr. Pol. Nr. 8240.
6 Gr. Pol. Nr. 8239.
272
Das Jahr 1908
auch mit dem Herzen unterstütze. Die Schöpfung- der deutschen
Flotte sei die dem Kaiser von der Geschichte gestellte Aufgabe,
aber gerade weil die Ausführung und Vollendung des Flottenpro-
gramms dem Kanzler so hoch ständen, möchte er den wachsen-
den Baum vor Stürmen schützen, die ihn entwurzeln könnten. Der
Kaiser glaube nicht, daß die Engländer es auf einen Krieg mit
Deutschland ankommen lassen würden; er, der Kanzler, halte den
Krieg für wohl denkbar, wenn nämlich die Engländer es als ganz
sicher ansähen, daß die Seerüstungen unbegrenzt so weitergehen
würden. Die englische Beunruhigung sei eine tiefgehende, nicht nur
die Hetzer hätten Kriegsgedanken. Deutschlands Lage bei einem
Kriege mit England sei aber ernst. Werde Frankreich in den Krieg
hineingezogen, so bedeute das wahrscheinlich den Kampf nach
drei Seiten, denn Rußland werde in diesem Falle schwerlich neu-
tral bleiben. „Wenn wir jede Verständigung über den Flottenbau
auch in den zahlreichen unverbindlichen Privatgesprächen, die jeder
Botschafter führen muß, ab ovo, kategorisch und für immer ab-
lehnen, so wächst die Verstimmung in England in geometrischer
Progression; damit entsteht natürlich dort eine reelle Kriegsgefahr,
und vor allem baut England mehr wie je. Seine Hülfsquellen auf
diesem Gebiete sind größer als die unsrigen... Euere Majestät
mögen versichert sein, daß, wenn das Ungewitter losbrechen sollte,
das über dem Kanal steht, mir das Herz nicht in die Hosen fallen
wird. Ich werde in Euerer Majestät Dienst dann nach Kräften dafür
sorgen, daß wir, wie auch die Chancen liegen, unseren Feinden viele
Leichen vor die Füße werfen. Euere Majestät mögen aber auch ver-
stehen, wie ich bestrebt bin, nach Möglichkeit die Dinge so zu wen-
den, daß Euerer Majestät Lebenswerk mit Gottes Hülfe aus- und
durchgeführt werden kann. Es kommt darauf an, über die nächsten
Jahre wegzukommen.“
Seinen Badeaufenthalt in Marienbad benutzte König Eduard
dazu, die Entente mit Iswolski und Clemenceau, die ihn am
26. August 1908 dort aufsuchten, vor aller Welt sichtbar zu machen1.
Aus Äußerungen, die Baron Aehrenthal vertraulich erfuhr, ging her-
vor, daß der englische König mit Clemenceau und Iswolski viel-
leicht auch die Frage erörtert hatte, was angesichts des Mißerfolges
der englischen Politik bei dem Monarchenbesuche in Kronberg nun-
mehr zu tun sei1 2. Als ein Mißerfolg wurde diese Begegnung zweifel-
los angesehen, da man nicht zu einer Besprechung des gegenseitigen
Flottenbaues gelangt war. Nach Bülows Ansicht hätte sich Sir C. H.
Hardinge damals besser an die deutsche Regierung unmittelbar ge-
wendet, statt mit dem deutschen Kaiser darüber zu sprechen, denn
1 Gr. Pol. Nr. 8241.
2 Gr. Pol. Nr. 8243. (Vgl. S. 272 o.)
18 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
273
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
dieser habe nun schroffer geantwortet, als dies wohl sonst der Fall
gewesen sein würde. Auch Bülow wünschte eine Verständigung mit
England und teilte in diesem Sinne dem Botschafter Qrafen Metter-
nich mit1, daß Admiral v. Tirpitz die Flottenfrage nicht ungern per-
sönlich mit den englischen Fachmännern besprechen würde; er
wisse nur nicht recht, wie er England besuchen solle, ohne Aufsehen
zu erregen. Der Admiral war also damals einer Verständigung nicht
abgeneigt. Die Schwierigkeit einer solchen lag in der unbedingten
Aufrechterhaltung des deutschen Flottenprogramms, die der Kaiser
wünschte, und von der auch Tirpitz nicht abgehen wollte.
In Marokko war inzwischen der Kampf der beiden Thronprä-
tendenten Mulay Hafid und Abdul Asis weiter gegangen. Durch die
bisherigen Vorgänge gewitzigt, zeigte sich Deutschland nicht ge-
neigt, in Marokko eine führende Rolle zu übernehmen und wollte
daher auch die Initiative wegen der Anerkennung Mulay Hafids, der
von der Bevölkerung fast des ganzen Landes als Sultan anerkannt
wurde, den Westmächten überlassen1 2.
Am 25. September 1908 ereignete sich in Casablanca ein Zwi-
schenfall, der die deutsch-französischen Beziehungen wiederum
schwer belastete. Drei deutsche Deserteure der Fremdenlegion soll-
ten vom deutschen Konsulat in Casablanca eingeschifft und nach
Deutschland befördert werden; französische Marinesoldaten waren
dagegen eingeschritten und hatten sich Übergriffe erlaubt3. Nach
langen und peinlichen Verhandlungen, die sich bis Anfang November
1908 hinzogen, einigten sich schließlich Frankreich und Deutschland
auf ein gemeinsames Bedauern der Vorkommnisse, worauf die An-
gelegenheit selbst einem Schiedsverfahren unterbreitet wurde4. Kurz
vorher hatte sich Deutschland mit Frankreich und Spanien auch über
die Anerkennung Mulay Hafids geeinigt, so daß am 6. Januar 1909,
wie hier vorgreifend bemerkt werden möge, die Signatarmächte der
Algecirasakte Mulay Hafid als legitimen Sultan von Marokko an-
zuerkennen vermochten5. Zu diesem Ergebnis hatte Aehrenthals
Balkanpolitik, die anfangs Oktober 1908 die ganze politische Welt
in Anspruch nahm, wesentlich beigetragen, da man in den fran-
zösischen Regierungskreisen die Notwendigkeit empfand, jetzt mit
Deutschland im Orient zusammen zu arbeiten6. Französische
Politiker von Einfluß, wie Tardieu, sprachen sich dafür aus, Frank-
reich und Deutschland sollten, wenn bei Lösung der Orientkrise
1 22. September 1908. Or. Pol. Nr. 8248.
2 Or. Pol. Nr. 8345.
3 Gr. Pol. Nr. 8361.
4 10. November 1908. Gr. Pol. Nr. 8403.
6 Gr. Pol. Nr. 8470.
6 Gr. Pol. Nr. 8460. Geschäftsträger Frhr. v. der Lancken; Paris, 14. Oktober
1908. Über die Politik Aehrenthals siehe S. 275ff.
274
Das Jahr 1908
eine gute Atmosphäre zwischen Paris und Berlin geschaffen sein
würde, alsbald ein regelrechtes Abkommen über Marokko treffen,
um der Wiederkehr von Mißhelligkeiten in der Marokkosache ein für
allemal ein Ende zu machen.
Aus dieser Stimmung heraus gelang sodann das deutsch-fran-
zösische Abkommen vom 9. Februar 1909, worin beide Mächte er-
klärten, keinerlei Maßregeln verfolgen oder ermutigen zu wollen, die
geeignet wären, zu ihren Gunsten oder zugunsten irgendeiner ande-
ren Macht ein wirtschaftliches Vorrecht zu schaffen. Deutscherseits
erkannte man den Vorrang der französischen Interessen in Marokko
ausdrücklich an1.
Die Annexion Bosniens und der Herzegowina
Die Herbstmonate des Jahres 1908 waren für Deutschland in-
sofern besonders schwierig, als seine Politik sich gleichzeitig mit
drei schwerwiegenden Problemen zu befassen hatte. Mit Frankreich
stand es in Auseinandersetzungen über Marokko, mit England über
den Flottenbau und über die Veröffentlichungen im „Daily Tele-
graph“, von denen noch die Rede sein wird, als der weltgeschicht-
liche Entschluß des Wiener Außenministers Frhr. v. Aehrenthal zur
endgültigen Annexion Bosniens und der Herzegowina das Gesamt-
problem der europäischen Politik auf das Schärfste belastete. Die
Lage wurde noch dadurch erschwert, daß Fürst Ferdinand von Bul-
garien, gestützt auf seine durch einen Besuch beim Kaiser Franz
Joseph in Budapest am 23. und 24. September 1908 bestätigte An-
näherung an Österreich-Ungarn, sich dazu entschloß, am 5. Oktober
eine Unabhängigkeitserklärung für Bulgarien einschließlich Rume-
liens zu proklamieren.
Es ist an dieser Stelle nicht nötig, die weltgeschichtlich bedeu-
tungsvollen Ereignisse des näheren zu schildern1 2.
Baron Aehrenthal hatte schon, als er die Geschäfte des Außen-
ministers in Wien übernahm, den Eindruck gemacht, als wenn er sich
bestreben würde, die Stellung der Donaumonarchie innerhalb der
Weltpolitik wieder mehr zur Geltung zu bringen. Ein erster Schritt
auf diesem Wege war der Plan gewesen, eine Bahn durch den
Sandschak zu bauen3. Die Vorgänge in der Türkei legten ihm nun-
mehr im Herbst 1908 den Plan nahe, Bosnien und die Herzegowina
ganz zu annektieren, wozu ja Österreich-Ungarn auf Grund seiner
früheren Abmachungen1 mit Rußland an sich durchaus berechtigt
1 Gr. Pol. Nr. 8490—8492. Weiteres s. S. 283 ff.
2 Vgl. die ausführliche Darstellung der Vorgänge bei E. Brandenburg, Von
Bismarck zum Weltkriege. 2. Auflage, Berlin 1925. S. 278ff.; bei F. Stieve,
Deutschland und Europa 1890—1914. S. 83 ff. und in meinem Wegweiser durch
das große Aktenwerk, 5. Teil, 1. Abteilung. Berlin 1926. S. 3 ff.
3 Siehe o. S. 266.
1 Siehe o. S. 38.
18*
275
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
war. Bei entsprechendem Entgegenkommen des Petersburger Kabi-
netts wollte er dann auch über die Frage der Öffnung der Meerengen
für russische Kriegsschiffe mit sich reden lassen. Hauptsächlich aber
wollte er die serbische Gefahr beseitigen und dachte zweifellos zeit-
weise sogar an eine Aufteilung des Königreichs zwischen Öster-
reich-Ungarn und Bulgarien1.
Als Auftakt des geplanten Vorgehens fanden im September 1908
verschiedene wichtige Begegnungen der europäischen Staatsmänner
statt, in deren Mittelpunkt Aehrenthal und Iswolski standen. Am
4. September trafen sich in Salzburg Aehrenthal und Tittoni, am
5. in Berchtesgaden Aehrenthal und der Staatssekretär v. Schoen.
Eine grundlegende Besprechung zwischen Iswolski und Aehrenthal
fand am 16. September in Buchlau auf dem Mährischen Schlosse des
Grafen Berchtold und am 29. und 30. September ein Zusammen-
treffen Iswolskis mit Tittoni in Desio statt.
Die Begegnung von Buchlau hätte eine Wiederbelebung der
russisch-österreichischen Entente bilden und den durch den Plan
einer Sandschakbahn entstandenen Gegensatz zwischen Aehrenthal
und Iswolski wieder beseitigen können. Ihr kam daher eine erheb-
liche Bedeutung zu, zumal da Aehrenthal sich, eigenwillig und selbst-
bewußt, wie er war, lange gegen ein Zusammentreffen mit seinem
russischen Kollegen gesträubt hatte1 2. Den Fürsten Bülow verstän-
digte Aehrenthal am 26. September über das Ergebnis der Bespre-
chungen. Danach hatte sich Iswolski mit Aehrenthals Plan einer An-
nexion der beiden Provinzen grundsätzlich einverstanden erklärt und
eine freundschaftliche Haltung Rußlands zugesichert. Aehrenthal
hatte seinem russischen Kollegen eine freundschaftliche Haltung in
der Frage der Meerengen versprochen, die unter der Herrschaft
der Türkei bleiben sollten, nur das Rußland das Recht erhielte,
Kriegsschiffe einzeln die Meerengen passieren zu lassen3.
In seinem nach Norderney gerichteten Briefe an den Reichs-
kanzler Fürsten Bülow vom 26.September4 1908 teilte Aehrenthal
schließlich noch mit, daß Iswolski sich über die deutsch-englischen
Beziehungen sehr besorgt ausgesprochen und daß er sich bei seinem
Zusammentreffen mit Tittoni in Salzburg am 4. September auch über
die Frage der Annexion, allerdings mehr akademisch, ausgesprochen
habe. Kaiser Franz Joseph werde vor ihrer Durchführung an Kaiser
Wilhelm II. schreiben und ihm seine Beweggründe auseinander-
setzen. „Wir rechnen mit vollem Vertrauen auf Deutschlands Unter-
stützung, wie auch letzteres von uns Beweise erhalten hat, daß wir
in ernster Stunde fest zu unseren Freunden stehen.“ Hiermit war
1 Or. Pol. Nr. 8927.
2 Or. Pol. Nr. 8926, 8929.
3 Gr. Pol. Nr. 8934.
4 Qr. Pol. Nr. 8934.
276
Die Annexion Bosniens und der Herzegowina
offenbar die österreichische Unterstützung auf der Algeciraskonfe-
renz gemeint.
Fürst Bülow wollte dem Kaiser dieses außerordentlich wichtige
Schreiben nicht ohne Kommentar vorgelegt sehen und ließ im Aus-
wärtigen Amt ein Begleitschreiben verfassen, für das er die Richt-
linien aus Norderney am 30. September übersandte1. Diese Richt-
linien gipfelten in einer rückhaltlosen Unterstützung der Aehren-
thalschen Pläne. Nachdem Aehrenthal sich des russischen Einver-
ständnisses versichert habe, könne Deutschland dem österreichischen
Wunsche nicht entgegentreten. „Unsere Lage würde dann eine wirk-
lich bedenkliche werden, wenn Österreich das Vertrauen zu uns ver-
löre und von uns abschwenkte. Solange wir beide zusammen stehen,
bilden wir, ähnlich wie während fünfzig Jahren der alte Deutsche
Bund, einen Block, an den sich niemand so leicht heranwagen wird.
Gerade in großen orientalischen Fragen können wir uns nicht wohl
in Widerspruch zu Österreich setzen, das auf der Balkanhalbinsel
nähere und größere Interessen hat als wir. Eine ablehnende oder
auch nur zögernde und nörgelnde Haltung in der Frage der An-
nexion von Bosnien und der Herzegowina würde uns Österreich
nicht verzeihen. Im Besitz dieser beiden Provinzen sieht der alte
Kaiser Franz Joseph und sieht das offizielle Österreich mit ihm einen
Ersatz für den Verlust von Italien und Deutschland. Wir müssen
also die Aehrenthalsche Mitteilung ohne affektiertes Empressement,
aber mit ruhiger und klarer Zustimmung aufnehmen und diese
unsere Zustimmung als den Ausfluß unserer unbedingten Zuver-
lässigkeit gegenüber Österreich erscheinen lassen.“
In diesem Geiste hat Bülow die deutsche Politik während der
bosnischen Krise geleitet. Kaiser Wilhelm II., der damals zur Jagd
in Rominten weilte, erhielt das in Aussicht gestellte Handschreiben
Kaiser Franz Josephs, eine Abschrift des Aehrenthalschen Briefes
und einen Begleitbericht des Reichskanzlers vom 5. Oktober erst am
6. Oktober, nachdem der Präsident der französischen Republik Fal-
beres durch eine Eigenmächtigkeit des Botschafters der Donaumon-
archie in Paris, Grafen Khevenhüller, bereits am 3. Oktober von der
bevorstehenden Annexion durch ein Handschreiben Kaiser Franz
Josephs unterrichtet worden war1 2. Der Kaiser verurteilte Aehren-
thals Schritt aufs Schärfste, fühlte sich persönlich mit Recht ver-
letzt, so spät unterrichtet worden zu sein, und beklagte dieses Vor-
gehen gegen die Türkei um so lebhafter, als es bald klar wurde, daß
auch Italien mit Aehrenthals Schritt keineswegs einverstanden war.
Man hätte in Rom die Annexion am liebsten noch aufgeschoben ge-
sehen3. Deutschlands Botschafter am Goldenen Horn, Frhr. v. Mar-
1 Gr. Pol. Nr. 8937.
2 Gr. Pol. Nr. 8983.
3 Gr. Pol. Nr. 8941.
277
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
schall, bezeichnete das Vorgehen Aehrenthals als eine beispiellose
Rücksichtslosigkeit gegen Deutschland1, worauf ihn der Reichs-
kanzler ermahnte, von einer Kritik des Wiener Verhaltens möglichst
Abstand zu nehmen1 2. In der Türkei blieb aber trotz aller Bemühungen
Marschalls das Mißtrauen bestehen, daß Deutschland in der ganzen
Frage die treibende Kraft gewesen sei, und zwar weil es dadurch
einen Schlag gegen das jungtürkische Regime habe führen wollen3.
Am schärfsten hat Kaiser Wilhelm im Anschluß an ein Tele-
gramm Marschalls vom 11. Oktober tags darauf die Aehrenthalsche
Politik gekennzeichnet4. „Die Tat Aehrenthals gewinnt immer mehr
den Schein eines Fähnrichsstreichs! Uns hat er nichts gesagt; Is-
wolski und Tittoni so verschleierte Andeutungen gemacht, daß sie
sich als total betrogen Vorkommen; den Sultan total unberücksich-
tigt gelassen, auf den es doch vor allen Dingen ankommt; den Schein
der Verabredung mit dem Vertrags- und Friedensbrecher Ferdinand
auf seinen Herrn geladen; die Serben zur Siedehitze gebracht; Mon-
tenegro aufs äußerste gereizt; die Kretenser zur Empörung veran-
laßt; unsere zwanzigjährige mühsam aufgebaute Türkenpolitik über
den Haufen geworfen; die Engländer erbost und in Stambul an
unsere Stelle befördert; die Griechen schwer geärgert durch seine
Bulgarenfreundlichkeit; den Berliner Vertrag in Stücke geschlagen
und das Konzert der Mächte auf das Heilloseste verwirrt; die Un-
garn aufgebracht, weil Bosnien an sie hätte angegliedert werden
sollen; die Kroaten empört, weil sie die Angliederung an sich beab-
sichtigen! Das ist für eine Gesamtleistung ein europäischer Rekord,
wie ihn noch kein Diplomat je fertig bekommen hat. Ein weit-
blickender Staatsmann ist er jedenfalls nicht! Wir müssen trachten,
in diesem heillosen Wirrwarr mit England wieder auf besseren Fuß
zu kommen. Das geht in der Meerengenfrage — falls sie aufs Tapet
kommt —, wenn wir ihren Standpunkt wohlwollend cotoyieren und
ebenfalls die Öffnung für alle Mächte, nicht Rußland allein
verlangen. Rumänien als Uferstaat wird das auch wünschen. Aber
diese Frage muß mit der Türkei privatim vorerst beredet werden,
und Marschall muß sondieren. England und Deutschland sind die
beiden Großmächte, die anscheinend bei dem ganzen Rummel vor-
her nicht informiert wurden, haben also quasi freie Hand und sollten
sich verständigen. Um so mehr, da beide das Wohl der Türkei im
Auge haben.“
Es gelang aber Bülows Einflüsse, die Mißstimmung des Kaisers
gegen Aehrenthal allmählich so weit zu beseitigen, daß Kaiser Wil-
helm II., als er vom 4. bis 7. November 1908 zum Besuche des
1 Gr. Pol. Nr. 8980.
3 Gr. Pol. Nr. 8985.
3 Gr. Pol. Nr. 8996.
4 Gr. Pol. Nr. 9026.
278
Die Annexion Bosniens und der Herzegowina
Kaisers Franz Joseph auf dem Jagdschlösse Eckardsau weilte,
Aehrenthal dort freundlich begrüßte und ihn zu dem frischen Zuge,
der die auswärtige Politik Österreich-Ungarns jetzt durchwehe, be-
glückwünschte1.
Sehr bald stellte es sich heraus, daß sich Iswolski durch Aehren-
thal übervorteilt fühlte. Bei seiner Rundreise durch die europäischen
Hauptstädte war er in Paris durch die Nachricht der Annexion über-
rascht worden, mußte aber vor allem in London erfahren, daß die
Regierung von einer Änderung in der Meerengenfrage in dem von
ihm gewünschten Sinne nichts wissen wollte. Er zog nunmehr „die
Rolle des Geprellten der Rolle des Enttäuschten vor1 2“. Von nun an
faßte er die Errichtung einer russischen Hegemonie auf dem Balkan
ins Auge, wo er dem Widerstande Englands nicht begegnen zu
müssen hoffte.
In Serbien löste die Annexion der beiden Provinzen einen Sturm
der Entrüstung aus. Eine schwere österreichisch-serbische Krise ent-
stand, und zeitweise schien es, als wenn Serbien zum Kriege ent-
schlossen sei. Die Großmächte mahnten in Belgrad zur Besonnen-
heit3 4. Da man aber in Serbien auf eine militärische Unterstützung
durch Rußland damals nicht rechnen konnte, — hierüber brachte
ein Besuch des Kronprinzen Georg von Serbien in Petersburg Ende
Oktober 19084 volle Klarheit —, lenkte Serbien ein.
Deutschland stand während dieser Wochen im Sinne der Bülow-
schen Auffassungen stets fest hinter der Donaumonarchie, zumal
Aehrenthal sich dahin festlegte, vor endgültigen Schritten gegen
Serbien Deutschland rechtzeitig in Kenntnis setzen zu wollen und an
eine Beeinträchtigung der Selbständigkeit und territorialen Integrität
Serbiens und Montenegros nicht zu denken5. Der Unterstützung
durch Deutschland fühlte sich Aehrenthal sicher, seit Bülow am
30.Oktober an ihn geschrieben hatte6: „Ich habe überhaupt Ver-
trauen zu Ihrem Urteil; in diesem speziellen Falle sage ich mir noch
außerdem, daß Sie die serbischen und die damit zusammenhängen-
den Verhältnisse genauer beurteilen können als ich aus der Ferne.
Ich werde daher die Entscheidung, zu der Sie schließlich gelangen
werden, als die durch die Verhältnisse gebotene ansehen.“
Während die Gegnerschaft zwischen Iswolski und Aehrenthal
immer schärfere Formen annahm, richtete ersterer seine Bestre-
bungen darauf, eine Konferenz zustande zu bringen, um doch noch
für Rußland irgendwelche Erfolge davonzutragen7. Sein bei einem
1 Or. Pol. Nr. 9088.
2 Fr. Stie.ve, Deutschland und Europa 1890—1914. S.85.
8 Qr. Pol. Nr. 9090—9100.
4 Qr. Pol. Nr. 9107, 9108.
5 Wien, 8. Dezember 1908. Gr. Pol. Nr. 9127.
6 Or. Pol. Nr. 9079.
7 Or. Pol. Nr. 9076.
279
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Besuche in Berlin am 24. Oktober 1908 geäußerter Wunsch, Deutsch-
land möge auf Österreich-Ungarn drücken, damit es die Frage der
Annexion von Bosnien und der Herzegowina vor eine Konferenz
bringe und in territoriale Entschädigungen für Serbien und Monte-
negro einwillige, wurde aber vom Fürsten Bülow durchaus ablehnend
behandelt1. Auch in Italien wünschte man eine Konferenz, was aber
Bülow in seiner Haltung nicht irre machte.
Mitten in die Balkanwirren hinein platzte Ende Oktober 1908
die sogenannte „Daily Telegraph“-Affäre.
Der „Novembersturm“
Schon während des Kaiseraufenthaltes in Highcliffe Castle im
Spätherbste 1907 hatte Oberst Stuart Wortley, der Besitzer des
Schlosses, mehrfach Unterredungen mit dem Kaiser gehabt1 2. Im
September 1908 hatte er sodann an den deutschen Kaisermanövern
in Lothringen teilgenommen und wiederum Gelegenheit gehabt, mit
dem Monarchen über politische Dinge, so über die deutsche Haltung
während des Burenkrieges, über die deutsche Marokkopolitik und
vor allem über die deutsch-englischen Beziehungen zu sprechen. Von
dem Wunsche beseelt, auch seinerseits zur Verbesserung dieser Be-
ziehungen beizutragen und die wahren Auffassungen des Kaisers in
England bekanntzumachen, übersandte Stuart Wortley am 23. Sep-
tember einen Aufsatz, den er im „Daily Telegraph“ als aus der
Feder eines alten Diplomaten stammend veröffentlichen wollte. Der
Kaiser verfuhr absolut korrekt, ließ den Artikel dem Fürsten Bülow
persönlich zugehen und ihn ersuchen, die ihm gut dünkenden Ver-
änderungen vorzunehmen. Die Sendung sollte nicht an das Auswär-
tige Amt gehen, sondern vom Kanzler so geheim wie möglich be-
handelt werden. Bülow, der damals auf Norderney weilte, schickte
sie aber doch zur Prüfung an das Auswärtige Amt und, nachdem
der Artikel mit einigen textlichen Änderungen an ihn zurückge-
langt war, ohne ihn gelesen zu haben, an den Kaiser zurück. Dieser
sandte ihn an Oberst Wortley, der sich in seinem Dankbriefe vom
22. Oktober über die Hoffnungen, die er auf die Veröffentlichung
setzte, erfreut und zuversichtlich äußerte3.
Die Veröffentlichung des Aufsatzes am 28. Oktober 1908 im
„Daily Telegraph“ erregte ungeheures Aufsehen. In England er-
folgten heftige Ausfälle gegen den Kaiser und die deutsche Politik.
Bülow, der zugeben mußte, den Artikel nicht selbst geprüft zu haben,
bat am 30. Oktober den Kaiser um seine Entlassung4, die aber nicht
angenommen wurde. Seine Stellung war eine sehr heikle geworden.
1 Gr. Pol. Nr. 9064—9066.
2 Siehe S. 260.
3 Gr. Pol. Nr. 8249—8253.
4 Gr. Pol. Nr. 8257.
280
Der „Novembersturm“
Zunächst war er entschlossen, bei der bevorstehenden Reichstags-
debatte den Kaiser zu decken und die in Deutschland gegen ihn herr-
schende große Verstimmung zu beschwichtigen. Tatsächlich kriti-
sierte er aber dann in seiner Reichstagsrede vom 10. November den
Monarchen viel schärfer, als er es wohl ursprünglich selbst beab-
sichtigt hatte, und sprach die Überzeugung aus, daß dieser ferner-
hin auch in Privatgesprächen jene Zurückhaltung beobachten werde,
die im Interesse einer einheitlichen Politik und für die Autorität der
Krone gleich unentbehrlich sei. In einer Aussprache, die der Kanzler
am 17. November mit dem Kaiser hatte, erläuterte dieser seine
Absichten dahin: „unbeirrt durch die von ihm als ungerecht emp-
fundenen Übertreibungen der öffentlichen Kritik . .. die Stetig-
keit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßi-
gen Verantwortlichkeiten zu sichern.“ Der Kaiser sprach schließlich
dem Kanzler sein Vertrauen aus1.
Eine Kanzlerkrisis schien zunächst beseitigt, worüber beson-
ders im Wiener Kabinett Freude herrschte. Aehrenthal, der das
starke Eintreten Bülows für seine Politik wohl zu schätzen wußte,
ließ ihm sagen, es sei für Österreich-Ungarn, zumal im gegenwär-
tigen ernsten Augenblicke, von besonderem Wert, „daß die auswär-
tige Politik des Deutschen Reiches auch weiterhin der sicheren und
in kritischen Zeitläuften so sehr bewährten Führung Seiner Durch-
laucht anvertraut bleibt1 2“. Auch die italienischen Staatsmänner be-
grüßten es mit aufrichtiger Freude, daß ein so erprobter Freund
ihres Landes wie Fürst Bülow weiter die Staatsgeschäfte führen
würde3.
Die „Daily Telegraph“-Affäre hat dadurch eine weltgeschicht-
liche Bedeutung erlangt, daß sie für die Entwicklung Kaiser Wil-
helms II. schlechthin bestimmend geworden ist. Kronprinz Wilhelm
führt in seinen von Rosner herausgegebenen „Erinnerungen“4 aus,
daß das Selbstvertrauen des Kaisers unter den für ihn kaum faßbaren
und kaum erträglichen Eindrücken der „Daily Telegraph“-Affäre
einen Bruch bekommen habe, von dem er sich nie wieder ganz erholte.
„Seine bis dahin unverzagte Entschlußfreudigkeit und Willenskraft
sind in jenen Tagen geknickt, und ich glaube, daß die Geburtsstunde
des Keimes zu vielen von den Unsicherheiten und Schwankungen,
die das letzte Jahrzehnt seiner Regierung und namentlich die Kriegs-
zeit aufzuweisen hat, in jenen Tagen liegt. Denn von da ab hat der
Kaiser bald mehr und mehr die Geschäfte an die verantwortlichen
Ratgeber aus den Kabinetten gleiten lassen, sich selbst und die
eigene Stimme aber oft bis zur völligen Ausschaltung seiner Mei-
1 Or. Pol. Nr. 8266.
2 Or. Pol. Nr. 8267.
3 Gr. Pol. Nr. 8268.
4 J. G. Cotta Nachf., Stuttgart u. Berlin 1922. S. 20/21.
281
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
nung zurückgehalten. Eine heimliche, unausgesprochene Sorge vor
neuen Konflikten und Verantwortungen, die er etwa tragen solle,
war über ihn gekommen-“
Mit dem „Novembersturm“, der die Stellung des Reichskanzlers
Fürsten Bülow dem Kaiser gegenüber innerlich doch endgültig er-
schütterte und im weiteren Verlaufe seine Entlassung und die Be-
rufung Bethmann Hollwegs zur Folge hatte, tritt die deutsche Ge-
schichte der Vorkriegszeit in ihr letztes entscheidendes Stadium. Bis-
her hatte der Kaiser in festem Glauben an sein Können und an die
Wirkung seiner persönlichen Politik einen, wenn auch sicherlich nicht
immer endgültig maßgebenden, so doch in vielen Fällen bestimmen-
den Einfluß auf die Führung der deutschen Außenpolitik ausgeübt.
Durch die Vorgänge bei dem Novembersturm bereitete sich bei
dem Monarchen eine Zurückhaltung von den amtlichen Geschäften
vor, die jedenfalls nicht im Sinne der von Bismarck gedachten und
geschaffenen Reichsverfassung gelegen hat. „Unter dem äußeren
Mantel seines alten Selbstbewußtseins hat er sich von da ab mehr
und mehr eine Zurückhaltung auferlegt, die vielfach noch hinter den
durch seine verfassungsmäßige Stellung gezogenen Grenzen zurück-
blieb. Im Kriege führte ihn diese Selbstbescheidung fast bis zur
völligen Ausschaltung seiner Person gegenüber den operativen und
organisatorischen Maßnahmen des Chefs des Generalstabes1.“ So
ist es schließlich dahin gekommen, daß im Weltkriege von dem
Triumvirat zwischen Monarchen, politischem und militärischem
Führer in einer Person, wie es sich als Idealzustand in den Kriegen
des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, nicht mehr gesprochen
werden konnte. Den Ausgangspunkt für diese Entwicklung haben
wir in den Vorgängen von 1908 zu suchen, wobei auch die tiefe
menschliche Enttäuschung des Monarchen über die Vorgänge des
Prozesses Moltke—Harden—Eulenburg von 1907 nicht außer Be-
tracht bleiben darf.
Ein sehr gerechtes Urteil über die außenpolitische Wirkung der
„Daily Telegraph“-Affäre hat damals der belgische Gesandte in
Berlin, Baron Greindl, abgegeben. „Deutschlands Bedeutung in den
internationalen Angelegenheiten wird dadurch vermindert“, berich-
tete er am 14. November 1908 nach Brüssel. „Das ist ein europäi-
sches Unglück. Unbestreitbar verdanken wir Deutschland und den
im tiefsten Grunde friedlichen Absichten des Kaisers die 37 Jahre
der Ruhe, deren wir uns erfreut haben.“
Das Jahr 1909
Das Jahr 1909 sollte zunächst für Deutschland und seine Ver-
bündeten, wenn auch noch nicht den Ausgleich aller damals schwe- 1
1 Erinnerungen des Kronprinzen Wilhelm. S. 94.
282
Das Jahr 1909
benden Welthändel, so doch wenigstens eine wesentliche Entspan-
nung bringen.
Zunächst kam es zu einer Einigung Österreich-Ungarns mit der
Türkei. Diese hatte ihren tiefen Unmut über Österreichs Vorgehen
schon anfangs Oktober 1908 durch einen rücksichtslos durchgeführ-
ten Boykott der österreichischen Waren bekundet. Im Vertrauen auf
Englands diplomatische und wirtschaftliche Unterstützung war man
in Konstantinopel nicht geneigt, auf Aehrenthals Wunsch einer tür-
kischen Zustimmung zu der Annexion von Bosnien und der Herzego-
wina ohne weiteres einzugehen. Aehrenthal war seinerseits nicht
gewillt, der Türkei eine Qeldentschädigung zuzugestehen, mußte
sich aber doch am 8. Januar 1909 schließlich dazu bequemen, der
türkischen Regierung 2V2 Millionen türkische Pfund als Ablösung
für die in Bosnien und der Herzegowina befindlichen Staatsgüter und
Staatswaldungen anzubieten. Auf dieser Grundlage kam es noch im
Januar 1909 zu einer Einigung und am 26. Februar zur Unterzeich-
nung eines österreichisch-türkischen Protokolls, in dem die Pforte
der Annexion zustimmte1.
Das deutsch-französische Marokkoabkommen vom 9. Februar
1909, das Frankreich weit entgegenkam und hauptsächlich dem in
diesem Falle stark betonten Willen Kaiser Wilhelms II. zu einer
Einigung mit Frankreich über Marokko entsprang, ist schon er-
wähnt1 2. Das am 9. Februar von Schoen und Cambon in Berlin Unter-
zeichnete Abkommen3 bildete tatsächlich einen brauchbaren Aus-
gangspunkt für ein Nebeneinanderarbeiten der beiden Mächte in
Marokko. Beide erklärten, keinerlei Maßregeln verfolgen oder er-
mutigen zu wollen, die geeignet wären, zu ihren Gunsten oder zu-
gunsten irgendeiner anderen Macht ein wirtschaftliches Vorrecht zu
schaffen. Die Bedeutung der Abmachung wurde noch dadurch unter-
strichen, daß Cambon und Schoen am 9. Februar Briefe aus-
tauschten, wobei von Cambon die Tatsache festgestellt wurde,
die französischen Interessen in Marokko seien bedeutender als die
deutschen, während Herr v. Schoen seine vollkommene Überein-
stimmung mit der französischen Auffassung zum Ausdruck brachte.
In Paris, London und Wien wurde das Abkommen in der Presse
freudig begrüßt. Sir E. Grey ließ den deutschen Geschäftsträger
v. Kühlmann zu sich bitten und gab seiner herzlichen Befriedigung
darüber Ausdruck, daß mit diesem Abkommen eine Quelle be-
ständiger Reibungen und Gefahren beseitigt sei. Als der englische
Unterstaatssekretär Sir Charles Hardinge in Begleitung König Edu-
ards VII. vom 9.—12. Februar in Berlin weilte, beglückwünschte er
1 Gr. Pol. Nr. 9200—9269.
2 Siehe o. S. 275.
3 Gr. Pol. Nr. 8490.
283
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
am 10. Februar den Fürsten Bülow im gleichen Sinne. Zu dem Bot-
schaftsrat v. Stumm, der inzwischen Vortragender Rat im Aus-
wärtigen Amt geworden war, sagte er geradeheraus, das deutsch-
französische Marokko-Abkommen befreie die englische Regierung
von einer großen Sorge; falls es zwischen Deutschland und Frank-
reich über Marokko zum Kriege gekommen wäre, würde die öffent-
liche Meinung in England so gebieterisch ein Eingreifen zugunsten
Frankreichs gefordert haben, daß eine Beteiligung Englands am
Kriege sich kaum habe vermeiden lassen1. Über die damalige ser-
bisch-österreichische Spannung und die Politik des Barons Aehren-
thal äußerte er sich besorgt; allerdings habe, was ihn sehr beruhige,
Fürst Bülow die von Aehrenthal befolgten Methoden nicht durchweg
gebilligt. Aber auch Sir Charles Hardinge war der Ansicht, daß die
Wiener Regierung im Rechte sei, wenn sie im Falle von Provoka-
tionen von seiten Serbiens gegen Serbien vorginge, denn keine Groß-
macht könne sich von einem benachbarten Kleinstaate derartige
Machenschaften gefallen lassen. Es werde aber von Wichtigkeit sein,
daß die Wiener Regierung vor Beginn einer Aktion eine bestimmte
Erklärung über deren Ziele abgäbe, sonst werde Rußland nicht
i;uhig bleiben können.
Der serbisch-österreichische Gegensatz erreichte im März 1909
seine größte Schärfe, bis Bülow sich zu rückhaltlosem Eintreten für
Österreich-Ungarn entschloß. Mitbestimmend für seine Haltung war
zweifellos ein von dem deutschen Militärattache in Petersburg,
Kapitän v. Hintze, erstatteter Bericht vom 13. März 19091 2 über eine
Geheimsitzung der Reichsduma in der Nacht vom 8. zum 9. März.
Darin wurde ausgesprochen, daß die Armee nicht kriegsbereit sei,
und Iswolski hatte außerordentliche Kredite für Heer und Flotte ge-
fordert. Man sprach in Rußland erregt von einer Abrechnung für
die jetzige Niederlage in drei bis fünf Jahren.
Am 14. März 1909 gelangte die serbisch-österreichische Krisis
auf ihren Höhepunkt. Aehrenthal war entschlossen, wenn nicht bis
zum 15. abends befriedigende Nachrichten aus Belgrad eintrafen,
sofort eine Verstärkung der Garnisonen in Bosnien und der Herze-
gowina anzuordnen. In diesem Augenblicke setzte eine deutsche
Vermittlungstätigkeit in Petersburg ein, der es gelang, die bosnische
Krise zu beenden.
Fürst Bülow hatte schon am 13. März dem russischen Bot-
schafter in Berlin, Grafen Osten-Sacken, erklärt, Deutschland sei
zu freundschaftlicher Vermittlung bereit, falls Rußland Serbien tat-
sächlich und ernstlich zur Ruhe bringen wolle. In diesem Falle war
Bülow geneigt, mit Iswolski in einen freundschaftlichen Gedanken-
austausch darüber einzutreten, wie ein energisches Vorgehen Ruß-
1 Gr. Pol. Nr. 9375.
2 Gr. Pol. Nr. 9428.
284
Das Jahr 1909
lands in Belgrad ermöglicht werden könnte, ohne daß Iswolski mit
seiner bisherigen Politik in Widerspruch geriet. Graf Pourtales
sollte nunmehr Iswolski in freundlicher, aber bestimmter Form
keinen Zweifel darüber lassen, daß Deutschland, wenn er von dem
deutschen Entgegenkommen keinen Gebrauch mache und sich weiter
gegen eine gemeinschaftliche Sanktion der vollzogenen Annexions-
tatsache sträube, zu seinem Bedauern den Dingen ihren Lauf lassen
müsse1.
Da man sich in Rußland zu einem Kriege nicht bereit fühlte,
handelte es sich von nun an nur noch um die diplomatische Beendi-
gung des Streites. Kaiser Wilhelm II. ließ seinem Verbündeten
sagen1 2, er werde, wie auch die Dinge sich gestalteten, treu an der
Seite Österreich-Ungarns bleiben. „Der Entscheidung Seiner Maje-
stät des Kaisers Franz Joseph und seiner Regierung über den Zeit-
punkt, in dem Österreich-Ungarns Geduld gegen Serbien ein Ende
haben müsse, sehen wir mit vollem Vertrauen entgegen.“ Darin lag
eine Wiederholung der schon mehrfach an Österreich-Ungarn ge-
gebenen deutschen Blanko-Vollmacht.
Auch England bemühte sich um eine unmittelbare Verständi-
gung zwischen Wien und Belgrad. Als Iswolski aber trotz des ihm
von Deutschland eröffneten Ausweges mit endgültigen Schritten
noch zu zögern schien, ließ ihm Bülow am 21. März 1909 durch den
Grafen Pourtales sagen3, Deutschland erwarte eine präzise Ant-
wort mit Ja oder Nein: „Jede ausweichende, verklausulierte oder
unklare Antwort würden wir als eine Ablehnung betrachten,
müssen. Wir würden uns dann zurückziehen und den Dingen ihren
Lauf lassen; die Verantwortung für alle weiteren Ereignisse würde
dann ausschließlich Herrn Iswolski zufallen, nachdem wir einen
letzten aufrichtigen Versuch gemacht, Herrn Iswolski behilflich zu
sein, die Situation in einer für ihn annehmbaren Weise zu klären.“
Die ultimative Form dieses Telegramms ist Deutschland wieder-
holt vorgeworfen worden. Aber auch Sir Edward Grey ließ damals
bei der Ausarbeitung seines Vermittlungsvorschlages erklären, wenn
dieser fehlschlage, ziehe er sich zurück und lasse den Dingen ihren
Lauf. Besonders der englische Botschafter in Petersburg, Sir A. Ni-
colson, hat damals und später alles getan, was in seinen Kräften
stand, um die Legende von einem drohenden Verhalten der deut-
schen Politik zu verbreiten und dadurch die deutsch-russischen Be-
ziehungen zu vergiften4.
Am 24. März erklärte Iswolski sein Einverständnis5. So kam
1 Qr. Pol. Nr. 9437.
2 Qr. Pol. 9454. (Bülow an Tschirschky, 18. März 1909.)
3 Qr. Pol. Nr. 9460.
4 Qr. Pol. Nr. 9503.
3 Qr. Pol. Nr. 9468.
285
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
es denn endlich am 30. März 1909 zu einem gemeinsamen Schritte
der Mächte in Belgrad. Die Vertreter Englands, Rußlands, Frank-
reichs und Italiens überreichten gemeinsam mit dem deutschen Ge-
sandten eine Note nebst einer Anlage, wonach Österreich Serbien
nicht angreifen würde. An der letzteren Erklärung, die Aehrenthal
tief verstimmte, war der deutsche Gesandte nicht mit beteiligt. Die
serbische Regierung nahm den ihr von den Mächten vorgeschlagenen
Wortlaut einer in Wien abzugebenden Erklärung an.
Die Kriegsspannung war beseitigt. Am 29. März konnte Bülow
im Reichstage beruhigende Erklärungen abgeben. Auf den Vorwurf,
daß Deutschland in der Vasallenschaft Österreichs gestanden habe,
erwiderte er damals, „es gibt hier keinen Streit um den Vortritt wie
zwischen den beiden Königinnen im Nibelungenliede; aber die Ni-
belungentreue wollen wir aus unserem Verhältnisse zu Öster-
reich-Ungarn nicht ausschalten“.
Nunmehr bat Wien die Mächte um ihre Zustimmung zur Be-
seitigung des Artikels 25 des Berliner Vertrages. Deutschland er-
teilte seine Zustimmung am 7., Italien am 11., England am 17., Ruß-
land und Frankreich am 19. April 1909x. Italien hatte sich während
der Krisis seinen Dreibundgenossen wieder mehr genähert.
Zweifellos hat Bülows Politik damals einen großen Erfolg er-
zielt. Die Kriegsspannung war beseitigt, Rußland ein allenfalls er-
träglicher Ausweg aus seiner schwierigen Lage eröffnet worden.
Kaiser Franz Joseph dankte am 22. April dem deutschen Kaiser für
seine „Bundestreue und vom deutschen Volke einmütig gebilligte
Haltung“ während dieser schweren Zeit. Der begeisterte Empfang,
den Kaiser Wilhelm II. am 14. Mai auf seiner Rückreise von Korfu
in Wien fand, war ein Beweis dafür, wie hoch man in den weitesten
Kreisen der österreichischen Bevölkerung Deutschlands Unterstüt-
zung damals eingeschätzt hat. Enttäuscht fühlten sich in der Donau-
monarchie nur diejenigen militärischen Kreise, die es, wie der Ge-
neralstabschef Conrad v. Hötzendorf, für unbedingt nötig gehalten
hatten, mit Serbien kriegerisch abzurechnen1 2. Zu einer Konferenz,
die Iswolski bei der Haltung der öffentlichen Meinung in Rußland
dringend wünschte, ist es nicht gekommen3. Die öffentliche Mei-
nung Rußlands fiel nach der Bekanntgabe der Zustimmung zu der
Annexion einer tiefen Depression anheim und wendete sich mit zu-
nehmender Gereiztheit gegen Deutschland4. „Man hört nur die eine
Phrase“, berichtete Graf Pourtales am 1. April 19095, „Rußland ist
die schwere Demütigung zugefügt worden, daß es gezwungen wor-
1 Qr. Pol. Nr. 9500.
2 Gr. Pol. Nr. 952S.
3 Or. Pol. Nr. 9509—9527.
4 Gr. Pol. Nr. 9487.
5 Gr. Pol. Nr. 9501.
286
Das Jahr 1909
den ist, den Erfolg des germanischen Dranges nach Osten, den ,Raub
slawischer Länder' anzuerkennen." Deutschland habe die gegen-
wärtige Schwäche Rußlands und die allgemeine Friedensliebe Euro-
pas benutzt, „um durch eine plumpe Drohung, daß es seinen Willen
sonst mit den Waffen durchsetzen würde, Rußland zu demütigen
und zur Kapitulation vor Baron Aehrenthal zu zwingen“. Die Sla-
wophilen vertraten mit Schärfe die Auffassung, die Kluft zwischen
Rußland und Deutschland müsse eine immer tiefere werden, Ruß-
land immer mehr an die Westmächte heranrücken, und es müsse
der große Kampf zwischen Slawen- und Germanentum, für den
Rußland augenblicklich noch nicht gerüstet gewesen sei, mit allen
Mitteln für eine nicht zu ferne Zeit vorbereitet werden.
Über den Erfolg seines Vorgehens gegen Serbien hat sich
Aehrenthal zu dem deutschen Botschafter v. Tschirschky selbst hin-
reichend skeptisch geäußert1. Was nütze es, sagte er zu Tschirschky,
wenn die bestehenden Gegensätze zwischen Österreich-Ungarn und
Serbien jetzt durch im Grunde doch wertlose Erklärungen serbi-
scherseits notdürftig überbrückt würden; endgültige Ruhe an seiner
südöstlichen Grenze werde Österreich damit doch nicht erlangen,
und in einigen Jahren werde man dann doch einrücken müssen.
Schon bei einer in Belgrad ausbrechenden Revolution werde Öster-
reich-Ungarn kaum ruhig bleiben können.
Hat die damalige deutsch-österreichische Politik den großen
Aufwand gelohnt? Zunächst war der von Wien erzielte Gewinn
ziemlich fragwürdig, da der durch die Annexion erlangte Land-
gewinn bei der dualistischen Grundlage Österreich-Ungarns mancher-
lei Schwierigkeiten bot. Nach Brandenburgs Urteil, dem ich völlig bei-
pflichte1 2, hat es sich für Aehrenthal hauptsächlich um einen Augen-
blickserfolg zur Stärkung seiner Stellung im Inneren gehandelt,
und Deutschland hatte es kaum nötig, bei dem Austrage der An-
gelegenheit so stark in den Vordergrund zu treten. „Es war das erste
Mal, daß wir uns von Österreich zur Wahrung seiner Interessen
in die vorderste Linie schieben ließen, statt als Rückendeckung im
Hintergründe zu bleiben. Es war die erste Betätigung des im vorigen
Jahre festgelegten Grundsatzes, daß Österreichs Orientinteressen
auch die unseren seien. Indem wir Rußland den Anlaß boten, unser
Vorgehen als drohende Einmischung in eine uns fernliegende Sache
bei den Westmächten zu denunzieren, befestigten wir die Vorstellung
von Deutschlands Herrschsucht und Bevormundungslust, die nament-
lich in Frankreich schon lebhaft genug war... Bei Iswolski überwog
der Zorn über die erlittene Schlappe alle anderen Erwägungen...“
Für Bülows Politik wurde in immer stärkerem Maße der Grund-
1 Wien, 26. März 1909. Gr. Pol. Nr. 9478.
a Von Bismarck zum Weltkriege. 2. Auflage. S. 293 ff.
287
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
satz entscheidend, daß Deutschland seinen letzten zuverlässigen
Freund nicht verlieren und ihn daher selbst dort unterstützen
müsse, wo Deutschland gar nicht einmal rechtzeitig genug auf
die von Wien geplanten Schritte vorbereitet war. Die Vorgänge
bei der ersten serbischen Krise haben eine sehr große Ähnlich-
keit mit denen von 1914. „Österreich entwirft seinen Plan, ohne
Deutschland zu fragen, teilt ihn erst kurz vor der Ausführung mit,
verlangt unbedingte Untersützung und erhält sie. Rußland tritt
sofort für Serbien ein und sucht die Frage als eine europäische dar-
zustellen, während Deutschland und Österreich den Konflikt zu
lokalisieren* streben. Deutschland wirkt zwar bis zu einem gewissen
Grade vermittelnd auch in Wien, läßt in Petersburg aber keinen
Zweifel, daß es Österreich im Notfall mit aller Macht unterstützen
wird... Der grundlegende Unterschied war nur, daß Rußland 1909
zum Kriege gar nicht, Frankreich höchst unvollkommen gerüstet war,
England aber vor schweren inneren Kämpfen stand und bei der noch
sehr losen Konstruktion der Entente viel stärkere Bewegungsfreiheit
hatte als fünf Jahre später1.**
Im Wetterwinkel des Balkans brauten sich neue Schwierigkeiten
zusammen. In der Nacht zum 13. April brach in Konstantinopel eine
gegen die Herrschaft der Jungtürken gerichtete Militärrevolte aus.
Eine starke jungtürkische Armee versammelte sich schon wenige
Tage nach dem Umstürze in Mazedonien und rückte unter Führung
des aus Berlin herbeigeeilten Militärattaches Majors Enver Bey gegen
die Hauptstadt vor, die am 24. April eingenommen wurde. Drei
Tage darauf erfolgte die Absetzung des Sultans Abdul Hamid,
dessen Bruder Reschad unter dem Namen Mohammed V. zum Sultan
ausgerufen wurde1 2. Die Lage der Türkei wurde durch die Schwierig-
keiten auf der Insel Kreta, deren Bevölkerung zu Griechenland
strebte, noch verstärkt. Deutschland hielt sich in der Kretafrage
durchaus zurück, war aber ebenso wie Österreich-Ungarn immer
bereit, einer jeden zwischen den Kretaschutzmächten, Frankreich,
England, Rußland und Italien, vereinbarten Lösung zuzustimmen,
wie beide Mächte überhaupt suchten, eine griechisch-türkische
Kriegsgefahr zu beschwören3.
Den deutschen Staatsmännern konnte die russische Verstim-
mung gegen Deutschland nicht verborgen bleiben. Vielleicht ließ sich
durch die Wiederanknüpfung lebhafterer persönlicher Beziehungen
zwischen den Monarchen Wandel schaffen. In diesem Sinne schrieb
Kaiser Wilhelm II. am 8.Mai an den Zaren4 und bat ihn um Mit-
teilung seiner Auffassungen über die Lage der Dinge in der Türkei.
1 E. Brandenburg, Von Bismarck zum Weltkriege. S.296/297.
2 Gr. Pol. Nr. 9575—9600.
3 Gr. Pol. Nr. 9601—9646.
4 Gr. Pol. Nr. 9533.
288
Das Jahr 1909
„Wenn Du und ich in offener und loyaler Zusammenarbeit für die
Aufrechterhaltung des Friedens wirken — was mein glühendster
Wunsch ist —, bin ich vollkommen überzeugt, daß der Frieden nicht
nur erhalten bleibt, sondern auch nicht einmal gestört wird.“ Der
Zar antwortete lebhaft dankend mit dem Vorschläge einer Zusam-
menkunft mit dem Kaiser im Finnischen Golf. Daraus entwickelte
sich die Begegnung der Monarchen in den Schären am 17. und 18.
Juni, die in jeder Beziehung befriedigend verlief1. Der Zar teilte dem
Kaiser mit, daß er verschiedene Gegenbesuche abzustatten habe, ins-
besondere bei dem Präsidenten der französischen Republik — diese
Begegnung erfolgte in Cherbourg am 31. Juli — und bei dem
Könige von England, den der Zar am 2. August in Spithead be-
grüßte. Der Zar versicherte mit großem Ernste, daß er, welchen
Zumutungen er auch bei diesen Besuchen begegnen sollte, auf nichts
eingehen werde, was eine Spitze gegen Deutschland habe oder einer
gegen Deutschland gerichteten Absicht entspringe1 2. Im Anschlüsse
an diese Begegnung wechselten die Monarchen freundschaftliche
telegraphische Begrüßungen aus, und Kaiser Wilhelm II. bezeichnete
am 22. Juni 1909 in Cuxhaven die Begegnung in den Finnischen
Schären als eine „energische Bekräftigung des Friedens3“. Bei seiner
Rückreise von England begrüßte der Zar übrigens den deutschen
Kaiser nochmals im Kaiser-Wilhelm-Kanal. Politische Fragen wur-
den hierbei nicht berührt4.
Die englisch-deutschen Beziehungen standen während des Jahres
1909 dauernd unter dem Eindruck der gegenseitigen Flottenbauten.
Als im März der Marine-Etat im englischen Unterhause beraten wurde,
vermied die englische Regierung durchaus den Anschein einer Kon-
troverse gegen Deutschland; Sir Edward Grey sagte aber doch mit
rückhaltloser Offenheit zu Metternich, der englische Flottenbau
müsse sich notwendig nach der stärksten fremden Flotte richten,
die in Europa in der Nähe der englischen Küste erbaut würde5. In
der Budgetkommission des deutschen Reichstages aber gab Staats-
sekretär v. Schoen am 23. März seiner Hoffnung Ausdruck, daß die
deutsch-englischen Beziehungen unbeirrt durch gelegentliche Erre-
gung über den Flottenausbau sich in freundschaftlichem Sinne weiter
entwickeln würden. In England bildeten die Befürchtungen wegen
des Ausbaues der deutschen Flotte keine Parteifrage; die englischen
Staatsmänner brachten daher immer wieder den Wunsch zum Aus-
1 Vgl. hierzu den Brief Iswolskis an den russischen Botschafter in Berlin, Grafen
Osten-Sacken, vom 2. Juli 1909. (B. v. Siebert, Diplomatische Aktenstücke zur
Geschichte der Ententepolitik der Vorkriegsjahre. S. 697 ff.)
2 Gr. Pol. Nr. 9552.
3 Gr. Pol. Nr. 9555.
* Gr. Pol. Nr. 9565, 9566.
5 Gr. Pol. Nr. 10269.
Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
289
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
druck, daß die beiderseitigen Marineattaches ermächtigt werden
möchten, den Fortschritt im Bau der großen Schiffe festzustellen.
Hierauf wollte der Kaiser aber unter keinen Umständen eingehen1.
In Übereinstimmung mit dem Admiral v. Tirpitz war er durchaus da-
gegen, den Engländern den Two-Power-Standard zuzugestehen,
wollte aber auf der Grundlage von 3:4 Linienschiffen mit den Eng-
ländern verhandeln.
Bülow hat die Notwendigkeit eines Einlenkens in der Flotten-
frage scharf erkannt. Als der Kaiser am 14. und 15. April 1909
auf seiner Reise nach Korfu in Venedig Station machte, hatte er
Gelegenheit, ihn persönlich zu sprechen und zu einem gewissen Ein-
lenken zu bewegen. Der Kaiser schloß sich Bülows Auffassung an,
daß der Abstand zwischen Deutschland und England immer der
gleiche bleiben werde wie jetzt. Er denke gar nicht daran, eine Flotte
zu bauen, die ebenso stark oder stärker wäre als die englische, und
sei mehr denn je davon überzeugt, daß ein Zusammenstoß mit Eng-
land ein Unglück sein würde1 2. Botschafter Graf Metternich wurde
daher angewiesen, Erörterungen mit den englischen leitenden Per-
sönlichkeiten über die Flottenbaufrage hinfort nicht mehr aus dem
Wege zu gehen. Seine ernstliche Erkrankung führte damals, da man
die Verhandlungen nicht unterbrechen wollte, zu einer Entsendung
des früheren Ersten Botschaftssekretärs v. Stumm für die Zeit vom
29. April bis 6. Mai nach London. Stumm berichtete am 7. Mai3 über
seine Londoner Eindrücke in dem Sinne, daß die zur Zeit in Eng-
land herrschende Stimmung ausschließlich auf die deutsche Flotten-
politik zurückzuführen sei und so lange anhalten werde, als Deutsch-
land an dieser Politik festhalte. Ganz im gleichen Sinne berichtete
Graf Metternich am 2. Juni, er wisse sehr wohl, daß seine Bericht-
erstattung über die Flottenfrage den Beifall des Kaisers nicht finde,
und daß auch der Admiral v. Tirpitz ihn deshalb angreife. „Es ist
natürlich für die Leitung unserer Marine nicht erfreulich zu hören,
daß unser Bautempo und unser Verhältnis zu England in Wechsel-
wirkung stehen. Ich würde aber die Geschichte fälschen, wenn ich
anders berichtete, als ich es tue, und ich kann meine Überzeugung
selbst nicht für die Gunst meines Souveräns verkaufen. Auch ist
es mir zweifelhaft, ob Seiner Majestät mit einer glatten und wohl-
gefälligen Berichterstattung gedient wäre, bis wir uns plötzlich vor
einem Kriege mit England sehen4.“
Diesen Standpunkt des Botschafters vertrat der Reichskanzler
mit anzuerkennender Schärfe in einer wichtigen Besprechung vom
3. Juni 1909 im Berliner Reichskanzlerpalais. Im Anschluß an die
1 Gr. Pol. Nr. 10 287.
2 Gr. Pol. Nr. 10 297.
3 Gr. Pol. Nr. 10304.
4 Gr. Pol. Nr. 10305.
290
Das Jahr 1909
Verlesung eines kaiserlichen Handschreibens vom 3. April1, das
Metternich scharf getadelt hatte, erklärte Bülow, die erste Pflicht
eines Vertreters im Auslande sei es, die Wahrheit zu berichten und
die Verhältnisse so zu schildern, wie sie wirklich lägen; einen Bot-
schafter, der das tue, werde er, der Reichskanzler, stets decken, un-
bekümmert darum, ob diese ungeschminkte Wahrheit zu hören,
immer angenehm sei; es nütze auch nichts, auf den Barometer zu
schelten, weil er schlechtes Wetter anzeige1 2. Das Gesamtergebnis
der Besprechung, bei der Admiral v. Tirpitz eine Verständigung über
Neubauten im Verhältnis 3:4 empfahl und hervorhob, daß Deutsch-
land die Gefahrzone in seinem Verhältnis zu England in höchstens
sechs Jahren, also etwa 1915, überstanden haben werde, befriedigte
den Grafen Metternich in keiner Weise. Er wurde beauftragt, in
London immer wieder anzudeuten, daß eine Verständigung auch
über die Flottenfrage durchaus möglich sei und zwar in Verbindung
mit einer für Deutschland freundlicheren Orientierung der allge-
meinen englischen Politik3.
Bald nach Einleitung der neuen deutsch-englischen Bespre-
chungen über die Flottenfrage trat Fürst Bülow vom Schauplatze ab.
In seinen Kämpfen um die Finanzreform verlor er die Mehrheit im
Parlament und bat um seine Entlassung, die der Kaiser am 14. Juli
bewilligte. Theobald v. Bethmann Hollweg wurde sein Nachfolger.
Zweifellos ging der Entschluß des Kaisers, sich von Bülow zu
trennen, schon auf seine tiefe Verstimmung in der „Daily Tele-
graph“-Affäre zurück. Der Kaiser hatte den Kanzler mit Auszeich-
nungen überhäuft, ihm weitestes persönliches Vertrauen gezeigt und
geradezu freundschaftlich für ihn empfunden. Um so tiefer hatte
ihn das Verhalten Bülows getroffen. Jetzt, nach Beendigung der bos-
nischen Krise und nach Bülows Mißerfolg in der inneren Politik,
schien die Möglichkeit eines Kanzlerwechsels gegeben. An die Stelle
des durch jahrzehntelange Beschäftigung mit der Außenpolitik in
alle Einzelheiten eingeweihten, glänzend befähigten Staatsmannes
trat Bethmann Hollweg, dem seine bisherige Tätigkeit noch keine
Möglichkeit gegeben hatte, sich mit außenpolitischen Fragen zu be-
schäftigen. Ein Mann von tiefer Bildung, von schneller Auffassungs-
gabe und einer über das normale Maß weit hinausreichenden Be-
fähigung trat an die Stelle des von außen gesehen sicherlich glän-
zender veranlagten Fürsten Bülow. Seine ihm eigene, von tiefem
Verantwortungsgefühl beseelte und beschwerte Denkart ließ ihn nur
zu leicht bei jeder auftauchenden Frage auch gleich die Rückseite,
die zu erwartenden Schwierigkeiten erkennen, wodurch seine Ent-
schlußfassung erschwert wurde. Eines aber erkannte er von vom-
1 Qr. Pol. Nr. 10294.
3 Qr. Pol. Nr. 10306.
3 Gr. Pol. Nr. 10308-10319.
19*
291
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
herein mit der größten Deutlichkeit, daß Deutschland aus seiner
Weltisolierung heraus jetzt unbedingt seine Beziehungen zu Eng-
lang besser gestalten müsse. Auch wendete er sich gleich bei Über-
nahme seiner Kanzlertätigkeit mit Schärfe gegen die Bevormundung
der deutschen Politik durch Baron Aehrenthal. Aehrenthal, so schrieb
Bethmann Hollweg am 13. August an den deutschen Geschäftsträger
Grafen Brockdorff-Rantzau1, wolle offenbar den Ton für die deut-
sche Politik angeben und sich auf solche Weise die Leitung im Drei-
bunde zulegen. „Es bedarf keines ausdrücklichen Hinweises, daß die
Herausbildung eines derartigen Verhältnisses zwischen Wien und
Berlin weder unserer Machtstellung noch meinen persönlichen Wün-
schen entsprechen würde. Wir werden diesbezüglichen Neigungen
Baron Aehrenthals gegenüber daher auf der Hut sein müssen.“
Beunruhigende Nachrichten über Rußland legten dem neuen
Reichskanzler den Wunsch nahe, Iswolski persönlich kennenzulernen.
In Petersburg fand im Juli 1909 eine Slawenkonferenz statt, auf
Grund deren ein auch in Berlin bekannt werdendes Geheimzirkular
an alle slawischen Organisationen des In- und Auslandes versandt
wurde1 2. Darin hieß es, Rußland sei im Begriff, die Mängel seiner
militärischen Organisation und die Unzulänglichkeit seiner inneren
Verwaltung durch eine gründliche Reform zu beseitigen; Serbien und
Montenegro müßten sich bereit halten, nach Bosnien und der Herze-
gowina vorzudringen; das jungtürkische Regime könne sich nicht
lange mehr behaupten. „Dann wird der Moment gekommen sein,
wo Rußland im Verein mit den übrigen Slawenvölkern in Aktion
treten muß, um die slawischen Ideale zu verwirklichen und um zu
verhüten, daß der Austro-Germanismus die Liquidation der Türkei
zu seinem Vorteile ausnutzt... Sicher wird in längstens zwei bis drei
Jahren die Zeit gekommen sein, wo die Slawenwelt unter der Füh-
rung Rußlands den großen Streich führen muß.“
Als Iswolski sich am 14. September 1909 auf der Rückreise
nach Petersburg in Berlin mit Bethmann Hollweg aussprach, lehnte
er es weit ab, eine deutschfeindliche Politik zu führen, wendete sich
aber scharf gegen die „ehrgeizige und unzuverlässige Balkanpolitik
des Grafen Aehrenthal“. Bethmann aber gewann den Eindruck, daß
Iswolski in seiner Nervosität über die ihm von Aehrenthal bereitete
diplomatische Niederlage fähig sein würde, völlig unüberlegt zu
handeln 3.
Als seine dringendste Aufgabe betrachtete Bethmann Hollweg
die Verständigung mit England. Am 12. August hielt er dem Kaiser
darüber einen grundlegenden Vortrag4, nachdem er sich vorher mit
1 Gr. Pol. Nr. 9658.
2 Gr. Pol. Nr. 9563.
s Gr. Pol. Nr. 9568.
4 Gr. Pol. Nr. 10 325.
292
Das Jahr 1909
Admiral v. Tirpitz ausgesprochen und dieser dabei eine Formel —
1:1,45 — für das Flottenabkommen vorgeschlagen hatte. Der Kaiser
trat mit Eifer und entschiedenem Optimismus für den sofortigen
Beginn amtlicher Verhandlungen ein und meinte, auch England
würde und müßte mit allen Mitteln bestrebt sein, einen positiven
Abschluß zu erzielen; ein günstiger Erfolg würde Deutschlands Stel-
lung im europäischen Konzert nicht nur materiell, sondern auch
moralisch entschieden stärken. Dem Reichskanzler schwebte ein Neu-
tralitätsvertrag vor, durch den England uns zusagte, neutral zu
bleiben, falls wir von Frankreich und Rußland einzeln oder zusam-
men angegriffen würden, oder falls wir, weil Rußland Österreich-
Ungarn angreife, auf Qrund unseres Bündnisses der Donaumonarchie
beistehen müßten. Ging England auf einen solchen Vorschlag nicht
ein, so durfte man annehmen, daß England entweder mit jenen bei-
den Mächten oder mit einer von beiden bereits Abmachungen für
diese Fälle getroffen habe oder mit der Absicht umgehe, im Falle
eines solchen Krieges auf die Seite unserer Gegner zu treten. Zweifel-
haft blieb allerdings, ob England bei seiner Tradition der freien
Hand auf eine solche Neutralitätserklärung eingehen würde1.
Die amtlichen Verhandlungen begannen am 21. August und wur-
den im November 1909 durch eine englische Parlamentskrise über
die Finanzbill unterbrochen. Die Hauptschwierigkeit der Verhand-
lungen lag darin, daß ein uneingeschränktes Neutralitätsversprechen
Englands eine entschiedene Umkehr von der dortigen Tradition be-
deutet hätte1 2. Bethmann Hollweg war durchaus bereit, auch eng-
lische Vorschläge entgegenkommend zu prüfen, und ließ das in
London mitteilen. Es gelang aber nicht, eine einigende Formel zu
finden, da Deutschland nach englischer Auffassung auf politischem
Gebiete weit mehr verlangte, als es auf dem Gebiete des Flotten-
baues zugestehen wollte. Admiral v. Tirpitz wollte aber unter Be-
rufung auf seine militärische Verantwortung unter das Verhältnis
3:2 nicht heruntergehen3. Während der großen Verhandlungspause
über die Flottenrüstungen — vom November 1909 bis Juli 1910 —
suchte man in Deutschland auf die Presse in dem Sinne einzuwirken,
daß die deutsch-englischen Beziehungen nicht mehr so viel erörtert
wurden wie bisher.
Schon im Dezember 1908 hatte der Botschafter Graf Monts
darauf hingewiesen, daß mit einer neuen Entente, nämlich einer
russisch-italienischen, gerechnet werden müsse4. Nach seiner Auf-
fassung mußte die Wiener Regierung, wenn sie die Bosnische Krisis
nicht bald beendete, damit rechnen, daß sich Rußland und Italien
1 Gr. Pol. Nr. 10326, 10327.
2 Gr. Pol. Nr. 10360.
3 Gr. Pol. Nr. 10357.
4 Rom, 8. Dezember 1908. Gr. Pol. Nr. 9877.
293
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
über eine Österreich entgegengesetzte Balkanpolitik verständigten.
Als nun am 24. Oktober 1909 der Zar, von Iswolski begleitet, nach
einem großen Umwege durch Frankreich und Deutschland, den er
machte, um nicht österreich-ungarisches Gebiet berühren zu müssen,
in Racconigi eintraf, um dort den König von Italien zu besuchen,
jubelte die Presse des Zweibundes über diese neue Schlappe des
Dreibundes. Die „Nowoje Vremja“ erklärte, der Grundsatz der
politischen Versicherung und Rückversicherung, den Bismarck
angewendet habe, um Deutschland auf seine jetzige hohe Stel-
lung zu erheben, werde jetzt auch von anderen in Anwendung
gebracht; der Dreibund müsse durch dieselbe Waffe zugrunde
gehen, die ihn geschaffen habe. In Italien hatte man sich so oft das
Gespenst des zu den Ufern der Adria und des Ägäischen Meeres vor-
drängenden Germanentums ausgemalt, daß man jetzt bereit er-
schien, den Schutz des Slawentums anzurufen1. Iswolski bestritt na-
türlich, daß sich die Besprechungen von Racconigi irgendwie gegen
Österreich-Ungarn oder den Dreibund gerichtet hätten. Die italie-
nische Regierung ließ in Berlin mitteilen, daß Italien und Rußland
sich über die Aufrechterhaltung des Status quo im Balkan und für
die Unterstützung des Nationalitätenprinzips verständigt hätten2.
In Berlin hätte man es gern gesehen, wenn das schon im Juni
1909 durch Tittoni bei Aehrenthal angeregte Balkanabkommen zwi-
schen Österreich-Ungarn und Italien schon vor der Begegnung von
Racconigi zum Abschluß gebracht gewesen wäre. Aehrenthal hatte
sich zunächst ablehnend verhalten, da er es als eine italienische An-
maßung empfand, daß Italien sich als Balkanmacht in eine Reihe mit
Österreich-Ungarn und Rußland stellen wollte. Trotz versuchter
deutscher Einwirkungen auf Aehrenthal im Sinne des Einlenkens
blieb Aehrenthal zunächst abweisend. Schließlich lenkte er ein, nun
aber wieder, ohne Berlin vorher zu verständigen. Erst am 20. De-
zember 1909 erfolgte in Wien der Austausch der Noten über das
österreichisch-italienische Balkanabkommen. Die beiden Mächte einig-
ten sich dahin, kein Abkommen irgendwelcher Art über Balkan-
fragen mit einer dritten Macht einzugehen, ohne daß das andere Ka-
binett auf dem Fuße vollkommener Gleichheit daran teilnahm, und
bekannten sich zu dem Geiste des Dreibundvertrages. Für den Fall,
daß Österreich-Ungarn den Sandschak von Novipasar, auf den es ja
verzichtet hatte, doch teilweise oder dauernd besetzen wollte, so
sollte auch hierüber vorher eine Vereinbarung mit Italien statt-
finden3.
Gegen Ende des Jahres 1909 setzten Versuche Iswolskis ein,
die Balkanvölker zu einem Bunde zusammenzuschließen. Während 1
2 Gr. Pol. Nr. 9879-9881.
8 Gr. Pol. Nr. 9888-9891.
1 Gr. Pol. Nr. 9855, 9856.
294
Das Jahr 1909
die Serben auf den Zerfall des österreich-ungarischen Staats wesens
vertröstet wurden, benutzte Iswolski das Gerücht, Bulgarien suche
einen engeren Anschluß an Österreich, zu einem Druck auf Sofia, der
sich schließlich im Dezember 1909 in dem Abschlüsse eines russisch-
bulgarischen Geheimvertrages ausgewirkt haben soll. Im 5. Artikel
dieses Vertrages soll ausgesprochen gewesen sein, „daß die Verwirk-
lichung der hohen Ideale der slawischen Völker auf der Balkanhalb-
insel, die dem Herzen Rußlands so nahe stehen, nur nach einem gün-
stigen Ausgange des Kampfes Rußlands mit Deutschland und Öster-
reich-Ungarn möglich ist1“. Da auch über serbische Versuche der An-
näherung an Bulgarien berichtet wurde1 2, so schien ein Balkanbund
im Entstehen, der hauptsächlich für Österreich-Ungarn bedenklich
war. Iswolski aber war lebhaft bemüht, alle Verantwortung für die
Vorgänge auf dem Balkan von sich abzuschieben. „Das Gerede über
die Balkankonföderation,“ sagte er im Dezember 1909 zum Grafen
Pourtales3, „und die daran geknüpften Kombinationen seien ab-
surd. Rußland wolle nichts als Frieden und Ruhe im nahen Orient,
und die Ratschläge, die es in Sofia und Belgrad erteile, lauteten
einfach dahin; ,Seid untereinander einig und vermeidet jeden An-
laß zu Konflikten mit Euren Nachbarn, Österreich-Ungarn und der
Türkei/ Wenn man den Rat, daß die Balkanstaaten sich untereinan-
der vertragen sollen, als Aufreizung zur Bildung eines Balkanbundes
mit der Spitze gegen eine dritte Macht hinzustellen suche, so sei
das eine frivole Hetzerei.“ In Berlin aber wußte man durch den tür-
kischen Botschafter, daß auf Anstiften Rußlands und durch Ver-
mittlung des Königs Ferdinand ein Balkanbund zwischen Bulgarien,
Serbien und Montenegro im Werden begriffen sei. Die türkische
Regierung bemühte sich daher um nähere Fühlung mit Rumänien4.
In Rumänien verhielt man sich ablehnend, betrachtete sich mehr
als „europäischer“ und nicht als Balkanstaat, wollte sich auch nicht
gegen die befreundete Türkei vorschieben lassen5.
Das Jahr 1909 schloß somit unter den Anzeichen neuer Verwick-
lungen auf dem Balkan. Deutlich ließ sich bereits erkennen, daß Is-
wolski nach seiner diplomatischen Niederlage in der bosnischen
Krisis sich neuen Zielen zuwendete.
Sowohl Fürst Bülow wie Bethmann Hollweg haben sich über
1 So bei Heinrich Friedjung, Das Zeitalter des Imperialismus 1884—1914.
2. Band, S. 282; auf Grund der „Dokumente aus russischen Geheimarchiven“, Ber-
lin 1918. S.27. Vgl. hierzu Friedrich Stieve, Iswolski und der Weltkrieg.
Berlin 1924. S. 7. Vielleicht hat es sich aber nur um einen russischen Entwurf
gehandelt.
2 Gr. Pol. Nr. 9735.
3 Petersburg, 27. Dezember 1909. Gr. Pol. Nr. 9743.
4 Gr. Pol. Nr. 9740-9742.
5 Gr. Pol. Nr. 9745.
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Deutschlands Lage Ende 1909 geäußert. Fürst Bülow sagt in seiner
„Deutschen Politik1“: „Anläßlich meines Rücktritts erklärten zwei
große und nicht besonders deutschfreundliche englische Blät-
ter, daß die Stellung Deutschlands eine größere und stärkere
sei, als sie seit dem Rücktritt des Fürsten Bismarck je ge-
wesen wäre. Von 1897 bis 1909 hatte sich eine bedeutsame Entwick-
lung vollzogen, die den Mitlebenden nicht immer zum Bewußtsein
gekommen ist, die aber die Nachwelt erkennen und würdigen wird.
Während dieser Jahre haben wir durch den Bau unserer Flotte den
vollen Übergang zur Weltpolitik vollzogen. Unser Aufstieg zur Welt-
politik ist geglückt. Wir haben uns von keiner Macht gegen die an-
dere vorschieben lassen und für niemanden die Kastanien aus dem
Feuer geholt, eingedenk der alten Wahrheit, daß das Maß seiner Un-
abhängigkeit einem Staat seine Stellung in der Welt gibt, und daß
ein großes Volk das Heil nicht bei anderen, sondern in sich
selbst sucht.“
Diesen Darlegungen, bei deren Beurteilung man sich vor Augen
halten muß, daß sie in der Stimmung des Weltkrieges 1916 er-
schienen sind, setzt Th. v. Bethmann Hollweg in seinen „Betrach-
tungen zum Weltkriege1 2“ folgendes Urteil entgegen: „Die äußere
Lage, die ich im Sommer 1909 vorfand, war.., zusammenfassend
gesagt und rein objektiv betrachtet, folgende: England, Frankreich
und Rußland waren zu fester Koalition zusammengeschlossen. An-
gegliedert war ihnen durch englisches Bündnis Japan. Die großen
englisch-französischen und englisch-russischen Gegensätze der frü-
heren Zeit waren durch Vereinbarungen beseitigt, bei denen jeder
Teil doch seinen Vorteil gefunden hatte. Italien, mit seinen Mittel-
meerinteressen zwar in Reibung mit den Westmächten, aber doch
zugleich auf sie angewiesen, hatte sich der Gruppe immer mehr ge-
nähert. Der Kitt im Gebäude der Koalition waren die durch Englands
Politik des do ut des etablierte Interessengemeinschaft der Koali-
tionsmächte untereinander und der Antagonismus jeder einzelnen
Macht gegen Deutschland. Die grundsätzliche Gegnerschaft der
französisch-russischen Allianz war bei Frankreich durch die erste
Marokkokrise, bei Rußland, übrigens in schnöder Undankbarkeit ge-
gen unsere Haltung in seinem Kriege mit Japan, durch die bos-
nische Krise gesteigert. Japan wiederum trug uns unsere Haltung in
Schimonoseki nach. Englands wirtschaftlicher Gegensatz zu dem
deutschen Nebenbuhler war durch unsere Flottenpolitik zu einem
akut politischen geworden.“ Angesichts dieser sehr ernsten Lage
sah Bethmann Hollweg nur einen Weg, den der Verständigung mit
England, um so die Hauptgefahr der französisch-russischen Allianz,
1 Berlin, Reimar Hobbing. 1916. S. 114.
2 Berlin, Reimar Hobbing. 1919. 1. Teil, S. 11.
296
Das Jahr 1909
die wir nicht sprengen konnten, dadurch zu beseitigen, daß dem
Zweibunde der englische Kredit für seine antideutsche Politik ge-
schmälert wurde. Der Kaiser trat dieser Auffassung lebhaft bei und
bezeichnete die dadurch gegebene Politik als die einzig mögliche.
Es ist bei uns in Deutschland schon zur Gewohnheit geworden,
in der Person des Reichskanzlers v. Bethmann Hollweg den eigent-
lich Schuldigen für den Ausbruch des Weltkrieges und sogar für
seinen Verlauf zu erblicken. Wenn man die Lage Deutschlands im
Sommer 1909 ganz vorurteilsfrei betrachtet, dann wird man doch
zu der Überzeugung kommen, daß sie damals eine höchst gefahrvolle
war. Für diesen Stand der Dinge trug nach den Untersuchungen des
Professors Erich Brandenburg, eines der besten Kenner des deut-
schen Aktenwerkes, in der Hauptsache Bülow die Schuld. „Er hatte
unter dem Einflüsse Holsteins das englische Bündnis zu schließen
versäumt und die Verständigung mit Frankreich von der Hand ge-
wiesen, er hatte durch die zweideutige und eigensinnige Marokko-
politik die Westmächte näher zueinander getrieben; er hatte die
utopische Kontinentalpolitik des Kaisers mitgemacht, sich schließ-
lich für den verhängnisvollen Grundsatz der unbedingten Vertre-
tung von Österreichs Orientpolitik gewinnen lassen, und als ihm
Bedenken gegen die von Tirpitz inspirierte Flottenpolitik des Kaisers
aufstiegen, diese nicht mit voller Energie geltend gemacht. Die Po-
litik der versäumten Gelegenheiten, für die er vor der Welt die Ver-
antwortung trägt, hatte Deutschland in eine Lage gebracht, deren
Schwierigkeit er schon gelegentlich empfand, aber noch nicht im
vollen Maße erkannte. Scheinbar hinterließ er das Reich in gesicher-
ter Stellung, in Wahrheit in einer höchst gefahrvollen Lage, deren
Überwindung die größte Vorsicht, Geschicklichkeit und Tatkraft
erfordert hätte1.“
Das Jahr 1910
Die Entwicklung auf dem Balkan bestimmte auch im Jahre 1910
in hohem Maße die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Groß-
mächten. Auf der Seite Österreich-Ungarns und Deutschlands
herrschte der Wunsch, die offenbar wieder erstarkende Türkei an die
Mittelmächte heranzuziehen, der um so berechtigter schien, als die
Türkei selbst schon seit November 1909 auf eine Militärkonven-
tion mit Österreich-Ungarn hinzuwirken begann. Kaiser Wilhelm II.
befürwortete mindestens militärische Abmachungen von General-
stab zu Generalstab. Der damals in der Türkei befindliche General-
oberst Frhr. v. der Goltz hielt aber die Zeit zum Abschlüsse von
Bündnissen oder Militärkonventionen mit der Türkei noch nicht
für gekommen. Kaiser Wilhelm und der Erzherzog-Thronfolger 1
1 Von Bismarck zum Weltkriege. 2. Auflage. S. 309.
297
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Franz Ferdinand erblickten indes in einem immer engeren An-
schlüsse der Türkei an die Zentralmächte eine der Hauptaufgaben
ihrer gemeinsamen Politik. In diesem Sinne hatten sie sich bei
einem Besuche des Erzherzog-Thronfolgerpaares in Berlin und Pots-
dam (11. bis 14. November 1909) ausgesprochen1. Deutscherseits
wirkte General Frhr. v. der Goltz für die Reorganisation der türki-
schen Wehrmacht, und man entschloß sich auch zu der von der
Türkei gewünschten Abgabe zweier deutscher Schiffe der Bran-
denburg-Klasse, die von der Türkei gekauft wurden. Der Ankauf
eines deutschen Unterseebootes seitens der Türkei kam nicht zu-
stande, wohl aber im Sommer 1910 die käufliche Abgabe von vier
Torpedobootszerstörern1 2. Im Lager der Entente erregten diese Ver-
käufe erhebliche Mißstimmung.
Im Frühjahr 1910 machte der Gedanke eines Balkanbundes aufs
neue von sich reden. Wenn man auch damals in Serbien geflissent-
lich betonte, Serbien müsse vor allem an seiner inneren Entwicklung
arbeiten, und die Erhaltung des bestehenden Balkanzustandes sei
daher besser als irgendein anderer3 4, so erregten doch verschiedene
Reisen von Balkanfürsten, die im Frühjahr stattfanden, die allge-
meine Aufmerksamkeit. So weilte das bulgarische Königspaar vom
23. Februar bis 3. März in Petersburg, bald darauf der König Peter
von Serbien vom 22. bis 26. März. Die beiden Monarchen statteten
bald nachher der Türkei in Konstantinopel einen Besuch ab. Wenn
auch Iswolski in Berlin bestimmt erklären ließ, die Reise der beiden
Balkanherrscher verfolge nur friedliche Zwecke, so widersprach dem
ein Bericht des Kapitäns zur See v. Hintze vom 7. März, wonach
König Ferdinand von Bulgarien in Petersburg ein gemeinsames
kriegerisches Vorgehen gegen die Türkei mit dem Ziele vorge-
schlagen haben sollte, Konstantinopel für Rußland, Mazedonien mit
Saloniki für Bulgarien zu gewinnen. Offenbar strebten die Balkan-
mächte nach einer Verständigung gegen die Türkei, wogegen sich
diese durch den Abschluß einer türkisch-rumänischen Militärkon-
vention, die zugleich eine Annäherung an den Dreibund bedeutet
hätte, zu sichern suchte. Rumänien aber wollte sich nicht binden1.
Vom 21. März bis 1. April 1910 weilte der Reichskanzler
v. Bethmann Hollweg in Rom, wo gerade eine Kabinettskrise zur
Bildung eines neuen Kabinetts Luzatti mit Marquis di San Giuliano
als Außenminister führte. Giuliano verhehlte nicht seine Bedenken
gegen die aktiver gewordene Politik Österreich-Ungarns auf dem
Balkan und befürchtete, daß Aehrenthal auch einmal Ansprüche auf
Serbien erheben könne. Der Reichskanzler tat, was in seinen Kräften
1 Or. Pol. Nr. 9780—9788.
2 Gr. Pol. Nr. 9804—9833.
3 Gr. Pol. Nr. 9747.
4 Gr. Pol. Nr. 9774—9779.
298
Das Jahr 1910
stand, um Aehrenthal und Qiuliano einander zu nähern. Der italie-
nische Außenminister wählte auch daraufhin den Weg- der persön-
lichen Verständigung und hatte am 31. August in Salzburg sowie
am 29. September in Turin Besprechungen mit Aehrenthal, die aber
die inneren Gegensätzlichkeiten Italiens und Österreich-Ungarns nur
noch schärfer hervortreten ließen. Alle Ministerbesuche und offi-
ziellen Erklärungen vermochten daran nichts zu ändern, zumal die
italienischen Staatsmänner kaum in der Lage waren, dem Irredentis-
mus der Grenzprovinzen scharf entgegenzutreten.
Bethmann Hollwegs Bemühungen um einen Ausgleich mit Eng-
land gingen inzwischen weiter. Im Reichstage sprach der Reichs-
kanzler am 5. März offen aus, daß Deutschland unbefangen und auf-
richtig ein freundschaftliches Verhältnis zu England pflegen wolle1.
Graf Metternich hielt indes den psychologisch günstigen Moment
für eine Verständigung, den Sommer 1909, für verpaßt und glaubte
nicht an die Möglichkeit besserer Beziehungen, solange Deutsch-
land an seinem Flottengesetz festhalte1 2. In diesem Sinne erklärte auch
Sir Edward Grey am 22. März dem deutschen Botschafter, ohne eine
Änderung des deutschen Flottengesetzes würde es für England
schwer halten, seine Flottenausgaben herabzusetzen; darauf aber
komme es an, denn England müsse sein Flottenbudget nach dem
deutschen richten3 4.
Der Tod König Eduards VII. am 7. Mai 1910 bildete für die
Gestaltung der deutsch-englischen Beziehungen einen Markstein.
Kaiser Wilhelm II. wohnte der Beisetzung persönlich bei, vermied
aber politische Gespräche mit dem jungen Könige4, was wesent-
lich zur Entspannung beitrug. Sachlich wurde aber für den Stand-
punkt in der Flottenfrage dadurch nichts geändert. Die im Juli in
London wieder einsetzenden Parlamentsverhandlungen über die
Flotte zeigten vielmehr, daß eine Verständigung mit Deutschland
als nicht möglich angesehen wurde, solange dieses an seinem Flot-
tengesetze festhielt. Graf Metternich glaubte auch kaum, daß Sir
Edward Grey auf das Thema „Flottenabkommen“ seinerseits zu-
rückzukommen beabsichtigte. Erst im August nahmen die Eng-
länder die Verhandlungen wieder auf, es traten aber wiederholt Ver-
zögerungen ein, die Bethmann lediglich der englischen Regierung
zur Last legte. So benachrichtigte der Reichskanzler am 14. Sep-
tember den damals auf Urlaub befindlichen englischen Botschafter,
daß die deutsche Antwort auf das letzte englische Memorandum
fertig gestellt sei5; Sir Edward Goschen meldete sich aber erst am
1 Or. Pol. Nr. 10374.
2 Gr. Pol. Nr. 10370.
3 Gr. Pol. Nr. 10379.
4 Gr. Pol. Nr. 10120, 10387—10 392.
5 Gr. Pol. Nr. 10406.
299
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
13. Oktober zur Entgegennahme des Schriftstückes, ohne ein be-
sonderes Interesse dafür an den Tag zu legen. Ein weiterer — im
wesentlichen ergebnisloser — Meinungsaustausch erfolgte zu Anfang
Dezember, bis der bis zum Jahresschluß dauernde englische Wahl-
kampf eine neue Unterbrechung hervorrief1.
Deutschlands Beziehungen zu Rußland wurden im Frühjahr 1910
dadurch etwas belastet, daß Deutschland auf die immer wiederhol-
ten Vorschläge des Gesandten Grafen Quadt, Deutschlands Stellung
in Persien nicht völlig preiszugeben, eine stärkere Interessiertheit
an Persien zu betonen begann, die aber lediglich wirtschaftliche Ziele
verfolgte. Rußland deutete das deutsche Hervortreten sofort dahin,
daß Deutschland in der persischen Angelegenheit jetzt eine Haltung
einnehme, die an die Marokkoepisode und an die bosnische An-
nexionskrisis erinnere. Deutschlands Wünsche gingen aber lediglich
auf wirtschaftliche Gleichberechtigung bei der Vergebung von per-
sischen Konzessionen und Anleihen hinaus. Der russischen Taktik,
es so darzustellen, als wenn Deutschland in Persien Sondervorteile
erstrebe, trat man deutscherseits entgegen. Bei den inneren Unruhen,
die in Persien im Sommer 1910 begannen, ließ Deutschland den in
vorderster Linie beteiligten Großmächten, England und Rußland, den
Vortritt, obwohl im Oktober 1910 in Konstantinopel eine türkisch-
persische Protestversammlung ein Danktelegramm an den deutschen
Kaiser als den treuesten Beschützer des Islam beschloß und ihn
bat, seine Hand auch über Persien zu halten. Deutschland ließ sich
aber nicht vorschieben und beschränkte sich auf den der persischen
Regierung gegebenen Rat, für dauernde Ordnung und Sicherheit im
Lande zu sorgen1 2.
Die Mißerfolge Iswolskis ließen in Petersburg seinen Ersatz
durch eine andere Persönlichkeit geraten erscheinen. Nach dem
Urteil des deutschen Botschafters Grafen Pourtales vom 23. August
1910 war Sasonow, der am 28. September zum russischen Außen-
minister ernannt wurde, während Iswolski als Botschafter nach
Paris ging, ein glühender russischer Patriot, der gleichfalls der An-
sicht war, Deutschland habe Rußland auf dem Berliner Kongreß
schlecht behandelt, und auch in der bosnischen Krise habe Deutsch-
land die russenfeindliche österreichische Politik unterstützt. Gegen
die Politik Aehrenthals äußerte auch er schwere Bedenken3 und
vertrat die Ansicht, daß der enorme Aufschwung des deutschen aus-
wärtigen Handels sowie das Wachstum seiner Marine in der Tat an-
fingen, für England bedrohlich zu werden.
Die Beziehungen Rußlands zu Österreich-Ungarn wurden im
1 Gr. Pol. Nr. 10443.
2 Gr. Pol. Nr. 10 069—10146.
3 Gr. Pol. Nr. 9574.
300
Das Jahr 1910
Verlaufe des Jahres 1910 wieder normalere. Darüber hinaus wollte
aber Aehrenthal nicht gehen und war auch nicht geneigt, irgendein
von Iswolski gewünschtes schriftliches Abkommen über den Balkan
zustande kommen zu lassen. In Deutschland aber hielt man sich
völlig zurück und ließ in allen Balkanfragen dem österreich-ungari-
schen Bundesgenossen die Vorhand1. Treffend gab Graf Pourtales
den Stand der Dinge zwischen den Kaisermächten wieder, wenn er
am 31.März nach Berlin berichtete1 2: „Kaum sind die .normalen di-
plomatischen Beziehungen' zwischen Rußland und Österreich-Ungarn
wiederhergestellt, so droht schon der Streit zwischen den beiden
Ministern von neuem auszubrechen."
Erst mit der Abberufung Iswolskis konnte an eine grundlegende
Änderung der Beziehungen zwischen Petersburg und Wien gedacht
werden. Aber auch nach dem Urteil des deutschen Botschafters
v. Tschirschky erschien eine mehr als nur äußerliche Annäherung
zwischen Österreich-Ungarn und Rußland in absehbarer Zeit kaum
möglich3. Nach seiner Ansicht mußte Deutschland es vermeiden,
an irgendeiner Abmachung über den Balkan teilzunehmen, da es
keine Balkanmacht sei: „Wir haben im vergangenen Jahre aus
Gründen höherer Politik das Schwergewicht unseres politischen
Einflusses für Österreichs Balkaninteressen in die Wagschale ge-
worfen; wir werden aber meines Erachtens gut tun, einer Wieder-
holung dieses Vorganges möglichst vorzubeugen4."
Für Anfang November 1910 stand ein Besuch des Zaren in
Potsdam bevor, für den man sich deutscherseits sorgfältig vorbe-
reitete. Der Besuch erfolgte von Darmstadt aus. Der Zar wünschte,
dem Kaiser seinen neuen auswärtigen Minister Sasonow persönlich
vorzustellen. Sasonow war schon über Berlin nach Darmstadt ge-
reist und hatte am 1. November bei dem russischen Botschafter,
Grafen Osten-Sacken, eine Begegnung mit dem Reichskanzler und
dem Staatssekretär v. Kiderlen-Wächter5, der im Juni zum Nach-
folger des als Botschafter nach Paris ernannten bisherigen Staats-
sekretärs v. Schoen ernannt worden war. Sasonow hatte bei dieser
Gelegenheit einen günstigen Eindruck auf die deutschen Staats-
männer gemacht6.
1 Gr. Pol. Nr. 9908-9912.
2 Gr. Pol. Nr. 9940.
* Gr. Pol. Nr. 9944.
4 Gr. Pol. Nr. 9949. Wien 1. Mai 1910.
6 Brandenburg (Von Bismarck zum Weltkriege, S. 320) kennzeichnet Kiderlen
wie folgt: „Zweifellos besaß er einen scharfen Verstand und überragte die meisten
seiner Kollegen an Willenskraft und Arbeitsfähigkeit. Aber er hatte einen Zug
von rücksichtsloser Brutalität und Draufgängertum in seinem Wesen, der in dieser
gefahrvollen Lage, wo es auf Vorsicht und Geschicklichkeit in erster Linie an-
kam, verhängnisvoll werden konnte.“
* Gr. Pol. Nr. 10152.
301
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Der Besuch des Zaren fand programmäßig am 4. November
statt und führte zu den sogenannten „Potsdamer Abmachungen“.
Auch der Zar betonte seinen Wunsch, für die Aufrechterhaltung des
Status quo auf dem Balkan einzutreten. Deutscherseits erklärte man
sich jederzeit zur Vermittlung zwischen Petersburg und Wien bereit
Sasonow meinte, daß Rußland seine geschichtliche Mission stets
darin erblickt habe, die christlichen Völker des Balkans zu befreien;
hierfür würde es auch in Zukunft einstehen. Deutscherseits folgte
darauf die Erklärung, daß Österreich-Ungarn auf dem Balkan kei-
nerlei expansive Pläne verfolge; sollte es sich etwa in der Zukunft
zu solchen Plänen bekennen, so sei Deutschland weder verpflichtet
noch gewillt, für sie einzutreten. Sasonow war über diese Auffassung
sehr erfreut und erklärte sich auch bereit, für die Lebensfähigkeit
der Türkei einzutreten, da ihr Verfall den Balkanfrieden bedrohen
würde. In Persien stoße Rußland bei der wirtschaftlichen Er-
schließung des Landes überall auf Schwierigkeiten, wofür Deutsch-
land die Schuld gegeben wurde. Die deutschen Staatsmänner be-
mühten sich, diese Auffassung zu zerstreuen. Schließlich verpflich-
tete sich Sasonow, wenn Deutschland auf Konzessionen für Eisen-
bahnen, Wege und Telegraphen in der russischen Zone Persiens ver-
zichte, dem Weiterbau der Bagdadbahn bis Bagdad keinerlei Hin-
dernisse in den Weg zu legen1.
Angesichts der großen Tragweite der „Potsdamer Abmachun-
gen“ wünschte Bethmann Hollweg, ihr Ergebnis schriftlich festzu-
legen und diese Festlegung möglichst durch Sasonow selbst be*-
stätigen zu lassen. Gegen eine solche Festlegung wehrte sich aber
Sasonow auf das Entschiedenste und zog sich schließlich hinter den
Zaren zurück, der eine solche schriftliche Fixierung nicht wolle. Der
Zar ließ nach Berlin mitteilen, er habe dem Kaiser das feste Ver-
sprechen gegeben, keine deutschfeindliche Politik Englands untere
stützen zu wollen, während der deutsche Kaiser ihm seinerseits zu-
gesichert habe, Deutschland werde eine expansive Politik Öster-
reich-Ungarns auf der Balkanhalbinsel nicht fördern. „Diese beiden
zwischen den Souveränen ausgetauschten Erklärungen seien in des
Zaren Augen mehr wert als schriftlicher Notenaustausch1 2.“ Mit
dieser Erklärung mußte man sich in Berlin zufrieden geben. Offen-
bar war sie durch Rücksichten auf den Zweibund und England, wo
die Potsdamer Besprechungen ein unliebsames Aufsehen erregten,
bestimmt. In Teheran verbreitete sich alsbald das Gerücht, daß
Deutschland Rußland bindende Zusicherungen in bezug auf Persien
gemacht habe, und beklagte sich über das immer gewalttätiger wer-
dende Auftreten der Russen und über die Willfährigkeit Englands
1 Gr. Pol. Nr. 10 155.
2 Gr. Pol. Nr. 10 174.
302
Das Jahr 1910
gegenüber diesem Auftreten: alles dies sei seit der Potsdamer Kaiser-
begegnung noch schlimmer geworden1.
Während Sasonow nicht geneigt war, eine allgemein verpflich-
tende Note über die Potsdamer Besprechungen zu unterzeichnen,
ließ er sich aber doch bereit finden, die in Berlin und Potsdam be-
sprochenen Punkte, soweit sie sich auf Persien und die Bagdadbahn
bezogen, in einem besonderen Notenaustausche schriftlich nieder-
zulegen1 2. Über den Wortlaut wurde monatelang hin und her verhan-
delt, bis endlich am 19. August das Abkommen über Persien unter-
zeichnet werden konnte. Darin kam zum Ausdruck, daß Deutschland
dort nur wirtschaftliche Ziele verfolge3.
Die Frage der Bagdadbahn, für deren Weiterbau auch Rußland,
Frankreich und England steigendes Interesse zeigten, wurde zwi-
schen den Großmächten verschiedentlich erörtert4. Der Botschafter
Jules Cambon in Berlin ließ deutlich erkennen, daß Rußland, Frank-
reich und England dabei zusammenzuwirken suchten.
Die deutsch-französischen Beziehungen entwickelten sich wäh-
rend des Jahres 1910 befriedigend. Beide Mächte traten dafür ein,
ihre marokkanischen Beziehungen möglichst vor neuer Beunruhigung
zu schützen. Als Fürst Radolin am 21. September 1910 sein Ab-
berufungsschreiben als Botschafter überreichte, versicherte ihm Prä-
sident Falberes, wenn Deutschland etwa heute in der Lage wäre,
Frankreich ganz Marokko anzubieten, er das Geschenk entschieden
ablehnen würde, weil er nicht in dies Wespennest stechen wolle5.
Die Potsdamer Besprechungen vom November 1910 wirkten in der
politischen Welt Frankreichs beunruhigend: man befürchtete da-
von eine Erschütterung der Grundsäulen der französischen Politik,
des Bündnisses mit Rußland und der Entente cordiale mit England.
Das Jahr 1911
Marokko
Seit dem Abschlüsse des deutsch-französischen Marokkoabkom-
mens vom 9. Februar 19096 hatte Deutschland in Marokko eine zu-
rückhaltende Politik geübt, wärend der Schwierigkeiten Spaniens
bei seinen Kämpfen mit den Rifkabylen den französisch-spanischen
Standpunkt unterstützt und so wesentlich dazu beigetragen, daßMulay
Hafid einlenkte und den Frieden mit den Rifkabylen vermittelte7.
1 Qr. Pol. Nr. 10 186—10 191.
2 Gr. Pol. Nr. 10192.
3 Gr. Pol. Nr. 10223.
4 Gr. Pol. Nr. 9989—10017.
6 Gr. Pol. Nr. 10515.
6 Siehe o. S. 275 und 283 ff.
7 Gr. Pol. Nr. 10474.
303
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Auch in den wirtschaftlichen Fragen suchte Deutschland immer eine
freundschaftliche Fühlung mit Frankreich aufrechtzuerhalten. In die-
sem Geiste nahm Kaiser Wilhelm II. in seine Thronrede vom 30. No-
vember 1909 die Bemerkung auf, er sehe mit Befriedigung, „daß das
mit der französischen Regierung getroffene Abkommen über Ma-
rokko in einem Geiste ausgeführt wird, der dem Zwecke, die bei-
derseitigen Interessen auszugleichen, durchaus entspricht1“. Auch die
Verhandlungen zwischen Frankreich und Marokko über eine Anleihe
hat Deutschland gefördert, indem es beim Sultan auf eine möglichste
Beschleunigung der Verhandlungen einzuwirken suchte, und es
hat dazu beigetragen, daß am 21. März 1910 das Abkommen über
die marokkanische Anleihe unterzeichnet werden konnte1 2.
War somit Deutschland in den Jahren, die auf das Abkommen
vom 9. Februar 1909 folgten, immer bestrebt, dem Geiste dieses
Abkommens getreu freundschaftliche Beziehungen zu Frankreich
aufrechtzuerhalten, obwohl es öfters Anlässe gab, an eigenmächtige
Absichten Frankreichs in Marokko zu glauben, so nahmen im Früh-
jahr 1911 die Dinge eine ernstere Wendung. Anfangs März kamen
aus Marokko alarmierende Nachrichten über den plötzlichen Aus-
bruch von Unruhen in verschiedenen Bezirken, die von der deutschen
Gesandtschaft in Tanger allerdings als etwas übertrieben bezeichnet
wurden. Am 4. April 1911 suchte der französische Botschafter in
Berlin, Jules Cambon, den Staatssekretär des Äußern v. Kiderlen
auf und sprach ernst von der Möglichkeit, daß Frankreich sich ge-
nötigt sehen könnte, durch die Entsendung einer Kolonne nach Fes
den Abzug der Europäer von dort zu erleichtern. Die Regierung der
Republik habe keinen anderen Wunsch, als die Sicherheit dieser
Europäer zu gewährleisten und Katastrophen zu vermeiden, die
schwere Folgen zeitigen könnten. Tatsächlich war im Januar 1911
eine französische Abteilung unter Leutnant Marchand von marok-
kanischen Stämmen in einen Hinterhalt gelockt und zum größten
Teil niedergemacht worden. Kiderlen schrieb dem Botschafter am
7. April3, daß die Entsendung einer Expedition nach Fes und die
Besetzung eines zweiten wichtigen Hafens durch Frankreich außer
Casablanca von der öffentlichen Meinung in Deutschland als ein
Schritt zur Beseitigung des Algeciras-Abkommens angesehen werden
würde. Er, Kiderlen, hoffe, daß die Regierung der Republik nur im
äußersten Notfälle zu einer militärischen Besetzungsmaßregel in Ma-
rokko schreiten werde.
In den nächsten Tagen lauteten die deutschen Nachrichten aus
Marokko beruhigender. Man war daher in Berlin erstaunt, als am
17. April der französische Botschafter mitteilte, in Paris habe man
1 Gr. Pol. Nr. 10486.
2 Gr. Pol. Nr. 10 506.
3 Gr. Pol. Nr. 10 527.
304
Marokko 1911
schlechte Nachrichten und sei daher zur Entsendung weiterer Truppen
entschlossen. Deutscherseits betonte man, man könne zur Entsen-
dung französischer Truppen nicht ermuntern, und Deutschland sei
nicht geneigt, durch Zustimmung zu den französischen Plänen die
Verantwortung für das Weitere mit zu übernehmen1.
Kaiser Wilhelm II. weilte in Korfu, als am 22. April ein alar-
mierendes Wolfftelegramm von neuen Schwierigkeiten in Marokko
berichtete. Der Kaiser wünschte ausweislich seines Telegrammes
vom 22.April1 2, die Franzosen gewähren zu lassen, wenn sie sich
mit Truppen und Geld tüchtig in Marokko engagierten. „Verstoßen
die Franzosen dabei gegen die Bestimmungen der Algecirasakte, so
können wir es zunächst den anderen Mächten, vor allem Spanien,
überlassen, dagegen zu protestieren. Vermutlich wird bei uns wieder
der Wunsch nach Entsendung von Kriegsschiffen laut werden. Mit
Kriegsschiffen können wir aber, da Tanger nicht bedroht ist, son-
dern das Aktionsfeld im Inneren liegt, nichts ausrichten. Ich bitte
Sie daher, einem etwaigen Geschrei nach Kriegsschiffen von vorn-
herein entgegenzutreten.“
Noch am 26. April betonte die Pariser Regierung ihren Wunsch,
einen Einmarsch in Fes zu vermeiden. Zwei Tage später erklärte
aber der französische Botschafter in Berlin, ein militärisches Vor-
gehen Frankreichs sei nunmehr notwendig geworden, um die in
Fes befindlichen Franzosen und übrigen Europäer zu retten. Kider-
len erwiderte dem Botschafter, wenn französische Truppen etwa
in Fes bleiben sollten, so daß der Sultan nur noch mit Hilfe französi-
scher Bajonette regiere, so könne Deutschland ihn nicht mehr als
den durch die Algecirasakte bestätigten Sultan ansehen. „Wir wür-
den in diesem Falle die Akte als erledigt betrachten und unsere volle
Aktionsfreiheit zurücknehmen.“ Die Verantwortung für die etwaigen
Folgen eines militärischen Vorgehens müsse Deutschland selbst-
verständlich der französischen Regierung überlassen3.
Nicht nur nach der deutschen Auffassung, sondern auch nach
dem Urteil des belgischen und russischen Gesandten in Tanger hatte
ein französischer Vormarsch nach Fes große Bedenken4. Die russi-
sche Presse ließ dabei kaum einen Tag vergehen, ohne die ma-
rokkanischen Wirren zu Ausfällen gegen Deutschland zu verwerten.
Nunmehr trat Kiderlen in den Vordergrund. Nach seiner Auf-
fassung, die er in einer Denkschrift vom 3. Mai niederlegte, und
über die er gemeinsam mit dem Kanzler dem Kaiser am 5. Mai Vor-
1 Or. Pol. Nr. 10 528—10 537.
2 Gr. Pol. Nr. 10 538. Kaiser Wilhelm II. an den Reichskanzler v. Bethmann
Hollweg.
3 Aufzeichnung des Staatssekretärs v. Kiderlen, 28. April 1911. Gr. Pol. Nr. 10 545.
4 Die belgischen Dokumente zur Vorgeschichte des Weltkrieges. Band 4, S. 316.
(Bericht vom 2. Mai 1911.)
20 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
305
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
trag hielt1, war nunmehr eine neue Einstellung der deutschen Politik
in bezug auf Marokko nötig. Seiner Meinung nach bahnte die Be-
setzung von Fes die Aufsaugung Marokkos durch Frankreich an.
Ein Einspruch war jetzt kaum möglich, wohl aber, falls die Fran-
zosen sich dauernd in Fes einzurichten schienen, eine in freundlicher
Form gehaltene Anfrage, wie lange die französische Regierung ein
Bleiben ihrer Truppen in Fes noch für erforderlich halte. Würde der
Abmarsch noch weiter hinausgezögert, so sei der Moment gekom-
men, den Signatarmächten zu erklären, Deutschland könne den
Sultan, der nur noch mit Hilfe französischer Truppen regiere, nicht
mehr als den von der Algecirasakte vorgesehenen selbständigen, sou-
veränen Herrscher anerkennen; die Akte sei damit durch die Macht
der Tatsachen zerrissen und sämtlichen Signatarmächten die volle
Freiheit des Handelns zurückgegeben. Kiderlen schlug die Entsen-
dung deutscher Kriegsschiffe nach Agadir vor. Der Kaiser stimmte
Kiderlens Darlegungen zu.
Über Englands Haltung in der Marokkofrage konnten in Berlin
Zweifel nicht bestehen. Sir Edward Qrey erklärte geradeheraus, die
englische Regierung habe zwar in anderen Fragen volle Handlungs-
freiheit und könne nach Gutdünken verfahren und verhandeln; in der
marokkanischen Frage aber sei sie durch das Abkommen mit Frank-
reich gebunden und zu seiner Unterstützung verpflichtet1 2. Als das
deutsche Kaiserpaar vom 14.—20. Mai mit der Prinzessin Viktoria
Luise am englischen Hofe weilte, um dort an der Enthüllung eines
Denkmals für die Königin Viktoria teilzunehmen, benutzte der Kaiser
sein Zusammensein mit dem englischen Könige, um ihm zu sagen,
Deutschland werde niemals um Marokko einen Krieg führen und
wolle sich dort nur die offene Tür sichern. Zugleich wies er auf
Kompensationen hin, die für Deutschland vielleicht an den Grenzen
seines afrikanischen Kolonialbesitzes in Frage kommen könnten. Der
König von England hatte nichts darauf erwidert3.
Agadir
Nicht ohne Kämpfe hatte eine französische Kolonne unter
Major Bremond Ende April Fes erreicht. Ihm folgte am 21. Mai
General Moinier. Frankreich ließ am 11. Juni in Berlin erklären, es
wolle die Algecirasakte nicht verletzen und werde seine Truppen so-
bald wie möglich zurückziehen4.
Die Entsendung zweier spanischer Dampfer in die marokkani-
schen Gewässer und die Landung spanischer Truppen in Larasch
1 Gr. Pol. Nr. 10 549.
s Gr. Pol. Nr. 10 561.
3 Gr. Pol. Nr. 10 562.
4 Reichskanzler v. Bethmann Hollweg an Kaiser Wilhelm II., 11. Juni 1911.
Gr. Pol. Nr. 10 565.
306
Agadir. 1911
brachte den Entschluß der deutschen Regierung zur Reife, nunmehr
gleichfalls zu handeln und eine vollendete Tatsache zu schaffen, um
sich nicht, wie Kiderlen sich in einem Schreiben vom 16. Juni an den
Stellvertretenden Staatssekretär Zimmermann1 II ausdrückte, Marokko
ohne Entschädigung vertragswidrig wegschnappen zu lassen. Kider-
len war entschlossen, sein Verbleiben im Amte von einem Vorgehen
in seinem Sinne abhängig zu machen. Als ihn Jules Cambon am 20.
und 21. Juni in Kissingen besuchte, sagte Kiderlen ihm, wir seien
bereit, uns in entgegenkommender Weise mit Frankreich über Ma-
rokko zu verständigen, wenn wir Kompensationen auf kolonialem
Gebiete erhielten, müßten dann aber erhebliche Ansprüche machen.
Kiderlen wußte es durchzusetzen, daß der Kaiser noch vor
Antritt seiner Nordlandreise auf Grund eines Vortrages des Reichs-
kanzlers und Kiderlens in Kiel am 26. Juni die Entsendung von
Kriegsschiffen genehmigte, obwohl er sich noch im April lebhaft
gegen eine solche Entsendung ausgesprochen hatte. Ihn veranlaßte
hierzu der Wunsch, nicht etwa Frankreich zu drohen, sondern end-
lich den Beginn freundschaftlicher Verhandlungen herbeizuführen
und einer als gefährlich angesehenen Verschleppung entgegenzu-
wirken. So wurde das auf der Heimreise von der südwestafrikani-
schen Station befindliche Kanonenboot „Panther“ nach Agadir ent-
sandt. Am 4. Juli wurde der „Panther“ durch S. M. S. „Berlin“ er-
setzt. Deutschland teilte die Entsendung des „Panther“ den Mächten
am 30. Juni in der Form mit, daß deutsche Häuser in Agadir und
Umgegend sich mit der Bitte um Schutz an die kaiserliche Regie-
rung gewandt hätten; diese entsende ein Kriegsschiff nach Agadir,
um ihren Staatsangehörigen und Schutzbefohlenen nötigenfalls
Schutz und Hilfe zu gewähren. „Sobald die Dinge in Marokko zu
dem früheren ruhigen Zustande zurückgekehrt sein werden, soll das
mit dieser Schutzmaßregel beauftragte Fahrzeug den Hafen von
Agadir wieder verlassen2.“ In der „Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung“ vom 1. Juli hieß es: „Die kaiserliche Regierung hat zu
diesem Zwecke zunächst die Entsendung von S. M. Kanonenboot
„Panther“, das sich in der Nähe befand, nach dem Hafen von Agadir
beschlossen und dies den Mächten angezeigt.“ In Paris und London
entstand daraufhin die Besorgnis, daß noch weitere Schiffe folgen
würden.
In Paris zeigte man sich überrascht, ebenso auch in England.
In Rom erklärte Giuliano, Italien sei bekanntlich durch sein Ab-
kommen über Tripolis und Marokko gebunden, sich keiner Aktion
Frankreichs in Marokko zu widersetzen. In Petersburg betonte man,
es sei erwünscht, die Marokkofrage als Reibungsfläche endgültig
aus der internationalen Politik auszuschalten. Als Kiderlen dem russi-
I Gr. Pol. Nr. 10572.
II Gr. Pol. Nr. 10 578.
20*
307
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
sehen Botschafter in Berlin, Grafen Osten-Sacken, auf seinen Wunsch
die Bedeutung des deutschen Vorgehens in Agadir auseinandersetzte
und seinen Willen bekundete, sich mit den Franzosen „ohne Rekri-
minationen über das Geschehene“ auch auf anderer Grundlage zu
einigen, bot der Graf eine freundschaftliche Vermittlung in Paris an1.
Jules Cambon war anfangs Juli nach Paris gereist, um Weisun-
gen einzuholen. Nach Berlin zurückgekehrt suchte er alsbald Kiderlen
auf. Als er die Möglichkeit von Entschädigungen im Kongo andeu-
tete, erwiderte ihm Kiderlen, in diesem Falle müsse Deutschland aber
erhebliche Ansprüche stellen. Im Laufe der weiteren Verhandlungen
nannte Kiderlen dem Botschafter den ganzen französischen Kongo
als die von Deutschland geforderte Entschädigung, allerdings mit
dem Hinzufügen, daß er nicht endgültig ermächtigt sei. Dem Kaiser,
der sich auf der Nordlandreise befand, berichtete der Reichskanzler
am 20. Juli1 2, durch zähe Verhandlungen werde Deutschland seinen
Willen durchsetzen können; wenn Deutschland auf territoriale Fest-
setzung in Südmarokko verzichte, so verhelfe es Frankreich zum Ab-
schluß seines großen nordafrikanischen Kolonialreiches, und das sei
ein so großer Dienst, daß Frankreich sich von der Notwendigkeit
eines großen Gegendienstes überzeugen werde. Der Kanzler bat um
Ermächtigung, die Verhandlungen fortzuführen, und versicherte aus-
drücklich, daß er über den vom Kaiser befohlenen Verhandlungs-
rahmen ohne erneute ausdrückliche Befehle keinen Schritt hinaus-
gehen würde. Daraufhin genehmigte der Kaiser die Weiterführung
der Verhandlungen3.
Zeitweise sah Kaiser Wilhelm II. während seiner Nordlandreise
die Lage als so bedrohlich an, daß er am 17. Juli in Berlin anfragen
ließ, ob seine Rückkehr geboten sei. Der Rat im kaiserlichen Ge-
folge Gesandter v. Treutier wies bei diesem Anlasse darauf hin, daß
es, wie der Reichskanzler ja wisse, sehr schwer sein werde, „Seine
Majestät für Schritte zu gewinnen, von denen Allerhöchstderselbe
annimmt, daß sie den Krieg herbeiführen würden4“. Bethmann Holl-
weg telegraphierte am 18. Juli zurück, daß für eine beschleunigte
Rückkehr des Kaisers ein Grund nicht vorliege.
Ein Artikel der „Times“ vom 20. Juli mit der Überschrift
„We understand“ bezeichnete den Eintritt Englands in die Marokko-
krisis. In dem Artikel waren die deutschen Kompensationsforde-
rungen im Kongo mit einer Kartenbeigabe erläutert und ausgeführt,
daß diese Kompensationen englische Interessen in Afrika in mehre-
ren wichtigen Punkten berührten5.
1 Gr. Pol. Nr. 10 593.
2 Gr. Pol. Nr. 10 613.
3 Gr. Pol. Nr. 10 614.
4 Gr. Pol. Nr. 10609.
3 Gr. Pol. Nr. 10616.
308
Agadir. 1911
Tags darauf ersuchte Sir Edward Qrey den Grafen Metternich
um eine Zusammenkunft und sagte ihm, bei einer Regelung der Ma-
rokkofrage müsse England bei seinen großen dortigen Interessen mit
beteiligt sein. Graf Metternich gewann den Eindruck, daß Grey das
Scheitern der Verhandlungen mit Frankreich befürchtete, daß er die
Lage daher sehr ernst ansah und einen deutschen Stützpunkt in Ma-
rokko nicht zugestehen wollte.
Am gleichen 21. Juli hielt Lloyd George im Mansionhouse eine
zwischen ihm, Sir Edward Grey und Asquith in gemeinsamer Be-
ratung festgelegte Rede. Darin kam die Wendung vor, daß, wenn
eine Lage entstände, wo Englands Stimme als unerheblich im Rate
der Völker zur Seite geschoben werde, daß dann Friede um jeden
Preis eine Demütigung sein würde, die ein großes Land nicht er-
tragen könnte; die Nationalehre sei keine Parteifrage, ebensowenig
wie die Sicherheit des großen internationalen englischen Handels.
Diese Rede, in der Presse auffallend herausgebracht, im „Daily
Chronicle“ z. B. mit der Aufschrift „Englands Warnung an Deutsch-
land. Die Nationalehre steht auf dem Spiel“ erregte ungeheures Auf-
sehen. In England herrschte damals eine so große Beunruhigung, daß
man ernstliche Kriegsvorbereitungen zu treffen begann. So berich-
tete Graf Metternich am 26. Juli, daß die Atlantische Flotte Befehl
erhalten habe, die Kreuzfahrt nach Norwegen aufzugeben und sich
nach Portsmouth zu begeben1.
In Berlin suchte man nunmehr festzustellen, ob und wie weit
die englische Regierung durch eine Abtretung des französischen
Kongo englische Interessen als berührt erachten würde. Kaiser Wil-
helm II. benutzte am 12. August die Gelegenheit der Enthüllung einer
Gedenktafel für den verstorbenen König Eduard VII. in Homburg
v. d. H., um mit dem früheren Botschafter Sir Frank Lascelles und
dem damaligen Botschafter Sir Edward Goschen über die deutsch-
englischen Beziehungen zu sprechen. Der Kaiser regte bei dieser
Gelegenheit einen persönlichen Besuch Sir E. Greys in Berlin an,
zu dem es aber nicht gekommen ist. Hinsichtlich der Marokko-
frage betonte der Kaiser, sie sei für Deutschland eine Ehrensache;
trügen die Franzosen unseren berechtigten Forderungen nicht Rech-
nung, so werde er sich auf den vertragsmäßigen Standpunkt der
Algecirasakte stellen und nicht eher ruhen, wenn erforderlich mit
dem Schwerte in der Hand, bis der letzte Franzose sich aus Marokko
zurückgezogen habe1 2. England habe jetzt die Gelegenheit, sein Teil
zu einer friedlichen Beilegung des deutsch-französischen Konfliktes
beizutragen; es möge aufhören, die deutsch-französischen Verhand-
lungen zu hintertreiben, und statt dessen in loyaler Weise auf die
1 Gr. Pol. Nr. 10615-10631.
2 Gr. Pol. Nr. 10638, 10639.
309
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Franzosen einwirken, damit sie Deutschlands berechtigte Forde-
rungen annähmen, durch die englische Interessen in keiner Weise
beeinträchtigt würden. Mit diesen deutlichen Worten wollte der
Kaiser den Gerüchten den Boden entziehen, daß in der Marokko-
frage Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und dem Reichs-
kanzler beständen.
