(109) Der Diurnist oder der Schein trügt. Eine Geschichte aus dem Wiener Volksleben von Ferdinand Z'öhrer. frSüsSStü**'- 1. Capitel. Die Kehre des Unters. ■ s war an einem Winter morgen des Jahres 1880. — Auf den Straßen der Residenzstadt Wien rollten ^ die Equipagen dahin, in W welchen, geschützt durch Pelz und Hermelin, die scheinbar glückliche, vornehme Welt gemächlich hingelehnt saß; auf dem vom schmutzig grauen Schnee schlüpfrig gemachten Trottoir rannten in möglichster Eile, in Tuch und Wolle gehüllt, jene wahren Glücklichen dahin, welche Ver dienst hatten, denen die Arbeit warm machen musste. Die Armen, welche unver schuldet, die Elenden, welche verschuldet in Noth und Unglück gerathen waren, schlichen in dürftigen Linnen längs der Häuserwände dahin, welche sie gegen den schneidenden Nord besser schützen sollten. Dieser warf den feinkörnigen Graupenschnee, wie Sand prickelnd und in den Gesichtern wie Nadeln stechend, an die Fenster der Wohnungen und an die riesigen Spiegelscheiben der glänzenden Schauläden, welche aber — dem bösen Wetter sei es geklagt, sagten die Kaufleute — an diesem Morgen wenig Bewunderer ihrer Herrlichkeiten fanden. Nur vor dem Portale einer der elegan testen Modewarenhandlungen der glanzvollen Weltstadt stand ein junges Mädchen von etwa siebzehn Jahren, nach dem neuesten Schnitte der damaligen Wintermoden ge kleidet. Die elegante Neugierige prüfte das eine und andere der ausgelegten Schau stücke, deren Lichtseiten strahlend hervorge kehrt, deren Schattenseiten wie eine Fuchs falle mit allerlei modernem Köder überdeckt waren, bald mit einem sehnsüchtigen Blicke, bald wieder mit abfälliger Kennermiene. Nachdem sich das Mädchen möglichst satt gesehen, eilte es die enge Straße entlang nach einem jener himmelhohen Häuser, welche die innere Stadt als den ältesten Theil, als den Kern der heutigen Kaiserstadt, kenn zeichnen, jener Stadtburgen, wo jeder Winkel vom Keller bis zum Dache ausgenützt, als Wohnung zinstragend gemacht wird. In einer dieser altersgrauen, düsteren Zinskasernen stieg das Mädchen, flüchtig wie ein Reh, eine Anzahl steiler Treppen hinan, welche nach jenen obersten Stockwerken führen, wo noch dem Dachraume Wohnungen für jene Menschenclasse abgezwickt werden, denen die mittleren Geschoße viel zu theuer im Zinse zu stehen kommen. Vor einer niedrigen Thüre, welche auf einem Kärtchen die sauber geschriebene Adresse: „Anton Moser, Advocaturs-Diur nist" trug, angelangt, klopfte das Fräulein an und trat auf ein freundliches „Herein" in ein zwar ärmlich möbliertes Zimmer, dessen äußerste Sauberkeit und Ordnung jedoch auf den ersten Blick erkennen ließen, dass eine brave, arbeitsame Hausfrau darin schalte und walte. Elise, die Gattin des Diurnisten (Tagschreiber) Moser, verdiente mit Recht diese ehrenvollen Beiwörter zu ihrem ehrlichen Namen, denn auch an diesem Morgen saß sie beim einzigen Fenster an einem Tische, der vollaufmit Handarbeit bedeckt war. Vor einem Spiegel stand ein junges, anmuthiges Mädchen, etwa achtzehn Jahre alt, und besah sich in einem neuen Kleid, dessen Obertheil die Kleiderkünstlerin eben vollendet hatte. Es war Rosa, die Tochter des Diurnisten. „Guten Morgen, liebe Betty," sagte Rosa, der Angekommenen, einer Hausfreun din, die Hand zum Gruße reichend, während dieser auch die fleißige Hausfrau einen freundlichen Willkomm bot; „lege doch ab und mache es dir bequem". Rosa legte den Pelzpaletot ab, den Hut dazu. „Hast du dein Ballkleid schon so weit fertig? Wollen sehen, ob es stimmt;" sagte Betty, eine auf dem Tische liegende Nummer einer Modezeitung zur Hand nehmend. „Das Leibchen Nr. 26 besteht aus sieben Theilen: