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JOSEF PILSUDSKI / ERINNERUNGEN UND DOKUMENTE
Band II
JOSEF
Voll
PILSUDSKI
ERINNERUNGEN
UND DOKUMENTE
Yon Josef Pitsudski, dem Ersten Marschall von Polen,
persönlich autorisierte deutsche Gesamtausgabe
Ausgewählt, bearbeitet und redigiert von Major Dr.
Waclaw Lipinski vom Militär-historischen Büro in
Warschau und Generalkonsul J. P. Kaczkowski
Band II
Vorwort von
Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht
GENERALOBERST VON BLOMBERG
DAS JAHR 1920
Mit einem Porträt, einem Faksimile, 18 Skizzen u. 8 mehrfarbigen Tafeln
ESSENER VERLAGSANSTALT / ESSEN
OÖLB LINZ
1 +X012955301 j
Aus dem Polnischen übertragen von Rittmeister im poln. Generalstab K. Riedl
48292
Entwurf des Einbandes: Hermann Schardt, Essen.
Alle Rechte Vorbehalten. Copyright 1935 by Essener Verlags-
anstalt G. m. b. H., Essen. Druck von Mänicke & Jahn A.-G..
Rudolstadt in Thür. Printed in Germany. Verlagsnummer 3
Das Jahr 1920
Mit der Abhandlung des bolschewistischen
Generalissimus M. Tuchatschewsky
Der Vormarsch über die Weichsel
Inhalt
Das Jahr 1920
Vorwort................................................. 3
I. Die Zahl der Streitkräfte.................* . . 13
II. Der Kriegsschauplatz und die strategischen Pläne . . 23
III. Die Maioffensive der Sowjetarmee.....................37
IV. Vorbereitung einer neuen Offensive. Der Operationsplan 56
V. Die Julioffensive. Der Schützengrabenkrieg .... 66
VI. Die Kämpfe um Wilno..................................111
VII. Rückzug auf Bug und Narew.............................140
VIII. Die Schlacht vorWarschau. Die polnische Gegenoffensive 153
IX. Polen und die sowjet-russische Revolution............221
X. Schlußfolgerung......................................234
*
M. Tudhatschewsky: Der Vormarsch über die Weichsel
I. Der Ausbruch des Krieges. . 259
II. Der Operationsraum........260
III. Die Gruppierung der Kräfte . 261
IV. Die Maioffensive...........263
V. Die Vorbereitungen zur
Hauptoffensive..............268
VI. Das gegenseitige Kräftever-
hältnis ....................274
VII. Die Offensive vom 4. Juli . . 279
VIII. Revolution von außen . . . 288
IX. Das Forcieren des Njemen-
und Szczaraflusses ........291
X. Der Kampf am Narew und
Bug........................294
XI. Die Lage an der Weichsel. . 300
XII. Der entscheidende Angriff . 304
XIII. Die polnisch.Gegenoffensive 312
Schlußwort......................316
Verzeichnis der dreifarbigen Tafeln
(am Schluß des Bandes)
1. Die Ausgangslage am 4. Juli früh
2. Die Lage am Abend des 4. Juli
3. Die Lage am Abend und in der Nacht des 5. Juli
4. Die Lage am 6. Juli früh
5. Die beiderseitige Lage vom 11. zum 12. Juli
6. Die Lage am Abend des 12. August
7. Die Lage am Abend des 17. August
8. Die Lage vom 16. bis zum 25. August
Aufn. W. Piliiel, Warschau
Pilsudski: Erinnerungen II
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Handschrift zu „Das Jahr 1920“, Seite 108 f.
Vorwort
Das Jahr 1920 werden zwei Staaten und zwei Nationen
für lange Zeit in ihrem Gedächtnis behalten. In der ge-
waltigen Arena zwischen Dnjepr, Berezyna und Düna einer-
seits und der Weichsel andererseits wurde in blutigem Rin-
gen das Schicksal Polens und des uns benachbarten Sowjet-
rußland entschieden. Der Ausgang der Kämpfe entschied
gleichfalls für eine bestimmte Zeit über das Schicksal von
Millionen Menschen, deren Vertreter — Soldaten und Feld-
herren — in diesem ungeheuren Raum gegeneinander
kämpften. Es liegt mir fern, zu untersuchen, ob die Bedeu-
tung der in diesem Jahr ausgetragenen Kämpfe nicht weit
über die Grenzen beider kriegführenden Staaten reichte.
Es steht jedoch fest, daß die Nervenanspannung der gan-
zen zivilisierten Welt ungewöhnlich groß war und sehr viele
Augen, teils in Angst, teils voller Hoffnung, teils mit Bit-
terkeit oder mit glückseligem Lächeln auf uns damalige
Soldaten gerichtet waren. Um so natürlicher scheint es,
daß menschliche Neugier auch heute noch nach Lösung ver-
schiedener Rätsel sucht und um Aufklärung vieler Zweifel
bemüht ist, die seinerzeit die Menschen quälten. Erklärlich
erscheint gleichfalls unsere Neugier, die Neugier der Haupt-
träger jener geschichtlichen Ereignisse, wobei uns nicht nur
die Kampfhandlungen selbst, sondern auch die Pläne, Ge-
danken und alle Einzelheiten der Arbeitsweise derjenigen
interessieren, mit denen wir damals die Degen kreuzten.
4
DAS JAHR \ 920
Herr Tuchatschewsky — ich kann ihn nicht ^anders be-
titeln, da ich nicht weiß, ob ich mit einem militärischen
Rangtitel meinen früheren Gegner nicht in irgendeiner
Weise verletzen würde — hat unlängst ein Büchlein unter
dem Titel „Der Vormarsch über die Weichsel“ veröffent-
licht. Die Herausgeber der polnischen Übersetzung dieses
Werkes ersuchten mich, den polnischen Lesern meine Mei-
nung über das Buch zum Ausdruck zu bringen und den
Gedanken und Urteilen des Feldherrn der einen der krieg-
führenden Parteien über die damalige Lage ein ähnliches
Urteil des Feldherrn der Gegenpartei gegenüberzustellen.
Ich glaube, die Herausgeber folgten hierbei einem glück-
lichen Einfall, denn die gleichzeitige Beobachtung beider
kämpfenden Parteien ermöglicht es am besten, der tatsäch-
lichen Wahrheit am nächsten zu kommen, und bildet für
jeden ernsten Geschichtsforscher eine sehr gute Unterlage.
Herr Tuchatschewsky hat mir gegenüber einen unbestreit-
baren Vorteil, den Vorteil der Initiative, wenn ich so sagen
darf; er war derjenige, der zuerst angefangen hat. Infolge-
dessen bin ich, gemäß den Absichten der Herausgeber, von
vornherein an den Aufbau und an die von Herrn Tucha-
tschewsky angewandte Arbeitsmethode gebunden. In der
Literatur wie im Kriege ist dies aber ein nicht unbedeu-
tendes Übergewicht. Merkwürdigerweise gab das Schicksal
auch während unserer Kämpfe die Initiative in die Hand
der Gegenpartei. Deshalb ist es mir recht, mich an den
Aufbau des Buches zu halten, und dies um so mehr, als die
von Herrn Tuchatschewsky angewandte Methode sehr ge-
eignet ist, das bei uns vielfach empfundene Bedürfnis einer
Aufklärung vieler Erscheinungen zu befriedigen, welche
wir in dem für unser Vaterland entscheidenden Jahre 1920
so tief erlebt hatten.
VORWORT
5
Tuchatschewsky hat seine im Fortbildungskursus der
Kriegsakademie in Moskau unter dem Titel „Der Vormarsch
über die Weichsel66 gehaltenen Vorträge bei der Veröffent-
lichung derart abgekürzt, daß sie — wie er es übrigens im
Vorwort selbst betont — einen allgemeinen strategischen
Umriß dieser Operationen bilden, ohne in operative Einzel-
heiten und Begebnisse taktischer Natur einzugehen. Durch
eine solche Fassung des Werkes macht Tuchatschewsky es
einem weiten Leserkreis zugänglich und verständlich. Denn
eine so allgemein gehaltene Strategie, die frei von allen
Einzelheiten dieser Wissenschaft und von taktischen Ope-
rationen einer Armee ist, erlaubt es dem Verfasser, von den
für die Allgemeinheit so schwer verdaulichen Analysen
der einzelnen Kriegslagen ahzusehen, erfordert keine für
den Leser schwer verständlichen Situationskarten und
-skizzen und versetzt ihn gleichzeitig in jenen zauberhaf-
ten Bereich der Kriegskunst, der sich manchmal einer ge-
naueren Untersuchung entzieht. Das Gebiet einer jeden
Kunst aber ist für den Durchschnittsgebildeten ein Tummel-
feld, auf dem er sich ungezwungen bewegen oder mindestens
unbefangen fühlen kann. In einer Gemäldeausstellung
äußern sich alle Nicht-Maler völlig unbefangen über die
Maler und ihre Methoden. Bei einer Kriegsausstellung bil-
det die Kritik der obersten Führer, ihrer strategischen Vor-
züge und Mißgriffe, welche bereits alle in das Gebiet der
höheren Kriegskunst hinüberspielen, das beliebteste Ge-
sprächsthema. Deshalb muß ich dem wohlbekannten Volks-
genossen, dem Narren Stanczyk widersprechen, welcher be-
hauptet, es gehe in der Welt die meisten Ärzte, das heißt
solche Leute, die Kranken Ratschläge erteilen. Meiner An-
sicht nach ist in Kriegszeiten die Zahl der klugen Strategen,
die sich mit fabelhafter Leichtigkeit auf dem Gebiet der hö-
6
DAS JAHR \ 920
Heren Kriegskunst bewegen, noch größer. Während aber
der Widerhall des letztvergangenen Krieges noch durch die
Luft zittert und die älteren und jüngeren Kriegsteilnehmer
der noch nicht weit entlegenen Niederlagen und Siege über
ihre Erlebnisse plaudern, von dankbaren Zuhörern um-
ringt, bin ich Herrn Tuchatschewsky für seine Arbeits-
methode zu Dank verpflichtet, da er mich dazu anregte,
noch einmal mit ihm den Degen zu kreuzen — diesmal
harmlos auf dem Papier — in der Hoffnung, daß wir beide
dazu beitragen werden, die Debatten der strategischen Lieb-
haber unserer beiden Länder gründlicher und logischer
zu gestalten.
Wenn ich erwähnte, daß Herr Tuchatschewsky in die-
sem Zweikampf mir gegenüber einen Vorsprung besitzt, der
ihm erlaubt, diejenigen Waffen zu wählen, deren er sich
bedienen will, so muß ich gleich feststellen, daß auch ich
Vorteile habe, auf die ich nicht verzichten will. Der erste
Vorteil liegt darin, daß das Geschehen mich höher stellte
als Herrn Tuchatschewsky. Er befehligte zwar den größeren
Teil, jedoch immerhin nur einen Teil der Sowjettruppen,
die damals gegen uns fochten; ich hingegen war Oberbe-
fehlshaber der polnischen Truppen. Während er also als
Untergebener in seinen Plänen an Befehle seiner Vorge-
setzten und die ihm zur Verfügung gestellten Kampfmittel
gebunden war, war ich keiner derartigen Einschränkung
unterworfen. Deshalb konnte ich auf dem Gebiet ganz all-
gemeiner strategischer Tätigkeit naturgemäß weiter greifen
und mich in höheren Gesichtskreisen der Kriegskunst und
der damit verbundenen Gedankenwelt bewegen, als dies bei
Tuchatschewsky der Fall gewesen ist. Es gereicht mir hier-
bei zum Trost, daß Herr Tuchatschewsky diese meine ge-
wissermaßen natürliche Überlegenheit insofern negiert, als
VORWORT
7
er mich in seinen Ausführungen entweder dem Entente-
Generalstab oder dem Weltkapitalismus unterordnet.
Es bleibt noch meine andere Überlegenheit zu erwähnen,
derzufolge ich eine Zeitlang zögerte, die Arbeit zu begin-
nen, um die man mich ersucht hatte. Wenn Herr Tucha-
tschewsky sein Werk absichtlich in die Form eines ganz
allgemein strategischen Umrisses der von ihm geführten
Operationen faßte, um auf diese Weise breiten Leserkreisen
zugänglich und verständlich zu werden, so tat er sich selbst
gerade dadurch unrecht; denn er beschränkte das Buch über
seine Feldherrnleistung von geschichtlicher Bedeutung auf
die Tätigkeit des Feldherrn allein, wodurch diese seine
Tätigkeit oft den Eindruck einer sich im leeren Raum dre-
henden Windmühle erweckt. Es liegt mir fern, Herrn
Tuchatschewsky zu beleidigen oder ihm Abbruch zu tun;
ich muß jedoch feststellen, daß die meiner Ansicht nach
allzu abstrakte Fassung der Vorträge seine Person so stark
von der durch ihn befehligten Armee trennt und einen so
weiten, leeren Raum zwischen ihm und seinen Truppen
läßt, daß es mir ungemein schwer fallen würde, seinem
Beispiel zu folgen und meine Arbeit seiner Methode und
Fassung anzupassen.
Des öfteren durchblätterte ich die Seiten seines Buches
und konnte mich nicht entschließen, ob ich die Arbeit be-
ginnen oder ganz aufgeben sollte. Ich wagte es nicht, über
Unternehmungen von geschichtlicher Bedeutung, Dinge, die
während des Krieges greifbar geschahen, derart zu schrei-
ben, wie dies Herr Tuchatschewsky getan hatte.
Die von Tuchatschewsky eingeschlagene Methode wäre
verständlich und gerechtfertigt, wenn es sich ausschließlich
um einen Vortrag über ganz allgemeine Strategie oder eines
ihrer Teilgebiete handeln würde, wobei der Vortragende
DAS JAHR \ 920
§
dieses oder jenes geschichtliche Ereignis als illustrierendes
Beispiel erwähnte. Doch weder der Inhalt des Buches noch
die Fassung des Gegenstandes erlaubten es mir, das Werk
Tuchatschewskys zu dieser Art von Studien zu zählen. Den
eigentlichen Inhalt seiner Schrift bildet die Darstellung der
Pläne und Absichten des Befehlshabers der uns nörd-
lich des Prypee-Flusses gegenüberstehenden sowjetrussi-
schen Truppen während der unbestreitbar schönen Opera-
tion vom Jahre 1920. Zu theoretischen Studien, die einer
Erläuterung an Hand geschichtlicher Beispiele bedürfen,
könnte man nur einen kleinen Teil der Vorträge Tucha-
tschewskys zählen, und zwar diejenigen, welche die Durch-
bruehsoperationen mittels bereitgestellter Angriffsmassen
behandeln. Da jedoch diese Teilhandlungen nur eine kurze
Episode bilden, der Rest des Büchleins hingegen im ge-
nauen Sinne des Wortes „Geschichte66 ist, so hielt ich es
für unmöglich, dem Beispiel Tuchatschewskys zu folgen
und auf die Rechte der eigentlichen Führerschaft und auf
das geschichtliche Recht zu verzichten, die im Kriege stets
auf den Feldherren lasten.
Die geschichtliche Darstellung der seelischen Arbeit
eines jeden im Kriege befehligenden Feldherrn bildet zwei-
fellos für die Geschichtsforschung eines jeden Krieges eine
unentbehrliche Quelle. Der Einfluß dieser Arbeit auf den
Verlauf des Krieges ist so groß, daß die Kriegsgeschichte
ohne ihre Kenntnis schwer zu verstehen ist und oft ein
merkwürdiges Gemisch größerer und kleinerer Tatsachen
bildet. Ohne ihre Kenntnis kann man die Ursachen von
Sieg und Niederlage nicht ergründen; sie schweben in einem
abstrakten leeren Raum, indem sie ohne besonderen Grund
die Häupter der einen mit Lorbeer schmücken und die
Gesichter der anderen vor Scham erröten lassen.
VORWORT
9
Das Buch Tuchatschewskys bildet infolgedessen eine Ge-
schichtsquelle. Er gibt in ihm von seinen Feldherrngedan-
ken und von seiner Führertätigkeit Rechenschaft.
Aber seine ungewöhnlich abstrakte Arbeitsmethode schil-
dert uns den Menschen, der — wie schon erwähnt — sein
eigenes Hirn oder Herz zermahlt und sich von der täglichen
Führung seiner Truppen lossagt oder auch diese Führung
nicht zu leisten vermag. Das alltägliche Leben und Streben
der Truppen steht nämlich nicht immer im Einklang mit
den Gedanken und Absichten des Führers; im Gegenteil, es
widerspricht ihnen oft oder wird durch Einwirkung des
Feindes zum Widerspruch genötigt.
Ich will damit nicht sagen, daß Herr Tuchatschewsky tat-
sächlich seine Truppen auf diese Weise geführt hat; ich
will auch nicht diesen mir gewährten Vorteil gänzlich aus-
werten. Es fällt mir aber schwer, mich des Eindrucks zu
erwehren, daß sehr viele Erscheinungen im Verlauf des
Feldzugs von 1920 auf diese Neigung Tuchatschewskys, die
Truppen auf so abstrakte Weise zu befehligen, zurückzu-
führen sind. In meiner Führertätigkeit verspürte ich nie-
mals eine ähnliche Neigung, und es wäre mir unmöglich,
wenn es sich um Geschichtschreibung handelt, derart an
meine Führung zu denken oder so über sie zu schreiben. Da
ich mich nun entschlossen habe, die mir vorgeschlagene
Arbeit anzunehmen, kann ich in dem von neuem auf dem
Papier entbrannten Streit auf diese natürliche Überlegen-
heit nicht verzichten, die mir die Analyse gestattet, meine
Gedanken und meine geistige Arbeit mit der Tätigkeit der
mir damals unterstellten Truppen und ihrer Führer zu ver-
binden.
Ich beschäftigte den Leser in diesem Vorwort so lange,
ohne zum eigentlichen Inhalt überzugehen, um von vielen
10
DAS JAHR \ 920
x\nmerkungen absehen zu können, die bei der Tuchatschew-
skys Ausführungen Schritt für Schritt folgenden Betrach-
tung der Operationen des Jahres 1920 sonst notwendig
wären. Da ich schon dabei bin, Hindernisse meiner Ar-
beit aus dem Wege zu räumen, will ich nun auch noch
einige andere beseitigen.
Vor allem möchte ich den von Tuchatschewsky ange-
wandten Stil nicht nachahmen. Sein Buch war sicherlich
nicht für uns Polen und für polnische Soldaten bestimmt;
sein, ich möchte sagen, etwas stark publizistischer Stil ge-
reicht seinem Werke keineswegs zur Zierde. Man findet in
ihm das Streben, seine Zuhörer und Leser aufzuhetzen, zu-
gleich den Versuch, seine ehemaligen Gegner herabzusetzen.
Obwohl ich Herrn Tuchatschewsky nicht böse darüber bin,
daß er bei seiner Beschreibung der im Jahre 1920 gegen ihn
kämpfenden Truppen die Farben so stark aufgetragen hat
in der deutlichen Absicht, uns der öffentlichen Verachtung
preiszugeben, will ich in meiner Antwort sogar die bei uns
eingebürgerte Bezeichnung „Bolschewik66 vermeiden, da
diese Bezeichnung bei uns ohne Zweifel etwas Verächtliches
und Beleidigendes enthält. Dies hindert mich nicht, zu den
von Herrn Tuchatschewsky geäußerten Ansichten sozial-
politischer Natur Stellung zu nehmen, die sowohl einzeln in
verschiedenen Abschnitten seiner Vorträge verstreut sind
als auch, zu einem Ganzen vereint, in dem „Revolution von
außen66 betitelten Abschnitt zur Geltung kommen. Dies er-
scheint mir um so notwendiger, da doch Wirkungen poli-
tisch-sozialer Natur im Kriege eine wichtige Rolle spielten
und mithin auch für die Pläne der Führer von Bedeutung
waren.
Ich muß ferner in meinem Vorwort hinzufügen, daß ich
in Anbetracht dessen, daß in Herrn Tuchatschewskys Vor-
VORWORT
11
trägen keine Darstellung der Gesamtheit seiner Führertätig-
keit zu finden war, nach anderen Quellen gesucht habe, die
mir diesen Mangel ersetzen könnten. Ich fand sie, aller-
dings in unzureichendem Maße, in einer Reihe historischer
Werke unserer ehemaligen Gegner. Mit aufrichtiger Befrie-
digung muß ich feststellen, daß diese Werke in Bezug auf
Methode und Form einen Vergleich mit anderen hervor-
ragenden Werken dieser Art bestehen können. Einen wah-
ren Schatz bildet in dieser Hinsicht das Buch Sergiejews
„Von der Düna zur Weichsel66, das die Tätigkeit der 4. Sow-
jetarmee und ihres Führers, welcher der Verfasser des er-
wähnten Buches ist, schildert. Ich benutzte es reichlich bei
allen historischen Studien über den Feldzug von 1920. Es
bietet leider die Möglichkeit, die von mir über die Führer-
tätigkeit Tuchatschewskys oben festgestellte Meinung zu
illustrieren.
Indem ich mein Vorwort schließe, muß ich noch meinem
Bedauern Ausdruck geben, daß manche unserer Geschichts-
werke so tief stehen, daß man sie weder als gute Quelle be-
nutzen noch mit diesbezüglichen Werken unserer ehemali-
gen Gegner vergleichen kann. Gar zu oft erwecken diese
Werke den Eindruck von Arbeiten eines Volksschülers, der
schuldbewußt seinen strengen Lehrer, in diesem Falle die
Geschichte, durch Lüge und selbstbewußtes Auftreten zu
täuschen versucht.
I
Die Zahl der Streitkräfte
Bei der Analyse der Arbeit Tuchatschewskys kann ich
mich nicht an den von ihm angenommenen Aufbau halten,
sondern muß mit der Untersuchung seiner besonderen mili-
tärischen Tätigkeit beginnen, die nicht in einem Kapitel ver-
eint, sondern in verschiedenen Randbemerkungen im Text
oder in besonderen Tabellen verstreut ist. Ich meine hier
die Berechnung, die alle Führer und Stäbe im Kriege ma-
chen müssen: das Kräftekalkül der eigenen Truppen und
der des Gegners. Diese Arbeit ist nicht so einfach, wie es
scheinen könnte. In jedem Stab gibt es Offiziere, die sich
lediglich mit der ständigen Berechnung der zum Kampf zur
Verfügung stehenden Truppen befassen. Wie kompliziert
diese Berechnungen sind, mag daraus hervor gehen, daß
viele Kriegshistoriker, die doch bei ihren Studien ein reich-
liches Aktenmaterial übersehen können, das sicherlich nie-
mandem während des Krieges zur Verfügung stand, sehr oft
bei der Kräfteberechnung derselben Schlacht oder dessel-
ben Feldzuges voneinander abweichen.
Tuchatschewsky wußte wahrscheinlich, daß man ihm bei
seiner Berechnung unserer Streitkräfte leicht Ungenauigkeit
zum Vorwurf machen könnte. Er entschuldigt sich von
vornherein und behauptet, unsere Berechnung wäre zu
kompliziert gewesen, da wir bei der Kräfteberechnung die
Zahl der Bajonette und Säbel als Grundlage annahmen.
Merkwürdigerweise fand ich in der Kriegsliteratur, welche
14
DAS JAHR \ 920
die von Tuchatschewsky befehligten Operationen behandelt,
Berechnungen, die ganz ebenso nach Bajonetten und Sä-
beln zählen. Sergiejew, den ich früher bereits erwähnte,
zählt auf diese Weise seine Kräfte. Eine der Sowjet-Divi-
sionen (die 2.) gibt eine Schätzung ihrer Kräfte bei der
Einnahme von Brzese nach ganz gleicher Methode. Wäh-
rend nun in der Sowjet-Armee die Gewohnheit herrschte,
die Streitkräfte nicht nur nach Bajonetten und Säbeln, son-
dern auch nach Kämpfern zu berechnen, versuchte man
bei uns auf andere Weise, und zwar durch die Feuerkraft,
die doch das Wesen neuzeitlicher Kämpfe bildet, eine Be-
rechnung zu gewinnen. Jedenfalls erschien mir die Tat-
sache seltsam, daß Tuchatschewsky unsere Kräfteberech-
nung nach Bajonetten und Säbeln nicht verstehen wollte,
und dies um so mehr, da doch die von ihm befehligten
Truppen in dieser Hinsicht keinen Unterschied aufwie-
sen. Bei genauerer Untersuchung der von Tuchatschewsky
angeführten Tabellen erwachte in mir unwillkürlich die
Vermutung, daß die von ihm bei der Errechnung unserer
Kräfte erwähnten Schwierigkeiten wahrscheinlich mit Ab-
sicht stark übertrieben waren, um bei Feststellung der
Endsumme — was augenscheinlich ist — zu Zahlen zu
gelangen, die die beiderseitigen Streitkräfte ausglichen oder
sogar uns anstatt seinen Truppen das zahlenmäßige Über-
gewicht gaben. Ich gestehe es, daß mir diese publizistische
Rechnungsmethode die Lust raubte, jede der von Tucha-
tschewsky angeführten Zahlen ernstlich zu prüfen.
Ich will jedoch einige aufs Geratewohl aus der Rech-
nung Tuchatschewskys herausgegriffene Zahlen als Beispiel
anführen, um zu beweisen, wie — gelinde ausgedrückt —
leichtfertig er mit seinen einzelnen Rechnungsposten um-
geht. In der ersten Tabelle seiner Kräfteberechnung finden
DIE ZAHL DER STREITKRÄFTE
15
wir die 15. Kavallerie-Division, die in der Tabelle Nr. 2
verschwindet, um in der Tabelle Nr. 3 wieder aufzutauchen.
In der Tabelle Nr. 1, die gleichsam einen Anhang zu den
im Mai 1920 geführten Operationen bildet, befindet sich
auf unserer Seite die 2. litauisch-weißrussische Division
mit 4800 Bajonetten, trotzdem sie an diesen Operationen
überhaupt nicht teilnahm. Das Merkwürdigste aber stellt die
in der 3. Tabelle vorhandene Errechnung der Streitkräfte
hei Anbruch der am 4. Juli begonnenen und vor Warschau
beendeten sowjetischen Hauptoperation dar, die ausdrück-
lich darauf abzielt, das Gleichgewicht des beiderseitigen
Kräfteverhältnisses herzustellen. Ganz unten findet man
auf der Tabelle die Rubrik: Ersatzbataillone und Ersatz-
schwadronen der aktiven Regimenter, wobei ihre Stärke,
was uns anbetrifft, auf 27 000 Bajonette und 1200 Säbel,
die bereit sind, eingereiht zu werden, berechnet wird. Rus-
sischerseits findet man in den betreffenden Rubriken für
Bajonette und Säbel bloß drei Sterne ohne Zahlenangabe,
mit der Bemerkung, daß diese Bataillone und Schwadro-
nen in den Divisionen mitgerechnet sind. So wird die bei-
derseitige Kräfteberechnung nicht nur ausgeglichen, son-
dern sogar ein Übergewicht von 30 000 Bajonetten für uns
geschaffen.
Komisch erscheinen kleine Rechenfehler beim Vergleich
der einzelnen Tabellen untereinander. Die Tabelle Nr. 1
weist bei einzelnen unserer Infanterie-Divisionen aus unbe-
kannten Gründen ständig 400 Säbel auf, während andere
Divisionen dieses Vorzuges entbehren. In der Tabelle Nr. 2,
die den Stand unserer Truppen nach 15 Kampftagen ent-
hält, steigt plötzlich die Stärke der Reiterei von 400 auf
500 Säbel, und es scheint, als ob sich im Verlaufe der
Kämpfe die Zahl der Bajonette und Säbel nicht verringerte,
16
DAS JAHR \ 920
sondern im Gegenteil anwüchse. Auf gleiche Weise, wie
eine ganze Kavallerie-Division — wir haben es bereits er-
wähnt — aus der Tabelle Nr. 2 verschwand, wurde das
beiderseitige Gleichgewicht in diesen Tabellen in aller Ge-
mütsruhe hergestellt, indem man die 29. Schützen-Division
mit ihren fast 10 000 Bajonetten und 600 Säbeln aus allen
weiteren Berechnungen unwiderruflich hinwegzauherte.
Diese merkwürdige und von auffallenden Fehlern wim-
melnde Berechnung unserer und der Sowjetkräfte würde
den von Tuchatschewsky befehligten Sowjetstäben ein trau-
riges Zeugnis ausstellen, wenn sich nicht in ihr eine aus-
drückliche Tendenz publizistisch-agitatorischer Natur er-
kennen ließe, die übrigens den Wert des Büchleins
Tuchatschewskys bestimmt nicht hebt. Diese Tendenz
drückt sich in dem Bestreben aus, in der Schlußsumme der
Kräfteberechnung absichtlich unsere Kräfte zu erhöhen
und seine eigenen Kräfte herabzusetzen. Nichts hindert da-
bei Herrn Tuchatschewsky, bei Darstellung seiner Führer-
tätigkeit des öfteren selbst den in den Tabellen angegebe-
nen Zahlen zu widersprechen. Auf Seite 273 behauptet
Tuchatschewsky bei der Darstellung der Vorbereitungen
zur Hauptoperation, daß „dank angespannter Tatkraft der
Männer, die am Aufbau der roten Armee wirkten . . . viele
Tausende von Ergänzungsmannschaften unseren Divisionen
zuflossen“. Infolgedessen wurde tatsächlich der Plan der
Verdoppelung der Kampfstärke verwirklicht; in den Ta-
bellen jedoch bemerkt man dieses nicht. Noch einmal auf
Seite 289 stellt Tuchatschewsky fest, daß über 30 000 völlig
ausgebildete Leute mobilisiert und in die von ihm befeh-
ligten Armeen während des Vormarsches von der Berezyna
und Düna auf Warschau eingereiht worden sind. In den
Berechnungen der Armeestärke bemerken wir wiederum
DIE ZAHL DER STREITKRÄFTE
17
keine Spur dieser neuen Ergänzung. Die Frage ist also be-
rechtigt, wo sich eigentlich die Übertreibung Tuchatschew-
skys birgt: ob in der agitatorisch bezifferten Rechnung, die
wir in den Tabellen vorfinden, oder im publizistischen Lob,
das er der Energie der rotsoldatischen Arbeiter und dem
System der klassenmäßigen Ergänzung der Armee spendet.
Deshalb scheint es unmöglich, die von Tuchatschewsky
angeführten Zahlen und Tabellen als geschichtliches Ma-
terial anzunehmen, und ich entschloß mich deshalb, sie in
meinen Ausführungen und Untersuchungen nicht in Be-
tracht zu ziehen. Ich will aber nicht die von mir während
des Feldzuges 1920 für mich selbst zusammengestellten Be-
rechnungen allgemeiner Natur unberücksichtigt lassen.
Die eigenen Kräfte kann man auf Grund periodischer
Bestandsausweise der einzelnen Truppenkörper berechnen.
Ich muß jedoch davor warnen, sich einzig und allein auf
diese Angaben zu stützen. Als begeisterter Geschichtsfor-
scher muß ich vor allem feststellen, daß jede Meldung,
was sie auch immer enthält, für den Geschichtsforscher
erst nach kritischer Untersuchung eine sichere Quelle dar-
stellt. Jede Meldung ist für den Vorgesetzten bestimmt und
soll nicht nur ein Bericht sein, sondern auch den Vorge-
setzten in dem vom Meldenden gewünschten Sinne beein-
flussen. Wenn es sich so in alten Armeen mit reicher Über-
lieferung und langdauernder Ausbildung verhält, wieviel
mehr muß dieses in unserer Armee der Fall gewesen sein,
die neu aufgebaut war und aus Führern bestand, die fast
zufällig aus den verschiedensten Armeen und Schulen zu-
sammengerafft waren. Deshalb nahm ich unsere Bestands-
meldungen niemals gar zu ernst. Ich führte bei ihnen
immer eine summarische Korrektur durch, denn in unse-
rem Heer hatte die Sitte überhand genommen, eine große
2 Pilsudski II
18
DAS JAHR d920
Zahl von Leuten aus den Kampftruppen — aus Bequem-
lichkeitsgründen der Truppe oder ihrer Führer — zu ver-
schiedenen Wirtschaftszwecken in die Etappe oder zum
Troß abzukommandieren. In den Bestandsausweisen be-
rücksichtigte man dieses nie und zählte diese Leute in den
für die Vorgesetzten bestimmten Meldungen stets als in
den Regimentern anwesend mit. Es herrschte diesbezüglich
in unsrer Armee eine sehr weitgehende Toleranz, und ich
erinnere mich nicht daran, daß ein Vorgesetzter in diesen
Angelegenheiten strengere Disziplin anwandte. In allen
periodischen Bestandsausweisen nahm ich deshalb in der
für mich bestimmten Berechnung eine allgemeine Korrek-
tur vor, indem ich mindestens ein Drittel der allgemeinen
Zahl der Bajonette und Säbel von der Kämpferzahl ab-
rechnete. Bei manchen Divisionen stieg diese Korrektur
bis zur Hälfte der im Bericht angegebenen Stärkezahlen.