England traf damals tatsächlich Kriegsvorbereitungen, über die
der deutsche Militärattache in London, Major Ostertag, wiederholt
berichtete. Schon am 20. Juli hatte, wie wir jetzt aus dem französi-
schen Generalstabswerk über den Weltkrieg erfahren haben, im
französischen Kriegsministerium eine Konferenz zwischen dem Direk-
tor der militärischen Operationen im englischen Generalstabe, Ge-
neral Wilson, und dem französischen Generalstabschef Dubail statt-
gefunden, wobei man sich über die Zusammensetzung der englischen
Landungsarmee, über ihren Antransport und Aufmarsch weitgehend
verständigte. In London tagte am 23. August der Reichs Verteidi-
gungsausschuß in geheimer Sitzung, wie überhaupt eine fieberhafte
Tätigkeit der Militär- und Marinebehörden einsetzte, um für den
Ausbruch eines Krieges gerüstet zu sein1. Aus Paris erstattete der
Militärattache Major v. Winterfeldt mehrere Berichte über die dorti-
gen militärischen Vorgänge. Seiner Überzeugung nach war die deut-
sche Armee der französischen, besonders auch als Ganzes betrachtet,
erheblich überlegen. Um so stärker betonte die französische Presse
die Kriegsbereitschaft Frankreichs. Dem Zusammentreffen des fran-
zösischen Generalstabschefs Dubail mit dem russischen Generalstabs-
chef Shilinsky in Krasnoje Selo am 31. August 1911 kam unter diesen
Umständen eine besondere Bedeutung zu. Man einigte sich dort über
ein ausführliches Protokoll1 2, in dessen Artikel 1 die Niederlage der
deutschen Heere unter allen Umständen als das erste und hauptsäch-
lichste Ziel der verbündeten Armeen bezeichnet wurde. Im Artikel 2
hieß es: „daß die Mobilmachung des deutschen Heeres Rußland und
Frankreich verpflichtet, sofort und gleichzeitig alle ihre Streitkräfte
bei der ersten Nachricht hiervon mobilzumachen, ohne daß es einer
vorhergehenden Verabredung bedarf, aber daß ihnen eine solche
Verabredung unentbehrlich erscheint, falls nur von Österreich oder
Italien teilweise oder selbst allgemein mobilgemacht wird“. Beide
Generalstabschefs rechneten damit, daß Deutschland im Kriegsfälle
den größten Teil seiner Streitkräfte gegen Frankreich richten und nur
ein Minimum an Truppen gegen Rußland belassen werde.
In Deutschland hat man selbst während der schärfsten Krisen-
zeit an der Auffassung festgehalten, daß der Friede zwischen
1 Gr. Pol. Nr. 10652.
2 Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914. Herausgegeben von
Friedr. Stieve. Berlin, Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte,
1924. Bd. 1, S. 137ff.
310
Agadir. 1911
Deutschland und Frankreich nicht ernstlich bedroht sei. Dem ent-
sprach es auch, daß die deutschen Manöver ohne jede Änderung pro-
grammäßig abgehalten worden sind1. Die deutschen Staatsmänner
waren entschlossen, es nicht zum Kriege kommen zu lassen.
Das Marokko-
und Kongo-Abkommen vom 4. November 1911
Inzwischen gingen die Verhandlungen weiter. Gegen den vom
Auswärtigen Amte beabsichtigten Austausch kolonialen Gebietes, be-
sonders Togos, an die Franzosen, um dadurch die ganze französi-
sche Kongokolonie zu gewinnen, erhob der Staatssekretär des Reichs-
kolonialamts v. Lindequist, gestützt auf die deutschen Kolonialkreise,
lebhafte Bedenken. Er geriet dadurch in scharfe Auseinandersetzun-
gen mit Kiderlen und reichte schließlich seinen Abschied ein. In Paris
wurden die Verhandlungen hauptsächlich durch den Ersten Bot-
schaftssekretär Frhr. v. der Lancken, französischerseits durch den
Vertrauensmann des Ministers Caillaux, Fondere, geführt. Der Kaiser
drängte, nachdem er am 28. Juli von seiner Nordlandreise zurück-
gekehrt war, auf Beschleunigung der Verhandlungen, besonders
auch im Interesse der künftigen deutsch-französischen Beziehungen.
Nach peinlichen Verhandlungen über die französischen An-
gebote kam es schließlich so weit, daß ein auf Marokko bezügliches
Abkommen am 11. Oktober paraphiert werden konnte. Caillaux so-
wohl wie der Außenminister de Selves wünschten nun auch eine
baldige Verständigung über den Kongo in einer Form, die für das
französische Empfinden keinen Stachel zurückließ. Die deutschen
Kolonialkreise legten auf das Gebiet des französischen Kongo keinen
Wert. So berichtete Staatssekretär v. Lindequist am 31. Oktober:
„Wir sollen den Franzosen wertvolle, aussichtsreiche Gebiete ab-
treten. Die Franzosen geben uns dafür ungleich größere Gebiete, die
aber zum größten Teile wertlos sind, in denen sie abgewirtschaftet
haben, und die sie froh sind loszuwerden1 2.“
Am 2. November 1911 meldete der Reichskanzler, das Kongo-
Abkommen mit Frankreich sei heute paraphiert worden, worauf
ihm der Kaiser „zur Beendigung dieser delikaten Angelegenheit“
bestens gratulierte. Die beiden Verträge, das deutsch-französische
Marokko-Abkommen vom 4. November 1911 und das entsprechende
Kongo-Abkommen vom gleichen Tage, wurden durch Kiderlen und
Jules Cambon in Berlin am 4. November unterzeichnet. Gleichzeitig
tauschten Kiderlen und Jules Cambon ergänzende Schreiben unter-
einander aus, wonach Meinungsverschiedenheiten über den Gebiets-
wechsel in Afrika vorkommendenfalls einem Schiedsgericht entspre-
1 Gr. Pol. Nr. 10 726.
2 Gr. Pol. Nr. 10 770.
311
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
chend dem Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907 unterbreitet
werden sollten. Die Zustimmung der Mächte, die Deutschland am
4. November in London, Wien, Rom, Madrid und Petersburg nach-
suchte, erfolgte bis Ende Dezember1.
Das Gesamtergebnis der zweiten Marokkokrise war für Deutsch-
land ein Zuwachs von rund 275000 qkm des französischen Kongo-
gebietes; Deutschland erreichte damit den Ubangi und den Kongo
und trat in der Gegend des Tschadsees etwa 12000 qkm an Frank-
reich ab. Deutschlands Gegenleistung bestand in der Überlassung
Marokkos an Frankreich gegen Bürgschaft für Deutschlands dortige
wirtschaftliche Interessen. Die deutschen Kolonialkreise lehnten, wie
bereits erwähnt, den Kongo-Erwerb von vornherein ab, da der Zu-
wachs an Land durch das dortige Sumpfklima und die Schlafkrank-
heit entwertet sei, und beklagten Deutschlands Rückzug aus Marokko.
Die Haltung der Presse war uneinheitlich. In Paris folgerte
man aus den Zornesausbrüchen der deutschen Blätter, daß das Ab-
kommen denn doch für Frankreich recht vorteilhaft sein müsse. Die
gesamte englische Presse aber begrüßte den Abschluß mit seltener
Einmütigkeit. Da die Franzosen auf baldige Zurückziehung der noch
vor Agadir liegenden deutschen Schiffe „Berlin“ und „Eber“ Wert
legten, ordnete der Kaiser schon am 28. November ihre Zurück-
ziehung an.
Wie sehr man in England befürchtet hatte, daß es über Ma-
rokko zum Kriege kommen könne, wurde hauptsächlich nach Ab-
schluß der Krise klar. Den im August in Großbritannien und Irland
herrschenden Eisenbahnerstreik hatte die Regierung hauptsächlich
durch den vertraulichen Hinweis darauf zu beenden vermocht, daß
England jeden Augenblick genötigt sein könne, mit seiner gesamten
Streitkraft an einem etwaigen Kampfe zwischen Frankreich und
Deutschland teilzunehmen. Major Ostertag hatte am 22. Oktober
1911 Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Kriegsminister Hal-
dane, der klar heraus sagte, es verstehe sich ganz von selbst, daß
England Frankreich unterstützen müsse, falls Deutschland letzterem
den Krieg erkläre; deshalb habe man auch im August und Septem-
ber tatsächlich Kriegsvorbereitungen getroffen. Hierüber äußerte
sich auch das konservative Parlamentsmitglied Kapitän Faber am
9. November 1911, brachte aber zum Teil unrichtige Angaben.
Nachdem die Marokkodebatte im deutschen Reichstage vom
5. Dezember mit ihrem ruhigen und würdigen Verlaufe eine gewisse
deutsch-englische Entspannung bewirkt hatte, konnte der deutsche
Militärattache Major Ostertag am 12. Dezember bei einem geselli-
gen Zusammensein mit Sir Edward Grey und Lord Haldane die
überstandene Krisis unbefangen erörtern. Grey sagte bei diesem An- 1
1 Qr. Pol. Nr. 10 733—10 777.
312
Das Marokko- und Kongo-Abkommen 1911
lasse, man übersehe offenbar in Deutschland, daß England gezwun-
gen sei, in der Marokkoangelegenheit „unter gewissen Verpflich-
tungen Frankreich gegenüber“ zu handeln. Jedenfalls konnte nach
den Vorgängen von 1911 ein Zweifel an der starken Bindung Eng-
lands an Frankreich deutscherseits kaum noch bestehen, wenn es
auch vielleicht zu weit ging, wie Major Ostertag es in einem Be-
richte vom 17. Januar 1912 tat1, von dem „Bestehen einer Art
Schutz- und Trutzbündnisses zwischen England und Frankreich“ zu
sprechen. Beide Länder hatten jedenfalls zu erkennen gegeben, daß
sie im Kriegsfälle gemeinsame Sache gegen Deutschland machen
würden.
Der italienisch-türkische Krieg
Seit langen Jahren hatte Italien auf den Erwerb von Tripolis
hingearbeitet und die Mächte dafür zu gewinnen gesucht. Frank-
reichs Vorgehen in Marokko löste in Italien die Besorgnis aus, daß
man vielleicht in Tripolis zu spät kommen würde. So entschloß man
sich in Rom, die Marokkokrisis zum Vorgehen zu benutzen. Man sah
dort die italienischen Ansprüche auf Tripolis als durch die Dreibund-
bestimmungen und die Abmachungen mit Frankreich und England
gewissermaßen garantiert an. Italien verständigte daher England
am 26. Juli, Rußland am 26. August amtlich davon, daß es entschie-
dene Maßregeln zu ergreifen beabsichtige, um die normale Ord-
nung in Tripolis herzustellen1 2. Die Dreibundmächte wurden nicht
vorher unterrichtet.
Um die Mitte des Monats September wurden italienische Kriegs-
vorbereitungen sichtbar. Die deutsche Regierung tat alles, was in
ihren Kräften stand, um Italien von Unbesonnenheiten abzuhalten,
und ließ am Goldenen Horn auf ein möglichst entgegenkommendes
Verhalten der Türkei gegenüber den italienischen Wünschen hin-
wirken.
Ende September wurde es klar, daß eine kriegerische Aktion
Italiens unmittelbar bevorstand. Am 28. September ließ Italien in
Konstantinopel ein Ultimatum überreichen. Eine türkische Antwort
vom 29. September lehnte die italienische Okkupation von Tripolis
ab, worauf Italien mit der Kriegserklärung antwortete.
Angesichts der für Deutschland entstandenen schwierigen Lage
hielt Kaiser Wilhelm II., der damals in Rominten weilte, eine Ver-
ständigung mit Frankreich für geboten. Kiderlen wurde telegraphisch
angewiesen3, nach Abschluß des Marokkoabkommens Vorschläge
für eine Entente mit Frankreich zu machen, wonach beide Mächte im
1 Gr. Pol. Nr. 10 672.
s Gr. Pol. Nr. 10821.
3 28. September 1911. Gr. Pol. Nr. 10 843.
313
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Falle eines ausbrechenden Balkan- und Weltbrandes sich gegen-
seitig unterstützen und gemeinsam für die Eindämmung des Feuers
eintreten sollten. Der plötzliche Ausbruch des Tripoliskonfliktes
machte auf den Kaiser einen tiefen Eindruck und löste bei ihm
sofort Erwägungen aus, wie man einen Weltkrieg vermeiden
könne1. Für eine Entente mit Frankreich war aber eine Möglichkeit
nicht gegeben.
Anfangs Oktober beeilte sich Italien, in Tripolis eine voll-
endete Tatsache zu schaffen, bombardierte am 3. Oktober die Stadt,
besetzte sie am 5. und dehnte die Besetzung in den kommenden
Wochen zunächst auf die Küstenplätze aus. Die Türkei, die sich
dauernd um eine Vermittlung des deutschen Kaisers bemühte, ließ
schon am 8. Oktober in Berlin ihren Wunsch erklären, auf neuer
Grundlage Friedensverhandlungen zu eröffnen, da der Augenblick
für eine wirksame Vermittlung gekommen sei. Deutscherseits hatte
man schon anfangs Oktober erwogen, ob nicht der baldige Abschluß
eines Waffenstillstandes möglich sei. In Italien bestand aber nur
wenig Geneigtheit, auf die Anwendung kriegerischer Mittel zu ver-
zichten. Deutschland sah sich daher genötigt, neutral zu bleiben.
Seine Parteinahme für die Türken hätte nicht nur den Dreibund ge-
sprengt, sondern auch Italien in die Arme des Dreiverbandes ge-
trieben. Da die Großmächte uneinig waren, England insbesondere
den Zeitpunkt für Vermittlungsversuche noch nicht für gekommen
erachtete, gingen die Dinge zunächst ihren Gang, bis am 4. Novem-
ber, dem Tage des Abschlusses des Marokkoabkommens, Italien den
Mächten die Besitznahme von Tripolis und der Cyrenaika, also die
endgültige Annexion1 2, mitteilte.
Die Mächte nahmen diesen Schritt ziemlich einmütig auf: sie
hielten ihn für verfrüht und den tatsächlichen Verhältnissen in Tri-
polis nicht entsprechend. Für Italien war es nämlich schwierig, einen
so entscheidenden Druck auf die Türkei auszuüben, daß sie zum
Nachgeben gezwungen wurde. Einer Ausdehnung des Kriegsschau-
platzes, wie sie die italienische Presse mit steigendem Nachdrucke
forderte, um die Türkei zum Frieden zu zwingen, stand aber die
Abneigung der Mächte entgegen, eine noch weitere Ausdehnung des
Brandes zuzulassen. Hiergegen wehrte sich besonders Österreich-
Ungarn, das Feindseligkeiten im Adriatischen Meere nicht dulden
wollte. Aber auch in Rußland wünschte man eine Ausdehnung des
italienischen Kriegsschauplatzes nicht. Ganz Europa werde durch die
italienische waghalsige Politik in Atem gehalten, äußerte der rus-
sische Botschafter in Wien, v. Giers, am 20. November 1911, und ein
Angriff der italienischen Flotte auf die Dardanellen könne unbe-
1 Gr. Pol. Nr. 10 844.
a Gr. Pol. Nr. 10918.
314
Der italienisch-türkische Krieg: 1911
rechenbare Folgen nach sich ziehen1. Italien verzichtete daher zu-
nächst auf das Einsetzen seiner Flotte.
In Österreich-Ungarn löste das eigenmächtige Vorgehen der
Italiener bei der Militärpartei, besonders beim General Conrad
v. Hötzendorf, zeitweise den Gedanken aus, einen Präventivkrieg
gegen Italien herbeizuführen. Immer wieder wies der Generalstabs-
chef den Kaiser Franz Joseph darauf hin, daß auf Italien als
Bundesgenossen kein Verlaß sei. In Berlin verfolgte man diese Ent-
wicklung mit Besorgnis und wollte vor allem den Dreibund er-
neuert sehen. Am 26. November sandte daher der Reichskanzler ein
Exemplar des Dreibundvertrages, auf dem die für die Erneuerung
erforderlichen Änderungen eingetragen waren, zur weiteren Be-
sprechung nach Wien* 2. Aehrenthal war zur sofortigen Prüfung be-
reit. Er hatte mit seinen Anschauungen einen Sieg über die Militärs
davongetragen: Conrad v. Hötzendorf wurde von seinem Posten
enthoben und durch den Feldmarschalleutnant Schemua ersetzt. Die
Vorarbeiten für die Erneuerung des Dreibundvertrages wurden auf-
genommen. Der Thronfolger Franz Ferdinand blieb aber bei seiner
immer schon geäußerten Auffassung, daß Italien unzuverlässig sei,
und daß es besser sei, an seiner Stelle Rußland in den Bund aufzu-
nehmen, also das alte Drei-Kaiser-Bündnis wiederherzustellen.
Aehrenthal hielt gleichfalls ein näheres Verhältnis zu Rußland für
erwünscht, meinte aber, wenn dieses so leicht zu erreichen wäre, so
wäre es sicherlich den vereinigten Bemühungen des Kaisers Franz
Joseph und des Kaisers Wilhelm II. bereits gelungen. Auch sei der
Bestand der französisch-russischen Allianz noch so fest — „15 Mil-
liarden Francs“, vermerkte Kaiser Wilhelm II. zutreffend zu einem
Berichte des Botschafters v.Tschirschky vom 1.Dezember 19113 —,
daß ein Hinüberziehen Rußlands in absehbarer Zeit nicht in Rech-
nung zu stellen sei; deshalb müsse am Dreibunde festgehalten
werden. i |*j
Eine unerwartete Auswirkung des tripolitanischen Krieges war
es, daß im November 1911 Rußland einen Vorstoß in der Meer-
engenfrage unternahm. Am 18. November teilte der russische Bot-
schafter in Berlin amtlich mit, seine Regierung beabsichtige, mit der
Türkei in Verhandlungen zu treten, um für die russischen Kriegs-
schiffe die Erlaubnis zur Durchfahrt durch die Meerengen zu er-
halten4. Deutschland wollte Rußland in dieser Frage keine Schwie-
rigkeiten bereiten, sich aber auch nicht von Österreich-Ungarn tren-
nen. Dort hatte indes Aehrenthal schwere Bedenken und wollte es
nicht verantworten, Rußland gleichsam auf Vorschuß eine Freund-
er. Pol. Nr. 10950.
2 Or. Pol. Nr. 11241.
3 Or. Pol. Nr. 11244.
4 Qr. Pol. Nr. 10971.
315
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
lichkeit zu erweisen. Die Türken aber erblickten in dem russischen
Wunsche den Anfang eines russischen Protektorats über das tür-
kische Reich. Der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Frhr.
v. Marschall, warnte eindringlich vor einer Unterstützung der russi-
schen Pläne, die unfehlbar zum Zusammenbruch der Selbständigkeit
des türkischen Reiches führen müßten1. „Wenn die russischen Pan-
zerschiffe den Bosporus durchfahren, so ist Rußland Herr von Kon-
stantinopel. Der Sultan wird allmählich zu der Rolle herabsinken,
die der Emir von Buchara einnimmt. Statt Botschaftern würden Kon-
suln durchaus genügend sein, die fremden Interessen zu vertreten...
Wenn wirklich Rußland, wie hier gefürchtet wird, die Meerengen-
frage auf das Tapet bringt, so wird eines der schwersten und ge-
fährlichsten Probleme zur Lösung gestellt. Erreicht Rußland, was
es anstrebt, so ist die orientalische Frage in dem traditionell russi-
schen Sinne gelöst, d. h. die Türkei zu einem Vasallenstaat des
weißen Zaren degradiert.“ Marschalls Besorgnisse waren derartig
schwerwiegende, daß er schließlich um seine Abberufung von Kon-
stantinopel bat. Bethmann Hollweg wußte ihn aber zum Verbleiben
auf seinem Posten zu bewegen1 2.
Da weder England noch Frankreich bereit waren, die russi-
schen Wünsche tatkräftig zu unterstützen, ließ man in Petersburg
den Plan fallen. Als Sasonow, der krankheitshalber lange in Davos
geweilt hatte, über Paris am 11. Dezember auf seiner Rückreise nach
Petersburg in Berlin eintraf, erklärte er, daß es eine Dardanellenfrage
gar nicht gäbe. Von ihm ging demnächst der Gedanke aus, durch
einen gemeinsamen Schritt der Mächte den italienisch-türkischen
Kriegszustand möglichst bald zu beenden3.
So endete das Jahr 1911 mit einer Reihe noch unerledigter
außenpolitischer Probleme. Die akute Spannung zwischen Frank-
reich und Deutschland war zwar beseitigt. Die Marokkokrisis hatte
aber zweifellos eine Stärkung der Entente bewirkt. Neue Auseinan-
dersetzungen mit England über den gegenseitigen Flottenbau stan-
den bevor. Voraussichtlich konnten sie nur zu einer Verschärfung der
Lage führen, da jetzt auch die öffentliche Meinung Deutschlands eine
Verstärkung der deutschen Flotte forderte, um solchen Gefahren,
wie sie 1911 zutage getreten waren, in Zukunft besser gewachsen zu
sein. Der innere Bestand des Dreibundes war durch Italiens Tripolis-
krieg nicht unerheblich beeinflußt, Deutschlands Stellung zur Türkei
einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt.
1 Pera, 30. November 1911. Gr. Pol. Nr. 10982.
2 Gr. Pol. Nr. 10990—10 996.
3 Gr. Pol. Nr. 11006—11008.
316
Das Jahr 1912
Das Jahr 1912
Bis zum Ende des Jahres 1911 hatte die deutsche Außenpolitik
immer noch aktive Züge aufgewiesen. Angesichts der — ob mit
Recht oder mit Unrecht — immer schärfer empfundenen Wirkung
der von König Eduard VII. meisterlich geleiteten „Einkreisungs-
politik“ hatte Deutschland den Versuch gemacht, die Umklamme-
rung zu lösen. Schon die Vorgänge beim Vertrage von Björkoe
müssen in diesen Zusammenhang eingereiht werden: sie bedeuteten
den hauptsächlich von Kaiser Wilhelm II. selbst erdachten und aus-
geführten Versuch, nähere Beziehungen zu Rußland zu knüpfen und
dadurch die Gewalt der Einkreisung und die Gefahr eines Krieges
nach zwei Fronten zu bannen. An der französisch eingestellten Be-
hutsamkeit der russischen Staatsmänner war der Vertrag von Björ-
koe gescheitert; der Zweibund hatte seine innere Festigkeit bewiesen;
ja, es gelang ihm sogar, das bisher in seiner „glänzenden“ Verein-
samung ausharrende England zunächst an Frankreich, 1907 sogar
an Rußland näher zu binden. Gleichzeitig lockerte sich das innere
Gefüge des Dreibundes immer mehr, so daß Deutschland, wo unter
der Einwirkung eines ganz außergewöhnlichen wirtschaftlichen Auf-
schwunges die öffentliche Meinung immer selbstbewußter und emp-
findlicher geworden war, seine außenpolitische Vereinsamung immer
stärker zu empfinden begann. Aus dem Gefühl heraus, in der großen
Politik der Weltmächte doch auch mitsprechen zu müssen, erwuchs
Deutschlands Verhalten gegenüber Frankreich in der Marokkofrage.
Der Verlauf beider Marokkokrisen von 1906 und 1911 erwies schla-
gend vor aller Welt, daß Deutschland ein eigentliches marokkani-
sches Ziel gar nicht hatte, daß seine Marokkopolitik vielmehr in
beiden Fällen in der Hauptsache durch die Erwägung herbeigeführt
worden war, sich in einer hauptsächlich europäischen Frage nicht
ohne weiteres ausschalten zu lassen. Für die zweite Marokkokrisis
und für das persönliche Verhalten des Reichskanzlers v. Bethmann
Hollweg hierbei war die Rechtsauffassung in hohem Maße bestim-
mend gewesen, Deutschlands Ansprüche aus der Algeciras-Akte
nicht von Frankreich gemißachtet zu sehen.
Die Wirkung der hier kurz gezeichneten Entwicklung war ein
stärkerer Zusammenschluß des Dreiverbandes und — im Herbst
1911 — sogar ein rücksichtsloses Hervortreten Italiens zur Verfol-
gung eigener Ziele. Ebenso wie im Jahre 1908 mußte die mit
Deutschland befreundete Türkei es hinnehmen, daß ihr wichtige Ge-
bietsteile mit Duldung Deutschlands abgenommen wurden. War dies
1908 bei der bosnischen Krise noch allenfalls erträglich, da ein nähe-
rer Zusammenhang der beiden damals von Österreich-Ungarn sei-
nem Staatsgebiete einverleibten Provinzen mit der Türkei kaum noch
bestand, und die Donaumonarchie auf Grund früherer Vereinbarun-
317
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
gen ein zweifelloses Recht zur Annexion besaß, so mußte doch der
tripolitanische Eroberungszug Italiens die Einheitlichkeit der Drei-
bundpolitik als durchaus fragwürdig erscheinen lassen.
Welches Ziel konnte die deutsche Politik nun noch verfolgen?
Eigene Pläne, die nur mit den Waffen hätten durchgesetzt werden
können, hegte es nicht. Sein Bestreben war, wie es die sehr genaue
und zuverlässige Berichterstattung der belgischen Diplomaten er-
weist, immer auf die Erhaltung des Weltfriedens gerichtet. Deutsch-
land allein, der stärkste Partner des Dreibundes, sah diesen niemals,
darin ganz den Bismarckschen Traditionen getreu, als eine Erwerbs-
genossenschaft an. Seine Sorge galt der Erhaltung des Bestehen-
den. Und so ging Deutschland, nachdem durch das Marokko- und
Kongo-Abkommen mit Frankreich eine Beseitigung der dringendsten
Krisis stattgefunden hatte, vom Beginn des Jahres 1912 ganz folge-
richtig auf den weiteren Ausbau seiner inneren Stärke aus. Als un-
mittelbare Ziele erschienen somit neben der Erneuerung des Drei-
bundes: die möglichst baldige Beseitigung des italienisch-türkischen
Kriegszustandes und eine Einigung mit England über die gegen-
seitigen Flottenrüstungen, die man durch Vereinbarungen auf kolo-
nialem Gebiet noch weiter zu unterbauen gedachte. Der bisherige
Verlauf der deutsch-englischen Besprechungen hatte allerdings schon
gezeigt, daß auf eine wesentliche Besserung der Beziehungen zwi-
schen beiden Ländern nicht gerechnet werden konnte, wenn Deutsch-
land sein Flottenprogramm durchführte oder es etwa sogar noch ver-
stärkte.
So entwickelten sich denn die Dinge 1912 und eigentlich
bis zum Ausbruche des Weltkrieges unter völliger Passivität der
deutschen Außenpolitik. In steigendem Maße wurde Deutschland
zum mehr oder minder beteiligten Zuschauer. Das große Aktenwerk
des Auswärtigen Amtes mit seiner gerade gegen Beginn des Welt-
krieges immer mehr anschwellenden Aktenmasse liefert hierfür den
unwiderleglichsten Beweis, ohne daß es an dieser Stelle eines noch-
maligen genauen Eingehens auf deren Inhalt bedürfte.
Eine unerwünschte Auswirkung der Marokkokrisis von 1911
war zunächst der Sturz der französischen Regierung und die Über-
tragung der Kabinettsbildung an Raymond Poincare, der am 13. Ja-
nuar neben dem Vorsitze auch das Ministerium des Äußeren über-
nahm. Unbezweifelbar griff eine chauvinistische Gedankenrichtung
in Frankreich um sich; ein Nationalismus erwachte, der selbst auf
nüchterne Beobachter einen starken Eindruck machte1.
Die Frage der deutschen Flotten Verstärkung bildete schon vom
Herbst 1911 ab wieder den Angelpunkt der deutsch-englischen Be-
ziehungen. Unter dem Eindruck der Vorgänge während der Ma- 1
1 Gr. Pol. Nr. 10 792—10 797.
318
Das Jahr 1912
rokkokrisis hatte Großadmiral v. Tirpitz schon im August die Grund-
gedanken zu einer demnächst einzubringenden Marinenovelle ent-
worfen. Während Bethmann Hollweg Bedenken zeigte, stand der
Kaiser ganz auf der Seite des Großadmirals und sprach sich bei
mehrfachen Anlässen offen darüber aus. Bestärkt wurde er in seiner
Auffassung hauptsächlich durch die Berichterstattung des Kor-
vettenkapitäns Widenmann aus London, dessen Grundansicht dahin
ging, Deutschland müsse seine Flotte so ausbauen, daß ein zweites
Kopenhagen unmöglich werde, und außerdem das Heer so intakt
halten wie möglich, so daß für die Zukunft kein Jena, sondern ein
Sedan in Betracht komme1. Die Berichterstattung des Botschafters
Grafen Metternich war von dem Wunsche beseelt, eine Verschlechte-
rung der deutsch-englischen Beziehungen zu vermeiden. Allmählich
entwickelte sich eine so starke Gegensätzlichkeit des Marineattaches
gegen den Botschafter* 2, daß der Kaiser, der mit dem Herzen immer
auf der Seite des Marineattaches stand, sich im April 1912 dazu
entschloß, den Grafen Metternich von London abzuberufen und
Marschall von Konstantinopel nach London zu holen3 4.
Nach Metternichs Ansicht bestrebte man sich in England nach
Abschluß der Marokkokrisis, zu einem besseren Verhältnis mit
Deutschland zu gelangen. Er hoffte auf die Möglichkeit, von Eng-
land günstige Kolonialzugeständnisse zu erhalten. Man müsse die
Gelegenheit beim Schopf ergreifen und die günstige Stimmung aus-
nützen, solange sie anhalte. In diesem Sinne hatte er schon am 9. De-
zember 1911 berichtet: „Wir können, wenn wir die Gelegenheit jetzt
ausnutzen, umsonst, ohne Waffengang und auf dem Wege der fried-
lichen Verständigung möglicherweise das erreichen, was vielleicht
selbst eine vermehrte Flotte uns nicht wird erkämpfen können1.“
Bethmanns Hoffnung, durch eine möglichst baldige Kolonialverstän-
digung vielleicht die Einbringung einer deutschen Flottennovelle ver-
hindern zu können, ging aber nicht in Erfüllung. Der Kaiser ent-
nahm aus der Londoner Berichterstattung nur die Unmöglichkeit
einer wirklichen politischen Verständigung mit England, solange
Grey im Amte bleibe. Daher gelte es zu rüsten; koloniale Geschenke
von England, die außerdem stets auf Kosten anderer gemacht wür-
den und Keime zu unabsehbaren Konflikten enthielten, wolle er
nicht5.
Trotzdem war der Monarch erfreut, daß Lord Haldane anfangs
Februar 1912 zu persönlichen Besprechungen nach Berlin kam. Im
kaiserlichen Schlosse fand am 9. Februar eine mehrstündige Unter-
er. Pol. Nr. 11314.
2 Qr. Pol. Nr. 11316—11337.
3 Qr. Pol. Nr. 11427—11431.
4 Qr. Pol. Nr. 11339.
6 Qr. Pol. Nr. 11 345.
319
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
redung statt. Deutscherseits wünschte man als Voraussetzung für ein
Entgegenkommen in der Flottenfrage ausreichende Bürgschaften für
eine deutschfreundliche Orientierung der englischen Politik. Haldane
zeigte sich entgegenkommend und machte auch gegen die von
Deutschland beabsichtigte Schaffung eines dritten aktiven Geschwa-
ders und die sich daraus ergebenden Mannschaftsvermehrungen
kaum Bedenken geltend. Nach London zurückgekehrt berichtete er
der britischen Admiralität, die nunmehr doch Bedenken zeigte. Graf
Metternich mußte am 22. Februar 1912 nach Berlin berichten, das
koloniale Abkommen werde wohl keine besonderen Schwierigkeiten
bieten, die deutsche Flottennovelle aber werde eine ganz bedeutende
Mehrbelastung des englischen Marinebudgets zur notwendigen Folge
haben, „und das englische Kabinett fühle, daß es ihm kaum möglich
sein werde, ein Abkommen von weittragender Bedeutung abzu-
schließen und zu verteidigen, welches dazu bestimmt sei, eine neue
und bessere Ära der deutsch-englischen Beziehungen einzuleiten,
wenn zu gleicher Zeit eine Erhöhung der beiderseitigen maritimen
Rüstungen stattfinde1“.
Im weiteren Verlauf der Unterhandlungen stellten sich schwere
Meinungsverschiedenheiten zwischen Kaiser und Kanzler heraus. Der
Kaiser wurde ungeduldig und forderte am 5. März, in London auf
Beschleunigung der Verhandlungen zu dringen, zumal von England
betont worden war, man werde eine größere deutsche Flottennovelle
mit einer stärkeren Heranziehung englischer Schiffe aus dem Mittel-
meergeschwader beantworten müssen1 2. Der Kaiser wollte nun die
deutsche Flottennovelle und außerdem die neue Wehrvorlage sofort
veröffentlichen und setzte sich unter Umgehung des Reichskanzlers
am 5. März unmittelbar mit dem Botschafter Grafen Metternich in
Verbindung. Darauf reichte Bethmann Hollweg sein Entlassungs-
gesuch ein und erwähnte darin, daß die Verhandlungen mit Eng-
land trotz der eingetretenen ungünstigen Wendung vorsichtig weiter-
geführt werden müßten. Tue man das nicht, so würden nicht nur die
deutsch-englischen Beziehungen in verhängnisvoller Weise ver-
schärft, sondern auch der französische Chauvinismus zu den kühn-
sten Hoffnungen ermutigt. „Wird uns ein Krieg aufgenötigt, so wer-
den wir ihn schlagen und mit Gottes Hilfe nicht dabei untergehen.
Unsererseits aber einen Krieg heraufbeschwören, ohne daß unsere
Ehre oder unsere Lebensinteressen tangiert sind, würde ich für eine
Versündigung an dem Geschicke Deutschlands halten, selbst wenn
wir nach menschlicher Voraussicht den völligen Sieg erhoffen könn-
ten. Aber auch das ist, jedenfalls zur See, nicht der Fall. Euerer Ma-
jestät Marine wird sich auf das Heldenmütigste schlagen, aber nach
1 Gr. Pol. Nr. 11370.
2 Gr. Pol. Nr. 11380.
320
Das Jahr 1912
den Mitteilungen, die mir der Staatssekretär des Reichsmarineamtes
wiederholt gemacht hat, kann auf ihren Sieg über die englische und
französische Flotte nicht gerechnet werden1/'
Der Kaiser verschloß sich den Gedankengängen des Reichs-
kanzlers nicht. Die Veröffentlichung der Wehrvorlage wurde noch
hinausgeschoben. Nun aber entstand eine neue Krise dadurch, daß
auch der Großadmiral v. Tirpitz seinerseits die Kabinettsfrage stellte.
Das Scheitern der Haldane-Mission empfand der Kaiser mit tiefster
Erbitterung1 2. Über ein Kolonialabkommen wurde weiter verhandelt,
zum Teil schon durch den Botschafter Frhr. v. Marschall, der seine
neue Stellung im Juli antrat, aber nach Antritt eines Erholungs-
urlaubes (anfangs August) schon am 24. September verstarb3. Der
Tod des Botschafters unterbrach die Kolonialverhandlungen, die erst
im November 1912 durch den neuen Botschafter Fürsten Lichnowsky
wieder aufgenommen wurden4.
Im Frühjahr 1912 verlor die gegen den österreich-ungarischen
Außenminister gerichtete Politik Iswolskis durch den am 17. Februar
erfolgten Tod des Grafen Aehrenthal ihren persönlichen Gegenpol.
Graf Berchtold wurde sein Nachfolger. Ihn erfüllten die italienischen
Pläne mit großer Besorgnis, da sie nach seiner Ansicht zum Sturze
der türkischen Regierung und zum Ausbruch völliger Anarchie
führen konnten5. In dem Wunsche nach einer baldigen Beendigung
des tripolitanischen Krieges und der Erneuerung des Dreibundes
begegnete er sich mit der Berliner Auffassung. Schwierigkeiten be-
reitete hierbei die Fassung eines Zusatzprotokolls, das die Artikel
9 und 10 des Dreibundvertrages in Hinsicht auf die noch nicht ge-
klärte staatsrechtliche Lage Tripolitaniens und der Cyrenaika ergän-
zen sollte. Der Abschluß des fünften Dreibundvertrages blieb daher
bis nach Beendigung des italienisch-türkischen Krieges Vorbehalten;
er wurde erst am 5. Dezember 1912 in Wien unterzeichnet.
Für die weitere Entwicklung der internationalen Beziehungen im
Jahre 1912 mag hier eine kurze Skizzierung genügen.
Die Erregung über die Marokkokrisis wirkte in Frankreich noch
lange Zeit nach. Das Ministerium Poincare mit Delcasse als Marine-
minister, Millerand als Kriegsminister, Leon Bourgeois und weiteren
bedeutenden Persönlichkeiten arbeitete mit großer Hingabe an der
Weiterentwicklung der Heereseinrichtungen. Nach Ansicht des Bot-
schafters v. Schoen suchte die neue französische Regierung „durch
besonnene, würdige und starke Haltung in äußeren und inneren
1 Wortlaut des Entlassungsgesuches vom 6.März 1912 siehe A.v.Tirpitz, „Der
Aufbau der deutschen Weltmacht“. S. 318 ff. (Verlag J. G. Cotta, Stuttgart/Ber-
lin, 1924.)
2 Gr. Pol. Nr. 11 399-11 426.
3 Gr. Pol. Nr. 11437-11461.
4 Über den weiteren Verlauf siehe S. 335 ff.
5 Gr. Pol. Nr. 11076.
21 Schwertfeger, Der Weltkrieg derlDokumente
321
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Fragen dem Lande das Vertrauen in seine Führung und in seine
eigene Kraft wiederzugeben“. Nach Schoens Ansicht war der
Wunsch nach Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens in der französi-
schen Volksseele noch keineswegs erloschen, wenn die Nation auch
keinen Krieg wollte1. Die neue deutsche Wehrvorlage verfolgte man
mit gespannter Aufmerksamkeit. Frankreich und Deutschland be-
fleißigten sich im übrigen einer besonders entgegenkommenden
Sprache. Kleinere Zwischenfälle an der deutschen Grenze wurden
bald beigelegt.
An bedeutenderen Reisen politischer Persönlichkeiten ist die
Kaiserbegegnung in Baltischport am 4. und 5. Juli hervorzuheben, an
der deutscherseits der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg und
auf russischer Seite Sasonow und der Ministerpräsident Kokowzow
teilnahmen. Die Begegnung verlief in jeder Beziehung befriedigend1 2.
Kaiser Wilhelm nahm die Überzeugung mit, daß Rußland, welche
Wendung auch immer der italienisch-türkische Krieg nehmen möge,
sich nicht zu einer Politik der Überraschungen und der Unruhe ver-
leiten lassen werde; man sei in Petersburg auch bereit, auf etwaige
kriegerische Neigungen der Balkanstaaten bremsend einzuwirken.
Der Zar hatte persönlich den Wunsch betont, daß regelmäßig, etwa
alle anderthalb Jahre, ein Zusammentreffen der Monarchen stattfin-
den möge.
Eine Lockerung der russisch-französischen Beziehungen ergab
sich nicht daraus. Wenige Tage nach der Zusammenkunft von Bal-
tischport kam in Paris anläßlich der Anwesenheit des russischen Ge-
neralstabschefs für Armee und Marine, des Generals Shilinsky, und
des Vizeadmirals Fürsten Lieven das Protokoll der Generalstabs-
chefs von Frankreich und Rußland vom 14. Juli und die Marinekon-
vention vom 16. Juli zustande. In Paris war man über die Bespre-
chungen von Baltischport genau unterrichtet worden, was dort be-
ruhigend gewirkt hat. Trotzdem erblickte Bethmann Hollweg in der
deutsch-russischen Annäherung von Baltischport einen Fortschritt
gegen die bisherigen Zustände3. Nach der Ansicht des Grafen Pour-
tales durfte man das russische Entgegenkommen nicht überschätzen,
da die gegenwärtigen Leiter der russischen Politik für Rußland offen-
bar eine längere Zeit der Ruhe für nötig hielten, um die Wunden des
japanischen Krieges und der Revolution heilen zu lassen4. Man hege
in Rußland immer noch ein tiefes Mißtrauen gegen die Politik der
Donaumonarchie.
Im August 1912 stand der Besuch Poincares in Petersburg im
Vordergründe des politischen Interesses. Von französischer Seite
1 Gr. Pol. Nr. 11520.
2 Gr. Pol. Nr. 11534—11542.
3 Gr. Pol. Nr. 11546.
4 Gr. Pol. Nr. 11 548.
322
Das Jahr 1912
wurde alles aufgeboten, um die Zusammenkunft von Baltischport in
den Schatten zu stellen. Schon vorher hatte Graf Pourtales von
Sasonow zu erfahren gesucht, ob tatsächlich eine russisch-französi-
sche Marinekonvention in Paris abgeschlossen worden sei. Sasonow
versicherte auf das Bestimmteste, es habe sich nur um die Verab-
redung gehandelt, nach der die beiden Admiralstabschefs in ge-
wissen Zeitabständen zu Besprechungen Zusammenkommen sollten.
Diese Behauptung Sasonows entsprach, wie wir aus den inzwischen
veröffentlichten russischen Dokumenten wissen, nicht der Wahrheit1:
es war tatsächlich eine Marinekonvention zustande gekommen, die
nun in Form eines Briefwechsels amtlich ebenso bestätigt wurde, wie
es mit dem Militärabkommen von 1892 der Fall gewesen war.
Poincares Persönlichkeit hatte auf Sasonow einen großen Eindruck
gemacht, und man hatte sich über die demnächstige Abberufung des
Botschafters Louis von Petersburg geeinigt, auf die Iswolski schon
seit einiger Zeit hinzuwirken suchte, da ihm Louis eine zu gemäßigte
Richtung vertrat.
Wie weitgehend man sich im Lager der Entente damals schon
über das militärische Verhalten im Falle eines Krieges gegen
Deutschland geeinigt hatte, haben wir erst aus dem Briefwechsel
zwischen Sir E. Grey und dem französischen Botschafter in London
Paul Cambon vom 22. bzw. 23. November 1912 erfahren. Darin war
für den Fall, daß eine der beiden Regierungen ernste Gründe
hätte, einen unprovozierten Angriff seitens einer dritten Macht zu er-
warten, eine sofortige gemeinsame Beratung und Nachprüfung der
Pläne der Generalstäbe vorgesehen1 2. Im September 1912 waren die
beiden französischen Geschwader des Atlantischen Ozeans nach
Toulon verlegt worden, worauf Sir E. Grey in seinem Schreiben
vom 22. November mit dem Hinweise Bezug nahm, daß die gegen-
wärtige Verteilung der französischen und britischen Flotten nicht
auf einer Verpflichtung zum Zusammenwirken im Kriegsfälle beruhe,
daß ferner auch die Besprechungen zwischen den Marine- und Mili-
tärsachverständigen die Regierungen nicht bänden. Eine gewisse
Freiheit des Handelns hatten sich die Mächte also Vorbehalten,
woran besonders England gelegen war.
Der Erste Balkankrieg
Seit Jahrzehnten hatten die Mächte die endgültige Lösung der
türkischen Frage hinauszuschieben, die immer wieder entstehenden
Schwierigkeiten von Fall zu Fall durch Konferenzen und andere
1 Gr. Pol. Nr. 11590. Vgl. Sasonows Bericht an den Zaren vom 4./17. August
1912 (Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914. Herausgegeben
von Friedrich Stieve, Band 2, S.219ff.).
2 Gr. Pol. Nr. 11 595.
21»
323
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Mittel der Politik auszugleichen gesucht. Die Sorge, daß aus einer
Aufteilung des türkischen Erbes ein Weltbrand entstehen könne,
hatte den Großmächten die behutsamste Vorsicht bei allen An-
gelegenheiten zur Pflicht gemacht, die sich auf den — für Rußland
ja eigentlich kaum tragbaren — Verschluß der Dardanellen sowie auf
das Problem der türkischen Reformen bezogen. Seit Jahrzehnten
fristete der „kranke Mann am Bosporus“ von der Uneinigkeit der
Mächte sein Leben.
Der Ausbruch des italienisch-türkischen Krieges änderte die
Verhältnisse von Grund auf. Einer der Staaten des Dreibundes schob
ohne Berücksichtigung der nahen Beziehungen Deutschlands zur
Türkei die Verfolgung seiner eigenen Interessen rücksichtslos in den
Vordergrund und machte aus der Gesamtlage nach Abschluß des
deutsch-französischen Marokko-Abkommens heraus seine tripolita-
nischen Wünsche rücksichtslos geltend. Die Fesselung der Türkei
durch den ihr aufgezwungenen Abwehrkampf gegen Italien bildete
nunmehr für die aufstrebenden Balkanvölker das Signal zur Verwirk-
lichung ihrer seit langer Zeit gehegten Wünsche. Gestützt auf die
Ermutigung, die der russische Panslawismus dem Zusammenschlüsse
der Balkanstaaten angedeihen ließ, und die hauptsächlich in dem
russischen Gesandten in Belgrad Hartwig ihre Stütze fand, hatten
Bulgarien, Serbien, Montenegro — seit 29. August Königreich —
und auch Griechenland sich monatelang auf die Auseinandersetzung
mit der Türkei vorbereitet. Schon am 13. März 1912 war zwischen
Serbien und Bulgarien ein geheimer Bündnisvertrag abgeschlossen
worden, der Rußland mitgeteilt wurde und in Streitfällen Rußland
als Schiedsrichter erbat. Vom 29. Mai datierte ein griechisch-bul-
garisches Bündnis gegen die Türkei. Gegen Ende September 1912
waren die Dinge so weit gediehen, daß man in den Kanzleien der
europäischen Großmächte der Entwicklung mehr oder weniger rat-
los gegenüber stand. Deutlich trat dabei zutage, daß damals, im
Herbst 1912, bei den Mächten der Tripelentente der lebhafte Wunsch
vorherrschte, die große Abrechnung, vor der man sich allgemein fürch-
tete, noch hinauszuschieben. Rußland war nicht fertig, und in Frank-
reich sträubte sich die öffentliche Meinung noch gegen den Gedan-
ken, daß man vielleicht genötigt sein könnte, um einer Balkanfrage
willen zu den Waffen zu greifen. Ein Weltkrieg schien aber unver-
meidlich, wenn sich aus einem Eingreifen der Großmächte in die
Balkanwirren ein bewaffneter Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn
und Rußland ergab. In diesem Falle konnte bei der wechselseitigen
Bedingtheit der Bündnissysteme und Ententen sehr leicht der Bünd-
nisfall für Deutschland, Frankreich und vielleicht sogar England ge-
geben sein.
In Konstantinopel erkannte man rechtzeitig die Größe der Ge-
fahr und bestrebte sich zunächst, den tripolitanischen Krieg sobald
324
Der Erste Balkankrieg. 1912.
wie möglich zu beenden. Schon seit Mai 1912 schwebten Verhand-
lungen zwischen den Großmächten über die Herbeiführung des Frie-
dens. Die Hauptschwierigkeit lag in der Unausgleichbarkeit der
beiderseitigen Standpunkte. Italien hatte durch sein vom Könige
vollzogenes Annexionsdekret vom 4. November 1911 eine vollendete
Tatsache geschaffen, die es ohne Bloßstellung des Monarchen und
der nationalen Würde nicht wieder rückgängig machen konnte. Die
Türkei ihrerseits mußte auf die Stimmung der mohammedanischen
Welt Rücksicht nehmen und fühlte sich im Inneren keineswegs sicher
genug, um der Bevölkerung einen von dieser als ungünstig empfun-
denen Friedensschluß aufzuzwingen.
Seit Anfang Juli bemühten sich Unterhändler in der Schweiz
um die Herbeiführung des Friedens. Aber erst die Sorge vor dem
Losschlagen der Balkanstaaten veranlaßte im September die Türkei
zum Einlenken, so daß am 15. Oktober in Lausanne die Friedens-
präliminarien unterzeichnet werden konnten1. Für den Nachfolger
des Botschafters Frhr. v. Marschall, Frhr. v. Wangenheim, war es
keine leichte Aufgabe gewesen, beiden Parteien gegenüber die
Mittellinie zu finden, auf der sich die Gegner schließlich einigen
konnten. Italien mußte von dem Annexionsdekret etwas ablassen,
die Türkei sich aber mit dem Gedanken abfinden, daß von einer
tatsächlichen türkischen Souveränität in Libyen nichts mehr bestehen
blieb 1 2.
Schon vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten setzten Bemü-
hungen des Grafen Berchtold ein, auf die weitere Gestaltung der
Dinge auf dem Balkan Einfluß zu gewinnen. Sofort ließ Sasonow in
Berlin darauf aufmerksam machen, daß sich Gefahren daraus er-
geben könnten, wenn Österreich-Ungarn ohne Deutschlands Wissen
und gegen seine Ratschläge auf dem Balkan vorginge. Auch Kiderlen
verschloß sich nicht gegen die Bedenken einer solchen Selbständig-
keit der Donaumonarchie auf Kosten Deutschlands. Da am 7. und
8. September der Reichskanzler den Grafen Berchtold in Buchlau be-
suchen wollte, bat ihn Kiderlen, doch anzudeuten, wie wünschens-
wert es sei, „wenn auch der Dreibund vor jeder größeren politischen
Aktion eines seiner Mitglieder engere wechselseitige Fühlung und
eingehenderen Meinungsaustausch pflegte3“. Nach Gastein, wo der
Reichskanzler damals weilte, schrieb Kiderlen am 2. September4,
Deutschland müsse „dringend wünschen, daß die österreichisch-un-
garische Regierung uns von ihren Absichten vorher verständigt und
uns nicht, wie dies jetzt öfters geschehen, vor ein Fait accompli
1 Die Unterzeichnung des öffentlichen Teiles des Friedensvertrages von Lausanne
erfolgte am 18. Oktober 1912 (Or. Pol. Nr. 11212).
2 Qr. Pol. Nr. 11134—11215.
3 Qr. Pol. Nr. 12 124.
4 Qr. Pol. Nr. 12 135.
325
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
stellt. Nach unseren Verträgen und Abmachungen . .. sind wir nicht
verpflichtet, Österreich-Ungarn in seinen orientalischen Plänen, ge-
schweige denn Abenteuern zu unterstützen. Wir sind dies um so
weniger, als Österreich-Ungarn uns auch nicht ohne weiteres seine
Unterstützung gegen Frankreich zugesagt hat. Sind wir in den letzten
Zeiten wiederholt über diese Verpflichtungen hinausgegangen, so
haben wir dies getan im Interesse der Stärkung und Festigung unse-
res Bündnisses nach außen hin. Wir müssen uns aber unsere Stel-
lungnahme zum österreichischen Vorgehen in orientalischen und
Balkanfragen stets von Fall zu Fall Vorbehalten ... Ich würde es
für sehr nützlich halten, wenn Euere Exzellenz diesen Gesichts-
punkt in Buchlau, wenn auch in freundschaftlicher Form, so doch
bestimmt zum Ausdruck brächten. Den österreichischen Satelliten
im Orient wollen wir nicht machen.“ Bethmann hat sich in Buchlau
in diesem Sinne ausgesprochen, worauf sich Graf Berchtold damit
entschuldigte, er habe schnell handeln müssen, da ihm sonst Ruß-
land zuvorgekommen wäre.
Ende September 1912 begannen die Ereignisse sich zu über-
stürzen. Die Türkei ordnete die Einberufung von 100000 Redifs
an und mobilisierte 10 europäische Landwehrdivisionen. Bulgarien
machte am 30. September mobil, am 1. Oktober Griechenland und
die Türkei. Kaiser Wilhelm II., der damals in Rominten weilte, hielt
es angesichts des Kriegswillens der Balkanmächte für am richtigsten,
sie zunächst einmal gewähren zu lassen; würden sie geschlagen,
dann würden sie für lange Zeit Ruhe und Frieden halten; die Groß-
mächte müßten um den Kampfplatz den Ring bilden, selbst ruhig
Blut behalten und keine Übereilungen begehen. Seiner Ansicht nach
mußte auch die Türkei sich jetzt bewähren1. Trotzdem wirkte die
deutsche Diplomatie mit den anderen Großmächten zusammen, um
den Ausbruch von Feindseligkeiten möglichst zu verhüten. Als
Sasonow am 8. Oktober auf der Rückreise von Paris nach Petersburg
in Berlin weilte, hielten ihm sowohl Bethmann Hollweg wie Kiderlen
vor, es sei doch immerhin ein gefährliches Spiel Rußlands gewesen,
den Bund der Balkanstaaten zu patronisieren; Sasonow bestritt das
nicht, betonte aber, Rußland habe den Balkanstaaten ausdrücklich
auferlegt, daß ihre Vereinigung keine aggressiven Tendenzen haben
dürfe. Schon damals betonte Sasonow seine Sorge, daß Österreich
auf ein etwaiges Einrücken Serbiens nach dem Sandschak von Novi-
pasar sofort seinerseits mit einem Truppeneinmarsch antworten
könne; in einem solchen Falle würde die russische Regierung der
öffentlichen Meinung gegenüber nicht standhalten können und zum
Vorgehen gezwungen sein. Offenbar hoffte er, daß Deutschland
einen Druck auf Österreich ausüben würde. Die deutschen Staats- 1
1 Or. Pol. Nr. 12 225.
326
Der Erste Balkankrieg-. 1912
männer benutzten auch die Gelegenheit, sich über das beunruhigende
Verhalten Rußlands und über die Besichtigung französischer Grenz-
forts durch den Großfürsten Nikolaus Nikolajewitsch und seine
Gemahlin zu beschweren1.
Am gleichen 8. Oktober 1912 begann Montenegro die Feind-
seligkeiten. Neun Tage darauf traten auch Bulgarien, Serbien und
Griechenland in den Krieg. Die Montenegriner besetzten sofort den
an ihr Land angrenzenden Teil des Sandschaks, vermochten aber
nicht, Skutari zu erobern. Die Bulgaren überschritten den östlichen
Balkan, erfochten in der zweitägigen Schlacht von Kirk-Kilisse am
23. und 24. Oktober einen entscheidenden Sieg über die Türken und
drängten gegen Adrianopel vor. Die Serben schlugen die Türken
nördlich von Kumanowa, besetzten schon am 23. Oktober Nowi-
pasar und zogen am 26. in Üsküb ein. In siegreichen Gefechten
drangen ferner die Griechen in der Richtung auf Saloniki vor.
Die Türkei schien ihre Probe schlecht zu bestehen. Für Deutsch-
land war es nicht unbedenklich, daß man in den Ländern der En-
tente die türkischen Niederlagen zugleich als österreichische und
deutsche ansah, da ja gerade Deutschland bei der türkischen Heeres-
reform im Vordergründe gestanden hatte.
Während die Großmächte, im besonderen auch Frankreich und
England, bestrebt waren, den Balkanbrand örtlich zu begrenzen,
wuchs eine gefährliche Gegnerschaft zwischen Österreich-Ungarn
und Serbien empor. In Wien war man durchaus nicht gewillt, den
Serben die von ihnen so heiß begehrte Ausdehnung bis an die Adria
zuzugestehen. Hauptsächlich als Sicherung gegen ein allzusehr er-
starkendes Serbien forderte man in Wien die Schaffung eines lebens-
fähigen Albaniens, wofür auch Italien eintrat. Es verdient hervor-
gehoben zu werden, daß Kaiser Wilhelm II. die Schaffung eines sol-
chen Albaniens von vornherein für unmöglich gehalten hat1 2. Er war
anfangs entschlossen, an keinem Schritte teilzunehmen, der die Bal-
kanstaaten in ihrem Siegesläufe hemmte oder ihnen unbequeme Be-
dingungen auf erlegte. Am liebsten hätte er es gesehen, wenn die
„Vereinigten Staaten des Balkans“ mit Österreich-Ungarn zusammen
gegangen wären, so daß sie eine Offensivflanke gegen Rußland zu
bilden vermochten.
Die serbischen Kriegsziele stellten für eine baldige und fried-
liche Lösung der Balkanfrage die größte Schwierigkeit dar, da
Österreich starr an seiner Weigerung festhielt, Serbien an die Adria
zu lassen. Kaiser Wilhelm II. teilte damals durchaus den Standpunkt
Serbiens und erblickte für Österreichs Existenz oder Prestige in
einem serbischen Hafen an der Adria keine Gefahr. Nach seiner An-
1 Vgl. hierzu Paleologue „La Russie des Tsars“, Band 1, S. 14, und Gr. Pol.
Nr. 11 599.
2 Gr. Pol. Nr. 12 320.
327
Deutschlands Vereinsamung-, 1902—1914
sicht war Deutschland nicht verpflichtet, Österreichs Standpunkt bis
aufs äußerste zu unterstützen. Wegen eines serbischen Hafens an der
Adria einen Krieg auf sich zu nehmen, war er nicht gewillt1. „Gewiß
ist manche Veränderung auf dem Balkan, die durch den Krieg bedingt
wird, für Wien recht unbequem und auch unerwünscht, aber keine
so einschneidend, daß wir uns ihretwegen der Gefahr einer kriege-
rischen Verwicklung aussetzen dürfen: das würde ich weder vor
meinem Volk noch vor meinem Gewissen verantworten können.
1908 war es ganz etwas anderes, als es sich dabei um einen wirk-
lichen Bestandteil, der schon lange Österreich angegliedert
war, handelte.“ Nach dieser Auffassung sollte Kiderlen handeln. Als
am 9. November der Reichskanzler und Kiderlen den Monarchen in
Letzlingen aufsuchten, erklärte er wieder, daß er um Albanien und
Durazzo unter keinen Umständen gegen Paris und Moskau mar-
schieren werde, ließ sich dann aber doch von seinen beiden Rat-
gebern dahin beeinflussen, daß er sich Österreich-Ungarn und Ita-
lien wieder mehr näherte1 2. Aber weder Österreich noch Italien woll-
ten Serbien an die Adria lassen.
Eine eigenhändige Aufzeichnung des Monarchen über die Be-
sprechungen vom 9. November3 zeigt deutlich seine ursprüngliche
Auffassung. Der Kaiser hielt es für unvorsichtig, daß Österreich
einen so schroffen und diktatorischen Ton angeschlagen hatte.
„Dieser kann provokatorisch wirken und zu Komplikationen führen.
Serbien verlangt Zugang zur Adria mit Häfen, Österreich negiert
diesen Wunsch a limine. Rußland scheint die serbischen Aspiratio-
nen unterstützen zu wollen, und könnte darüber mit Österreich derart
aneinander geraten, daß es zum Konflikt mit Waffen kommt. Dann
tritt für Deutschland der Casus foederis ein, da Wien von Petersburg
angegriffen wird — laut Vertrag. Dieser bedingt die Mobilmachung
und den Krieg gegen zwei Fronten für Deutschland, d. h., um gegen
Moskau marschieren zu können, muß erst Paris genommen werden.
Paris wird zweifellos von London unterstützt werden. Es muß also
Deutschland in einen Existenzkampf mit drei Großmächten ein-
treten, bei dem alles aufs Spiel gesetzt werden muß und eventuell
es untergehen kann. Das erfolgt alles, weil Österreich die Serben
nicht in Albanien oder Durazzo haben will. Es ist klar, daß dieses
Ziel für Deutschland keine Parole für einen Vernichtungskrieg bie-
ten kann, daraufhin keine Möglichkeit, mit einem Stichwort die
deutsche Nation für einen solcher Gründe halber geführten Krieg
zu entflammen, und niemand es mit seinem Gewissen und seiner
Verantwortung vor Gott und seinem Volke vertreten kann, aus
1 Telegramm an Kiderlen vom 7. November 1912. Gr. Pol. Nr. 12 339.
2 Gr. Pol. Nr. 12 348.
3 Am 9. November vormittags mit dem Reichskanzler in Letzlingen, am 9.
abends mit dem Staatssekretär v. Kiderlen in Berlin.
328
Der Erste Balkankrieg. 1912
solchem Grunde die Existenz Deutschlands aufs Spiel zu setzen. Es
ginge über den Rahmen eines Vertrages weit hinaus, ja selbst des
Casus foederis, der in keiner Weise und niemals dahin ausgelegt
werden darf, daß das deutsche Heer und Volk den Launen der aus-
wärtigen Politik eines anderen Staates direkt dienstbar gemacht und
quasi dafür zur Verfügung gehalten werden muß! Der Dreibund-
vertrag sichert nur den gegenseitigen wirklichen Besitzstand der
drei Staaten, nicht aber verpflichtet er zum bedingungslosen Mit-
gehen in Reibungen über den Besitz anderer1.“ Der Kaiser wünschte
dringend, daß Österreich Rußland nicht zum Angriff provozieren
solle. In seiner Auffassung von der Haltung Österreichs entfernte er
sich damals nicht wesentlich von der Sasonows, der am 9. November
zum Grafen Pourtales sagte, er sei lediglich Anwalt der serbischen
Ansprüche, weil er sie für berechtigt und den österreichisch-ungari-
schen Standpunkt für kleinlich halte1 2.
Die Bemühungen der europäischen Diplomatie, zwischen den
entgegengesetzten Standpunkten zu vermitteln, wurden durch rus-
sische und österreichische militärische Vorbereitungen stark ge-
fährdet. Rußland tat hierbei den ersten Schritt, während Österreich-
Ungarn erst Mitte November die Zurückbehaltung der Urlauber in
Bosnien-Herzegowina und Dalmatien verfügte. In Belgrad wirkte
der russische Gesandte v. Hartwig dauernd im Sinne serbischer Un-
nachgiebigkeit3.
Am 13. November 1912 ermächtigte Kiderlen die deutschen Ver-
treter in Sofia, Belgrad, Athen und Cetinje zu der Erklärung, daß die
türkische Regierung um die Vermittlung der Großmächte nachge-
sucht habe; sie sollten anfragen, unter welchen Bedingungen die
im Kampfe mit der Türkei befindlichen Staaten zur Annahme der
Vermittlung bereit seien. Bei den nunmehr einsetzenden Verhand-
lungen hat Deutschland in weitgehendem Maße hinter Österreich ge-
standen. Auch der Kaiser hatte sich davon überzeugen lassen, daß
dies nötig sei, sonst hätte Kiderlen nicht am 19. November 1912 nach
Wien mitteilen lassen können, Deutschland sei nicht Richter darüber,
was Österreich-Ungarn bezüglich Albaniens für seine vitalen Inter-
essen, was als mögliche Konzessionen ansehe; „wir haben das, was
uns Österreich als seine notwendigen Forderungen bezeichnet hat,
nachdrücklich diplomatisch unterstützt und werden dies weiter tun;
bei weiteren Ereignissen würden wir keinen Moment vor Erfüllung
unserer Bündnispflichten zurückweichen4.“
Unter diesen Umständen war ein persönlicher Besuch des Erz-
herzog-Thronfolgers in Berlin und seine Teilnahme an einer Jagd
1 Gr. Pol. Nr. 12349.
2 Gr. Pal. Nr. 12 351.
3 Gr. Pol. Nr. 12360, 12363, 12 370, 12 375.
4 Gr. Pol. Nr. 12397.
329
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
in Springe — 22. und 23. November 1912 — von besonderer poli-
tischer Tragweite. Der Monarch vertrat gegenüber dem von den Auf-
fassungen des Generals Conrad v. Hötzendorf in hohem Maße beein-
flußten Thronfolger den Standpunkt, daß er sich wegen eines ser-
bischen Hafens nicht in einen Krieg hineinziehen lassen wolle. Das
war um so wichtiger,, als am 22. November auch der Chef des öster-
reichischen Generalstabes, General Schemua, zu Besprechungen mit
dem General v. Moltke in Berlin eintraf1. Auch der belgische Ge-
sandte in Berlin, Baron Beyens, berichtete am 30. November 1912,
daß der Kaiser und seine Ratgeber es an Ratschlägen zur Mäßigung
nicht hätten fehlen lassen, als der Erzherzog erklärte, die Donau-
monarchie sei an der Grenze ihrer Zugeständnisse angelangt. Der
Kaiser habe in der ihm eigentümlichen familiären Ausdrucksweise,
als er seinen Gast zur Bahn brachte, ihm gesagt: „Vor allem keine
Dummheiten!“ In diesem Zusammenhänge prägte Beyens, der sich
im Weltkriege zu einem der schärfsten Gegner Deutschlands ge-
wandelt hat, das Urteil: „Es besteht kein Zweifel, daß der Kaiser,
der Kanzler und der Staatssekretär des Auswärtigen leidenschaft-
liche Anhänger des Friedens sind1 2.“
Aus der unendlichen Fülle diplomatischer Aktenstücke, die das
große Aktenwerk des Auswärtigen Amtes über diese Zeit mitteilt,
geht deutlich hervor, daß deutscherseits damals alles versucht wor-
den ist, einmal um Österreich-Ungarn durch weitgehende diploma-
tische Unterstützung zu helfen, andererseits aber den Weltfrieden zu
erhalten. Besonders hingewiesen sei auf einen Bericht des Botschaf-
ters v. Tschirschky vom 18. November 19123, der die ganze innere
Unsicherheit des damaligen österreichisch-ungarischen Staatswesens
scharf kennzeichnete. Danach herrschten einigermaßen normale Ver-
hältnisse nur in den kerndeutschen Provinzen. Selbst in Deutsch-
böhmen und Galizien waren die Zustände infolge der jahrelangen
Reibungen mit den Tschechen sowie zwischen den Ruthenen und
Polen und wegen der russischen Wühlereien gespannt und unge-
sund. Der Gedanke eines einheitlichen Reiches war mehr und mehr
geschwunden. Die Schlußfolgerung aber, daß es für Deutschland bei
dieser Lage der Dinge vielleicht geboten sei, das Bündnis mit Öster-
reich-Ungarn nicht allzu hoch einzuschätzen und sich nicht allzusehr
hinter die Forderungen Österreichs zu stellen, hat man damals nicht
gezogen. Im Reichstage betonte vielmehr am 2. Dezember Bethmann
Hollweg, wenn unsere Verbündeten bei der Geltendmachung ihrer
Interessen wider alles Erwarten von dritter Seite angegriffen werden
sollten, dann würden wir, unserer Bundespflicht getreu, fest ent-
1 Or. Pol. Nr. 12 369, 12 405.
2 Belgische Aktenstücke 1905—1914. Nr. 96. (Berlin, 30. November 1912.)
3 Or. Pol. Nr. 12 402.
330
Der Erste Balkankrieg'. 1912
schlossen an ihre Seite zu treten haben, und dann würden wir zur
Wahrung unserer eigenen Stellung in Europa, zur Verteidigung un-
serer eigenen Zukunft und Sicherheit fechten.
Den Versuchen der Türkei, durch Grenzberichtigungen und
mazedonische Reformen, die sie erneut anbot, zu einem erträglichen
Frieden zu gelangen, konnte ein Erfolg nicht beschieden sein. Auf
eine Anregung Sir Edward Greys vom 1. Dezember1 legte auch
Deutschland der Türkei freundschaftlich nahe, verständige Bedin-
gungen zu stellen. Österreichischerseits hielt man dauernd an dem
Standpunkte fest, daß der Plan eines serbischen Adriahafens und
eines Landstreifens dahin, auch wenn beide neutralisiert würden,
für Österreich-Ungarn nicht annehmbar sei1 2.
In London verhandelte Deutschlands neuer Botschafter Fürst
Lichnowsky mit Grey wiederholt über die orientalische Krisis. Grey
war ebenso wie die deutschen Staatsmänner von der Notwendigkeit
eines frühzeitigen Meinungsaustausches zwischen den Großmächten
überzeugt und wünschte einen Konflikt zu vermeiden, in den eine
oder mehrere Großmächte hineingezogen werden könnten. Dem
deutschen Vorschläge, die sechs Botschafter der Großmächte in einer
der Hauptstädte zu Beratungen zu bevollmächtigen, trat er bei3. So
kam es schließlich am 17. Dezember zu Besprechungen der Bot-
schafter in London. Vorher schon war am 3. Dezember ein bulga-
risch-türkischer Waffenstillstand in der Tschataldscha-Linie unter-
zeichnet worden, ln Konstantinopel rechnete man mit dem Zwie-
spalte unter den Verbündeten und mit der Sorge der Großmächte
vor dem Ausbruch eines europäischen Krieges4. Auch die Wieder-
ernennung des Generals Conrad v. Hötzendorf zum Chef des K. und
K. Generalstabes, die am 12. Dezember erfolgte, wurde vielfach
als beunruhigendes Symptom gedeutet. Hatte sich der General doch
bei jedem Anlasse ganz offen dahin ausgesprochen, daß Österreich
auf einen Krieg mit Serbien geradezu ausgehen müsse.
Ausschlaggebend wurde die Haltung Englands. Lord Haldane
sagte dem Fürsten Lichnowsky, den er am 3. Dezember besuchte,
offen heraus, daß bei einem allgemeinen europäischen Wirrwarr, der
sich aus dem Einmärsche Österreichs in Serbien ergeben könnte,
falls Serbien nicht gutwillig die besetzte adriatische Küste räume,
Großbritannien kaum der stille Zuschauer werde bleiben können. In
England wünsche man das Gleichgewicht der Gruppen auf dem Kon-
tinent einigermaßen aufrechtzuerhalten. England würde daher unter
keinen Umständen eine Niederwerfung der Franzosen dulden kön-
nen, da es sich nicht nachher einer einheitlichen kontinentalen
1 Gr. Pol. Nr. 12 472.
2 Gr. Pol. Nr. 12 424.
3 Gr. Pol. Nr. 12 500, 12 504.
4 Gr. Pol. Nr. 12 493.
331
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Gruppe unter Führung einer einzigen Macht gegenübersehen wolle.
„Sollte also Deutschland durch Österreich in den Zwist hineingezo-
gen werden und dadurch in Krieg mit Frankreich geraten, so würden
in England Strömungen entstehen, denen keine Regierung wider-
stehen könnte und deren Folgen ganz unberechenbar wären. Die
Theorie von dem Gleichgewicht der Gruppen bilde eben für Eng-
lands Außenpolitik ein Axiom und habe auch zu der Anlehnung an
Frankreich und Rußland geführt.“ Haldane versicherte dem Bot-
schafter, man wünsche in England das beste Verhältnis mit Deutsch-
land, und niemand wolle den Krieg, solange keine europäischen
Verwicklungen einträten. Die Folgen eines europäischen Krieges
aber seien ganz unberechenbar, und er könne alsdann für gar nichts
einstehen1.
Dieser Bericht erregte den Kaiser aufs höchste. Er schrieb so-
fort seine Ansicht auf ein Telegrammformular und ließ sie dem
Staatssekretär v. Kiderlen zustellen. Nunmehr seien alle Schleier
der Unsicherheit zerrissen; England werde aus Neid und aus Haß
gegen Deutschland unbedingt Frankreich und Rußland beistehen.
„Der eventuelle Existenzkampf, den die Germanen in Europa (Öster-
reich, Deutschland) gegen die von Romanen (Galliern) unterstütz-
ten Slawen (Rußland) zu fechten haben werden, findet die Angel-
sachsen auf der Seite der Slawen.“ Nach Ansicht des Kaisers hatte
diese Klärung hinfort die Basis der deutschen Politik zu bilden.
„Wir müssen mit Bulgarien und Türkei ein Militärabkommen ma-
chen, ebenso mit Rumänien. Wir müssen auch mit Japan ein solches
Abkommen schließen. Jede Macht, die zu haben ist, ist gut genug,
uns zu helfen. Es geht um Sein oder Nichtsein Deutschlands3.“
Damals weilte gerade der Bruder des Kaisers, Prinz Heinrich,
in England und hatte dem Kaiser am 11. Dezember die friedlichen
Versicherungen des Königs von England übermittelt, allerdings auch
schon mit dem Hinweise, Deutschland könne bei einem europäi-
schen Konflikte vielleicht mit einer Neutralität Englands rechnen,
nicht aber mit einem Mitgehen auf deutscher Seite, denn England
werde immer bestrebt sein, „das Mächteverhältnis auf dem Konti-
nent nach Möglichkeit zu regulieren, und vermutlich seine Kräfte
zugunsten des Unterliegenden, also Schwächeren, einsetzen“. Der
Kaiser antwortete ihm, die Sache sei bereits erledigt, England gehe
mit Frankreich. Prinz Heinrich wandte sich daraufhin am 15. Dezem-
ber brieflich zugleich an den Kaiser und an den König von England
und schrieb abschließend am 23. Dezember an seinen kaiserlichen
Bruder, er habe den König Georg über das Gespräch Haldanes mit
dem Fürsten Lichnowsky unterrichtet und ihn noch einmal auf die 1 2
1 Gr. Pol. Nr. 15 612.
2 Gr. Pol. Nr. 15 613.
332
I
Der Erste Balkankrieg. 1912
Gefahr aufmerksam gemacht, die für den Weltfrieden daraus ent-
stehen könnte. Der König möge sich nicht wundern, wenn Deutsch-
land seine Rüstungen zu Lande und zu Wasser energisch weiter be-
treibe. Deutschland werde keinen Krieg provozieren und habe vier-
zig Jahre lang Frieden gehalten, England aber lade eine ungeheure
Verantwortung auf sich.
Das Gespräch Haldanes mit Lichnowsky machte auf den Reichs-
kanzler und den Staatssekretär v. Kiderlen keinen besonderen Ein-
druck. Kiderlen erblickte darin lediglich einen gut gemeinten Ver-
such Englands, Deutschland zur Vorsicht zu mahnen. Da der Kaiser
aber aus den Äußerungen Haldanes einen Anlaß für die Einbringung
einer neuen Flottenvorlage entnehmen zu wollen schien, richtete der
Kanzler am 18. Dezember ein Telegramm an ihn, in dem er auf die
Inopportunität einer Agitation für eine erneute Flottennovelle hin-
wies. Die Verhandlungen der Botschafter in London hatten nämlich
inzwischen schon begonnen und ließen zeitweise ein günstiges Er-
gebnis erwarten. Der Kaiser blieb zwar bei seiner Ansicht, daß eine
Flottenverstärkung nötig sei, erklärte sich aber mit Bethmanns Hal-
tung einverstanden. Die etwas optimistische Auffassung des Kanzlers,
daß England vielleicht nicht aktiv eingreifen würde, wenn Rußland
und Frankreich direkt als die Provozierenden erschienen, wies der
Kaiser mit der Bemerkung zurück, daß er an ein aktives Eingreifen
Englands glaube. Wenn man auf die Tatsache der Provokation
großen Wert lege, so müsse man bedenken, daß sich eine solche bei
einigermaßen geschickter Diplomatie und geschickt geleiteter Presse
stets konstruieren lasse; die Ansichten darüber würden auf beiden
Seiten stets auseinandergehen: „Wir können nach unserer Ansicht
jede Provokation vermieden haben und werden doch als die Provo-
zierenden dargestellt werden, sobald es den Gegnern und der von
ihnen gekauften Presse paßt1.“ Auf die Einbringung einer neuen
Marinevorlage verzichtete damals der Kaiser, faßte sie aber bald
aufs neue ins Auge.
Nach mannigfachen Vorbereitungen tagten nunmehr von Mitte
Dezember 1912 ab in London sowohl die Botschafterreunion und die
von den Balkanmächten beschickte Friedenskonferenz. Nur Grie-
chenland, das noch im Kriegszustände beharrte, war nicht vertreten.
Die Botschafter tagten vom 17. bis 20. Dezember und schoben dann
eine Verhandlungspause bis zum 2. Januar ein. Grey leitete die
Verhandlungen im Sinne eines Ausgleiches der entgegengesetzten
Standpunkte. Lichnowsky war von Berlin aus angewiesen wor-
den1 2, zunächst in allen Fragen mit seinen Dreibundkollegen Füh-
lung zu nehmen; ein geschlossenes Auftreten des Dreibundes nach
1 Gr. Pol. Nr. 15 560.
2 Gr. Pol. Nr. 12 540.
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
außen sollte vermieden werden, solange nicht die anderen Mächte
als Tripelentente auftraten. Deutschland hat sich stets bemüht, im
Sinne der Vermittlung die entstandenen Gegensätze abzubauen, die
aus der russisch-österreichischen Gegensätzlichkeit drohenden Ge-
fahren zu verringern und durch praktische Vorschläge die Balkan-
staaten zu einer möglichst baldigen Beendigung des Kriegszustandes
zu bewegen. Die Hauptgefahr für den Weltfrieden beruhte immer
auf den militärischen Maßnahmen der beiden östlichen Kaiser-
reiche und auf dem grundsätzlichen Widerstande der Wiener Politik
gegen eine Heranlassung Serbiens an die Adria. Am bedenklichsten
aber war es, daß die österreichische Politik sich selbst darüber nicht
völlig klar war, was mit Serbien geschehen solle. Als der deutsche
Botschafter v. Tsc'hirschky am 28. Dezember 1912 auftragsgemäß
den Grafen Berchtold darauf aufmerksam machte1, daß die deutsche
Regierung ein Anrecht darauf besitze, rechtzeitig über die politischen
Pläne der K. und K. Regierung unterrichtet zu werden, entschuldigte
sich Berchtold damit, daß er ein ganz bestimmtes Programm über
die weitere Gestaltung der Beziehungen zu Serbien jetzt mit dem
besten Willen noch nicht aufstellen könne, da er ja den anderen
hierfür wichtigen Faktor — die Haltung Serbiens — nicht in der
Hand habe. Unbedingt aber müsse er darauf bestehen, daß der
serbischen Propaganda vom Königreiche aus in den serbischen Län-
dern der Donaumonarchie für die Zukunft ein Riegel vorgeschoben
werde. Jetzt schon habe der Landeskommandierende in Bosnien,
General Potiorek, um der wachsenden Agitation entgegenzutreten,
die jungen Leute und die älteren Reservisten unter die Fahnen be-
rufen, damit sie den revolutionären Einflüssen entzogen würden.
Dieses „ganz verzweifelte Mittel“ könne aber doch auf die Dauer
nicht angewendet werden. Die große Gefahr, die sich für den Weiter-
bestand der Donaumonarchie aus der serbischen Propaganda ergab,
hat in diesen Bemerkungen des Grafen Berchtold eine Kennzeich-
nung erhalten, die durch die Ereignisse des Sommers 1914 zum Un-
heil der Welt nur allzusehr bestätigt worden ist.
Für Deutschland war es in dieser kritischen Zeit eine schwere
Belastung, daß der Staatssekretär v. Kiderlen, während er sich auf
Urlaub in Stuttgart befand, dort am 30. Dezember 1912 verstarb.
Zu seinem Nachfolger wurde am 5. Januar 1913 der bisherige Bot-
schafter in Rom, v. Jagow, ernannt. Jagow vermochte aber erst am
22. Januar zur Übernahme der Geschäfte aus Rom abzureisen. In
der Zwischenzeit lag die Leitung des Auswärtigen Amtes in den
Händen des Unterstaatssekretärs Zimmermann. 1
1 Gr. Pol. Nr. 12 499.
334
Die Jahre 1913 und 1914
Die Jahre 1913 und 1914
Wir sind nunmehr an die Schwelle des Jahres 1913 gelangt und
damit in eine außenpolitische Epoche, die in dem großen Akten-
werk des Auswärtigen Amtes den allerbreitesten Raum einnimmt.
Das Jahr 1913 und die erste Hälfte des Jahres 1914 bezeichnen das
Nahen des Weltkrieges. Diese anderthalb Jahre europäischer Ge-
schichte haben bereits eine historische und zum großen Teil pole-
misch gehaltene Literatur erzeugt, die infolge ihres noch täglich
wachsenden Umfanges schon jetzt geradezu unübersehbar gewor-
den ist.
Nun könnte man vielleicht annehmen, daß in dem hier vorliegen-
den „Weltkriege der Dokumente“ der Zeitspanne vom Beginn des
Jahres 1913 bis zum Eintritt in den Weltkrieg ein besonders großer
Raum gewidmet werden müsse. Meiner ganzen Grundanschauung
nach kann ich aber den letzten neunzehn Monaten vor Kriegsbeginn
eine solche Wichtigkeit nicht beimessen, da diese neunzehn Monate
lediglich die Auswirkung von Entwicklungen darstellen, die um
Jahrzehnte zurückreichen. Wenn gerade über diese Zeitspanne eine
überwältigend große Literatur schon vorhanden ist, so hat dies
seinen guten Grund darin, daß die unheilvolle Torheit von Ver-
sailles, eine einzelne Staatengruppe mit der alleinigen Schuld am
Weltkriege zu belasten, zunächst in den hauptbeteiligten Staaten,
Deutschland und Österreich-Ungarn, sodann aber auch in steigendem
Maße in den Ländern der Entente und in der angelsächsischen Welt
eine wissenschaftliche Abwehrbewegung hervorgerufen hat, deren
Gipfelpunkt wir vielleicht noch nicht einmal erreicht haben. Im Vor-
dergründe des Interesses stand dabei die unmittelbare Vorkriegszeit,
weil man gemeinhin annahm, in diesen Monaten und ganz beson-
ders in der eigentlichen Krisis des Weltfriedens — zwischen dem
Morde von Sarajevo und dem Kriegsausbruch — müsse die Ver-
schuldung am Kriege in erster Linie zutage kommen.
Mein „Weltkrieg der Dokumente“ ist von ganz anderen Voraus-
setzungen ausgegangen. Schon während des Weltkrieges habe ich
mir immer wieder die Frage vorgelegt, wie man der immer klarer
zutage tretenden Absicht unserer Gegner entgegenwirken solle,
die ganze Verantwortung für den Weltkrieg uns zuzuschieben. Mit
den Veröffentlichungen mitgehend, sie zum Teil, soweit es in den
Kräften eines einzelnen steht, selbst mit beeinflussend, bin ich mit
der zunehmenden Masse des historischen Stoffes und vor allem bei
der Bearbeitung der „Wegweiser“ durch das Aktenwerk des Aus-
wärtigen Amtes zu der Überzeugung gelangt, daß es auf die letzten
Monate vor Kriegsausbruch so gut wie gar nicht ankommt, wenn
man die „Schuld“ am Weltkriege ermitteln will.
335
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Was heißt überhaupt in diesem Zusammenhänge „Schuld“? Mit
vollem Rechte hat B. W. v. Bülow in seiner ausgezeichneten Dar-
stellung der diplomatischen Verhandlungen bei Kriegsausbruch „Die
Krisis“1 darauf hingewiesen, daß bei der Betrachtung des Schuldpro-
blems nicht die Frage den Ausgangspunkt bilden dürfe, wer recht
und wer unrecht hatte. „Von seinem Standpunkte aus hatte Serbien
recht, wenn es seinen nationalistischen Zielen zustrebte. Österreich-
Ungarn hatte nicht minder recht, wenn es seinen Besitzstand zu
wahren suchte. Rußland hatte die Pflicht, die Versprechungen ein-
zulösen, die es Serbien gegeben hatte. Deutschland mußte die ge-
waltsame Auflösung seines einzigen verläßlichen Bundesgenossen
zu verhindern suchen. Frankreich und England waren gezwungen,
ihren Vertragspflichten nachzukommen. ,Recht' hatte ein jeder. Die
Frage, die gestellt werden muß, ist, ob ein jeder nur das tat, was von
seinem Standpunkt aus berechtigt und nach den allgemeinen Be-
griffen erlaubt war. In erster Linie ist aber zu erforschen: was haben
die einzelnen Regierungen gewollt und beabsichtigt?“
Bei dem Streit über die Schuldfrage wird ferner nur zu oft
außer acht gelassen, daß der Krieg bis zu der Weltkatastrophe von
1914 ein allgemein anerkanntes Mittel der Außenpolitik gewesen ist;
ein durchaus legales Mittel, das man vielfach nach Clausewitz als
die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln definiert hat. Unter
der Einwirkung der heutigen pazifistischen Strömungen ist man nur
allzu geneigt, die Tatsache zu vergessen, daß schon seit langer Zeit
zwar ethische und kulturelle Richtungen bestrebt gewesen sind, die
Schrecken des Krieges zu mildern, ihn völkerrechtlich sorgfältiger
zu umzirken, daß es aber trotz aller Bemühungen der beiden Haager
Konferenzen bis auf den heutigen Tag immer noch als eine Utopie
betrachtet worden ist, den Krieg völlig zu beseitigen. Man mag das
bedauern oder begrüßen: an der Tatsache kann niemand vorbei,
daß es bis jetzt noch nicht möglich gewesen ist, eine Instanz zu
schaffen, stark genug, um jeden Krieg zu verhindern. Denn auch
dies wäre nur mit den Mitteln der Gewalt möglich.
Lehnen wir somit eine Schuld am Weltkriege für die Mittel-
mächte schon insofern ganz allgemein, sozusagen formal-juristisch,
ab, so verlieren die letzten neunzehn Monate vor Kriegsausbruch
in noch höherem Maße unser Interesse, da sie in ihrem außen-
politischen Geschehen für Deutschland durchaus zwangsläufig ge-
wesen sind. Der Tatbestand, wie er bei Beginn des Jahres 1913 vor-
lag, war nicht von Deutschland und nicht von Österreich-Ungarn
verschuldet, wenn man nicht so weit gehen will, den tripolitanischen
Feldzug Italiens als Auswirkung der deutschen Einigung mit Frank- 1
1 3. Auflage. Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin
W 8. 1922. S. 171.
336
Die Jahre 1913 und 1914
reich in der Marokkofrage1 anzusehen. In der Hauptsache war es der
immer deutlicher werdende Verfall des türkischen Staatswesens, der
die Balkanmächte und die hinter ihnen stehenden östlichen Kaiser-
reiche Rußland und Österreich-Ungarn auf den Plan rief. Im Fernen
Osten durch Japan verdrängt, hatte Rußland sein an sich durchaus
berechtigtes Ziel, den Schlüssel zum Schwarzen Meer in die eigene
Hand zu bekommen, wieder aufgenommen. Eine Auswirkung dieses
Strebens war die Förderung der Balkanstaaten durch Rußland, das
hier außerdem ein durchaus volkstümliches Motto fand. Mächtig be-
flügelt von der panslawistischen Idee glaubten insonderheit die
Serben an die Unterstützung ihrer Ziele durch das Zarenreich. Ver-
zweifelt wehrte sich Österreich-Ungarn bei seinen eigenen inneren
Verfallserscheinungen gegen eine weitere Vergrößerung Serbiens,
da es hiervon eine nur allzu lockende Anziehungskraft auf die Serben
innerhalb des eigenen Staatsgebietes befürchten mußte. In steigen-
dem Maße fühlte es sich in seiner Südostflanke bedrängt. Deutsch-
land aber konnte, da ihm der Anschluß an andere Mächte unwider-
ruflich verbaut war, nichts anderes tun, als sich selbst zu Lande und
zu Wasser so stark zu machen, wie irgend möglich, um den immer
sichtbareren Kraftverlust des Dreibundes auszugleichen, soweit es
überhaupt noch möglich war.
Unter diesem Gesichtswinkel müssen die Vorgänge der Jahre
1913 und 1914 bis zum Ausbruche des Weltkrieges gesehen werden.
Die Gruppierung der Staaten Europas, die Zusammenballung zweier
Kraftgruppen mit entgegengesetzten Vorzeichen, bot mit dem Augen-
blick eine schwere Gefahr für den europäischen Frieden, wenn aus
irgendeinem Anlasse ein Teil der einen Staatengruppe entscheidende
militärische Vorbereitungen traf. Deutschlands Lage inmitten Euro-
pas, seine Bedrohung mit einem Mehrfrontenkriege, wurde sofort
zu einer tödlichen Gefahr, wenn bei der gegnerischen Staatengruppe
militärische Vorbereitungen getroffen wurden, und diese Gefahr
mußte einen Krieg unabwendbar machen, wenn eine der Großmächte
sich zur Mobilmachung entschloß. In diesem Falle waren alle Be-
mühungen der Diplomatie zum Scheitern verurteilt, und es kam
schließlich für alle beteiligten Mächte nur noch darauf an, im Inter-
esse der Beeinflussung der Völker und der sogenannten öffentlichen
Meinung in den neutralen Ländern den diplomatischen Notenkampf
so günstig zu führen, daß alle Schuld an dem kommenden Unheil
der Gegenseite aufgebürdet werden konnte. In diesem Stadium trat,
worauf Aloys Schulte mit Recht hingewiesen hat2, eine Abhängigkeit
des politischen Handelns von den militärischen Kriegsvorbereitungen * 4
1 Siehe ö. S. 311.
4 „Die Herrschaft der militärischen Pläne in der Politik. Offensiver und defen-
siver Militarismus.“ Kölnische Volkszeitung. Jahrgang 1924. Nr. 584, Nr. 600,
Nr. 623.
22 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
337
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
zutage, die jede Friedensmöglichkeit vernichtete. „In den Dingen lag
ein logischer Zwang, der, wenn die Arbeit der vermittelnden Diplo-
maten nicht ganz schnell zu einer Aussicht auf Lösung der Krisis
führt, durch den ersten militärischen Schritt, den Krieg vorzubereiten,
ausgelöst wird und dann das, was die Militärs als politische Grund-
lage schon lange vorher glaubten annehmen zu müssen, der Gegen-
wart aufzwingt. Wie ein Fatum bricht es herein, zerreißt alle Zwirns-
fäden und entfesselt den Krieg, und je größer die Krisis ist, je rück-
sichtsloser marschiert das Fatum einher. Nicht der Formalakt der
Kriegserklärung ist... das Entscheidende, es stellt nur der Welt den
Eintritt des Fatums vor Augen, sondern der erste Schritt unmittel-
barer Kriegsvorbereitung ist der springende Punkt der Kriegsschuld-
frage.“ Die Verantwortung für den ersten Schritt der wirklichen
Kriegsvorbereitung aber fällt einzig und allein Rußland zur Last,
das durch seine Gesamtmobilmachung vom 30. Juli 1914 die letzten
Friedensmöglichkeiten begrub.
Im Lichte dieser Anschauungen genügt für die letzten neunzehn
Monate vor Ausbruch des Weltkrieges ein ganz knapper Überblick
über die tatsächlichen Vorgänge. Wer sich genauer unterrichten will,
dem steht gerade für diese Zeit ein kaum zu erschöpfendes Material
zur Verfügung, wobei nur auf die Gefahr hingewiesen werden mag,
daß solche Persönlichkeiten, die einen großzügigen Überblick
suchen, gar zu leicht von der Fülle der Einzelheiten geradezu er-
drückt werden können1. 1
1 In erster Linie aufschlußreich ist das große Aktenwerk des Auswärtigen
Amtes mit den Bänden 34—39 und nicht weniger als 3390 Aktenstücken. Vgl.
hierzu den von mir bearbeiteten Wegweiser, 5.Teil, 3. Abteilung (8. Band des
Oesamtkommentars), in dem die wichtigeren Dokumente regestenartig einzeln ge-
würdigt sind. An zusammenfassenden Darstellungen seien genannt:
Joseph M. Baernreither: Fragmente eines politischen Tagebuches.
Herausgegeben und eingeleitet von Professor Joseph Redlich. Ver-
lag für Kulturpolitik, Berlin 1928.
Harry Eimer Barnes: Die Entstehung des Weltkrieges. (Übersetzt von
Dr. Franz Arens.) Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, Berlin u. Leipzig,
1928.
Erich Brandenburg: Von Bismarck zum Weltkriege. Deutsche Verlags-
gesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin W 8. 1925. 2. Auflage.
Hans Draeger: Anklage und Widerlegung. Taschenbuch zur Kriegs-
schuldfrage. Verlag Arbeitsausschuß deutscher Verbände, Berlin, 1928.
Günther Frantz: Rußland auf dem Wege zur Katastrophe. Tagebücher
des Großfürsten Andrej und des Kriegsministers Poliwanow. Briefe
der Großfürsten an den Zaren. Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik
und Geschichte, Berlin 1926.
Günther Frantz: Rußlands Eintritt in den Weltkrieg. Deutsche Verlags-
gesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin 1924.
Johannes Hohlfeld: Geschichte des Deutschen Reiches 1871—1926.
Verlag S. Hirzel, Leipzig. 1926. 2. Auflage.
338
Die Jahre 1913 und 1914
Hermann Lutz: Lord Grey und der Weltkrieg. Deutsche Verlagsgesell-
gesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin 1927.
Hermann Martin: Die Schuld am Weltkriege. Leipzig, Fr. Wilh. Gru-
now. 1920.
Graf Max Montgelas: Leitfaden zur Kriegsschuldfrage. Walter de Gruy-
ter&Co., Berlin u. Leipzig. 1923.
Raymond Poincare: Memoiren. Die Vorgeschichte des Weltkrieges
1912—1913. Mit einer Einführung von Dr. Eugen Fischer. Paul Aretz,
Verlag. Dresden (1928).
Joseph Redlich: Kaiser Franz Joseph von Österreich. Verlag für Kultur-
politik, Berlin 1928.
S. D. Sasonoff: Sechs schwere Jahre. Verlag für Kulturpolitik, Berlin
1927.
Wilhelm Schaer: Katechismus zur Kriegsschuldfrage. Verlag des Arbeits-
ausschusses deutscher Verbände, Berlin.
Amtliche Aktenstücke zur Geschichte der europäischen Politik 1885—1914
(Die Belgischen Dokumente zur Vorgeschichte des Weltkrieges). Her-
ausgegeben von Bernhard Schwertfeger nebst 2 Ergänzungs-
bänden und 2 Kommentarwerken des Herausgebers. Neue Auflage.
Berlin, Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, 1925.
(Der 1. Kommentarband „Der Fehlspruch von Versailles“ enthält eine
zusammenfassende Darlegung der Vorgänge bis zum Kriegsausbruch.)
B. v. Siebert: Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte der Ententepolitik
der Vorkriegsjahre. Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. Berlin u.
Leipzig 1921.
Eduard Ritter v. Steinitz: Rings um Sasonow. Verlag für Kultur-
politik, Berlin 1928.
Generalmajor Ritter v. Steinitz: Zwei Jahrzehnte im Nahen Orient. Auf-
zeichnungen des Generals der Kavallerie Baron Wladimir Giesl.
Verlag für Kulturpolitik, Berlin 1927.
Friedrich Stieve: Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolskis 1911 bis
1914. Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin
1924.
Friedrich Stieve: Deutschland und Europa 1890—1914. Verlag für
Kulturpolitik. Berlin 1926.
Friedrich Stieve: Iswolski und der Weltkrieg. Deutsche Verlagsgesell-
schaft für Politik und Geschichte, Berlin 1924.
Friedrich Stieve und Graf Max Montgelas: Rußland und der
Weltkonflikt. Verlag für Kulturpolitik, Berlin 1927.
Veit Valentin: Deutschlands Außenpolitik von Bismarcks Abgang bis zum
Ende des Weltkrieges. Berlin W 8. Deutsche Verlagsgesellschaft für
Politik und Geschichte, 1921.
Dr. Adalbert Wahl: Zwischen den Kriegen. 6 Vorträge über die aus-
wärtige Politik der Großmächte von 1871—1914. Tübingen, Osian-
der’sche Buchhandlung, 1923.
Dr. Wilhelm Ziegler: Deutschland und die Schuldfrage. Verlag für
Politik und Wirtschaft, Berlin 1924. 4. Auflage.
Literaturnachweis: „Die Kriegsschuldfrage“. Herausgegeben vom Börsen-
verein der deutschen Buchhändler, Leipzig, 1925.
Ein überaus wertvolles und reichhaltiges Material enthält ferner die von
Alfred v. Wegerer herausgegebene Monatsschrift „Die Kriegsschuldfrage“
(1. Jahrgang 1925). Vgl. ferner die sog. „Professorendenkschrift“, Anlage 2,
S. 27* ff.
22*
339
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Der Zweite und Dritte Balkankrieg
Das Jahr 1913 scheidet sich zunächst in die deutlich hervor-
tretenden Abschnitte des zweiten Balkankrieges, der durch den
Londoner Vorfrieden vom 30. Mai beendet wurde, in die Zeitspanne
bis zum Frieden von Bukarest am 10. August, der den dritten Balkan-
krieg beendete und in die Monate bis Jahresende.
Bei den Londoner Besprechungen der Botschafter war Deutsch-
land dauernd bestrebt, im Sinne einer baldigen Beendigung des
Kriegszustandes auf die Balkanstaaten einzuwirken. Gestützt auf das
sogenannte Goluchowski-Visconti’sche Abkommen vom 20. Dezem-
ber 1900 und vom 9. Februar 1901 setzte Österreich-Ungarn die
Schaffung eines autonomen Albaniens durch, immer mit dem Grund-
gedanken, Serbien nicht an das Meer zu lassen. Die Lage wurde
besonders dadurch ernst, daß die Montenegriner Skutari erobern
wollten und die Stadt auch schließlich trotz der Drohungen Öster-
reich-Ungarns und der Mächte am 23. April mit Waffengewalt in
Besitz nahmen, während Österreich Skutari durchaus Albanien zu-
zuschlagen wünschte. Es bedurfte schärfsten Druckes, bis endlich
König Nikita am 4. Mai 1913 das Los der Stadt Skutari in die Hände
der Mächte legte1.
Anfangs Mai wuchs die Gegnerschaft der bisherigen Balkan-
verbündeten bereits drohend empor. Nur durch Sir Edward Greys
energische Haltung gelang es, auf der Botschafterreunion zu London,
den Londoner Präliminarfrieden durchzusetzen (30. Mai).
Unter Hinzutritt Rumäniens auf die Seite Serbiens und Griechen-
lands entbrannte Ende Juni der dritte Balkankrieg. Das er-
schöpfte Bulgarien war der Übermacht nicht gewachsen, so daß
König Ferdinand schon am 23. Juli, als auch die Türkei wieder vor-
zudringen begann, die Vermittlung der Großmächte zur Herbei-
führung des Friedens anrufen mußte. Der Bukarester Frieden vom
10. August brachte darauf Bulgarien um einen wesentlichen Teil
seiner bisherigen Errungenschaften.
Deutschlands Haltung während der Balkankriege läßt sich viel-
leicht am besten durch Berufung auf ein Telegramm Kaiser Wil-
helms II. an das Auswärtige Amt vom 16. August 1913 darlegen1 2.
Danach hatte Deutschland seine Hauptaufgabe darin gesehen, einem
Zusammenstöße der beiden großen europäischen Gruppen entgegen-
zuarbeiten. Als bestes Mittel hierzu erschien dem Kaiser die Bekun-
dung der unlösbaren Festigkeit des Dreibundes und dessen früh-
zeitige Erneuerung, die bekanntlich am 5. Dezember 1912 stattgefun-
1 Or. Pol. Nr. 13 267.
2 Gr. Pol. Nr. 13781.
340
Der Dritte Balkankrieg’. 1913
den hätte1. In diesem Sinne war der Kaiser auch auf gewisse Wün-
sche Österreichs eingegangen, die ihm an sich unsympathisch waren,
besonders auch auf die Schaffung des autonomen Albaniens. Mit der
Politik des Grafen Berchtold war der Kaiser keineswegs einverstan-
den und erhoffte einen Personenwechsel in Wien.
Die weitere Entwicklung auf dem Balkan erfolgte unter völliger
Zurückhaltung Deutschlands, so auch der Friedensschluß der Türkei
mit Bulgarien am 29. September, der Adrianopel an die Türkei zu-
rückgab, und zwischen der Türkei und Griechenland am 14. Novem-
ber 1913. Der Abschluß des serbisch-türkischen Friedens erfolgte
erst am 14. März 1914. Die Schaffung eines selbständigen alba-
nischen Staates, die man in Berlin als den einzigen Gewinn ansah,
den Österreich-Ungarn aus den Balkanwirren davontrug, erfolgte
nach mühsamen Vorarbeiten und unter dauernden Störungen aus
den benachbarten Gebieten nur nach einem erneuten scharfen Zu-
sammenstöße Österreich-Ungarns mit Serbien, da letzteres nicht be-
reit war, die von ihm bereits besetzten albanischen Gebiete zu
räumen. Schließlich überreichte am 18. Oktober der österreichische
Geschäftsträger in Belgrad der serbischen Regierung eine Note,
worin die Räumung Albaniens binnen acht Tagen gefordert wurde.
Deutschland unterstützte den Standpunkt der Wiener Regierung2.
Nur unter dem Druck des Wiener Ultimatums fügte sich Serbien
und erklärte, bis zum 26. Oktober Albanien zu räumen. Die Schaf-
fung des Fürstentums Albanien mit dem Prinzen Wied als Fürsten
ging unter dauerndem gegenseitigen Mißtrauen Österreich-Ungarns
und Italiens im Frühjahr 1914 vonstatten3.
Deutschland und die Mächte 1913, 1914
Während Deutschland in den Balkanwirren wohl oder übel ge-
nötigt war, Österreich-Ungarn, seinen letzten zuverlässigen Bundes-
genossen, zu unterstützen, vollzogen sich im Westen Europas die
Dinge im Sinne einer immer schärferen Vorbereitung auf ernste Aus-
einandersetzungen. Am 17. Januar 1913 wurde Poincare zum Prä-
sidenten der französischen Republik erwählt. Eine seiner ersten
Amtshandlungen war die Abberufung des Botschafters Georges
Louis aus Petersburg und sein Ersatz durch Delcasse. Der deutsche
Botschafter in Paris v. Schoen zweifelte nicht daran, daß Poincare
aus der in Frankreich für das Staatsoberhaupt bisher üblichen eng-
herzigen Abgeschlossenheit herauszutreten gedenke4.
x Der Vertrag zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien wurde am 5. Februar
1913 erneuert. Der Zutritt Deutschlands erfolgte am 26. Februar, der Italiens
am 5. März.
* Gr. Pol. Nr. 14174-14176.
* Gr. Pol. Nr. 14 406—14 552.
4 Gr. Pol. Nr. 15 627. '
341
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Im Frühjahr 1913 begann die russische Presse, Frankreich an
seine militärischen Bündnispflichten zu mahnen. Dessen bedurfte es
kaum, da man sich in Frankreich damals gerade mit der Frage
der Wiedereinführung der vollen dreijährigen Dienstzeit beschäf-
tigte. Am 11. März begann die Armeekommission der Kammer mit
der Beratung des Gesetzentwurfes, und am 8. August wurde das viel
umstrittene Gesetz in der Kammer mit einer namhaften Mehrheit
angenommen L
Die deutsch-französischen Beziehungen ließen damals gelegent-
lich zu wünschen übrig, so bei den Zwischenfällen in Luneville und
Nancy am 3. und 15. April 1913 und anläßlich der Vorgänge in Za-
bern im November 1913, die man in Frankreich zur Stimmungsmache
gegen die deutsche Verwaltung der Reichslande auszunutzen suchte 1 2.
In Deutschland erledigte man während des Monats Juni die Durch-
beratung der neuen großen Wehrvorlage, die am 30. Juni mit über-
wältigender Mehrheit angenommen wurde. Damit war für das An-
wachsen des französischen Heeres und für die stärkere Beanspru-
chung Österreich-Ungarns durch die Vorgänge auf dem Balkan ein
gewisser Ausgleich geschaffen. Auch die militärische Unterstützung
durch italienische Truppen im Falle eines Krieges beurteilte man in
Berlin jetzt wieder zuversichtlicher, da der neue Chef des italieni-
schen Generalstabes, General Pollio, sehr deutschfreundlich dachte.
Die eine Zeitlang unterbrochenen Generalstabsverhandlungen über
die Entsendung italienischer Truppen an den Oberrhein wurden im
Frühjahr 1914 wieder aufgenommen3. Zweifellos bestand in der
italienischen Armee ein lebhaftes Interesse für den Dreibund. Die
Erwägungen über die Verwendung der Armee im Kriegsfälle aber
hingen lediglich von der politischen Leitung ab und wurden durch
die inneren Gegensätzlichkeiten der italienischen und österreichisch-
ungarischen Interessen sowie dadurch maßgebend bestimmt, daß
Italien fest entschlossen war, niemals gegen England in den Kampf
zu treten.
Die Gegensätze zwischen Italien und Österreich waren damals
schon so stark, daß sie auch durch Aussprachen zwischen Marquis
di San Giuliano und Graf Berchtold inAbbazia —14. bis 18. April 1914
— nicht ausgeglichen werden konnten. In Rom glaubte man an eine
planmäßig gegen die Italiener gerichtete innere Politik Österreichs
und schob dafür dem Grafen Berchtold die Hauptverantwortung zu.
Von Frankreich aber wurde Italien dauernd lebhaft umworben, was
schließlich am 29. Mai 1914 zur Unterzeichnung eines italienisch-
französischen Abkommens über die rechtliche Stellung der Italiener
in Tunis und der Tunesier in Libyen führte. Auch in der italienischen
;\.Ü ’■
1 Gr. Pol. Nr. 15 652.
2 Gr. Pol. Nr. 15 658—15660.
3 Gr. Pol. Nr. 15 713.
Deutschland und die Mächte, 1913,1914
Presse zeigten sich dauernd starke Sympathien für den Dreiverband
und insbesondere für Frankreich1.
An der damaligen Gruppierung der Mächte konnten einzelne
Begegnungen der leitenden Persönlichkeiten nichts mehr ändern.
Seine Frühjahrsreise nach Korfu benutzte Kaiser Wilhelm II. 1914 zu
Besuchen der Dreibundmonarchen in Wien (23. März) und Venedig
(25. März) und stattete auch dem Erzherzog Franz Ferdinand am
27. März in Miramare einen Besuch ab. Eine weitere Begegnung mit
dem Erzherzog-Thronfolger erfolgte durch einen Besuch des Kaisers
in Konopischt vom 12.—14. Juni 1914. Bei dieser Gelegenheit wur-
den auch politische Fragen erörtert. Während der Erzherzog-Thron-
folger für eine Annäherung an Rußland durch Wiederbelebung des
alten Drei-Kaiser-Bündnisses eintrat, betonte Kaiser Wilhelm II. den
Dreibundgedanken. Rußland war nach der Meinung des Erzherzogs
nicht zu fürchten, da seine inneren Schwierigkeiten zu groß seien,
als daß es sich eine aggressive äußere Politik gestatten dürfe1 2.
Für die Kennzeichnung der deutschen Beziehungen zu Ruß-
land und England müssen wir nochmals bis in das Frühjahr 1913
zurückgehen. Die Vermählung der deutschen Kaisertochter mit dem
Herzoge von Braunschweig am 24. Mai 1913 schuf zum letzten Male
vor dem Weltkriege einen Anlaß zur Begegnung des Kaisers mit
dem Zaren und mit dem Könige von England im Berliner Kaiser-
schlosse. Damals schon machte Kaiser Wilhelm den Zaren darauf
aufmerksam, daß demnächst auf Wunsch der Türkei ein preu-
ßischer General nach Konstantinopel entsandt werden sollte. Der Zar
hatte nichts dagegen einzuwenden und bezeichnete in Gegenwart des
Königs von England die Entsendung als ganz natürlich3. Trotzdem
entwickelte sich im Spätherbste 1913 aus der Entsendung des Gene-
rals Liman v. Sanders nach der Türkei eine schwere deutsch-russi-
sche Verstimmung, die nur dadurch ausgeglichen werden konnte,
daß der General anfangs Januar 1914 in Konstantinopel eine andere
Bestimmung erhielt. Dessen ungeachtet brachte die russische Presse
schwere Angriffe auf Deutschland, woraus sich schließlich im
Frühjahr 1914 ein förmlicher Federkrieg zwischen Rußland und
Deutschland entwickelte, an dem auf russischer Seite der Kriegs-
minister Suchomlinow selbst teilnahm4. Die deutschfeindliche Stim-
mung in den russischen Militärkreisen nahm so auffallend zu, daß
es sogar einer japanischen Militärmission, die im Frühjahr 1914 in
Rußland weilte, auffiel. In den Regimentsmessen sprach man ganz
offen von einem demnächstigen Kriege gegen Österreich-Ungarn
1 Or. Pol. Nr. 15782, 15783.
a Or. Pol. Nr. 15736, 15737.
s Gr. Pol. Nr. 15451.
« Or. Pol. Nr. 15846.
343
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1014
und Deutschland1. Den Gipfel der Pressefehde bildete im Juni 1914
ein Aufsatz in der „Birschewija Wjedomosti“ unter dem Titel
„Rußland ist bereit, Frankreich muß es auch sein“. Auch dieser
Aufsatz war auf Veranlassung des Kriegsministers Suchomlinow ge-
schrieben1 2.
Deutschlands Beziehungen zu England hatten sich unter der ge-
meinsamen Einwirkung der Friedensbemühungen beider Mächte
während der Botschafterverhandlungen in London freundlicher ge-
staltet. Von einem Marine-Abkommen war nicht mehr die Rede. Man
hoffte aber deutscherseits, durch den Abschluß eines deutsch-eng-
lischen Kolonial-Abkommens über die portugiesischen Kolonien und
eines weiteren Abkommens über die Bagdadbahn zu einer Verbesse-
rung der Beziehungen zu gelangen. Das Abkommen über die Kolo-
nien, für das sich der Botschafter Fürst Lichnowsky mit größter
Wärme einsetzte, kam infolge des Kriegsausbruches nicht zum
Abschluß3, das Abkommen über die Bagdadbahn, mit dem man
Deutschlands wirtschaftliche Betätigung in Mesopotamien von der
Gegnerschaft Englands zu befreien suchte, gelangte am 15. Juni 1914
wenigstens zur Paraphierung. Auch dieses Abkommen kam in-
folge des Weltkrieges nicht zum endgültigen Abschluß4. Über die
Bagdadbahn einigte sich Deutschland am 15. Februar 1914 auch mit
Frankreich5.
Aus Rücksicht auf England waren deutscherseits neue. Flotten-
pläne nicht mehr erörtert worden. So hatte bei der Beratung des
Marinehaushaltes am 6. Februar 1913 Staatssekretär v. Tirpitz ge-
äußert, Deutschland erstrebe nicht eine ebenso große Flotte wie
die englische; es könne keine Rede davon sein, daß Deutschland
England gegenüber aggressiv Vorgehen wolle, denn dazu gehöre
eine erhebliche Überlegenheit. Im Haushaltsausschuß sprach tags
darauf Staatssekretär v. Jagow die Hoffnung aus, daß wir auf dem
Boden gemeinsamer Interessen, dem fruchtbarsten in der Politik,
auch weiter mit England arbeiten und vielleicht ernten könnten6.
Der von Winston Churchill, dem Ersten Lord der Admiralität,
erstmalig erwähnte Gedanke eines Feierjahres — naval holyday —
im Flottenbau erwies sich als in der Praxis undurchführbar7. Als im
Oktober 1913 Churchill in seinem Wahlkreise wiederholt über die
englische Flottenpolitik sprach und dabei ausführte, daß sich trotz
1 Die Belgischen Dokumente zur Vorgeschichte des Weltkrieges. Neue Ausgabe.
Band 5, S. 250 ff.
3 Gr. Pol. Nr. 15 861.
3 Gr. Pol. Nr. 14 649—14716.
4 Gr. Pol. Nr. 14717—14915.
6 Gr. Pol. Nr. 14995. ‘ .
6 Gr. Pol. Nr. 15 563.
7 Gr. Pol. Nr. 15567—15573.
344
Deutschland und die Mächte. 1913,1914
der Fortentwicklung der britischen Flotte die Beziehungen Englands
zu dem mächtigen Deutschen Reiche stets verbessert hätten, erblickte
Kaiser Wilhelm II. in dieser Haltung Churchills einen grandiosen
Triumph für den Risikogedanken des Admirals v. Tirpitz. Diese An-
schauung bestärkte ihn in seinem Entschlüsse, das deutsche Flotten-
gesetz voll zur Durchführung zu bringen: „England kommt uns,
nicht trotz, sondern wegen meiner Kaiserlichen Marine1!“ Zu Be-
ginn des Jahres 1914 trat Lloyd George mit einer Erörterung der
übertriebenen Rüstungsausgaben in die Öffentlichkeit und erklärte,
jetzt sei seit zwanzig Jahren die beste Gelegenheit zu einer Vermin-
derung der Rüstungsausgaben. Als die englische Regierung bald
darauf um eine authentische Interpretation der Erklärungen bat,
die Tirpitz in der Budgetkommission des Reichstages zu der Frage
eines Rüstungsabkommens mit England abgegeben hatte, ließ das
Auswärtige Amt den Wortlaut der Tirpitzschen Erklärung mitteilen
und hinzufügen, daß man den Gedanken eines Rüstungsfeierjahres
praktisch nicht für durchführbar halte. Das entsprach dem Wunsche
des Kaisers, der „das ganze, endlose, gefährliche Kapitel der
Rüstungsbeschränkung möglichst nicht noch einmal aufgerollt
haben“ wollte1 2.
Eine Besserung der englisch-deutschen Beziehungen, vom Reichs-
kanzler v. Bethmann Hollweg mit Freude begrüßt, kam auch darin
zum Ausdruck, daß dem englischen Wunsche, ein englisches Ge-
schwader einen deutschen Hafen besuchen zu lassen, entsprochen
und den Engländern die Entsendung von Schiffen anläßlich der
Kieler Woche vorgeschlagen wurde. Die englischen Schiffe vom
zweiten Schlachtgeschwader und vom ersten leichten Kreuzerge-
schwader fanden in Kiel die beste Aufnahme. Auf Wunsch des eng-
lischen Admirals wurde den Kreuzern „Southampton“, „Birming-
ham“ und „Nottingham“ die Rückfahrt von Kiel durch den Nord-
ostseekanal gestattet; die Monarchen wechselten aus Anlaß des
Flottenbesuches am 25. und 27. Juni herzliche Telegramme3.
Einer Annäherung zwischen England, Deutschland und Amerika
diente im Mai 1914 ein Besuch des Colonel House, der als der
einzige persönliche Freund des fast als Einsiedler lebenden Präsi-
denten Wilson galt. Der Kaiser empfing ihn am 1. Juni und betonte
bei diesem Anlasse seine Friedensliebe. Deutschland sei aber von
allen Seiten bedroht, und die Bajonette Europas seien auf Deutsch-
land gerichtet. House schied von Berlin mit entschiedener Befriedi-
gung, obwohl er bei Tirpitz für den Gedanken einer Flottenverstän-
digung mit England wenig Entgegenkommen gefunden hatte. Seine
1 Or. Pol. Nr. 15 577.
3 Gr. Pol. Nr. 15 591.
3 Gr. Pol. Nr. 15 603, 15 604.
345
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Londoner Besprechungen mit Qrey und anderen Staatsmännern
zeigten ihm alsdann, daß dort wenig Neigung bestand, auf seinen
Oedanken einer Annäherung zwischen England, Deutschland und
Amerika einzugehen. Für Qrey stand immer die Erwägung im Vor-
dergründe, bei Rußland und Frankreich nicht anzustoßen1.
Wie hatte sich inzwischen nach Beendigung der Balkankriege
das Verhältnis Österreich-Ungarns zu Serbien entwickelt?
In Wien wollte man immer Deutschland für die fehlenden Erfolge
der eigenen Politik verantwortlich machen1 2. Die Frage der Räu-
mung Albaniens durch die Serben brachte noch im Spätsommer 1913
eine neue serbische Krise. Man rechnete in Belgrad offenbar mit
einem baldigen Zerfall der Donaumonarchie und hoffte, dann die
serbischen Brüder jenseits der Grenze Serbien wieder angliedern zu
können. In diesem Sinne wirkte in allen von Serben bewohnten
Landgebieten eine leidenschaftliche Propaganda.
Die Unhaltbarkeit der Zustände in Albanien veranlaßte Serbien,
nicht nur seine Truppen in Nordalbanien zu belassen, sondern sogar
die Grenzwachen gegenüber Albanien noch zu verstärken. In einem
Ministerrat vom 23. September beschloß Serbien weitere militärische
Maßnahmen, die sich alsbald auswirkten. In Wien traf man so-
fort Gegenmaßregeln, wobei General Conrad v. Hötzendorf wieder
die treibende Kraft war. Er wollte entweder den friedlichen Anschluß
Serbiens an die Monarchie durchsetzen oder aber das Vorrücken
der Serben in Albanien dazu benutzen, um ein für allemal mit Serbien
abzurechnen, drang aber mit seiner Auffassung nicht durchs. Graf
Berchtold entschloß sich aber, in Belgrad anfragen zu lassen, ob man
die militärischen Vorbereitungen einstellen und die schon auf alba-
nischem Gebiete befindlichen Truppen binnen einer bestimmten kur-
zen Frist zurückbeordern wolle.
Diesem Vorgehen Österreich-Ungarns trat man in Berlin bei.
Nach der Ansicht des Auswärtigen Amtes konnte Deutschland
jetzt der Wiener Regierung die erbetene moralische Unterstützung
nicht verweigern. Kaiser Wilhelm II. hatte sich verschiedentlich den
Standpunkt Serbiens zu eigen gemacht und war für eine entgegen-
kommendere Politik Österreichs eingetreten. Jetzt aber hielt auch
er die Gelegenheit für günstig, um die immer aufs neue von Serbien
ausgehenden Beunruhigungen endgültig zu beseitigen, ohne daß
daraus schwere Folgen erwüchsen. So wurde der deutsche Ge-
sandte in Belgrad angewiesen, die österreichischen Schritte nach-
drücklich zu unterstützen. Auch der englischen Mithilfe suchte
1 Or. Pol. Nr. 15606—15611.
1 Or. Pol. Nr. 13750.
8 Or. Pol. Nr. 14159.
346
Deutschland und die Mächte. 1913,1914
man sich in Berlin zu vergewissern, erlebte aber die peinliche Über-
raschung, daß Sir Edward Grey ein Ultimatum einer Großmacht in
Belgrad, ohne vorher mit dem Konzert der Mächte Fühlung ge-
nommen zu haben, als einen ernsten und weittragenden Schritt be-
zeichnete1.