Ich will nicht behaupten, daß das Abkommandieren von
Säbeln und Bajonetten zu Wirtschaftszwecken, wie es bei
uns der Fall war, in der Sowjetarmee unbekannt war. Ich
bin sogar überzeugt davon, daß es vorkam. Ich muß jedoch
bemerken, daß die Disziplin bei unsrem Gegner oft rück-
sichtslos gehandhabt wurde und daß die Mittel zu ihrer
Erhaltung so außerordentlich waren, daß es mir zweifel-
haft erscheint, ob der Führer unsres Gegners so traurige
Korrekturen vornehmen mußte wie ich. Mit aufrichtigem
Neid las ich z. B. im Bericht über die Kämpfe der 27. In-
fanterie-Division vor Warschau, daß ihr Führer am
10. August am Liwiec-Fluß die Kampfstärke durch Ein-
reihung verschiedener Etappen- und Troßabteilungen er-
höhte*). Ich kann die Leser versichern, daß mir kein ähn-
licher Fall in unsrer Armee bekannt ist.
*) W. Putna — Pod Warszawoj (Bei Warschau).
DIE ZAHL DER STREITKRÄFTE
19
Außerdem möchte ich aus den Gedanken meiner Leser
den — wie bereits erwähnt — absichtlichen Rechenfehler
Tuchatschewsky bezüglich der Ersatzbataillone und Ersatz-
schwadronen fernhalten. Organisationsgemäß dienten un-
sere Ersatzbataillone und Ersatzschwadronen nicht nur
zur Auffüllung der Kampfstärke der Armee, sondern
ihnen lag auch die Sorge für das ganze Eigentum der
Regimenter ob, die im Felde standen. Aus diesem Grunde
konnten alle Ersatzformationen während unsres Rück-
zuges zur Weichsel tatsächlich ihre Hauptaufgabe — die
Auffüllung der Feldregimenter — nicht ausführen, son-
dern waren mit der Fortschaffung ihres ganzen Eigen-
tums und ihrer Einrichtungen beschäftigt. Es kann also
nur von organisatorischer Arbeit in tief rückwärtigen
Stellungen die Rede sein. Während unsres hastigen Rück-
zuges, den ich später analysieren werde, untersagte ich
ausdrücklich, den Regimentern Ergänzungen vor Er-
reichung des Bugflusses zuzuführen. Ich glaubte näm-
lich nicht daran, daß es nach Aufgabe der Linie Barano-
wicze—Wilno General Szeptycki, der hier befehligte, ge-
lingen könnte, die feindlichen Angriffe irgendwo aufzu-
halten. Etliche Marschbataillone wurden daher an den
Bug- und Narewfluß entsandt und bildeten die erste Stütze
für die von der Düna und Berezyna zurückweichenden
Truppen.
Da ich gegenwärtig das nötige Zahlenmaterial nicht ein-
mal für die von mir befehligten Truppen besitze, will ich
nicht den Spuren Tuchatschewskys folgen und seinen Ta-
bellen die meinigen gegenüberstellen, weil sie eine ge-
schichtlich ungenügende Garantie bieten würden. Ich
möchte auch nicht im Verhältnis zu den Feindeskräften
unsre Berechnungen aus jener Zeit anführen, da sie natür-
25
20
DAS JAHR \ 920
licherweise noch unverständlicher wären. Wir hielten fol-
gende Rechenmethode für die genaueste: Auf Grund von
Gefangenenaussagen berechnete man die Stärke der Kom-
panien und Schwadronen und versuchte auf diese Weise
die Stärke der Bataillone, Regimenter und Divisionen zu er-
mitteln. Diese Methode schien uns am besten geeignet, denn
die Sowjetarmee wies unsrer Beobachtung nach eine unge-
heure Verschiedenheit der zahlenmäßigen Stärke auf, nicht
nur beim Vergleich der höheren Verbände, wie Divisionen
und Brigaden, sondern auch in bezug auf die einzelnen
Regimenter innerhalb der Brigaden und auf die einzelnen
Bataillone innerhalb der Regimenter.
Noch eine schnelle Methode will ich anführen, deren ich
mich öfters bediente, wenn ich ein Bild davon erhalten
wollte, über welche Kräfte ich eigentlich für in Frage kom-
mende Operationen verfügte. Diese Methode beruhte dar-
auf, daß ich zur Grundlage meiner Berechnungen die Ge-
samtzahl aller im ganzen Land zu den Waffen Berufenen
nahm. Mit Hilfe meiner militärischen Kenntnisse versuchte
ich dann den Prozentsatz der zum Kampf zur Verfügung
Stehenden zu berechnen. Dieser Prozentsatz war in ver-
schiedenen Zeiträumen verschieden und hing vom Zeit-
punkt des Eintreffens der Ergänzungstransport« 3*1 der
Front ah. Gemäß meinen Berechnungen überschritt dieser
Prozentsatz bei uns niemals 12—15 %. Dieser beklagens-
werte Zustand unsrer Kriegsorganisation war die Folge des
überhasteten und oberflächlichen Aufbaues unsrer Armee,
welche wir im Jahre 1918 fast vom absoluten Nullpunkt
aus zu bilden begannen. Einen ungewöhnlich schlechten
Einfluß übte dabei die Tatsache aus, daß der weitaus größte
Teil unsrer Militärverwaltung es wie eine Sünde vermied,
strengere Disziplinarmaß nahmen sowohl innerhalb als auch
DIE ZAHL DER STREITKRÄFTE
21
außerhalb der Militärverwaltung zu ergreifen. Eine so
große Rücksichtnahme auf die Tätigkeit des Hinterlandes
bewirkte schließlich eine Erscheinung, die ich immer mit
den Worten schilderte, daß ein beträchtlicher Teil des Men-
schenmaterials zwischen den Fingern der Militärverwaltung
hindurchflutete. Ich meinte lachend, daß wir die Eigen-
arten einer Freiwilligenarmee nicht loswerden können,
weil bei uns nur kämpft, wer will oder wer dumm ist.
Im Hinblick auf die Worte Tuehatschewskys und bekannt
mit dem System der Disziplin unsres Gegners, die zu außer-
gewöhnlicher Rücksichtslosigkeit gesteigert wurde, glaube
ich nicht, daß es bei unsrem Gegner in dieser wichtigen
Angelegenheit so schlecht stand wie bei uns. Deshalb er-
laube ich mir den für uns früher erwähnten Prozentsatz
für Tuchatschewsky um mindestens 10 % zu erhöhen, so
daß der Prozentsatz der Kämpfer bis zu 25 % des Yerpflegs-
standes der russischen Armee steigen würde. Ich glaube
dabei noch niedrig zu greifen, da doch unsre Kämpferzahl
den Prozentsatz der gesamten im ganzen Land unter Waf-
fen stehenden Menschenzahl bildete, während ich für Tu-
chatschewsky bloß den Prozentsatz der an der Front befind-
lichen Menschenzahl annehme.
Glücklicherweise fand ich während meiner Studien über
unsren Gegner die Zahl des Verpflegungsstandes an Men-
schen und Pferden vom August 1920. Sie beträgt für die
von Tuchatschewsky befehligten Truppen 794 645 Mann
und 150 572 Pferde*). Wenn man also unsre Berechnungs-
methode anwendet, ergibt sich eine Stärke von ungefähr
200 000 Mann, über die Tuchatschewsky anfangs August
und mithin auch im Juli verfügte.
*) Frolow, Snabzenje krasnoj armji na zapfrontie (Die Versorgung der roten
Armee an der Westfront).
22
DAS JAHR \ 920
Bei uns stieg, wie ich mit voller Gewißheit behaupten
muß, diese Zahl während unsres ganzen Krieges niemals
bis 200 000, und dies an der ganzen Front, und nicht nur
an jenem Frontabschnitt, der Tuchatschewsky gegenüber-
stand. Daraus schließe ich, daß wir seit der vollendeten
Entfaltung der Sowjetkräfte im Juli 1920 an der Front eine
ständige zahlenmäßige Übermacht des Feindes gegen uns
hatten.
Ich schreibe dieses keineswegs, um mich damit zu loben,
im Gegenteil, ich halte diese Tatsache für eine traurige Er-
scheinung, die kein gutes Zeugnis für uns ist. Diese meine
Bemerkung erscheint um so berechtigter, wenn ich hinzu-
füge, daß unser Krieg 1918—1920 sich nicht durch blutige
Kämpfe kennzeichnete, die das Heldentum im eigentlichen
Sinne des Wortes auf die Probe stellten. Die von unsren
Truppen erlittenen blutigen Verluste waren verschwindend
klein im Vergleich mit dem Prozentsatz der Verluste im
Weltkrieg.
Um diesen Abschnitt zu beenden, will ich noch meine
seinerzeit gemachte, leider sehr allgemeine Berechnung an-
führen, von der ich keineswegs behaupte, daß sie genau
ist. Ich berechnete die von Tuchatschewsky befehligten
feindlichen Truppen am 4. Juli bei Beginn der Operationen
auf 200 000—220 000 Kämpfer, wogegen Tuchatschewsky
den Kampf stand in seiner Tabelle mit 160 188 Mann an-
gibt. Die Kräfte des Generals Szeptycki, der die gleiche
Front wie Tuchatschewsky befehligte, berechne ich auf
höchstens 110 000—120 000 Mann.
Während der Schlußepisode an der Weichsel rechnete ich
mit 130 000—150 000 Kämpfern Tuchatschewskys und
120 000—180 000 Mann unserer Truppen, wobei ich nur
die Kräfte in Betracht zog, die in der Schlacht an der Weich-
DER KRIEGSSCHAUPLATZ UND DIE STRATEGISCHEN PLÄNE
23
sei verwendet werden konnten. Wenn die letzte Zahl mei-
nerseits unter solchem Vorbehalt angegeben wird, so ge-
schieht das deswegen, weil zu jener Zeit ein derart großer
Wirrwarr herrschte, daß man nicht daran denken konnte,
alle jene Truppen im Feld zu verwenden, die schon ausge-
rüstet und marschbereit waren.
II
Der Kriegsschauplatz
und die strategischen Pläne
Wie dies vor Beginn einer bedeutenden Kriegsbandlung
zu sein pflegt, prüften Tuchatschewsky und seine Vorge-
setzten den Wert des künftigen Kampfgeländes sowie die
Gruppierung der eigenen Kräfte wie auch derjenigen des
Feindes. Im Einklang damit behandelt Tuchatschewsky die-
sen Gegenstand im 2. und 3. Abschnitt seines Buches. Ich
werde mich nicht bei der Beschreibung des Operations-
gebietes aufhalten, die völlig der Wirklichkeit entspricht
und eigentlich reine Geographie ist. Nur bei manchen Be-
trachtungen geographischer Art Tuchatschewskys will ich
Halt machen, da sie, nach allem zu urteilen, was
er selbst über seine Führertätigkeit schrieb, sehr großen
Einfluß auf seine militärischen Entschlüsse hatten. Um so
angenehmer ist es mir, daß eine der Bezeichnungen, die
Tuchatschewsky mit Vorliebe benützt, polnischen Ursprungs
ist, und deshalb fühle ich mich berechtigt, diese Bezeich-
nung in ihrem eigentlichen Sinn zu benützen, nicht aber
in der von Tuchatschewsky angewandten etwas sonderbaren
Bedeutung. Tuchatschewsky behauptet nämlich, er hätte
bei der Vornahme der Kriegshandlungen mit weitgesteck-
24
DAS JAHR \ 920
ten Zielen zweierlei Richtungen für seine Hauptkräfte zur
Wahl gehabt: Eine von ihnen, die gradeaus auf Minsk
führt, nennt er die Richtung auf Ihumen; die andre benen-
nen die Polen nach seiner Aussage „das Tor von Smo-
lensk66. Tuchatschewsky wählte für seinen Vormarsch diese
zweite Richtung.
Wie schon erwähnt, bezeichnen wir mit unsrer Benen-
nung einen ganz andren Landstrich, der ihr viel mehr
entspricht. Tatsächlich bilden die zwei größten Flüsse
des ehemaligen Grenzlandes zwischen Polen und dem
Reiche der Zaren, die Düna und der Dnjepr, in ihrem
Oberlauf einen ziemlich schmalen Korridor, den gegen
Osten Smolensk — die größte Stadt jener Gegend — ab-
schließt. Aus diesem Grunde mußten alle Unternehmungen
und Überfälle — sei es polnischer- oder russischerseits —
Smolensk berühren und machten es gleichsam zu einer
Pforte, an die man bei jeder größeren Kriegshandlung zu-
nächst anklopfen mußte. Smolensk wurde im Laufe von
Jahrhunderten, soweit es sich um größere Feldzüge han-
delte, immer von der einen oder andren Partei besetzt. In
neueren Zeiten wurde hei dem Vormarsch Napoleons auf
Moskau eine der bedeutenderen Schlachten um den Besitz
dieser Pforte geschlagen. Bis heute noch trägt Smolensk
sichtbare Spuren dieser seiner Bedeutung in Gestalt von
ausnahmsweise gut erhaltenen Mauern und Wällen. Tucha-
tschewsky jedoch überträgt diese Bezeichnung auf eine ganz
andre Gegend, die weder mit Smolensk noch mit einem
der beiden Flüsse, die jenes Tor charakterisieren, nämlich
dem Dnjepr, in Zusammenhang steht. Als ob er den großen
geschichtlichen Wert von Smolensk vermindern wollte,
überträgt er diesen auf das kleine Städtchen Orzechowna.
Dieser unvermutet auf tauchende Name hat mich, wie ich
DER KRIEGSSCHAUPLATZ UND DIE STRATEGISCHEN PLÄNE
25
bekennen muß, sehr bestürzt. Mehrere Jahre hindurch habe
ich als Oberster Führer der polnischen Armee viele und
mannigfaltige Möglichkeiten, sei es unsrerseits, sei es von
seiten des Gegners erwogen, kam aber keineswegs zu der
Erkenntnis, daß ich eine Zeitlang im Besitze eines so wich-
tigen strategischen Punktes war, den wir dann übrigens
mit meinem Einverständnis beim endgültigen Festlegen
unserer Grenze während des Rigaer Friedensvertrages auf-
gegeben haben. Ich möchte sogar vermuten, daß die jüdi-
sche Einwohnerschaft dieses Städtchens absichtlich danach
trachtete, dem Sowjetstaat zuzufallen; denn gerade auf ihr
Drängen gaben wir nach, ohne uns der uns drohenden Ge-
fahr bewußt zu sein.
Auf Grund der Darstellung und der Erwägungen Tucha-
tschewskys gestatte ich mir — wenn schon dieser ganze
Landesteil den Namen des Tores von Smolensk tragen
soll — vorzuschlagen, das Städtchen Orzechowna, welches
gegenwärtig dicht an unsrer Grenze liegt, nicht als Tor,
sondern als Pförtchen oder gar Smolensker Pförtlein zu be-
zeichnen. Doch — Spaß beiseite — Orzechowna hat trotz-
dem — nach der Darstellung Tuchatschewskys — eine große
Rolle gespielt.
Der Führer der Sowjetarmeen war der Meinung, daß er
gerade in der Gegend von Orzechowna seine Operations-
linie umstellen, und mit dem rechten Flügel eine Schwen-
kung von 90° ausführen mußte, was einer Wendung vom
Ausmaß eines rechten Winkels gleichkommt. Obzwar er bei
seinem ersten Versuch, den er als „Mai-Offensive64 be-
zeichnet, geschlagen wurde, äußert er dennoch in folgenden
Worten seine Freude: „Das Tor von Smolensk verblieb in
unsren Händen bis zum Augenblick, in dem wir unsre
zweite entscheidende Offensive begannen.66 (S. 268.)
26
DAS JAHR \ 920
Im Vorwort machte ich schon auf die etwas allzu ab-
strakte Behandlung des Gegenstandes durchTuchatschewsky
aufmerksam. Nun, wo er seine Feldherrntätigkeit leicht-
fertig mit so lächerlich unbedeutenden Punkten der Land-
karte verbindet, würde es schwer sein, einen besseren Be-
weis dafür zu liefern, daß die Denkweise Tuchatschewskys
tatsächlich abstrakt ist. Wenn er wirklich eine so kompli-
zierte und viel Zeit erfordernde Schwenkung des einen oder
andren Flügels einer größeren Truppenmenge unter rech-
tem Winkel beabsichtigte, so scheint es wunderlich, daß er
dieses Manöver mit irgendeinem unbedeutenden Platz ver-
band, wenn dieser selbst auf seinem Hauptweg lag.
Solch ein schwieriges Manöver kann man ebenso gut ab-
seits solcher Plätze ausführen, und man soll nie darauf be-
stehen. Geographie und Geometrie! Wieviel Hinterhälte be-
reiten sie den Feldherren!
Die Kriegsgeschichte kennt mehr als ein Beispiel hierfür.
Als ich Ende Mai unsre Gegenoffensive zum Stehen brachte,
ahnte ich nicht einmal, daß Tuchatschewsky zuvor die
„Smolensker Pforte66 erbrochen hatte und gegen Ende der
Schlacht zumindest um den Besitz des „Pförtchens Or-
zechowna66 kämpfte, der ihm einen Ersatz für das Tor von
Smolensk bieten sollte. Dies erinnert mich sehr an den be-
kannten großen Januarkampf vom Jahre 1905 zwischen der
Armee Kuropatkins und der Armee Oyamas, dessen Stu-
dium ich mich öfters widmete. Die Russen nennen diese
Kämpfe „Schlacht bei San-de-pu66, weil General Kuropat-
kin und der Führer der 2. Armee Grippenberg den Fort-
gang der Operation von der Eroberung einer solchen Or-
zechowna auf jenem Kriegsschauplatz abhängig machten.
Diese Auffassung verband sich dermaßen mit ihren Gedan-
ken und Plänen, mit ihren Befürchtungen und Hoff nun-
DER KRIEGSSCHAUPLATZ UND DIE STRATEGISCHEN PLÄNE
27
gen, daß dieser Gedankenknoten schließlich der großen
Operation den Namen gab. Der Zufall will nun, daß die
Japaner, die zum Gegenangriff übergingen, diese Schlacht
ganz anders benennen. Sie tauften sie mit dem Namen
„Schlacht bei Hei-kau-tai66, einer andren Orzechowna, die
ihnen mehr Angst einflößte, wo sie mit Elitetruppen zu
kämpfen hatten und am meisten Sorge und Furcht emp-
fanden und die größten Anstrengungen aufwenden mußten.
Mit Vorliebe erwähnte ich in meinen Vorträgen dieses Bei-
spiel und bezeichnete es als eine Komödie von Irrungen
und als Beispiel komischer Mißverständnisse. Und ich
warnte immer meine Zuhörer, die kleinen wie die großen,
daß sie die Hinterhalte, die in der Geographie und Geome-
trie versteckt sind, meiden sollten. Möge mir mein ehren-
werter Gegner von 1920 vergeben, wenn ich jetzt dem Bei-
spiel von San-de-pu jenes von Orzechowna beifüge. Zur
Analyse der militärischen Operationen übergehend hoffe ich
nun die Leser zu überzeugen, daß ein derartiges eigensin-
niges Herumstapfen in Gedankengängen um ähnliche Ge-
dankenknoten der Feldherrn herum fast immer dazu führt,
die Truppen ebenfalls diesen Umweg ausführen zu lassen,
was viel Zeit- und Kraftverlust verursacht.
Ich fesselte die Aufmerksamkeit des Lesers deshalb so
lange an diesem Teil der Erwägungen Tuchatschewskys,
weil er selbst bei Besprechung seiner Hauptpläne nichts an-
deres als die Schwenkung seiner Hauptkräfte unter rechtem
Winkel nach Eroberung des „Tores von Smolensk66 zur Er-
wähnung bringt. Es ist unverkennbar, daß dieser Plan die
Gedanken Tuchatschewskys stark fesselte. Zweimal voll-
führte er dieses Manöver: einmal im Mai und ein zweites
Mal während der Hauptoperation im Juli, die er vor War-
schau beendigte. Dieses Manöver stand im Zusammenhang
28
DAS JAHR -1920
mit der Absicht, die Bahnlinie Polock—Molodeczno, als die
bequemste Nachschublinie der Hauptkräfte Tuchatschew-
skys, auszunützen.
Insofern dieser Plan einfach und verständlich erscheint,
erheischen die Inbesitznahme und der Schutz der Haupt-
operationslinie zu ihrer Verwirklichung weder Marschbe-
wegungen des Gros der Hauptkräfte noch ein Festknüpfen
dieser Hauptkräfte an geographische Punkte, die an der
Operationslinie liegen. Wenn man seine Pläne an geogra-
phische Namen oder geometrische Figuren bindet, läuft
man immer Gefahr, den Feind und seine Tätigkeit, die
doch im Kriege das Haupthindernis bei Verwirklichung der
Pläne bilden, zu vernachlässigen. Der Feind legt nicht im-
mer Wert auf dieselben geographischen Punkte und geo-
metrischen Figuren und findet sehr oft sein eigenes Or-
zechowna, das sich nicht mit dem des Gegners deckt. Ich
werde noch Gelegenheit haben, hei Untersuchung der Ope-
rationen Tuchatschewskys daran zu erinnern.
Tuchatschewskys Erwägungen der eigenen strategischen
Lage und der des Feindes sind — wenn er über sich
spricht — sehr kurz, wenn er dagegen von uns spricht, so
sind sie bedeutend ausführlicher. Über sich spricht er we-
nig, da er als Unterstellter an die Entscheidungen seines
Oberbefehlshabers gebunden ist, der selbst den Aufmarsch-
raum und die Zahl der für Tuchatschewsky bestimmten
Kampftruppen bestimmte. Es sind dies geschichtlich inter-
essante Einzelheiten, die Tuchatschewsky kaum in Erwä-
gung zieht. Er bestätigt lediglich, daß ihm als Aufmarsch-
raum der zwischen Witebsk, Orsza und Toloczyn liegende
Raum zugewiesen wurde, wobei die Zahl der ihm unter-
stellten Truppen auf 21 Divisionen festgesetzt war.
Wenn man die Zahl der Divisionen — einschließlich
DER KRIEGSSCHAUPLATZ UND DIE STRATEGISCHEN PLÄNE
29
2 Kavallerie-Divisionen — nachprüft, mit denen Tucha-
tschewsky im Juli seine Hauptoperation begann, kommt
man zu der im voraus für ihn bestimmten Truppenstärke.
Seinen ersten Operationsversuch im Mai aber vollführte er
mit kaum 13 Divisionen, und es fehlte ihm mehr als ein
Drittel der für die Operation berechneten Kräfte.
Seinen Aufmarschplan haute Tuchatschewsky auf Er-
wägungen unsrer Lage und Kräfteverteilung auf. Über
unsre Lage urteilte er im allgemeinen, daß wir unsre Kräfte
ungefähr gleichmäßig in einer Kordonlinie auseinanderge-
zogen hätten. Ich bedauere aufrichtig, daß Tuchatschewsky
den andren Teil seiner strategischen Erwägungen, die übri-
gens dem ganzen Buch zur Zierde gereichen, an andrer
Stelle, bei Besprechung der Hauptoperation im Juli, an-
führt. Möglicherweise spielte hier die Absicht mit, sich
nicht länger mit der mißlungenen Maioffensive zu befas-
sen; aber aufrichtig gesagt, es fiel mir schwer, mein Werk
auf gleich unlogische Art aufzubauen. Es scheint mir näm-
lich wahrscheinlich, daß Tuchatschewsky, der seinen Ope-
rationsversuch im Mai in ebenso weitem Rahmen vorberei-
tete wie im Juli, dabei die gleichen Durchbruchsgedanken
hegte, die er weit später erst auf beredte Weise entwickelt.
Es wäre mir dies viel bequemer, denn es würde mir leichter
fallen, zu der meiner Ansicht nach ungerechten Kritik
unsrer Kräfteverteilung und hiermit meiner diesbezüg-
lichen Befehle Stellung zu nehmen und einige Worte pro
domo mea zu äußern.
Tuchatschewsky bespricht also unsre Kordonlinie und
behauptet, daß uns diese gleichmäßige Kräfteverteilung
hinderte, „selbst bei den größten Anstrengungen die Haupt-
kräfte in irgendeiner Richtung zu versammeln. Unser An-
griff konnte immer nur einen kleinen Teil der polnischen
30
DAS JAHR \ 920
Armee treffen und mit Leichtigkeit die darauffolgenden Ge-
genangriffe der Reserven der Reihe nach abwehren“
(S. 262). Auf Grund dieser Erwägungen hoffte Tucha-
tschewsky, daß „seine Truppen mit ihrer Masse die in der
ersten Linie fechtenden polnischen Truppen erdrücken und
im wahren Sinne des Wortes im Durchbruchspunkt hin-
wegfegen würden. Dann wären die darauffolgenden Gegen-
stöße der Reserven nicht mehr gefährlich . . .“ (S. 263).
Als ich diese Erwägungen Tuchatschewskys ein ums
andre Mal las, erinnerte ich mich an ähnliche Überlegun-
gen meinerseits. Wenn auch manche Bezeichnungen und
Beweggründe von denen Tuchatschewskys abwichen, so war
doch das Endergebnis meiner Gedankenfolgerung ganz ähn-
lich und führte stets zum Endbeschluß, zu dem ich bereits
Ende 1919 gelangt war. Ich war der Ansicht, daß in dem
mit Sowjetrußland geführten Krieg immer derjenige erfolg-
reich sein würde und die Linie des Gegners an der von ihm
selbst gewählten Stelle durchstoßen könnte, welcher ener-
gisch angreift. Darum suchte ich stets einen Ausweg, der,
wie ich mich damals ausdrückte, ein Manöver war, wenn
auch in Wirklichkeit ein Rückzugsmanöver. Deshalb ge-
stehe ich offen, daß mich die von Tuchatschewsky geäu-
ßerte Meinung — die polnische Führung hätte ihm im
Frühjahr 1920 bloß eine schwache Kordonlinie gegenüber-
gestellt, mit der er so leicht fertig werden sollte — verletzt
hat.
Tuchatschewsky vergißt vor allem den grundsätzlichen
Unterschied der Rollen, die ihm und seinem unmittelbaren
Gegner auf gezwungen waren. Während man ihm befahl,
die Initiative zu ergreifen und den Gegner anzufallen, hat-
ten die polnischen Truppen der Tuchatschewsky gegen-
überstehenden Nordfront den Auftrag, defensiv zu bleiben.
DER KRIEGSSCHAUPLATZ UND DIE STRATEGISCHEN PLÄNE
31
In der Defensive kann eben die vorderste Linie, die dem
Feind am nächsten ist, lediglich die Form einer Kordon-
linie, einer dünnen, seichten Linie besitzen. Selbst der Stel-
lungskrieg, der doch die Linie zur Grundlage macht, führte
bei seiner Entwicklung zur Schaffung einer vorderen schwa-
chen Kordonaufstellung, die leicht zu durchbrechen ist und
lediglich Beobachtungs- und Yerschleierungszwecken dient.
Eine Kordonaufstellung oder Linie ist in der Defensive
unumgänglich, sie allein ermöglicht es, die Kräfte des An-
greifers, seine wahren Absichten und Angriffsziele zu er-
kunden. Dies wäre wohl der erste Gedanke gewesen, der
Tuchatschewsky zum Bewußtsein hätte kommen müssen,
wenn er sich in die Lage seines Gegners hätte einfühlen
wollen. Ich bestätige nun, daß eine Kordonaufstellung tat-
sächlich bestand, in der sich damals an der Tuchatschewsky
gegenüb erstehenden Front 6 Infanterie-Divisionen und
2 Kavallerie-Brigaden befanden (8. Infanterie-Division,
1. litauisch-weißrussische Infanterie-Division, der Haupt-
teil der 3. Legionen-Division, 2. Legionen-Division, 14.,
9. Infanterie-Division).
Man könnte darüber streiten, ob es gut war, ganze 6 Di-
visionen mit dieser undankbaren Aufgabe zu betrauen, man
könnte umgekehrt — wie meine Untergebenen — behaup-
ten, daß bei einer so weiten Front diese Kräfte nicht ein-
mal zur bloßen Beobachtung ausreichten. Tatsache bleibt
jedoch, daß nur dieser Teil der polnischen Truppen zur
Kordonaufstellung verwendet worden war. Es sei mir
schließlich gestattet zu bemerken, daß bei Beginn meiner
Offensive im September jenes Jahres die Armee Tucha-
tschewskys sich ebenso kordonweise längs der Flußbarrie-
ren des Niemen und Szczara auseinandergezogen hatte. Er
war in der Defensive, die ihn trotz scharfer Kritik an allem,
32
DAS JAHR \ 920
was Kordon und Linie betrifft, zu einer solch unvernünfti-
gen Gruppierung zwang, wie er sie uns im Mai zum Vor-
wurf macht.
Nun gehe ich zur Frage der Reserven über und stelle im
vorhinein fest, daß ihre Aufstellung ganz und gar nicht
einer Kordongruppierung entsprach. Bei Beginn der Offen-
sive der Südfront in der Ukraine im April berechnete ich
gewissenhaft, wie ich der Nordfront im Falle eines feind-
lichen Angriffes würde helfen können. Ich dachte über die-
ses Problem — die Eventualität eines feindlichen Gegenan-
griffes — des öfteren nach und war dabei andrer Meinung
als meine nächsten Mitarbeiter. General Haller, mein da-
maliger Generalstahschef, glaubte, der Gegenangriff müßte
im gleichen Raum geführt werden, in dem wir zum Angriff
übergingen. Seiner Ansicht nach waren gerade im Süden
die größten Kräfte des Gegners zusammengezogen worden,
die soeben die Denikinfront vernichtet hatten. Dort tauchte
auch eine neue Gefahr in Gestalt des Krim-Unternehmens
Wrangels auf. Es schien ihm also logisch, gerade dort auf
einen Gegenangriff gefaßt zu sein — wobei wir sicher wa-
ren, daß ein solcher überhaupt erfolgen würde. Ich selbst
neigte zur Meinung, der Gegenangriff würde dort erfolgen,
wo unsre Kräfte mehr zerstreut sind. Daher würde ich im
Falle unsrer Offensive an der Nordfront einen Gegenan-
griff im Süden erwarten; da wir uns aber für eine Offen-
sive im Süden entschlossen hatten, rechnete ich mit einem
feindlichen Gegenangriff eher aus dem Norden.
An der Nordfront verblieben als Reserven: die 6. Infan-
terie-Division in und um Osipowicze als Reserve der 4. Ar-
mee; die 16. Infanterie-Division — ebenfalls für die 4. Ar-
mee bestimmt — befand sich unterwegs nach der Polesie-
gegend. Diese beiden Divisionen standen gänzlich zur Ver-
DER KRIEGSSCHAUPLATZ UND DIE STRATEGISCHEN PLÄNE 33
fügung des Führers der 4. Armee, des Generals Szeptycki.
Weit rückwärts befand sich in Lida die 17. Infanterie-Divi-
sion, über die ich selbst verfügte. Daneben hatte ich im
Grenzschutz gegen Litauen, wo nicht gekämpft wurde, im
Verbände unsrer 7. Armee zwei Divisionen, von denen
mehr als die Hälfte ständig verfügungsbereit in Reserve
stand. An der Nordfront allein hatte ich somit 3^ Divisio-
nen als Reserve. Wenn ich auch die 16. Infanterie-Division
abziehe, die sogleich nach ihrem Eintreffen in die sich in
der Polesiegegend entwickelnden Kämpfe hineingezogen
wurde, so bleiben immer noch 2^ Divisionen übrig.
Sie bildeten fast die Hälfte der in defensiver Kordon-
aufstellung Tuchatschewsky gegenüberstehenden Kräfte
und lagen so weit rückwärts, daß sie in den ersten Tagen
der Offensive Tuchatschewskys seiner Einwirkung entzogen
waren und — entgegen der von ihm geäußerten Mei-
nung — in jeder vom Gegner frei gewählten Richtung han-
deln konnten.
In noch stärkerem Maße betrifft dies die weiter rück-
wärts befindlichen Reserven.
Tief im Hinterland hielt ich die 11. Infanterie-Division,
die gerade umorganisiert wurde, und die 7. Reserve-Infan-
terie-Brigade, die aus 3 Regimentern bestand. So erhalten
wir ungefähr 5 Divisionen in Reserve, die dank ihrer rück-
wärtigen Aufstellung für Tuchatschewsky unantastbar sind
und den in Kordonaufstellung befindlichen Kräften unge-
fähr gleichkommen.