Am 18. Oktober 1913 ließ die Wiener Regierung in Belgrad eine
Note überreichen, in der die Räumung Albaniens binnen acht Tagen
gefordert wurde. Der deutsche Gesandte in Bukarest wurde von
Berlin verständigt, daß Deutschland nach Lage der Dinge zu einer
vollen moralischen Unterstützung Österreich-Ungarns gezwungen sei
und deshalb zur Vermeidung ernster Komplikationen dringend zu
schleunigem Einlenken rate2. Als auch London und Rom Serbien
freundschaftlich zur Beobachtung der Londoner Beschlüsse auffor-
derten, wich Serbien zurück, zumal auch Rumänien zum Entgegen-
kommen geraten hatte3. Fast alle Mächte hatten das Vorgehen des
Wiener Kabinetts als zu rücksichtslos empfunden; besonders auch in
Rom war man verstimmt, weil die Wiener Regierung Italien nicht
rechtzeitig vorher unterrichtet habe. Die serbische Presse schäumte
vor Wut. In den panslawistischen Kreisen Rußlands herrschte tiefe
Verstimmung4.
Große Schwierigkeiten ergaben sich bei der Schaffung des
Fürstentums Albanien im Frühjahr 1914. Sie belebten den serbisch-
österreichischen Gegensatz immer aufs neue und schufen schließlich
auch zwischen Wien und Rom solche Gegensätze, daß man
beim Lesen italienischer Blätter schon vor der Mordtat von Sarajevo
an die Existenz eines wirksamen Bundesverhältnisses zwischen den
beiden Mächten kaum mehr glauben konnte5. Die albanischen Wir-
ren nahmen einen derartigen Umfang an, daß sich die Großmächte
Mitte Juni 1914 zur Entsendung von Kriegsschiffen nach Durazzo
entschließen mußten, und daß die aufständischen Albanier bereits die
Abdankung des Fürsten Wilhelm verlangten6. Nach Ausbruch des
Weltkrieges wurden die Verhältnisse in Albanien derart unhaltbar,
daß das Fürstenpaar am 3. September 1914 Durazzo verließ.
Bei den Gegensätzen zwischen Griechenland und der Türkei,
die zeitweise zu einem neuen Kriege zu führen drohten, der in der
Hauptsache durch Rumäniens Haltung beschworen wurde, hat
Deutschland vermittelnd gewirkt. Das Endergebnis war, daß die
Türkei den Wunsch des Anschlusses an den Dreibund bekundete.
Deutschland ging nur zögernd darauf ein. Erst am 1. August erhielt
1 Gr. Pol. Nr. 14 188, 14 189.
t Gr. Pol. Nr. 14 174, 14 178.
8 Gr. Pol. Nr. 14 179- -14190.
ft Gr. Pol. Nr. 14194—14202.
6 Gr. Pol, Nr. 14518.
ft Gr. Pol. Nr. 14 425- -14552.
347
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Botschafter v. Wangenheim die Ermächtigung zum Abschluß des
Bündnisses1. In Berlin hatte man immer befürchtet, durch die Auf-;
nähme der Türkei in den Dreibund den Weltfrieden zu gefährden.
Ein Besuch des Kronprinzen Alexander von Serbien, den der
Ministerpräsident Paschitsch begleitete, im Januar 1914 in Peters-
burg lenkte die Aufmerksamkeit der Wiener Regierung aufs neue
auf Serbien. Man befürchtete eine Vereinigung Montenegros mit
Serbien, die man in Wien unter keinen Umständen dulden wollte.
Da man dort fest entschlossen war, Serbien auch nicht auf dem
Umwege über Montenegro an die Adria zu lassen, so wurde damit
den serbischen Wünschen ein unübersteigbarer Damm entgegenge-
setzt. Kaiser Wilhelm II. hielt das für durchaus gefährlich; die Ver-
einigung sei nicht zu verhindern, vermerkte er zu einem Berichte des
Gesandten Frhr. v. Griesinger vom 11. März J9141 2, und wenn Wien
das versuchen wolle, so beschwöre es die Gefahr eines Krieges mit
den Slawen herauf, der Deutschland ganz kalt lassen würde. Die ihm
zugegangene Nachricht, daß König Nikita sein Land heimlich an
Serbien verkaufen wolle, wurde in Wien vertraulich mitgeteilt. Bei
dieser Gelegenheit erklärte Tschirschky am 23. April 1914 dem Grafen
Berchtold nachdrücklich3, es sei für den Dreibund unerläßlich, sich
über die gegenüber den etwaigen serbisch-montenegrinischen Plänen
zu befolgende Politik rechtzeitig klar zu werden. Österreich-Ungarn
müsse sein Programm im voraus genau festlegen, es aber auf die
unbedingten Lebensinteressen der Monarchie beschränken, die dann
allerdings mit allen Mitteln zu verteidigen sein würden. Tschirschky
gewann den Eindruck, daß man sich in Wien nur über den Grund-
satz, Serbien von der Adria fernzuhalten, nicht aber über das weiter
einzuschlagende Verfahren und dessen etwaige Konsequenzen im
klaren sei, eine Auffassung, die in den Aufzeichnungen von Joseph
M. Baernreither „Fragmente eines politischen Tagebuches“ durch-
aus ihre Bestätigung findet4. Die Schwierigkeiten wuchsen noch
dadurch, daß auch Italien bei der Regelung dieser Frage unbedingt
mitsprechen wollte. Beharrte Österreich bei seiner Weigerung, die
Serben ans Meer zu lassen, so blieb nach italienischer Auffassung
nichts anderes übrig, als den Küstenstrich Montenegros an Albanien
zu geben. Es entstand dann eine geographische Berührung Albaniens
mit Österreich, von der man in Rom ein Überwiegen des Österreich^
sehen Einflusses auf Albanien befürchtete, und die man zu dulden
nicht gewillt war5. Andererseits zeigte man in Wien wenig Nei-
gung zu einer entgegenkommenden Behandlung Italiens. Bethmann
1 Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch Nr. 547; Band 3, S. 54.
2 Gr. Pol. Nr. 15 539.
3 Gr. Pol. Nr. 15 546.
4 Verlag für Kulturpolitik, Berlin 1928.
5 Gr. Pol. Nr. 15542.
348
Deutschland und die Mächte. 1913,1914
Hollweg beklagte das lebhaft, wie er überhaupt fand, daß Wien sich
in seiner ganzen Politik etwas stark von Deutschland zu emanzipie-
ren beginne; es müsse daher rechtzeitig am Zügel gehalten werden1.
Um der Erhaltung des Dreibundes willen müßten wir darauf dringen,
daß zwischen unseren Bundesgenossen eine Verständigung über die
drohende montenegrinische Frage herbeigeführt würde. Hierzu
schien unter der Einwirkung der Berliner Vorstellungen Italien im
Mai den ersten Schritt tun zu wollen. Es kam aber vor Ausbruch des
Weltkrieges nicht mehr zu einer Aussprache zwischen Italien und
Österreich.
Anschließend an den Besuch des englischen Königspaares in
Paris, an dem auch Sir Edward Qrey teilnahm (21.—24. April 1914),
erfolgten in der Presse Erörterungen über eine russisch-englische
Marinekonvention, die französischerseits angeregt worden sei. Fürst
Lichnowsky sollte darüber berichten. Er meldete am 18. Mai 1914,
die Entente cordiale habe sich zwar nicht zu einem Bündnis verdich-
tet, er bleibe aber bei der Überzeugung, daß England im Falle eines
Krieges zwischen Deutschland und Frankreich, namentlich aber im
Falle eines deutschen Angriffs auf Frankreich, seine schützende Hand
über den Freund halten würde. Hinsichtlich einer russisch-englischen
Marineabmachung berichtete er am 10. Juni 19141 2, daß nach seiner
Ansicht diese Nachricht mit äußerster Zurückhaltung aufgenommen
werden müsse; Rußland sei vorläufig gar nicht in der Lage, als
ernsthafter Machtfaktor zur See den britischen Interessen wesent-
liche Vorteile zu bieten. Auch widerspreche es dem Charakter der
britischen Außenpolitik, sich für die Zukunft durch Abmachungen
und Bündnisse zu verpflichten. Tatsächlich antwortete denn auch
Sir Edward Qrey am 11. Juni auf eine Anfrage im Unterhause nach
dem Abschluß eines Marine-Abkommens zwischen Großbritannien
und Rußland verneinend, und die „Westminster Gazette“ demen-
tierte am 13. Juni sowohl ein Flottenabkommen wie darauf bezüg-
liche Verhandlungen, Daß aber tatsächlich damals Erörterungen
darüber stattgefunden haben, geht aus dem von F. Stieve heraus-
gegebenen „Diplomatischen Schriftwechsel Iswolskis 1911—1914“
hervor3.
Bethmann Hollweg verfolgte den etwaigen weiteren Zusammen-
schluß Englands mit Rußland mit großer Sorge, da eine „gemein-
schaftliche, den Frieden verbürgende Mission Englands und Deutsch-
lands bei etwa auftauchenden Komplikationen“ dadurch von vorn-
herein in verhängnisvoller Weise gefährdet werden mußte. In diesem
1 Or. Pol. Nr. 15 549, 15 550.
2 Gr. Pol. Nr. 15880.
2 Band 4, S. 95 ff.
349
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Sinne mußte sich Lichnowsky zu Sir Edward Qrey aussprechen1!.
Qrey betonte bei diesem Gespräch die friedlichen Absichten der russi-
schen Regierung und auch der Franzosen, zugleich aber auch, daß
das englische Verhältnis zu Frankreich und Rußland nach wie vor
ein sehr intimes sei, und daß es nichts von seiner früheren Festigkeit
eingebüßt habe; über alle wichtigen Fragen stehe er mit den be-
treffenden Regierungen in dauernder Fühlungnahme1 2. Als Fürst
Lichnowsky auf Grund weiterer ihm in Berlin gemachter Mittei-
lungen am 6. Juli 1914 Sir Edward Grey nochmals aufsuchen und mit
ihm über das Gerücht einer englisch-russischen Flottenverständi-
gung sprechen mußte, war Grey offenbar etwas betroffen. Am
9. Juli bat er den Botschafter nochmals zu sich und stellte eine
Fühlungnahme der Marinen für den Fall eines gemeinsamen Krie-
ges nicht direkt in Abrede. Wenn auch keine Abmachungen zwi-
schen Großbritannien einerseits, Frankreich und Rußland anderer-
seits bestünden, die irgendwelche Verpflichtungen auferlegten, so
hätten doch von Zeit zu Zeit Unterhaltungen zwischen den beider-
seitigen Marine- und Militärbehörden stattgefunden und zwar zuerst
schon im Jahre 1906, sodann bei der Marokkokrisis des Jahres 1911 3.
Nach dem Morde von Sarajevo führte die große Beunruhigung
der deutschen Regierung über die maritimen Geheimabmachungen
zwischen England und Rußland den Staatssekretär v. Jagow dazu,
sich am 15. Juli mit der Bitte an den in Bad Kissingen weilenden
Generaldirektor der Hapag Ballin zu wenden, auf Grund seiner Be-
ziehungen zu maßgebenden Engländern einen Warnruf über den
Kanal ergehen zu lassen. Ballin reiste nach England und sprach am
23. Juli mit Grey und Haldane, wobei Grey erklärte, eine Flotten-
konvention bestehe nicht, und es liege auch nicht in Englands Ab-
sicht, in eine solche zu willigen4.
Der Mord von Sarajevo und die Entwicklung zum Welt-
kriege
Am 28. Juni 1914, an einem herrlichen Sommersonntage, durch-
eilte nachmittags die Nachricht die Welt, daß der Erzherzog-Thron-
folger Franz Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajevo einem Mord-
anschlage zum Opfer gefallen seien. Kaiser Wilhelm II. weilte damals
vor der beabsichtigten Ausfahrt zu seiner Nordlandreise in Kiel,
brach die Festlichkeiten der Kieler Woche sofort ab und kehrte nach
Berlin zurück. Ganz allgemein wurde damals angenommen, daß die
Fäden der Verschwörung, der der Erzherzog erlegen war, in Belgrad
1 Gr. Pol. Nr. 15 883.
2 Gr. Pol. Nr. 15 884.
3 Gr. Pol. Nr. 15 886, 15 887. Vgl. hierzu „British Documents on the Origins of
the War 1898—1914“, Bd. III (The Testing of the Entente). London 1928.
4 Gr. Pol. Nr. 15 889. (Letztes Dokument der großen Aktenpublikation.)
350
Von Sarajevo zum Weltkriege
zusammenliefen Ein Bericht des deutschen Gesandten in Belgrad,
Frhr. von Griesinger, vom 6. Juli 19141 wies auf den Zusammenhang
der Mordtat mit der propagandistischen Tätigkeit der sogenannten
„Narodna Odbrana“ deutlich hin. Sie war als ein patriotisch-nationa-
listischer Geheimbund gedacht, der nicht nur das Königreich Serbien,
sondern sämtliche Länder mit serbischen Bevölkerungsteilen um-
fassen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Stammes-
einheit entwickeln sollte. Der serbische Staat hatte ihre Ziele geför-
dert. „Mag daher,“ berichtete Griesinger, „die serbische Regierung
noch so sehr ihren Abscheu und ihre Entrüstung über die in Sarajevo
begangene Bluttat kundgeben, mag sie noch so sehr ihre Unschuld
beteuern und darauf hinweisen, wie sinn- und zwecklos dieses Ver-
brechen sei, und wie es der Sache des Serbentums viel eher ge-
schadet als genützt habe, eines kann sie nicht ableugnen: sie hat die
Atmosphäre geschaffen, in der solche Explosionen des blinden Fa-
natismus allein möglich sind. In ihrem Lande und unter den Augen
ihrer Behörden sind die Elemente großgezogen worden, die Serbien
vor der ganzen gesitteten Welt bloßgestellt und auf eine Stufe wieder
herabgedrückt haben, wie der verabscheuungswürdige Königsmord
des Jahres 1903.“
Die Verurteilung des Mordes von Sarajevo war anfangs eine
durchaus allgemeine, und kein Staat hätte damals der Donaumon-
archie ein scharfes Vorgehen gegen Serbien verübelt. Man machte
sich aber von vornherein in Wien nicht genügend klar, wie schnell
derartige Stimmungen verrauchen, und wie sehr deshalb schnelles
Handeln am Platze war. Mehrere Tage vergingen, e'he man sich der
Haltung Deutschlands bei den bevorstehenden Auseinandersetzungen
vergewisserte. Am 5. Juli erst erhielt Kaiser Wilhelm II. das weitere
Schritte ankündigende Handschreiben des Kaisers Franz Joseph, und
dann vergingen mehrere Wochen, bis man sich schließlich am
23. Juli zur Überreichung jenes überaus scharfen Ultimatums an Ser-
bien entschloß, das jetzt hauptsächlich zum Beweise dafür her-
halten soll, daß Österreich-Ungarn unter allen Umständen den Krieg
habe entfesseln wollen.
Über die kritischen Tage vom 28. Juni 1914 bis zum Weltkriege
liegen Veröffentlichungen in allen Kultursprachen der Welt vor.
Mehr noch, als bei der Vorkriegszeit ist es hier geboten, sich nur
auf ganz zuverlässige Unterlagen zu stützen, wenn man den Faden
der Begebenheiten nicht verlieren will. Man darf nicht vergessen,
daß die Auseinandersetzungen der Großmächte, wie sie aus den
Weißbüchern und Farbbüchern der verschiedenen Staaten erkennbar
werden, eigentlich schon einen Teil der Kriegshandlung bilden. Je-
denfalls gilt das vom Tage der Überreichung des österreichischen 1
1 Gr. Pol. Nr. 15 556.
35L
Deutschlands Vereinsamung. 1902—*1914
Ultimatums in Belgrad ab. Die zahllosen Auslassungen und Fäl-
schungen in den erwähnten Farbbüchern, die wir nachträglich auf-
klären konnten, beweisen, wie unangebracht es sein würde, sie als
reine Geschichtsquelle zu betrachten. Zur Gewinnung einer wirklich
zutreffenden Anschauung ist der Vergleich aller erschienenen amt-
lichen Quellenwerke durchaus geboten. Seit Jahren bemühen sich
Historiker und Politiker aller Länder darum, hier Klarheit zu
schaffen.
Es kann daher nicht Aufgabe dieser Schrift sein, eine solche kri-
tische Darstellung der Tage vom 28. Juni 1914 ab zu versuchen. Für
die Zwecke des „Weltkrieges der Dokumente“ genügt ein zusam-
menfassender Hinweis auf die bisher erzielten Forschungsergebnisse.
In erster Linie stütze ich mich hierbei auf die gründlichen und über-
sichtlichen Darlegungen von B. W. v. Bülow in seinen Schriften
„Die Krisis. Die Grundlinien der Diplomatischen Verhandlungen bei
Kriegsausbruch“ (Berlin 1922, 3. Auflage) und „Die ersten Stunden-
schläge des Weltkrieges“ (Berlin u. Leipzig 1922) und beschränke
mich darauf, die hauptsächlichste Literatur namhaft zu machen1.
1 „Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch.“ Vollständige
Sammlung der von Karl Kautsky zusammengestellten amtlichen Aktenstücke
mit einigen Ergänzungen. Im Aufträge des Auswärtigen Amtes nach gemeinsamer
Durchsicht mit Karl Kautsky herausgegeben von Graf Max Montgelas und
Prof. Walter Schücking. Neue durchgesehene und vermehrte Ausgabe 1927.
Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin W 8. 4 Bände.
Karl Kautsky: Wie der Weltkrieg entstand. Dargestellt nach dem Akten-
material des deutschen Auswärtigen Amts. Paul Cassirer, Berlin 1919.
(Tendenziös und überholt.)
Graf Max Montgelas: Glossen zum Kautskybuch. Charlottenburg 1920.
Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte.
Dr. Richard Wolff: Die deutsche Regierung und der Kriegsausbruch. Berlin,
Reimar Hobbing. 1919.
Dr. P. Dirr: Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler
Schuldspruch. R. Oldenbourg, München und Berlin 1922.
Hans Delbrück: Der Stand der Kriegsschuldfrage (2. Auflage). Berlin,
Carl Heymann, 1925.
Zur Einführung in die Farbbücher wird empfohlen das „Regenbogen-Buch“
von Dr. Max Beer: „Die europäischen Kriegsverhandlungen“. 2.Auflage. Ferdi-
nand Wyss, Bern 1915. (Enthält Zusammenstellungen aus dem deutschen Weiß-
buch, österreichisch-ungarischen Rotbuch, englischen Blaubuch, französischen Gelb-
buch, russischen Orangebuch, serbischen Blaubuch, belgischen Graubuch.)
Alfred v. Wegerer: Das französische Gelbbuch von 1914 (berichtigter und
ergänzter Wortlaut). Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Ge-
schichte, Berlin 1926.
Friedrich Stieve: Das russische Orangebuch über den Kriegsausbruch mit
der Türkei. Berlin, Verlag für Kulturpolitik. 1926.
Ernst Sauerbeck: Der Kriegsausbruch. Eine Darstellung von neutraler Seite
an Hand des Aktenmaterials. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und
Berlin. 1919. (2. Auflage.) 1 * * * 5
352
Von Sarajevo zum Weltkriege
Für die Beurteilung der Frage, ob Deutschland für den Kriegs-
ausbruch verantwortlich ist, ist zunächst ein Rückblick auf die da-
malige außenpolitische Lage, soweit Deutschland in Betracht kommt,
unerläßlich. Konnte Deutschland den Krieg wünschen? Gab es
irgendwelche Vorteile, die nur durch einen solchen Weltkrieg zu er-
lreichen gewesen wären?
Unser Gang durch die Akten hat uns gezeigt, daß sich die
Machtstellung des Dreibundes von der Nichterneuerung des Rück-
versicherungsvertrages an durch den Abschluß der Entente cordiale
von 1904, durch den Anschluß Rußlands an die Entente — 1907 —,
durch das Scheitern aller deutsch-englischen Bündnisverhandlungen
immer mehr verschlechtert hatte. Schon war Italien unsicher gewor-
den und hatte insgeheim Bindungen mit der Gegenseite verabredet,
und auf dem Balkan konnte man schon seit Monaten nicht mehr
darauf rechnen, Rumänien auf der Seite des Dreibundes zu erhalten.
Zweifellos lag hier eine Schuld der österreich-ungarischen Regierung
vor, da man niemals hinreichend Rücksicht auf die in Ungarn
wohnenden 3 Millionen Rumänen nehmen wollte. Vergeblich hatte
Kaiser Wilhelm II. versucht, eine Verständigung mit den ungarischen
Rumänen zu fördern. Schon im Mai 1914 gab man Rumänien so gut
wie verloren und suchte nun, es wieder zu gewinnen. Frankreich
und Rußland war es gelungen, Rumänien vom Dreibunde zu ent-
fernen, was bei dem Besuche der Zarenfamilie beim Könige von
Rumänien in Constanza am 14. Juni 1914 deutlich genug zum Aus-
druck kam1.
Graf Max Montgelas: Leitfaden zur Kriegsschuldfrage. Berlin und Leipzig
1923. Walter de Gruyter & Co.
G. P. Gooch und Harold Temperley: Die britischen amtlichen Dokumente
über den Ursprung des Weltkrieges 1898—1914. (Deutsch von Her-
mann Lutz ,,Der Ausbruch des Krieges. Dokumente des britischen Aus-
wärtigen Amts. 28. Juni bis 4. August 1914.“ Zusammengestellt von
J. W. Headlam-Morley.) Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik
und Geschichte, Berlin 1926.
Hans Draeger: Anklage und Widerlegung. Taschenbuch zur Kriegsschuldfrage.
Arbeitsausschuß deutscher Verbände. Berlin 1928.
Dr. Eugen Fischer: Die kritischen 39 Tage von Sarajewo bis zum Weltbrand.
Berlin, Ullstein. 1928.
Kurt Jagow: Daten des Weltkrieges. Leipzig, K. F. Koehler. 1922.
Robert Hoeniger: Rußlands Vorbereitung zum Weltkrieg. Berlin, E. S.
Mittler & Sohn. 1919. (Über die russische Mobilmachung besteht eine
zahlreiche Sonderliteratur.)
Für die kritischen Tage vom 28. Juni bis zum Kriegsausbruch vgl. ferner die
entsprechenden Abschnitte bei E. Brandenburg: ,,Von Bismarck zum Welt-
kriege^; Friedrich Stieve: „Deutschland und Europa 1890—1914“; H. E.
Barnes: „Die Entstehung des Weltkrieges“ sowie die sämtlichen Hefte der von
A.v.Wegerer seit 1924 herausgegebenen Monatsschrift „Die Kriegsschuldfrage“.
Gr. Pol. Nr. 15 784—15 838.
23 Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
353
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Kam es nunmehr zu einem Kriege, so durfte Deutschland in der
Hauptsache nur auf seine eigene Kraft rechnen. Man erinnere sich
des sorgenvollen Privatbriefes1, den der Botschafter v. Tschirschky
am 22. Mai 1914 an den Staatssekretär v. Jagow schrieb: „Wie oft
lege ich mir in Gedanken die Frajje vor, ob es wirklich noch lohnt,
uns so fest an dieses in allen Fugen krachende Staatengebilde anzu-
schließen und die mühsame Arbeit weiter zu leisten, es mit fortzu-
schleppen. Aber ich sehe noch keine andere politische Konstella-
tion, die uns einen Ersatz für das immerhin noch vorhandene Plus
bieten könnte, das in der Allianz mit der mitteleuropäischen Macht
liegt. Denn ohne diese Allianz müßte unsere Politik notgedrungen
auf eine Aufteilung der Monarchie hinzielen .. . Die Zeit wird am
besten zeigen, ob es jemandem noch gelingen wird, die disparaten
Kräfte der Länder der Monarchie wieder stärkend zusammenzu-
fassen. Mißlingt dieser Versuch, so wird dann sicherlich die Dekom-
position sehr schnell vor sich gehen, und wir müssen dann unsere
Politik danach einrichten.“
Selbst auf militärischem Gebiet boten die Verhältnisse der
Donaumonarchie Anlaß zu Besorgnissen. An der Armee wurde an
allen Ecken und Enden gespart, und mit aus diesem Grunde hatte
man in Österreich gelegentlich die politischen Spannungen begrüßt,
die es dem Staate ermöglichten, notwendige Forderungen für die
Armee durchzusetzen. Im alten kaiserlichen Offizierkorps herrschte
dauernd große Sorge, weil so wenig für die Stärkung der Wehr-
macht geschah1 2. Als im Frühjahr 1913 der Generalstabschef des
Prager Armeekorps, Oberst Redl, als Spion zu Rußlands Gunsten
entlarvt wurde und sich selbst das Leben nahm, wurden gelegentlich
daran weitergehende Folgerungen geknüpft, zumal man befürchtete,
daß der Aufmarsch an Rußland verraten sei. Botschafter v. Tschirschky
warnte aber davor, von diesem Einzelfalle auf eine allgemeine Fäul-
nis in der Armee zu schließen. Diese sei durchaus gesund; „sie
ist wohl leider zurzeit das einzige noch gesunde Glied an dem
Körper der Monarchie!3“
Auf Italiens Mitgehen im Falle eines Krieges durfte nur ge-
rechnet werden, wenn die Bedingungen des Casus foederis aus dem
Dreibundvertrage auf das Allergenaueste Vorlagen4. In Rom glaubte
man gerade in den Jahren vor Kriegsausbruch immer schon an eine
planmäßig gegen die Italiener gerichtete innere Politik Österreichs,
1 Gr. Pol. Nr. 15 734.
8 Vgl. hierzu (Kerchnawe) „Die Vorgeschichte von 1866 und 19??“ und
„Unser letzter Kampf. Das Vermächtnis eines alten kaiserlichen Soldaten.“ Wien
u. Leipzig. Verlag C. W. Stern, 1909 bzw. 1907.
3 Wien, 30. Mai 1913. Gr. Pol. Nr. 13 370.
4 Vgl. hierzu besonders Italicus, Italiens Dreibundpolitik 1870—1896. (Verlag
Dr. F. A. Pfeiffer, München, 1928.) .
354
Von Sarajevo zum Weltkriege
so daß sich der italienische Botschafter in Wien, Herzog von Avarna,
wiederholt auf das bitterste darüber beklagte; er könne nur von Fall
zu Fall nach besten Kräften ausgleichend wirken, und man müsse nur
hoffen, daß die Zwischenfälle nicht einmal einen noch ernsteren
Charakter annähmen, denn dann könne es so weit kommen, daß
keine italienische Regierung das Bundesverhältnis mit Österreich-
Ungarn werde aufrechterhalten können1. Die Vorgänge bei der
Schaffung des Fürstentums Albanien hatten die Beziehungen zwi-
schen Wien und Rom immer noch weiter verschlechtert. So bezeich-
nete ein Bericht des Botschafters v. Tschirschky vom 28. Juni, dem
Tage von Sarajevo, den vorherigen Tag als einen kritischen Tag
erster Ordnung in den österreichisch-italienischen Beziehungen, da
man in Wien ein offenes Werbebureau zur Anwerbung von Frei-
willigen für Albanien unter den Augen der Regierung hatte einrich-
ten dürfen1 2. Dies mußte in Rom verstimmen, da man in Wien wie-
derholt erklärt hatte, jede einseitige Einmischung in die albanischen
Verhältnisse vermeiden zu wollen.
Der innere Bestand des Dreibundes war somit bedenklich ge-
lockert, als in Sarajevo der Mord erfolgte. Der Dreiverband zeigte
volle Geschlossenheit, die gerade damals durch den bevorstehenden
Besuch des Präsidenten Poincare in Rußland noch mehr unterstri-
chen wurde. Von England wußte man, daß es eine schnelle Über-
rennung Frankreichs unter keinen Umständen dulden würde. Die
Berichterstattung des Fürsten Lichnowsky ließ daran keinen Zweifel.
Konnte unter diesen Umständen für Deutschland irgendein An-
reiz vorliegen, Österreich-Ungarn, wie es die Entente in Versailles
behauptet hat, in ein kriegerisches Abenteuer hineinzustoßen, um
jetzt endlich zu gegebener Stunde den deutschen Weltherrschafts-
traum zu verwirklichen? Man faßte freilich in Berlin damals die
Lage des Dreibundes nicht ganz so ernst auf, wie sie wirklich war,
hoffte auf Grund der wiederbelebten Generalstabsbesprechungen mit
Italien auf Erfüllung der Dreibundverpflichtungen durch Rom, und
Bethmann Hollweg wollte von dem Gedanken nicht lassen, daß
England auf Grund der schwebenden Verhandlungen über die por-
tugiesischen Kolonien und über die Bagdadbahn nicht sofort gegen
Deutschland Partei ergreifen würde. Aber selbst unter der Bedin-
gung, daß diese Hoffnungen sich nicht als trügerisch erwiesen, blieb
ein Krieg unter den Großmächten für Deutschland doch immer ein
so ungeheures Wagnis, daß ein geradezu bodenloser Leichtsinn
dazu gehört haben würde, einen solchen Krieg zu entfesseln, von dem
für Deutschland nicht das geringste zu erhoffen war. Deutschland
hatte keine Kriegsziele. Es brauchte, wie es Baron Beyens wenige
1 Wien, 8. Mai 1914. Gr. Pol. Nr. 15 763.
2 Gr. Pol. Nr. 14520.
355
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
Tage vor Sarajevo, am 12. Juni, in einem Berichte nach Brüssel
ausgeführt hat, sich nur zu gedulden, nur in Frieden seine wirt-
schaftliche und finanzielle Macht dauernd weiter zu steigern und die
Wirkungen seines Geburtenüberschusses abzuwarten, um ohne
Widerspruch und ohne Kampf in ganz Mitteleuropa zu herrschen1.
Die Gründe dafür, daß Deutschland sich nach der Mordtat von
Sarajevo hinter Österreich-Ungarn stellte, lagen in der Überzeugung,
daß es jetzt um seiner eigenen Stellung willen Österreich nicht fallen
lassen könne. „Die Möglichkeit der Loslösung aus dem bestehenden
Bundesverhältnis war in diesem Zeitpunkt nicht mehr geboten. Ra-
sches Handeln war erforderlich. Die Frage, ob Österreich-Ungarn
fallen gelassen werden solle, konnte nicht im Augenblick einer Krisis
gelöst werden. Diese Wendung hätte langer und ausgiebiger Vor-
bereitungen bedurft. Ein dringender Anlaß zu einer derartigen Poli-
tik, etwa mit Rücksicht auf die Gefahren, die das Bundesverhältnis
für die Sicherheit des Reiches hatte, lag nicht vor.. Bei der da-
maligen Weltlage wäre auch der Versuch einer Loslösung von Öster-
reich-Ungarn niemals gelungen1 2.“ Deutschland hatte, wie Staats-
sekretär v. Jagow vor dem Untersuchungsausschuß des deutschen
Reichstages erklärt hat, keine Wahl; „nicht aus romantischer Treue,
sondern um der eigenen Stellung willen, konnte es Österreich nicht
fallen lassen“. Die Existenz Österreich-Ungarns als einer starken
und unabhängigen Großmacht erschien als eine Notwendigkeit, für
die schon Bismarck bereit gewesen war, unter Umständen mit den
Waffen einzutreten. „Ein Rückzug aus unserer bisher, trotz ständigen
Kriegsrisikos, festgehaltenen Position mit der Preisgabe Österreich-
Ungarns hätte den kampflosen Abbau unserer eigenen Weltstellung
bedeutet. Indem wir Österreich in der neuen Krise bundestreue Hal-
tung zusicherten, nahmen wir ein deutsches Interesse wahr, das aner-
kannte Interesse der Erhaltung Österreich-Ungarns als bündnis-
fähige Großmacht3.“ Deutschland war damals nicht mehr frei,
immerhin aber noch in der Lage, auf seinen Bundesgenossen ratend
und mahnend einzuwirken. Leider aber war die österreichische Di-
plomatie bei ihrem hochentwickelten Selbstbewußtsein nur allzu-
wenig geneigt, Deutschland von ihren Plänen freiwillig und recht-
zeitig genug zu verständigen. Diese zweifellos bedauerliche Tatsache
hatte sich schon von der Amtszeit Aehrenthals her entwickelt und in
dem Verhalten der Wiener Politik bei der Frage der Sandschakbahn
im Frühjahr 1908, sodann bei der bosnischen Krise, schließlich bei
den Auseinandersetzungen bei Beendigung der Balkankrise und bei
der Schaffung des Fürstentums Albanien wiederholt ihren Ausdruck
gefunden.
1 B. Schwertfeger: Der Fehlspruch von Versailles. Berlin 1921. S.205.
2 B. W. v. B ü 1 o w: Die Krisis. S. 60.
3 Bethmann Hollweg vor dem Untersuchungsausschuß.
356
Von Sarajevo zum Weltkriege
Am 5. Juli überreichte der Botschafter Graf Szögyenyi dem
deutschen Kaiser ein Handschreiben des Kaisers Franz Joseph und
eine Denkschrift über die Lage. Die Denkschrift war in ihren Grund-
zügen schon vor dem Morde von Sarajevo fertiggestellt worden;
sie trat für eine Heranziehung Bulgariens an Stelle Rumäniens an
den Dreibund ein und forderte eine Klärung der Beziehungen zu
Serbien. Der schon am 24. Juni abgeschlossenen Denkschrift hatte
man nach dem Morde von Sarajevo noch einige Sätze hinzugefügt und
auf die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zu Serbien sowie die
Gefährlichkeit der vor nichts zurückschreckenden großserbischen
Bestrebungen hingewiesen. „Österreich-Ungarn hat es an gutem
Willen und Entgegenkommen nicht fehlen lassen, um ein erträgliches
Verhältnis zu Serbien herbeizuführen. Es hat sich aber neuerlich ge-
zeigt, daß diese Bemühungen ganz vergeblich waren und daß die
Monarchie auch in Zukunft mit der hartnäckigen, unversöhnlichen
und aggressiven Feindschaft Serbiens zu rechnen haben wird. Um
so gebieterischer tritt an die Monarchie die Notwendigkeit heran,
mit entschlossener Hand die Fäden zu zerreißen, die ihre Gegner zu
einem Netze über ihrem Haupt verdichten wollen.“ In dem Hand-
schreiben des Kaisers Franz Joseph hieß es, das Bestreben der öster-
reich-ungarischen Regierung müsse in Zukunft auf die Isolierung
und Verkleinerung Serbiens gerichtet sein; Bulgarien müsse man
stärken, damit es vor der Rückkehr zur Russophilie bewahrt bleibe.
„Dieses wird aber nur dann möglich sein, wenn Serbien, welches
gegenwärtig den Angelpunkt der panslawistischen Politik bildet, als
politischer Machtfaktor am Balkan ausgeschaltet wird.“
Die Legende vom Potsdamer Kronrat ist kürzlich von Dr. Kurt
Jagow gründlich und aktenmäßig wiederlegt worden1. Der Kaiser,
der auf Rat des Reichskanzlers v. Bethmann Hollweg seine Nord-
landfahrt ruhig antreten sollte, um nicht durch das Aufschieben
dieser längst angekündigten Reise Beunruhigung zu schaffen, emp-
fing am 5. und 6. Juli zu verschiedenen Zeiten den Reichskanzler,
den Kriegsminister v. Falkenhayn, den General v. Bertrab als Ver-
treter des beurlaubten Generalstabschefs v. Moltke, den Admiral
v. Capelle als Vertreter des Reichsmarineamts, sowie den Kapitän
zur See Zenker als Vertreter des Admiralstabes und teilte ihnen mit,
daß Österreich-Ungarn Serbien zur Rechenschaft ziehen wolle.
Größere kriegerische Verwicklungen seien unwahrscheinlich. Mili-
tärische Vorbereitungen wurden daher nicht getroffen.
Für die weitere Entwicklung der Dinge war die Unterredung
am 5. Juli mit dem Grafen Szögyenyi entscheidend. Ihm sagte der
Kaiser, er habe eine ernste Aktion Österreichs Serbien gegenüber er-
wartet, müsse sich aber angesichts der Gefahr einer europäischen 1
1Heft 11 der Süddeutschen Monatshefte. München, August 1928.
357
Deutschlands Vereinsamung’. 1902—1914
Komplikation erst mit seinem Kanzler beraten. Dieser werde zweifel-
los auch einer Aktion gegen Serbien zustimmen. Sollte Rußland Ser-
bien beispringen und es zu einem Kriege mit Österreich kommen
lassen, so würde Deutschland den Bündnisfall als gegeben betrachten
und treu an die Seite Österreich-Ungarns treten. Mit dieser Auffas-
sung erklärte sich Bethmann Hollweg, als er um 6 Uhr abends beim
Kaiser im Neuen Palais in Potsdam eintraf, durchaus einverstanden.
Am 6. Juli trat der Kaiser seine Nordlandreise an. Am gleichen
Tage nachmittags 3 Uhr fand im Reichskanzlerpalais zu Berlin eine
Besprechung Bethmann Hollwegs mit dem Grafen Szögyenyi statt;
zugegen waren Unterstaatssekretär Zimmermann und Graf Hoyos.
„Die Bereinigung des Verhältnisses zu Serbien erklärte der Kanzler
allein der Wiener Regierung überlassen zu müssen, jedoch dürfe
diese im Ernstfälle auf die deutsche Bundeshilfe rechnen. Er wies
darauf hin, daß der Augenblick zum Einschreiten gegen Serbien
günstig sei, und empfahl schnelles Handeln. Mit dem bereits zwi-
schen Graf Hoyos und Zimmermann behandelten Vorschläge, Italien
und Rumänien vorher nicht von der eventuellen Aktion gegen Ser-
bien zu verständigen, erklärte Bethmann Hollweg sich einverstanden.
Damit waren die Berliner Verhandlungen abgeschlossen. Graf Hoyos
konnte alsbald nach Wien zurückreisen1.“
So hatte denn die Wiener Regierung freie Hand für diejenigen
Schritte, die sie Serbien gegenüber für nötig hielt. Die spätere Ent-
wicklung hat gezeigt, daß man in Wien nur allzu geneigt war, jetzt
— gestützt auf Deutschland — selbständig zu handeln, ohne bei den
wichtigen weiteren Schritten Deutschland hinreichend einzuweihen.
Wiederholt ließ daher der Staatssekretär v. Jagow in Wien erklären,
daß er wissen müsse, was beabsichtigt sei. Er empfahl, das gegen
Serbien vorliegende Anklagematerial zusammenzustellen und kurz
vor dem gegen Serbien beabsichtigten Schritte zu veröffentlichen1 2.
Auch drängte Jagow immer darauf, daß sich Österreich-Ungarn
wegen der serbischen Aktion mit Italien verständigen und Kompen-
sationen in Aussicht stellen solle3, da man in Italien nicht geneigt
war, Österreich-Ungarn einen Gebietserwerb in Serbien zuzugeste-
hen. Am 16. Juni beklagte sich Jagow über die Verzögerung der
Wiener Schritte gegen Serbien und tags darauf über die ganz un-
genügende Unterrichtung Deutschlands; er wolle wissen, wohin
etwa der Weg führen solle4. Diese Bitte wiederholte er dringend am
20.Juli5, an demselben Tage, an dem Poincare in Kronstadt vom
1 Dr. Kurt Jagow: „Der Potsdamer Kronrat.“ Süddeutsche Monatshefte 1928,
S. 787/8.
2 Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Nr. 31. (11. Juli 1914.)
3 Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Nr. 46. (15. Juli 1914.)
* Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Nr. 61.
5 Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Nr. 83.
358
Von Sarajevo zum Weltkriege
Zaren empfangen wurde, und am 21. Juli gegenüber dem Botschafter
v. Szögyenyi1.
An diesem 21. Juli empfing Poincare im Winterpalaste in Peters-
burg das diplomatische Korps und sprach den österreichischen Bot-
schafter Grafen Szäpäry auf den serbischen Konflikt an, wobei er
darauf hinwies, Serbien habe glühende Freunde im russischen Volke,
und Rußland besitze einen Verbündeten, nämlich Frankreich. Was
für Verwicklungen könnten daraus entstehen! Die diplomatischen
Vertreter der kleineren Staaten begrüßte Poincare nur mit einigen
gemeinsamen Worten, sprach aber den serbischen Gesandten Spalai-
kowitsch allein an, um ihn „mit zwei oder drei Phrasen der Sympa-
thie zu stärken“. Graf Szäpäry berichtete beunruhigt nach Wien.
Damals schon war es in hohem Grade wahrscheinlich, daß Rußland,
gestützt auf Frankreich, der Auseinandersetzung zwischen Öster-
reich-Ungarn und Serbien nicht untätig zusehen würde.
Das Ultimatum vom 23. Juli 1914
Erst nachdem Poincare die Rückreise von Rußland angetreten
hatte, erfolgte die Überreichung des österreichischen Ultimatums in
Belgrad und zwar am 23. Juli 6 Uhr nachmittags.
Die österreichische „Begehrnote“ an Serbien übertraf nach
Inhalt und Schärfe alle Erwartungen. Man hatte, wie österreichi-
scherseits behauptet wird, das im Jahre 1859 an Sardinien gerich-
tete Ultimatum zum Muster genommen und Bedingungen aufge-
stellt, deren Annahme äußerst unwahrscheinlich war. In Belgrad
wurden sie denn auch sofort als unannehmbar bezeichnet, und in
Berlin lehnte man jede Verantwortung für ihren Inhalt ab. Ganz
besonders in Petersburg, aber auch in London, Paris und in Rom
fand die Note scharfe Verurteilung, und die Länder des Dreiverban-
des bemühten sich sofort um eine Verlängerung der Serbien gestell-
ten Frist von 48 Stunden, um inzwischen eine Vermittlung zustande
bringen zu können. Sir Edward Grey trat von vornherein für eine
Vermittlung der vier an dem österreichisch-serbischen Konflikte
weniger beteiligten Großmächte England, Frankreich, Deutschland
und Italien ein. In Wien gab man nach Petersburg hin die Erklä-
rung, es sei kein Gebietserwerb in Serbien beabsichtigt, aber die
großserbische Bewegung müsse nachhaltig unterdrückt werden. Für
den Zusammenhalt des Dreibundes war es äußerst bedenklich, daß
die Leiter der italienischen Politik in Rom dem deutschen Bot-
schafter v. Flotow schon am 24. Juli erklärten, sie mißbilligten
das Vorgehen Österreich-Ungarns und den Inhalt der Note an Ser-
bien und behielten sich freie Hand vor1 2.
1 Österreichisches Rotbuch 1919. I, Nr. 39, 41.
2 Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch Nr. 156, 168, 244.
359
Deutschlands Vereinsamung’. 1902—1914
Bedenklicher noch war, daß Sir Edward Qrey am 24. Juli dem
Botschafter Fürsten Lichnowsky erklärte, England werde sich zwar
in einen lokalisierten Streit zwischen Österreich und Serbien nicht
einmischen, sei aber bei der Schroffheit des an Serbien gerichteten
Ultimatums, bei der Kürze der gestellten Frist und den sehr weit-
gehenden Forderungen außerstande, auf Rußland einzuwirken; falls
Österreich-Ungarn nach Serbien einmarschiere, sei die Gefahr eines
europäischen Krieges — zwischen den vier Großmächten Öster-
reich-Ungarn, Rußland, Frankreich und Deutschland — in nächste
Nähe gerückt. Er befürwortete daher die Verlängerung der Frist
von 48 Stunden und eine Vermittlung der vier weniger beteiligten
Großmächte1. In Belgrad gab Grey den Rat, entgegenkommend
zu antworten und volle Genugtuung zu versprechen, im übrigen aber
sich von Serbiens Interessen leiten zu lassen1 2.
Den bestimmendsten Einfluß für die weitere Entwicklung der
Dinge mußte Rußlands Haltung ausüben. Schon am 24. Juli ver-
sammelte Sasonow die Botschafter Englands und Frankreichs auf
der französischen Botschaft und suchte eine volle Übereinstimmung
der drei Mächte herzustellen. Dringend wirkten Sasonow und der
französische Botschafter Paleologue auf den Vertreter Großbritan-
niens, Sir G. Buchanan, ein, um ihn zur Herbeiführung einer eng-
lischen Erklärung des Mitgehens im Kriegsfälle zu veranlassen3.
Am gleichen Tage ließ der Generalstabschef, General Janusch-
kewitsch, den im Generalstabe beschäftigten General Sergei Dobro-
rolski zu sich kommen und eröffnete ihm, daß die Lage sehr ernst
sei, und daß er sofort die Teilmobilmachung nur gegen Österreich-
Ungarn vorbereiten möge. Eine solche Teilmobilmachung hielt Do-
brorolski für eine Unmöglichkeit4. In einem Ministerrate am Nach-
mittage betonte der Kriegsminister Suchomlinow die Kriegsbereit-
schaft Rußlands. Man beschloß, in Wien eine Verlängerung der Ser-
bien gestellten Frist zu fordern und einen Angriff Österreich-Ungams
gegen Serbien nicht zuzulassen. In dem gleichen Sinne entschied ein
Ministerrat unter Vorsitz des Zaren am 25. Juli. Als General Ja-
nuschkewitsch aus Krasnoje Selo zurückkehrte, konnte er den Be-
schluß mitteilen, daß das österreichische Ultimatum in einer Rußlands
würdigen Weise beantwortet werden würde5 6. „Der Krieg war be-
1 Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch Nr. 157; englisches Blaubucb
Nr. 9, 11; österreichisches Rotbuch 1919, II, Nr. 15; französisches Oelbbuch
Nr. 37.
2 Englisches Blaubuch Nr. 22.
* Englisches Blaubuch Nr. 6.
* General Sergei Dobrorolski: „Die Mobilmachung der russischen Armee
1914“. Beiträge zur Schuldfrage, herausgegeben von der Zentralstelle für Erfor-
schung der Kriegsursachen, Heft 1. Berlin, Deutsche Verlagsgesellschaft für Poli-
tik und Geschichte, 1922.
6 Dobrorolski, wie o. S. 21.
360
Das Ultimatum vom 23. Juli 1914
reits beschlossene Sache, und die ganze Flut von Telegrammen
zwischen den Regierungen Rußlands und Deutschlands stellte nur
eine mise en scene (In-Szene-Setzung) eines historischen Dramas
dar.“ In einem Gespräche mit den Botschaftern des Dreiverbandes
betonte Sasonow am 25. Juli 3 Uhr nachmittags, als Buchanan vor
den Folgen militärischer Maßnahmen warnte, wenn Rußland des
französischen Beistandes sicher sei, wolle es allen Gefahren des
Krieges ins Auge sehen. Vom 25. Juli ab waren militärische Vor-
bereitungen Rußlands unverkennbar. Alle Truppenübungen wurden
abgebrochen, die Kriegsschüler vorzeitig zu Offizieren befördert, der
Generalstab bereitete den Aufmarsch vor, und alle Truppen erhielten
den Befehl, binnen 24 Stunden in ihre Standorte zurückzukehren.
In Belgrad fiel am 25. Juli 6 Uhr nachmittags die Entscheidung.
Die serbische Regierung antwortete in einer sehr geschickt abge-
faßten Note auf das Wiener Ultimatum, nahm fast alle Forderungen
an und schlug für den Fall, daß Österreich-Ungarn durch die Note
nicht zufrieden gestellt sei, die Entscheidung des Haager Schieds-
gerichtshofes oder der Großmächte vor. Da das österreichische
Ultimatum aber rückhaltlose Annahme aller Punkte gefordert hatte,
erfolgte noch am 25. Juli 6y2 Uhr nachmittags der Abbruch der
diplomatischen Beziehungen, und der österreich-ungarische Ge-
sandte, Frhr. v. Giesl, verließ Belgrad. Der Kriegszustand war ein-
getreten.
Der Ausbruch des Weltkrieges
Von diesem Tage ab haben sich die Dinge im Sinne der Ver-
schärfung reißend weiter entwickelt. Rüstete Rußland weiter, so
konnte Deutschland bei seiner gefährlichen Lage inmitten Europas
und unter der Gefahr eines ihm bevorstehenden Mehrfrontenkrieges
dem nicht ruhig zusehen. Sein einziger Vorteil bestand in seiner
schnelleren Kriegsbereitschaft und in seiner zentralen Lage. Es war
daher nur allzu berechtigt, wenn der Reichskanzler v. Bethmann
Hollweg am 26. Juli nach Petersburg mitteilen ließ, die Erhaltung
des europäischen Friedens hänge nunmehr allein von Rußland ab,
nachdem Österreich erklärt hatte, einen territorialen Gewinn in Ser-
bien nicht zu beabsichtigen. „Wir vertrauen auf die Friedensliebe
Rußlands und unsere altbewährten guten Beziehungen, daß es keinen
Schritt unternimmt, welcher den europäischen Frieden ernstlich ge-
fährden würde1.“ In gleichem Sinne ließ Bethmann Hollweg gegen
Abend des 26. Juli nach Petersburg mitteilen, daß vorbereitende mi-
litärische Maßnahmen Rußlands, die irgendwie eine Spitze gegen
Deutschland hätten, Deutschland zu Gegenmaßregeln zwingen wür-
den, die in der Mobilisierung der Armee bestehen müßten; die Mo-
1 Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch Nr. 198.
361
Deutschlands Vereinsamung. 1902—1914
bilisierung aber bedeute den Krieg und würde überdies gegen
Rußland und Frankreich zugleich gerichtet sein müssen, da uns
Frankreichs Verpflichtungen gegenüber Rußland ja bekannt seien.
„Wir können nicht annehmen, daß Rußland einen solchen europäi-
schen Krieg entfesseln will1.“ Mit größter Sorgfalt wurden in
Deutschland alle Maßnahmen noch zurückgestellt, die irgendwie
auf Kriegsvorbereitungen hätten schließen lassen können.
An dem Kriegswillen Rußlands sind alle Bemühungen der
Diplomaten zuschanden geworden. Der Krieg war schon seit
mehreren Tagen beschlossene Sache. Alles, was zwischen dem
25. Juli und dem eigentlichen Kriegsausbruch geschehen ist, bildete
bereits den Übergang zu dem Kampfe mit den Waffen. Mit mehr
oder weniger Geschick suchten sich die Diplomaten der verschie-
denen Staatengruppen wechselseitig die Schuld an dem kommenden
Unheil zuzuschieben, um für die durch Rußlands Kriegswillen unver-
meidlich gewordene Auseinandersetzung mit den Waffen in ihren
Ländern eine möglichst günstige Stimmung zu erzeugen. Es ist
daher für unseren Zweck nicht nötig, den Telegrammwechsel der
Tage bis zum Kriegsausbruch bis ins einzelne zu verfolgen, zumal
hierüber eine erschöpfende Literatur bereits vorhanden ist.
Die russische Gesamtmobilmachung, zu der sich der Zar am
30. Juli spätestens 4 Uhr nachmittags entschloß, und die telegraphisch
um 5 Uhr nachmittags angeordnet wurde, löste unweigerlich den Krieg
aus. Ihr folgte am 31. Juli ll^Uhr vormittags die Mobilmachung
Österreich-Ungarns, am 1. August 4 Uhr 40 nachmittags Frankreichs
und eine halbe Stunde später Deutschlands* 2. Für Deutschland war
es tragisch und in seiner geopolitischen Lage begründet, daß es —
an den Gegensätzen zwischen Österreich-Ungarn und Serbien an
sich gar nicht beteiligt — bei seiner schweren politischen Notlage
in steigendem Maße bei den Auseinandersetzungen die Führung
übernehmen und sich schließlich sogar zu den Kriegserklärungen an
Rußland und Frankreich, sowie zu dem von seinen militärischen
Führern als unabwendbar nötig erachteten Ultimatum an Belgien
entschließen mußte. Alle diese Schritte sind aus Deutschlands
Zwangslage erwachsen und bedeuten nicht das geringste für einen
deutschen Willen zum Kriege.
So erkennen wir als Endergebnis unserer ganzen Untersuchung
die schicksalhafte Auswirkung des europäischen Bündnissystems.
Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch, Nr. 219.
2 Diese Zeitangaben sind durch Graf Max Montgelas auf das Genaueste ermittelt,
bereits in mitteleuropäische Zeit umgerechnet und von dem französischen For-
scher Pierre Renouvin als richtig bestätigt worden. (Graf Max Montgelas:
„Leitsätze zur Kriegsschuldfrage“. Berlin 1927. Als Manuskript gedruckt von der
Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen.)
362
Der Ausbruch des Weltkrieges
Deutschland, das von einem Kriege nichts zu hoffen, alles zu be-
fürchten hatte, mußte infolge seiner Verknüpfung mit Österreich-
Ungarn den schwersten aller Kämpfe, den die Welt jemals gesehen
hat, auf sich nehmen. Die Sorge um die Erhaltung Österreich-
Ungarns als einer bündnisfähigen Großmacht hat Deutschland in
den Krieg hineingerissen, der unser aller Schicksal geworden ist.
Dabei ist es uns nicht gelungen, den Zerfall des österreichisch-
ungarischen Staatswesens aufzuhalten. Das stolze Reich der Habs-
burger fiel ebenso wie das automatische Rußland den Stürmen
des Weltkrieges zum Opfer.
Noch wird es uns schwer, in diesem Ablauf der Dinge eine
naturgemäße Entwicklung zu sehen, da alles noch in Gärung be-
griffen ist und nur zögernd eine neue Gestaltung der europäischen
Welt zutage tritt. Für uns Deutsche aber, die wir die Last des Welt-
krieges nur auf uns genommen haben und nehmen mußten, da unsere
enge Verknüpftheit mit Österreich-Ungarn es erforderte, muß es ein
Trost sein, daß sich die innere Festigkeit des Deutschen Reiches
trotz der schwersten Erschütterungen, die einem Staatswesen und
einer Volksgemeinschaft zugemutet werden können, siegreich be-
hauptet hat. Aber wir lehnen es ab, noch weiterhin das Kainszeichen
des Fehlspruches von Versailles an der Stirn zu tragen. Nicht eher
wird die Welt zur Ruhe kommen, ehe nicht das größte Unrecht der
Weltgeschichte, die Verfemung Deutschlands durch den Artikel 231
des Versailler Vertrages, wieder gutgemacht ist. Das ist der tiefste
Sinn des Weltkrieges der Dokumente.
Anlagen
Anlage 1
Bericht der Interalliierten Kommission für die Prüfung der
Verantwortlichkeiten der Urheber des Krieges und für die
Strafbestimmungen. Paris, 29. März 1919
Vorbemerkung
Dieser Bericht, der in einem Schreiben Clemenceaus vom 20. Mai
1919 als ein Dokument „d’ordre interieur“ bezeichnet worden war, das
der deutschen Delegation nicht zur Verfügung gestellt werden könne,
mußte deutscherseits aus der französischen Presse entnommen wer-
den. Er findet sich in französischem Wortlaut abgedruckt im „Kom-
mentar zum Friedensvertrage“, herausgegeben von Professor Dr.
Walter Schücking (Berlin 1921, Verlag Franz Vahlen und
Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin W 8,
1921), 2.Teil, S. 1243; in deutscher Übersetzung im l.Teil, S.279ff.
und im „Weißbuch betreffend die Verantwortlichkeit der Urheber
des Krieges“, herausgegeben vom Auswärtigen Amt, Berlin, Juni
1919, S. 15 ff., sowie in beiden Sprachen in „das deutsche Weißbuch
über die Schuld am Kriege mit der Denkschrift der deutschen Vierer-
kommission zum Schuldbericht der Alliierten und Assoziierten Mächte
vom 29. März 1919“, S. 31 ff. (Deutsche Verlagsgesellschaft für Po-
litik und Geschichte, Berlin W. 8, 1927).
Konferenz der Friedenspräliminarien
Kommission für die Feststellung der Verantwortlichkeiten der
Urheber des Krieges und die aufzuerlegenden Strafen
Zweck der Kommission
Um zu untersuchen, wer in diesem Kriege als verantwortlich an-
zusehen ist, hat die Vorfriedenskonferenz in ihrer Vollsitzung vom
25. Januar 1919 (Protokoll Nr. 2) beschlossen, eine aus 15 Mitglie-
dern bestehende Kommission einzusetzen, und zwar aus je zwei
Mitgliedern für jede der Großmächte (die Vereinigten Staaten von
i*
3
Bericht der Interalliierten Kommission vom 29. 3. 1919
Amerika, Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan) und fünf von
der Gesamtheit der besonders beteiligten Mächte gewählten Mit-
gliedern.
Die Kommission ist beauftragt worden, die folgenden Punkte
zu prüfen und darüber der Konferenz einen Bericht zu erstatten:
1. Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges.
2. Handlungen, betreffend die von den Streitkräften des Deut-
schen Reiches und seiner Alliierten zu Lande, zu Wasser und
in der Luft im Laufe des gegenwärtigen Krieges begangenen
Verletzungen der Kriegsgesetze und -gebräuche.
3. In welchem Maße für diese Verbrechen die Mitglieder der
feindlichen Streitkräfte, im einzelnen genommen, verantwort-
lich sind, einschließlich die Mitglieder der Generalstäbe und
andere Persönlichkeiten, so hoch sie auch gestellt sein mögen.
4. Einsetzung eines für die Einleitung einer Untersuchung dieser
Verbrechen zuständigen Gerichtes und dessen Verfahren.
5. Alle anderen ähnlichen, mit den oben erwähnten Punkten ver-
knüpften Angelegenheiten, die im Laufe der Untersuchung zu
Tage treten, und deren Erwägung die Kommission nützlich
und geeignet erachten könnte.
Zusammensetzung der Kommission
In der am 27. Januar 1919 von den besonders beteiligten Mäch-
ten abgehaltenen Versammlung wurden Belgien, Griechenland, Po-
len, Rumänien und Serbien ausgewählt, um je einen Vertreter zu
ernennen (Anlage VI des Protokolls Nr. 2).
Anschließend an die Ernennung der Vertreter für jeden der be-
teiligten Staaten setzt sich die Kommission folgendermaßen zu-
sammen:
Die Vereinigten Staaten von Amerika:
The Hon. Robert Lansing;
Herr James Brown Scott.
Großbritannien:
The Rt. Hon. Sir Gordon Hewart, K. C., P. C., M. P.
oder
Sir Ernest Pollock, K. B. E., K. C., M. P.;
The Rt. Hon. W. F. Massey.
Frankreich:
Herr Andre Tardieu
(mit der Möglichkeit, ersetzt zu werden durch:
Herrn Hauptmann Masson);
Herr F. Larnaude.
4
Anlage 1
Italien:
Herr Scialoja
(mit der Möglichkeit, ersetzt zu werden durch:
Herrn Ricci Busatti,
darauf durch
Herrn G. Tosti);
Herr Raimondo,
dann
Herr Brambilla (3. Februar)
und darauf durch
Herrn M. d’Amelio (16. Februar).
Japan:
Herr Adatci,
Herr H. Nagaoka,
dann
Herr S. Tachi (15. Februar).
Belgien:
Herr Rolin-Jacquemyns.
Griechenland:
Herr N. Politis.
Polen:
Herr C. Skirmunt,
dann
Herr L. Lublienski (14. Februar).
Rumänien:
Herr S. Rosental.
Serbien:
Herr S. Jowanowitsch
(mit der Möglichkeit, ersetzt zu werden durch:
Herrn K. Koumanoudi oder
Herrn Nowakowitsch).
Bureau der Kommission
Die Kommission hat als Vorsitzenden den Hon. R. Lansing, als
stellvertretende Vorsitzende den Rt. Hon. Sir Gordon Hewart oder
Sir Ernest Pollock und Herrn Scialoja und als Generalsekretär Herrn
A. de Lapradelle (Frankreich) ernannt.
Das Sekretariat der Kommission ist folgendermaßen zusammen-
gestellt worden:
Herr A. C. Kirk (Vereinigte Staaten von Amerika),
Herr Oberstleutnant O. M. Biggar (Großbritannien),
Herr G. Tosti (Italien),
Herr S. Kuriyama (Japan),
5*
Bericht der Interalliierten Kommission vom 29. 3. 1919
Herr Leutnant Baron J. Quillaume (Belgien),
Herr B. Marchetti (Griechenland),
Herr C. Rybinski (Polen).
Dolmetscher: Herr C. H. Camerlynck, Universitätsprofessor
(Frankreich).
U nterkommissionen
Sie hat beschlossen, drei Unterkommissionen zu ernennen. Die
erste Unterkommission, genannt „Kommission für ver-
brecherische Handlungen“, hat die Aufgabe, nach den Be-
weisen zu forschen und diejenigen zu sammeln, die zur Aufstellung
des Tatbestandes über strafbare Handlungen notwendig sind, und die
a) den Weltkrieg herbeigeführt und dessen Anfang begleitet
haben,
b) im Laufe der Feindseligkeiten begangen wurden.
Diese Unterkommission hat als Vorsitzenden den Rt. Hon. W.
F. Massey ernannt.
Die zweite Unterkommission, genannt „Kommission
für die Prüfung der Schuld am Kriege“, ist beauftragt
worden:
1. Zu prüfen, ob die von der „Unterkommission für verbreche-
rische Handlungen“ zusammengestellten Tatsachen, betreffend
die Handlungen, die den Weltkrieg herbeigeführt und dessen
Anfang begleitet haben, gerichtlich verfolgt werden können.
2. Schlußfolgerungen zu formulieren, die in diesem Falle an-
geben, welche in ihren Augen der oder die Verantwortlichen
sind, und vor welche Gerichtsbarkeit dieser oder diese Ver-
antwortlichen gestellt werden müßten.
Diese Unterkommission hat als Vorsitzenden Sir Ernest Pollock
ernannt.
Die dritte Unterkommission, genannt „Kommission
der Verantwortlichkeit für die Verletzungen der Kriegs-
gesetze und -gebräuche“ hat die Aufgabe:
1. zu prüfen, ob die durch die „Unterkommission für verbreche-
rische Handlungen“ zusammengestellten Tatsachen, die wäh-
rend der Feindseligkeiten begangenen Handlungen betref-
fend, gerichtlich verfolgt werden können;
2. Schlußfolgerungen zu formulieren, die in diesem Falle an-
geben, welche in ihren Augen der oder die Verantwortlichen
sind, und vor welche Gerichtsbarkeit dieser oder diese Ver-
antwortlichen gestellt werden müßten.
Diese Unterkommission hat als Vorsitzenden den Hon. R. Lan-
sing ernannt.
Nachdem die Kommission die von den Unterkommissionen nie-
dergelegten Berichte geprüft und erörtert hat, hat dieselbe beschlos-
6
Anlage 1
sen, die Abfassung ihrer Schlußfolgerungen einem Ausschüsse zu
übertragen, der sich zusammensetzt aus:
Herrn Rolin-Jacquemyns, Vorsitzender,
Sir Ernest Pollock,
Herrn M. d’Amelio.
Die Generalberichterstatter sind in dieser Aufgabe durch Herrn
A. de Lapradelle und Herrn Oberstleutnant O. M. Biggar unter-
stützt worden.
Generalbericht
Die Kommission beehrt sich, der Konferenz der Friedenspräli-
minarien ihren Generalbericht zu unterbreiten.
Dieser Bericht ist einstimmig angenommen worden, mit Aus-
nahme gewisser Vorbehalte seitens der Vereinigten Staaten von
Nordamerika und gewisser anderer Vorbehalte seitens Japans.
Die amerikanische Delegation hat ihre Vorbehalte und die
Gründe für dieselben in einem hier beigefügten Memorandum (An-
hang II) dargelegt1.
Die japanische Delegation hat ebenfalls ein Memorandum,
welches ihre Vorbehalte erklärt, niedergelegt. (Anhang III1 2.)
Bericht, welcher der Vorfriedenskonferenz von der Kommission
für die Feststellung der Verantwortlichkeiten der Urheber
des Krieges und der Wiedergutmachungen erstattet worden ist
Kapitel I
Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges
Nachdem die Kommission die zahlreichen amtlichen Urkunden,
die sich sowohl auf den Ursprung des Weltkrieges als auch auf die
Neutralitäts- und Grenzverletzungen, Begleiterscheinungen des Kriegs-
beginns, beziehen, geprüft hat, hat sie in der Frage der Verantwort-
lichkeit der Urheber des Krieges festgestellt, daß die Verantwortung
in vollem Umfange den Mächten zukommt, die ihn erklärt haben,
um einer Angriffspolitik zu dienen, deren Verheimlichung dem Ur-
sprünge dieses Krieges den Charakter einer geheimen Verschwörung
gegen den europäischen Frieden verleiht.
Diese Verantwortung lastet:
1. auf Deutschland und Österreich,
2. auf der Türkei und Bulgarien.
1 Siehe unten S. 21*ff.
2 Die japanischen Vorbehalte beziehen sich nicht auf die Frage der Schuld am
Kriege und sind daher unten nicht mit abgedruckt
7
Bericht der Interalliierten Kommission vom 29. 3. 1919
Sie verschärft sich durch die von Deutschland und Österreich
verübte Verletzung der von ihnen garantierten Neutralität Luxem-
burgs und Belgiens.
Sie verschärft sich endlich in bezug auf Frankreich und Serbien
durch die den feindlichen Kriegserklärungen vorangegangenen Grenz-
verletzungen.
I. Vorgefaßte Absicht, Krieg führen zu wollen
A. Deutschland und Österreich. Schon viele Monate vor
der im Juli 1914 zum Ausbruch gekommenen Krisis hatte der
deutsche Kaiser aufgehört, als Schutzherr des Friedens aufzutreten.
Voll Vertrauen auf das erdrückende Übergewicht seiner Armee ließ
er seiner feindseligen Gesinnung gegen Frankreich freien Lauf.
Der General Moltke sagte dem König der Belgier: „Es muß
Schluß gemacht werden.“ Vergebens erhob der König Einspruch;
der Kaiser und sein Generalstab verharrten nichtsdestoweniger in
ihrem Verhalten1.
Am 28. Juni 1914 fiel in Sarajewo durch Mörderhand der öster-
reichische Thronfolger. „Das ist die Tat einer kleinen, irregeleiteten
Menge“, sagte Franz Joseph1 2. Ein von einem österreichisch-unga-
rischen Staatsangehörigen auf dem Gebiet der Doppelmonarchie ver-
übtes Verbrechen kann Serbien in nichts kompromittieren. Die ser-
bische Regierung drückt in korrekter Weise ihr Beileid aus3, ver-
bietet in Belgrad öffentliche Lustbarkeiten und erklärt sich bereit, die
Schuldigen zu ermitteln, wenn die Wiener Regierung der Ansicht ist,
daß in die Sache serbische Mitschuldige verwickelt sind4.
Aber diese Haltung befriedigt Österreich nicht, noch weniger
Deutschland, das nach der ersten Bestürzung in dem nationalen und
dynastischen Unglück nur mehr einen Vorwand sieht, um den Krieg
zu entfesseln.
Nach einer in Potsdam am 5. Juli 1914 stattgefundenen „ent-
scheidenden Beratung“5 faßten Wien und Berlin folgenden Plan:
„Wien wird an Belgrad ein sehr energisches, kurzfristiges Ultimatum
richten6.“
„Es ist offensichtlich,“ schreibt einige Tage später der baye-
rische Gesandte von Lerchenfeld in einem Bericht an seine Regie-
rung, „daß Serbien nicht in Forderungen einwilligen kann, die un-
1 Oelbbuch. Herr Cambon an Herrn Pichon. Berlin, 22. November 1913.
2 Botschaft an sein Volk.
3 Serbisches Blaubuch, S. 30.
4 Oelbbuch Nr. 15. Herr Cambon und Herr Bienvenu-Martin. 21. Juli 1914.
6 Denkschrift Lichnowskys.
6 Denkschrift des Dr. Mühlon.
8
Anlage 1
vereinbar mit der Würde eines unabhängigen Staates sind1.“ In
diesem Bericht vom 18. Juli 1914, dessen Inhalt niemals offiziell
dementiert wurde, offenbart Graf Lerchenfeld, daß von diesem Zeit-
punkte ab das Ultimatum an Serbien gemeinsam zwischen den Ber-
liner und Wiener Regierungen beschlossen war, daß letztere für
dessen Überreichung die Abreise des Präsidenten Poincare und des
Herrn Viviani nach Petersburg abwarten würden, und daß man sich
weder in Berlin noch in Wien Illusionen über die Folgen hingab, zu
denen dieser drohende Schritt führen würde. Man war vollkommen
davon überzeugt, daß der Krieg daraus hervorgehen würde.
Der bayerische Bevollmächtigte erklärte überdies, daß die ein-
zige Befürchtung der Berliner Regierung darin bestehe, daß Öster-
reich-Ungarn im letzten Augenblick zögern und zurückgehen, und
daß andererseits Serbien auf die Ratschläge Frankreichs und Eng-
lands hin dem auf ihn ausgeübten Druck nachgeben würde. „Nun
erachtet aber die Berliner Regierung den Krieg für notwendig.“
Deshalb erteilt sie dem Grafen Berchtold unbeschränkte Vollmacht
und beauftragt den Ballplatz schon am 18. Juli 1914, mit Bulgarien
zu unterhandeln, um es in das Bündnis und in den Krieg hinein-
zuziehen.
Um dies Einverständnis zu verbergen, hatte man abgemacht, daß
der Kaiser eine Fahrt auf der Nordsee unternehmen und der
preußische Kriegsminister in Urlaub gehen würde. Auf diese Weise
war die Kaiserliche Regierung in der Lage, zu behaupten, daß sie
von den Ereignissen vollkommen überrascht worden sei.
Unversehens richtet Österreich an Serbien das Ultimatum, das
in der Absicht, es unannehmbar zu machen, mit Sorgfalt vorbereitet
war. Dadurch wurde niemand getäuscht: „Die ganze Welt begriff,
daß dieses Ultimatum den Krieg bedeutete13“, gemäß dem Ausspruch
Sasonows: „Österreich-Ungarn wollte Serbien verschlingen1 2.“
Herr Sasonow verlangt in Wien eine Verlängerung der kurzen
48stündigen Frist, die Österreich Serbien für die schwerste Ent-
dung in seiner Geschichte auferlegt hatte3. Wien weist das Ge-
such zurück. Am 24. und 25. Juli verdoppeln England und Frank-
reich ihre Anstrengungen, um Serbien zu veranlassen, den öster-
reichisch-ungarischen Forderungen Genüge zu leisten. Rußland
schließt sich diesen vermittelnden Bemühungen an4.
Entgegen den Voraussetzungen Österreich-Ungarns und Deutsch-
lands gibt Serbien nach und willigt in alle Forderungen des Ultima-
tums unter dem einzigen Vorbehalte ein, daß bei der auf seinem Ge-
1 Bericht vom 18. Juli 1914.
13 Denkschrift Lichnowskys.
2 Österreichisch-ungarisches Rotbuch Nr. 16.
3 Blaubuch Nr. 26.
4 Blaubuch Nr. 12 und 46; Gelbbuch Nr. 36; Blaubuch Nr. 55, 65, 94, 118.
Bericht der Interalliierten Kommission vom 29. 3. 1919
biet zum Zwecke der Ermittlung der Schuldigen eingeleiteten Unter-
suchung die Teilnahme der österreichischen Beamten an der Arbeit
der serbischen Justiz in den von dem Völkerrecht vorgeschriebenen
Grenzen bleibe. Die serbische Regierung erklärt, „sich der Entschei-
dung des Haager Schiedsgerichtshofes anzuvertrauen, wenn die
österreichisch-ungarische Regierung sich mit ihrer Antwort nicht
begnügt1“.
Am 25., um 5 Uhr 45 Min., „eine Viertelstunde vor der fest-
gesetzten Frist“, überreichte Herr Paschitsch, der Minister der aus-
wärtigen Angelegenheiten Serbiens, dem österreichisch-ungarischen
Gesandten diese Antwort.
Bei seiner Rückkehr ins Ministerium fand er einen Brief des
österreichisch-ungarischen Gesandten, Baron Giesl, vor, worin dieser
ihm mitteilte, daß er nicht zufriedengestellt sei. Um 6 Uhr 30 Min.
hatte Herr Giesl Belgrad verlassen, und ehe noch dieser Diplomat
nach Wien zurückgekehrt war, hatte die Regierung dem serbischen
Gesandten, Herrn Jowanowitsch, seine Pässe ausgehändigt; sie hatte
dreiunddreißig Mobilisierungserlasse vorbereitet, die am nächsten
Morgen, dem 26., durch den Budapesti Kozlöni, das offizielle Organ
der ungarischen Regierung, veröffentlicht wurden. Am 27. telegra-
phierte Sir Maurice de Bunsen an Sir Edward Grey: „Das Volk ist
in der Aussicht auf einen Krieg gegen Serbien toll vor Freude1 2.“
Am 28. Juli, 12 Uhr mittags, erklärt Österreich an Serbien den
Krieg. Am 29. beginnt die österreichische Armee die Beschießung
Belgrads und schickt sich an, die Grenze zu überschreiten.
Die wiederholten Vorschläge der Ententemächte, um eine fried-
liche Lösung des Konfliktes herbeizuführen, lösten in Berlin nur
ausweichende Antworten aus oder Versprechungen, sich bei der
Wiener Regierung ins Mittel legen zu wollen, aber auch nicht ein
einziges tatsächliches Einschreiten.
Am 24. Juli verlangen Rußland und England, daß den Mäch-
ten eine angemessene Frist gewährt werde, um sich gemeinsam um
die Aufrechterhaltung des Friedens zu bemühen: Deutschland schließt
sich diesem Ersuchen nicht an3.
Am 25. Juli schlägt Sir Edward Grey die Vermittlung zu Vieren
vor (England, Frankreich, Italien, Deutschland). Frankreich4 und
Italien5 stellen ihm ihren Beistand sofort zur Verfügung. Deutsch-
land lehnt ab6, indem es vorgibt, daß es sich nicht um eine Ver-
mittlung, sondern um einen Schiedsspruch handeln würde; nun aber
1 Gelbbuch Nr. 46.
2 Blaubuch Nr. 41.
3 Orangebuch Nr. 4; Gelbbuch Nr. 43.
4 Gelbbuch Nr. 70.
6 Gelbbuch Nr. 72; Blaubuch Nr. 49.
6 Blaubuch Nr. 43.
10*
Anlage 1
war die Konferenz zu Vieren nur befugt, Vorschläge zu machen,
aber nicht zu entscheiden.
Am 26. Juli erbietet sich Rußland, direkt mit Österreich zu ver-
handeln. Österreich lehnt ab1.
Am 27. Juli schlägt England eine europäische Konferenz vor.
Deutschland lehnt ab1 2.
Am 29. Juli bittet Sir Edward Qrey die Wilhelmstraße, „doch
irgendein Mittel vorzuschlagen, das den vier Mächten gestatte, ihren
Einfluß zu vereinigen, um den Krieg zwischen Österreich und Ruß-
land zu verhindern3“. Deutschland wird also gebeten, zu sagen,
was es selbst wünscht4, aber seine Antwort ist ausweichend5.
Am gleichen Tage, dem 29. Juli, macht der Zar Wilhelm II.
den telegraphischen Vorschlag, die österreichisch-serbische Frage
dem Haager Schiedsgerichtshof zu unterbreiten; dieser Vorschlag,
von dem übrigens im deutschen Weißbuche keine Spur zu finden ist,
bleibt unbeantwortet. Die Tatsache ist von dem „Messager Officiel“
in Petersburg enthüllt worden (Januar 1915).
In einem vom 31. Juli datierten Bericht erklärt die bayerische
Gesandtschaft, sie sei davon überzeugt, daß die Bemühungen Sir
Edward Greys, den Frieden zu erhalten, den Gang der Ereignisse
nicht aufhalten könnten6.
Die deutsche Mobilisierung hatte mit dem 21. Juli begonnen,
zunächst durch die Einberufung einer Reihe der Reservejahrgänge7,
dann der deutschen Offiziere in der Schweiz8 und darauf am 25. Juli
der Garnison Metz9. Am 26. Juli war die deutsche Flotte aus Nor-
wegen zurückberufen worden10 11.
Nichtsdestoweniger setzt die Entente ihre vermittelnden Be-
mühungen fort; aber die deutsche Regierung macht systematisch
alle ihre Versuche zunichte. Als am 31. Juli Österreich zum ersten
Male einwilligte, mit der russischen Regierung den Inhalt der ser-
bischen Note11 zu erörtern, und der österreichisch-ungarische Ge-
sandte den Befehl erhielt, sich mit dem Minister des russischen Aus-
wärtigen Amtes „auszusprechen“, machte Deutschland jede Verhand-
lung unmöglich, indem es sein Ultimatum an Rußland richtete. „Es
hätte nur eines Zeichens von Berlin bedurft,“ schreibt Fürst Lieh-
1 Gelbbuch Nr. 54.
2 Gelbbuch Nr. 68 und 73.
3 Gelbbuch Nr. 97; Blaubuch Nr. 84.
4 Blaubuch Nr. 111.
5 Gelbbuch Nr. 97, 98 und 109.
6 Zweiter Bericht des Grafen Lerchenfeld, bayerischen Bevollmächtigten in
Berlin, durch Kurt Eisner veröffentlicht.
7 Gelbbuch Nr. 15.
8 23. Juli, Gelbbuch Nr. 60.
9 Gelbbuch Nr. 106.
10 Gelbbuch Nr. 58.
11 Blaubuch Nr. 133; Rotbuch Nr. 55.
11
Bericht der Interalliierten Kommission vom 29. 3. 1919
nowsky, „um den Grafen Berchtold zu bestimmen, sich mit einem
diplomatischen Erfolge zu begnügen und sich durch die serbische
Antwort beruhigt zu erklären, aber dieses Zeichen wurde nicht ge-
geben. Im Gegenteil, man hat zum Kriege gedrängt1.“
Am 1. August indes richtete der deutsche Kaiser an den König
von England ein Telegramm1 2, das folgenden Satz enthielt: „In
diesem Augenblick halten telegraphische und telephonische Befehle
die Truppen an meiner Grenze in ihrem Vormarsch über die fran-
zösische Grenze hinaus auf.“ Nun aber war dies zwei Tage vor der
Kriegserklärung, und da der deutsche Mobilmachungsbefehl von
eben diesem 1. August stammt, so folgt daraus tatsächlich, daß die
deutsche Armee auf Grund vorhergehender Befehle mobilisiert und
zusammengezogen worden war.
Bis zum Schluß bleibt die Entente so versöhnlich gestimmt, daß
Nikolaus II. in dem Augenblicke, in dem die deutsche Flotte Libau
beschießt, Wilhelm II. sein Ehrenwort gibt, daß Rußland während
der Dauer der Verhandlungen keinen herausfordernden Schritt unter-
nehmen würde3; und während die deutschen Truppen ihren Vor-
marsch über die französische Grenze beginnen, telegraphiert Herr
Viviani an alle französischen Botschafter: „Wir dürfen nicht auf-
hören, an einer Verständigung zu arbeiten.“
Am 3. August begibt sich Herr von Schoen als Überbringer der
Kriegserklärung an Frankreich zum Quai d’Orsay. In Ermangelung
wirklicher Gründe bringt er angebliche Bombenabwürfe durch fran-
zösische Flugzeuge in verschiedenen Gegenden Deutschlands vor.
Diese Behauptung ist in vollem Umfange unzutreffend. Zu allem
Überfluß haben die Deutschen dies selbst zugegeben (Erklärung des
Nürnberger Stadtrates vom 3. April 1916), oder vielmehr, sie haben
keine genauen Angaben für die Begründung ihrer Behauptung bei-
bringen können.
Offenbar, um frei von jedem Vorwurfe zu bleiben, hatte Frank-
reich durch eine Verfügung vom 30. Juli 1914 dafür Sorge getragen,
daß seine Truppen 10 km von der deutschen Grenze zurückgezogen
wurden, und trotz dieser Vorsichtsmaßregel gingen zahlreiche, amt-
lich festgestellte Verletzungen des französischen Gebietes der Kriegs-
erklärung voraus4.
1 Denkschrift Lichnowskys, S. 41.
2 Deutsches Weißbuch, Anlage 32; Gelbbuch, Anlage II, Nr. 2.
3 Telegramm Nikolaus II. an Wilhelm II. Gelbbuch, Anlage V, Nr. 6.
i Gelbbuch Nr. 106, 136, 139 usw.
a) Patrouillen verschiedener Stärke haben die französische Grenze an
15 Punkten überschritten: eine schon am 30. Juli bei Xures; acht am
2. August; die anderen vor der Kriegserklärung am 3. August.
Unter den französischen Truppen gab es einen Toten und
mehrere Verwundete. Der Feind ließ auf französischem Gebiet
4 Tote, darunter einen Offizier, und 7 Gefangene.
12
Anlage 1
Die Herausforderung war so offensichtlich, daß Italien, Mitglied
des Dreibundes, nicht zauderte, zu erklären, daß infolge des aggres-
siven Charakters des Krieges der casus foederis nicht vorläge1.
B. Türkei und Bulgarien. Der Konflikt mußte sich indessen
vergrößern und Deutschland und Österreich auf ihre Verbündeten
rechnen.
Die jungtürkische Regierung hatte sich seit den Balkankriegen
mehr und mehr Deutschland genähert; Deutschland seinerseits hatte
nicht aufgehört, seine Aktionsmittel in Konstantinopel zu erhöhen.
Einige Monate vor dem Kriege überließ die Türkei den Ober-
befehl über ihre Militär- und Marinestreitkräfte dem deutschen Ge-
neral Liman von Sanders und dem deutschen Admiral Souchon.
Im August 1914 ließ General Liman von Sanders auf Befehl
des Generalstabs in Berlin zur Mobilisierung der ottomanischen
Armee schreiten* 1 2.
Am 4. endlich fand das Übereinkommen der Türkei und Deutsch-
lands in einem Bündnis seinen endgültigen Ausdruck3. Und als die
deutschen Schiffe „Goeben“ und „Breslau“ ihre Zuflucht im Bos-
porus nahmen, verschloß die Türkei dem Ententegeschwader die
Dardanellen. Daraus ergab sich der Krieg.
Am 14. Oktober 1915 erfolgte die Kriegserklärung Bulgariens
an Serbien, das schon seit dem 28. Juli 1914 mit Österreich im
Kriege war, und das seit dem 6. Oktober 1915 von einer großen
österreichisch-deutschen Armee auf allen Schlachtfronten angegriffen
war. Serbien hatte sich jedoch gegen Bulgarien keine herausfor-
dernde Handlung zuschulden kommen lassen.
Während der seit Beginn des europäischen Krieges zwischen den
Ententemächten und Bulgarien geführten Unterhandlungen, die bis
zum Eintritt dieses Landes in den Krieg dauerten, hatte Serbien
keinerlei Ansprüche hinsichtlich Bulgariens erhoben. Ganz im Gegen-
teil hatte Serbien darin eingewilligt, Bulgarien Gebietsabtretungen
zu gewähren, um die Bemühungen der Entente, Bulgarien auf ihre
Seite zu ziehen, zu unterstützen. Aber schon seit dem 18. Juli 1914
hatte Bulgarien nach den Berichten des Grafen Lerchenfeld Unter-
handlungen mit den Zentralmächten begonnen, um an ihrer Seite in
den Krieg einzutreten. Im Monat April 1915 unternahmen die Bul-
garen einen Angriff gegen Serbien bei Valandovo und Stroumitza,
b) Am 2. August schafft der Feind in Suarce 9 Einwohner, 25 Pferde
und 3 Wagen weg.
c) Zwischen dem 25. Juli und dem 1. August sind 4 Einfälle deutscher
lenkbarer Luftschiffe über französischem Gebiet gemeldet worden.
d) Endlich haben deutsche Flugzeuge Luneville am 3. August vor der
Kriegserklärung überflogen und dort 6 Bomben abgeworfen (Bericht
der Ortsbehörden).
1 Gelbbuch Nr. 124.
2 H. Morgenthau, Geheimnisse des Bosporus, London 1918, Seite 39 und 40.
3 Griechisches Weißbuch 1913, 1917, Nr. 19 und 20.
13
Bericht der Interalliierten Kommission vom 29. 3. 1919
wo eine richtige Schlacht auf serbischem Gebiet geschlagen wurde.
Geschlagen zogen sich die Bulgaren zurück, indem sie diesen An-
griff auf Rechnung der Komitadschis schoben. Aber eine aus Ver-
tretern der Entente bestehende internationale Kommission fand unter
den Toten und Gefangenen Offiziere und Soldaten der regulären bul-
garischen Armee1.
Am 6. September 1915 schlossen Bulgarien und Österreich-
Ungarn einen Vertrag ab, worin sie ihre Übereinstimmung zum
Zwecke einer gemeinsamen militärischen Aktion gegen Serbien fest-
legten. Auf Grund dieses Abkommens garantierte die österreichisch-
ungarische Regierung auf Kosten Serbiens der Regierung in Sofia
gewisse Gebietsabtretungen und verpflichtete sich, gemeinsam mit
Deutschland, der bulgarischen Regierung eine Kriegsanleihe bis zu
200000000 Fr. zu gewähren, ein Betrag, der zu erhöhen wäre, falls
der Krieg länger als vier Monate dauern würde1 2. Zu diesem Zeit-
punkt nahm Herr Malinoff, ehemaliger bulgarischer Ministerpräsi-
dent, an den Verhandlungen mit der Entente teil, und noch im Laufe
dieser Unterhandlungen mobilisierte Bulgarien am 23. September
1915, angeblich, um seine Neutralität zu stärken. Aber sobald die
Mobilisierung und die Zusammenziehung der Armee vollendet und
die bulgarischen Truppen längs der serbischen Grenze aufgestellt
waren, desavouierte die bulgarische Regierung Herrn Malinoff
öffentlich und kategorisch, indem sie sagte, daß er keineswegs be-
fugt gewesen sei, Bulgarien zu binden, und daß er unter diesen Um-
ständen durch sein Verhalten verdient hätte, „die Strenge der Landes-
gesetze zu fühlen“. Einige Tage später überschritten die deutsch-
österreichischen Truppen die Donau und begannen ihren Einfall in
Serbien.
Sobald die serbischen Truppen anfingen, sich zurückzuziehen,
entfesselten die Bulgaren auf ihrer Seite unter dem Vorwände, daß
die Serben ihre Grenze verletzt hätten, den Angriff, der zur völligen
Unterjochung Serbiens führen sollte.
Nun aber stellen zwei im Besitz der serbischen Regierung be-
findliche Urkunden in zweifelsfreier Weise fest, daß dieser Vorfall
an der serbisch-bulgarischen Grenze von Bulgarien selbst in Szene
gesetzt und nachträglich als eine serbische Herausforderung hin-
gestellt wurde. Tatsächlich teilte am 10. Oktober 1915 der General-
sekretär des Auswärtigen Amtes in Sofia im Aufträge des bulga-
rischen Außenministers dem Grafen Tarnowski, österreichisch-unga-
rischen Gesandten in Sofia, folgendes mit: „Um dem Angriff auf
Serbien den Anschein einer abgekarteten Sache zu nehmen, wird
man heute abend oder morgen früh einen Grenzzwischenfall in einer
1 Denkschrift der serbischen Delegation, Kap. 1, § 2, C.
2 Vertrag vom 24. August/6. September 1915 zwischen Österreich-Ungarn und
Bulgarien (von der serbischen Delegation gelieferte Urkunden).
14
Anlage 1
unbewohnten Gegend provozieren1“. Und am 12. Oktober 1915 tele-
graphierte Graf Tarnowski nach Wien: „Der kommandierende Ge-
neral teilt mir mit, daß der gewünschte Vorfall an der serbischen
Grenze gestern arrangiert worden ist1 2.“
Der erste bulgarische Angriff erfolgte am 12. Oktober 1915
und ging also der Kriegserklärung an Serbien vom 14. Oktober 1915
zwei Tage voraus, was aber Bulgarien nicht hindert, zu behaupten,
daß die Serben zuerst die Grenze überschritten hätten.
Aus der Verkettung der vorstehenden Tatsachen ist klar zu er-
sehen, daß Bulgarien den Krieg gegen Serbien absichtlich geplant
und ihn durch eine perfide Inszenierung vorbereitet hatte.
Unterstützt von deutschen Agenten waren Enver Pascha und
Talaat Pascha schon im Frühjahr 1914 von dem österreichisch-
deutschen Plane unterrichtet worden: Attentat Österreichs auf Ser-
bien, Einschreiten Deutschlands gegen Frankreich, Durchzug durch
Belgien und Einnahme von Paris innerhalb von 14 Tagen, Schließung
der Meerengen durch die Türkei, Vorbereitung Bulgariens für den
Krieg. Der Sultan gestand einem seiner Intimen die von vier Staats-
oberhäuptern gegen die Unabhängigkeit Serbiens und den euro-
päischen Frieden angezettelte Verschwörung3.
Schlußfolgerungen
Der Krieg ist von den Zentralmächten ebenso wie
von ihren Verbündeten, der Türkei und Bulgarien, mit
Vorbedacht geplant worden, und er ist das Ergebnis
von Handlungen, die vorsätzlich und in der Absicht be-
gangen wurden, ihn unabwendbar zu machen.
In Übereinstimmung mit Österreich-Ungarn hat
Deutschland vorsätzlich daran gearbeitet, die zahl-
reichen vermittelnden Vorschläge der Ententemächte
auf die Seite zu schieben und ihre wiederholten Be-
mühungen, den Krieg zu verhüten, zunichte zu machen.
II. Verletzung der belgischen und luxemburgischen Neutralität
Auf Deutschland lastet eine besonders schwere Verantwortung,
nämlich die für den Einfall in Belgien und Luxemburg, wodurch
deren Neutralität verletzt wurde. Durch den Artikel 1 des Londoner
Vertrages vom 19. April 1839, in dem erklärt wurde, daß Belgien
einen „ewig neutralen Staat“ bilden würde, war diese Neutralität
dem Schutze Österreichs, Frankreichs, Großbritanniens, Rußlands
und Preußens unterstellt worden. Am 9. August 1870 hatte Preußen
1 Denkschrift der serbischen Delegation, I, Kap. II, Paragr. C.
2 Denkschrift der serbischen Delegation, a. a. O.
8 Basri Bey, Der entbalkanisierte Orient und Albanien, Kap. II, Paris 1919.
15*
Bericht der Interalliierten Kommission vom 29. 3. 1919
seinen festen Willen bekundet, „die belgische Neutralität zu respek-
tieren“. „Eine überflüssige Erklärung“, schrieb Bismarck am 22. Juli
1870, „angesichts der bestehenden Verträge“1.
Es ist nicht uninteressant, bei dieser Gelegenheit daran zu er-
innern, daß das fünfte Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907
die Wirkungen der Neutralität, so wie sie sich aus dem Völkerrechts-
grundsatze ergeben, präzisiert hatte. Es sind daraus folgende Bestim-
mungen hervorzuheben: „Das Gebiet der neutralen Mächte ist un-
verletzlich“ (Art. 1). „Es ist den Kriegführenden untersagt, durch
das Gebiet einer neutralen Macht Truppen oder Munitions- oder
Proviantzüge zu führen“ (Art. 2). „Die Tatsache, daß eine neutrale
Macht, selbst mit Gewalt, Angriffe auf die Neutralität abwehrt,
kann nicht als feindselige Handlung betrachtet werden“ (Art. 10).
Weder an der zwingenden Kraft der Verträge, welche die bel-
gische Neutralität verbürgen, noch an der Aufrichtigkeit Belgiens
und ebensowenig an jener Frankreichs, was die Einhaltung und Re-
spektierung dieser Neutralität betrifft, kann irgendein Zweifel be-
stehen.
Am 29. Juli 1914, am Tage nach der Kriegserklärung Öster-
reichs an Serbien, stellte Belgien seine Armee auf den verstärkten
Friedensfuß und benachrichtigte davon die seine Neutralität garan-
tierenden Mächte, ebenso wie Holland und Luxemburg1 2.
Als der französische Gesandte in Brüssel am 31. Juli den bel-
gischen Außenminister davon benachrichtigte, daß in Deutschland
der Kriegszustand angeordnet worden war, gab er ihm spontan fol-
gende Erklärung ab: „Ich benutze diese Gelegenheit, um Ihnen zu
erklären, daß kein Einfall französischer Truppen in Belgien statt-
finden wird, selbst wenn bedeutende Streitkräfte an den Grenzen
Ihres Landes aufgestellt werden. Frankreich will nicht dafür ver-
antwortlich sein, Belgien gegenüber die erste feindselige Handlung
begangen zu haben. In diesem Sinne sind Weisungen an die fran-
zösischen Behörden ergangen3.“
Am 1. August wurde die belgische Armee mobilisiert4.
Am 31. Juli hatte die englische Regierung bei der französischen
und der deutschen Regierung getrennt angefragt, ob jede von ihnen
bereit sei, die belgische Neutralität zu respektieren, wofern keine
Macht sie verletze4.
Als der englische Gesandte am selben Tage die belgische Re-
gierung von diesem durch die britische Regierung gefaßten Ent-
schluß Mitteilung machte, fügte er folgende Worte hinzu: „An-
gesichts der bestehenden Verträge bin ich beauftragt, dem belgischen
1 An den belgischen Gesandten in Paris.
2 Graubuch, I, Nr. 8.
3 Graubuch I, Nr. 9.
4 Graubuch I, Nr. 10.
16
Anlage 1
Außenminister Vorstehendes mitzuteilen, um zu sagen, daß Sir
Edward Qrey annimmt, daß Belgien alles tun wird, um seine Neu-
tralität aufrechtzuerhalten, und daß es wünscht und erwartet, daß
die anderen Mächte sie beobachten und aufrechterhalten1.“
Die sofortige und vollkommen klare Antwort des belgischen
Außenministers lautete: daß Großbritannien und die anderen, die
Unabhängigkeit Belgiens garantierenden Nationen versichert sein
könnten, daß Belgien keine Anstrengungen scheuen würde, um
seine Neutralität aufrechtzuerhalten1.
Am selben Tage stellte England die von ihm angekündigte
Frage offiziell in Paris und in Berlin. Die in Paris gegebene Ant-
wort war kategorisch: „Die französische Regierung ist entschlossen,
die belgische Neutralität zu respektieren, und nur in dem Falle,
daß eine andere Macht diese Neutralität verletzen würde, könnte
Frankreich sich gezwungen sehen, seine Handlungsweise zu ändern,
um seine eigene Verteidigung sicherzustellen1 2.“
Zur gleichen Zeit, d. h. schon am 1. August, machte der fran-
zösische Gesandte in Brüssel dem belgischen Außenminister fol-
gende Mitteilung: „Ich bin beauftragt, zu erklären, daß für den
Fall eines internationalen Konfliktes die Regierung der Republik,
wie sie es schon erklärt hat, die Neutralität Belgiens respektieren
wird. Wenn eine andere Macht diese Neutralität nicht respektieren
würde, könnte die französische Regierung sich veranlaßt sehen,
ihre Haltung zu ändern, um ihre eigene Verteidigung sicherzu-
stellen3.“
Es wurde beschlossen, die belgische Presse sofort von dieser
Mitteilung in Kenntnis zu setzen.
Die Haltung der deutschen Regierung hingegen blieb rätselhaft.
In Brüssel bemühte sich der deutsche Gesandte, Herr von Below,
in seinen Besprechungen, das Vertrauen aufrechtzuerhalten4; aber
in Berlin teilt der Staatssekretär in Beantwortung der von der eng-
lischen Regierung offiziell gestellten Frage dem englischen Bot-
schafter mit, „daß er den Kaiser und den Kanzler befragen müsse,
ehe er eine Antwort geben könne5“.
Noch am 2. August hatte Herr von Below im Laufe des Tages
bei dem belgischen Minister, Herrn Davignon, betont, daß Belgien
berechtigt sei, seinen östlichen Nachbarn gegenüber ein Gefühl der
Sicherheit zu hegen4, und an diesem Tage, um 7 Uhr abends, über-
reichte er ihm eine „streng vertrauliche“ Note, die nichts anderes
1 Qraubuch I, Nr. 11.
2 Blaubuch Nr. 125.
3 Qraubuch I, Nr. 15.
4 Qraubuch I, Nr. 19.
6 Blaubuch Nr. 122.
2* Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente.
17*
Bericht der Interalliierten Kommission vom 29. 3. 1919
war als ein Ultimatum, das für die deutschen Truppen den freien
Durchzug durch das belgische Gebiet forderte1.
Man konnte sich über den rein imaginären Charakter des von
der deutschen Regierung zur Unterstützung ihrer Forderung an-
geführten Grundes unmöglich einer Täuschung hingeben. Sie be-
hauptete, im Besitz sicherer Nachrichten zu sein, die „keinen Zweifel
über die Absicht Frankreichs, über belgisches Gebiet nach Deutsch-
land zu marschieren, zuließen“, und zeigte infolgedessen ihren Ent-
schluß an, die deutschen Streitkräfte belgisches Gebiet betreten zu
lassen1.
Die Tatsachen selbst widerlegen die deutsche Behauptung, wo-
nach Frankreich die Absicht gehabt hätte, die belgische Neutralität
zu verletzen: in diesem selben Augenblick konzentrierten sich die
französischen Truppen auf Grund des Mobilmachungsplanes tat-
sächlich an der deutschen Grenze, und diese Konzentration mußte
noch während der Truppentransporte angesichts der Lage, welche
die deutsche Verletzung des belgischen Gebietes geschaffen hatte,
geändert werden.
Indes hatte Belgien am 3. August, 7 Uhr morgens, nach Ablauf
der durch das Ultimatum festgesetzten Frist, dem deutschen Ge-
sandten seine Antwort überreicht. Ohne bei den deutschen Ver-
sprechungen oder Drohungen zu verweilen, erklärte die belgische
Regierung feierlich, daß die Verletzung der Unabhängigkeit Belgiens
eine offenbare Übertretung des Völkerrechts darstelle. „Kein stra-
tegisches Interesse“, fügte sie hinzu, „entschuldigt die Verletzung
des Rechtes. Wenn die belgische Regierung die ihr angezeigten
Vorschläge annehmen würde, würde sie die Ehre der Nation wie
auch ihre Pflichten Europa gegenüber verraten“, und zum Schluß
erklärte die belgische Regierung, fest entschlossen zu sein, durch
alle in ihrer Macht stehenden Mittel jeden Angriff auf ihr Recht
zurückzuweisen 1 2.
In Erwartung der tatsächlichen Verletzung seines Gebietes ver-
sagte es sich Belgien noch am 3. August, die Garantiemächte an-
zurufen 3.
Erst am 4. August, nachdem die deutschen Truppen belgisches
Gebiet betreten hatten, überreichte die belgische Regierung Herrn
von Below seine Pässe4 und rief England, Frankreich und Rußland
an, damit diese in ihrer Eigenschaft als Garantiemächte an der
Verteidigung ihres Gebietes mitwirkten5. Hier ist es angezeigt,
daran zu erinnern, daß der von Deutschland für seine Verletzung der
1 Graubuch I, Nr. 20.
2 Graubuch I, Nr. 22.
3 Graubuch I, Nr. 24.
4 Graubuch I, Nr. 30.
6 Graubuch I, Nr. 42.
18*
Anlage 1
belgischen Neutralität angeführte Vorwand, um belgisches Gebiet
zu betreten, der deutschen Regierung selbst so wenig beweiskräftig
erschien, daß in den Unterredungen Sir Edward Goschens mit dem
Kanzler und dem Staatssekretär von Jagow keineswegs von den
französischen Angriffsabsichten die Rede war, sondern davon, daß
„das Durchschreiten Belgiens sowie das Verletzen seiner Neutralität
für Deutschland eine Lebensfrage bedeute“ und von „Papier-
fetzen1“. Außerdem gab dies der deutsche Kanzler in seiner Rede
vom 4. August durch die berühmten Worte zu: „Meine Herren, wir
sind in der Notwendigkeit gewesen, uns zu verteidigen, und Not
kennt kein Gebot. Unsere Truppen haben Luxemburg besetzt und
vielleicht schon belgisches Gebiet betreten. Meine Herren, das
widerspricht den Geboten des Völkerrechts .... Wir waren ge-
zwungen, uns über den berechtigten Protest Belgiens und Luxem-
burgs hinwegzusetzen. Dieses Unrecht — ich spreche offen —
werden wir wieder gutmachen, sobald unser militärisches Ziel er-
reicht ist. Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft,
der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut1 2.“
Diesem Geständnisse des deutschen Kanzlers, Herrn von Beth-
mann Hollweg, schließt sich das erdrückende Zeugnis des Grafen
Lerchenfeld an, der in einem Bericht vom 4. August 1914 anführt,
daß der deutsche Generalstabschef es für „nötig erachtet, durch
Belgien zu ziehen. Frankreich, sagt er, kann nur von dieser Seite
her angegriffen werden. Deutschland könnte die belgische Neutrali-
tät nicht respektieren, selbst wenn es Gefahr liefe, Englands Ein-
schreiten herauszufordern“.
Was die österreichische Regierung betrifft, so wartete sie bis
zum 28. August, um Belgien den Krieg zu erklären3; aber von
Mitte dieses Monats ab haben die großen von Österreich entsandten
„Motor-Batterien ihre Vortrefflichkeit in den Kämpfen um Namur
bewiesen“, wie dies aus einer Proklamation des deutschen General-
leutnants hervorgeht, der zu diesem Zeitpunkte die Festung Lüttich,
der sich die deutschen Truppen eben bemächtigt hatten, befehligte4.
Der Anteil, den Österreich-Ungarn an der Verletzung der belgischen
Neutralität hat, wird demnach durch die Tatsache verschärft, daß
es sich ohne vorangegangene Kriegserklärung daran beteiligt hat.
B. Luxemburg. Die Neutralität Luxemburgs war durch den
Artikel 2 des Londoner Vertrages vom 11. Mai 1867 garantiert.
Preußen und Österreich zählten zu den Garantiemächten. Am
2. August 1914 drangen die deutschen Truppen in das Gebiet des
1 Blaubuch Nr. 160.
2 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Dienstag,
4. August 1914. Siehe auch E. Müller, Der Weltkrieg und das Völkerrecht,
Berlin, O. Reimer, 1915, S. 24 u. ff.
3 Oraubuch I, Nr. 77.
4 Graubuch II, Nr. 104.
2*
19
Bericht der Interalliierten Kommission vom 29. 3. 1919
Qroßherzogtums ein. Der Staatsminister, Herr Eyschen, erhebt so-
fort energischen Einspruch1.
Die deutsche Regierung gab vor, „daß die militärischen Maß-
nahmen unvermeidlich geworden waren, weil sie glaubwürdige Nach-
richten erhalten hätte, wonach französische Streitkräfte sich im
Vormarsch auf Luxemburg befänden“. Diese Behauptung wurde
sofort von Herrn Eyschen dementiert (Depesche an den deutschen
Außenminister vom 2. August 1914).
Schlußfolgerung
Deutschland und Österreich haben vorsätzlich die
durch die Verträge vom 19. April 1839 garantierte bel-
gische Neutralität und die durch den Vertrag vom
11. Mai 1867 Luxemburg gegenüber garantierte Neutra-
lität verletzt.
Folgt:
Kapitel II—V
Dazu 4 Anhänge, deren zweiter und dritter die Vorbehalte der
amerikanischen bzw. japanischen Delegation zur Schuldfrage ent-
halten.
1 Oelbbuch Nr. 151.
20*
Anlage 1 a
Von der amerikanischen Delegation formulierte Vorbehalte1.
(Übersetzung) 4. April 1919
Die amerikanischen Delegierten bei der Verantwortlichkeits-
kommission erklären, indem sie die Vorbehalte vorlegen, die sie zu
dem Bericht der Kommission machen, daß sie, ebenso wie die
übrigen Kommissionsmitglieder, den lebhaften Wunsch hegen, daß
sowohl diejenigen, die für die Ursachen des großen Krieges, als
auch jene, die für die Verletzung der Kriegsgesetze und -gebräuche
verantwortlich sind, für ihre moralischen und gegen das Gesetz ver-
stoßenden Verbrechen bestraft werden. Die Meinungsverschieden-
heiten, die sich zwischen ihnen und ihren Kollegen ergeben haben,
beziehen sich auf die Mittel und Wege, die diesen gemeinsamen
Wunsch verwirklichen sollen. In dieser Denkschrift unterbreiten die
amerikanischen Delegierten der Vorfriedenskonferenz somit einer-
seits die Gründe für ihre abweichende Meinung sowohl hinsichtlich
des Kommissionsberichtes als auch einzelner Artikel (Anlage IV),
die in den Vorfriedensvertrag aufgenommen werden sollen, und
andererseits die Vorschläge über das Verfahren, das nach ihrer An-
sicht eingeschlagen werden sollte hinsichtlich der Materien, über
welche die Verantwortlichkeitskommission einen Bericht abzufassen
beauftragt ist.
Ehe wir in eine Untersuchung der strittigen Punkte und der
entstandenen unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten, die die-
sen Bericht über unsere Vorbehalte veranlaßt haben, eintreten,
möchten wir dem versöhnlichen und umsichtigen Geist, den unsere
Kollegen im Laufe der zahlreichen und langen Sitzungen bewiesen
haben, unsere volle Anerkennung ausdrücken. Schon in der ersten
Sitzung am 3. Februar 1919 zeigte jedermann den lebhaften Wunsch,
die bestehenden Zwistigkeiten zu schlichten, eine für alle annehm-
bare Formel zu finden und, wenn möglich, einen einstimmigen Be-
richt zustande zu bringen. Wenn dieser Zweck nicht erreicht wurde,
so liegt dies nicht an den mangelnden Bemühungen irgendwelcher
Kommissionsmitglieder. Es gelang dies nicht, weil, nachdem aufrich-
tig und offen alle Schlichtungsmittel versucht waren, man keinen
praktischen Verständigungsweg finden konnte, ohne wesentliche
Grundsätze aufzugeben. Dies konnten die Vertreter der Vereinigten
1 Anhang II zu dem vorstehend abgedruckten Bericht der Interalliierten Kommis-
sion vom 29. März 1919.
21
Amerikanische Vorbehalte vom 4. 4. 1919
Staaten nicht tun, ebensowenig konnten sie dies von den anderen
verlangen.
Im Laufe der ersten Versammlungen der Kommission und der
drei Unterkommissionen, die dafür eingesetzt wurden, um die der
Kommission unterbreitete Materie nach allen Seiten hin zu unter-
suchen, haben die amerikanischen Delegierten erklärt, daß es hier
eine zweifache Schuld gäbe, nämlich eine Schuld, die gegen das
Gesetz verstößt, und eine Schuld, die gegen die Moral verstößt, daß
die im Gesetz vorgesehenen Übertretungen dem Urteile und der
Bestrafung durch die dazu berufenen Gerichte unterliegen, während
die moralischen Verbrechen, so widerrechtlich und infam sie auch
sein mögen, und welche schrecklichen Folgen sie auch nach sich
gezogen haben mögen, nicht dem gerichtlichen Verfahren unter-
ständen, sondern nur eine moralische Verurteilung nach sich ziehen
können.
Wenn nun hinsichtlich der Verantwortlichkeit der Urheber des
Krieges die Kommission sich diesen Grundsatz in ihrem Bericht zu
eigen gemacht zu haben scheint, so scheint sie sich seiner Anwen-
dung zu widersetzen in dem Falle einer indirekten Verantwortlich-
keit bei Übertretungen der Kriegsgesetze und -gebräuche, die nach
Beginn und während des Krieges verübt worden sind. Es wird er-
gebenst darauf hingewiesen, daß diese Inkonsequenz zum großen
Teil verursacht wird durch die Absicht, gewisse hochstehende Per-
sönlichkeiten, insbesondere die feindlichen Staatsoberhäupter, zu
bestrafen, obwohl bis jetzt die Staatsoberhäupter vor dem Gesetz
nicht für verantwortlich gehalten wurden für Grausamkeiten, die
ihnen unterstellte Behörden begangen haben. Die amerikanischen
Delegierten der Kommission haben sich geweigert, ihre Einwilligung
zu dieser Inkonsequenz zu geben, und von dem Augenblick an, wo
es offenbar wurde, daß gewisse Kommissionsmitglieder fest dazu
entschlossen waren, haben sie an der Möglichkeit einer vollen Über-
einstimmung gezweifelt. Dennoch haben sie ihre Bemühungen fort-
gesetzt, um die Annahme einer festen Basis von Grundsätzen zu er-
reichen in der Meinung, daß es wünschenswert sei, soweit wie mög-
lich zu einer Einstimmigkeit zu gelangen. Sie bedauern lebhaft, daß
ihre Bemühungen umsonst gewesen sind.
In der offenbaren Absicht, die erwähnten Persönlichkeiten ab-
zuurteilen und zu bestrafen, wurde die Einsetzung eines hohen Ge-
richtshofes internationalen Charakters vorgeschlagen, um vor ihn
diejenigen zu berufen, die als verantwortlich anzusehen wären nicht
nur dafür, gesetzwidrige Kriegshandlungen direkt befohlen zu haben,
sondern auch dafür, daß sie es unterlassen hätten, derartige Hand-
lungen zu verhindern.
In Anbetracht der Wichtigkeit und der Neuheit eines derartigen
Prozesses unterbreitet die amerikanische Delegation der Kommission
22*
Anlage 1 a
eine Denkschrift über die Konstituierung und das Verfahren eines
Gerichtshofes internationalen Charakters, der in ihren Augen sich
aus der Vereinigung schon bestehender nationaler Militärgerichte
oder aus Kommissionen von vorstehend anerkannter Kompetenz zu-
sammensetzen sollte. Und in Anbetracht des Umstandes, daß man
„Gebräuche“ und „Gesetze“ berücksichtigen müßte, haben sie eine
andere Denkschrift im Anschluß an die vorliegende über jene Grund-
sätze vorgelegt, die nach ihrer Ansicht die Kommission bei ihrer
Untersuchung und bei der Abfassung ihres Berichtes leiten sollten.
Die in dieser Denkschrift vorgeschlagenen Grundsätze wurden
hinsichtlich ihrer praktischen Anwendung durch die Militärkom-
missionen zum Teil angenommen. Man verharrte jedoch bei der An-
schauung, einen hohen Gerichtshof einzusetzen für die Aburteilung
von Persönlichkeiten, die souveräne Rechte ausüben, und man be-
tonte den Umstand, daß sie es unterlassen hätten, die Übertretungen
von Kriegsgesetzen und -gebräuchen und von Gesetzen der Mensch-
lichkeit zu verhindern. Es wurde offen festgestellt, daß man be-
zwecke, den deutschen Ex-Kaiser vor dieses Gericht zu berufen,
dessen Jurisdiktion ausgedehnt genug sein sollte, um ihn zu ver-
urteilen, sogar für Fälle, in denen er die Übertretungen nicht direkt
angeordnet hätte.
Die amerikanischen Delegierten haben sich geweigert, ihre Zu-
stimmung zu dem noch nicht dagewesenen Vorschläge zur Ein-
setzung eines internationalen Kriminalgerichtes zu geben, sowie dem
Grundsätze der negativen Strafbarkeit zuzustimmen.
Am 25. Januar 1919 hat die Vorfriedenskonferenz in einer Voll-
sitzung die Bildung einer Konferenz anempfohlen, die beauftragt ist,
die folgenden fünf Punkte zu prüfen und darüber einen Bericht an
die Konferenz zu erstatten:
1. Die Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges.
2. Handlungen, betreffend die von den Streitkräften des Deut-
schen Reiches und seiner Alliierten zu Lande, zu Wasser und
in der Luft im Laufe des gegenwärtigen Krieges begangenen
Verletzungen der Kriegsgesetze und -gebräuche.
3. In welchem Maße für diese Verbrechen die Mitglieder der
feindlichen Streitkräfte, im einzelnen genommen, verantwort-
lich sind, einschließlich der Mitglieder der Generalstäbe und
anderer Persönlichkeiten, so hoch sie auch gestellt sein
mögen.
4. Einsetzung eines für die Einleitung einer Untersuchung dieser
Verbrechen zuständigen Gerichtes und dessen Verfahren.
5. Alle anderen ähnlichen, mit den oben erwähnten Punkten ver-
knüpften Angelegenheiten, die im Laufe der Untersuchung
zutage treten und deren Erwägung die Kommission als nütz-
lich und geeignet erachten könnte.
23*
Amerikanische Vorbehalte vom 4. 4. 1919
I.
Die Schlußfolgerungen, zu welchen die Kommission in betreff
der Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges gelangt ist, und
welche die Zustimmung der Vertreter der Vereinigten Staaten haben,
sind folgendermaßen abgefaßt:
Der Krieg ist von den Zentralmächten ebenso wie von ihren
Verbündeten, der Türkei und Bulgarien, mit Vorbedacht ge-
plant worden, und er ist das Ergebnis von Handlungen, die
vorsätzlich und in der Absicht begangen wurden, ihn un-
abwendbar zu machen.
In Übereinstimmung mit Österreich-Ungarn hat Deutschland
vorsätzlich daran gearbeitet, die zahlreichen vermittelnden
Vorschläge der Ententemächte auf die Seite zu schieben und
ihre wiederholten Bemühungen, den Krieg zu verhüten, zu-
nichte zu machen.
Die amerikanischen Delegierten schätzen sich glücklich, zu er-
klären, daß sie nicht allein die Schlußfolgerungen annehmen, son-
dern auch die Begründung, durch die man dazu gelangt ist, und die
sie rechtfertigt. Abgesehen von den von der Kommission gemachten
Feststellungen, die zum großen Teil auf den offiziellen Denkschrif-
ten beruhen, die von den verschiedenen Regierungen veröffentlicht
wurden, um ihr Verhalten zu rechtfertigen in der serbischen Frage
und in dem sich daraus ergebenden Kriege — der entstanden war
infolge der vorsätzlichen Absicht Österreich-Ungarns und Deutsch-
lands, dieses tapfere kleine Land, das den Weg nach den Dar-
danellen hemmte und die Verwirklichung ihrer ehrgeizigsten Pläne
verhinderte, zu vernichten — lenken indes die amerikanischen Dele-
gierten die Aufmerksamkeit auf vier Urkunden, von denen drei durch
Seine Exzellenz Milanko R. Wesnitsch, serbischen Gesandten in
Paris, veröffentlicht wurden. Das erste dieser drei Schriftstücke wird
hier zum ersten Male wiedergegeben, und zwei der anderen sind erst
im Laufe der Kommissionssitzungen veröffentlicht worden.
Das erste dieser Schriftstücke ist ein Bericht des von Wiesner,
österreichisch-ungarischen Agenten, der nach Sarajevo entsandt
worden war, um über den in dieser Stadt am 28. Juni 1914 an dem
Erzherzog Franz Ferdinand, Erben des österreichisch-ungarischen
Thrones, und der Herzogin von Hohenberg, seiner morganatischen
Gemahlin, verübten Mord eine Untersuchung anzustellen.
Der wesentliche Teil dieses Berichtes ist in Telegrammform
folgendermaßen abgefaßt:
24
Anlage 1 a
Herr von Wiesner an Ministerium des Äußeren in Wien.
Sarajevo, 13. Juli 1914, 1.10 p. m.
Mitwissenschaft serbischer Regierung, Leitung am Attentat
oder dessen Vorbereitung und Lieferung der Waffen durch
nichts erwiesen oder auch nur zu vermuten. Es bestehen viel-
mehr Anhaltspunkte, dies als ausgeschlossen anzusehen.
Das zweite ist ebenfalls ein Telegramm, von Berlin vom
25. Juli 1914 datiert, das Qraf Szögyenyi, österreichisch-ungarischer
Botschafter in Berlin, an den Außenminister in Wien richtet. Es
lautet folgendermaßen:
Qraf Szögyenyi an Minister des Äußeren in Wien
Berlin, 25. Juli 1914.
285. Hier wird allgemein vorausgesetzt, daß auf eventuelle
abweisende Antwort Serbiens sofort unsere Kriegserklärung
verbunden mit kriegerischen Operationen erfolgen werde.
Man sieht hier in jeder Verzögerung des Beginns der kriege-
rischen Operationen große Gefahr betreffs Einmischung an-
derer Mächte. Man rät uns dringendst sofort vorzugehen
und Welt vor ein fait accompli zu stellen.
Die dritte Urkunde, ebenfalls ein Chiffre-Telegramm, als „streng
vertraulich“ bezeichnet, von Berlin vom 27. Juli 1914 datiert, zwei
Tage nach der serbischen Antwort auf das österreichisch-ungarische
Ultimatum und am Vorabend des Tages, an dem Österreich-Ungarn
diesem sich aufopfernden Königreiche den Krieg erklärte, war durch
den österreichisch-ungarischen Botschafter in Berlin an den Außen-
minister in Wien gerichtet; der wesentliche Teil dieses Schriftstückes
ist folgender:
Graf Szögyenyi an Ministerium des Äußeren in Wien.
Berlin, den 27. Juli 1914.
307. Streng vertraulich.
Staatssekretär erklärte mir in streng vertraulicher Form
sehr entschieden, daß in der nächsten Zeit eventuell Vermitt-
lungsvorschläge Englands durch die deutsche Regierung zur
Kenntnis Euer Exzellenz gebracht würden.
Die deutsche Regierung versichere auf das bündigste, daß
sie sich in keiner Weise mit den Vorschlägen identifiziere,
sogar entschieden gegen deren Berücksichtigung sei und die-
selben nur, um der englischen Bitte Rechnung zu tragen,
weitergebe.
Von dem in obigem Telegramm erwähnten englischen Vor-
schläge kann folgende Stelle angeführt werden, die am 30. Juli 1914
25*
Amerikanische Vorbehalte vom 4. 4. 1919
von Sir Edward Qrey, dem Staatssekretär für auswärtige Angelegen-
heiten, an Sir Edward Qoschen, britischer Botschafter in Berlin,
telegraphiert wurde:
„Wenn man den europäischen Frieden erhalten und durch die
gegenwärtige Krisis ohne Schaden hindurchkommen kann, werde
ich persönlich alles in meinen Kräften Stehende tun, um ein
Abkommen zustande zu bringen, an dem Deutschland teil-
nehmen könnte, und das ihm die Sicherheit geben würde, daß
Frankreich, Rußland und wir weder einzeln noch gemeinsam gegen
Deutschland oder seine Verbündeten eine herausfordernde oder
feindselige Politik verfolgen1.“
Jeder Kommentar über diese Telegramme wäre nur dazu an-
getan, ihre Wucht und ihre Wirkung abzuschwächen; indes könnte
hervorgehoben werden, daß das letzte zwei Tage vor der deutschen
Kriegserklärung an Rußland datiert. Diese Kriegserklärung hätte
vermieden werden können, wenn Deutschland, begeistert durch die
Hoffnung auf den Krieg und die Früchte der Eroberung, nicht ent-
schlossen gewesen wäre, den Krieg aufzuzwingen.
Der Kommissionsbericht behandelt getrennt die Verletzung der
belgischen Neutralität und jene Luxemburgs und kommt zu dem
Schluß, dem sich die amerikanischen Delegierten anschließen, daß
die Neutralität der beiden Länder vorsätzlich verletzt worden ist.