Außerdem befahl ich bei Anlage unsrer Offensive in der
Ukraine, die 4. Infanterie-Division vom 3. Operationstag
an in Korosten und die 15. Infanterie-Division vom 4. Ope-
rationstag an in Koziatyn und Berdyczow als Reserven zu
meiner Verfügung zu stellen. Noch eine Division — die
5 Pilsudski II
—----•
34 DAS JAHR \ 920
5. Infanterie-Division — wollte ich bereit haben, um sie nö-
tigenfalls zur Stelle des erwarteten Gegenangriffes zu ent-
senden. Doch machte ich dies vom Stand der Umorganisie-
rung der 18. Infanterie-Division abhängig, die gleich nach
Beginn der Offensive aus der Front gezogen wurde, da sie
einer Retablierung sehr bedurfte. Die 11. und 18. Infante-
rie-Division bestanden nämlich aus alten Jahrgängen, die als
Kriegsgefangene sei es in Frankreich, sei es in Italien zur
Bildung dieser Divisionen verwendet wurden. Dies wirkte
so schlecht auf den Geist dieser Divisionen ein, daß sie
ohne entsprechende Umorganisierung kampfunfähig waren.
Ich stelle fest, daß die 4., 15. und die halbe 5. Infanterie-
Division rechtzeitig eintrafen, um die Maioffensive Tucha-
tschewskys abzuschlagen.
Bei Beginn der Offensive in der Ukraine rechnete ich
also im Falle eines feindlichen Gegenangriffes mit einer
Reserve von 8 Divisionen. Zwei von ihnen konnten zur
Stützung der gefährdeten Front und zum Auf halten des
Feindes verwendet werden, fünf bis sechs aber konnte
man, in einer Stoßgruppe vereint, an einer beliebigen Stelle
und Richtung ansetzen.
Die Beurteilung unsrer strategischen Lage durch Herrn
Tuchatschewsky erscheint mir daher nicht stichhaltig. Ich
vermute, daß diese irrige Auffassung eine Folge des ziem-
lich begrenzten Sehkreises des Herrn Tuchatschewsky war,
der doch die Schlußfolgerungen aus der Lage der ganzen
polnisch-sowjetrussischen Front seinem Vorgesetzten Ober-
sten Führer überlassen mußte. Diese Entschuldigung scheint
mir dennoch ungenügend, da doch Tuchatschewsky selbst
schreibt, daß ihm und seinen Truppen im Sinne des Pla-
nes des Obersten Führers die Hauptrolle im Kriege ge-
gen Polen zufiel. Hiermit war es Tuchatschewskys Pflicht,
DER KRIEGSSCHAUPLATZ UND DIE STRATEGISCHEN PLÄNE
35
sowohl seine Aufgabe als auch seine Berechnungen vom
weiteren Gesichtspunkt aus zu erfassen. Die Maioffensive
Tuchatschewskys mißlang und wurde durch Zusammenzie-
hung aller früher schon erwähnten Reserven abgeschlagen,
was in schroffem Widerspruch zu den Erwägungen Tucha-
tschewskys steht*).
Das Kordon- und Linienproblem bei Verteilung der
Kräfte verdient meiner Ansicht nach eine ausführlichere
Untersuchung. Wir werden uns mit ihm noch des öfteren
hei Untersuchung der Operationen des Jahres 1920 befas-
sen. Im Verlaufe des letzten Krieges war ich dem Kordon-
und Linienproblem ebenso feindlich gesinnt wie Tucha-
tschewsky. Ich trachtete immer die Entscheidung mittels
eines Manövers herbeizuführen, das oft sehr gewagt war
und sowohl von seiten der Führer wie auch von den Trup-
pen viel moralische und physische Kräfte beanspruchte.
Meiner Ansicht nach war dies eben das Mittel, das mir
die für uns glückliche Beendigung des zwei Jahre währen-
den Krieges ermöglichte. Ich muß jedoch zugeben, daß
Tuchatschewsky bis zu einem gewissen Grade recht hat,
wenn er auf Grund der uns betreffenden Beobachtungen in
seinen Plänen und Erwägungen unsre Tendenz zur Bildung
von Kordons und Linien berücksichtigt. Dies hatte seinen
Grund darin, daß alle polnischen Führer — ich selbst ein-
geschlossen — hei Beginn des Krieges gegen Sowjetrußland
unter dem frischen Eindruck und Einfluß des langwähren-
den Stellungskrieges standen, der den Sieg der linearen
*) Merkwürdigerweise stimmt die Kritik unsrer strategischen Kräftevertei-
lung durch Tuchatschewsky mit vielen recht oberflächlichen und publizistisch
gefaßten kritischen Erwägungen über meine Führertätigkeit überein, deren
Verfasser polnische Bierbankstrategen waren, die nie Führer waren oder solche
Führer, die schlechte Feldherren waren. Dies kam mir öfters während des Lesens
des Werkes Tuchatschewskys in den Sinn.
36
DAS JAHR \ 920
Strategie über die scheinbar veraltete Strategie der Bewe-
gung und des Manövers zu bestätigen schien. Wenn man
die Mehrzahl der Operationsbefehle unsrer Führer aus den
Jahren 1919 und 1920 durchblättert, bemerkt man, daß sie
voll sind von verschiedenen Flüssen, Flüßchen, Seen und
Bächen, deren Bestehen die Grundlage strategischer Ge-
dankengänge bildete. Sowohl bei Durchsicht von Meldun-
gen und Abschriften verschiedener Befehle, wie auch wäh-
rend vieler Gespräche mit meinen Untergebenen, erinnerte
ich mich an manche lustige Anekdote aus meinen Briga-
dierszeiten in der Legion. Ich habe damals oft über ver-
schiedene Befürchtungen der uns benachbarten Österrei-
cher gelacht, die durch eine hundert oder zweihundert Me-
ter lange Lücke, die der träge Legionär nicht befestigen
wollte, verursacht wurden.
Ich bin mir dessen völlig bewußt, daß viele unsrer Füh-
rer von ähnlichen Befürchtungen beherrscht waren, wenn
sie nicht sicher wußten, daß selbst in der am wenigsten
wahrscheinlichen Richtung der Feind auf Widerstand sto-
ßen müßte.
Alle Detailskizzen unsrer Lage waren deshalb voll ver-
schiedener „Sperren66 und „Wachen66, die die Truppen un-
barmherzig in eine schwache Kordonlinie auseinanderzo-
gen. Wenn man nun die gewaltige Entfernung einer tausend
Kilometer langen Front in Betracht zieht und mit der zur
Verfügung stehenden Truppenzahl vergleicht, erscheint es
erklärlich, wie viele — nicht hundert und zweihundert Me-
ter breite, sondern weit größere — Lücken bestehen und so
verschiedene Befürchtungen und das Gefühl der Hilflosig-
keit bei jenen Führern erwecken mußten, welche sich von
der Linienpsychose nicht befreien konnten. In den Mel-
dungen fand ich daher sehr oft die an mich gerichtete
DIE MAIOFFENSIVE DER SOWJETARMEE
37
Bitte, die Ursachen dieser Befürchtungen zu beseitigen.
Daher auch das ständige Zureden: „Faites une ligne forte!64,
welches das zusammenfassende Urteil des am meisten
kriegstechnisch ausgebildeten und erfahrenen Kriegsbera-
ters war.
Diese Gepflogenheiten und Befürchtungen mußten — ich
bin dessen sicher — auf die Detailaufstellung der Truppen,
die Tuchatschewsky beobachtete, ihren Einfluß gehabt ha-
ben. Ich wiederhole jedoch nochmals, daß Tuchatschewsky
einen Irrtum beging, als er Ende April seinen Operations-
plan auf dieser Kordonkrankheit aufbaute, was sich an ihm
durch das Mißlingen der groß angelegten Offensive rächte.
Nun gehe ich zur Analyse dieser Offensive über.
III
Die Maioffensive der Sowjetarmee
Der Maioffensive schenkt, wie ich schon früher be-
merkte, Tuchatschewsky wenig Raum. Er bringt nur einen
ganz allgemeinen Umriß derselben, ohne auf Einzelheiten
einzugehen, als ob diese nicht von Wichtigkeit wären. Er
widerspricht sich selbst, wenn er behauptet, daß der Plan
der Offensive darauf abzielte, das Tor von Smolensk zu
durchbrechen, den linken Flügel der polnischen Armee zu
zertrümmern und ihren Rest in die Sümpfe von Piiisk zu
werfen. Daraus ergibt sich, daß das Ziel weit gesteckt war
und die gänzliche Zertrümmerung und Ausscheidung unsrer
ganzen Front bis zum Prypec-Fluß bedeutete. Dies wäre
doch eine Kriegshandlung von nicht geringer Bedeutung.
In der Geschichte unsres Krieges hat diese Operation tat-
sächlich eine große Rolle gespielt. Sie vor allem verur-
38
DAS JAHR \ 920
sachte die Verschiebung eines Großteils unsrer Kräfte (un-
gefähr 4 Divisionen) an die Nordfront, was naturgemäß
auf den ganzen weiteren Kriegsverlauf seine Rückwirkung
hatte. Sie war ein Vorspiel zur großen Julioffensive und
gab beiden Seiten viel Belehrung und Erfahrung, wobei ich
mit Bedauern feststelle, daß diese Erfahrungen von unsren
Gegnern viel geschickter ausgenützt wurden als von uns.
Schließlich hatte sie in bezug auf den Feind noch den Ein-
fluß, daß sie einen großen Teil seiner Truppen physisch
und moralisch verbrauchte, was man bei der Untersuchung
des ersten Teiles der Julioffensive mit Leichtigkeit feststel-
len konnte. Deshalb möchte ich etwas ausführlicher die
Gründe erwägen, die zu dieser ersten Probe-Offensive führ-
ten und über die ich schon während des Krieges und
nach seiner Beendigung des öfteren nachgedacht habe.
Diese Frage erscheint um so berechtigter, als doch die Of-
fensive vor beendetem Aufmarsch begonnen wurde, als noch
— wie ich es bereits errechnet habe — mehr als ein Drittel
der für die Entscheidungsoperation bestimmten Kräfte
fehlte.
Ich erinnere mich deutlich des Augenblicks, als ich die
ersten Nachrichten über den erwarteten Gegenangriff im
Norden erhielt. Das betreffende Telegramm empfing ich in
Zytomierz, vor meiner Abreise nach Warschau. Ich war von
vornherein darauf gefaßt. Mehr noch denn eine Woche vor-
her hatte ich General Szeptycki nach Kalenkowicze beru-
fen, um mit ihm die damals von mir beabsichtigte Ausdeh-
nung unsrer erfolgreichen Offensive im Süden auf den
Norden zu besprechen. Ich dachte damals an einen Vor-
stoß aus dem Polesiegebiet einerseits in der Richtung
Rzeczyca — was sich damals tatsächlich zu verwirklichen
begann — andrerseits auf Zlobin und Mohylew. Da ich im
DIE MAIOFFENSIVE DER SOWJETARMEE
39
Süden bereits die 4. Infanterie-Division in Reserve hatte, im
Polesiegebiet dagegen über ein starkes Übergewicht (9., 16.
und 14. Infanterie-Division) verfügte, glaubte ich den Ver-
such machen zu können, den in der von Tuchatschewsky
als Ihumener bezeichneten Richtung beginnenden Auf-
marsch zu verhindern, auf welchen General Szeptycki
meine Aufmerksamkeit gelenkt hatte. An der Südfront
herrschte damals völlige Ruhe, da beide dort operierenden
Sowjetarmeen von uns empfindlich geschlagen waren, und
da ich der Reiterei Budiennys, die sich uns näherte, wie
ich offen gestehen muß, keine größere Beachtung schenkte.
Als nun mein Generalstabschef General Haller auf dem
Bahnhof von Zytomierz mir die frisch angelangten Tele-
gramme überbrachte, beschloß ich sogleich meine vorher
schon durchdachten Pläne zu verwirklichen. Ich befahl
telegraphisch General Szeptycki, vorläufig auch den Ober-
befehl über die 1. Armee zu übernehmen, stellte ihm die
17. Infanterie-Division in Lida zur Verfügung und veran-
laßte sogleich den Abtransport der 4. Infanterie-Division
aus Korosten und etwas später den Abtransport der 15. In-
fanterie-Division aus Chwastow. Ich überlegte kurze Zeit
die Möglichkeit eines sofortigen Gegenangriffes beider Flü-
gel, aus Polesien und vom äußersten Nordflügel aus. Der
Angriff Tuchatschewskys beunruhigte mich keineswegs. Das
Zurückgehen der 1. Armee von Gl^bokie aus, das mir die
Telegramme ankündigten, war für mich nichts Bedeuten-
des, da ich — ich gestehe es mit Bedauern — der Ortschaft
Orzechowna keine größere Bedeutung beimaß und dort
weder das Tor von Smolensk noch irgendeine andere Pforte
bemerkte.
Nach meiner Ankunft in Warschau fand ich neue, ängst-
licher klingende Telegramme des Generals Szeptycki vor,
40
DAS JAHR \ 920
der die Lage als sehr ernst beurteilte und um möglichst er-
giebige Unterstützung bat. Trotzdem ich mich an Tele-
gramme ähnlichen Inhaltes bereits gewöhnt hatte, be-
schränkte ich den Umfang des geplanten Gegenangriffes
recht beträchtlich, was ich jetzt bedauerlich finde. Ich gab
nämlich den Gegenangriff aus Polesien auf und beschloß
angesichts der Befürchtungen General Szeptyckis, mit bei-
den vom Süden kommenden Divisionen zunächst die be-
drohte Stadt Minsk zu stützen, die gemäß der Meinung
General Szeptyckis aus der Richtung Ihumeii am stärksten
gefährdet schien. Der Gegenangriff konnte in diesem Fall
nur am westlichen Berezynaufer statt am östlichen, wie ich
es früher beabsichtigte, geführt werden.
Ich gestehe offen, daß ich damals beim Lesen der mir
vorgelegten Telegramme keinen Grund zur Unruhe sah, und
gerade die von Tuchatschewsky für den Angriff seiner
Hauptkräfte gewählte Richtung auf Molodeczno machte
mir die kleinste Sorge. Ich wartete sogar einige Tage mit
der Festlegung des Aufmarschraumes der für den Gegenan-
griff in östlicher Richtung bestimmten Truppen. Ich konnte
mir damals die Absichten des Feindes nicht erklären und
war dessen nicht sicher, ob der Aufmarsch bei Swi^ciany
durchführbar und genügend sicher wäre. General Szeptycki
erleichterte mir allerdings meine Aufgabe nicht, da gering-
fügige Ereignisse in der Gegend von Ihumen in seinen Tele-
grammen viel Platz einnahmen und ihn scheinbar bedeu-
tend mehr beunruhigten als alles andre; doch die Nachrich-
ten, die mir von den gegen die Hauptkräfte Tuchatschew-
skys kämpfenden Truppen zukamen, klangen, was mich an-
betrifft, sehr beruhigend. Es schien mir auf Grund dieser
Tatsachen, daß die Angriffswucht nach dem ersten recht
starken Schlag abnahm und sich auf weitere Angriffsver-
DIE MAIOFFENSIVE DER SOWJETARMEE
41
suche in den verschiedensten Richtungen zersplitterte. Die
Arbeitsmethode Tuchatschewskys erklärte ich mir damals
derart, daß es sich entweder um Angriffe lokaler Natur
handelte, oder aber daß der Feind nach seinem ersten Er-
folg weitere Angriffsrichtungen zu ermitteln suchte. Die
Operationen Tuchatschewskys waren also zu jener Zeit so
unbestimmt, daß ich ihr eigentliches Ziel nicht zu erraten
vermochte. Auch die Meldungen meiner Untergebenen ver-
schafften mir keinen genügenden Aufschluß darüber, und
so kam es, daß ich nach meiner Rückkehr nach Warschau
einige Tage mit der Fassung meines Entschlusses zögerte.
Wenn es nämlich dem Feind darum zu tun war, wie ich
dies in einer meiner Voraussetzungen einschätzte, meine
Aufmerksamkeit durch lokale Angriffe auf Ihumen und
Gl^bokie vom Süden mehr nach Norden zu lenken, so
würde ich mit einem durch größere Kräfte geführten Ge-
genangriff rein örtlicher Bedeutung zu sehr nach seinem
Willen gehandelt haben. Ich befürchtete auf diese Weise
einen Stoß ins Leere auszuführen. Ich bedauerte damals,
daß ich mich durch die Ihumener Gespenster General Szep-
tyckis dazu hatte bewegen lassen, die schon vorher gewählten
Ziele des Gegenangriffes beträchtlich einzuschränken. Falls
dagegen der Feind, der zweiten Hypothese gemäß, sich ab-
wartend verhielt und lediglich die Lage zu erkunden suchte
und mittels kleinerer Unternehmungen nach Wegen und
Mitteln für die weitere Entwicklung seiner Operationen ta-
stete, befürchtete ich vorzeitig meine Reserven auf zwei
entfernte Ausgangsräume zu verteilen, da doch bei der
Ängstlichkeit und Unruhe, die ich aus den mir vorgelegten
Meldungen herausfühlte, eine Zersplitterung der Angriffs-
kraft entstehen mußte. General Szeptycki hatte schon diese
Handlungsweise angenommen. Teile der 6. Infanterie-Divi-
42
DAS JAHR i 920
sion, die in Reserve stand, verbrauchte er in Kämpfen bei
Ihumen, und ihr Rest war unterwegs zum äußersten lin-
ken Flügel der ganzen strategischen Armeegruppierung.
Schließlich entschloß ich mich, hei Swi^ciany eine neue
Armee zu bilden, die ohne Rücksicht auf lokale Rück-
schläge und Befürchtungen eingesetzt werden konnte. Ihr
Aufmarsch mußte durch die 8. Infanterie-Division gedeckt
werden, die von Polock zurückgegangen war. Für diese Ar-
mee, Reserve-Armee genannt, bestimmte ich alle Truppen
aus dem Hinterland. Außerdem befahl ich, aus dem Raum
um Minsk mit den vom Süden eintreffenden Truppen an-
zugreifen. Als Angriffsziel bezeichnete ich jedoch bloß das
Parieren des feindlichen Vorstoßes auf Molodeczno, mit der
Absicht, nach Beendigung dieser Operation lokaler Natur
die ganze bisherige 1. Armee, mindestens aber 3 Divisionen
aus der Front in Reserve zurückzunehmen, um völlige
Handlungsfreiheit für weitere Kriegshandlungen zu bewah-
ren.
Aus diesen meinen Ausführungen ist ersichtlich, daß den
Operationen des Feindes etwas anhaftete, das ihre Erkennt-
nis sehr erschwerte. Solche Mißverständnisse sind in der
Kriegsgeschichte nicht selten, da doch nach Clausewitz der
Krieg in Gefahr und Unsicherheit geführt wird.
Der von mir besprochenen Operation hafteten dennoch
Merkmale an, die sie, wie ich glaubte, zu einer Reihe von
Mißverständnissen machten, die ich früher schon erwähnt
habe. Selbst nach beendeter Operation, als ich alle meine
Eindrücke sammelte, blieb mir vieles unverständlich, was
mir immer wieder sagte, daß der Feind selbst nicht
recht wußte, was er tat. Als ich nach Kriegsende darüber
nachdachte und diese Operation Tuchatschewskys zu erklä-
ren suchte, kam ich immer zum gleichen Schluß, daß ein-
DIE MAIOFFENSIVE DER SOWJETARMEE
43
zig und allein das Streben nach Ausgleich der Kriegs-
chancen durch Ausschalten des moralischen Eindrucks, den
unsre gewaltige und erfolgreiche Offensive in der Ukraine
hervorgerufen hatte, den einzigen Beweggrund dieser
Probeoffensive bildete. Deshalb suchte ich mit großem
Interesse in den Werken Tuchatschewskys und Sergiejews
nach einer diesbezüglichen Erklärung dieses Rätsels.
Leider weisen beide große Unterschiede in dieser Hin-
sicht auf. Sergiejew nähert sich sehr meiner Ansicht und
schreibt wörtlich: „Die Initiative war in den Händen der
Polen. Die breit entwickelten Operationen der polnischen
Armeen an der Südwestfront, die Eroberung von Kiew und
Besetzung des Dnjestrüberganges trafen auf unvorbereitete
Truppen unsrerseits, die zum Angriff nicht fähig waren.
Ihre Bestände waren ungenügend aufgefüllt, sie waren
schlecht ausgerüstet, fast ohne Troß und zu schwach. Es
erschien aber notwendig, dem Angriff durch einen Angriff
zu begegnen und die Aufmerksamkeit der Polen von der
Südwestfront abzulenken. Deshalb wurde im Stabe des
Oberkommandierenden unser Angriff an der Westfront be-
schlossen. Seine Richtung blieb vorläufig unbestimmt. In
der Mitte wollte man vorläufig längs des nördlichen Polesie
von Mozyrz auf Brest Litowsk vorstoßen*).46
Tuchatschewsky hingegen behauptet, wie dies auf S. 282
seiner Schrift zu sehen ist, daß der Eindruck, die Polen
ständen vor Beginn eines Angriffes, den Hauptgrund zum
Übergang von der Defensive zur Offensive bildete. Um nun
die im Aufmarsch befindlichen eigenen Truppen vor den
ihnen aufgezwungenen Kämpfen zu bewahren, beschloß
man, am 14. Mai selbst zum Angriff überzugehen.
Angesichts dieser sich widersprechenden Begründungen
*) E. N. Sergiejew, Von der Düna zur Weichsel. S. 5.
44
DAS JAHR 4 920
halte ich es für unmöglich, den geschichtlichen Tatbestand
festzustellen. Ich bin jedoch geneigt, Sergiejew mehr recht
zu geben als Tuchatschewsky.
Sicherlich erweiterte Tuchatschewsky, seinem Fiihrer-
temperament entsprechend, die Aufgabe der ihm anbefohle-
nen Operation, als er sich hei Beginn der Offensive das
gleiche Ziel setzte wie bei der späteren Hauptoperation,
wo er in bezug auf technische Ausrüstung viel stärker war.
Tuchatschewsky selbst gibt dies offen zu. Trotz ungenügen-
der Kräfte wollte er sich mit einem kleinen Ziel nicht be-
gnügen und streckte die Hand nach größerem aus. Er
suchte nach entscheidenden Schlägen und neigte dazu, die
während der Operation zufließenden Truppen für Reser-
ven zu halten. Ich erinnere den Leser an Tuchatschewskys
gewagte Pläne, unsren linken Flügel zu vernichten und den
Rest unsrer Truppen in die Sümpfe von Pinsk zu werfen.
Bei einer Offensive in so großem Maßstabe scheint es
verwunderlich, daß die Operationen der Sowjettruppen
unsrerseits in keinem Augenblick so aufgefaßt wurden.
Keine der Meldungen beider gegen Tuchatschewsky kämp-
fenden Armeeführer enthält eine Spur derartiger Ausle-
gung seiner Operationen. Meine Erwägungen und Schlüsse,
die ich auf Beobachtung des Verhaltens meines Gegners
gründete, erwähnte ich bereits. Woher kommt nun dieses
merkwürdige Mißverständnis, diese Komödie von Irrtü-
mern?
Tuchatschewsky ist so karg und knapp in seiner Darstel-
lung der mit der Maioffensive in Zusammenhang stehenden
Ereignisse, daß es wirklich schwierig ist, geschichtlich die
Tätigkeit seiner Truppen festzustellen. Viel ausführlicher
und genauer schildert Sergiejew in einigen Kapiteln seines
Buches diese Operation und fügt in extenso seinen Vor-
DIE MAIOFFENSIVE DER SOWJETARMEE
45
trag vom 12, Juni bei, in dem er die Erfahrungen zusam-
menfaßt, die er während der mißlungenen Maioffensive ge-
macht hatte.
Ich erinnere den Leser an den Hauptgrundriß des von
Tuchatschewsky beabsichtigten Manövers: Das Durchbre-
chen des Tores von Smolensk im Raum von Orzechowna
und das Einschwenken mit dem rechten Flügel um 90°,
um die Angriffsrichtung von West auf Südwest zu ändern.
Ein solches Manöver beansprucht natürlich viel Zeit, da
der schwenkende rechte Flügel einen ziemlich großen Bo-
gen beschreiben muß, während der linke stehen oder sich
sehr langsam forthewegen muß, bis die in der neuen Rich-
tung operierenden Truppen auf gleiche Linie kommen. Es
ist ebenfalls verständlich, daß so ein Manöver um so
mehr Zeit beansprucht, je mehr Truppen daran teilnehmen.
Dieses Manöver bringt noch andre Unbequemlichkeiten mit
sich. Indem es dem Gegner genügend Zeit gewährt, setzt
es den eigenen schwenkenden Flügel — im gegebenen Fall
den rechten — der Gefahr aus, in der Flanke angegriffen
und so während des Manövrierens — ich möchte sagen —*
in flagranti erfaßt zu werden. Deshalb muß man beson-
dere Kräfte zur Deckung dieses Manövers bestimmen und
dadurch die das Manöver ausführenden Kräfte schwächen.
Sergiejew schreibt darüber: „Wir mußten zur Sicherung
des Flügels ungefähr ein Drittel aller für die Operation be-
stimmten Kräfte bereitstellen. Doch diese Kräfte erwiesen
sich als bei weitem unzureichend zur Abwehr des polni-
schen Gegenangriffes*)/6
Um dem Leser einen Begriff von der Zeit zu geben, die
zur Ausführung des Manövers Tuchatschewskys durch seine
Truppen nötig war, will ich die entsprechenden Daten dem
c) E. N. Sergiejew, S. 14.
46
DAS JAHR mO
Werke Sergiejews entnehmen. Der Angriff setzte am 14. Mai
ein, doch vier Tage später erst, am Morgen des 18. Mai,
begann die Tuchatschewskys Absichten entsprechende
Gruppierung der Kräfte. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde
die 6. Sowjet-Division, die sich am äußersten rechten Flü-
gel befand, von ihrer bisherigen Aufstellung abberufen und
hinter den rechten Flügel jenes Armeeteiles als Reserve ge-
stellt, der von da ab in einer um 90 ° gewendeten Richtung
angreifen sollte. Erst am Morgen des 19. Mai wird der
53. Schützen-Division der Befehl zur Sicherung des von
Westen gefährdeten Armeeflügels erteilt. Vier bis fünf
Tage gewann ich einzig und allein infolge des komplizier-
ten Manövers Tuchatschewskys, der diese Zeit zur Verfol-
gung unsrer zurückgehenden 1. Armee nicht ausnützen
konnte. Dies entsprach gerade der Zeit, während der ich
nach meiner Rückkehr aus Zytomierz nach Warschau un-
schlüssig war und die Operationen meines Gegners nicht
begreifen konnte. Inzwischen kamen meine Reserven teils
aus dem Hinterland, teils aus der Ukraine in vielen Eisen-
bahntransporten heran und näherten sich ganz bedeutend
den Sammelpunkten für einen Gegenangriff, der noch nicht
genau festgelegt war.
Bei Untersuchung der Anfänge der in größerem Maß-
stabe angelegten Julioperation werde ich noch Gelegenheit
haben, zu diesem eigensinnigen Gedanken Tuchatschewskys
zurückzukehren, und ich hoffe, daß es mir dann gelingt,
die Richtigkeit meiner Ansicht zu beweisen, daß Geographie
und Geometrie den Führern viel Hinterhälte bereiten. Hier
will ich mich nur darauf beschränken festzustellen, daß
unser Gegenangriff infolge des Manövers, auf das Tucha-
tschewsky stolz zu sein scheint, an Zeit und Kraft gewon-
nen hatte. Ich konnte beim Lesen eines Absatzes auf S. 266
DIE MAIOFFENSIVE DER SOWJETARMEE
47
kaum ein Lächeln vermeiden, in dem Tuchatschewsky
schreibt: „Unsere Offensive entwickelte sich schnell und
kräftig. Die 15. Armee vollzog im Tor von Smolensk ihre
Schwenkung ohne Schwierigkeit.66 Diese Wendung enthält
einen eigenartigen Widerspruch: „Schnelligkeit66, wo man
einige Tage verliert und sie dem Gegner überläßt, und
„Kraft66, wo ein Großteil der Armee sich kaum von der
Stelle rührt und auf das Einschwenken des schwenkenden
Flügels wartet, der sich allein, ohne Berührung mit dem
Feinde, in Bewegung befindet, wobei er sich vor ihm durch
ständige Ausscheidung von Truppen, die er der Hauptope-
ration entzieht, sichern muß. Dieser das Tor von Smolensk
im Raume von Orzechowna betreffende Gedankenknoten,
dieses sich geometrisch darstellende Manöver zeugt deutlich
von der abstrakten strategischen Denkungsart meines ehren-
werten Gegners von 1920. Ich will damit nicht behaupten,
daß infolgedessen die Maioperation Tuchatschewskys ver-
hältnismäßig leicht lahmgelegt wurde, unleugbar jedoch
schuf sie Bedingungen, die das Durchkreuzen der weitrei-
chenden Pläne Tuchatschewskys ausgezeichnet erleichter-
ten. Der Hauptfehler Tuchatschewskys, der von vornherein
das Mißlingen seiner großen Pläne besiegelte, beruhte näm-
lich auf falscher Berechnung seiner und der feindlichen
Kräfte, die er ohne den zweiten Kriegsherrn, ohne den
Feldherrn der Gegenpartei machte. Er rechnete bei uns auf
Kordonaufstellung und rein lineare Kräfteverteilung, je-
doch das ganze Vorhaben und der Plan zerschellten an mei-
nen tiefgestaffelten Reserven, die durch die Anfangsopera-
tionen Tuchatschewskys nicht im mindesten gebunden wa-
ren. Aus diesem Grunde sehe ich mich genötigt, Tucha-
tschewsky mit aller Entschiedenheit die Berechtigung abzu-
sprechen, sich stolz zu gebärden, wenn er behauptet: „Der
48
DAS JAHR \ 920
Erfolg war so entscheidend und so überraschend für die
Polen, daß ihr Oberkommando völlig schwankend wurde
und die Kräfte von der Südwestfront an die Westfront zu
verlegen begann.46 (S. 266.) Aus meiner vorherigen streng
geschichtlichen Darstellung wird ersichtlich, daß Tucha-
tschewsky nach Mißlingen jener Operation keinen An-
spruch auf diesen wenn auch herben Trost erheben darf.
Ähnliche Mißverständnisse finde ich in der Analyse der
Beendigung unsres Gegenangriffes Anfang Juni. Tucha-
tschewsky, der die Möglichkeit eines abermaligen Verlustes
seines geliebten Tores von Smolensk befürchtete und ge-
zwungen war, überall zurückzugehen, ging schließlich dazu
über, dieses gelobte Land zu verteidigen. Wiederum preist
er die großen Verdienste seiner 18. Division, die am 7. Juni
unweit Hermanowicze den Zugang auf Orzechowna vertei-
digte.
Die Division verlor in diesen Kämpfen nach Sergiejew
bis 70 % ihres Bestandes und war genötigt zurückzugehen.
Doch — so schreibt Tuchatschewsky — hat der Gegner die
Fähigkeit zu weiteren entscheidenden Angriffen eingebüßt,
und das geliebte Orzechowna blieb in Händen Tuchatschew-
skys. Dies war — wie Tuchatschewsky hinzufügt — der
Wendepunkt der Operationen. In Wirklichkeit war dies
unsrerseits keineswegs der Fall. Vor allem kam mir im
Verlaufe der ganzen Kriegshandlung nicht ein einziges Mal
in den Sinn, Tuchatschewsky um den Besitz des großen
historischen Tores von Smolensk im Raume von Or-
zechowna zu beneiden. Mein Kampf galt nicht ihm, mein
Hauptziel bildete vielmehr die Schließung einer ganz ande-
ren Pforte. Ich wollte die Fühlungnahme der inneren Flü-
gel meiner den Gegenangriff von Süden und Westen füh-
renden Truppen im großen versumpften Quellengebiet der
DIE MAIOFFENSIVE DER SOWJETARMEE
49
Berezyna und Wilja erreichen. Dies bedeutete nämlich die
Verlegung der Rückzugswege für die bis Molodeczno wag-
halsig vorgedrungenen Hauptkräfte Tuchatschewskys, und
überdies kam auf diese Weise unsre ganze in ihrer
Kampfkraft geschwächte 1. Armee naturgemäß in Reserve.
Dieses Vorhaben gelang mir nur teilweise, denn das Fort-
schreiten beider den Gegenangriff führenden Gruppen
war im Verlaufe der ganzen Operation zu ungleichmäßig.
General Sosnkowski, der mit seiner Reservearmee aus
dem Raum Swi^ciany und Postawy vorrückte, stieß schnell
und energisch vor, wogegen die Südgruppe von Minsk her
parallel zur Berezyna viel langsamer und methodischer
vorging.
Da ich dies von vornherein voraussah, setzte ich den
Angriffsbeginn für die Südgruppe um einen Tag früher
an. Doch die 1. Armee ging, als sie den Feind schwenken
sah, aus dem Raum um Molodeczno zum frontalen Gegen-
angriff über und erreichte bei frontaler Verfolgung die
Berezynasümpfe bedeutend schneller als die Südgruppe.