Die amerikanischen Delegierten glauben indessen, daß es nicht ge-
nügt, mit der Kommission zu erklären und zu erwägen, „daß der
Krieg von den Zentralmächten vorsätzlich geplant wurde, daß
Deutschland in Übereinstimmung mit Österreich-Ungarn absichtlich
sich bemüht hat, die zahlreichen vermittelnden Vorschläge der En-
tentemächte und ihre wiederholten Anstrengungen, um den Krieg
zu vermeiden, zunichte zu machen“, und zu sagen, daß die belgische,
durch den Vertrag vom 19. April 1839 garantierte Neutralität und
jene Luxemburgs, die durch den Vertrag vom 11. Mai 1867 garan-
tiert war, absichtlich durch Deutschland und Österreich-Ungarn ver-
letzt wurde. Sie sind vielmehr der Ansicht, daß diese Handlungen
in ausdrücklichen Worten verurteilt werden müssen, und daß ihre
Urheber Gegenstand des Abscheues der Menschheit werden sollen.
II, III, IV betreffen andere Fragen.
Robert Lansing
James Brown Scott
1 Britische Parlamentspapiere, Miscellaneous, Nr. 10 (1915). Gesammelte Doku-
mente betreffend den Ausbruch des europäischen Krieges, S. 78.
26*
Anlage 2
Deutsche Gegenbemerkungen zur Schuldfrage vom 27. Mai 1919
Überreichungsnote des Grafen Brockdorff-Rantzau vom 28.M3Ü9191
Deutsche Friedensdelegation Versailles, den 28. Mai 1919
Herr Präsident!
Die alliierten und assoziierten Regierungen haben es in dem
Schreiben Euerer Exzellenz vom 20. Mai abgelehnt, den Bericht
der von ihnen eingesetzten Kommissionen zur Prüfung der Ver-
antwortlichkeit der Urheber des Krieges den deutschen Delegierten
mitzuteilen. Da aber wesentliche Teile des Berichtes in der Presse
veröffentlicht worden sind, haben die deutschen Delegierten eine
Kommission von unabhängigen Deutschen, nämlich die Herren Hans
Delbrück, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Graf Max Montgelas
und Max Weber, gebeten, die Angaben dieses Berichtes nachzu-
prüfen und dazu Stellung zu nehmen. Die Bemerkungen der ge-
nannten Herren zu dem Bericht der Kommission der alliierten und
assoziierten Regierungen über die Verantwortlichkeit der Urheber
des Krieges beehre ich mich Euerer Exzellenz in der Anlage zu
übersenden.
Genehmigen Sie, Herr Präsident, den Ausdruck meiner aus-
gezeichneten Hochachtung. gez. Brockdorff-Rantzau
An
Seine Exzellenz Herrn Clemenceau,
Präsident der Friedenskonferenz usw.
Bemerkungen zum Bericht der Kommission der alliierten und asso-
ziierten Regierungen über die Verantwortlichkeiten der Urheber
des Krieges1 2
I. Notwendigkeit unparteiischer Untersuchung
Die Unterzeichneten sind der Ansicht, daß die Frage der Ver-
antwortlichkeit am Kriegsausbruch nicht von einer Seite, die selbst
1 Wörtlich nebst sämtlichen Anlagen und Unter-Anlagen abgedruckt im „Weiß-
buch betreffend die Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges“, Berlin,
Juni 1919, S. 35ff., sowie in „Das deutsche Weißbuch über die Schuld am
Kriege mit der Denkschrift der deutschen Viererkommission zum Schuldbericht
der Alliierten und Assoziierten Mächte vom 29. März 1919“, S. 63 ff. (Sogenannte
Prof essoren-Denkschrif t.)
2 Siehe Anlage 1, oben S. 3* ff.
27*
Deutsche Gegenbemerkungen vom 27. 5. 1919
Partei ist, entschieden werden kann, sondern daß nur eine von beiden
Seiten als unparteiisch anerkannte Untersuchungskommission, der
alle Archive zugänglich sind, und vor der beide Parteien gleich-
mäßig zu Worte kommen, den Versuch wagen kann, ein Urteil dar-
über zu fällen, welches Maß von Verantwortung jeder einzelnen Re-
gierung daran zufällt, daß die von allen Völkern gefürchtete Kata-
strophe über die Menschheit hereingebrochen ist.
Von den vielen völlig unhaltbaren Ansichten, die in dem Bericht
der Kommission der alliierten und assoziierten Regierungen aus-
gesprochen sind, werden die auf rein militärische Fragen sich be-
ziehenden Punkte in den Anlagen I—III behandelt1. Auf die poli-
tischen Fragen soll im nachstehenden in tunlichster Kürze ein-
gegangen werden.
II. Die diplomatischen Verhandlungen
Einleitend muß bemerkt werden, daß von einer erdrückenden
Überlegenheit des deutschen Heeres in keiner Weise gesprochen
werden kann. Unanfechtbare Zahlen beweisen, daß, von Landsturm
und gleichwertigen Formationen abgesehen, Deutschland und Öster-
reich-Ungarn bei 116000000 Einwohnern nicht ganz 6000000 Strei-
ter, Rußland und Frankreich aber bei einer Volkszahl von 210000000
reichlich 9000000 ins Feld stellen konnten. Eine erdrückende Über-
legenheit war vorhanden, aber nicht auf deutscher Seite.
Wegen der dem General von Moltke irrigerweise zugeschobenen
Äußerung wird auf dessen Schreiben in Anlage IV1 2 verwiesen. Die
jedem Krieg abholde Gesinnung des Generals kann der mitunter-
zeichnete Graf Montgelas, der zwei Jahre lang dessen unmittelbarer
Untergebener war, durch ganz bestimmte Tatsachen erhärten. Seine
skeptische Auffassung über den Ausgang eines Weltkrieges steht
aktenmäßig fest.
Die tieferen Ursachen des serbisch-österreichischen Konflikts,
die den Bestand des österreichisch-ungarischen Staates gefährden-
den großserbischen Bestrebungen einerseits, die handelspolitische
Bedrückung des serbischen Volkes andererseits können hier nicht
erschöpfend erörtert werden. Auf das bestimmteste aber muß der
Auffassung entgegengetreten werden, daß zwischen Berlin und Wien
ein geheimes Komplott zur Vernichtung Serbiens geschmiedet wor-
den sei. Offen hat die deutsche Regierung in der am 3. August 1914
dem Reichstage vorgelegten Denkschrift ausgesprochen, daß sie der
nach dem Attentat von Serajewo in Wien gehegten Auffassung zu-
gestimmt und eine dort für nötig erachtete Aktion gebilligt habe.
1 Die zahlreichen Anlagen brauchten hier nicht beigegeben zu werden, da sie
Einzelfragen behandeln.
2 Hier nicht beigegeben, da im Textteil hinreichend behandelt.
28*
Anlage 2
Die Ziele dieser Aktion waren in Berlin im einzelnen nicht mit-
geteilt, waren aber genau umgrenzt und enthielten keinerlei An-
nexionsgedanken; von Graf Tisza ist bekannt, daß er seine Zustim-
mung zum Ultimatum ausdrücklich von einem solchen Verzicht ab-
hängig gemacht hat.
Diesem Tatbestand haben die späteren in dem Kommissions-
bericht angeführten angeblichen Enthüllungen Eisners und anderer,
soweit sie nicht Unrichtiges enthalten, Neues nicht hinzugefügt. Auch
der Anfang Juli 1914 stattgehabte Briefwechsel zwischen den beiden
Kaisern und deren Regierungen ist inzwischen in vollem Wortlaut
veröffentlicht. Ein Kronrat hat am 5. Juli nicht stattgefunden. Der
Kommissionsbericht spricht nur noch unbestimmt von entscheidenden
Beratungen. Worauf diese sich in Wahrheit bezogen haben, ergibt
Anlage V1. Die Nordlandreise des Kaisers wurde zu dem alljährlich
üblichen Zeitpunkt angetreten, der preußische Kriegsminister hat
seinen Urlaub schon am 2. Juli erbeten. Beiläufig sei bemerkt, daß
der von der Kommission erwähnte bayerische Bericht vom 18. Juli,
der mehrere schon öffentlich berichtigte Irrtümer aufweist, nicht
vom Gesandten Grafen Lerchenfeld, sondern vom Legationsrat
von Schoen herrührt. Völlig unbegründet ist ferner nach Ausweis
der deutschen Akten die Behauptung, daß damals Bulgarien zum
Kriege gegen Serbien veranlaßt werden sollte.
Es ist richtig, daß Österreich die Auffassung hatte, angesichts
früherer nicht gehaltener Versprechungen Serbiens sich mit bloß
diplomatischen Ergebnissen nicht begnügen zu können, sondern auf
dem Eindruck einer militärischen Expedition bestehen zu müssen.
Deutschland hat dieser Auffassung zugestimmt und Österreich dabei
ermutigt.
Heute sehnt sich die Welt nach einem Völkerbunde, in dem
militärische Maßregeln nicht mehr zulässig sind, und in dem alle
Nationen, ob groß oder klein, ob stark oder schwach, die gleichen
politischen und wirtschaftlichen Rechte genießen. Mit dem da-
mals auch von anderen Staaten angewendeten Verfahren stand zwar
das Vorgehen gegen Serbien nicht im Widerspruch und war im
guten Glauben als eine Maßregel gedacht, um einen seit langem die
Gefahr eines Weltkrieges in sich bergenden Konfliktsstoff zu be-
seitigen. Immerhin empfand 1914 die deutsche Regierung selbst das
Ultimatum als zu weitgehend (Blaubuch Nr. 18). Eine besondere
Härte lag nach Ansicht der Unterzeichneten in der kurzen, auch auf
spätere Vorstellungen hin nicht verlängerten 48 ständigen Frist.
Auch den entgegenkommenden Charakter der serbischen Ant-
wort hat die deutsche Regierung in ihrer unten besprochenen Note
vom 28. Juli (Wolff-Telegramm vom 12. Oktober 1917) selbst an-
erkannt. Eine schiedsgerichtliche Regelung der nach dieser Antwort
1 Hier nicht mit abgedruckt. Siehe „Weißbuch pp.“
29
Deutsche Gegenbemerkungen vom 27. 5. 1919
noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten hätte besser jenem
Geiste des Vertrauens entsprochen, auf den Sir Edward Grey am
30. Juli hinwies (Blaubuch Nr. 101), einem Geiste, welcher hoffent-
lich künftig die Beziehungen der Völker und ihrer Regierungen lei-
ten wird. Voraussetzung für jenes für alles andere entscheidende
Vertrauen wäre natürlich der Glaube gewesen, daß der englische
Außenminister nicht nur den von Augenblickserwägungen unab-
hängigen Willen, sondern auch die Macht hatte, die unzweifelhaften
russischen Kriegsabsichten im Zaum zu halten. Daran zweifelt, so-
weit der gute Wille Sir Edward Greys in Betracht kommt, von den
Unterzeichneten niemand mehr. Zu fragen ist nur, ob dieser gute
Wille auch in einer Art zum Ausdruck gelangte und, angesichts des
die gesamte Lage umstürzenden Verhaltens Rußlands, rechtzeitig
gelangen konnte, um der deutschen Regierung jenes Vertrauen zu
geben. Denn wie sehr das zaristische Rußland jenen modernen An-
schauungen fernstand, beweisen die anliegenden bisher noch nicht
vollständig veröffentlichten russisch-serbischen Aktenstücke (An-
lage VI) i.
Die Berliner Regierung hat in dem Bestreben, den Streit zwi-
schen Serbien und Österreich auch diplomatisch zu lokalisieren, an-
fänglich zu den insbesondere von englischer Seite gemachten Ver-
mittlungsvorschlägen sich ablehnend verhalten; sie glaubte, daß auf
diesem Wege eine Beseitigung der ständigen Bedrohung des Welt-
friedens nicht zu erreichen sei. In dem Kommissionsbericht ist je-
doch erstaunlicherweise nicht erwähnt, daß der direkte Gedanken-
austausch zwischen Wien und Petersburg von deutscher Seite an-
geregt wurde, und daß Sir Edward Grey selbst dieses Verfahren als
das zweckmäßigste (the most preferable method of all) anerkannt
hat (Blaubuch Nr. 67). Ein schwer begreiflicher Irrtum ist es ferner,
wenn aus Blaubuch Nr. 43 eine Ablehnung der Vermittlung zu
Vieren durch Deutschland gefolgert wird, da dieses Telegramm sich
nicht auf jenen Vorschlag, sondern auf den einer Konferenz bezieht.
Zu einer Vermittlung zwischen Österreich-Ungarn und Rußland ist
Deutschland immer bereit gewesen (Blaubuch Nr. 18 und 46). Be-
sonders auffallend ist es endlich, daß in dem Kommissionsbericht die
längst bekannten drei deutschen Noten nicht erwähnt werden, aus
denen hervorgeht, wie stark der Druck war, den die Berliner Re-
gierung vom 28. Juli ab auf das Wiener Kabinett ausgeübt hat. Die
Unterzeichneten gestatten sich daher, aus diesen wichtigen Doku-
menten einiges hier anzufügen:
Am 28. Juli wird Wien auf den versöhnlichen Charakter der ser-
bischen Antwort hingewiesen und aufgefordert, gegenüber den deut-
schen und anderen Vermittlungsvorschlägen nicht mehr die bisherige
1 Hier nicht mit abgedruckt. Siehe „Weißbuch pp.“
30
Anlage 2
Zurückhaltung zu beobachten (veröffentlicht durch Telegramm des
Wolffbureaus vom 12. Oktober 1917).
Am 29. (abgesandt Nacht 29./30.) wird die Verweigerung jedes
Meinungsaustausches mit Petersburg als ein schwerer Fehler be-
zeichnet und beigefügt: „Wir sind zwar bereit, unsere Bundespflicht
zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und
ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen
zu lassen.“ (Schon veröffentlicht in der „Westminster Gazette“ vom
1. August 1914, ferner mitgeteilt im Deutschen Reichstag am
19. August 1915.)
In derselben Nacht wird zur Unterstützung des Greyschen Vor-
schlages von Blaubuch Nr. 88 nach Wien gedrahtet: „Wir stehen,
falls Österreich jede Vermittlung ablehnt, vor einer Konflagration,
bei der England gegen uns, Italien und Rumänien nach allen An-
zeichen nicht mit uns gehen würden, so daß wir zwei gegen vier
Großmächte ständen. Deutschland fiele durch Gegnerschaft Eng-
lands das Hauptgewicht des Kampfes zu. Österreichs politisches
Prestige, die Waffenehre seiner Armee sowie seine berechtigten An-
sprüche Serbien gegenüber könnten durch Besetzung Belgrads oder
anderer Plätze hinreichend gewahrt werden. Es würde durch De-
mütigung Serbiens seine Stellung im Balkan wie Rußland gegen-
über wieder stark machen. Unter diesen Umständen müssen wir
der Erwägung des Wiener Kabinetts dringend und nachdrücklich
anheimstellen, die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen
Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst ein-
tretenden Folgen wäre für Österreich und uns eine ungemein
schwere.“ (Mitgeteilt im Hauptausschuß des Deutschen Reichstages
am 9. November 1916.)
Mit dem erwähnten Vermittlungsvorschlag vom 29. Juli nach-
mittags (Blaubuch Nr. 88) war der Weg zur Erhaltung des
Friedens gefunden. Berlin war bereitwillig darauf eingegangen
und drängte in Wien auf die Annahme in so scharfer Weise, wie
wohl noch nie in ernster Stunde ein Bundesgenosse zum anderen
gesprochen hat. Es ist wahrlich nicht die Schuld der deutschen Re-
gierung, wenn die der glücklichen Lösung so nahen diplomatischen
Verhandlungen durch militärische Maßnahmen der Gegenseite jäh
unterbrochen wurden.
Was die durch den serbischen Gesandten in Paris veröffent-
lichten Dokumente betrifft, so ist der Bericht von Wiesner vom
13. Juli 1914 in Berlin niemals zur Kenntnis gebracht worden. Das
Telegramm des österreichisch-ungarischen Botschafters, des Grafen
Szögyenyi, vom 25. Juli 1914, das für den Fall einer Kriegserklä-
rung auf raschen Beginn der militärischen Operationen dringt, hält
sich in dem Rahmen der schon erörterten Auffassung, daß eine ört-
liche Begrenzung des Streites, somit auch eine rasche Erledi-
31
Deutsche Gegenbemerkungen vom 27. 5. 1919
gung dieses Streites das beste Mittel zur Vermeidung einer
Ausdehnung des Brandes sei. Was dann die Depesche des Grafen
Szögyenyi vom 27. Juli über die Zurückweisung möglicher englischer
Vermittlungsvorschläge betrifft, so hat die Kommission sich sowohl
an den ehemaligen Reichskanzler von Bethmann Hollweg wie an
den Staatssekretär von Jagow gewendet und von beiden übereinstim-
mend die Auskunft erhalten, daß dieser Bericht unmöglich zutreffend
sein könne. Wir halten die Mitteilungen dieser beiden Männer für
glaubwürdig, zumal in Anbetracht des Umstandes, daß der öster-
reichisch-ungarische Botschafter über seine Jahre gealtert war. Tat-
sächlich — und darauf kommt es an — ist die deutsche Regierung
nicht in dieser Weise verfahren, sondern hat vom 28. Juli an alles
Denkbare getan, um Österreich zur Annahme von Vermittlungsvor-
schlägen zu bewegen. Hinsichtlich der Wiederaufnahme der direkten
Besprechungen ist der Erfolg auch nicht ausgeblieben (Rotbuch
Nr. 50). Die Angabe des Botschafters gehört gleichwohl zu den
zahlreichen Einzelpunkten, die die Notwendigkeit der Untersuchung
durch eine neutrale Kommission als besonders dringlich erscheinen
lassen.
Schließlich muß darauf eingegangen werden, daß der Vorschlag
des Zaren vom 29. Juli, das österreichisch-serbische Problem dem
Schiedsgericht im Haag zu überweisen, keine Zustimmung gefunden
hat. Die Akten geben über den Grund keinen Aufschluß, er ist
sicherlich darin zu sehen, daß die an diesem Tage angeordnete
Mobilmachung von 13 russischen Armeekorps die Befürchtung nahe-
legte, Rußland werde die Zeit der Verhandlungen im Haag zur
Weiterführung seiner Rüstungen ausnutzen. Wie immer man vom
Standpunkt der heutigen Anschauungen aus dieser Begründung
gegenüberstehen mag, so glauben die Unterzeichneten, daß der Vor-
schlag des Zaren nur dann Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, wenn
er von einer Einstellung der russischen Mobilmachungsmaßnahmen
begleitet gewesen wäre. Tatsächlich aber haben an demselben Tag,
wo der Zar das Schiedsgericht vorschlug, seine militärischen und
diplomatischen Ratgeber den Beschluß gefaßt, die russische Teil-
mobilmachung zu einer allgemeinen zu erweitern (Anlage I)1.
III. Die Katastrophe
Diese allgemeine russische Mobilmachung war es, wodurch die
im Sinne von Blaubuch Nr. 88 angebahnte, von Deutschland nach-
drücklichst geförderte glückliche Lösung der Krise vereitelt wurde.
Die russischen Mobilmachungsvorbereitungen waren, wie in An-
lage I näher ausgeführt, in den letzten Jahren wesentlich verbessert
und gesteigert worden; die Kriegsvorbereitungsperiode für das ganze
1 Hier nicht mit abgedruckt. Siehe „Weißbuch pp.“
32*
Anlage 2
europäische Rußland, also auch gegenüber Deutschland, hatte schon
am 26. Juli begonnen. Die am 25. im Prinzip beschlossene, am 29.
angeordnete russische Teilmobilmachung hatte gegen Öster-
reich-Ungarn schon eine Überlegenheit russischer und serbischer
Streitkräfte bereitgestellt. Die am 29. beschlossene, am 30. angeord-
nete allgemeine russische Mobilmachung war durch keiner-
lei deutsche oder österreichisch-ungarische militärische Maßnahme
gerechtfertigt.
Alle diese Punkte sind in dem Kommissionsbericht nicht einmal
flüchtig gestreift. Das Verschweigen der russischen allgemeinen Mo-
bilmachung ist um so auffallender, als über die Bedeutung dieser
Maßnahme im Jahre 1914 eine Meinungsverschiedenheit nicht be-
stand. Es ist bekannt, wie dringend der britische Botschafter in Pe-
tersburg vor dem verhängnisvollen Schritt warnte (Blaubuch Nr. 17).
Der allgemeinen Auffassung gab Oberst Repington am 30. Juli in
den „Times“ mit den Worten Ausdruck: „Es wäre ein Wunder,
wenn nicht sehr bald nach Bekanntmachung der russischen Mobil-
machung ganz Europa in Flammen stände“ (and in a very short
time, after a Russian mobilisation is announced, it will be a miracle
if all Europe is not aflame).
Noch weniger Unklarheit konnte in Frankreich über die Trag-
weite der russischen Mobilmachung bestehen; hatte doch General
Boisdeffre am 18. August 1892, am Tage nach Abschluß der fran-
zösisch-russischen Militärkonvention, dem Zaren auseinandergesetzt,
daß „die Mobilmachung so viel sei wie die Kriegserklä-
rung“ (je lui ai fait remarquer que la mobilisation c’etait la de-
claration de guerre; 3. franz. Gelbbuch Nr. 71). Das Bewußtsein der
Bedenklichkeit dieser Maßnahme war es denn wohl auch, wodurch
die französische Regierung veranlaßt wurde, die russische Mobil-
machung tunlichst lange geheim zu halten. Noch am 31. Juli um
7 Uhr abends (gleich 9 Uhr Petersburger Zeit) erklärte der franzö-
sische Außenminister dem deutschen Botschafter, „über eine angeb-
liche Totalmobilisierung der russischen Armee und Flotte in keiner
Weise unterrichtet zu sein“ (Qelbbuch Nr. 117), obwohl der am
frühen Morgen in Petersburg öffentlich angeschlagene Befehl doch
keinem der dortigen Diplomaten hatte verborgen bleiben können,
und obwohl, wie die „Prawda“ vom 9. März 1919 nach einem Ge-
heimtelegramm Iswolskis mitteilt, ein die „volle Mobilisation der
russischen Armee ohne jede Ausnahme“ bestätigendes Telegramm
des französischen Petersburger Botschafters schon am Morgen des
31. in Paris eingegangen war.
Bei keiner sachkundigen Persönlichkeit konnte der mindeste
Zweifel bestehen, was die russische Mobilmachung für Deutschland
bedeutete. Der Krieg nach zwei Fronten stand bevor, er war gegen
erdrückende Übermacht zu führen, im Westen stand ein Heer von
3* Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
33*
Deutsche Gegenbemerkungen vom 27. 5. 1919
größter Operationsbereitschaft. Defensive nach beiden Seiten war
sicheres Verderben. Die Offensive aber mußte nach der damals nicht
nur in Berlin, sondern bei den Militärs wohl aller Länder bestehen-
den Auffassung mit tunlichster Schnelligkeit gegen Westen, gegen
den zuerst operationsbereiten, zuerst zu fassenden Gegner, geführt
werden, so daß nicht nur Wochen, sondern Tage wichtigen Zeit-
gewinn bedeuteten. Daß in der Kriegserklärung an Frankreich
einige Meldungen über französische Fliegerangriffe leichtfertig ohne
genaue Nachprüfung verwertet wurden, ist bedauerlich, ändert aber
nichts an der Tatsache, daß nach Bekanntwerden der russischen
Mobilmachung sofort auch mit der französischen, also dem Kriege
nach zwei Fronten, gerechnet werden mußte. Diese Auffassung
wird nachträglich durch die nunmehr bekannten Bestimmungen der
russisch-französischen Militärkonvention vom 17. August 1892 be-
stätigt, wo im Falle der Mobilmachung auch nur einer Macht des
Dreibundes die unverzügliche und gleichzeitige Mobilmachung der
gesamten französischen und russischen Streitkräfte und deren schleu-
niger Einsatz zu entscheidendem Kampfe (ces forces s’engageront ä
fond, en toute diligence) vereinbart ist.
Im Falle einer Gesamtmobilmachung Rußlands stand jede
deutsche Staatsleitung, welche deren Durchführung um deswillen
abgewartet hätte, weil Verhandlungen angeboten wurden, dem
eigenen Volke gegenüber vor einer furchtbaren und von niemandem
zu tragenden Verantwortung. Die den gegnerischen Regierungen
überreichten Dokumente zeigen, daß bei den Plänen des Zarismus,
solange dieser aufrecht stand, diese Verantwortung nicht übernom-
men werden durfte. Sie wäre unter allen Umständen nur dann zu
tragen gewesen, wenn eine übernationale hinreichend starke Zwangs-
gewalt die unbedingte Garantie übernommen hätte, daß die Ver-
handlungen keinesfalls dazu benutzt werden würden, jene riesen-
hafte russische Überlegenheit zuerst voll zur Entfaltung zu bringen
und dann die Verhandlungen abzubrechen und Deutschland mit
Krieg zu überziehen, dessen Ausgang von vornherein feststand. Eine
solche übernationale Garantiemacht aber bestand damals nicht.
/V. Schlußfolgerungen
Deutschland hat der österreichischen Absicht, die großserbische
Agitation durch eine nötigenfalls mit Waffengewalt unterstützte
Aktion aus der Welt zu schaffen, zugestimmt. Es wäre von ent-
scheidender Wichtigkeit gewesen, wenn sofort nach Eintreffen der
serbischen Antwortnote am 27. das Wiener Kabinett von unwider-
ruflichen Maßnahmen abgehalten worden wäre, da die Berliner
Regierung schon an diesem Tage den Eindruck gewonnen hatte,
daß Serbien weit entgegengekommen war. Nach eingehender Prü-
34
Anlage 2
fung der Note ist dann ab 28. das Äußerste geschehen, um das Wie-
ner Kabinett zum Einlenken zu bewegen. Berlin hat insbesondere
den Vorschlag Sir Edward Greys vom 29. nachmittags, der Öster-
reich-Ungarn die ihm nach Ansicht aller Großmächte gebührende
Genugtuung gewährte, mit den denkbar schärfsten Mitteln unter-
stützt. Warum die Antwort des Wiener Kabinetts auf diesen Vor-
schlag nicht sofort erfolgt ist, entzieht sich der Kenntnis der Unter-
zeichneten.
Dieses ist einer der wesentlichsten Punkte, der noch
der Aufklärung bedarf. Was Berlin betrifft, so ist ein Mei-
nungswechsel vom 26. zum 28. nach den Akten unverkennbar, und
es ist nach der Überzeugung der Unterzeichneten mangelnder Ent-
schlußkraft zuzuschreiben, daß nicht schon am 27. die letzten Konse-
quenzen daraus gezogen wurden.
Den Weltkrieg hat Deutschland, wenn auch dieses Risiko mit
in den Kreis der Betrachtungen gezogen worden war, nicht gewollt.
Die deutsche Regierung galt während mehr als 40 Jahren, um die
eigenen Worte des Kommissionsberichtes zu gebrauchen, als „Vor-
kämpferin des Friedens“ (Gelbbuch Nr. 6). Eroberungspläne lagen
den Gedanken der leitenden deutschen Staatsmänner weltenfern.
Anders war das in Rußland. Die Verwirklichung der Absichten
der führenden panslawistischen Kreise war ohne Krieg nicht erreich-
bar. Diese friedensfeindlichen Elemente setzten in den entscheiden-
den Tagen ihren Willen durch. Denn gerade in dem Augenblick, da
der Friede gesichert erschien, traf Rußland die Maßnahmen, die ihn
unmöglich machten. Die Unterzeichneten können nicht umhin, der
Ansicht Ausdruck zu geben, daß, wenn von London und Paris ein
ebenso starker Druck auf Petersburg ausgeübt worden wäre, wie
von Berlin auf Wien, der verhängnisvolle Schritt, den kriegslustige
Militärs gegen den Willen des Zaren durchzusetzen wußten, wohl
unterblieben wäre.
V. Verletzung der belgischen und luxemburgischen Neutralität
Hinsichtlich der Verletzung der belgischen und luxemburgischen
Neutralität teilen die Unterzeichneten vollkommen den Standpunkt,
den der deutsche Reichskanzler am 4. August 1914 unter dem Bei-
falls des Reichstages eingenommen hatte, daß es sich um ein
„wiedergutzumachendes Unrecht“ handle. Sie bedauern, daß diese
Auffassung während des Krieges vorübergehend aufgegeben und
eine nachträgliche Rechtfertigung des deutschen Einmarsches ver-
sucht wurde.
VI. Rückblickende Betrachtungen
Die Unterzeichneten sehen sich schließlich zu folgenden all-
gemeinen Bemerkungen veranlaßt:
3*
35*
Deutsche Gegenbemerkungen vom 27. 5. 1919
Man kann nach unserer Ansicht grundsätzlich nicht in der Art,
wie es der gegnerische Kommissionsbericht tut, die Frage einer
Kriegsursache durch Aufzählung von formellen Anlässen lösen,
welche einen bestehenden Zustand politischer Hochspannung in einen
Krieg hinübergleiten ließen. Neben der völligen und erstaunlichen
Irrtümlichkeit der Darstellung der Einzeltatsachen liegt darin der
grundsätzliche Fehler des ganzen Verfahrens. Man wird vielmehr
die Fragen aufwerfen müssen:
1. Welche Regierungen hatten in der Vergangenheit am meisten
jenen Zustand dauernder Kriegsbedrohtheit gefördert, unter
welchem Europa vor dem Krieg jahrelang gelitten hat?
Ferner und im Zusammenhang damit:
2. Welche Regierungen haben politische und wirtschaftliche
Interessen verfolgt, welche nur durch einen Krieg verwirk-
licht werden konnten?
Was zunächst die zweite Frage anlangt, so können wir die Be-
merkung nicht unterdrücken, daß künftig für die Antwort darauf
wohl auch die Friedensbedingungen, vor allem diejenigen wirt-
schaftspolitischer und territorialer Art, welche jetzt zur Diskussion
stehen, als Beweismittel dienen werden, wenn auf ihnen beharrt
werden sollte.
Zu beiden für die Beurteilung des Problems entscheidenden
Punkten aber ist das Folgende zu sagen:
Die frühere deutsche Regierung hat nach unserer Ansicht schwere
Fehler begangen, welche allerdings in durchaus anderer Richtung
liegen als in derjenigen, in welcher ein Teil der öffentlichen Mei-
nung unserer Gegner sie sucht. Sie liegen insbesondere ganz und
gar nicht in der Richtung einer „Prämeditierung“ eines Krieges mit
einer der gegnerischen Mächte seitens irgendeines politisch verant-
wortlichen deutschen Staatsmannes. Eine solche Politik hätte auch
innerhalb des deutschen Volkes keinen Rückhalt gefunden. Es ist
einer der beklagenswertesten Fehler eines Teiles der öffentlichen
Meinung des Auslandes, die verwerflichen und verantwortungslosen
Äußerungen einer kleinen Gruppe chauvinistischer Literaten als Aus-
druck der Gesinnung des deutschen Volkes zu behandeln, während
leider weit größere Kreise anderer Länder in ihren Äußerungen min-
destens in gleichem Maße dem Chauvinismus huldigten.
Die wirklichen Fehler der deutschen Politik lagen weit zurück.
Der 1914 im Amt befindliche deutsche Reichskanzler hatte eine
politische Erbschaft übernommen, welche seinen rückhaltlos auf-
richtigen Versuch, die internationale Lage zu entspannen, von vorn-
herein fast zur Aussichtslosigkeit verurteilte oder dafür doch ein
solches Maß staatsmännischer Kunst und vor allem Entschlußkraft
verlangte, wie er sie teils nicht besaß, teils unter den Verhältnissen
36
Anlage 2
der damaligen deutschen Staatsordnung nicht zur Geltung bringen
konnte. Es ist ein überaus schwerer Irrtum, moralische Schuld da
zu suchen, wo in Wahrheit Nervosität, Schwäche gegenüber dem
lärmenden Auftreten der oben bezeichneten kleinen, aber rücksichts-
losen Gruppe, endlich mangelnde Fähigkeit zu schnellen und ein-
deutigen Entschlüssen in schweren Lagen Unheil entstehen ließen.
Über die letzten, dem Kriegsausbruch vorausgehenden Zeiträume
der deutschen Diplomatie wird eine mehrbändige, in mehrmonat-
licher Arbeit hergestellte Publikation der Akten erschöpfende Aus-
kunft geben. Jeder aber, der die Instruktionen des Reichskanzlers
aus der letzten Zeit vor dem Kriegsausbruch liest, wird dem vor-
stehenden Urteil beipflichten müssen. Die deutsche Regierung hielt
zunächst auf Grund der Darlegungen des Wiener Kabinetts eine
österreichische militärische Expedition nach Serbien für im Interesse
der Sicherung des Friedens unvermeidlich. Sie glaubte, das damit
verbundene Risiko eines Eingreifens Rußlands mit seinen Folgen
für ihre eigene Bundespflicht auf sich nehmen zu müssen. Sie hat
bezüglich der Art der von Österreich an Serbien zu stellenden For-
derungen dem Bundesgenossen zunächst ganz freie Hand gelassen.
Sie hat dann, als auf das Ultimatum eine Antwort erfolgte, welche
ihr selbst als genügend erschien, um jene Expedition dennoch zu
unterlassen, diese ihre Ansicht zwar nach Wien mitgeteilt, aber sie
hat, offenbar in allzu großem Vertrauen auf die damalige Leitung
der dortigen Außenpolitik, nicht sofort, sondern erst am Tage dar-
auf, dann allerdings mit der denkbar äußersten Energie, die letzten
Konsequenzen: die Androhung der Versagung der Bundeshilfe, ge-
zogen. Ob freilich bei einem noch schnelleren Verfahren ein Welt-
krieg vermieden worden wäre, ist nicht sicher.
Denn bezüglich der Verantwortlichkeit in dem jetzt zur Dis-
kussion stehenden Sinne müssen wir feststellen: Es gab in Europa
unter den Großmächten jedenfalls eine, deren planmäßig viele Jahre
vor dem Kriege verfolgte Ziele sich ausschließlich durch einen An-
griffskrieg erreichen ließen und welche daher auf diesen bewußt
hingearbeitet hat: den russischen Zarismus in Verbindung mit jenen
sehr einflußreichen Kreisen Rußlands, welche in dessen Politik
hineingezogen waren. Die schon einmal zitierten, zum Teil noch un-
bekannten Dokumente, insbesondere der Brief Sasonows an den Ge-
sandten Hartwig in Belgrad, beweisen, daß die russische Regierung
durch Instruktionen an ihre Vertreter in Belgrad und andere Mittel
Serbien planmäßig auf den Weg der Eroberung auf Kosten des
Territorialbestandes Österreich-Ungarns, auf dessen Gebiet Serbiens
„verheißenes Land“ liege, hingeleitet und ein gemeinsames kriege-
risches Vorgehen zu diesem aggressiven Zwecke in Aussicht ge-
nommen hatte. Wie nach Überzeugung der Unterzeichneten voll-
kommen evident ist, hat sie dies nicht aus uneigennütziger Freund-
37*
Deutsche Gegenbemerkungen vom 27. 5. 1919
schaft zu Serbien getan, sondern deshalb, weil sie im eigenen
Interesse die Zertrümmerung Österreich-Ungarns als politisches
Ziel konsequent verfolgte. Sie war dabei ferner und vor allem von
dem Bestreben geleitet, jedes Hemmnis für ihre eigene Ausdehnung
auf dem Balkan und insbesondere für die Eroberung der Meerengen
zu beseitigen. Daß sie die gewaltsame Aneignung nicht nur des
Bosporus, sondern auch der Dardanellen planmäßig verfolgt und
vorbereitet hat, ergeben die Dokumente der Anlage VI1. Dabei war
ihr genau bekannt, daß es in Deutschland weder in der Regierung
noch innerhalb der Nation irgend jemanden gab, der einen Krieg
mit Rußland für wünschenswert gehalten hätte, dessen Aussichten
ganz allgemein, auch, wie feststeht, von seiten der militärischen
Autoritäten äußerst skeptisch beurteilt wurden und von welchem
im Falle des Erfolges niemand irgendeinen greifbaren Vorteil er-
hoffte. Sie wußte andererseits aber auch, daß Deutschland der
Donaumonarchie durch geschichtliche Bande, Bündnis und Ver-
wandtschaft großer Teile der österreichischen Bevölkerung ver-
bunden war und daß sie also bei einem Angriff auf den Bestand
jener Monarchie auch dem militärischen Widerstand Deutschlands
begegnen werde. Sie hat für ihre Zwecke daher das 1892 ge-
schlossene und 1912 durch eine Marinekonvention erweiterte Kriegs-
bündnis mit Frankreich und die weiter geschaffenen Verbindungen
dazu benutzt, in einem ihr günstig scheinenden Moment den „Mecha-
nismus der Entente“ in Bewegung zu setzen und ihre Freunde in
den längst beabsichtigten Krieg mithineinzuziehen. An diesem
Punkte liegt die wirkliche Ursache der Entstehung des Weltkrieges.
Wir betrachten es als ein teils durch Schicksal, teils aber durch
Fehler unserer politischen Leitung herbeigeführtes schweres Miß-
geschick Deutschlands, daß es durch den unvermeidlichen Gegen-
satz gegen den Zarismus auch mit Ländern in Gegensätze und
schließlich in kriegerische Verwickelungen geriet, denen es durch
starke Gemeinschaft geistiger Interessen verbunden war und mit
welchen nach unserer Überzeugung eine Verständigung möglich war.
Es muß freilich nachdrücklich betont werden, daß die franzö-
sische Regierung vor dem Kriege die Absicht einer Wiedererlangung
von Elsaß-Lothringen niemals rückhaltlos aufgegeben hatte, daß
diese Absicht nur durch Krieg zu verwirklichen war und daß kein
sicheres Mittel anzugeben ist, durch welches mit der letzten fran-
zösischen Regierung vor dem Kriege eine Verständigung über diese
Frage zu erzielen gewesen wäre. Dagegen standen sich die An-
sichten der unter der Führung des Herrn Jaures stehenden franzö-
sischen Kreise einerseits und diejenigen der deutschen sozialistischen
und bürgerlichen Demokratie andererseits vor dem Kriege außer-
1 Hier nicht mit abgedruckt. Siehe „Weißbuch pp.“
38*
Anlage 2
ordentlich nahe. Eine Einflußnahme jener Kreise im Sinne eines
friedlichen Ausgleichs mit Deutschland war jedoch dadurch ge-
hindert, daß Frankreich durch das feste Bündnis an die Politik des
Zarismus gekettet war. Die französische Regierung hat, wie die
Dokumente ergeben, bei Gelegenheiten, welche Rußland in einem
Konflikt mit Deutschland bringen konnten, keine Ratschläge ge-
geben, welche Rußland von seiner friedensfeindlichen Haltung
grundsätzlich abbringen, mehrfach aber solche, welche es darin er-
mutigen mußten. So hatte der Botschafter Iswolski durch das Herrn
Poincare vorher vorgelesene Telegramm 369 vom 17. bzw. 18. No-
vember 1912 dem Minister Sasonow mitgeteilt, der französische
Ministerpräsident erachte für den Fall einer Unterstützung Öster-
reichs durch Deutschland im Balkankonflikt den Bündnisfall für ge-
geben. Am 25. Februar 1913 teilte der Botschafter Benckendorff
seiner Regierung mit: Von allen Mächten sei seinem Eindruck nach
Frankreich die einzige, die einen Krieg ohne Bedauern sehen würde.
1914 erklärte schon am 24. Juli, also vor Abbruch der österreichisch-
serbischen Beziehungen, der französische Botschafter der russischen
Regierung, daß Frankreich, abgesehen von nachdrücklicher diplo-
matischer Unterstützung, nötigenfalls alle durch das Bündnis mit
Rußland bedingten Verpflichtungen erfüllen würde.
Bei dieser Sachlage ist es durchaus unmöglich, aus dem Um-
stande, daß der Krieg gegen Frankreich militärisch offensiv geführt
werden mußte, ihn auch politisch als einen Angriffskrieg Deutsch-
lands gegen Frankreich hinzustellen. Frankreich war an den Zaris-
mus fest gebunden.
Was England anlangt, so kann hier nicht erschöpfend unter-
sucht werden, welche Schritte in der Vergangenheit die Regierungen
hätten tun oder unterlassen sollen, um das unzweifelhaft beiderseits
vorhandene, höchst verhängnisvolle wechselseitige Mißtrauen zu
zerstreuen. Die englische Regierung hat oft erklärt, daß sie von der
öffentlichen Meinung ihres Landes in ihrem Verhalten abhängig sei.
In der öffentlichen Meinung Englands aber gab es eine sehr starke
Strömung, welche darauf ausging, jede Verständigung zwischen
Deutschland und Frankreich zu hintertreiben. Wir verweisen auf die
bekannten Worte des Herrn Lloyd George aus dem Jahre 1908,
welche sich dagegen wenden mußten. Nur infolge dieses gegen-
seitigen Mißtrauens ist im Jahre 1912 die einigende Formel zwischen
dem Reichskanzler von Bethmann Hollweg und Herrn Haldane
nicht gefunden worden, und hier liegt auch der letzte Grund, wes-
halb es der deutschen Regierung 1914 unmöglich schien, den Kon-
ferenzvorschlag des englischen Außenministers anzunehmen. Wir
geben unsererseits ohne weiteres zu, daß nicht die Tatsache, wohl
aber der schließliche Umfang und der Geist des deutschen Flotten-
baues in den letzten Jahren in England Mißtrauen erregen konnten.
39*
Deutsche Gegenbemerkungen vom 27. 5. 1919
Da dies gegenseitige Mißtrauen zweifellos einer der Hauptgründe
der gespannten Lage Europas war, so halten wir es für bedauerlich,
daß kein Weg zu seiner Beseitigung gefunden wurde. Wir hätten
daher sowohl ein anderes Verhalten Deutschlands gelegentlich der
Haager Friedenskonferenzen wie gelegentlich der Aussprache über
die deutschen Flottenbaupläne gewünscht. Andererseits müssen wir
es beklagen, daß durch bekannte und oft zitierte Aufsätze eng-
lischer Zeitschriften, durch das Treiben und den Einfluß der North-
cliffe-Presse, durch Akte wie die Ablehnung der Kodifikation des
Seerechtes im englischen Oberhaus, in Deutschland schweres Miß-
trauen genährt wurde. Auch ist es unerfreulich, daß durch einen
sehr tüchtigen amerikanischen Schriftsteller (Veblen, Theory of
business enterprise 1914) die in einzelnen Kreisen aller Länder be-
stehende, nach unserer Ansicht völlig irrtümliche Theorie von der
angeblichen Naturnotwendigkeit eines Handelskrieges eine gewich-
tige Unterstützung erhielt. So trieben sich die nationalistischen Agi-
tationen der verschiedenen Länder gegenseitig in die Höhe. An-
gesichts dessen müssen wir es ganz besonders beklagen, daß durch
die jetzt vorgelegten Friedensbedingungen die von uns bekämpfte
Ansicht: daß der Krieg von englischer Seite als ein Mittel zur
Niederwerfung eines lästigen Konkurrenten vorbereitet und geführt
worden sei, voraussichtlich für alle Zukunft in der deutschen öffent-
lichen Meinung befestigt werden wird.
Für die Lage Deutschlands in dem Jahrzehnt vor dem Kriege
war und blieb aber entscheidend, daß dieses Land in einem Zeit-
alter, welches noch kein Mittel zur Vermeidung von Kriegen
kannte, einer kriegerischen Auseinandersetzung mit dem scheinbar
unerschütterlich feststehenden Zarismus durch kein ehrenhaftes
Mittel entgehen konnte ohne Preisgabe nicht nur unserer Vertrags-
treue, sondern auch unserer eigenen nationalen Unabhängigkeit. Das
einzige Mittel wäre unter den damaligen Verhältnissen eine ganz
feste und bindende Vereinbarung mit England gewesen, welche
beiden Teilen Vertrauen eingeflößt und sowohl Deutschland als
Frankreich vor jedem Angriffskrieg geschützt hätte. Wir müssen den
Nachweis erwarten, daß eine solche Vereinbarung durch einen eng-
lischen Minister bei der öffentlichen Meinung Englands in den letz-
ten Jahren vor dem Krieg noch durchzusetzen war gegenüber jenen
Tendenzen, welche wir oben feststellen mußten. Wir wiederholen:
daß wir jeden etwa noch nachweisbaren Schritt einer englischen Re-
gierung auf diesem Wege als wertvoll anerkennen und jedes etwaige
Ausweichen einer deutschen Regierung vor solchen Möglichkeiten
für einen Fehler halten würden.
Der Zarismus, mit welchem eine wirkliche Verständigung voll-
kommen ausgeschlossen war, bildete das furchtbarste System der
Verknechtung von Menschen und Völkern, welches — bis zu diesem
40*
Anlage 2
jetzt vorgelegten Friedensvertrage — jemals ersonnen worden ist.
Nur als Verteidigungskrieg gegen den Zarismus hat 1914 das
deutsche Volk, wie mit Recht namentlich die gesamte Sozialdemo-
kratie damals erklärt hat, den Kampf einmütig und entschlossen
aufgenommen. Auch heute, wo Deutschlands militärische Macht für
immer vernichtet ist, halten wir diesen Abwehrkrieg für unvermeid-
lich. Mit dem Augenblick, in welchem das Ziel der Niederwerfung
der zaristischen Macht erreicht war, wurde der Krieg sinnlos. Wir
würden seine Fortsetzung als einen Frevel der früheren Regierung
bezeichnen, sobald uns zweifelsfrei nachgewiesen würde, daß die
Gegner bereit gewesen wären, einen Frieden ohne Sieger und ohne
Besiegte auf der Grundlage der Achtung der gegenseitigen Ehre mit
uns zu schließen. Dafür fehlt bis heute der Beweis. Die Friedens-
bedingungen, welche dem Volke des auf demokratischer Grundlage
erneuerten Deutschland im Gegensatz zu feierlichen Verheißungen
gestellt worden sind, sprechen leider eine so schlimme Sprache für
das Gegenteil, daß, wenn an ihnen festgehalten wird, es keinerlei
Mittel geben wird, diesen Beweis jemals glaubhaft zu erbringen.
Versailles, den 27. Mai 1919
Hans Delbrück Max Weber
Max Graf Montgelas Albrecht Mendelssohn Bartholdy
Anlage 3
Die Mantelnote des Präsidenten der Versailler Friedenskonferenz
Clemenceau vom 16. Juni 1919
Vorbemerkung
Der amtliche französische und englische Wortlaut der Mantel-
note findet sich im „Kommentar zum Friedensvertrage“, heraus-
gegeben von Professor Dr. Walter Schücking (Urkunden zum
Friedensvertrage von Versailles vom 28. Juni 1919, zusammengestellt
von Dr. Jur. Herbert Kraus und Gustav Rödiger). Berlin
1920, Verlag von Franz Vahlen und Hans Robert Engelmann. 1. Teil,
S. 555 ff.
Die Mantelnote wurde in einem mit Maschinenschrift her-
gestellten und von Clemenceau unterschriebenen Exemplar in fran-
zösischer Sprache vom Generalsekretär der Friedenskonferenz, Bot-
schafter Dutasta, dem Generalkommissar der Deutschen Friedens-
delegation, Ministerialdirektor Dr. Simons, in Gegenwart des Lega-
tionsrats Frhrn. v. Lersner am 16. Juni nachmittags im Hotel „des
Reservoirs“ in Versailles überreicht. Gleichzeitig wurde eine Anzahl
gedruckter Exemplare mit französischem und gegenübergestelltem
englischen Wortlaut überreicht. Der englische Wortlaut war nicht
von Clemenceau unterzeichnet.
Gleichzeitig wurde eine „Antwort der Alliierten und Assoziierten
Mächte auf die Bemerkungen der Deutschen Delegation zu den
Friedensbedingungen“ überreicht. (Siehe Anlage 4.)
Der hier mitgeteilte deutsche Wortlaut bildet eine überprüfte
Ausgabe der von der Deutschen Friedensdelegation hergestellten
Übersetzung und ist erstmalig am 19. Juni 1919 von der „Deutschen
Liga für Völkerbund“ unter dem Titel: „Das Ultimatum der
Entente. Vollständiger Text der Mantelnote und der Antwort auf
die deutschen Gegenvorschläge. Amtlicher Wortlaut“ veröffentlicht
worden (Verlag Hans Robert Engelmann, Berlin W15), sodann als
Teil IV der „Materialien, betreffend die Friedensverhandlungen“
von der Deutschen Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte,
Charlottenburg 1919.
42
Friedenskonferenz
Der Präsident
Anlage 3
An Seine Exzellenz
den Herrn Grafen Brockdorff-Rantzau,
Präsidenten der Deutschen Delegation,
Versailles
Herr Präsident!
Paris, den 16. Juni 1919
Die Alliierten und Assoziierten Mächte haben den von der Deut-
schen Delegation über die Friedensbedingungen vorgebrachten Be-
merkungen die ernsthafteste Erwägung zuteil werden lassen.
Die deutsche Antwort protestiert gegen den Frieden, zunächst
als in Widerspruch mit den Bedingungen stehend, welche dem
Waffenstillstand vom 11. November zur Grundlage gedient haben,
sodann, da es ein Gewalts- und nicht ein Rechtsfrieden sei. Der Pro-
test der Deutschen Delegation beweist, daß diese die Lage, in der
sich Deutschland heute befindet, gänzlich verkennt. Die Deutsche
Delegation scheint zu denken, Deutschland habe nur „Opfer zu
bringen, um zum Frieden zu gelangen“, als ob dieser Friede einzig
und allein nur der Abschluß eines Kampfes um territorialen oder
Machtgewinn wäre.
I
Infolgedessen halten es die Alliierten und Assoziierten Mächte
für erforderlich, ihre Antwort mit einer scharf umrissenen Dar-
legung ihres Urteils über den Krieg zu beginnen, ein Urteil, welches
tatsächlich und letzten Endes dasjenige der Gesamtheit der zivili-
sierten Welt ist. Nach der Anschauung der Alliierten und Asso-
ziierten Mächte ist der Krieg, der am 1. August 1914 zum Ausbruch
gekommen ist, das größte Verbrechen gegen die Menschheit und
gegen die Freiheit der Völker gewesen, welches eine sich für zivi-
lisiert ausgebende Nation jemals mit Bewußtsein begangen hat.
Während langer Jahre haben die Regierenden Deutschlands, getreu
der preußischen Tradition, die Vorherrschaft in Europa angestrebt.
Sie haben sich nicht mit dem wachsenden Gedeihen und Einfluß
begnügt, nach welchen zu streben Deutschland berechtigt war, und
welche alle übrigen Nationen bereif waren, ihm in der Gesellschaft
der freien und gleichen Völker zuzugestehen. Sie haben getrachtet,
sich dazu fähig zu machen, ein unterjochtes Europa zu beherrschen
und zu tyrannisieren, so wie sie ein unterjochtes Deutschland be-
herrschten und tyrannisierten.
Um ihr Ziel zu erreichen, haben sie durch alle ihnen zur Ver-
fügung stehenden Mittel ihren Untertanen die Lehre eingeschärft,
43*
Mantelnote vom 16. Juni 1919
in internationalen Angelegenheiten sei Gewalt Recht. Niemals haben
sie davon abgelassen, die Rüstungen Deutschlands zu Wasser und
zu Lande auszudehnen und die lügnerische Behauptung zu verbrei-
ten, eine solche Politik sei nötig, weil Deutschlands Nachbarn auf
sein Gedeihen und seine Macht eifersüchtig seien. Sie sind bestrebt
gewesen, zwischen den Nationen an Stelle der Freundschaft Feind-
schaft und Argwohn zu säen. Sie haben ein System der Spionage
und der Intrigen entwickelt, welches ihnen gestattet hat, auf dem
Gebiete ihrer Nachbarn Unruhen und innere Revolten zu erregen
und sogar geheime Offensivvorbereitungen zu treffen, um sie im ge-
gebenen Augenblick mit größerer Sicherheit und Leichtigkeit zer-
schmettern zu können. Sie haben durch Gewaltsandrohungen Europa
in einem Zustande der Gärung erhalten, und als sie festgestellt
hatten, daß ihre Nachbarn entschlossen waren, ihren anmaßenden
Plänen Widerstand zu leisten, da haben sie beschlossen, ihre Vor-
herrschaft mit Gewalt zu begründen.
Sobald ihre Vorbereitungen vollendet waren, haben sie einen
in Abhängigkeit gehaltenen Bundesgenossen dazu ermuntert, Serbien
innerhalb achtundvierzig Stunden den Krieg zu erklären. Von diesem
Kriege, dessen Spieleinsatz die Kontrolle über den Balkan war,
wußten sie recht wohl, er könne nicht lokalisiert werden und würde
den allgemeinen Krieg entfesseln. Um diesen allgemeinen Krieg
doppelt sicher zu machen, haben sie sich jedem Versuche der Ver-
söhnung und der Beratung entzogen, bis es zu spät war; und der
Weltkrieg ist unvermeidlich geworden, jener Weltkrieg, den sie an-
gezettelt hatten, und für den Deutschland allein unter den Nationen
vollständig ausgerüstet und vorbereitet war.
Indessen beschränkt sich die Verantwortlichkeit Deutschlands
nicht auf die Tatsache, den Krieg gewollt und entfesselt zu haben.
Deutschland ist in gleicher Weise für die rohe und unmenschliche
Art, auf die er geführt worden ist, verantwortlich.
Obwohl Deutschland selber einer der Bürgen Belgiens war,
haben seine Regierenden die Neutralität dieses durch und durch
friedlichen Volkes, nachdem sie ihre Respektierung feierlich ver-
sprochen hatten, verletzt. Damit nicht zufrieden, sind sie mit kühler
Überlegung zu einer Reihe von Hinrichtungen und Brandstiftungen
geschritten, mit der einzigen Absicht, die Bevölkerung zu terrori-
sieren und sie eben durch die Schrecklichkeit ihrer Handlungen zu
bändigen.
Die Deutschen sind es, welche als erste die giftigen Gase be-
nutzt haben, trotz der fürchterlichen Leiden, die sich daraus ergeben
mußten. Sie sind es, welche mit den Bombardements durch Flieger
und der Beschießung von Städten auf weite Entfernung ohne mili-
tärische Gründe den Anfang gemacht haben, mit dem alleinigen Ziel
vor Augen, die seelische Widerstandskraft ihrer Gegner, dadurch,
44*
Anlage 3
daß sie die Frauen und Kinder trafen, zu vermindern. Sie sind es,
die den Unterseebootkrieg begonnen haben, eine Herausforderung
von Seeräubern an das Völkerrecht, indem sie so eine große An-
zahl von unschuldigen Passagieren und Seeleuten mitten auf dem
Ozean, weit entfernt von jeder Hilfsmöglichkeit, auf Gnade und
Barmherzigkeit den Winden und Wogen und, was noch schlimmer
ist, den Besatzungen ihrer Unterseeboote ausgeliefert, dem Tode
überantworteten. Sie sind es, die mit brutaler Roheit Tausende von
Männern und Frauen und Kindern nach fremden Ländern in die
Sklaverei verschleppt haben. Sie sind es, die sich hinsichtlich der
Kriegsgefangenen, welche sie gemacht hatten, eine barbarische Be-
handlung erlaubt haben, vor welcher die Völker unterster Kultur-
stufe zurückgeschreckt wären.
Das Verhalten Deutschlands ist in der Geschichte der Mensch-
heit fast beispiellos. Die schreckliche Verantwortlichkeit, die auf
ihm lastet, läßt sich in der Tatsache zusammenfassend zum Ausdruck
bringen, daß wenigstens sieben Millionen Tote in Europa begraben
liegen, während mehr als zwanzig Millionen Lebender durch ihre
Wunden und ihre Leiden von der Tatsache Zeugnis ab legen, daß
Deutschland durch den Krieg seine Leidenschaft für die Tyrannei
hat befriedigen wollen.
Die Alliierten und Assoziierten Mächte halten dafür, daß sie
denen, die ihr alles dahingegeben haben, um die Freiheit der Welt
zu retten, nicht gerecht werden würden, wenn sie sich damit ab-
finden würden, in diesem Kriege kein Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit und gegen das Recht zu erblicken.
Diese Stellungnahme der Aliierten und Assoziierten Mächte ist
Deutschland während des Krieges selber von den Hauptstaats-
männern dieser Mächte mit völliger Klarheit auseinandergesetzt wor-
den. Sie ist von dem Präsidenten Wilson in seiner Rede vom 6. April
1918 genau bestimmt und von dem deutschen Volke ausdrücklich
und mit Bestimmtheit als ein leitender Grundsatz des Friedens an-
genommen worden:
„Mögen alle unsere Worte, liebe Mitbürger, mögen von nun
an alle unsere Pläne und alle unsere Handlungen mit dieser
Antwort in Übereinstimmung stehen, bis die Majestät und die
Gewalt unserer vereinten Macht ihrerseits das Gemüt derer,
die dasjenige, was wir lieben und ehren, verspotten und ver-
achten, durchdringt und ihre brutale Gewalt zunichte macht.
Deutschland hat es noch einmal ausgesprochen, daß die Ge-
walt, und die Gewalt allein, darüber bestimmen wird, ob Ge-
rechtigkeit und Friede die Angelegenheiten des Menschen-
geschlechts regieren solle, ob das Recht, so wie es Amerika
auffaßt, oder die Vorherrschaft, so wie Deutschland sie auf-
faßt, die Geschicke der Menschheit bestimmen soll. Es gibt
45
Mantelnote vom 16. Juni 1919
also für Euch nur eine einzige mögliche Antwort: Gewalt,
Gewalt bis ans Ende, Gewalt ohne Grenzen und ohne Ende,
die rechtmäßige und triumphierende Gewalt, welche das
Recht zum Gesetz der Welt machen und jede Herrschaft,
deren Ziele selbstsüchtig sind, in den Staub strecken wird.“
Diese Stellungnahme ist in einer Rede des Premierministers
von Großbritannien am 14. Dezember 1917 klar zum Ausdruck ge-
kommen:
„In keinem Lande herrscht Sicherheit ohne die Gewiß-
heit der Bestrafung. In einem Staate, wo der Verbrecher
mächtiger ist als das Gesetz, gibt es keinen Schutz für Leben,
Eigentum oder Geld. Das Völkerrecht bildet keine Aus-
nahme, und, bis ihm Genugtuung zuteil geworden ist, wird
der Weltfriede stets jeder beliebigen Nation auf Gnade oder
Ungnade ausgeliefert sein, deren Professoren sie angelegent-
lichst zu glauben gelehrt haben, kein Verbrechen sei ein Un-
recht, solange es nur zu der Vergrößerung und Bereicherung
des Landes führt, dem sie Treue und Anhänglichkeit schul-
den. Oftmals in der Weltgeschichte hat es verbrecherische
Staaten gegeben. Wir haben es jetzt mit einem von ihnen zu
tun. Und es wird stets Verbrecherstaaten geben, bis die Be-
lohnung internationalen Verbrechens zu ungewiß wird, um
es nutzbringend zu machen, und bis die Bestrafung internatio-
nalen Verbrechens zu gewiß wird, um es noch anziehend zu
machen.“
Dasselbe Prinzip ist in einer Rede des Herrn Clemenceau vom
17. September 1918 klar auseinandergesetzt worden:
„Was wollen sie (die französischen Soldaten)? Was wol-
len wir selber? Kämpfen, unaufhörlich und siegreich kämpfen
bis zu der Stunde, wo der Feind begreifen wird, daß kein
Kompromiß zwischen einem solchen Verbrechen und der Ge-
rechtigkeit möglich ist.