Deshalb wurden Teile dieser Armee in die allgemeine
Front miteinbezogen und schwächten die zu meiner Verfü-
gung stehenden Reserven.
Nach Erreichung jener Sümpfe befahl ich die Operatio-
nen einzustellen, ohne hierzu vom Feinde gezwungen zu
sein. Bei der Wahl der allgemeinen Frontlinie hatte ich
zwei Ziele im Auge, die geradezu einem Wetteifern um
den Besitz des Tores von Smolensk widersprachen.
Vor allem suchte ich möglichst weite Sumpfzonen in die
Front einzubeziehen, um Truppen zu sparen ohne die erste
Linie zu schwächen und die Bildung von Reserven zu er-
leichtern. Dann wollte ich möglichst alle Sorgen um die
Sicherung des linken Flügels, die sich längs der Düna er-
4 Pilsudski II
50
DAS JAHR >1920
strecken mußte, ausschalten. Diese letzte Rücksicht schien
mir wichtiger als die ebenfalls ernste Rücksichtnahme auf
die nahe Beobachtung des Eisenhahnknotens in Polock.
Nach Anhören der diesbezüglichen Ansichten beider Ar-
meeführer, des Generals Sosnkowski und des Generals
Szeptycki, die wie immer einander widersprachen, da sie
durch Eindrücke und Interessen lokaler Natur beeinflußt
waren, faßte ich meinen Entschluß und hielt jede wei-
tere Verfolgung an.
Ich erwähne hier den geschichtlichen Tatbestand, ohne
dem Urteil Tuchatschewskys Abbruch tun zu wollen, das
dahin läuft, das Einstellen unsrer Offensive als Folge sei-
ner Operationen zu betrachten. Solche Urteile bilden näm-
lich in der Kriegsgeschichte eine natürliche Erscheinung,
und man findet sie fast immer ohne fehlzugehen in den
Meldungen jener Führer, die nach einem erlittenen Mißer-
folg ohne weiteren Druck von seiten des Feindes ihre
Streitkräfte zum Stehen bringen können. Dieses bildet
abermals eine kleine aber charakteristische Erläuterung
dafür, wie schwer es jedem Führer fällt, die Lage und die
Absichten des Feindes zu erkennen.
Die der Maioperation von Tuchatschewsky entnomme-
nen Folgerungen lassen sich in drei nachfolgenden Punk-
ten zusammenfassen: der erste betrifft die Moral der Trup-
pen, die sich angeblich bedeutend gehoben hatte; der
zweite erwähnt die Schwächung unsrer Kräfte an der Süd-
westfront, was dort die Lage des Feindes verbesserte; der
dritte, von Tuchatschewsky als der wichtigste bezeichnet,
betrifft die Inbesitznahme des geliebten Tores von Smo-
lensk. Vom dritten Punkt absehend, zu dem ich noch bei
der Analyse der Julioperation werde Stellung nehmen kön-
nen, will ich mich ein wenig mit den beiden ersten Punk-
DIE MAIOFFENSIVE DER SOWJETARMEE
51
ten befassen und der Beurteilung der Lage durch Tucha-
tschewsky meine eigene gegenüberstellen.
Die Zufriedenheit Tuchatschewskys ob der Hebung der
Moral der ihm unterstellten Truppen steht im Zusammen-
hang mit seinem Urteil über die Moral jener Divisionen,
die vor Eintreffen Tuchatschewskys im Jahre 1919 gegen
uns kämpften. Er äußert sich, die Truppen hätten in ihm
kein großes Vertrauen erweckt, da sie infolge erlittener
Mißerfolge von Angst beherrscht und von ihrer Minder-
wertigkeit den polnischen Truppen gegenüber überzeugt
waren. Aufrichtig gesagt kann ich es nicht verstehen, wie
die ausgesprochen mißglückte Maioperation zur Hebung
der Moral beitragen konnte. Ich bezweifle es, ob die Liebe
zum Tor von Smolensk in den Reihen der roten Armee so
allgemeines Verständnis erweckte, daß das unselige Or-
zechowna sowohl die erlittenen Verluste als auch den Ein-
druck des Mißerfolges wettmachen konnte. Sergiejew, der
die Truppen besser beobachtete, schreibt darüber ganz an-
ders. Nach seiner Schätzung verblieben nach Beendigung
der Operation in der 53. Division 1500, in der 12. Division
1200 und in der 18. Division 2000 Bajonette, während die
53. Division mit 3157 und die 18. Division mit 5000 Bajo-
netten den Angriff begann. Die entsprechende Bajonett-
zahl der 12. Division ist mir leider unbekannt. Dement-
sprechend behauptet Sergiejew, daß die „53. und 12. Divi-
sion infolge jener schweren Kämpfe derart erschüttert wa-
ren, daß sie einige Male selbst bei schwächstem Druck des
Feindes panikartig zurückgingen . . . Das Herabsinken der
Kampflust machte sich auch bei der 12. Division bemerk-
bar*)66. Er fügt hinzu, daß Tuchatschewsky bei der Reor-
ganisation der Truppen für die bevorstehende neue Opera-
') E. N. Sergiejew, S. 25.
52
DAS JAHR \ 920
tion befahl, die besten Divisionen, die an der Maioperation
teilnahmen, in der 15. Armee zu belassen, „die zahlen-
mäßig schwachen und moralisch erschütterten Divisionen
hingegen (53., 12., 6. und 56. Division) an die benachbar-
ten neu sich bildenden Armeen abzugeben*)“.
Dieses Zeugnis wirft auf den moralischen Sieg Tucha-
tschewskys ein ganz andres Licht. Einen Widerhall dessen
finden wir bei Beginn der Hauptoperation im Juli jenes
Jahres. Ich ziehe es, aufrichtig gesagt, vor, in dieser Hin-
sicht den Erfolg auf polnische Rechnung zu buchen, in-
dem ich behaupte, daß die Maioffensive Tuchatschewskys
vor beendeter Konzentration und mit für die zur Verfü-
gung stehenden Truppen zu weit gesteckten Zielen begon-
nen wurde, wobei sie schließlich zur Vergeudung der kör-
perlichen und seelischen Kräfte der teilnehmenden Trup-
pen führte. Im zweiten Punkt faßt Tuchatschewsky meiner
Ansicht nach seine Schlüsse zu eng, wenn er vom Einfluß
der Maioperation auf die allgemeine Kräfteverteilung uns-
rer Armee spricht. Diese Operation hatte einen tieferen
Sinn. Was die Schwächung unsrer Kräfte südlich der Pry-
peesümpfe anbelangt, so war sie unbedeutend. Wenn auch
zweieinhalb Divisionen von dort kamen (4., 15. und die
halbe 5. Division — die letztere kam zum Schluß unsrer
Gegenoffensive), so gingen fast gleichzeitig an jene Front
die 3. Legionen-Division und drei neugebildete Reserve-In-
fanterie-Regimenter, so daß die Schwächung kaum eine Di-
vision ausmachte. Viel wichtiger war, daß General Szep-
tycki alle weiter zurückliegende Reserven an die Front
brachte und nachher alle in Reserve zurückgenommenen
Truppenteile in einem Abstand von fünfzehn bis dreißig
Kilometer hinter der Front behielt. So entstand jene Kor-
‘) E. N. Sergiejew, S. 32.
DIE MAIOFFENSIVE DER SOWJETARMEE
53
donaufstellung, deren Schwäche Tuchatsehewsky bei seinen
Berechnungen so stark vertraute.
Es liegt mir fern, die Verantwortung dafür auf meine
Untergebenen abzuwälzen und mich selbst mittels der von
ihnen begangenen Fehler vor der Geschichte zu entschul-
digen. Ich möchte nur dem geschichtlichen Tatbestand mög-
lichst nahe kommen. Da ich ein ausgesprochener Gegner
linearer Verteilung der Truppen bin mit ihrer hölzernen
Form, die jedes Manöver erschwert, hätte ich meine Unter-
gebenen zweifellos veranlaßt, eine andre Arbeitsmethode
einzuschlagen; doch ich selbst hatte einen wesentlichen
Fehler bei Beurteilung der Lage während der ersten Hälfte
unsres Feldzuges von 1920 auf meinem Gewissen. Nun
will ich eben jene Beurteilung der Lage besprechen.
Während ich bei meiner Abreise aus Zytomierz, bei Be*
ginn der Maioffensive Tuchatschewskys, die Lage im Sü-
den mit völliger Ruhe ansah, änderte sie sich während mei-
nes Aufenthaltes im Norden zu unsren Ungunsten. Bei mei-
ner Abreise Mitte Mai hatte ich an der dortigen Front zwei
Sowjetarmeen, die 12. und 14. Armee, vor mir. Die erste
von ihnen erlitt während unsrer Offensive eine derartige
Niederlage, daß sie in moralischer Hinsicht bis Kriegsende
nicht zu sich kommen und uns infolgedessen nicht gefähr-
lich werden konnte. Ich war damals der Ansicht, daß viel
Zeit verfließen müßte, bis sie — ohne erhebliche Verstär-
kung durch frische Truppen — fähig sein würde, gegen uns
mit Aussicht auf Erfolg zu kämpfen. Die zweite von ihnen,
die 14. Armee, war weniger mitgenommen, doch sie war
zahlenmäßig so schwach, daß sie durch eine einzige Divi-
sion unsrerseits (12. Infanterie-Division) gebunden war.
Allerdings befand sich die Reiterei Budiennys im An-
marsch, worüber ich ziemlich genaue Nachrichten hatte. Sie
54
DAS JAHR \ 920
marschierte einen weiten Weg, aus der Gegend von Rostow
am Don, und bestand aus vier Kavallerie-Divisionen, deren
Stärke mir stark übertrieben schien. Wie schon erwähnt,
nahm ich damals diesen neuen Gegner nicht allzu ernst.
Die Bedeutung der Reiterei im Kriege war, wie bekannt,
sogar in der Zeit vor dem Weltkrieg schon im Sinken be-
griffen. Man gab ihr Nebenrollen, wie Erkundung oder
Schutz der Flügel, und betraute sie nie mit der Ausführung
von selbständigen und entscheidenden Aufgaben. Allmäh-
lich sank die Bedeutung der Reiterei infolge der Entwick-
lung der Feuerkraft während des gigantischen europäischen
Ringens bis zum Nullpunkt. Ihre Pferde bestimmte man
für die Artillerie, die Reiter selbst wandelte man schleu-
nigst in Infanteristen um. Deshalb schien es mir unmög-
lich, daß sich eine halbwegs gut bewaffnete Infanterie, ver-
stärkt durch Artillerie und Maschinengewehre, mit Hilfe
ihrer Feuerkraft gegen diese Reiterei nicht würde Rat schaf-
fen können. Ich hatte übrigens persönliche Erfahrungen
aus dem Jahre 1916, als meine Legionen-Brigade, die ganz
isoliert an der ringsum durchbrochenen Front stand, bei
Kostiuchnowka und Wolczek von starker russischer Kaval-
lerie angegriffen wurde. Damals fegte das Infanterie- und
Maschinengewehrfeuer mit Hilfe einer einzigen Batterie
die Kavallerieattacke geradezu weg, die uns an ruhigem
Zurückgehen hindern wollte. In jener Zeit schienen mir die
Ereignisse, deren Zeuge ich später wurde, ganz unmöglich.
Unglaubwürdig schien mir die nomadenartige Verwendung
der Reiterei, die an weit entlegene Zeiten, an die unsren
Vorfahren so gut bekannten Tatarenüberfälle, erinnerte.
Eine Reiterei, die weite Strecken zurücklegt, ohne auf Zu-
fuhr und Verbindung mit dem Hinterland Rücksicht zu
nehmen, die ihre Leute und Pferde wie ein Heuschrecken-
DIE MAIOFFENSIVE DER SOWJETARMEE
55
schwärm mit dem ernährt, was sich eben vorfinden läßt,
die für längere Zeit bestimmten Munitionsvorräte hinter
sich herschleppt, was doch seinerzeit der Tatare, dessen
Bewaffnung aus Speer und Bogen bestand, nicht notwendig
hatte: eine solche Reiterei zu einer Armee gebildet, schien
mir damals und scheint mir auch heute noch ein strategi-
scher Unsinn zu sein. Ich schrieb ihr also keine große Be-
deutung zu und erklärte mir ihre Erfolge auf andren sow-
jetrussischen Kriegsschauplätzen, von denen ich hörte, eher
als Folge innerer Zersetzung der gegen sie kämpfenden
Truppen, ohne an einen reellen Wert dieser Kampfweise
zu glauben.
Ich sah mich sogar nach den ersten Erfolgen der Rei-
terei Budiennys, die übrigens mit der Beendigung unsrer
Gegenoffensive gegen Tuchatschewsky zusammenfielen,
nicht veranlaßt, mein Urteil zu ändern. Ich sah nirgends
Truppen, die von ihr auf gerieben waren. Ihre ersten Ver-
suche, östlich von Koziatyn durchzubrechen, wurden von
Teilen der 13. Infanterie-Division vereitelt. Ich wunderte
mich nicht, daß die Reiterei Budiennys schließlich unsre
Front durchbrach — was übrigens gar nicht schwer war —
und nicht besonders tief in unsren Rücken stieß. Ich
glaubte, es würde uns nicht schwerfallen, bei gleichzeiti-
gem Einsatz von Infanterie und Kavallerie die Reiterei
Budiennys teilweise zu schlagen und zum Rückzug zu zwin-
gen. Da es mir nicht um den Besitz dieses oder jenes Ge-
ländestreifens ging, entschloß ich mich unbehindert zu ma-
növrieren, ohne mich an den Besitz irgendeines Terrain-
punktes zu klammern. Eiji wenig unruhig machte mich die
große Panik in der Etappe, wobei ich noch keinen größeren
Einfluß auf die Geistesverfassung der Fronttruppen be-
merkte.
56
DAS JAHR \ 920
Als ich nun gegen Ende unsrer Gegenoffensive im Nor-
den die allgemeine Lage beurteilte und mit einer gewissen
Geringschätzung Budiennys daraus Folgerungen für meine
Entschlüsse zog, beschloß ich in jenem Augenblick von
einer Entscheidung im Norden abzusehen und möglichst
schnell der Reiterei Budiennys ein Ende zu bereiten, um
dann zum entscheidenden Angriff dort überzugehen, wo
sich die feindlichen Hauptkräfte zusammenzogen. Da ich
mit einer schnellen Versammlung des Feindes im Norden,
wo er vor kurzem eine Niederlage erlitten hatte, nicht
rechnete, glaubte ich, daß ich, ohne meine Nordfront um-
zugruppieren, genügend Zeit finden würde, ihr neue Kräfte
zuzuführen, um die entscheidende Operation zu beginnen.
Ich warf nun eine unsrer besten Divisionen — die 3. —
nach dem Süden und überließ es General Szeptycki, seine
Front, die ich damals für vorübergehend hielt, vorläufig
zu organisieren.
IV
Vorbereitungen einer neuen Offensive
Der Operationsplan
Nach Anhalten meiner Gegenoffensive im Norden begann
Tuchatschewsky mit der Vorbereitung eines neuen kräfti-
geren Angriffes. Der Abschnitt des Buches Tuchatschew-
skys über diese Fragen ist mit viel Liebe und gründlicher
Sachkenntnis geschrieben. Man muß wirklich zugeben, daß
diese Arbeit mit viel Schwung und großem Aufwand von
Kräften und Energie ausgeführt wurde. Aus Sergiejews
Buch darf man ebenfalls schließen, daß Tuchatschewsky
durch seine Energie und zielbewußte Arbeit seine Unter-
VORBEREITUNGEN EINER NEUEN OFFENSIVE. DER OPERATIONSPLAN 57
gebenen anzustecken verstand. Diese schöne Führertätig-
keit Tuchatschewskys stellt ihm für immer ein Zeugnis sei-
ner Befähigung zum Feldherrn mit kühnen Ideen und der
Gabe ihrer energischen Verwirklichung aus.
Ich will mich etwas mit jenem Teil der Entschließungen
Tuchatschewskys befassen, der organisatorische Fragen be-
trifft und großen Einfluß auf seine Führertätigkeit aus-
übte. Ich stütze mich hierin hauptsächlich auf die Angaben
von Sergiejew. Es geht dabei um die Verteilung der Kräfte
und Mittel unter die einzelnen Armeen, die Tuchatschewsky
hei Vorbereitung der entscheidenden vor Warschau be-
endeten Operationen vornahm. In jeder Hinsicht prote-
gierte Tuchatschewsky ausdrücklich die 15. Armee.
Früher schon erwähnte ich, daß Tuchatschewsky keine
gute Meinung von jenen Divisonen hatte, die schon vorher
ein Jahr lang an unsrer Front kämpften und im Laufe der
Zeit — wenn ich so sagen darf — Respekt vor dem Feind
erworben hatten. Man merkte ihnen eine gewisse Angst vor
uns an. Keine dieser Divisionen wurde für die 15. Armee
bestimmt, sondern die meisten von ihnen kamen zur 16. Ar-
mee, die unsrer 4. Armee an der Berezyna gegenüberstand.
Diese Maßnahme Tuchatschewskys verurteilte die Richtung
Ihumen—Minsk zu einer Nebenrolle. Das gleiche geschah
im Polesiegebiet, wo er schwache Kräfte zurückließ, die
durch lange erfolglose Kämpfe verbraucht waren. Nach er-
littenem Mißerfolg während der Maioffensive verschob er
die am stärksten mitgenommenen Divisionen zur 4. Armee,
die sich nördlich der 15. Armee befand, und zur 3. Armee,
die der auserwählten 15. Armee südlich benachbart war.
Gemäß Sergiejew war die 15. Armee auch in bezug auf
Ausrüstung bevorzugt und in weit größerem Maße mit
Hilfsmitteln versehen. Ob es sich nun um Verbindungsmit-
58
DAS JAHR \ 920
tel, Tranportmittel in Gestalt beschlagnahmter Zivilfahr-
zeuge oder technische Ausrüstung der Divisionen handelt,
immer erhielt die 15. Armee im Vergleich mit den andren
das meiste. Ungeachtet dessen, daß Tuehatschewsky an sei-
nem äußersten Nordflügel eine starke Kavalleriegruppe,
das III. Kavalleriekorps bildete, beließ er eine Kavallerie-
brigade bei der 15. Armee.
Dieser Tatbestand begründete von vornherein die An-
sicht, daß der so bevorzugten 15. Armee in den Plänen
Tuchatschewskys die Hauptrolle zugedacht war. Ich will
dadurch keine Kritik an seinem Tun üben, da es doch
selbstverständlich erscheint, daß jeder Feldherr berechtigt
ist, seinen Plänen und Absichten gemäß die Truppen mit
entsprechenden Aufgaben zu betrauen und sie dementspre-
chend auszurüsten. Es fiel mir dies besonders auf, weil
ich nach dem Verlauf der Operationen, wie ich sie als Geg-
ner beobachtete, immer der am meisten nördlichen 4. Ar-
mee die Hauptrolle zuschrieb. Mit einer gewissen Neugierde
folgte ich dem Verlauf der Operationen auf der Seite des
Gegners und suchte stets nach der Teilnahme der bevorzug-
ten 15. Armee, wobei ich zu ergründen trachtete, warum
ich während der Operationen einen falschen, der Absicht
des Gegners nicht entsprechenden Eindruck gewonnen
hatte.
Abgesehen davon muß ich die energischen, sorgfältigen
Vorbereitungen für möglichst schnelle Inbetriebnahme der
Eisenbahnen im Rücken der vorgehenden Truppen hervor-
heben. Die Energie Tuchatschewskys auf diesem Gebiete
machte mich während der Juli- und Augustoperationen
1920 staunen. Als genügender Beweis hierfür möge die Tat-
sache dienen, daß ich nach meinem Sieg vor Warschau in
Malkinia, einer 80 Kilometer von Warschau entfernten Ei-
VORBEREITUNGEN EINER NEUEN OFFENSIVE. DER OPERATIONSPLAN 59
senbahnstation, breitspurige Eisenbahnwagen vorfand, die
der Feind bei seinem eiligen Rückzug zurückgelassen hatte.
Dieses schnelle Instandsetzen der Bahnlinien und ihre
schnelle Inbetriebnahme trotz bedeutender Zerstörungen
unsrerseits muß man als einen der großen Vorzüge unsres
Feindes bezeichnen. Zweifellos hatte er dieses der Energie
und Voraussicht von Tuchatschewsky zu verdanken.
Tuchatschewsky ist so wortkarg bei der Beurteilung der
feindlichen Lage vor seiner Hauptoffensive, daß es mir un-
wahrscheinlich erscheint, daß er Ende Juni so wenig Sor-
gen damit hatte. Ich glaube, daß diese Wortkargheit zwei
Ursachen hat: Erstens schreibt Tuchatschewsky kein Ge-
schichtswerk und bemüht sich nicht einmal um historische
Genauigkeit, zweitens betrachtete Tuchatschewsky — was
nach meiner Meinung dem geschichtlichen Tatbestand zu
entsprechen scheint — die Lage vor Beginn der neuen Juli-
offensive genau so, wie er dies Anfang Mai tat. Er setzte
sich das gleiche Ziel, wollte nach gleicher Methode handeln,
mehr noch, er wollte sogar die gleichen Wege gehen. Den
einzigen Unterschied sah er darin, daß er diesmal stärker
war und mehr Mittel zur Verwirklichung seiner Absichten
zur Verfügung hatte. Er macht mir den Eindruck eines
Feldherm, der zu abstrakter Denkungsweise neigt, dabei
aber Willenskraft, Energie und seltene Hartnäckigkeit in
seinen selbstgewählten Arbeitsmethoden auf weist. Feldher-
ren dieser Art sind selten zu einer breiteren Analyse befä-
higt, denn sie verkoppeln — sozusagen — ihr ganzes We-
sen ausschließlich mit ihrer Aufgabe, bieten aber dafür die
Sicherheit, daß sie die übernommene Arbeit ohne Zögern
ausführen werden. Wenn nun Tuchatschewsky eine Ent-
schuldigung dafür, daß er sich ausschließlich mit sich
selbst befaßte, darin sieht, daß man ihm im Krieg gegen
60
DAS JAHR \ 920
Polen die Hauptrolle zugeteilt hatte, so muß ich — ich
wiederhole es zum zweiten Mal — dennoch feststellen, daß
diese Abneigung oder Unfähigkeit zur Erfassung und Beur-
teilung der Lage an der Gesamtfront seinen Geisteshorizont
im Verlauf des ganzen von ihm geführten Feldzuges unbe-
dingt beschränkt hat.
Schon bei der Analyse der Maioperation wies ich
darauf hin, daß Tuchatschewsky, der seine Operationen
auf unsre angebliche Kordonaufstellung gründete, einen
Irrtum beging und mit Hilfe meiner Reserven geschlagen
wurde. Ich vermute sogar, daß dieses Sich-mit-sich-selbst-
Befassen auf das endgültige Mißlingen der Gesamtoperation
Tuchatschewskys vor Warschau Einfluß hatte.
Tuchatschewsky hatte über seine Truppen sehr geschickt
verfügt, und jeder kann leicht in seinem kühnen und folge-
richtigen Aufmarsch die Merkmale eines Feldherrn größe-
ren Maßstabes entdecken. Sobald er sich entschlossen hatte,
seinem mit dem geliebten „Tor von Smolensk“ verknüpften
Plane gemäß ebendort seinen Angriff durchzuführen, ver-
säumte er nichts, um auf Kosten andrer Frontabschnitte in
der Hauptrichtung möglichst stark zu sein. Mit berechtig-
tem Stolz behauptet er deshalb, daß er an der von ihm er-
wählten Stelle, an seinem Nordflügel, eine große Überlegen-
heit dem Feind gegenüber erreicht hatte. Er versammelte
dort drei Armeen, deren eine, die sich in dem „Tor von Smo-
lensk“ befand, er am stärksten ausrüstete und der er seine
besten Truppen zuwies. Weiter gegen Süden schwächte er
seine Kräfte, sei es zahlenmäßig, sei es durch Zuweisung
von Truppen mit geschwächtem Kampfgeist. Am äußersten
Südflügel am Prypec-Fluß ließ er ganz schwache Kräfte
zurück, denen er trotzdem befahl, die nördlich benachbarte
16. Armee in der Richtung von Glusk zu unterstützen. Diese
VORBEREITUNGEN EINER NEUEN OFFENSIVE. DER OPERATIONSPLAN 61
Richtung bedeutet ein Vorrücken längs der Landstraße Bo-
brujsk—Sluck, also nördlich des eigentlichen Polesien.
Was uns anbelangt, faßt sich Tuchatschewsky kurz, in-
dem er behauptet, wir hätten zwar im Vergleich mit der
vorigen Operation unsre in der Richtung seines Hauptschla-
ges befindlichen Truppen verstärkt, doch hätte dies keinen
eindeutigen Charakter gehabt und alle Merlanale der Kor-
donaufstellung und Passivität beibehalten. Wir waren, wie
dies Tuchatschewsky ganz richtig bemerkt, nur an dem
„wenig wichtigen linken (feindlichen) Flügel (in der Rich-
tung Mozyrz) überlegen66, wo er laut Berechnung zweimal
schwächere Kräfte den dort versammelten polnischen Trup-
pen gegenübergestellt hatte. Dieser Aufmarsch Tucha-
tschewsky s, der im Verhältnis zu unsrem Aufmarsch umge-
kehrt erscheint, entspricht dem Hauptgrundsatz des Krie-
ges, der besagt, daß stark sein bedeutet, an jener Stelle stark
zu sein, wo der Kampf entschieden wird. Dieser von allen
anerkannte Grundsatz findet in der Feldherrntätigkeit des-
halb so selten Beachtung, weil er trotz seiner Einfachheit
große Schwierigkeiten vorwiegend seelischer Art verursacht.
Im Krieg gilt, was der große Kriegskenner Napoleon mit
Recht behauptet: „Le simple est le plus difficile.66 Diesen
einfachen Grundsatz jedoch kompliziert oft die seelische
Schwäche der Feldherren, die dazu neigt, überall stark zu
sein, was als unerreichbares Ideal meistens das Gegenteil
— also überall Schwäche verursacht. Ich kann nicht ver-
neinen, daß Tuchatschewsky frei von diesem häufig vor-
kommenden Fehler der Feldherren war.
Ich kann aber auch nicht verneinen, daß die Beurteilung
unsrer strategischen Aufstellung durch Tuchatschewsky
richtig eingeschätzt wurde.
Es war dies tatsächlich eine reine Kordonaufstellung. Es
62
DAS JAHR \ 920
waren zwar Reserven vorhanden, die jedoch alle mit Aus-
nahme des einen oder andern Regimentes dem Wunsche
Tuchatschewskys gemäß einige Kilometer hinter den vor-
dersten polnischen Abteilungen standen. Die Nordfront be-
saß keine tiefer gestaffelten Reserven, die zu einem Gegen-
manöver befähigt waren. Wie schon gesagt, nahm ich nach
Beendigung der Gegenoffensive Anfang Juni an der Ein-
richtung der Nordfront keinen Anteil. Trotzdem mich als
Obersten Feldherrn sicherlich auch in diesem Falle ein gro-
ßer Teil der Verantwortung belastet, muß ich der histori-
schen Wahrheit zuliebe feststellen, daß ich mich mit der
Nordfront erst kurz vor Beginn der Offensive Tucha-
tschewskys zu befassen begann, als alle meine Versuche, im
Süden die Reiterei Budiennys zu schlagen, scheiterten.
Ende Juni wurde es mir klar, daß eine schnelle Beruhigung
an der Südfront unerreichbar ist, und daß hiermit meine
frühere Absicht, bei der ich den Wert der Reiterei nicht
hoch einschätzte, eine Änderung erheischte. Es schien mir
unmöglich, Truppen unmittelbar aus dem Süden heraus-
zuziehen und eine Manövriermasse zu bilden, um einen ent-
scheidenden Angriff im Norden zu versuchen.
Angesichts dieser Änderung meines Urteils will ich kurz
die Beweggründe anführen, die dies verursachten. Dabei
will ich meine Schlußfolgerung zur Erwähnung bringen, zu
der ich vor dem 4. Juli — also vor Beginn der Entschei-
dungsoperation Tuchatschewskys — gelangte. Ich bemerkte
schon, daß ich der Reiterei Budiennys, die sich im Rücken
eines Teiles unsrer Truppen in der Ukraine befand, keine
größere Bedeutung beimaß. Die Reiterei Budiennys zeigte
in dieser Lage keine größere Aktivität, trotzdem sie bereits
in der Flanke und sogar unmittelbar hinter dem linken
Flügel unsrer südlichsten 6. Armee stand. Der Ort Kozia-
VORBEREITUNGEN EINER NEUEN OFFENSIVE. DER OPERATIONSPLAN 63
tyn, wo dieser Flügel sich befand, hielt sich längere Zeit,
ohne den Druck der sehr nahe stehenden Reiterarmee zu
empfinden. Am stärksten isoliert und teils abgeschnitten
schien die 3. Armee, die im Raum von Kiew stand. Ihr Füh-
rer, General Rydz-Smigly, der wie fast alle andren zu jener
Zeit die Operationen der feindlichen Reiterei nicht ernst
nahm, bestand darauf, daß die seiner Ansicht nach leicht
mögliche Vernichtung der Reiterei in seinem Rücken durch-
geführt würde, ohne daß seine Armee vom Dnjepr zurück-
gezogen zu werden brauchte. Am schwersten schien die
Lage in der Mitte der Front, die übrigens zahlenmäßig am
schwächsten war. Man entsandte dorthin die 3. Infanterie-
Division und drei frisch gebildete Reserve-Infanterie-Regi-
menter als Verstärkungen.
Mein erster Versuch galt also der Vereinigung der Trup-
pen zum Angriff auf die Reiterei Budiennys, der noch in
Zytomierz und Umgebung mitten unter ihnen stand. Die-
ser Versuch scheiterte. Ich befahl General Rydz-Smigly
ausdrücklich, Kijow aufzugeben und mit seinen Hauptkräf-
ten längs der Landstraße Kijow—Zytomierz zurückzuge-
hen und die Hauptkräfte Budiennys bei Zytomierz anzu-
greifen. Dabei konnten ihn der linke Flügel der 6. Armee
und unsre bei Koziatyn versammelte Kavallerie unterstüt-
zen. Es scheint mir sogar möglich, eine schwache Unter-
stützung der von Westen heranfahrenden Truppenteile zu
veranlassen. Aus mir bisher unbegreiflichen Gründen er-
reichte mein Telegramm General Rydz-Smigly nicht, so daß
er seine Truppen in nordwestlicher Richtung längs der süd-
lichen Polesie, also längs der Bahnlinie Kijow—Korosten
—Sarny zurücknahm, als ob er einer Begegnung mit der
Reiterei Budiennys sorgfältig aus dem Wege gehen wollte.
Ich hebe dabei hervor, daß bei diesem Manöver eine der Di-
64
DAS JAHR \ 920
Visionen, die 21. Infanterie-Division, in das südliche Polesie
bis vor Mozyrz gelangte, und so unsre Kräfte an dem —
um die Bezeichnung Tuchatschewskys zu gebrauchen —
„wenig wichtigen66 Flügel der von General Szeptycki be-
fehligten Armee verstärkte.
Nachher mißlangen noch einige Versuche, die ich ver-
anlaßte, die Reiterei Budiennys von mehreren Seiten derart
anzugreifen, daß unsre im Verhältnis zum Gegner schwache
Kavallerie unter günstigen Bedingungen eingesetzt werden
konnte. Immer wieder zeigte es sich als unmöglich, einige
Truppenabteilungen zu gemeinsamen Manövern zu verei-
nen. Den letzten Versuch einer solchen Handlung vor dem
4. Juli bildeten die Operationen im Raume von Rowne, wo
einmal die 18. Infanterie-Division der 6. Armee von Süden
angriff, die 2. Armee hingegen zu gleicher Zeit nach Nor-
den zurückging; ein andres Mal wieder, als die 2. Armee
zum Angriff überging und ihre 1. Infanterie-Division
Rowne im Nachtangriff eroberte, war die 18. Infanterie-Di-
vision bereits im Zurückgehen auf Dubno begriffen.
Diese jetzt komisch scheinenden Hin- und Hermärsche
hatten trotzdem keinen allzu schlechten Einfluß auf den
Geist der Fronttruppen, und abgesehen von einzelnen
Truppenkörpern behielt die Mehrzahl der im Süden fech-
tenden Abteilungen ihren vollen Kampfwert und Kampf-
geist und leistete ungeachtet der Mißerfolge stets Wider-
stand. Sicherlich mußten aber die ständigen Mißerfolge auf
den allgemeinen Geist einwirken, was auch tatsächlich der
Fall war. Man glaubte, es wäre unumgänglich, eine neue
Kampfmethode einzuführen, um dem bisher ungreifbaren
Gegner Halt zu gebieten und ihn zu besiegen. Man war all-
gemein der Ansicht — womit ich übrigens überein-
stimmte — daß diese Methode auf Einsatz größerer Reiter-
VORBEREITUNGEN EINER NEUEN OFFENSIVE. DER OPERATIONSPLAN 65
massen unsrerseits beruhen müßte. Sofort ging man ener-
gisch an die Bildung dieses Kampfinstrumentes, wobei man
aber im voraus vermuten mußte, daß dies sich weder leicht
noch schnell improvisieren ließe, und daß viel Zeit ver-
fließen müßte, bevor das Ergebnis dieser Arbeit sichtbar
würde.
Am schlimmsten machte sich der Einfluß jener Ereignisse
nicht an der Front selbst, sondern in der Etappe und im
Hinterland bemerkbar. Ein ums andre Mal entstanden Pa-
niken in Ortschaften, die Hunderte von Kilometern hinter
der Front gelegen waren, ja selbst in höheren Kommando-
stäben, und griffen immer tiefer und weiter um sich. Selbst
die Tätigkeit der politischen und administrativen Staatsbe-
hörden erlitt merkbare Hemmungen und begann einen un-
sicheren Pulsschlag aufzuweisen. Nervöse Anzeichen hem-
mungsloser Furcht wechselten mit unberechtigten Ankla-
gen. Ich sah dies stets rings um mich wachsen. Die Rei-
terei Budiennys, dieses neue Kampfinstrument, auf deren
Auftreten unsre Truppen nicht vorbereitet waren, wuchs
zu einer märchenhaften unbesiegbaren Macht. Man kann
sagen, daß je weiter von der Front, desto stärker und un-
widerstehlicher der Einfluß dieser Einbildungskraft wirkte,
gegen die sich der Verstand als machtlos erwies. So be-
gann sich für mich die gefährlichste Front, die Front von
innen zu gestalten.
In dieser Lage nahm ich Abschied von meinem frühe-
ren Vorhaben und faßte auf Grund der Meldungen und
Nachrichten über den Aufmarsch des Feindes im Nor-
den einen ganz allgemeinen Operationsplan gegen Tucha-
tschewsky. Angesichts des ständigen Bloßstellens des rech-
ten Flügels der nördlich des Prypee stehenden Truppen
— eine Folge des Zurückweichens der Südfront — erklärte
5 Pilsudski II
66
DAS JAHR J 920
ich mich in Gedanken damit einverstanden, die ganze Nord-
front freiwillig ohne Druck von seiten des Gegners bis zur
Linie der ehemaligen deutschen Stellungen zurückzuneh-
men, wobei an beiden Flügeln stärkere Manövriergruppen
gebildet werden sollten.
An dieser Stelle möchte ich nicht die Frage berühren,
warum dies nicht früher geschah, denn ich werde es spä-
ter tun. Nun gehe ich nach Feststellung dieser meiner
grundsätzlichen Idee daran, die Eröffnung der Hauptope-
ration des Feldzuges 1920, den Angriff der Sowjettruppen
am 4. Juli, gründlich zu analysieren.
Y
Die Julioffensive. Der Schützengrabenkrieg
Die Analyse der ersten Tage der Entscheidungsopera-
tion Tuchatschewskys bereitete mir sehr viel Schwierigkei-
ten. Ich begegnete stets neuen Widersprüchen, deren Klä-
rung viel Zeit in Anspruch nahm. Teilweise war dies da-
durch verursacht, daß die entsprechenden Angaben über
die Tätigkeit unsrer Truppen zu jener Zeit noch nicht ge-
ordnet waren, was nicht selten falsche und irrige Vorstel-
lungen darüber zur Folge hatte. Andere Widersprüche ent-
standen sofort bei Vergleich dessen, was Tuchatschewsky
schrieb, mit den von mir festgestellten Angaben und Daten
bezüglich unsrer Truppen und mit den Angaben und Daten
Sergiejews bezüglich der von Tuchatschewsky befehligten
Truppen. Diese Widersprüche sind so kraß und die wirk-
liche historische Lage war so merkwürdig, daß ich mich
lange Zeit mit diesen Tatsachen nicht abfinden konnte und
stets nach Bestätigung meiner Ansichten durch neue Ein-
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
67
zelangaben suchte, die ich von verschiedenen Teilnehmern
an diesen Kämpfen herausholte. Ich gestehe, daß ich selbst
jetzt noch, beim Anführen meiner Analyse, gewisse Zweifel
nicht loswerden kann. Sie stehen nämlich in zu offenem
Widerspruch zu dem, was Tuchatschewsky schreibt, des-
sen überaus abstrakte Arbeitsmethode mit publizistisch
übertriebenen Ausdrücken wie z. B.: „vernichtet66, „zer-
malmt66 u. dgl. vermengt ist.
Als ich bei mehrfachem Durchblättem des Werkes
Tuchatschewskys mir eine Ansicht über seinen Grundge-
danken zu bilden trachtete, kam ich immer zur Einsicht,
daß Tuchatschewsky sich einen weitreichenden Plan ge-
steckt hatte. Er erwartete, daß er und seine Truppen die
Entscheidung weit von jener Stelle finden würden, an der
er die Operationen begonnen hatte, und schob sorgfältig
jeden Wunsch nach dem Suchen sofortiger Teilerfolge loka-
ler Art beiseite. Alles, was Tuchatschewsky über die Mai-
operation, wie ich es bereits erwähnte, und über die Juli-
operation schreibt, scheint seine abstrakte Denkweise zu be-
stätigen, bei der er es jedoch versteht, sowohl den Kriegs-
schauplatz als auch die Operationen größerer Truppenmas-
sen vom allgemeineren und weiteren Gesichtspunkt aus zu
beschauen. Wir sahen dies vorher schon; stärker noch tritt
es bei seinen recht ausführlichen Erwägungen hervor, die
ihren Platz in dem der Julioperation gewidmeten Teil
seines Werkes fanden. Gerade da finden wir den vielleicht
schönsten Teil seiner Arbeit, wenn er nach der Lösung je-
nes Problems sucht, das in der Führung größerer Trup-
penmassen in einer offensiven Operation auf weitem
Raume liegt.
Ich sehe vorläufig davon ab, diese Auffassungen Tucha-
tschewskys meinerseits zu untersuchen. Ich bemerke nur,
68
DAS JAHR \ 920
daß er eine Lösung in der Ansammlung von Stoßmassen
*— wie er sie nennt — sieht, die des öfteren infolge der
Operationen des Gegners, der sich an verschiedenen Stel-
len dem Angriff zu widersetzen sucht, ihre Stoßrichtung
ändern müssen, trotzdem dabei Zeitverlust oder frühzeitige
Entdeckung des Leitgedankens der eigenen Operationen
durch den Feind droht. Dies bildet seiner Ansicht nach die
einzige Methode zur Unschädlichmachung der Gegenstöße
des Gegners, der seine Truppen zwecks Vorbereitung eines
Gegenangriffes zurücknehmen kann. Bei dieser Darstel-
lung sieht man bei Tuchatschewsky den Einfluß der Ein-
leitungsoperationen von 1914 in Frankreich, und er lädt
uns ein, am Beispiel unsres (sowjetrussischen) Feldzuges
1920 gegen die Weißpolen das Problem der Anwendung
von Stoßmassen zu untersuchen. Er stützt sich hierbei auf
die Gewißheit, daß es heutzutage undenkbar scheint, den
Feind mittels eines einzigen schnellen Schlages und Manö-
vers zu vernichten.
Um so mehr wunderte es mich, als ich bei Sergiejew las
(S. 31), daß Tuchatschewsky in den letzten Junitagen alle
Armeeführer persönlich aufsuchte und ihnen auftrug, einen
Plan in allen Einzelheiten durchzuarbeiten, der im Falle
seines Gelingens zu einer Einkreisung eines Teiles unsrer
Kräfte, die im Raume Hermonowicze—Luzki—Gl^bokie
versammelt waren, führen mußte. Der Operationsplan für
den 4. Juli zielte also auf einen Erfolg rein lokaler Be-
deutung ab, dessen Ziel ein kleines Sedan einiger unsrer
Divisionen war. Sergiejew fügt bei Erwägung dieses Planes
sogar Skizzen bei, die ihn klar erläutern. Die 15. Armee
nämlich, die die besten Truppen besaß und am besten aus-
gerüstet war, sollte dieses kleine Sedan im Raume von
Hermanowicze und Gl^bokie frontal angreifen, indessen
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENRRIEG
69
die 4. und 3. Armee den linken und rechten Arm bilden
sollten, die von Norden und Süden tief in den Rücken von
Gl^bokie und Hermanowicze greifend, alle Rückzugswege
abschneiden sollten. Sergiejew stellt fest, daß bei diesem
Plan die Mitte (15. Armee) zu stark, die Flügel hingegen
zu schwach waren, und sieht mit Recht in dieser Kräfte-
verteilung, die er mit Mangel an Zeit rechtfertigt, den
Grund des Mißlingens (S. 32, 33). Wo finden wir aber hier
die Stoßmasse, wo die Operation mit weitgesteckten und
großen Zielen? Bei Untersuchung dieser Operationen über-
zeugen wir uns davon, daß die Flügel ihre Aufgabe nicht
erfüllt haben; doch Sergiejew stellt fest, daß er bereits in
der Nacht vom 5. auf den 6. Juli die Weisung Tuchatschew-
skys erhielt, alle Kräfte anzustrengen, um dem zurückge-
henden Feind bis zum Anbruch der Nacht vom 7. auf
den, 8. Juli den Rückweg in Osinogrodek—Kurylowicze (20
bis 30 Kilometer westlich von Gl^bokie) zu verlegen
(S. 50). Am dritten Operationstag behält also die Nord-
armee (4. Armee) noch die gleiche Sedan-Aufgabe.
Meine Verwunderung stieg noch mehr, als ich bei tag-
weiser Untersuchung der Operationen der Hauptkraft
Tuchatschewskys — der 15. Armee — bemerkte, daß sie
bereits am dritten, vielleicht sogar schon am zweiten Ope-
rationstag von ihrer Sedan-Aufgabe abwich und zu einer
Stoßmasse umgruppiert wurde. Dieser eigentümliche Wi-
derspruch im Laufe der ersten Operationstage wurde nicht
durch unsere Operationen hervor gerufen, da doch am 5.
und 6. Juli die Gruppe des Generals 2eligowski, die ganz
im Norden stand, die einzige aktive Gruppe unsrerseits bil-
dete. Sie war aus zwei Divisionen (10. und 8. Infanterie-
Division) zusammengesetzt, erhielt keinen Rückzugsbefehl
und hatte im Verlaufe von kleineren Nachhutgefechten nur
70
DAS JAHR \ 920
mit der nördlichen 4. Sowjetarmee Fühlung, und beein-
flußte hiermit die Operationen der 15. Armee keineswegs.
Der Rest unsrer Truppen — die Gruppe des Generals
J^drzejewski — ging indessen unbekümmert in südwest-
licher Richtung auf Molodeczno zurück, fast ohne Fühlung
mit dem Gegner. Ein merkwürdiges Sedan!
Die ersten Tage der Julioperation Tuchatschewskys ver-
dienen übrigens eine besondere Aufmerksamkeit. Sie hatten
großen Einfluß auf die Grundgruppierung der polnischen
Truppen und auf den ganzen Verlauf unsrer Operationen
fast bis Warschau. Dabei geben sie uns, angesichts jenes
oben erwähnten Widerspruches in den Operationsideen
Tuchatschewskys, der doch die volle Initiative besaß, ein
charakteristisches Bild dessen, was ich gewöhnlich als eine
Komödie von Irrtümern und gegenseitigen Mißverstehens
der Gegner bezeichne. Wie dies in solchen Fällen oft vor-
kommt, unterscheiden sich sogar die Namen solcher
Schlachten. Der Führer unsrer Truppen an dieser Front,
General Szeptycki, nannte diese Schlacht in seiner Recht-
fertigungsschrift, im Einklang mit seiner Neigung zu linea-
rer Kräfteverteilung, Schlacht an der Auta. Dies ist ein klei-
nes Flüßchen, das schwer auf der Karte zu finden ist, und
das weder Tuchatschewsky noch Sergiejew erwähnt. Sie
vermuteten scheinbar nicht, daß jenes Orzechowna, dies-
mal ein Flüßchen, beim Gegner eine so große Rolle spielte.
Sergiejew dagegen bezeichnet diese Schlacht als ein miß-
lungenes Sedan bei Gl^bokie, was wieder niemand auf
unsrer Seite verstehen könnte. General Zeligowski, der ak-
tivste Teilnehmer an dieser Schlacht, erzählte mir sogar
unlängst, daß er damals überlegte, ob er keinen Fehler da-
durch begangen hätte, daß er dieses Sedan-Gl^bokie, als es
vom Gegner bereits besetzt war, nicht angriff. Frei von
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG 71
jedem feindlichen Druck, fühlte er sich nämlich in seinen
Entschlüssen völlig ungebunden. Tuchatschewsky selbst, der
froh über den sicheren Besitz des „Tores von Smolensk66
ist, geht leichthin über die Benennung dieser Kriegseigen-
tümlichkeit hinweg, denn am 7. Juli schon stellte er be-
stimmt fest, daß „die feindlichen Truppen im Raum uns-
res Hauptangriffes völlig vernichtet sind66 (S. 281). Eine
solche Schlacht ist einer gründlicheren Untersuchung
wert*).
Ich beginne bei der nördlichen 4. Armee, die von Ser-
giejew befehligt wurde. Im Einklang mit dem Sedan-Vor-
haben Tuchatschewskys beläßt er auf seinem linken Flü-
gel die 18. Infanterie-Division und befiehlt ihr, durch An-
griff die feindlichen Reserven in diesem Raume zu bin-
den. Den Rest seiner Kräfte, die 12. und 53. Schützen-Di-
vision und die 164. Schützen-Brigade, versammelt er vor
dem engen Defile zwischen Düna und dem versumpften
Jelnia-See, das kaum 10 Kilometer breit ist (nach Ser-
giejew 4 Werst), mit dem Auftrag, an dieser Stelle die
Front des Gegners zu durchbrechen, um dann sofort mit
der ganzen Infanterie nach Süden auf Hermanowicze und
Szarkowszczyna einzuschwenken, die Kavallerie aber vor-
läufig in westlicher Richtung tief in den Rücken des Fein-
des zu werfen. Da Sergiejew von einer trommelfeuerarti-
gen Artillerievorbereitung schreibt, sehe ich mich veran-
laßt festzustellen, daß seinerseits an diesem Abschnitt 70
leichte und 8 schwere Geschütze versammelt wurden. Sei-
ner Ansicht über die ihm übertragene Aufgabe gibt Ser-
giejew folgendermaßen Ausdruck:
„Da der Erfolg des Manövers der 4. Armee schnelle Aus-
führung erforderte, die Nachrichten über den Feind aber
‘) Siehe Karte 1 und 2.
72
DAS JAHR \ 920
besagten, daß sich zwischen Dünafluß und dem Jelnia-See
nur ein Infanterie-Regiment und etliche Hundert Ulanen
befanden, stellte man den Truppen der aktiven Gruppe
nach Durchbrechung der feindlichen Front Aufgaben, die
folgende Marschleistungen erforderten:
Kavallerie 40 Werst am ersten und 24 Werst am zweiten
Tag;
164. Schützen-Brigade 27 Werst am ersten und 24 Werst
am zweiten Tag;
53. Schützen-Division 29 Werst am ersten und 30 Werst
am zweiten Tag;
12. Schützen-Division 22 Werst am ersten und 18 Werst
am zweiten Tag.
Solche Strecken konnte man nach Durchbrechung der
Front des Gegners voraussichtlich in Marschkolonnen zu-
rücklegen, denn der schwache Feind mußte durch unsren
Stoß zerstäubt werden, und hatte hier scheinbar keine Re-
serven64 (S. 43).
Tatsächlich stand hier fast das ganze 33. Infanterieregi-
ment mit einem Bataillon als verhältnismäßig weitgelegene
Reserve. Der Angriff begann infolge Nebelwetters erst um
8 Uhr morgens nach halbstündiger Artillerievorbereitung.
Die ersten augenscheinlich schwach besetzten Stellungen
wurden schon um 9 Uhr genommen. Jetzt schritt aber das
weitere Vorgehen Sergiejews so langsam und mühsam fort,
daß unsre dort kämpfenden zwei Bataillone erst gegen
4 Uhr nachmittag nach einer Reihe von Gegenangriffen,
ermüdet vom Kampf, schnell zurückzugehen begannen.
Erst gegen 6 Uhr nachmittag konnten die Infanterie-Divi-
sionen und die Reiterei Sergiejews sich in Kolonnen zu-
sammenziehen und den anbefohlenen Vormarsch beginnen.
Es erscheint daher gar nicht verwunderlich, daß keine ein-
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG 73
zige Abteilung ihren Auftrag erfüllen konnte, was auch
Sergiejew mit Bedauern zugibt (S. 46).
Diese zwei tapferen Bataillone unsres 33. Infanterie-Re-
giments wurden in ihrem heldenhaften Kampfe gegen 2 ^
Divisionen des Feindes lediglich von 10 Geschützen der
8. Infanterie-Division unterstützt, der das Regiment ange-
hörte. Sie verhinderten oder stellten wenigstens die beab-
sichtigte Sedan-Operation in Frage und hielten die Haupt-
kräfte der 4. Armee darin auf, rasch unsren weiter südlich
fechtenden Truppen in den Rücken zu stoßen. Mit Vergnü-
gen stelle ich dies auf Grund von feindlichen Quellen fest,
da man unsrerseits bei oberflächlicher Untersuchung jener
Kämpfe diesem Regiment wie auch der 8. Infanterie-Divi-
sion den Vorwurf machte, die feindliche Kavallerie durch-
gelassen zu haben, die uns dann im Verlaufe der weiteren
Operationen bis Warschau am meisten Schaden zufügte.
Sergiejew konstatiert ausdrücklich, daß der zähe Wider-
stand den Erfolg seiner Truppen stark gehemmt hat, und
daß erst gegen 16 Uhr der polnische Widerstand gebrochen
wurde. Ich füge hinzu, daß kein einziges unsrer Geschütze
dem Feind in die Hände fiel.
Die 18. Schützen-Division, die Sergiejew für die beste
hält, verlor am Nachbarabschnitt den ganzen Tag mit er-
folglosen Angriffen gegen eine Brigade unsrer 10. Infan-
terie-Division. Sergiejew stellt ruhig fest, daß der Angriff
der 18. Infanterie-Division trotz schwerer Verluste und ver-
hältnismäßig großem Munitionsverbrauch — 300 Schuß
pro leichtes und 50—80 Schuß pro schweres Geschütz —-
abgeschlagen wurde (S. 47). So endete der erste Tag mit
einem gewissen Mißerfolg der 4. Armee, denn er erschwerte
die Ausführung des Sedan-Vorhabens und verbrauchte
keine unsrer Reserven, die an jener Stelle drei Regimenter
74
DAS JAHR \ 920
der 8. Infanterie-Division bildeten. Sie rückten nach unsren
Angaben ohne höheren Befehl mit ihren Hauptkräften
nach Norden auf Pohost und nördlich dieses Ortes, um den
gefährdeten Flügel zu decken.
Weiter südlich griff die 15. Armee an, die vier Infanterie-
Divisionen nebeneinander entwickelt hatte. Der Angriff um-
faßte ungefähr 50 Kilometer Breite und traf unsre 11. In-
fanterie-Division im südlichen Abschnitt, eine Brigade der
5. Infanterie-Division und die 7. Reserve-Infanterie-Brigade
im nördlichen, die ebenfalls in einer langen Linie ausein-
andergezogen waren. Hinter ihnen stand die 17. Infante-
rie-Division als Reserve, die nur auf Befehl des Frontober-
befehlshabers in Minsk eingesetzt werden durfte. Das Hin
und Her dieses Kampfes läßt sich in Einzelheiten schwer
feststellen. Tatsache bleibt, daß die Sowjettruppen im Sü-
den schneller vorrückten als im Norden. Südlich der Bahn-
linie Polock—Molodeczno erreichten die Truppen Tucha-
tschewskys kämpfend die Mniuta, nachdem sie ungefähr
8 Kilometer von der Stelle der Fühlungnahme mit unsrer
ersten Linie zurückgelegt hatten. Nördlich dieser Bahn-
linie kämpfte das Gros der 15. Armee. Dort wurden die
Sowjettruppen trotz ihrer Anfangserfolge durch Gegen-
angriffe unsrer 17. Infanterie-Division von Süden und der
10. Infanterie-Division von Norden aufgehalten, so daß
gegen Ende des Tages die von den angreifenden Truppen
zurückgelegte Entfernung nirgends 3—4 Kilometer über-
stieg. Dieser fragliche Erfolg der Hauptkräfte Tuchatschew-
skys war übrigens für das Gelingen des Sedan-Vorhabens
von keiner großen Bedeutung, da die Mitte diesmal lang-
samer Vorgehen konnte. Er bewirkte jedoch die Einsetzung
unsrer Reserven. Unsrerseits wurde ein großer Teil der
Truppen fast ganz verbraucht und für lange kampfun-
DIE JULIOFFENSIVE. DER SGHÜTZENGRABENKRIEG
75
fähig. Dies betrifft die Brigade der 5. Infanterie-Division
und die 7. Reserve-Infanterie-Brigade. Außerdem erbeutete
der Feind einen kleinen Teil unsres Artilleriegerätes.
Die 3. Sowjetarmee griff weiter südlich bis zur Berezyna
mit einem Teil ihrer Kräfte unsre 11. Infanterie-Division
und mit 3 Divisionen eine Brigade der litauisch-weißrussi-
schen Infanterie-Division an, mit dem Auftrag, schon am
5. Juli Dokszyce zu nehmen, das in der Luftlinie 25 Kilo-
meter von der Front entfernt war. Am 6. Juli sollten schon
die Bahnlinie Polock—Molodeczno und unsre Rückzugs-
wege in südlicher Richtung gesperrt sein. Das Ergebnis die-
ses Tages bildeten kaum 7—8 Kilometer, die die Sowjet-
truppen nach überaus schweren, den ganzen Tag währenden
Kämpfen zurücklegten, und der größte Erfolg dieses Ta-
ges, den der Gegner wahrscheinlich nicht wahrnahm, be-
stand in der Unterbrechung der Verbindung und Fühlung
zwischen der 11. Infanterie-Division im Norden und der
litauisch-weißrussischen Division im Süden. Die Berezyna
dagegen, die 4—6 Kilometer von der Front entfernt den
Weg nach Dokszyce sperrte, wurde vom Feind nirgends
überschritten. Wiederum wurde also, ähnlich wie im Nor-
den, jener Flügel, der dem Feind schnell den Rückweg in
südwestlicher Richtung verlegen sollte, trotz Kräfteüber-
legenheit gegenüber unserer litauisch-weißrussischen In-
fanterie-Division aufgehalten. Das Sedan-Manöver blieb
auch hier wie am linken Flügel in der Luft hängen, wobei
es hier sogar noch ärger aussah. Im Norden gelang es Ser-
giejew dennoch gegen Abend nach Beseitigung des ersten
Widerstandes, sein Manöver gegen den Flügel und den Rük-
ken des Feindes anzudeuten. Die 3. Armee hingegen stand
am Abend des 4. Juli in gleicher Höhe mit der in der Mitte
der Front stehenden 15. Armee.
>
76
DAS JAHR \ 920
Wenn nun eine rasche Einkreisung unsrer ersten Armee
im Raume Hermanowicze—Glqhokie das Ziel der Trup-
pen Tuchatschewskys bildete, beruhte das Ziel des Kampfes
unsrerseits auf der Abwehr des feindlichen Angriffes und
der Wiederherstellung der dem 4. Juli vorangehenden Lage.
Alle Befehle, sei es des Frontoberbefehlshabers in Minsk,
des Führers der 1. Armee in Wilejka oder der Gruppenfüh-
rer der einzelnen Abschnitte, lassen diesbezüglich keine
Zweifel aufkommen. Den ganzen 4. Juli hindurch werden
daher verschiedene kleinere und größere Gegenangriffe
versucht, die den Feind aus der am Morgen dieses Tages ge-
haltenen Linie hinauswerfen sollen. Die Schlacht wurde
unsrerseits nach der Art des Stellungskrieges geführt. Alle
jene zu verschiedenen Zeitpunkten und an verschiedenen
Stellen unternommenen Gegenangriffe hatten einzig und
allein die „Wiederherstellung der früheren Lage66 zum Ziel.
Diese Bezeichnung finden wir vielmals als nähere Beschrei-
bung des Zieles, um das unsre 1. Armee am 4. Juli an einer
hundert Kilometer langen Front kämpfte. Nur die 10. In-
fanterie-Division erreichte eigentlich dieses Ziel. Sie ließ
sich aus ihren Stellungen nicht zurückdrängen und been-
dete den Tag in Anbetracht ihrer Aufgabe siegreich. An
allen andren Abschnitten aber mußten unsre Truppen den
Eindruck eines Mißerfolges haben, da sie nach schweren,
den ganzen Tag währenden Kämpfen, an denen alle unsre
Kräfte außer der weit im Norden befindlichen 8. Infante-
rie-Division teilnahmen, das Ziel ihres Kampfes — die
Wiederherstellung der bisherigen Lage — nicht erreichen
konnten.
So endete der erste Kampftag, der 4. Juli, ohne beider-
seits Befriedigung in bezug auf die Erreichung der beabsich-
tigten Ziele zu gewähren. Tuchatschewsky kam angesichts
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG 77
seiner Sedanpläne nicht weit vorwärts, unsre 1. Armee aber
mußte angesichts der großen Überlegenheit des Feindes und
des Mangels an weiteren Reserven die Hoffnung auf Erfül-
lung der gestellten Aufgaben fallen lassen. Doch bei Mor-
gengrauen des 5. Juli hielten beide Gegner an den bisheri-
gen Kampfzielen fest.
Im Norden bewegt sich die 4. Armee Sergiejews in der
beabsichtigten Richtung fast im Leeren, denn die zwei Ba-
taillone des 33. Infanterie-Regiments, die tags zuvor sehr
große Verluste erlitten hatten, zogen sich schnell, ohne
Fühlung mit dem Feind zu behalten, in westlicher anstatt
in südlicher Richtung auf ihre Division zurück, so daß sie
an den späteren Kämpfen ihrer Division gar nicht teilnah-
men. Der erste Zusammenstoß mit dem Feinde fand erst
am Nachmittag des 5. Juli statt, als unsre 8. Infanterie-Divi-
sion nach ihrer eigenen Angabe bei und nördlich Pohost
Kämpfe mit feindlichen Vorhuten zu bestehen hatte. Diese
Gefechte hinderten trotz ihrer geringen Bedeutung die Sow-
jethauptkräfte an ihrem weiteren Vormarsch. Sergiejew
klagt ganz besonders über die 53. Schützen-Division, die an
diesem Tage nicht nur Szarkowszczyna nicht erreichte, wie
ihr dies befohlen war, sondern sogar infolge dieser unbe-
deutenden Kämpfe ihre Front von Süden gegen Westen
wendete. Das gleiche geschah bei der benachbarten 12. In-
fanterie-Division, deren starker rechter Flügel und Reserve-
brigade stehen blieben und in der Gegend von Stary Pohost
ihre Front von Süden nach Westen wendeten. Den Truppen
Sergiejews winkte keineswegs ein Sedan*).
Tuchatschewsky schreibt über diesen Tag der 4. Armee
mit einer gewissen Nonchalance und behauptet, Teile der
8. Infanterie-Division „seien während ihres Marsches an-
Siehe Karte 3.
78 DAS JAHR i 920
gegriffen und geschlagen worden und büßten jedwede
Kampffähigkeit ein. Doch unsre Truppen erreichten auch
nicht das, was unter diesen Umständen zu erreichen war“
(S. 280). Sergiejew ist bescheidener und behauptet nur, daß
ohne Rücksicht auf die sichtbare Schwäche des Feindes,
den man unschädlich machen und auseinanderjagen müßte,
die Truppen sich öfters nach ihrem rechten Flügel entwik-
kelten und schließlich die ihnen für den 5. Juli zugewie-
sene Aufgabe nicht erfüllten (S. 49). Ich füge hinzu, daß
der Meinung Sergiejews und wahrscheinlich auch der
Tuchatschewskys nach der größte Teil der 8. Infanterie-Di-
vision, die an den Kämpfen des 4. Juli überhaupt nicht
teilnahm, schon geschlagen war. Der Widerstand zweier
Bataillone des 33. Infanterie-Regiments war so stark, daß
der Feind in seinen Berichten und Berechnungen unsre
Kräfte vergrößerte und das Gefecht zweier Bataillone zum
Gefecht des Hauptteils der 8. Infanterie-Division anwachsen
ließ. Sergiejew sagt, daß „die Lage der Umgehungsgruppe
sogar den Stab des Frontkommandos beunruhigte, und daß
die in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli gegebenen Wei-
sungen die Notwendigkeit betonten, alles zu versuchen, um
bis zum Anbruch der Nacht vom 6. auf den 7. Juli dem zu-
rückgehenden Gegner den Rückweg im Raume Osino-
grödek—Kurylowicze zu verlegen“. Ein letzter Sedan-
Versuch!
Inzwischen befahl General Zeligowski, die 10. Infanterie-
Division bei Tagesanbruch an die Mniuta zurückzunehmen,
um seine Front mit seinem rechten Nachbarn in Einklang
zu bringen. Nach Angabe dieser Division ging sie bei Mor-
gengrauen des 5. Juli unbehindert und ohne Fühlung mit
dem Feind an die Mniuta zurück und besetzte ihre beiden
Ufer in der Gegend von Luzlci, wogegen die 8. Infanterie-
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG 79
Division sich um Pohost versammelte. In diesem Zurück-
gehen der 10. Infanterie-Division aus den am Vortage sieg-
reich behaupteten Stellungen findet man schon einen An-
satz von Unglauben an die Möglichkeit, am 5. Juli das zu
erreichen, was ihr der 4. Juli versagte. Dies ist das erste
Anzeichen des beginnenden Rückzuges unsrer 1. Armee.
Gehen wir nun zu den Operationen der in der Mitte be-
findlichen 15. Armee über. Im Laufe des 5. Juli geht sie
ungemein langsam vor, viel langsamer als am Vortage, wo-
bei schon der 4. Juli in bezug auf die von der Armee zu-
rückgelegte Strecke keine Höchstleistung bot. Auf der
Skizze Sergiejews sehen wir sie mit ihren südlichen Divi-
sionen (11. und 33. Schützen-Division) einige Kilometer
jenseits der Mniuta, die sie am Vortage erreichten. Die
Nordgruppe aber (54. und 16. Schützen-Division) erreichte
an diesem Tage die Mniuta, ohne sie zu überschreiten. In
den Angaben unsrer Truppen, die gegen die 15. Armee
kämpften, fand ich keinen genügenden Grund, der diese
Erscheinung erklären könnte. Trotzdem der letzte Befehl
unsrer 1. Armee vom 4. Juli weitere Gegenangriffe zwecks
Erreichung des bisherigen Zieles anordnet, führen unsre
Truppen von Morgengrauen an lediglich Nachhutkämpfe
aus und bereiten sich eigentlich zum Rückzug vor. Einige
Gruppen erwähnen bloß Artilleriekämpfe, die den Rückzug
deckten, und nur die nördlichste Gruppe, ein Teil der
10. Infanterie-Division in Luzki, auf welche die nördlichste
54. Schützen-Division der 15. Armee stoßen mußte, erwähnt
schwere Kämpfe am Nachmittag des 5. Juli am Ostufer der
Mniuta.
Das gleiche sehen wir bei der benachbarten 3. Sowjetar-
mee, die nach den gewaltigen Angriffen des Vortages lang-
sam vorzugehen beginnt und keine Eile zwecks Erreichung
80
DAS JAHR J920
des ihr anbefohlenen Sedan-Zieles zeigte. An diesem Tage
macht sich längs des ganzen langen Kampffeldes eine
Kampfkrise, gepaart mit beiderseitiger Entschluß- und
Energielosigkeit, bemerkbar.
Die Initiative ergriff schließlich unsre Seite. Gegen Mit-
tag befahl der Führer der 1. Armee nach Rücksprache mit
dem Oberbefehlshaber der Front den Rückzug. Der erste
Punkt seines Befehls lautet: „Die Lage an der Front der
1. Armee erfordert ihr Zurückgehen, ein Sich-Loslösen vom
Gegner und die Durchführung einer Umgruppierung längs
einer neuen Linie, um zu einer Gegenhandlung überzuge-
hen.“
Bei der damaligen Lage erreicht jener Befehl nicht alle
Truppen gleichzeitig, und die nördlichste Gruppe unter
Befehl des Generals Zeligowski erhält ihn überhaupt nicht.