Wir suchen nur den Frieden, und wir wollen ihn gerecht
und dauerhaft machen, damit die künftigen Geschlechter vor
den Abscheulichkeiten der Vergangenheit gesichert seien.“
Ebenso hat Herr Orlando am 3. Oktober 1918 erklärt:
„Wir werden den Frieden erlangen, wenn unsere Feinde
erkennen werden, daß die Menschheit das Recht und die
Pflicht hat, sich gegen die Fortdauer der Ursachen zu
schützen, die dieses fürchterliche Gemetzel verursacht haben,
und daß das von Millionen Menschen vergossene Blut zwar
nicht nach Rache schreit, aber die Verwirklichung des hohen
46
Anlage 3
Ideals erheischt, für welches dieses Blut so freigebig ver-
spritzt worden ist. Niemand denkt daran — selbst bei berech-
tigter Wiedervergeltung, — Methoden brutaler Gewalt oder
anmaßende Vorherrschaft oder Unterdrückung der Freiheit
irgendeines Volkes anzuwenden —; denn diese Methoden
und Politik sind es, welche die ganze Welt veranlaßten, sich
gegen die Zentralmächte zu erheben. Niemand wird jedoch
behaupten, daß die moralische Ordnung dadurch einfach
wiederhergestellt werden kann, daß derjenige, dem sein wider-
rechtliches Bestreben mißlungen ist, erklärt, daß er auf sein
Vorhaben verzichtet.
Fragen, die bis ins Innerste das friedliche Leben der
Völker beeinflussen, müssen, wenn einmal aufgeworfen, die
Lösung erhalten, welche die Gerechtigkeit verlangt.“
Die Gerechtigkeit ist also die einzige mögliche Grundlage für
die Abrechnung dieses fürchterlichen Krieges. Gerechtigkeit ist das,
was die Deutsche Delegation verlangt, und das, von dem diese
Delegation erklärt, man habe es Deutschland versprochen. Gerech-
tigkeit soll Deutschland werden. Aber es muß das eine Gerechtigkeit
für alle sein. Es muß das sein die Gerechtigkeit für die Toten, für
die Verwundeten, für die Waisenkinder, für alle, die in Trauer
sind, auf daß Europa von dem preußischen Despotismus erlöst
werde. Gerechtigkeit muß den Völkern zuteil werden, welche heute
unter einer Last von Kriegsschulden, die sich auf mehr als dreißig
Milliarden Pfund Sterling beziffern, und die sie zur Wahrung der
Freiheit auf sich genommen haben, fast zusammenbrechen. Gerech-
tigkeit muß den Millionen menschlicher Wesen zuteil werden, deren
Haus und Herd, deren Grundbesitz, deren Fahrzeuge und deren
Eigentum die deutsche Roheit geplündert und zerstört hat.
Deshalb haben die Alliierten und Assoziierten Mächte nach-
drücklichst erklärt, Deutschland müsse als grundlegende Bedingung
des Vertrages ein Werk der Wiedergutmachung bis zur äußersten
Grenze seiner Fähigkeit unternehmen; ist doch die Wiedergut-
machung des Unrechts, das man verursacht hat, das eigentlichste
Wesen der Gerechtigkeit.
Deshalb bestehen sie darauf, daß diejenigen Persönlichkeiten,
welche am offensichtlichsten für den deutschen Angriff sowie für
die Handlungen der Barbarei und der Unmenschlichkeit, die von
deutscher Seite die Kriegführung geschändet haben, verantwortlich
sind, einer Gerechtigkeit überantwortet werden, die sie bisher in
ihrem eigenen Lande nicht ereilt hat. Deswegen auch muß Deutsch-
land sich auf einige Jahre gewissen Beschränkungen und gewissen
Sonderanordnungen unterwerfen.
Deutschland hat die Industrien, die Bergwerke und die Fabriken
der ihm benachbarten Länder ruiniert. Es hat sie nicht während des
47
Mantelnote vom 16. Juni 1919
Kampfes zerstört, sondern in der wohlüberlegten und erwogenen
Absicht, seiner eigenen Industrie zu ermöglichen, sich der Märkte
jener Länder zu bemächtigen, bevor ihre Industrie sich von der
Verwüstung, die es ihnen in frivoler Weise zugefügt hatte, sich
wieder hat erholen können. Deutschland hat seine Nachbarn alles
dessen beraubt, was es nutzbar machen oder fortschleppen konnte.
Es hat die Schiffe aller Nationen auf hoher See zerstört, da, wo es
für die Passagiere und Besatzungen keine Rettungsaussicht gab. Es
ist nur gerecht, daß Ersatz geleistet wird und daß die so miß-
handelten Völker einige Zeit gegen die Konkurrenz einer Nation
geschützt werden, deren Industrien intakt sind, ja sogar durch die
in den besetzten Gebieten gestohlenen Ausrüstungsgegenstände eine
Stärkung erfahren haben. Wenn dies harte Prüfungen für Deutsch-
land sind, so ist es Deutschland selber, welches sie sich zugezogen
hat. Einer muß unter den Folgen des Krieges leiden. Wer soll
leiden? Deutschland oder nur die Völker, denen Deutschland Böses
zugefügt hat?
Allen denen, die ein Recht auf Gerechtigkeit haben, sie nicht
widerfahren zu lassen, das hieße, die Welt neuen Unheilen1 aus-
gesetzt lassen. Wenn das deutsche Volk selber oder irgendeine
andere Nation davon abwendig gemacht werden soll, den Spuren
Preußens zu folgen, wenn die Menschheit von der Überzeugung
befreit werden soll, ein Krieg für selbstsüchtige Ziele sei jedem
Staate erlaubt, wenn die alten Ideen in die Vergangenheit verwiesen
werden sollen, und wenn die Nationen wie die Einzelwesen sich
unter die Herrschaft des Gesetzes schicken sollen, ja, wenn sogar in
einer nahen Zukunft die Rede von Versöhnung und Beruhigung
sein soll, so wird das geschehen, weil diejenigen, welche die Ver-
antwortung für den Friedensschluß tragen, den Mut gehabt haben,
darüber zu wachen, daß der Gerechtigkeit keine Gewalt angetan
werde, wegen des bloßen Vorteils eines bequemen Friedens.
Die deutsche Denkschrift behauptet, es müsse der deutschen
Revolution Rechnung getragen werden, und das deutsche Volk sei
nicht verantwortlich für die Politik seiner Regierenden, da es sie
ja aus der Macht vertrieben habe.
Die Alliierten und Assoziierten Mächte erkennen di e eingetretene
Veränderung an und beglückwünschen sich dazu. Diese Umwand-
lung stellt eine große Friedenshoffnung und eine Neuordnung für
die Zukunft Europas dar. Aber sie kann die Liquidierung des Krieges
selbst nicht berühren. Die deutsche Revolution wurde verzögert,
bis die deutschen Heere im Felde geschlagen worden waren, bis
jede Hoffnung, aus einem Eroberungskriege Nutzen zu ziehen, sich
verflüchtigt hatte. Sowohl während des ganzen Verlaufes des Krieges
1 Sic. Im französischen Original steht „ä de nouveaux desastres“.
48*
Anlage 3
wie auch vor dem Kriege ist das deutsche Volk und sind seine Ver-
treter für den Krieg gewesen; sie haben für die Kredite gestimmt,
sie haben die Kriegsanleihen gezeichnet, sie haben allen Befehlen
ihrer Regierung, so roh auch diese Befehle sein mochten, gehorcht.
Sie haben die Verantwortung für die Politik ihrer Regierung geteilt;
hätten sie sie doch in jedem Augenblick, wenn sie nur gewollt
hätten, stürzen können. Wenn diese Politik der deutschen Regierung
geglückt wäre, so hätte das deutsche Volk ihr mit ebensoviel Be-
geisterung zugejauchzt, wie es den Kriegsausbruch begrüßt hat.
Das deutsche Volk kann also nicht behaupten, daß, weil es, nachdem
der Krieg einmal verloren, seine Regierenden gewechselt hat, die
Gerechtigkeit wolle, daß es den Folgen seiner Kriegshandlungen
entzogen werde.
II
Die Alliierten und Assozüerten Mächte glauben demnach, daß
der Friede, den sie vorgeschlagen haben, seinem Grundwesen nach
ein Rechtsfriede ist. Sie sind nicht weniger gewiß, daß es ein Friede
des Rechtes ist, in Gemäßheit der im Augenblick des Waffenstill-
standes anerkannten Grundsätze. Man kann wohl nicht an der Ab-
sicht der Alliierten und Assoziierten Mächte zweifeln, zur Grundlage
der europäischen Ordnung das Prinzip zu machen, die unterdrückten
Völker zu befreien und die nationalen Grenzen soweit wie möglich
gemäß dem Willen der in Frage kommenden Völker neu zu ziehen,
indem sie zu gleicher Zeit jedem Volke alle Erleichterungen zuteil
werden lassen, um in völkischer und wirtschaftlicher Beziehung ein
unabhängiges Leben zu führen. Diese Absicht ist nicht nur in der
Rede des Präsidenten Wilson im Kongreß vom 8. Januar 1918 kund-
getan worden, sondern in „den Grundsätzen der Regelung, die in
den folgenden Reden zur Kenntnis gebracht worden sind“, und
welche die angenommene Grundlage des Friedens waren. Eine
Denkschrift über diese Frage ist der vorliegenden Note in der An-
lage beigefügt.
In Anwendung dieser Grundsätze haben die Alliierten und
Assoziierten Mächte Bestimmungen getroffen, um Polen als unab-
hängigen Staat wiederherzustellen, mit „einem freien und sicheren
Zugang zum Meere“. Alle die „von unzweifelhaft polnischen Be-
völkerungen bewohnten Gebiete“ sind Polen zuerkannt worden.
Alle von einer deutschen Mehrheit bewohnten Gebiete sind, ab-
gesehen von einigen vereinzelten Städten und von auf vor kurzem
gewaltsam enteigneten Landgütern gegründeten und inmitten un-
zweifelhaft polnischer Landstriche belegenen Ansiedelungen, Deutsch-
land belassen worden. Überall, wo der Wille des Volkes zweifelhaft
ist, ist eine Volksabstimmung vorgesehen worden. Die Stadt Danzig
4* Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
49*
Mantelnote vom 16. Juni 1919
soll die Verfassung einer Freistadt erhalten; ihre Einwohner sollen
autonom sein; sie sollen nicht unter die Herrschaft Polens kommen
und werden keinen Teil des polnischen Staates bilden. Polen soll
gewisse wirtschaftliche Rechte in Danzig bekommen; die Stadt sel-
ber ist von Deutschland abgetrennt worden, weil es kein anderes
mögliches Mittel gab, ihr jenen „freien und sicheren Zugang zum
Meere“ zu verschaffen, welchen Deutschland abzutreten versprochen
hatte.
Die deutschen Gegenvorschläge stehen im vollständigen Wider-
spruch zu der vereinbarten Grundlage des Friedens. Sie zielen darauf
ab, große Majoritäten unstreitbar polnischer Bevölkerung unter
deutscher Herrschaft zu halten.
Um die Landverbindung zwischen Ost- und Westpreußen auf-
rechtzuerhalten, deren Handel stets in der Hauptsache durch Küsten-
schiffahrt befördert worden ist, soll einer Nation von über zwanzig
Millionen Menschen, die bis an die Küste heran in der Bevölkerung
die Majorität bilden, der sichere Zugang zur See verweigert werden.
Diese Vorschläge können daher von den Alliierten und Assoziierten
Mächten nicht angenommen werden. Gleichzeitig hat jedoch die
deutsche Note in gewissen Fällen die Berechtigung einer Abände-
rung dargetan, welche erfolgen soll; und mit Rücksicht auf die Be-
hauptung, daß Oberschlesien, obgleich die Bevölkerung im Ver-
hältnis von 2 zu 1 überwiegend polnisch ist (1250000 gegen 650000
nach der deutschen Volkszählung von 1910), bei Deutschland zu
verbleiben wünscht, sind die Alliierten und Assoziierten Mächte
damit einverstanden, daß die Frage, ob Oberschlesien zu Deutsch-
land oder zu Polen gehören soll, durch Abstimmung der Bevölke-
rung selber entschieden wird.
Das von den Alliierten und Assoziierten Mächten für das Saar-
becken vorgeschlagene Regime soll 15 Jahre dauern. Die Mächte
haben diese Regelung für erforderlich gehalten, sowohl mit Rück-
sicht auf den allgemeinen Plan der Wiedergutmachung als auch,
um Frankreich sofortige und gewisse Entschädigung für die will-
kürliche Zerstörung seiner im Norden belegenen Kohlenminen zu
sichern. Das Gebiet ist nicht unter französische Oberhoheit ge-
stellt, sondern unter die Kontrolle des Völkerbundes. Diese Rege-
lungsweise hat den zwiefachen Vorteil, daß hierdurch keine Annexion
vollzogen wird, während sie gleichzeitig den Besitz der Kohlenfelder
an Frankreich überträgt und die wirtschaftliche Einheit des Gebietes
aufrechterhält, welche für die Interessen der Einwohner von sol-
cher Wichtigkeit ist. Nach Ablauf der 15 Jahre wird die gemischte
Bevölkerung, welche in der Zwischenzeit ihre eigenen örtlichen An-
gelegenheiten unter der regierenden Aufsicht des Völkerbundes ge-
regelt haben wird, volle Freiheit haben, um darüber zu entscheiden,
ob sie die Vereinigung mit Deutschland oder die Vereinigung mit
50*
Anlage 3
Frankreich oder die Fortsetzung des durch den Vertrag begründeten
Regimes vorzieht.
Was die Gebiete anbelangt, deren Übertragung von Deutschland
an Dänemark und Belgien vorgeschlagen worden ist, so sind einige
von diesen von Preußen gewaltsam angeeignet worden, in jedem
Falle aber wird eine Übertragung nur stattfinden auf Grund der
Entscheidung der Bevölkerung, die unter Bedingungen gefällt wer-
den soll, welche die volle Wahlfreiheit sichern.
Endlich haben die Alliierten und Assoziierten Mächte sich davon
überzeugen können, daß die eingeborenen Bevölkerungen der deut-
schen Kolonien starken Widerspruch dagegen erheben, daß sie
wieder unter Deutschlands Oberherrschaft gestellt werden, und die
Geschichte dieser deutschen Oberherrschaft, die Traditionen der
Deutschen Regierung und die Art und Weise, in welcher diese Kolo-
nien verwandt wurden als Ausgangspunkte für Raubzüge auf den
Handel der Erde, machen es den Alliierten und Assoziierten Mächten
unmöglich, Deutschland die Kolonien zurückzugeben oder dem
Deutschen Reiche die Verantwortung für die Ausbildung und Er-
ziehung der Bevölkerung anzuvertrauen.
Aus diesen Gründen sind die Alliierten und Assoziierten Mächte
davon überzeugt, daß ihre territorialen Vorschläge sowohl mit der
vereinbarten Grundlage des Friedens, als auch mit den notwendigen
Voraussetzungen für den künftigen Frieden Europas in Einklang
stehen. Sie sind daher nicht geneigt, sie über das angegebene Maß
hinaus abzuändern.
III
In Verbindung mit der Regelung der territorialen Fragen stehen
die Vorschläge hinsichtlich internationaler Kontrolle der Flüsse. Es
entspricht genau der vereinbarten Friedensgrundlage und dem an-
erkannten öffentlichen Rechte Europas, daß Binnenstaaten ein siche-
rer Zugang zum Meere auf den durch ihr Gebiet fließenden schiff-
baren Flüssen zusteht. Die Alliierten und Assoziierten Mächte sind
der Ansicht, daß die von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen für das
freie Leben der jetzt neu begründeten Binnenstaaten unentbehrlich
sind und keine Schmälerung der Rechte der übrigen Uferstaaten dar-
stellen. Von dem Gesichtspunkte der überholten Lehre aus be-
trachtet, daß jeder Staat sich in einem Verzweiflungskampfe befindet
um die Oberherrschaft über seine Nachbarn, erscheint ohne Zweifel
eine solche Regelung als geeignet, den Angreifer an der gewalt-
samen Erdrosselung seines Gegners zu verhindern. Wenn es aber
das ideale Ziel ist, daß die Völker auf der Bahn des Handels und
des Friedens gemeinsam Vorgehen sollen, so ist diese Regelung
natürlich und gerecht. Die vorgeschriebene Hinzuziehung von Ver-
tretern von Nichtuferstaaten zu den für diese Flüsse vorgesehenen
4*
51*
Mantelnote vom 16. Juni 1919
Kommissionen dient dazu, die Berücksichtigung des Interesses der
Gesamtheit zu sichern. In der Durchführung dieser Grundsätze sind
jedoch einige Abänderungen der ursprünglichen Vorschläge gemacht
worden.
IV
Die deutsche Delegation hat offenbar die wirtschaftlichen und
finanziellen Bestimmungen in erheblichen Punkten falsch verstanden,
Die Alliierten und Assoziierten Mächte haben keinerlei Absicht,
Deutschland zu erdrosseln oder daran zu hindern, den ihm zukom-
menden Platz im Welthandel einzunehmen. Wenn Deutschland den
Friedensvertrag hält und jene aggressiven und selbstsüchtigen Ten-
denzen aufgibt, die ebenso in seiner geschäftlichen wie auch in
seiner politischen Handlungsweise zutage getreten sind, so haben
die Alliierten und Assoziierten Mächte die Absicht, daß Deutschland
gerecht behandelt werden soll hinsichtlich des Bezuges von Roh-
stoffen und des Absatzes von Waren, beschränkt nur durch die be-
reits erwähnten Übergangsvorschriften, welche im Interesse der
von Deutschland ausgeplünderten und geschwächten Völker erlassen
sind. Sie wünschen, daß die durch den Krieg wachgerufenen Leiden-
schaften möglichst bald aussterben sollen, und daß alle Nationen
Anteil haben sollen an dem Wohlstände, der sich aus der ehrlichen
Versorgung der gegenseitigen Bedürfnisse entwickelt. Sie wünschen,
daß Deutschland diesen Wohlstand genießen soll ebenso wie die
anderen Völker, obgleich viele der daraus gewonnenen Früchte not-
wendigerweise auf viele Jahre hinaus verwandt werden müssen zur
Wiedergutmachung der an den Nachbarn begangenen Schäden. Um
an dieser ihrer Absicht keinen Zweifel bestehen zu lassen, sind eine
Anzahl Veränderungen in den finanziellen und wirtschaftlichen Be-
dingungen des Vertrages gemacht worden. Aber die Grundsätze,
auf denen der Vertrag aufgebaut ist, müssen bestehen bleiben.
V
Die Deutsche Delegation hat die Vorschläge des Vertrages hin-
sichtlich der Wiedergutmachung in erheblichem Maße falsch ver-
standen.
Nach diesen Vorschlägen ist die von Deutschland zu zahlende
Summe auf dasjenige beschränkt, was nach den Bedingungen des
Waffenstillstandes über den der Zivilbevölkerung der Alliierten Staa-
ten durch deutschen Angriff verursachten Schaden zweifelsfrei ge-
rechtfertigt ist. Sie bedingen nicht einen solchen Eingriff in die
inneren Verhältnisse Deutschlands von seiten der „Commission des
Reparations“, wie von der Gegenseite behauptet worden ist.
Sie verfolgen das Ziel, die Zahlung der Reparation, die von
Deutschland geschuldet wird, so leicht und angenehm als möglich
52*
Anlage 3
für beide Teile zu gestalten, und werden auch in diesem Sinne aus-
gelegt werden. Die Alliierten und Assoziierten Mächte sind daher
nicht geneigt, Änderungen an ihnen vorzunehmen.
Sie stimmen jedoch mit der Deutschen Delegation darin überein,
daß es erwünscht ist, so bald wie möglich die von Deutschland zu
zahlende Summe in Übereinstimmung mit den Alliierten endgültig
festzusetzen. Es ist nicht möglich, diese Summe heute zu be-
stimmen, da der Umfang des Schadens und die Kosten der Wieder-
herstellung noch nicht festgestellt worden sind. Die Alliierten und
Assoziierten Mächte sind daher bereit, dem Deutschen Reiche alle
möglichen und angemessenen Erleichterungen zuteil werden zu
lassen, damit es die zerstörten und beschädigten Gebiete besichtigen
und daraufhin binnen vier Monaten nach Unterzeichnung des Ver-
trages Vorschläge machen kann für eine Regelung der Ansprüche
auf Grund der verschiedenen Schadensarten, für die Deutschland
verantwortlich ist. Sollte es möglich sein, in den darauffolgenden
zwei Monaten zu einer Vereinbarung zu gelangen, so wird der ge-
naue Umfang der deutschen Schuld dadurch festgestellt worden
sein. Wenn eine solche Vereinbarung nicht zustande kommt in der
angegebenen Zeit, so wird die vom Vertrage vorgesehene Rege-
lungsweise zur Anwendung gelangen.
VI
Die Alliierten und Assoziierten Mächte haben dem Anträge der
Deutschen Delegation, Deutschland sofort in den Völkerbund auf-
zunehmen, sorgfältige Beachtung zuteil werden lassen. Sie sind
jedoch nicht in der Lage, diesem Anträge stattzugeben.
Die deutsche Revolution ist bis auf die letzten Augenblicke des
Krieges verschoben worden, und es besteht bisher keine Gewähr
dafür, daß die durch sie vollzogene Änderung einen dauernden Zu-
stand darstellt.
Mit Rücksicht auf die gegenwärtige Stimmung unter den Völ-
kern der Welt ist es nicht möglich, zu erwarten, daß die freien Völker
der Erde sich sofort in gleichberechtigter Gemeinschaft mit jenen
zusammen niederlassen, von denen sie so schweres Unrecht erlitten
haben. Diesen Schritt in einem zu frühen Zeitpunkt zu versuchen,
würde heißen, den Prozeß der Versöhnung, den alle wünschen,
aufzuhalten anstatt zu fördern.
Aber die Alliierten und Assoziierten Mächte glauben, daß, wenn
das deutsche Volk durch Handlungen beweist, daß es die Absicht
hat, die Friedensbedingungen zu erfüllen, und daß es für immer auf
jene aggressive Politik verzichtet, die ihm den übrigen Teil der
Welt entfremdet hat und die Ursache des Krieges gewesen ist1, und
1 Die amtliche deutsche Übersetzung von 1919 war hier ungenau und mußte
geändert werden.
53*
Mantelnote vom 16. Juni 1919
daß es nunmehr ein Volk geworden ist, mit dem man in nachbar-
licher Kameradschaft leben kann, dann werden die Erinnerungen der
letzten Jahre bald entschwinden, und es wird möglich sein, in einer
nicht fernen Zukunft den Völkerbund durch die Aufnahme von
Deutschland zu vervollständigen. Die Alliierten und Assoziierten
Mächte wünschen aufrichtig, daß dies der Fall sein möge. Sie
glauben, daß die Aussichten für die Zukunft der Welt abhängen
werden von der freundschaftlichen und engen Zusammenarbeit aller
Völker in der Regelung internationaler Fragen und in der Förderung
des Wohlstandes und des Fortschrittes der Menschheit. Der frühe
Eintritt Deutschlands in den Bund muß jedoch in der Hauptsache
abhängen von der Haltung des deutschen Volkes selber.
VII
In ihren Erörterungen über die wirtschaftlichen Fragen und auch
an anderen Stellen hat die Deutsche Delegation die von den Alliierten
und Assoziierten Mächten angewandte Blockade wiederholt ver-
urteilt.
Die Blockade ist und war immer eine rechtmäßige und an-
erkannte Kriegsmaßnahme; ihre Anwendung ist von Zeit zu Zeit
den veränderten Verhältnissen im internationalen Verkehrswesen
angepaßt worden.
Wenn die Alliierten und Assoziierten Mächte Deutschland gegen-
über eine Blockade von besonderer Strenge angewandt haben, welche
sie in konsequenter Weise den Grundsätzen des Völkerrechtes an-
zupassen suchten, so geschah dies wegen des verbrecherischen Cha-
rakters1 des von Deutschland angefangenen Krieges und wegen der
barbarischen Methoden1 2, die Deutschland in der Durchführung
dieses Krieges angewandt hat.
Die Alliierten und Assoziierten Mächte haben es nicht für nötig
gehalten, auf alle Behauptungen der deutschen Note Punkt für Punkt
zu antworten. Wenn einige der Ausführungen dieser Note mit Still-
schweigen übergangen werden, so bedeutet es nicht, daß sie zu-
gegeben werden oder daß ihre spätere Diskutierbarkeit anerkannt
wird.
VIII
Zum Schluß müssen die Alliierten und Assoziierten Mächte es
offen aussprechen, daß dieser Brief und die angeschlossene Denk-
schrift ihr letztes Wort in der Angelegenheit darstellen.
Sie haben die deutschen Bemerkungen und Gegenvorschläge
mit ernster Aufmerksamkeit und Sorgfalt durchgeprüft. Sie haben in
1 caractere criminel.
2 methodes barbares.
54*
Anlage 3
Verfolg dieser Prüfung wichtige praktische Konzessionen gemacht,
sie halten jedoch die Grundsätze des Vertrages aufrecht.
Sie sind der Ansicht, daß dieser Vertrag nicht nur eine gerechte
Erledigung dieses großen Krieges darstellt, sondern daß er auch
die Grundlage schafft, auf der die Völker Europas in Freundschaft
und Gleichheit zusammen leben können. Er schafft aber auch gleich-
zeitig den Apparat für die friedliche Erledigung aller völkerrecht-
lichen Fragen durch Aussprache und Übereinstimmung, wodurch
die im Jahre 1919 geschaffene Regelung selber von Zeit zu Zeit
abgeändert werden und neuen Ereignissen und neu entstehenden
Verhältnissen angepaßt werden kann.
Sicherlich ist er nicht gegründet auf einer allgemeinen Ent-
schuldigung der Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918. Er wäre anders
kein Rechtsfrieden. Der Vertrag stellt jedoch einen ehrlichen und
bewußten Versuch dar, „jene Herrschaft des Rechts, gegründet auf
der Übereinstimmung der Regierten und erhalten durch die organi-
sierte öffentliche Meinung der Menschheit“, zu schaffen, die als
Grundlage des Friedens vereinbart wurde.
In diesem Sinne muß der Friede in seiner jetzigen Gestalt ent-
weder angenommen oder abgelehnt werden.
Die Alliierten und Assoziierten Mächte erwarten daher eine Er-
klärung der Deutschen Delegation binnen 5 Tagen, vom Datum
dieser Mitteilung, daß sie bereit ist, den Vertrag in seiner heutigen
Gestalt zu unterzeichnen.
Wenn die Delegation innerhalb der bezeichneten Frist ihre Be-
reitschaft erklärt, den Vertrag in seiner jetzigen Gestalt zu unter-
zeichnen, so werden Vorbereitungen für die sofortige Unterzeich-
nung des Friedens in Versailles getroffen werden.
Mangels einer solchen Erklärung stellt diese Mitteilung die Noti-
fikation dar, die in Artikel 2 der Vereinbarung vom 16. Februar 1919
über die Verlängerung des Waffenstillstandes, gezeichnet am
11. November 1918 und bereits verlängert durch die Vereinbarun-
gen vom 13. Dezember 1918 und 16. Januar 1919, enthalten ist.
Der genannte Waffenstillstand wird damit beendet sein und die
Alliierten und Assoziierten Mächte werden diejenigen Schritte er-
greifen, die sie zur Erzwingung ihrer Bedingungen für erforderlich
halten.
Genehmigen Sie, Herr Präsident, die Versicherung meiner
Hochachtung. gez. Clemenceau
55*
Anlage 4
Aus der
„Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte auf die
Bemerkungen der Deutschen Delegation zu den
Friedensbedingungen“
Vorbemerkung
Gleichzeitig mit der vorstehend abgedruckten Mantelnote vom
16. Juni 1919 dem Generalkommissar der Deutschen Friedensdelega-
tion, Ministerialdirektor Dr. Simons, in Versailles übergeben. Fran-
zösischer und englischer Wortlaut dieser „Antwort der Alliierten
und Assoziierten Mächte usw.“ siehe „Kommentar zum Friedens-
vertrage“, herausgegeben von Professor Dr. Walter Schücking
(Urkunden zum Friedensvertrage von Versailles vom 28. Juni 1919,
herausgegeben von Dr. jur. Herbert Kraus und Gustav Rö-
diger, Erster Teil, S. 574ff.). Die „Antwort usw.“ ist dort als
„Denkschrift“ bezeichnet.
Nachfolgend sind nur die für die Frage der Schuld am Kriege
wichtigsten Abschnitte und zwar nach der deutschen amtlichen Über-
setzung („Das Ultimatum der Entente. Vollständiger Text der Man-
telnote und der Antwort auf die deutschen Gegenvorschläge“), her-
ausgegeben von der „Deutschen Liga für Völkerbund“, Berlin 1919,
zum Abdruck gebracht.
Teil V
Bestimmungen über Landheer, Seemacht und Luftfahrt
Abschnitt I
Bestimmungen über das Landheer
I
Die Alliierten und Assozüerten Mächte legen Wert darauf, be-
sonders hervorzuheben, daß ihre die Rüstungen Deutschlands be-
treffenden Bedingungen nicht nur zum Zwecke hatten, Deutsch-
land die Wiederaufnahme seiner kriegerischen Angriffspolitik un-
möglich zu machen. Diese Bedingungen stellen vielmehr gleichzeitig
den ersten Schritt zu der allgemeinen Beschränkung und Begrenzung
56*
Anlage 4
der Rüstungen dar, welche die bezeichneten Mächte als eines der
besten Mittel zur Verhinderung von Kriegen zu verwirklichen suchen,
und die herbeizuführen zu den ersten Pflichten des Völkerbundes
gehören wird.
II
Sie müssen jedoch feststellen, daß das ungeheure Anwachsen
der Rüstungen in den letzten Jahrzehnten den Staaten Europas durch
Deutschland aufgezwungen worden ist. Weil Deutschland seine
Macht vermehrte, mußten seine Nachbarn das gleiche tun, wollten
sie nicht dem Zwang des deutschen Schwertes widerstandslos aus-
geliefert sein. Es ist daher ebenso gerecht wie notwendig, mit der
zwangsweisen Begrenzung der Rüstungen bei dem Staate zu be-
ginnen, den die Verantwortung für ihr Anwachsen trifft. Erst wenn
der Angreifer den Weg gezeigt hat, können auch die Angegriffenen
in aller Sicherheit ihm folgen.
III
Die Alliierten und Assoziierten Mächte können keinerlei grund-
sätzliche Abänderungen der Bedingungen zugestehen, die in den
Artikeln 159 bis 180, 203 bis 208 und 211 bis 213 des Friedensver-
trages aufgezählt sind.
Deutschland hat bedingungslos einer Abrüstung vor den Alli-
ierten und Assoziierten Mächten zuzustimmen. Es hat die sofortige
Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht anzunehmen; eine genau
festgelegte Organisation und der Rüstungsmaßstab werden ihm
vorgeschrieben werden. Es ist wesentlich, daß eine besondere Kon-
trolle mit Beziehung auf alles ausgeübt wird, was die Einschränkung
seiner bewaffneten Macht und seiner Rüstung, die Schleifung seiner
Befestigungen und die Einschränkung, Umwandlung oder Vernich-
tung seiner militärischen Anlagen betrifft.
IV
Die Alliierten und Assoziierten Mächte betrachten die genaue
Durchführung dieser Grundsätze als eine heilige Pflicht und lehnen
es ab, hiervon abzugehen; sie sind nichtsdestoweniger bereit, im
Interesse des allgemeinen Friedens und der Wohlfahrt des deutschen
Volkes folgende Änderungen der Bestimmungen für das Landheer,
Artikel 159 bis 180 des vorliegenden Vertrages, zu bewilligen.
a) Deutschland wird ermächtigt, die Verminderung seines Hee-
res langsamer auszuführen, als festgesetzt worden war, und zwar
bis auf eine Höchstzahl von 200000 Mann, die in einem Zeitraum
von 3 Monaten erreicht sein muß. Am Ende dieser 3 Monate und
alle weiteren 3 Monate wird eine Kommission militärischer Sach-
verständiger der Alliierten und Assoziierten Mächte die Stärke des
57*
Aus der „Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte usw.“
deutschen Heeres für die nächsten 3 Monate festsetzen; das Ziel
hierbei ist, das deutsche Heer sobald wie möglich, in jedem Falle
aber bis zum Ablauf der Geltungsdauer des Gesetzes über die
Reichswehr, d. h. bis zum 30. März 1920, auf die im Vertrage fest-
gesetzte Zahl von 100000 Mann zu verkleinern.
b) Die Zahl von Formationen, von Offizieren und ihnen Gleich-
gestellten sowie von Zivilpersonal soll entsprechend den Bedin-
gungen des vorliegenden Vertrages im Verhältnis zu der im vorher-
gehenden Absatz a festgesetzten Gesamtstärke stehen.
Ebenso soll die Zahl der Geschütze, Maschinengewehre, Minen-
werfer und Gewehre sowie die Mengen von Munition und Aus-
rüstungsgegenständen entsprechend den Bestimmungen des vor-
liegenden Vertrages im Verhältnis zu der im vorhergehenden Absatz
a festgesetzten Gesamtstärke stehen.
c) Keinerlei Änderung in der Rüstungsorganisation, wie sie durch
den Vertrag festgesetzt ist, wird gestattet, bis Deutschland in den
Völkerbund aufgenommen ist, der dann etwa erwünscht erschei-
nende Änderungen genehmigen kann.
d) Der gesamte Rest des deutschen Kriegsmaterials ist inner-
halb der durch den Friedensvertrag festgesetzten Fristen abzuliefern.
Die durch den Friedensvertrag für die Abrüstung der Befesti-
gungen vorgesehenen Fristen werden wie folgt abgeändert:
„Alle Festungswerke, Festungen und Landbefestigungen, die
sich auf deutschem Gebiete westlich einer 50 km ostwärts des Rheins
gezogenen Linie befinden, sind abzurüsten und zu schleifen.
„Diejenigen von diesen Festungen, die in dem Gebiete liegen,
das nicht durch die alliierten Heere besetzt ist, sind innerhalb einer
Frist von zwei Monaten abzurüsten und innerhalb einer solchen von
sechs Monaten zu schleifen.
„Diejenigen, die innerhalb des von den alliierten Heeren besetzten
Gebietes liegen, sind innerhalb der vom Alliierten Oberkommando
festzusetzenden Zeiten abzurüsten und zu schleifen, wobei die er-
forderlichen Arbeitskräfte von der Deutschen Regierung zu stel-
len sind.“
V
Mit den im vorstehenden Paragraphen IV genannten Zusätzen
und Abänderungen bleiben die Bestimmungen über das Landheer
(Art. 159—180) und ebenso diejenigen, welche die Durchführung der
in den Artikeln 203, 208, 211 und 213 niedergelegten Bedingungen
betreffen, aufrechterhalten.
Anlage 4
Abschnitt II
Bestimmungen über die Seemacht
Die auf die Bestimmungen über die Seemacht bezüglichen Be-
dingungen und Vorschläge der deutschen Delegierten können nicht
berücksichtigt werden. Alle diese Artikel sind sorgfältig abgefaßt
worden und müssen bedingungslos angenommen werden. Sie grün-
den sich auf den Wunsch nach einer allgemeinen Rüstungsbeschrän-
kung aller Nationen und gleichzeitig auf das Bestreben, Deutschland
die für seinen Schutz und für Seepolizeidienste notwendigen See-
streitkräfte zu belassen.
Keinerlei Verhandlung über diesen Teil des Vertrages ist vor
seiner Unterzeichnung nötig. Alle Einzelheiten können durch die
Marinekommission geregelt werden, die späterhin gemäß den Ver-
tragsbestimmungen eingesetzt werden wird (Teil V, Abschnitt IV).
Keinerlei finanzielle Maßnahmen im Zusammenhang mit der Ab-
lieferung der im Friedensvertrag erwähnten Kriegsschiffe werden
durch die Alliierten und Assoziierten Mächte in Erwägung gezogen;
die Übergabe der Schiffe wird bedingungslos gefordert.
Teil VII
I
Deutschlands Verantwortlichkeit bei der Entstehung des Krieges
Die Deutsche Delegation hat ein langes Memorandum hinsicht-
lich der Verantwortlichkeit Deutschlands für die Entstehung des
Krieges vorgelegt1. Das Hauptargument dieses Dokumentes geht
dahin, daß in der allerletzten Minute der Krisis sich die Deutsche
Regierung bemüht hat, einen Bundesgenossen zur Mäßigung zu ver-
anlassen, dem sie vorher volle Aktionsfreiheit gegeben hatte, und
daß es die Mobilisierung der russischen Armee gewesen sei, die
den Ausbruch des allgemeinen Krieges schließlich unvermeidlich
gemacht hätte.
Die Alliierten und Assoziierten Mächte möchten indessen be-
tonen, daß ihre Auffassung bezüglich der Verantwortlichkeit für die
Entstehung des Krieges nicht allein auf einer Analyse der Ereignisse
beruht, welche in den letzten kritischen Stunden der Krisis statt-
fanden, die dem eigentlichen Beginn der Feindseligkeiten voran-
ging. Die Alliierten und Assoziierten Mächte bemerken, daß das
deutsche Memorandum zu einem großen Teile der Erörterung eines
1 Siehe oben Anlage 2, S. 27* ff.
59*
Aus der „Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte usw.“
einzigen Teiles der europäischen Lage während der dem Kriege
vorausgehenden Jahre gewidmet ist. Die in ihm enthaltenen Be-
merkungen und die angeführten Dokumente werden ohne Zweifel
dem Geschichtschreiber der Zukunft wertvolles Material bieten; die
Alliierten und Assoziierten Mächte können jedoch darin weder eine
Enthüllung neuer Tatsachen noch eine Auslegung bereits bekannter
Tatsachen erblicken, welche geeignet wären, im geringsten die
Schlußfolgerungen zu ändern, zu denen sie bereits gelangt sind. Sie
sind um so mehr geneigt, diesen Standpunkt einzunehmen, als sie
beobachten, daß beträchtliche Abweichungen in den drei Über-
setzungen des Dokuments, die sie erhalten haben, bestehen. Nichts
in dem deutschen Memorandum erschüttert ihre Überzeugung, daß
die unmittelbare Ursache für den Krieg der Entschluß gewesen ist,
den die für die deutsche Politik in Berlin verantwortlichen Personen
und ihre Bundesgenossen in Wien und Budapest vorsätzlich trafen,
die Lösung einer europäischen Frage den Nationen Europas durch
die Drohung eines Krieges aufzuzwingen und für den Fall, daß die
übrigen Mitglieder des europäischen Konzerts sich weigerten, sie
durch eine sofortige Kriegserklärung zu zwingen.
Das deutsche Memorandum gibt tatsächlich die Richtigkeit
dieser Anschauungen vorbehaltlos zu. Die serbische Frage war nicht
und hätte niemals eine rein österreichisch-ungarische Frage sein
können. Sie berührte Deutschland. Sie berührte alle Großmächte.
Sie war ihrem Wesen nach eine europäische Frage, da sie die Kon-
trolle des Balkans aufs Spiel setzte, und daher nicht nur den Frieden
auf dem Balkan, sondern den ganz Europas betraf. Es war unmög-
lich, sie zu isolieren, und die Verfasser des Ultimatums vom 23. Juli
wußten, daß sie nicht isoliert werden konnte. Wenn demnach die
Deutsche und die Österreichisch-Ungarische Regierung eine fried-
liche Lösung gewünscht hätten, so hätten sie sich mit den anderen
Mächten beraten, deren Lebensinteressen auf dem Spiele standen,
und sie hätten nur gehandelt, nachdem sie alles versucht hätten, zu
einer gütlichen Lösung zu gelangen. Jedoch das Memorandum der
Deutschen Delegation gibt ausdrücklich an, daß die Deutsche Re-
gierung ihren Bundesgenossen ermächtigt hat, eine Lösung der
österreichisch-serbischen Frage auf seine eigene Initiative und durch
Krieg zu versuchen. „Im Vertrauen auf die Erklärung des Wiener
Kabinetts“, sagt es, „hielt die Deutsche Regierung eine militärische
Expedition Österreichs gegen Serbien zur Aufrechterhaltung des
Friedens für unerläßlich. Die Deutsche Regierung hielt sich für ver-
pflichtet, die Gefahr einer russischen Intervention und des Casus
foederis, der daraus entstehen konnte, zu laufen. Sie ließ ihrem
Bundesgenossen Österreich vollkommen freie Hand, die Art seiner
Forderungen gegenüber Serbien zu bestimmen. Als auf das Ulti-
matum eine Antwort erfolgte, die selbst Deutschland ausreichend er-
60*
Anlage 4
schien, um die Aufgabe der Expedition zu rechtfertigen, teilte es
diese seine Ansicht Wien mit1.“
Die spätere Haltung der Deutschen Regierung steht vollkommen
im Einklang mit ihrer anfänglichen Politik. Sie unterstützte ohne
Prüfung die Ablehnung der außerordentlichen Zugeständnisse, die
Serbien als Antwort auf die unverschämten und unerträglichen For-
derungen der Österreichischen Regierung gemacht hatte. Sie unter-
stützte die Mobilisation der österreichisch-ungarischen Armee, bil-
ligte den Beginn der Feindseligkeiten und wies entschlossen alle
Vorschläge einer Konferenz, der Verständigung oder Vermittlung
zurück, obwohl sie wußte, daß, wenn einmal die Mobilisation und
militärische Handlungen von irgendeiner der Großmächte unter-
nommen wären, sie unvermeidlich gleiche Maßnahmen bei allen
anderen hervorrufen mußten und auf diese Weise die Möglichkeit
einer friedlichen Lösung von Stunde zu Stunde vermindert würde.
Erst im letzten Augenblick, als jede Möglichkeit, den Krieg zu ver-
meiden, tatsächlich geschwunden war, riet die Deutsche Regierung
ihrem Bundesgenossen zur Mäßigung. Selbst für diesen Punkt, den
einzigen, der für Deutschland günstig sein könnte, läßt das Memo-
randum der Deutschen Delegation einen Zweifel bestehen. „Der
Grund“, so sagt es, „für die Verzögerung der Antwort des Wiener
Kabinetts auf diesen Vorschlag ist uns unbekannt.“ Und es fügt
in einem unterstrichenen Satz hinzu: „Das ist einer der wesentlichsten
Punkte, die noch der Aufklärung bedürfen.“ Kann man da nicht an-
nehmen, daß nach einem in dem deutschen Auswärtigen Amte
üblichen Brauche offiziöse Mitteilungen oder eine vorherige Ver-
einbarung zwischen denjenigen stattgefunden hätten, die tatsächlich
die Macht besaßen, und daß diese Mitteilungen oder diese Ver-
einbarung anders gelautet hätten als die durch den amtlichen Draht
übermittelten Botschaften?
Die Deutsche Regierung versucht jetzt, die Schuld am Scheitern
der Bestrebungen, den Frieden aufrechtzuerhalten, der Mobilmachung
des russischen Heeres zuzuschieben. Sie tut so, als ob sie nicht
wüßte, daß diese Mobilmachung die unmittelbar notwendige Folge
der Mobilisierung der österreichisch-ungarischen Armee und der
Kriegserklärung an Serbien war, beides Maßnahmen, die von Deutsch-
land gestattet wurden. Das war der schicksalsschwere Akt, durch
den die Entscheidung aus den Händen der Staatsmänner genommen
und die Befehlsgewalt den Militärs übertragen wurde. Die Ver-
antwortlichkeit trifft auch die deutschen Staatsmänner dafür, daß
sie Rußland in Hast den Krieg erklärten, während Österreich selbst
zu zögern schien, und daß sie Frankreich den Krieg erklärten. So
groß war die Hast der Deutschen Regierung, daß in Ermangelung
1 Dieser aus dem Französischen zurückübersetzte Text lautet ganz anders als im
Original. Siehe oben die betreffende Stelle auf S. 37*.
61*
Aus der „Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte usw.“
stichhaltiger Gründe Vorwände erfunden wurden, deren vollständige
Unwahrheit längst bewiesen worden ist. Die Deutsche Delegation
gibt heute zu, daß die Deutsche Regierung „sich nicht die Mühe
gab“, die ihr gemeldeten Tatsachen nachzuprüfen, die sie als Recht-
fertigung ihrer Kriegserklärung veröffentlichte.
Nach Kenntnisnahme der von der Deutschen Delegation zu ihrer
Selbstverteidigung vorgebrachten Gründe haben die Alliierten und
Assoziierten Mächte die Überzeugung, daß die Reihe der Ereignisse,
die den Ausbruch des Krieges verursacht hat, vorsätzlich von jenen
ersonnen und ausgeführt worden ist, die die höchste Macht in
Wien, Budapest und Berlin besaßen.
Die Geschichte der kritischen Tage des Juli 1914 ist jedoch, in
den Augen der Alliierten und Assoziierten Mächte, nicht die einzige
Grundlage, aus der die Schuld Deutschlands an der Entstehung des
Krieges herzuleiten ist. Der Ausbruch des Krieges ist nicht auf einen
plötzlichen Entschluß, der in einer schweren Krisis gefaßt ist,
zurückzuführen. Er war das logische Ergebnis einer Politik, die seit
Jahrzehnten von Deutschland unter dem Einfluß des preußischen
Systems verfolgt wurde.
Die ganze Geschichte Preußens ist durch den Geist der Beherr-
schung, des Angriffs und des Krieges charakterisiert. Hypnotisiert
durch den Erfolg, mit welchem Bismarck, der Tradition Friedrichs
des Großen folgend, die Nachbarn Preußens beraubte und die
deutsche Einheit durch Blut und Eisen schmiedete, unterwarf sich
das deutsche Volk nach 1871 fast vorbehaltlos dem Einfluß und
der Führerschaft seiner preußischen Herren.
Der preußische Geist war nicht damit zufrieden, daß Deutsch-
land einen großen und einflußreichen Platz im Rate gleicher Natio-
nen einnehme, auf den es ein Anrecht hatte und den es gesichert
hatte. Er konnte durch nichts Geringeres befriedigt werden als durch
Erlangung höchster und autokratischer Gewalt. In einem Augen-
blicke also, als die westlichen Nationen ernsthaft bestrebt waren, die
Rüstungen einzuschränken, an Stelle der Rivalität in den internatio-
nalen Angelegenheiten Freundschaft zu setzen und den Grundstein
zu einer neuen Ära zu legen, in welcher alle Nationen freundschaft-
lich an der Leitung der Geschäfte der Welt Zusammenwirken sollten,
haben die Lenker Deutschlands unaufhörlich Mißtrauen und Feind-
schaft zwischen allen ihren Nachbarn gesät, haben mit allen Ele-
menten der Unruhe in allen Ländern gemeinsame Sache gemacht
und haben unausgesetzt die Rüstungen Deutschlands vergrößert und
seine militärische und maritime Macht befestigt. Sie machten alle
Hilfsmittel, über die sie verfügten, mobil, die Universitäten, die
Presse, die Kanzel, den ganzen Mechanismus der Staatsmaschine,
um ihr Evangelium des Hasses und der Gewalt zu predigen, damit
zu gegebener Zeit das deutsche Volk auf ihren Ruf antworten
62*
Anlage 4
könne. Das Ergebnis war, daß in den letzten Jahren des 19. Jahr-
hunderts und während des 20. Jahrhunderts die ganze Politik
Deutschlands darauf gerichtet war, sich eine Stellung zu sichern,
kraft deren sie herrschen und diktieren könne.
Es wird behauptet, daß Deutschland seine Rüstungen so ent-
wickelt hat, um sich selbst gegen einen russischen Angriff zu
schützen. Es ist jedoch bezeichnend, daß, unmittelbar nachdem
Rußland von Japan im fernen Osten geschlagen und durch die nach-
folgende innere Revolution nahezu gelähmt war, die Deutsche Re-
gierung sofort ihre Bemühungen verdoppelte, die Rüstungen zu
vergrößern und ihre Nachbarn unter der Drohung des Krieges zu
tyrannisieren. Für sie war der Zusammenbruch Rußlands nicht eine
Gelegenheit, ihre Rüstungen einzuschränken und der Welt zusammen
mit den Westmächten den Frieden zu verschaffen. Sie sahen in ihm
die Gelegenheit, ihre eigene Macht zu erweitern. Ferner zielte der
ganze Aufbau der deutschen Organisation auf einen Angriff hin. Ihr
Eisenbahnsystem, sowohl im Osten wie im Westen, ihr Mobilisa-
tionsplan, ihr seit langem überlegter Plan, die französische Verteidi-
gungslinie durch ein Eindringen in Belgien zu umgehen, die Ge-
nauigkeit ihrer Vorbereitungen und ihrer Ausrüstung diesseits und
jenseits der Grenzen, die sich gleich bei Beginn des Krieges zeigte —
alles war auf Angriff und nicht auf Verteidigung eingestellt. Das
militärische Dogma, wonach das einzige Verteidigungsmittel für
Deutschland darin bestand, sich als erstes auf seinen Nachbarn zu
stürzen, diente als Vorwand, um eine militärische Organisation und
einen strategischen Plan zu verlangen, welche im gegebenen Mo-
mente Deutschland fähig machen sollten, jeden Widerstand zu zer-
schmettern und Deutschland zum absoluten Herrscher im Osten und
Westen zu machen.
Es ist nicht der Zweck dieses Memorandums, die diplomatische
Geschichte der dem Krieg vorausgehenden Jahre wiederzugeben
oder etwa zu zeigen, wie die friedlichen Nationen Westeuropas all-
mählich durch nacheinander folgende Krisen, die von Berlin provo-
ziert worden waren, dazu getrieben worden sind, sich für ihre Ver-
teidigung zu vereinen.
Das autokratische Deutschland wollte unter dem Einfluß seiner
Lenker mit aller Macht die Vorherrschaft erlangen. Die Nationen
Europas waren entschlossen, ihre Freiheit zu retten. Die Furcht der
Führer Deutschlands, es möchten ihre Pläne der Weltherrschaft
durch die wachsende Flut der Demokratie zunichte gemacht werden,
führte sie dazu, alle ihre Bemühungen darauf zu richten, jedweden
Widerstand mit einem Streiche zu brechen, indem sie Europa in
einen Weltkrieg stürzten. Die Ansicht der Alliierten und Assoziierten
Mächte konnte wirklich nicht besser zum Ausdruck gebracht werden
63*
Aus der „Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte usw.“
als mit folgenden, eigenen Worten1 des deutschen Memorandums:
„Die wirklichen Fehler der deutschen Politik lagen viel weiter
zurück. Der 1914 im Amte befindliche Reichskanzler hatte eine
politische Erbschaft übernommen, welche seinen rückhaltlos ehr-
lichen Versuch, die internationale Lage von der vorhandenen Span-
nung zu befreien, von vornherein als aussichtslos verurteilte oder
doch dafür einen solchen Grad von staatsmännischer Kunst und vor
allem Entschlußkraft verlangte, wie er sie einerseits in nicht ge-
hörigem Maße besaß und andererseits unter den damaligen Be-
dingungen der deutschen Politik nicht wirksam entfalten konnte.“
In den Augen der Alliierten und Assoziierten Mächte ist also die
Verantwortung Deutschlands weit größer und furchtbarer als die,
worauf das Memorandum der Deutschen Delegation sie zu be-
schränken sich bemüht. Deutschland ist unter dem Einfluß Preußens
der Vorkämpfer der Macht und der Gewalt, der Täuschung, der
Intrige und der Grausamkeit in der Behandlung der internationalen
Angelegenheiten gewesen1 2. Während mehrerer Jahrzehnte hat
Deutschland unausgesetzt eine Politik getrieben, die darauf hinzielte,
Eifersucht, Haß und Zwietracht zwischen den Nationen zu säen,
nur, damit es seine selbstsüchtige Leidenschaft nach Macht befrie-
digen konnte. Deutschland hat sich dem Strome des demokratischen
Fortschritts und der internationalen Freundschaften in der ganzen
Welt quer entgegengestemmt. Deutschland ist die Hauptstütze
der Autokratie in Europa gewesen. Und zum Schlüsse, in der Er-
kenntnis, daß es seine Ziele nicht anders erreichen konnte, entwarf
und entfesselte es den Krieg, der die Niedermetzelung und Ver-
stümmelung von Millionen von Menschen und die Verwüstung Euro-
pas von einem Ende bis zum anderen verursachte.
Die Richtigkeit der so erhobenen Anklage hat das Deutsche
Volk durch seine eigene Revolution anerkannt. Es hat seine Regie-
rung gestürzt, weil es entdeckte, daß sie ein Feind der Freiheit, der
Gerechtigkeit und der Gleichheit im Innern war. Dieselbe Regierung
war aber in nicht geringerem Grade der Feind der Freiheit, der Ge-
rechtigkeit und Gleichheit nach außen. Es hat keinen Zweck, den
Beweis zu versuchen, daß diese Regierung weniger gewalttätig, an-
maßend und tyrannisch in ihrer äußeren Politik als in ihrer inneren
Politik war oder daß die Schuld an den furchtbaren Ereignissen die-
ser letzten fünf Jahre nicht auf deren Haupt zurückfalle.
1 Hier aus dem Französischen zurückübersetzt. Vergl. den eigentlichen Wortlaut
auf S. 36*/37*.
2 „L’Allemagne, sous Finspiration de la Prusse, a ete le Champion de la force
et de la violence, de la tromperie, de Pintrigue et de la cruaute dans la conduite
des affaires internationales.“
64*
Anlage 4
II
Strafbestimmungen
Die Alliierten und Assoziierten Mächte haben die Bemerkungen
der Deutschen Delegation hinsichtlich der gerichtlichen Verfolgung
solcher Personen geprüft, die schwerer Vergehen gegen die inter-
nationale Moral, die Heiligkeit der Verträge und die wesentlichsten
Grundsätze der Gerechtigkeit beschuldigt werden können. Sie müs-
sen die in der Mantelnote zu diesem Memorandum gemachten Aus-
führungen wiederholen, nach denen sie diesen Krieg als ein vorsätz-
lich gegen das Leben und die Freiheit der Völker Europas er-
sonnenes Verbrechen erblicken. Dieser Krieg hat für Millionen von
Menschen Tod und Verstümmelung gebracht und Europa schreck-
lichen Leiden ausgesetzt. Hungersnot, Arbeitslosigkeit, Krankheit
wüten auf dem ganzen Kontinent, und noch für Jahrzehnte werden
die Völker unter den Lasten und der durch diesen Krieg verursachten
Zerrüttung ächzen. Die Alliierten und Assoziierten Mächte sehen die
Bestrafung derjenigen Personen, die für das Elend der menschlichen
Rasse verantwortlich sind, als im Interesse der Gerechtigkeit un-
erläßlich an.
Sie halten diese Bestrafung nicht weniger notwendig als Ab-
schreckung für andere, welche später vielleicht einmal in Versuchung
geraten sollten, ihrem Beispiel zu folgen. Der gegenwärtige Ver-
trag soll in markanter Weise mit den Traditionen und der Praxis
früherer Abkommen brechen, die selten imstande waren, die Er-
neuerung des Krieges zu verhüten. Die Alliierten und Assoziierten
Mächte erachten in der Tat die Verfolgung und die Bestrafung der-
jenigen Personen, die als der Verbrechen und der inhumanen Hand-
lungen in Beziehung auf einen Angriffskrieg am meisten schuldig
sind, als untrennbar von der Errichtung jener Herrschaft des Rechts
unter den Völkern, die als Ziel dieses Vertrages ins Auge gefaßt ist.
Was die deutscherseits aufgestellte Behauptung anlangt, daß eine
Verfolgung der Angeklagten durch von den Alliierten und Asso-
ziierten Mächten ernannte Gerichte ein einseitiges und unbilliges
Verfahren darstelle, betrachten es die Alliierten und Assoziierten
Mächte als unmöglich, die Rechtsprechung über solche für die Ver-
brechen gegen Humanität und internationales Recht unmittelbar
Verantwortlichen den an diesen Verbrechen Mitschuldigen anzuver-
trauen. Fast die ganze Welt hat sich zusammengeschlossen, um den
deutschen Plan der Eroberung und der Herrschaft zunichte zu
5* Schwertfeger, Der Weltkrieg der Dokumente
65*
Aus der „Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte usw.“
machen. Die Gerichtshöfe, die die Alliierten und Assoziierten Mächte
einrichten werden, werden daher die Meinung des größeren Teils
der zivilisierten Welt darstellen. Sie können dem Vorschläge nicht
zustimmen, zu dem Gerichte Vertreter von Staaten zuzulassen,
welche an dem Kriege nicht teilgenommen haben. Die Alliierten und
Assoziierten Mächte sind bereit, es dem Urteil der Geschichte zu über-
lassen, daß die Behandlung der Angeklagten unparteiisch und ge-
recht erfolgen wird. Schließlich möchten sie betonen, daß die öffent-
liche Anklage unter Artikel 227, die gegen den früheren deutschen
Kaiser erhoben ist, keinen juristischen Charakter hat hinsichtlich
ihres Inhalts, sondern nur ihrer Form. Diese Anklage des Exkaisers
ist eine Frage der hohen internationalen Politik, das Geringste des-
sen, was verlangt werden kann für die Sühne des größten der Ver-
brechen gegen die internationale Moral, die Heiligkeit der Verträge
und die grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit. Die Alliierten
und Assoziierten Mächte haben Formen und ein Gerichtsverfahren
ebenso wie ein ordentlich zusammenberufenes Gericht im Auge
gehabt, damit dem Angeklagten für seine Verteidigung der volle Ge-
nuß seiner Rechte und seiner Freiheit gewahrt bleibe und das Urteil
mit so viel Feierlichkeit als möglich umgeben sei.
... .. L
Die Alliierten und Assoziierten Mächte fügen hinzu, daß sie be-
reit sind, innerhalb eines Monats nach Inkrafttreten des Vertrages
die endgültige Liste derjenigen Personen zu überreichen, die ihnen
ausgeliefert werden sollen.
(Folgen die Teile VIII—XIII)
Teil XIV
Bürgschaften (Garanties)
In ihren Bemerkungen über die Friedensbedingungen sagt die
Deutsche Delegation1:
„Nur die Rückkehr zu den unwandelbaren Grundlagen der
Moral und der Kultur, nämlich zur Treue gegen abgeschlossene Ver-
träge und übernommene Verpflichtungen, wird der Menschheit ihr
Fortleben möglich machen.“
1 Note der Deutschen Friedensdelegation zu den gegnerischen Friedensbedingun-
gen vom 29. Mai 1919 (Kommentar zum Friedensvertrage, herausgegeben von
Prof. Dr. Walter Schücking, 1. Teil, Seite 433 ff.) Die erwähnte Stelle steht
auf S. 512.
66*
Anlage 4
Nach ^/j(jähriger Dauer des Krieges, den die Verleugnung
dieser Grundsätze durch Deutschland heraufbeschworen hat, können
die Alliierten und Assoziierten Mächte nur die Worte des Präsiden-
ten Wilson vom 27. September 1918 wiederholen: „Darum muß
der Frieden Bürgschaften erhalten, weil an ihm Ver-
tragschließende teilnehmen, auf deren Versprechun-
gen, wie man gesehen hat, kein Verlaß ist."
(Schluß der „Antwort der Alliierten und Assoziier-
ten Mächte usw.“.)
»