Als erster erhält ihn um 13 Uhr 45 General Rzadkowski in
Dokszyce und befiehlt seinen Divisionen, der litauisch-weiß-
russischen und 11. Infanterie-Division, sich vom Gegner los-
zulösen und in südwestlicher Richtung auf Molodeczno zu-
rückzugehen. Das Ausführen dieses Befehls durch die
Gruppe des Generals Rzadkowski öffnet ab mittag des
5. Juli den Truppen der ganzen 3. Sowjetarmee und dem
Südteil der 15. Armee, der bisher am weitesten nach We-
sten vorgedrungen war, alle Marschwege nach Westen. Bei
der weiter nordwärts kämpfenden Gruppe des Generals
J^drzejewski erhielten ihre einzelnen Teile den Rückzugs-
befehl zu verschiedenen Zeiten. General J^drzejewski selbst
behauptet, er hätte den Befehl erst am späten Abend des
5. Juli bekommen. Diese Gruppe, zu der die 17. Infanterie-
Division, die 7. Posener Reserve-Infanterie-Brigade und
eine Brigade der 5. Infanterie-Division gehörten, befand
sich eigentlich seit dem Morgen in vollem Rückzug in der
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG 81
für sie natürlichen Richtung direkt gegen Westen, längs
der Hauptstraße Gl^bokie—Dunilowicze und weiter über
Postawy—Swiejciany oder Öwir—Michaliszki auf Wilno.
Den Rückzug deckten schwache Nachhuten und Artillerie.
General Jejdrzejewski war gerade mit der Vorbereitung die-
ses Rückzuges und der Marschregelung zahlreicher Trains
auf Dunilowicze beschäftigt, als ihn dort am Abend der Be-
fehl erreichte. Der in dieser Richtung bereits vorbereitete
Rückzug wäre wahrscheinlich der ganzen Gruppe recht
leicht geworden und hätte den von General Zeligowski be-
fehligten nördlichsten Teil unsrer Armee, der noch bei
Luzki und Hermanowicze kämpfte, nicht in einer so gänz-
lich vereinsamten Lage gelassen. Doch der Befehl General
Szeptyckis wollte es anders. Er verstieß gegen die wirk-
liche Lage und befahl der ganzen Gruppe des Generals
Jejdrzejewski, nach Süden auszuweichen, um den Flügel
unsrer 4. Armee zu decken, die soeben ihren freiwilligen
Rückzug antreten sollte. So sollte die in den bisherigen
Kämpfen am stärksten verbrauchte Gruppe des Generals
J^drzejewski am hellen Tage ein überaus schwieriges Ma-
növer, einen Flankenmarsch längs der Front des bisher
siegreichen Feindes ausführen. Statt die Fühlung mit dem
Feinde abzubrechen, wie dies ein Punkt des schriftlichen
Befehls besagte, was sich nur durch schnelle Rückwärts-
bewegung bewerkstelligen läßt, mußte sie auf komplizierte
Weise ihre natürliche Marschrichtung ändern und eine
neue Fühlungnahme mit dem Gegner versuchen, dem sie
sich von Stunde zu Stunde näherte. Der Hauptteil der von
General J^drzejewski befehligten Kräfte mußte nämlich
zwecks Ausführung der erforderten Schwenkung in süd-
östlicher Richtung marschieren, also dem Feinde zu. Wenn
je im Laufe dieser zwei Kampftage dieser Teil unsrer Ar-
6 Pilsudski II
82
DAS JAHR \ 920
mee der von Tuchatschewsky erhofften Zermalmung, Zer-
streuung und Vernichtung ausgesetzt war, so war dies ge-
rade in den Nachmittags- und Abendstunden des 5. Juli
der Fall, als er in der Ausführung dieses merkwürdigen
Manövers begriffen war und überdies den Rest unsrer Ar-
mee, den bisher siegreichen General Zeligowski schwächte.
Als Beispiel führe ich einen kurzen Bericht über das auf
diese Art manövrierende 1. Bataillon des zur 17. Infan-
terie-Division gehörenden 69. Infanterie-Regiments an, das
als letztes Gl^bokie verließ. Der Abmarsch erfolgte am
Nachmittag des 5. Juli. Das Bataillon marschierte auf dem
Landweg Glebokie—Porpliszcze und befand sich durch
fast 20 Kilometer hindurch unter Artillerieweitfeuer aus
östlicher Richtung. Natürlicherweise riß das Bataillon im
Galopptempo aus. Nach Verlassen von Glebokie am Nach-
mittag erreichte es schon gegen Abend Porpliszcze und hatte
bereits über 20 Kilometer hinter sich. Trotzdem marschierte
es noch in der Nacht einige Kilometer bis Paraf janowo. Ge-
neral Jedrzejewski geriet infolge seiner widernatürlichen
Rückzugsrichtung in eine sehr üble Lage, da er seine Trains
bereits in westlicher Richtung geschickt hatte und jetzt die
Truppen nach Südosten abdrehen mußte. Er behauptet in
seinem Bericht, daß seine Truppen dadurch größtenteils
ohne Troß blieben und in manchen Fällen sogar der Feld-
küchen entbehrten.
Wenn dieser unglückliche Befehl unsre Lage im Nor-
den nicht festigte, so wurde die ganze Gruppe des Generals
J^drzejewski dennoch zweifellos durch nichts anderes als
die früher erwähnte Untätigkeit des Feindes gerettet. We-
der der Südteil der 15. Armee noch die 3. Armee versu-
chen die Lage auszunützen und gestatten bei hellichtem
Tag am Nachmittag des 5. Juli den Vorbeimarsch der un-
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
83
vorsichtigen Gruppe des Generals J^drzejewski längs ihrer
Front. Sie strafen ihn bloß hie und da für sein unvernünf-
tiges Manöver mit Artillerieweitfeuer. Der Bankrott des
Sedanvorhabens feiert hier seinen Triumph.
Noch eigenartiger ist die Art, wie die Gruppe des Gene-
rals Zeligowski, die sich am weitesten im Norden befand
und dem Sedanschicksal am stärksten ausgesetzt war, die-
sem Sedan entging. Bis zum Abend des 5. Juli schlägt sie
sich von allen Gruppen der 1. Armee am besten und teilt,
wie dies hei Mißerfolgen gewöhnlich der Fall ist, das Los
der Tapfersten, da sie in die schwerste Lage gerät. Über-
dies erreicht sie der Rückzugsbefehl überhaupt nicht. Sie
fühlt nur, daß rings um sie etwas Ungewöhnliches vorgeht.
Hinter ihrem rechten, südlichen Flügel, der am Ostufer der
Mniuta hei Luzki angegriffen wird, verschwindet unsrer-
seits jeder Widerstand. Die Truppen der 10. Infanterie-Di-
vision, die hier den angreifenden Gegner siegreich abweh-
ren, haben schon gegen Abend feindliche Patrouillen und
kleinere Abteilungen im Rücken. An der ganzen Front der
10. Infanterie-Division an der Mniuta und an der Front der
8. Infanterie-Division um Pohost fühlt man überdies den
Druck herannahender größerer Kräfte der feindlichen
4. Armee Sergiejews. In dieser Lage beschloß General Zeli-
gowski, den Rückzug in der Nacht zum 6. Juli mit dem
Ziel anzutreten, sich der Gruppe des Generals J^drzejew-
ski zu nähern, die er im Rückzug im Raume von Dunilo-
wicze vermutete. Der nächtliche Marsch war schnell aber
beschwerlich. Ohne Verfolgung und Druck von seiten des
Feindes sammelte General Zeligowski am Morgen des
6. Juli die ganze 10. Infanterie-Division in der Gegend von
Mosarz, während die 8. Infanterie-Division nach ihrem
langen Marsch von Szarkowszczyna noch weiter südwärts
84
DAS JAHR \ 920
rückte*). General Zeligowski stieß hier auf eine gänzliche
Leere — weder Feind noch eigene Truppen. Infolge dieser
Leere beunruhigt, rückte General Zeligowski nach kurzer
Rast nach Dunilowicze, das er gegen Abend erreichte, ohne
auf den Feind zu stoßen und ohne irgendeinen Druck feind-
licherseits zu spüren. Ähnlich bewegte sich etwas weiter
westlich die 8. Infanterie-Division ufnd nahm unmittelbar
auf Postawy Richtung. Zwei Divisionen marschierten den
ganzen Tag durch in einer Leere — weder dem Feind noch
eigenen Truppen begegnend. Hie und da holte man wahr-
scheinlich einen verspäteten Trainsoldaten ein, der seine
ermüdeten Pferde in westlicher Richtung antrieb. Hie und
da lag im Straßengraben ein zerbrochener Wagen oder ein
eingehendes Pferd, gewöhnliche Anzeichen vergangener
Kriegsstürme bei schnellen Rückzügen. Die dortigen Ein-
wohner behaupteten wahrscheinlich, daß unsre Truppen
schon vor langer Zeit durchmarschiert seien, der Feind aber
noch nicht da sei. General Zeligowski stellte sich sicher-
lich an diesem Tage hunderte Mal die Frage, wo unsre
Truppen und wo der Feind seien. Von Norden, von der
Armee Sergiejew fühlte er während der zwei Kampftage
keinen Druck. Er kämpfte zwei Tage, die Front gegen Osten
gewendet; mit solcher Front kämpfte auch die ganze 1. Ar-
mee. Er fühlte, daß dort etwas Nachteiliges vorging, daß,
während er noch am Vorabend bei Luzki und unweit Her-
manowicze kämpfte, im Süden der Kampf ahflaute und
infolgedessen sein rechter Flügel gefährdet war. Nun mar-
schierte er nach Süden und defilierte vor der Front des
Gegners, falls dieser in westlicher Richtung vorrückte, in
der sich sein Angriff entwickelte. Inzwischen drohte ihm
gerade aus dieser Richtung den ganzen Tag nicht das min-
p) Siehe Karte 4.
DIE JULIOFFENSIVE. DER SGHÜTZENGRABENKRIEG
85
deste. Es ist daher verständlich, daß er am Abend und wäh-
rend der unruhigen Nacht in Dunilowicze über seine Lage
nachdachte und zur Einsicht kam, daß er sich eigentlich im
Rücken des Feindes befinde, der mit seiner ganzen Masse
in südwestlicher Richtung — auf Molodeczno vorging. Er
hatte doch den ganzen 6. Juli und einen großen Teil des
5. Juli zu seiner Verfügung gehabt.
Derart seltsame Lagen hatte die mißlungene Sedan-Ope-
ration verursacht. Eine starke Gruppe, die ein Drittel uns-
rer Armee bildete, der man dieses Sedan vorbereitete, die
überdies den Folgen eines solchen Vorhabens am meisten
ausgesetzt und in ihrem Marsche am stärksten verspätet
war, sieht sich plötzlich einen vollen Tag hindurch frei
wie ein Vogel, frei in der Wahl ihrer Marschrichtung und
in ihren Entschlüssen unbehindert. Wenn schon der Vor-
beimarsch des Generals J^drzejewski ein sichtbarer Banke-
rott des Sedanvorhabens bedeutet, so steht General Zeli-
gowski mit seinen beiden Divisionen in so krassem Wider-
spruch dazu, daß es manchmal schwer erscheint daran zu
glauben, daß so ein Plan und so ein Vorhaben bei Tucha-
tschewsky je bestand.
General 2eligowski befragte mich später mehrmals um
meine Meinung bezüglich seines Entschlusses, weiter gegen
Westen zurückzugehen, da er lange mit diesem Entschluß
zögerte. Er meinte nämlich, er hätte vielleicht eine so un-
gewöhnliche Lage im Rücken des Feindes ausnützen sol-
len, um mit Hilfe seiner guten Truppen einen Schlag in
den Rücken des Feindes auszuführen und dort Verwirrung
anzurichten. Als Mitte dieses Rückens betrachtete er da-
mals den bedeutendsten Ort der Umgebung: Gl^bokie. Die-
ser Gedanke verfolgte General Zeligowski unaufhörlich
während des 6. Juli. Trotzdem alle Versuche zu ermitteln,
86
DAS JAHR \ 920
„was geschehen wäre, wenn es so geschehen würde64, histo-
risch wertlos sind, besitzt die Analyse ein Recht dazu. Denn
solche Versuche vertiefen die Analyse und heben die Be-
deutung der einzelnen Truppenbewegungen und den Ein-
fluß der Befehle der Führer hervor. Deshalb will ich mich
ein wenig bei dieser eigenartigen Lage aufhalten, in der
sich General ZIeligowski befand und in der er am 6. Juli die
Möglichkeit besaß, seine Handlungs- und Entschlußfreiheit
voll auszunützen. Ich berufe mich dabei auf das Recht des
Analytikers und verschiebe den Entschluß von Dunilowicze
nach Mosarz, wo General Zeligowski rastete und nach Ver-
lassen der Wälder längs der Dzisna zum erstenmal die ihn
umgebende Leere empfand. Meine Vermutung bildet keine
Unmöglichkeit, denn General Zeligowski konnte ebenso in
Mosarz und Umgebung wie in Dunilowicze mit der Fas-
sung seines Entschlusses zögern. Er war hier wie dort in
der gleichen Lage, und der Marsch nach Dunilowicze
konnte ihn nur in der Meinung bestärken, daß er sich im
Rücken des Feindes befinde.
Um die Lage zu analysieren, will ich vor allem General
Zeligowski von jedwedem Druck von seiten der 4. Armee
Sergiejews befreien. Die Divisionen Sergiejews erreichten
erst am Abend des 6. Juli höchstwahrscheinlich mit ihrer
Vorhut die Linie Mosarz—Szarkowszczyna. So bot also der
6. Juli General ZIeligowski von dieser Seite unbedingte Frei-
heit. Wenn nun General ZIeligowski nach längerer Rast bei
Mosarz, die seine Division sicherlich benötigte, ungefähr
gegen Mittag sich entschlossen hätte, in den vermeintlichen
Rücken des Feindes auf Gl^bokie vorzustoßen, was hätte
er dort angetroffen? Von Mosarz bis Gl^bokie hatte er
ungefähr 20 Kilometer. Der Marsch würde also bei verhält-
nismäßig geringen Sicherungsmaßnahmen ungefähr 5 Stun-
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
87
den gedauert haben. Gegen 5 Uhr würde er in der Ge-
gend von Gl^bokie gewesen sein. Dort hätte er eine kleine
Kavalleriegruppe — die Kuban-Brigade — angetroffen,
die nach Sergiejew zu jener Zeit nicht besonders tapfer war
und nur ungern sich in Kämpfe verwickelte. Außerdem
wäre von Norden, von Luzki, die 54. Infanterie-Division,
die sich im Reisemarsch bewegte, mit ihrer Vorhut oder
einer größeren Kolonne herangekommen. Dies wäre wohl
die gleiche Division gewesen, die am Vortage erfolglos Ge-
neral Zeligowski auf seinem rechten Flügel hei Luzki an-
gegriffen hatte. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß
General Zeligowski in diesem Falle viel Aussicht hatte, die
feindliche Division in ihrem Marsch zu überraschen und
so das große Manöver zu durchkreuzen, das an diesem
Tage die 15. Armee ausführte. Die erwähnte Division bil-
dete die rechte Flügeldivision der 15. Armee und schwenkte
im Sinne der Grundidee und der Befehle Tuchatschewskys
an diesem Tage als rechter Arm der Armee in 30 Kilome-
ter langem Marsch ein, indem sie von Luzki an ihre
Marschrichtung von Westen auf beinahe Süden änderte.
Auf der Skizze Sergiejews sehen wir sie am Abend des
6. Juli in Gl^bokie, auf dem rechten Flügel der 15. Armee.
Auf Grund einer Anmerkung Sergiejews auf S. 59 darf ich
vermuten, daß die 15. Armee gerade an diesem Tage ihre
neue Gruppierung annahm, die es geradezu unmöglich
machte, daß General Zeligowski gegen Abend des 6. Juli
im Raume von Glqbokie etwas außer der 54 Infanterie-Di-
vision angetroffen hätte. Er schreibt nämlich, daß sich die
15. Armee nach der Schlacht zu weiteren Manövern stark
massierte, und fügt hinzu: „Von Glehokic noch hatte die
Armee die 54., 33. und 11. Infanterie-Division in der ersten
Linie. In der zweiten Linie hingegen befand sich die 4. und
rKd*»rr!fin
88 DAS JAHR \ 920
16. Infanterie-Division.44 Da nun die 54. Infanterie-Divi-
sion am Flügel in Gl^bokie stand, mußten sich die 33. und
11. Division weiter östlich in der Gegend der Bahnlinie
Polock—Molodeczno sammeln und waren außerstande, der
54. Division vor Anbruch der Nacht des 6. Juli irgendwie
zu Hilfe zu kommen. Die 16. Division mußte dagegen be-
deutend weiter rückwärts sein und konnte ebenfalls vor
Anbruch der Nacht auf die Lage keinen Einfluß ausüben.
Ich behaupte keineswegs, daß General Zeligowski auf
diese Weise die Lage wesentlich zu unsren Gunsten geän-
dert hätte, doch hätte dies unbedingt den Verlust wenig-
stens des halben nachfolgenden Tages, vielleicht selbst eines
Tages mehr, für das Manöver des Gegners erfordert.
General Zeligowski hätte nach diesem kurzen Schlag, nach
Feststellung, daß er sich keineswegs im Rücken des Gegners
befände, ganz ruhig sich auf den Madziol-See zurückziehen
können, dem er sich am folgenden 7. Juli sowieso ohne
Druck feindlicherseits näherte. Nach Sergiejew erreicht
seine 18. Infanterie-Division den Madziol-See erst am Abend
des 10. Juli. General Zeligowski hätte also genügend Zeit zu
seinem Rückzug gehabt.
Ich habe deshalb die Aufmerksamkeit des Lesers auf diese
charakteristische Episode gelenkt, weil sie die Lage beider
am 6. Juli noch kämpfenden Seiten gut hervorhebt, wäh-
rend die Kämpfe überall abflauen. Es ist dies jener Tag,
an dem der Feind nach seinem mißglückten Sedan ohne
Fühlung mit uns seine Umgruppierung begann. Dieser Tag
wurde uns ebenfalls für unser Manöver sozusagen ge-
schenkt.
So wurden die Kämpfe des 4., 5. und 6. Juli abgeschlos-
sen. Sie brachten den Beginn neuer Mißerfolge an der
Nordfront mit sich, die erst anderthalb Monate später in
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
89
unsrem Sieg bei Warschau ihr Ende fanden. Die Folgen die-
ser Kämpfe auf unsre Truppen machten sich so lange und*
so stark fühlbar, daß es uns nur mit Hilfe außergewöhn-
licher Kraftanstrengung gelang, sich von ihnen zu befreien.
Merkwürdig muß dies erscheinen, da doch — wie ich dieses
bewies — jene Kämpfe nicht mit einem entscheidenden
Sieg des Feindes abgeschlossen waren. Im Gegenteil, seine
Absicht, unsre 1. Armee zu umkreisen und möglichst voll-
ständig zu vernichten, mißlang vollständig, denn beide Flü-
gel (4. und 3. Armee) wurden verhältnismäßig leicht in
ihrer Bewegung angehalten. Tatsache bleibt jedoch, daß
unsre Truppen nach diesem Teilsieg fast ohne Widerstand
unaufhörlich und immer schneller zurückgehen und einen
Monat später an den fast 600 Kilometer rückwärts liegen-
den Toren der Hauptstadt anlangen. Die Beschreibung der
Kämpfe allein und meine bisherige Analyse dieser Schlacht
geben darüber keine genügende Aufklärung. Die Ursache
erscheint zu klein im Vergleich zu ihren ungeheuren Fol-
gen, und der Verstand wird unwillkürlich gezwungen, tiefer
und ferner zu suchen. Suchen wir vorerst beim Feind.
Tuchatschewsky dachte weniger über diese Schlacht nach.
Er betrachtet sie als eine Episode und erwähnt seinen
Grundplan gar nicht, dessen Erklärung ich hei Sergiejew
erläutert fand. Er scheint über sich selbst und seine Trup-
pen vollkommen zufrieden zu sein und behauptet ruhig ent-
gegen allen Tatsachen, daß alle Aufgaben seiner Armee in
den anbefohlenen Zeiträumen erfüllt worden sind. Sergie-
jew widerspricht diesem durchaus. Die Operationen sei-
ner 4. Armee erwähnt er nicht auf so lobenswerte Weise,
und am Ende seines Buches führt er seinen Befehl vom
7. Juli als Beilage an, in dem er seinen Untergebenen
einen scharfen Verweis erteilt. Bemerkenswert sind einige
90
DAS JAHR \ 920
Abschnitte dieses Verweises: „Das Kommando der 164. Bri-
gade wies Mangel an Unternehmungsgeist und Entschlossen-
heit auf. Den ganzen Tag hindurch trippelt sie an derselben
Stelle herum unter dem Vorwand, keine Befehle erhalten
zu haben, und hält so die Bewegung der 53. Division auf.
Die letztere verließ den Raum von Szarkowszczyzna mit
einer Verspätung von 24 Stunden und trippelte ebenfalls
den ganzen 5. Juli hindurch an einer und derselben Stelle,
wobei sie 5 Regimenter in Reserve hatte. Nach Einnahme
von Szarkowszczyzna rückte die 53. Division aus unbekann-
ten Gründen auf Stukany, das heißt in den Rücken der
12. Division.66 Etwas weiter fügt Sergiejew scharf hinzu:
„Ich fordere, daß die stete Angst um die Flügel aufhört und
daß man aufhört, den Kampfgeist des Gegners in Betracht
zu ziehen. Ich dulde es nicht weiter, daß einzelne Kompa-
nien des geschlagenen Gegners, die noch nicht Zeit hatten
zu fliehen, für frische Regimenter gehalten werden, deren
angebliche Bedrohung die Bewegung ganzer Divisionen
unsrerseits aufhält.66 So schreibt der wahrheitsliebende Ser-
giejew über den 5. Juli, an dem unsre sozusagen „zer-
sprengte66, „vernichtete66 und „zermalmte66 8. Infanterie-
Division alle Sedan-Versuche aus dem Norden vereitelte.
Was den andren, südlichen Flügel betrifft, so besetzte die
3. Armee nach Tuchatschewsky befehlsgemäß am 5. Juli
Dokszyce, am 6. Juli Parafjanowo. In Wirklichkeit aber
hielt der Widerstand der litauisch-weißrussischen Infante-
rie-Division die 3. Armee so lange auf, daß der Raum von
Parafjanowo, wie dies Sergiejew auf S. 52 feststellt, erst
am 8. Juli von ihr erreicht wurde, also zu jener Zeit, da
unsrerseits dort nurmehr Nachhutpatrouillen sein konnten.
Für Tuchatschewsky bestehen diese Tatsachen nicht. Er
ist sicher, daß er den Feind vernichtet und zermalmt hat,
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
91
und dies ersetzt ihm wahrscheinlich das mißglückte Sedan.
Wie wenig sich Tuchatschewsky darüber orientiert, was er
und seine Truppen leisteten, kann man aus seinem Befehl
ersehen, den er in Smolensk am 7. Juli um 9 Uhr 40 mor-
gens erließ. Die Angaben über den Gegner faßt er kurz in
den ersten Worten dieses Befehls zusammen: „Die Haupt-
kräfte des völlig geschlagenen Gegners fluteten in Auf-
lösung auf Postawy zurück/6 (Sergiejew, S. 122, Beilage 10.)
Wir wissen inzwischen, daß die Hauptkräfte der 1. Armee
leider in dieser natürlichen Richtung nicht zurückgingen,
da sie am Nachmittag des 5. Juli auf Befehl des Generals
Szeptycki in ganz andrer Richtung auf Parafjanowo und
Molodeczno zusammengezogen wurden. In der Richtung Po-
stawy aber, um den Stil meines Gegners heizubehalten, zo-
gen lediglich, und dies zufällig, zwei Divisionen: die 10.
und 8. Infanterie-Division, deren Befehlshaber General Ze-
ligowski, frei von jeglichem Druck seitens des Feindes, eine
Zeitlang beabsichtigte, zur Offensive gegen dessen Truppen
überzugehen.
Auf Grund dieser irrigen Angaben über unsre Lage be-
fiehlt Tuchatschewsky der schwächsten seiner Armeen, die
durch Kavallerie verstärkt wird, die Verfolgung des völlig
geschlagenen und zersprengten Gegners in der Richtung
Postawy und Wilno. Seine Hauptkräfte hingegen, die 15.
und 3. Armee, vereint er zu einer stark geballten Faust, die
er von der verfolgenden 4. Armee gegen Süden wendet, um
den Sieg zu vollenden und den Rest unserer an dieser Front
befindlichen Kräfte, unsre an der Berezyna stehende 4. Ar-
mee, zu „zermalmen66 und zu „vernichten66. Sie soll nun
frontal von der 16. Armee und dem Hauptteil der Mosyrz-
gruppe angegriffen werden, welche auf Bobrujsk vor-
dringt und Richtung auf Sluck nimmt; auf ihren linken
92
DAS JAHR \ 920
Flügel wurde bereits am 6. Juli die 3. Armee gerichtet. Die
am besten ausgerüstete und stärkste 15. Armee aber mar-
schiert als Hauptreserve, ähnlich der alten Garde Napole-
ons, in der Richtung auf Molodeczno, um den letzten Wi-
derstand zu brechen, falls er noch geleistet werden sollte.
Wenn ich alle diese Operationen und die Tätigkeit unsres
Gegners im Laufe der ersten Tage der auf Warschau ab-
zielenden Operation erwäge, kann ich in ihnen nichts fin-
den, was die große Bedeutung dieser Kämpfe und den Man-
gel an einem ernsteren Widerstand ihnen gegenüber bis vor
Warschau rechtfertigen könnte. Wenn ich an diese Kämpfe
denke und sie analysiere, kann ich bei den Sowjettruppen
eine gewisse Scheu und den Mangel an festem Entschluß
nicht übersehen. Trotz der ungeheuren Überlegenheit, die
besonders an den Flügeln hervortritt, „trippeln66 die feind-
lichen Divisionen wirklich „zu oft auf der Stelle herum66,
ohne ihre Übermacht und die unleugbaren taktischen Siege
auszunützen. Ich glaube nicht irrezugehen, wenn ich ver-
mute, daß diese Scheu vor der Qualität des Gegners, die
Tuchatschewsky ausschließlich seiner 16. Armee zuschrieb,
Sergiejew hingegen, wie wir es sahen, nach dem Maimiß-
erfolg auch auf andre Divisionen, besonders auf die Flügel-
armeen — die 3. und 4. Armee — ausdehnte, während der
Kämpfe anfangs Juli noch stark nach wirken mußte. Wir
werden sehen, wie die Sowjet Soldaten in kurzer Zeit lernen,
uns wie eine kampfunfähige Masse zu mißachten. Doch an-
fangs Juli besteht noch jene Scheu. Die auserwählte, aus
besten Divisionen zusammengesetzte 15. Armee selbst, die
bisher ihre Degen mit uns nicht kreuzte, bleibt nach den
unleugbaren Erfolgen des 4. und 5. Juli in Untätigkeit ste-
hen, während unsre Truppen zurückgehen. Vielleicht wit-
terte sie einen Hinterhalt und erwartete ein unerhofftes
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
93
und bei uns Polen bisher meistens angewandtes Manöver?
In allem fühlt man noch unsre bisherige moralische Über-
legenheit. Den auf der Stelle hin und her trippelnden Divi-
sionen stehen noch die Wahnbilder der früheren Nieder-
lagen und Mißerfolge im Wege, so daß die Truppen den
übertriebenen, aus agitatorischer Publizistik geschöpften
Bezeichnungen ihrer Führer keinen Glauben zu schenken
scheinen. Beim Gegner also finden wir nicht die Erklärung
für die große strategische Bedeutung des taktischen Miß-
erfolges, den wir in den Tagen des 4. und 5. Juli erlitten
haben. Suchen wir sie also bei uns.
Ich erwähnte früher schon, daß unsre Führer während
der Kämpfe des 4. und 5. Juli ihren Untergebenen die Er-
haltung der damaligen Stellungen als Ziel setzten, wo diese
aber vom Feinde eingedrückt wurden, sollte „die frühere
Lage erreicht werden66. Die letzten Worte versah ich mit
Anführungszeichen, da sie sich so oft in Telegrammen,
Meldungen und Befehlen wiederholen, daß sie gleichsam
einen gedanklichen Kehrreim der Kampfmusik jener Tage
bilden. Bezeichnende Worte! Es scheint, daß dieser elende
Erdstreifen einen verlorenen Schatz bildet, um den man alle
Kräfte anspannen muß. War es nun der Meinung der Be-
fehlshaber nach wirklich so? Wenn ich ein ums andre Mal
die militärische Bewertung dieses Terrainstreifens nach-
lese, finde ich ein gerade umgekehrtes Urteil. Jeder Befehls-
haber klagt in seinen Berichten über verschiedene Nachteile.
Der eine behauptet also, daß infolge von Sümpfen längs
der Front Verkehrsschwierigkeiten bestanden, wogegen diese
Sümpfe bei trockenem Wetter für den Feind kein genügen-
des Hindernis bildeten. Der andre wieder behauptet, daß
das Schußfeld infolge vieler Sträucher sehr beschränkt war
und der Feind sehr leicht näherkommen konnte. Selbst das
94
DAS JAHR \ 920
unglückliche Flüßchen Auta, nach der die Hauptbefehls-
haber die Schlacht selbst benennen, erfuhr eine bissige Kri-
tik in einem ihrer Berichte. General J^drzejewski, der die
Mittelgruppe befehligte, schreibt: „Wenn auch das Auta-
Flüßchen auf den ersten Blick (auf der Karte) als Hinder-
nis gewisses Vertrauen erwecken konnte, so besaß dieser
winzige Bach in Wirklichkeit für die Verteidigung gar kei-
nen Wert.64 Einzig vielleicht General Ledochowski, der Füh-
rer der 11. Infanterie-Division, äußert sich nicht abweisend
über diesen verlorenen Schatz. Er stellt in seinem Bericht
kurzhin fest, daß die Position gut und wohl zu halten war.
Alle andren, einschließlich der höheren Befehlshaber —•
wie General Zygadlowicz, der Führer der 1. Armee, und
General Szeptycki, der Oberbefehlshaber der Front — be-
haupten einstimmig, daß die Positionen, in denen man die
Schlacht angenommen hatte, für unsre Kräfte zu ausge-
dehnt und bei dieser Ausdehnung nicht ausreichend mit Ar-
tillerie versehen waren. Es entsteht nun die natürliche
Frage, wozu man eigentlich „die Erreichung der früheren
Lage66 den fast zweitägigen Kämpfen zum Ziel setzte? Wenn
diese Positionen nicht gut waren, konnte man doch verhält-
nismäßig leicht andre finden, die, wenn sie schon nicht die
besten waren, so doch die gleichen oder ähnlichen Fehler
aufwiesen, und in denen man sich gleich gut oder sogar bes-
ser schlagen konnte. Wozu hält man zäh an einer unbeque-
men Position fest, die vom Feind wiederholt mit Über-
macht angegriffen wird?
Wenn von Positionen die Rede ist, um die man kämpfte,
so führt dies jeden, der mit der Kriegsgeschichte vertraut
ist, zum sogenannten Stellungskrieg. Als Position bezeich-
nen wir diesen oder jenen Landstreifen, der infolge seiner
Gestaltung dem Verteidiger möglichst viel Vorteile gegen-
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
95
über dem Angreifer gewährt. Eine Zeitlang im Laufe der
Kriegsgeschichte suchte die Kriegskunst nach Positionen, in
denen die Truppen ruhiger den Kampf annehmen könnten.
Doch die Kriegserfahrungen widersprachen derartigen Ge-
dankengängen, da der Feind solche Positionen gewöhnlich
umging und gar nicht erst versuchte sie zu erobern. Als
schließlich der Schützengraben fast jeden Erdstreifen fe-
stigte, verloren Positionen überhaupt an Wert. Nicht um
des leeren Wortes „Position“ wegen setzten also unsre Füh-
rer ihren Truppen die Wiedererreichung der verlorenen,
ihrer Ansicht nach schlechten Positionen zum Ziel. Es han-
delte sich hier um etwas andres, und wenn der Befehl an-
statt der abstrakten Weisung „die frühere Lage soll erreicht
werden“ die mehr sachlich klingende Weisung „die verlo-
renen Stellungen sollen zurückerobert werden“ enthalten
hätte, so würden wir im klaren sein, denn man kämpfte
eigentlich nur darum. Hier spielte nicht die übrigens als
schlecht befundene Position eine Rolle, die man leicht an
andrer Stelle finden konnte, sondern es ging um die lange
Linie der auf verschiedene Weise erbauten Befestigungen
und Schützengräben. Lediglich wenn wir das Endziel des
Kampfes auf solche Weise betrachten, gewinnt derselbe an
strategischer Bedeutung, anstatt bloß eine Reihe nicht
in Übereinstimmung gebrachter Einzelkämpfe ohne ein grö-
ßeres Ziel zu bilden.
Ich unterstreiche absichtlich diesen Unterschied, der mei-
ner Meinung nach zwischen Stellung und Schützengraben,
zwischen Positions- und Schützengrabenkrieg bestehen
muß. Während der Positionskrieg, wie ich ihn früher be-
zeichnete, recht lange schon der Vergangenheit angehört,
wurde der Schützengrabenkrieg, der einige Jahre lang im
Laufe des europäischen Krieges auf großen Räumen ge-
96
DAS JAHR \ 920
führt wurde, nicht nur allgemein bekannt, weil viele
Millionen Menschen an ihm teilnahmen, sondern er hatte
sogar die Menschenköpfe und Seelen umzuformen und
eine besondere militärische Sprache zu schaffen vermocht.
Bei Beginn des europäischen Krieges 1914 gehörte der
Schützengraben ausschließlich in das Gebiet der Taktik, er
bildete eine eigene Kampfweise. Jeder Soldat trug neben
dem Gewehr einen Spaten, der einen wesentlichen Teil sei-
ner Ausrüstung bildete. Er mußte, sei es in der Verteidi-
gung, sei es beim Angriff, seinen Spaten als Kampfmittel
benützen. Während der gewaltigen Bewegungen und Manö-
ver, die den vierjährigen ungeheuren Krieg einleiteten,
wurde der Schützengraben überall — sei es beim Angriff,
sei es in der Verteidigung — angewendet. Nirgends aber setzte
man ihn zum Ziele großer Kämpfe, und er drang nie in das
Gebiet der Strategie ein, die diese Ziele bezeichnete. Manch-
mal gewann er dank seiner Widerstandskraft die Bedeutung
einer Position, als welche man seinerzeit besondere, von
Natur aus zur Verteidigung geeignete Geländestreifen be-
zeichnete; doch selbst damals bildete er einzig eine Epi-
sode der ungeheuren Kämpfe von Millionenarmeen, die
bis Ende 1914 auf den Hauptfaktor des Sieges — die Be-
wegung — nicht verzichten wollten.
Erst im nächsten Jahr erstarrten beide Gegner einander
gegenüber auf den Schlachtfeldern von Frankreich und
Belgien in Bewegungslosigkeit und Ohnmacht, durch eine
lange und ununterbrochene Schützengrabenlinie auf gehal-
ten. Zu jener Zeit drang der Schützengraben als unüber-
windbares Hindernis siegreich aus dem Gebiet der Taktik
in das Gebiet der Strategie ein und beseitigte ihren bisheri-
gen Hauptfaktor — Manöver und Bewegung. Als stolzer
Sieger begann er zuzunehmen, in Freuden zu schwelgen
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG 97
und wie ein Moloch von den Kriegführenden immer neue
Opfer zu heischen. Es wuchs also eine Schützengraben-
linie nach der andren aus dem Boden, es entstanden ganze
Labyrinthe, so daß ein Neuling, wenn er da hineinkam,
sich wie an einem neuen unbekannten Ort fühlte, wo man
sich ohne Plan, Wegweiser, Straßennamen und stetes Um-
herfragen verirren mußte. Der Schützengraben forderte
vom täglichen Leben des Menschen Opfer. Die Soldaten
bildeten ihn zu ihrer Wohnung aus und suchten ihn unter
großen Anstrengungen bequem und zur Arbeit und Ruhe
geeignet zu machen. Den Forderungen dieses neuen Kriegs-
gottes opferte man alles, was das kriegführende Land zu
seiner Verfügung hatte. Der Ingenieur also, nicht der arm-
selige Infanterist, wandte dort sein technisches Wissen an
und viele Fabriken lieferten ungeheure Mengen von Bau-
material, die der Schützengraben verschlang. Wie in einer
Großstadt liefen Drahtlinien in allen Richtungen und ver-
banden Stäbe und Führer, Lager und Magazine, Spitäler
und Stallungen. Der Schützengraben nahm zu, festigte
mit jedem Monat seine Macht und vernichtete immer
gründlicher die Kraft der Bewegung und des Manövers des
bisherigen Siegers im Kriege. Im Laufe dieses mehrjähri-
gen Schützengrabenkrieges bildete sich bei Soldaten und
Führern eine besondere Psychologie aus, die erstens mit
dem Militärbauwesen spezieller Art, das Massen von Bau-
material verbrauchte, und dann mit der Mechanisierung
eines großen Teiles der Kampftätigkeiten eng verbunden
war, wie dieses gewöhnlich bei einer Anhäufung von gro-
ßen Menschenmengen zu engem Zusammenleben und Zu-
sammenarbeiten für ein gemeinsames Ziel auftritt. Man
focht damals mit größter Kräfteanspannung um Teilchen
des Schützengrabenlabyrinths und bezeichnete das Über-
7 Pilsudski II
98
DAS JAHR \ 920
schreiten eines halben Kilometers dieses neuen, bisher un-
bekannten Hindernisses als Sieg. Man erkaufte diese Siege
mit großen Menschenverlusten und noch größeren Verlu-
sten an kostbarem Kriegsgerät. Damals, während jenes
Schützengrabenkrieges, der Bewegung und Manöver soweit
beschränkt hatte, begann sich die Strategie bescheidenere
Kampfziele als früher zu setzen, und damals bedeutete die
„Erreichung der früheren Lage46 eine Wiedereinnahme der
vom Feinde eroberten Schützengräben, die wie ein verlo-
rener Schatz geachtet waren.
Der Krieg im früheren Sinne des Wortes begann zu ver-
schwinden, und lange Zeit hindurch schienen alle Versuche
und Anstrengungen der besten Köpfe, den ehemaligen Sie*
ger mit Triumph in die Strategie wieder einzuführen,
fruchtlos. Der große Feldherr des Krieges, der große Na-
poleon, der seinerzeit mit Hilfe seines Genies die Strategie
der Linien und der uneinnehmbaren Positionen durchbro-
chen hatte, mußte sich wohl häufiger im Grabe umgedreht
haben, wenn er an das Versinken seiner Lehren und das In-
Vergessenheit-Geraten seiner glänzenden Taten denken
sollte. Während er stolz behauptete, daß er viele Kriege mit
den Beinen seiner Soldaten, durch Märsche und blitzartige
Manöver gewonnen hatte, schien der Krieg hier in frucht-
lose Anstrengungen der Industrie und des Gewerbes zu ent-
arten, welche sich mühten, die zur Führung derartiger
Kämpfe notwendigen ungeheuren Materialmengen beizu-
steuern. Man erwartete die Niederwerfung des Feindes als
Folge seiner Ermattung durch unaufhörliches Menschen-
morden und durch völlige Erschöpfung der Industrie und
des Gewerbes.
Der wichtigste Grundsatz des Schützengrabenkrieges be-
ruht also darauf, der Bewegung des Feindes ein so starkes
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG 99
Hindernis entgegenzustellen, daß er sie nur mittels gewalti-
ger Verluste an Kraft, Menschenleben und Material erkau-
fen kann. Deshalb muß jeder Versuch einer Bewegung mit
derartigen Verlusten bestraft werden und der Kampf erhält
den Charakter, den verwegenen Gegner zu überzeugen, daß
alle seine Bemühungen vergeblich sind. Auf diese Weise
wird der Schützengraben mit seiner ganzen technischen
Verwickeltheit und infolge der von ihm bewirkten Wand-
lung in den Seelen der Soldaten und ihrer Führer zum Be*
standteil der Strategie und verläßt das niedere Gebiet der
Taktik.
Wenn ich von diesem Gesichtspunkt des Schützengraben-
krieges aus unsren polnisch-sowjetrussischen Krieg zu ana-
lysieren trachte, so finde ich immer wie in meinen Erinne-
rungen so auch in verschiedenen Dokumenten Beweise von
inneren Reibungen bei unsren Truppen. Während ich als
Oberster Feldherr von Anfang an von dem Versuch ab-
sah, einen Schützengrabenkrieg zu führen, und die Un-
möglichkeit erkannte, seine Arbeitsmethoden bei uns anzu-
wenden, stieß ich immer wieder wie bei meinen Unter-
gebenen so auch bei der Bevölkerung auf den Grundsatz:
„Faites une ligne forte.66 Noch unter dem starken Eindruck
des kaum verflossenen europäischen Krieges wollten die
Leute leider zu oft in meinen Versuchen, unsren Krieg
durch Bewegung und Manöver zu beleben, ein ungenügend
entwickeltes strategisches Denken erblicken, das die ganze
Schönheit und Macht des unlängst allmächtigen Beherr-
schers der Strategie, des fetten und dickgemästeten Schüt-
zengrabens mied. Der Schützengraben aber konnte gerade
hei uns nur sehr mager und armselig sein. Er konnte weder
durch die Industrie, die es gar nicht gab, noch mittels
menschlicher Kräfteanspannung so gemästet werden, um
T
100
DAS JAHR \ 920
die nötige strategische Fettheit zu erlangen, in genügender
Weise bevölkert und in entsprechendem Leihumfang und
Bedeutung erhalten zu werden. Bis zum Jahr 1920 war
mein Einfluß so groß, daß der Schützengraben in das ihm
zugehörige Gebiet der Taktik und Kampfmethode zurück-
rückte. Unsre ständigen Siege schienen die Richtigkeit mei-
ner Ansicht zu bestätigen. Doch der Schützengraben trat
nur unwillig von seinem Thron ab. Er rächte sich, suchte
nach Vergeltung und ließ an seiner Stelle seine unzertrenn-
liche Schwester — die befestigte Linie zurück, die im steten
Widerspruch zu der von mir eingeführten Bewegung und
den Manövern war. Er rächte sich, hinterließ rings um mich
und besonders in meinem Rücken Schulterzucken, unzu-
friedenes Geflüster und stille, wehmütige Klagen über die
veralteten kindisch-romantischen strategischen Einfälle des
Obersten Feldherrn. „Faites une ligne forte!“ Das ist der
Krieg der Gegenwart, das ist die Erlösung Polens! Wie viele
schamvolle Winkel der Geschichte, die mit diesem Wider-
spruch in Zusammenhang stehen, könnte ich hier auf-
decken !
Ich kehre nun zur Analyse der Julikämpfe zurück und
bemerke, daß das von unsren Führern gesetzte Ziel der
Kämpfe des 4. und 5. Juli gerade der Psychologie und Stra-
tegie des Schützengrabens entstammte. Es sollte im Ein-
klang mit dieser Strategie dem Feind, der uns angriff, be-
weisen, daß der von uns erbaute Schützengraben unüber-
schreitbar sei, und daß, sobald er ihn betreten hatte, die
Strafe für diese Entweihung vollzogen werden müsse. Wäh-
rend ich aber die Dokumente, Befehle, Meldungen und Be-
richte durchblättere, finde ich in ihnen einen klaren
Beweis für mich, daß der der Schlacht vorangehende Zeit-
abschnitt im Zeichen der Revanche des Beherrschers der
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
101
Strategie — des Schützengrabens — gegenüber dem Ober-
sten Feldherrn stand.
Ich führe hier als Beispiel eines dieser Dokumente an,
die von Bezeichnungen und Begriffen wimmeln, die dem
Schützengrabenkrieg entnommen worden sind. Es ist dies
der Verteidigungsplan der 1. Armee. General Zygadlowicz
erhielt vom Oberbefehlshaber der Front den Befehl folgen-
den Wortlauts, daß „die gegenwärtige Linie der 1. Armee
die Hauptkampflinie bildet, deren Befestigung mit allen
Mitteln beschleunigt werden muß66. Der von General Zy-
gadlowicz anbefohlene Verteidigungsplan besagte:
„Jede Operationsgruppe sollte innerhalb ihres Abschnit-
tes die Verteidigungslinie befestigen und mit Hilfe ihrer
Artillerie und der für die erwarteten feindlichen Angriffe
bereitgestellten Reserven halten. Das automatische Zusam-
menwirken der Artillerie und der Reserven mit der Be-
satzung der ersten Verteidigungslinie findet nach bekann-
ten Grundsätzen statt, die durch Befehl Nr. 2226/III vom
1. VII. zu allgemeiner Kenntnis gegeben wurden.66 Weiter
lesen wir: „Im Falle eines feindlichen Durchbruches sollte
die für den betreffenden Abschnitt im voraus bestimmte
Reserve eingreifen, grundsätzlich jedoch nur auf Befehl des
Armee-Kommandos.66 Überdies fügt er noch am Ende hin-
zu: „Die Operations-Reserven standen so nahe, daß sie in
5—6 Stunden an jeder Stelle des betreffenden Frontab-
schnittes eingreifen konnten.66
Wenn ich jetzt das mir zu jener Zeit unbekannte Schrift-
stück lese, mit seiner „Hauptverteidigungslinie und dem
automatischen Zusammenwirken von Infanterie und Artil-
lerie66, frage ich mich erstaunt, ob dies tatsächlich der Fall
war? Gab es wirklich keine Zweifel und keine Selbstkritik
angesichts solcher Befehle? Doch, es gab solche. Hier ist
102 DAS JAHR \ 920
ein andres Schriftstück desselben Generals Zygadlowicz, der
seine Lage am 3. Juli kurz vor Beginn der Schlacht beur-
teilt. Er schreibt wie ein Professor: „Nach Weltkriegserfah-
rungen war die Kampflinie im allgemeinen genügend dicht
durch Infanterie besetzt, soweit diese Kampflinie nach der
Breite und nach der Tiefe ausgebaut ist und entsprechende
Drahthindernisse besitzt/6 Der General erwähnt aber, daß
im Weltkrieg die Breite eines Divisionsabschnittes an Fron-
ten, die von feindlichen Angriffen bedroht waren, 3—4000
Meter nicht überschritt; „indessen machte es uns die über-
mäßige Breite der Divisionsabschnitte der 1. Armee unmög-
lich, die erwünschten zahlreichen Reserven auszuscheiden
und sie genügend in die Tiefe zu gliedern66.
Ärger steht es mit der Artillerie, da doch „nach Welt-
kriegserfahrungen zur Stützung der gefährdeten Front auf
je 150 Meter Frontbreite mindestens 2 leichte und 1 mitt-
leres Geschütz notwendig sind66. Nach Berechnung des Ge-
nerals benötigt seine Armee mindestens 880 leichte Feld-
geschütze und 440 15-Zentimeter-Geschütze. „Indessen66,
klagt der General, „standen an der Kampffront ungefähr
100 leichte und 45 mittlere Geschütze.66 Weiter fügt der
General in dem erwähnten Befehl über automatisches Mit-
wirken der Artillerie mit Infanterie nach Anfuhren der Zah-
lenangaben bei Beurteilung der Lage hinzu: „Trotzdem
unsre materielle Lage uns nicht erlaubt, den oben erwähn-
ten Anforderungen zu genügen, so beweisen doch diese Zah-
len, wie schwach die Front mit Artillerie bestückt war, und
daß man in kritischen Augenblicken auf erfolgreiche Un-
terstützung der Infanterie durch Artilleriefeuer, sei es nun
Sperrfeuer oder zusammengefaßtes Abwehrfeuer, nur bei
lokalen Angriffen, die einen kleinen Teil der Front um-
faßten, rechnen konnte.66
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
103
Am ärgsten aber steht es mit dem Schoßkind des Schüt-
zengrabens, seinem Beschützer, dem Stacheldraht. Der Ge*
neral klagt über die „erbärmliche Transportlage66. Schwer
nur gelang es, 5 Waggons mit Stacheldraht von Molodeczno
nach Parafjanowo für die 1. litauisch-weißrussische Divi-
sion zu bringen, kaum 13 Waggons brachte man nach Pods-
wilje durch, und diese Drahtmenge — meint der General
klagend — genügte nicht einmal zur Errichtung einer ein-
reihigen Stacheldrahthindernislinie längs der Front. Den ar-
men und sorgenvollen Kopf des Generals erfüllten damals
wahrscheinlich goldene Träume und Erinnerungen an zahl-
reiche Yollbahn- und Feldbahnlinien, die zu den gefährde-
ten Frontabschnitten, an denen er sich einst befand, führ-
ten, und die speziell dazu erbaut waren, dem Beherrscher
der Front — dem Schützengraben — seine Opfer in Ge-
stalt von Hunderten von Waggons Stacheldraht, Baumate-
rial und Eisen zuzuführen, und an jene Zeit, als man sich
auf riesigen mit Telephonlinien bedeckten Räumen um
schnellere Zustellung einer Rolle Dachpappe heftig zankte,
die zum Decken von Soldatenwohnräumen nötig war. In
Anbetracht dessen kommt der General zum Schluß, daß die
Armee im Juli 1920 „vor einer Aufgabe stand, deren Be-
wältigung übermenschliche Kräfte erforderte66, und daß es
nicht möglich war, der „mit elementarer Wucht heranbrau-
senden Flut66 den Weg zu sperren.
Alles dies hindert aber nicht, Befehle auszugeben, die
im gänzlichen Widerspruch zu der so richtig erkannten Lage
stehen, und diese Befehle zu befolgen. Mehr noch, ich
zitiere den Befehl des Führers einer Gruppe, Generals
Rzqdkowski, vom 30. Juni. Sein erster Punkt besagt: „In
der Beilage übersende ich a) die Skizze des Verteidigungs-
systems im Raume der 1. und 4. Armee, das vom Ober-
104
DAS JAHR \ 920
kommando der Front des Generals Szeptycki anbefohlen
wurde; b) die Skizze des Verteidigungssystems der 1. Ar-
mee, das auf Grund des vorher erwähnten vom Armeekom-
mando bearbeitet wurde. Hierzu bemerke ich, daß die vom
Kommando der 11. Infanterie-Division vorgesehene ,1. Li-
nie der 2. Stellung6 mit der 1. Linie des Oberkommandos
der Front und des 1. Armeekommandos übereinstimmt und
als solche zu gelten hat.66 Es sollen sich dort „Verteidigungs-
plätze und Verteidigungsknoten, d. h. größere oder klei-
nere Stützpunktgruppen an taktisch wichtigen Plätzen und
einzelne Stützpunkte zwischen diesen Knoten an taktisch
weniger wichtigen Stellen befinden. Die Entfernung dieser
Knoten voneinander soll bei Berücksichtigung der takti-
schen Lage die Verbindung der einzelnen Feuer Systeme und
das rechtzeitige (wahrscheinlich automatische — meine An-
merkung) Eingreifen der rückwärts befindlichen Reserven
in den Zwischenräumen und das Abweisen feindlicher Ein-
brüche ermöglichen. Der Abstand der einzelnen Stütz-
punkte voneinander sollte ihre gegenseitige Unterstützung
mit Maschinengewehrfeuer (Flankenfeuer) gewährleisten.
Dementsprechend soll mit Berücksichtigung der lokalen
Verhältnisse die Zahl der Stützpunkte ergänzt werden66. Die
zwecks Ausführung der Arbeiten übersandte Skizze, die ich
jetzt das erstemal sehe, stellt eine befestigte Zone von un-
gefähr 50 Kilometer Tiefe vor. Eine Menge kleinerer und
größerer Sterne und Sternchen, die „Verteidigungsplätze
und Verteidigungsknoten66 darstellen sollen, verschönern
den Plan des Generals Szeptycki, und überdies verbindet
sie ein ununterbrochener Schützengraben. Und das alles
sollte wirklich ausgeführt werden! Damit sollten sich Füh-
rer und Soldaten ihre Köpfe zerbrechen, währenddessen
die Besetzung der Linie durch Infanterie — wie wir es
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
105
sahen — ungenügend, durch Artillerie gänzlich unzurei-
chend war, das notwendige Material für die Befestigungsar-
beiten aber — Stacheldraht — nicht einmal für eine Sta-
cheldrahtreihe vor der ersten Linie ausreichte. Dieser Plan
bestand jedoch tatsächlich, und der Oberkommandierende
dieses Frontabschnitts hielt sich scheinbar nur infolge der
Nichtausführung dieses Planes für geschlagen und versuchte
nicht weiter die mit „elementarer Wucht heranbrausende
Flut66 mit Hilfe andrer Methoden aufzuhalten.
Ich sehe davon ab viele weitere Dokumente zu zitieren,
die das Sich-Breitmachen des Schützengrabenkrieges an
unsrer Nordfront zu jener Zeit bestätigen. Ich will jedoch
eines von ihnen erwähnen, welches die Tätigkeit der Artil-
lerie betrifft, die befehlsgemäß mit der Infanterie automa-
tisch Zusammenwirken sollte. Ich habe eine diesbezügliche
Skizze der III. Abteilung des 1. litauisch-weißrussischen
Feldartillerieregiments vor mir. Wie viele Erinnerungen
erweckte diese Skizze in mir! Das ist das Jahr 1916 in sei-
ner vollen Pracht! Wie viele solche Skizzen mußte damals
jeder Führer durchsehen und wie viele Offiziere waren in
den Kommandostäben mit der Fertigstellung, der Kontrolle
und Verbesserung gerade solcher Skizzen beschäftigt! Auf
der vor mir liegenden Skizze findet man alles, was das Pa-
radies des Schützengrabenkrieges begehrt: Ziffern, Buch-
staben, verschiedene Bleistiftfarben, lange Pfeile, die die
Schußrichtung dar stellen und schließlich der so charakte-
ristische Plan des mechanisierten Sperrfeuers mit entspre-
chenden Bemerkungen bezüglich des im vorhinein be-
stimmten Munitionsverbrauches. Alles ist erwähnt: wie viele
Minuten das Feuer dauern soll und selbst die Feuerge-
schwindigkeit. Ich erwähne, daß das Sparen an Munition
sehr deutlich ist, da die 7. Batterie nur 2 Minuten mit einer
106
DAS JAHR \ 920
Feuerschnelligkeit von 3 Schüssen pro Geschütz und Minute
feuern soll. Das bedeutet, daß die 7. Batterie zum Aufhal-
ten einer feindlichen Division ganze 24 Schuß verfeuern
soll! Über ein derartiges Sperrfeuer würde selbst ein Pferd
lachen! Wenn ich hinzufüge, daß diese unglücklichen 12
Geschütze der Abteilung 9 Kilometer Frontbreite mit
ihrem Sperrfeuer decken sollen, währenddessen nach
„Weltkriegserfahrungen46 in diesem Abschnitt mindestens
120 leichte Geschütze mit einer entsprechenden Zahl mitt-
lerer Geschütze stehen müßten, von denen es da kein ein-
ziges gab, von schweren Geschützen aber überhaupt keine
Rede sein konnte, so wird mir wahrscheinlich der Leser
meinen soldatischen Fluch verzeihen! Wenn ich an den
Soldaten denke, der im Eisenhagel, der ihm aus Hunderten
von Feuerschlünden entgegengeschleudert wurde, mit To-
desangst den feindlichen Schützengraben stürmte, wenn
ich mich der aschfahlen, erdgrauen Gesichter meiner Sol-
daten nach eintägigem — und nicht nur 2 Minuten wäh-
rendem — Durchhalten im Schützengraben unter wirklich
höllischem Feuer erinnere, so muß ich mit Bitterkeit an
dieses Verhöhnen der Soldaten und Offiziere denken, die
ihre Zeit mit alberner Nachahmung jener armseligen Kröte
vergeuden sollen, die ihr Pfötchen mit einem riesigen Huf-
eisen beschlagen lassen will. 0 Schützengraben, du Besieger
der größten Geister und der tüchtigsten Charaktere, hüte
dich vor deinen kleinen Freunden, denn sie werden dich ver-
nichten dadurch, daß sie dich lächerlich machen!!
Aus diesem Grunde sagt mir von allen Dokumenten, die
ich durchsah, der Bericht des Generals Jejdrzejewski am be-
sten zu, der über den winzigen Autabach, die schwache Be-
festigung der Stellung und den Mangel an Stacheldraht
klagt. Er behauptet, man hätte im voraus einen genauen
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
107
Rückzugsplan ausarbeiten müssen, um die Truppen nicht
unnötigen Verlusten auszusetzen und ihnen die Möglichkeit
zu schaffen, in günstigen Positionen den Kampf mit dem
Feind aufzunehmen, frei von dem Zwang, in der ersten
Linie ohne Aussicht auf Erfolg ihr Menschenmaterial zu
vergeuden. Und dennoch bestand das Schützengrabenpara-
dies! Rückwärts winkte die „deutsche Verteidigungslinie
aus dem Weltkrieg, die eine ausgezeichnete Stellung mit un-
zähligen Drahthindernissen66 bildete, aus deren Wirrwarr
man nur schwer herauskam. War dies kein wirkliches Para-
dies? Selbst bei Sonnenschein konnte man sich in den vie-
len Drahthindernisreihen verirren!
Diese merkwürdige und für mich unbegreifbare Sehn-
sucht unsrer Befehlshaber nach dem Schützengraben mußte
noch andre gefährliche Folgen nach sich ziehen. Der
Schützengraben, der siegreich in das Gebiet der Stra-
tegie eindrang, mußte zum Eigentum jener Führer wer-
den, deren dienstliches Vorrecht operative Tätigkeit,
die Arbeit höherer Führung, war. Und die Taktik des
Kriegsschauplatzes, wie einzelne die Strategie benennen,
hütet argwöhnisch ihre Privilegien und beschränkt die
niedere Taktik, die Taktik des Kampfplatzes, im freien
Gebrauch ihrer Mittel. Daher darf man erwarten, daß die
Verwertung des Schützengrabens, die Bestimmung seiner
Stärke, seines Verlaufes und der für ihn auf gewandten Ar-
beit mehr von der höheren als von der unteren Führung und
vom Soldaten ahhängen wird. Je mehr der Spaten also zur
strategischen Waffe emporsteigt, desto weniger wird ihn der
Soldat und der junge Offizier benützen. Bei unsren Verhält-
nissen, da wir an eine Entwicklung des Schützengraben-
krieges als einer besondren Taktik des Kriegsschauplatzes
nicht denken konnten, mußten alle derartigen Versuche, so-
108
DAS JAHR \ 920
bald der höhere Führer über den Spaten des Soldaten zu
verfügen begann, unsren Soldaten und Offizier schwächen
und seine schlechtere Bewaffnung verursachen.
Für die Schützengrabenpsychologie der Führer ist über-
aus bezeichnend, was bei Einsetzen unsrer 17. Infanterie-
Division vorkam, die zur Verfügung des Frontoberbefehls-
habers in Reserve stand und deren automatisches Zusam-
menwirken mit Artillerie und Infanterie nicht vorgesehen
war. Von Beginn des Kampfes an, als am Wilejka-Fluß
und somit auch in der Stadt Minsk, dem Sitz des Frontober-
befehlshabers, Nachrichten über das Zurückgehen unsrer
11. Infanterie-Division eintrafen, begann man zwischen zwei
höheren Kommandos Verhandlungen bezüglich des Einsat-
zes dieser Division.
Die Verhandlungen dauerten eine Zeitlang, da es gewöhn-
lich Meinungsunterschiede gibt, die beglichen werden müs-
sen. Es handelte sich jedoch weder um den Grundsatz noch
um den Zeitpunkt, sondern um die Methode und Art des
Einsatzes der 17. Infanterie-Division. Inzwischen veränderte
sich die Kampflage und kam erst allmählich zum Bewußt-
sein der Befehlshaber. General J^drzejewski befand sich in
einer viel schwereren Lage als die 11. Infanterie-Division,
die sich nach ihrem ersten Zurückgehen behauptete. Man
mußte also von neuem über die Methode des Eingreifens der
Reserve zu Rate gehen. Endlich gibt der Oberbefehlshaber
der Front die Division mit der Bestimmung frei, sie müsse
als Ganzes eingesetzt werden, sich im Raume Mazniewo-
Kolano sammeln und in nördlicher Richtung angreifen.
Natürlicherweise war das Bild, das sich aus Hughesgesprä-
chen zwischen Minsk und Wilejka ergab, in Wirklichkeit
selbst von durchschnittlicher Kriegskunst längst abgelehnt.
Man kann meistens nicht, wenn man einige hundert Kilo-
DIE JULIOFFENSIVE. DER SCHÜTZENGRABENKRIEG
109
meter vom Kampffeld entfernt ist, wo die Kriegsdegen ge-
kreuzt werden, den Kampf in allen seinen Einzelheiten lei-
ten. Im Schützengrabenkrieg hingegen ist dies möglich und
natürlich. Ein weitverzweigtes und mit Aufwand einer Masse
Material und Menschenkraft ausgebautes Telephon- und
Verbindungsnetz erlaubt es dort dem Führer, ununterbro-
chen selbst über geringfügige Einzelheiten des Kampfes un-
terrichtet zu sein. Dort scheint sogar eine solche Leitung
notwendig, denn es besteht stets die Gefahr, daß der mecha-
nisierte und no twendigerweise automatische Teil der Kampf-
tätigkeit der Truppen Schaden erleiden könnte und Miß-
erfolge verursachen würde, die nicht gutzumachen wären.
Hier jedoch, wo die Befehlshaber mit Mühe nur einige Wag-
gons Stacheldraht an die Front bringen können, wo die vom
Kampffeld eintreffenden Nachrichten nur ganz allgemein,
oft rätselhaft und schwer überprüfbar klingen, bildet die
Kampfleitung einzelner Bataillone auf der Entfernung von
einigen hundert Kilometern einen sehr krassen Übergriff
der Taktik des Kriegsschauplatzes gegenüber der Taktik des
Kampffeldes. Die 17. Infanterie-Division griff erst, wie Ge-
neral J^drzejewsi feststellt, am Nachmittag mit 5—8 Stun-
den Verspätung ein. Dagegen ist der Sammelraum der 17.
Division, Mazniewo—Kolano, gerade 4 Kilometer breit und
entspricht nach „Weltkriegserfahrungen66 einem Divisions-
abschnitt an einer gefährdeten Front.
Wenn ich mich so lange mit Erwägungen über den Schüt-
zengrabenkrieg befaßte, so tat ich es deshalb, weil dies in
unsrem vergangenen Krieg der einzige Versuch war, ent-
gegen meinen Ansichten als Oberster Feldherr den angeb-
lich wirklichen, europäischen Krieg zu1 probieren. Der Ver-
such mißlang und wurde anfangs Juli kompromittiert. Doch
infolge dieses Versuches erwuchs der taktische, leicht zu
110
DAS JAHR \ 920
ertragende Mißerfolg zu einer strategischen Niederlage, de-
ren Folgen sehr weit reichten. Dies sind keine leeren Be-
hauptungen. Dieselbe 1. Armee ging vor kurzem noch, im
Mai, vor feindlicher Übermacht ohne Schwierigkeiten zu-
rück und setzte nach Eintreffen der nicht 5 bis 6 Kilometer,
sondern weit rückwärts befindlichen Reserven, wie dies Ge-
neral Zygadlowicz mit Stolz bemerkt, ebenso leicht mit
ihnen zum Gegenangriff an, ohne unter dem Eindruck der
erlittenen Niederlage und eigenen Hilflosigkeit zu stehen.
Jetzt hingegen setzte man um des Phantoms eines Stellungs-
krieges willen, ohne die notwendigen Mittel für eine solche
Kampfmethode zu besitzen, alle Kräfte ein, um das typisch
schützengrahenmäßige Ziel, die Erreichung der „früheren
Lage“, als einziges Ziel der Kräfteanspannung des Soldaten
zu bewerkstelligen. Unter solcher Führung sollte der Soldat
die Rittersporen nach europäischem Muster erringen, nicht
aber die des polnischen lumpig bekleideten Soldaten, der
nicht recht wußte, was er tat. Er baute doch Schützengrä-
ben nach Skizzen der höchsten Führer, und sicherlich dran-
gen zu seinen Ohren Wortstreite darüber, wo eigentlich die
erste Linie der zweiten Stellung und wo die zweite Linie der
ersten Stellung ist, wo Riegelstellungen und wo die eigent-
lichen Verteidigungslinien sind. Um so schwerer mußte es
dem armen Soldaten fallen, die große Schützengrabenkunst
zu begreifen, als doch alle Verteidigungsplätze und Knoten,
Riegelstellungen, numerierte Linien und Stellungen mei-
stens einander zum Verwechseln ähnlich waren, da sie nur
auf dem Papier bestanden oder im Gelände mittels kleiner
Gräben angedeutet waren. Als man nun alle diese Wunder-
dinge verlassen mußte und alle Anstrengung des Soldaten,
die frühere Lage zu erreichen, was den höheren Führern
scheinbar so wichtig schien, erfolglos blieb, sah sich der Sol-
DIE KÄMPFE UM WILNO
111
dat — wie dies in solchen Fällen meistens zu sein pflegt —
vor die Alternative gestellt: Entweder taugt er samt seinen
Anstrengungen nicht dazu, er ist zu schwach, und die euro-
päischen Sporen sind nichts für ihn — oder aber seine Füh-
rer wissen nicht, was sie tun. Das war also eine moralische
Erschütterung des Soldaten, die schwer gutzumachen war.
Daher stammt dieser unbestreitbar große Einfluß der
Schlacht an der „Auta“, diesem armseligen Bächlein, welche
angesichts der großen Pläne des Feindes kaum einen halben
Sieg bedeutete, für uns aber statt eines taktischen Mißerfol-
ges zu einer großen strategischen Niederlage wurde.
VI
Die Kämpfe um Wilno
Die Kämpfe unsrer 1. Armee mit drei Armeen Tucha-
tschewskys waren eigentlich am 5. Juli beendet. Die sieg-
reichen Divisionen gingen nicht zur sofortigen Verfolgung
über. Die Kavallerie, die in solchen Fällen sehr tätig und
erfolgreich ist, bewegte sich am äußersten Nordflügel und
ging eigentlich ins Leere, da sie keinen Feind vor sich hatte.
Die Hälfte der Kavallerie, eine ganze Division, wurde an-
gehalten, um unsre Nachbarn und Bundesgenossen von un-
längst — die Lettländer — zu beobachten. In der Mitte
wurde eine selbständige kaukasische Kavalleriebrigade wie
zur Verfolgung vorgetrieben, die nach Passierung von Gl^-
bokie am 6. Juli sehr langsam gegen Westen vorrückte. Über
die Tätigkeit dieser Kavallerie schweigen unsre Berichte.
Viel erzählt über sie Sergiejew. Man kann ihre Tätigkeit kei-
neswegs als Verfolgung bezeichnen; nach den Erzählungen
Sergiejews zu urteilen, vermied diese Brigade geflissentlich
112
DAS JAHR \ 920
jedwede Fühlung und Verbindung mit den eigenen Trup-
pen. Der Befehl Tuchatschewskys vom 7. Juli wies der Bri-
gade Verfolgung in westlicher Richtung an, die der ganzen
4. Armee unter Führung Sergiejews anbefohlen war. Sergie-
jew hatte viel Mühen bei der Auffindung des Standortes
dieser Brigade; er behauptet fest, daß ihm die 15. Armee,
der diese Brigade unterstand, keine Aufklärung darüber
geben konnte, wo sich die Brigade befände und wie man sie
erreichen könnte. Hiermit erscheint der Irrtum Tucha-
tschewskys erklärlich, der in seinem Befehl vom 7. Juli be-
hauptete, die polnischen Hauptkräfte wären in westlicher
Richtung auf Postawy zurückgegangen. Das Fehlen der Ver-
folgung und der Mangel einer richtigen Einschätzung der
Lage nach einem unbestreitbaren Sieg, den Tuchatschewsky
überdies mit publizistischer Übertreibung vergrößert, bildet
ein sehr charakteristisches Merkmal dieses Krieges. Ich
möchte nicht boshaft sein, doch dies erinnert mich unge-
mein an die Lage der deutschen Armee 1870, als sie nach
der siegreichen Schlacht bei Spichern, die gegen den Willen
der obersten Führung, ohne einheitlichen Befehl und in
Unordnung geschlagen wurde, ins Leere vorrückte, wobei
sie Überraschungen ausgesetzt war, die sie, wie zum Beispiel
die Schlacht bei Vionville, viel Opfer kosteten. Die Schlacht
am 4. und 5. Juli war kein Spichern, da sie zweifellos bei-
derseits einheitlich geführt wurde. Ich will daher Tucha-
tschewsky gegenüber nicht boshaft sein. Doch am 5. Juli
bereits verloren seine Armeen sicherlich die Fühlung mit
dem Feind und konnten Überraschungen ausgesetzt sein.
Woher stammt aber dieser Mangel an Bewegung, die doch
im Krieg so natürlich und so notwendig ist? Eine seiner Ur-
sachen versuchte ich schon zu analysieren, und zwar dieses
charakteristische „Auf der Stelle hin und her trippeln66 ver-
DIE KÄMPFE UM WILNO
113
schiedener Divisionen. Wir bemerken es gleichfalls bei der
zur Verfolgung angesetzten Kavalleriebrigade. Es ließ die
Sedan-Absichten Tuchatschewskys scheitern und gab ihm
nur einen halben Sieg. Es zeugte auch von einer gewissen
Ängstlichkeit vor dem Feinde. Sicherlich mußte auch ein
gewisser Mangel in der Führung bestehen. Da ich aber keine
Angaben und kein Beweismaterial darüber besitze, will ich
mich der Untersuchung enthalten, worin eigentlich dieser
Mangel bestand. Es wäre schwer, dies ohne Besitz der am
5. Juli bei Tuchatschewsky einlaufenden Berichte festzu-
stellen. Tatsache bleibt jedoch, daß Tuchatschewsky, der in
der Nacht vom 5. und 6. Juli noch seine 4. Armee in der
Sedan-Richtung nach Süden Vorgehen läßt, schon am 6. Juli,
wie er selbst schreibt, seine Sedan-Pläne aufgab und davon
abließ, seinen linken Flügel, die 3. Armee, in der Sedan-
Richtung nach Westen und Norden zu treiben. Die 3. Ar-
mee nämlich erhält schon am 6. Juli den Befehl, die weiter
südlich kämpfende 16. Armee durch Vorrücken auf Minsk
in fast südlicher Richtung zu unterstützen. Unsre Berichte
stellen fest, daß an diesem Tage eben die linke Flügeldivi-
sion der 4. Armee (15. Infanterie-Division) sich zum Rück-
zug anschickte, wobei sie sich längs des Ponja-Flüßchens
mit schwachen Sicherungen deckte. Inzwischen ging die
1. litauisch-weißrussische Infanterie-Division gegen Süden
auf Dokszyce zurück. Unsre Berichte erwähnen dort eben
schwache Fühlung mit feindlichen Patrouillen.
Was machte aber die erlesene, am besten ausgerüstete 15.
Armee? Sie war ausdrücklich nach Westen gerichtet, legte
am 4. Juli während ihres Angriffes 4—10 Kilometer zu-
rück und blieb nach keineswegs großen Fortschritten am
5. Juli stehen. Sie verzichtete auf jedwede Verfolgung und
überließ dies der schwachen Kavalleriebrigade. Am 6. Juli
8 Pitsudski II
114
DAS JAHR \ 920
aber bemerken wir die nördlichste am rechten Flügel be-
findliche 54. Division, die in ihrem Vormarsch in südlicher
Richtung plötzlich nach Südwesten abdreht. Dies ist näm-
lich die Marschrichtung von Luzki auf Glejbokie*). Tucha-
tschewsky erwähnt nicht, ob die 15. Armee am 6. Juli eben-
falls den Befehl erhielt, von einem Sedan abzusehen und
die bisherige Marschrichtung zu ändern. Dies ist erst aus
dem in Smolensk am 7. Juli um 9 Uhr 40 vormittags ausge-
gebenen Befehl ersichtlich. Sergiejew führt ihn in seiner
ganzen Länge an. Tuchatschewsky ändert die Marschrich-
tung der 4. Armee von Süden auf Westen, der 15. Armee
von Westen auf Südwesten auf Molodeczno zu; der 3. Ar-
mee wird die weitere Ausführung ihrer Aufgabe, der Vor-
marsch auf Minsk, befohlen.
Aus allen diesen Angaben ist es ungemein schwer festzu-
stellen, wann eigentlich Tuchatschewsky seinen Sedan-Plan
aufgab, und welchen Einfluß jenes „Auf dem Platz hin und
her trippeln66 aller seiner Armeen am 5. Juli auf ihn aus-
übte. Ich bin geneigt zu vermuten, daß die in Smolensk im
Wege der Armee-Kommandos anlangenden Meldungen im
Laufe dieser zwei Tage recht widersprechend sein mußten.
Tuchatschewsky mußte diese Widersprüche gleichfalls in
seiner Seele spüren, was sich im Mangel jedweden Druckes
auf die Untergebenen seinerseits und im schrittweisen Auf-
geben seines Sedan-Planes äußerte. Während dieses inneren
Streites kamen ihm wieder wie ein Widerhall Gedanken aus
naher Vergangenheit zum Bewußtsein, und zwar der geo-
graphisch-geometrische Gedankenknoten des „Tores von
Smolensk66, der mit einer Schwenkung der Truppen um 90 °
verbunden ist. Als Folge dieses inneren Zerwürfnisses und
dieses von neuem erwogenen Gedankenknotens sehen wir
') Siehe Karte 4.
DIE KÄMPFE UM WILNO
115
den Wegfall der Verfolgung, das Verlorengehen der Füh-
lung mit dem Gegner und das langsame „Auf der Stelle hin
und her trippeln66 der Mehrzahl der Truppen Tuchatschew-
skys, die sich wie schlafbefangen um eine eingebildete Achse
drehen. Dank diesem Koboldtanz um den Gedankenknoten
Tuchatschewskys herum gelang es unsren Truppen, der Be-
drängnis zu entgehen, trotzdem der Befehl General Szep-
tyckis sie zum Zurückgehen in widernatürlicher und —
sagen wir — überdies unnützer Richtung zwang. Infolge-
dessen stellte General Zeligowski — nicht aber das Gros
unsrer Truppen, wie Tuchatschewsky es will — der weder
zersprengt noch geschlagen war, für Tuchatschewsky die
zermalmten und vernichteten Reste der Armee dar, die
gegen Westen in der „Richtung Postawy66 zurückfluteten.
In dieser ersten Schlacht des „Marsches über die Weichsel66
kann ich fürwahr keine Führungskraft wahrnehmen. Die
Truppen Tuchatschewskys trippelten zu oft auf der Stelle
hin und her aus Angst vor dem vernichteten Gegner, wäh-
rend ihr Führer zwischen einem Sedan, das seine Truppen
nicht vollführten, und einer Stoßmasse schwankte, die nicht
verwirklicht war. Mitten im Kampfe aber, als der Sedan-
Plan barst, bricht der Feldherr selbst das Gefecht ab, unter-
bricht die Verfolgung und springt zur Stoßmasse und zu
geometrischen Wendungen über, wobei er dem Feinde völ-
lige Handlungsfreiheit überläßt.
Der Feind sucht schon am 5. Juli nach Handlungsfreiheit.
General Szeptycki befiehlt der ganzen bisher im Kampf be-
griffenen Armee, bereits am Vormittag dieses Tages sich
vom Feinde loszulösen, um eben Handlungsfreiheit zu er-
langen. Der erste Punkt dieses Befehls bezeichnet als Ziel
die „Gruppierung in einer neuen Linie, um zur Gegenaktion
überzugehen66. Ich weiß nicht, ob der Oberbefehlshaber der
85
116
DAS JAHR \ 920
Front dem Armeeführer seinen Plan genügend erläu-
tert hatte, denn der Befehl unsrer 1. Armee, der übrigens
im ersten Punkt den Auftrag des Oberbefehlshabers der
Front, zur Gegenaktion überzugehen, wiederholte, ordnete
im fünften Punkt die Besetzung einer „neuen Verteidi-
gungslinie“ an. Eine Verteidigungslinie soll also diese Ge-
genaktion sein, und in einem der letzten Punkte wurde aus-
drücklich „die technische Verstärkung der Verteidigungs-
linie“ angeordnet. Zweifellos muß die Form dieser Befehle
bei den Unterstellten den Eindruck von Widerspruch er-
wecken. Dieser Widerspruch wird um so größer und merk-
würdiger, wenn man die neue Ausgangslinie zur Gegen-
aktion und gleichzeitig Verteidigungslinie auf der Karte
einzeichnet. Sie beginnt in Niebyszyn am Ponja-Fluß und
nimmt weit nördlich am Landweg Szarkowszczyzna—£wi§-
ciany, in Koziany, ihr Ende. Die Breite dieser Gegenaktions-
linie respektive technisch verstärkten Verteidigungslinie be-
trägt ungefähr 100 Kilometer, genau so viel, wie vor einigen
Tagen noch unsre 1. Armee in der Verteidigungslinie am
„winzigen Auta-Fluß“ besetzt hielt. Wenn wir uns nun er-
innern, wie jene Linie technisch verstärkt war und wie viele
Klagen ihr ungenügender Ausbau bewirkte, wenn wir daran
denken, welch trauriges Ende der Versuch des Haltens die-
ser Linie am 4. und 5. Juli nahm, so werden wir verstehen,
wie bitter ironisch die Absicht des Armeeführers den Trup-
pen, die diesen Befehl lasen, erscheinen mußte, welche im
fünften Punkt folgendermaßen ausgedrückt war: „Das Hal-
ten dieser Linie ist unbedingt notwendig.“ Angesichts des-
sen entsprechen die Abschnittsbreiten der „Verteidigungs-
linie“ schon gar nicht den „Erfahrungen des Weltkrieges“.
Diese Abschnitte haben aber noch eine andre charakteri-
stische Eigenschaft. Während die zwei nördlichen Divisi-
DIE KÄMPFE UM WILNO
117
onen, die 8. und 10. Infanterie-Division, eine Frontbreite
von 55 Kilometern besetzen sollen (8. Infanterie-Division
30 Kilometer, 10. Infanterie-Division 25 Kilometer), haben
die drei im Süden stehenden Divisionen (17., 11. und 1. li-
tauisch-weißrussische Infanterie-Division) wesentlich schmä-
lere Abschnitte, die durchschnittlich nicht über 15 Kilo-
meter breit sind und der Besetzungsdichte vom 4. und
5. Juli gleichkommen. Dies geschah wahrscheinlich nicht
ohne Absicht. Trotzdem ich daran zweifle, ob diese Kräfte-
massierung im Süden der Forderung einer Gegenaktion von
seiten des Frontoberbefehlshabers genügen sollte, halte ich
es für notwendig, zu untersuchen, warum diese Kräftever-
dichtung im Süden und Verdünnung im Norden durchge-
führt wurde. Ich muß dies um so mehr untersuchen, als
doch eine derartige Kräfteverteilung der 1. Armee eine
Folge der früher erwähnten Defilierung unsrer ganzen
Frontmitte während der Kämpfe des 4. und 5. Juli ist, die
unsre Truppen tatsächlich der Gefahr der Vernichtung und
Zersprengung aussetzte. Dem Befehl General Szeptyckis
könnte man entnehmen, daß hinter seinem linken Flügel
irgendwo die 7. Armee untätig stand. Mindestens der zweite
und dritte Punkt seines Befehls befaßt sich ziemlich viel
mit dieser Nachbararmee. Ich führe beide betreffenden
Punkte wörtlich an. Der zweite Punkt lautet: „Die 7. Armee
wird von der Obersten Heeresleitung den Befehl erhalten,
ihre Truppen, die im Norden stehen, in den Raum von
Swi^ciany zurückzunehmen.66 Im dritten Punkt lesen wir:
„Die Landwege Dunilowicze—Postawy—Hoduciszki und
Szarkowszczyzna—Koziany—Twerecz*) besetzt die 1. Ar-
mee mit Truppen der Gruppe General Zeligowski respek-
tive der 8. Infanterie-Division, um der 7. Armee die Ver-
*) Beide Landwege führen nach Wilno.
118
DAS JAHR \ 920
Schiebung der zur Verfügung stehenden Truppen bezie-
hungsweise die Evakuierung von Wilno zu ermöglichen.66
Um diese rätselhafte 7. Armee näher zu erklären, muß ich
beifügen, daß sie trotz dieser hochtrabenden Bezeichnung
aus einer einzigen noch in Bildung begriffenen Division,
der 2. litauisch-weißrussischen Infanterie-Division bestand.
Sie zählte 2700 Bajonette und wurde zur Deckung und Be-
obachtung unsrer damaligen Demarkationslinie gegen Li-
tauen in einer Breite von etlichen hundert Kilometern ver-
wendet. Das Sammeln der auf so große Entfernungen ver-
streuten Posten mußte also mindestens einige Tage bean-
spruchen. Die hochtrabende Benennung war ein Überbleib-
sel, das noch aus jener Zeit stammte, als sie noch bedeu-
tend mehr Truppen besaß. Die unklare Fassung des Befehls
General Szeptyckis, der von vornherein schon die Evaku-
ierung Wilnos, des wichtigsten politischen Zentrums, der
7. Armee zuschoh, berechtigte meiner Ansicht nach den
Führer der 1. Armee dazu, seine Kärfte im Norden zu
schwächen, da doch sein unmittelbarer Vorgesetzter sich an-
scheinend um den Nordabschnitt nicht kümmern wollte.
Der Führer der 1. Armee konnte allerdings nicht denken,
daß General Szeptycki den Kampfwert der „7. Armee66 hö-
her einschätzte, als er tatsächlich war. Ich will nicht weiter
die Folgen dieses Entschlusses analysieren, da ich in meiner
Arbeit die durch mich so benannten „verschämten Winkel
der Geschichte66 vermeiden will. Ich stelle nur die Tatsache
fest, die zum Verständnis der Operationen unsrerseits not-
wendig ist, daß der Befehl General Szeptyckis vom 5. Juli
unsre nach der taktischen Niederlage vom 4. und 5. Juli zu-
rückgehende 1. Armee auf unnatürliche und der Lage nicht
entsprechende Weise gruppierte. Sie sollte solchermaßen
ihren rechten Flügel verstärken, der mit dem linken Flügel
DIE KÄMPFE UM WILNO
119
unsrer 4. Armee eng verbunden war und deren Rückzugs-
befehl bereits unterwegs war. Es könnte scheinen, als ob die
bisher ungefährdete 4. Armee sich auf die bereits geschla-
gene Nachbararmee stützen müßte. Diese Stützung fand
aber auf Kosten des Nordflügels statt, der die Richtung
nach Westen deckte, die auf Wilno, das politische Haupt-
zentrum des Landes führte. Dieser Befehl wurde nicht nur
für Wilno, sondern auch für die ganze von General Szep-
tycki befehligte Front zum Verhängnis. Der unglückselige
Befehl General Szeptyckis, der am linken Flügel unsrer
4. Armee das Gros unsrer 1. Armee zusammenzog, konnte
noch mit seinem ersten Punkt in Verbindung gebracht
werden, der eine Umgruppierung zur Gegenaktion er-
wähnt. Doch in diesem Falle wäre der Befehl bedeutend
verspätet. Eine Gegenaktion von seiten der 4. Armee konnte
noch am 4. und 5. Juli stattgefunden haben, wo ihre aktive
Hilfe zweifellos imstande war, stark auf die Lage der in
harte Kämpfe gegen feindliche Übermacht verwickelten
Nachbararmee einzuwirken. Damals aber sah die 4. Armee
dem System des Schützengrabenkrieges entsprechend den
Kämpfen im Norden untätig zu, und ihre einzige Tätigkeit
bestand aus dem Bau einer Riegelstellung längs des Ponja-
Flüßchens, eines neuen winzigen Baches. Diese Passivität
bemerken wir gleichfalls im ganz unnötigen Zeitverlust, der
durch den Beginn des Rückzuges am 7. Juli erst verursacht
wurde. Ich sehe davon ab, die Ursachen dieser Verspätung
zu ergründen, da doch diese 1—2 Tage angesichts der Größe
der darauffolgenden Ereignisse geschichtlich keine Rolle ge-
spielt haben. Ich erwähne dies nur deshalb, weil wir die
Tage des 6. und wahrscheinlich 7. Juli, die uns Tucha-
tschewsky infolge seiner Manöver im Leeren schenkte, nicht
nur unausgenützt ließen, sondern sie ihm sogar ganz zurück-
120
DAS JAHR \ 920
erstatteten. Es war zwar von einer Gegenaktion die Rede, in
Wirklichkeit aber verblieben wir bei gänzlich passiver Ab-
wehr. Ich füge hinzu, daß der Rückzugsbefehl für die 4. Ar-
mee am 6. Juli aus Warschau entsandt wurde.
Jedenfalls war der Rückzug der 4. und 1. Armee gegen
Westen vom 7. Juli an in vollem Gang. Der Rückzug der
1. Armee fand größtenteils ohne Fühlung mit dem Feinde,
oder auch unter geringfügigen Patrouillengefechten statt.
Die 4. Armee hingegen hatte in den ersten Tagen ihres Rück-
zuges gewisse Schwierigkeiten, später ging sie unbehindert
zurück und löste sich immer mehr vom Feinde los. General
Szeptycki hezeichnete als strategisches Ziel des Rückzuges
für den weitaus größten Teil der Truppen die lange Linie
der deutschen Schützengräben aus dem Weltkrieg. Sie soll-
ten bis zum Südrand des Swirski-Sees Division neben Divi-
sion besetzt werden, wobei nur zwei Divisionen, die 8. und
2. litauisch-weißrussische Infanterie-Division, außerhalb
dieser Stellungen verblieben*).
Zur Methode des Zurückgehens muß ich bemerken, daß
man sowohl bei der 1. wie bei der 4. Armee, zumindest was
die Befehle anbetrifft, leider so hartnäckig und rücksichts-
los am linearen System festhielt, daß der Rückzug unsren
Truppen viel Anstrengungen und Mühe bereitete. Das von
der 1. Armee angenommene System unterschied sich von
dem der 4. Armee. Bei der 1. Armee war der Rückzug —
was den Befehl anbelangt — ganz schematisch, während bei
der 4. Armee, die jetzt von General Skierski befehligt
wurde, Versuche vorliegen, sich vom Schema loszulösen und
sich der Lage der einzelnen Truppenkörper anzupassen. Ich
gestehe, daß dieses dürre Befehlsschema geradezu schauder-
haft wirkt. Wenn man die Befehle liest, glaubt man, daß
c) Siehe Karte 5.
DIE KÄMPFE UM WILNO
121
der Führer in einer Leere handelte und leblose Figuren auf
der Karte hin und her schöbe. Beim verhältnismäßig leich-
ten Rückzug der 1. Armee auf ihre endgültige Verteidigungs-
linie ordnete man unterwegs drei „Zwischen-Verteidigungs-
linien64 an. Was diese Verteidigungslinien bedeuten sollten,
wußte wahrscheinlich der Verfasser des Befehls selbst nicht.
Sicher ist aber, daß die Truppen dieses System, welches un-
durchführbar war, bitter zu fühlen bekamen. Das ist tat-
sächlich ein Spielen mit den Soldaten, wenn dieser vermuten
kann, daß sein Führer den Ausbau einer Verteidigungs-
linie von über 100 Kilometer Breite fordert, einzig um sie
fast sofort zu verlassen und diese fruchtlose Arbeit von
neuem zu beginnen. Daneben erheischt der Begriff einer
Verteidigungslinie, wenn der Befehl befolgt wird, ein in
viele breit auseinandergezogene Patrouillen aufgelöstes Zu-
rückgehen, wobei man der Begegnung mit dem Feinde aus-
gesetzt ist, dem man vor einigen Tagen in offenem Kampf
nicht standhalten konnte. Ich bin überzeugt, daß die Mehr-
zahl der Truppen diesen Befehl nicht befolgt hat und nur
wenige Unglückselige diesem „Verteidigungslinien-Moloch“,
diesem Ersatz der großen Schützengrabenstrategie, zum
Opfer fielen. Beim Lesen weiterer Meldungen über den
schlechten Stand der 1. Armee muß man unbedingt in Be-
tracht ziehen, daß diese Armee nach dem feindlichen Teil-
sieg am 4. und 5. Juli, durch diese hoffnungslose Tätigkeit,
zu der sie die Operationsbefehle verurteilten, vollständig
niedergeschlagen sein konnte.
Bei der 4. Armee haben wir gleichfalls den Fluch der
Verteidigungslinien vor uns, wobei diese überdies in meh-
rere Phasen verteilt sind. In der ersten Phase gibt es gar
drei Linien. Meine Erwägungen, die die Verteidigungslinien
der 1. Armee betreffen, beziehen sich gleichfalls auf die
122 DAS JAHR \ 920
4. Armee. Wir finden hier dieselben unausführbaren Be-
fehle, die gleichen Worte mit entsprechenden Zutaten, die
durch die Fühlung mit dem Gegner verursacht sind. Und
erst am 11. bringt ein neuer Befehl etwas Wandlung. Der
zweite Punkt dieses Befehls besagt: „Der weitere Rückzug
der Divisionen hat in geschlossenen Marschkolonnen auf
den Hauptverkehrswegen stattzufinden, wobei Nachhuten
lediglich zu Erkundungszwecken zurückzulassen sind.66 Ich
kann mir vorstellen, wie herzlich dankbar die Truppen da-
für waren, daß sie endlich verstehen konnten, was sie tun.
Ich befaßte mich einzig deshalb mit diesen Befehlen, weil
der Rückzug unsrer beiden Armeen eigentlich die Fortset-
zung des Systems bildet, das während der Kämpfe des 4.
und 5. Juli vorherrschte. Ebenso, wie wir dort dank der
Huldigung vor der Strategie des Schützengrabens Zeugen
passiven Widerstandet waren, ohne auch nur eine Änderung
der Kräfteverteilung im Laufe des Kampfes zu versuchen,
ebenso sehen wir auch jetzt während des Rückzuges die
gleiche Passivität. Alle Divisionen gehen in parallelen Linien
zurück und nähern sich nicht einmal dem Gedanken eines
Manövers, sie versuchen nicht im geringsten, die Lage zu
ändern, die der Feind am 4. Juli antraf. Die strategische
Kräfteverteilung bleibt die gleiche, doch ihre Fehler wach-
sen übermäßig.
Unsre 1. Armee hatte am 4. Juli eine Frontbreite von
100 Kalometern. Die benachbarte 4. Armee, die untätig den
Ausgang der Schlacht im Norden abwartete, hatte eine
Frontbreite von fast 200 Kilometern. Infolge des von Ge-
neral Szeptycki anbefohlenen Rückzuges ändert sich die
Lage gewaltig. Nach Erreichen der deutschen Stellungen
wird die Front der 4. Armee immer schmäler und erreicht
jene 100 Kilometer Frontbreite, die vorher die 1. Armee
DIE KÄMPFE UM WILNO
123
besaß. Demgegenüber wird die Front der befehlsgemäß
nach Westen zurückgehenden 1. Armee immer breiter, so
daß die zu besetzende Verteidigungslinie 200 Kilometer
breit ist. Auf diese Weise bessert sich die Lage der 4. Ar-
mee, die keine Niederlage erlitt, ungemein, indessen sich
die Lage der 1. Armee sehr schnell verschlechtert. Der ver-
hängnisvolle Fehler des Befehls General Szeptyckis vom
5. Juli trägt nun seine bitteren Früchte. Als das Gros der
1. Armee, das dem Befehl gemäß längs der Front des Geg-
ners defilierte, seine natürlichen Rückzugswege verließ und
auf Molodeczno zustrebte, näherte es sich unsrer 4. Armee
und ließ weiter nördlich nur kleine Kräfte zurück. Bei der
Analyse jenes Befehls bewies ich, daß infolgedessen eine
Verdichtung unsrer Kräfte im Süden und eine Verdünnung
im Norden eintrat. Dies geschah innerhalb der 1. Armee.
Jetzt sehen wir das Gleiche an der ganzen von General
Szeptycki befehligten Front, wo sich der Abschnitt der
nördlichen Armee aber um das Doppelte auseinanderzog.
Dies geschieht gerade damals, als die 1. Armee im Norden
der großen Übermacht eines konzentrierten Feindes erlag,
im Süden dagegen die Truppen an manchen Stellen einen
gleich starken Feind sich gegenüber hatten, größtenteils
aber dem Feinde überlegen waren.
So schwächt unsre Armee immer mehr ihren Nordflügel,
daß schließlich der nördlichste Teil unsrer Armee, der aus
den zwei vielleicht schwächsten Divisionen besteht (8. und
2. litauisch-weißrussische Infanterie-Division), eine Front
von 100 Kilometern Breite besetzt. Wir verurteilen uns
also dort im vorhinein im Falle eines feindlichen Angriffes
zu einer Niederlage. Der Feind aber schwächte im Sinne
des Befehls Tuchatschewskys vom 7. Juli seinen bisherigen
Druck in nördlicher und westlicher Richtung und gab dem
124
DAS JAHR \ 920
Gros seiner Kräfte eine andre Richtung. In der für uns ge-
fährlichsten und am schwächsten besetzten Richtung rückte
nur die 4. Armee Sergiejews vor, deren Infanterie auf der
Stelle hin und her zu trippeln liebte und deren Kavallerie
bisher ihre Eigenschaft nicht offenbarte. Der Rest der Trup-
pen, die am 4. und 5. Juli kämpften, ballte sich in einem
komplizierten Manöver im Leeren wie eine Faust und
kehrte der 4. Armee ihre Flanke und ihren Rücken zu. Die
Kräfteverteilung innerhalb dieser Armeen ist gleichfalls
verschieden. Die 4. Armee bewegt sich mit sehr breiter
Front und kann infolgedessen schnell vorwärts kommen,
wobei ihre Marschschnelligkeit noch dadurch beschleunigt
werden kann, daß sie zu einem großen Teil aus Kavallerie
besteht. Demgegenüber ist der Rest der Truppen zu einer
Faust geballt — wie wir es sagen — oder bildet — wie
Tuchatschewsky es will — einen Sturmbock. Noch einmal
berufe ich mich diesbezüglich auf die bezeichnende Äuße-
rung Sergiejews: „Die schmalen Korridore, die der 15. und
3. Armee zur Verfügung standen, erlaubten es, die Divi-
sionen in zwei oder sogar drei Treffen in die Tiefe ge-
gliedert vorwärts zu führen, und so die Divisionen stets in
geballter Faust zu einem Manöver bereit zu halten. Die
15. Armee nahm eine solche Marschgliederung schon von
Glejbokie aus an und hatte die 54., 33. und 11. Division im
ersten und die 4. und 16. Division im zweiten Treffen
hinter den Flügeln. Nach zwei bis drei Tagesmärschen wur-
den die Divisionen des ersten Treffens durch solche des
zweiten abgelöst und dadurch die Kräfte der Infanterie be-
trächtlich geschont/6 Diese Marschmethode konnte nicht
schnell sein. Eine Armee, die aus 5 Infanterie-Divisionen
mit zugehöriger Artillerie und Troß bestand, marschierte
wie ein Regiment!
DIE KÄMPFE UM WILNO
125
Überdies soll sie regelmäßig die Vorhut ablösen. Dies
spart zwar die Kräfte der Infanterie, verursacht aber viel
Zeitverlust, jedesmal mindestens einen halben, vielleicht
sogar einen ganzen Tag. Eine solche Armee kriecht wie eine
Kröte im Vergleich mit einem Windhund, der von der Kop-
pel gelassen wird, wie dies der nördlichen 4. Armee be-
stimmt war. Kröte und Windhund, die sich voneinander
entfernen, können in der Bewegung keine Kameraden sein,
können auch nicht gleichzeitig oder ungefähr zu gleicher
Zeit ihr Ziel erreichen.
Infolge des strategischen Fehlers General Szeptyckis und
der merkwürdigen Verschiedenheit der Ziele und der Be-
wegungen zweier Sowjetarmeen entsteht die ungemein eigen-
artige Schlacht um den Besitz von Wilno. Diese Schlacht
war nicht wie die Kämpfe vom 4. und 5. Juli von vorüber-
gehender taktischer Bedeutung, sondern sie griff in das Ge-
biet der hohen Strategie über. Merkwürdig und eigenar-
tig ist sie, da sie, trotz großer Bedeutung für den ganzen
Verlauf des Feldzuges, keineswegs im Zusammenhang mit
den Plänen und Absichten beider Frontoberhefehlshaber
— General Szeptycki und Tuchatschewsky — steht, und so
keineswegs in das Gebiet der Kriegskunst gehört. Der erste
von ihnen schwächt absichtlich jenen Abschnitt der soge-
nannten Verteidigungslinie mit allen Mitteln, verdünnt
seine Besatzung und beabsichtigt also nicht, dort einen
Kampf von größerer Bedeutung anzunehmen. Tucha-
tschewsky dagegen, der nach dem gänzlich mißlungenen
Sedan an die Vernichtung, Zersprengung und Zermalmung
des in Unordnung davonfliehenden Gegners glaubte, ent-
sendet in dieser Richtung ebenfalls seine schwächste auf
breiter Front verzettelte Armee. Mit dem Gros seiner Kräfte
aber, das er zu einer entscheidenden Faust geballt hat, eilt
126
DAS JAHR \ 920
er nicht, da er sicher ist durch sein „Festina lente“ die Ent-
scheidung anderswo zu erlangen. Die große Strategie soll
ihren Festtag anderswo feiern. Anderswo soll Nike im Auf-
trag von Mars und Minerva heranrauschen und die einen
mit Siegeslorheer belohnen, die andren mit Niederlage be-
strafen. So wollen es beide Führer. Warum nun diese Über-
raschung für sie, daß das Schicksal nicht nur der Schlacht,
sondern des Krieges sich nicht dort entscheidet, wo sie es
bestimmen? Soll dies ein Trost für Sergiejew sein, der in-
folge der vorherigen Kämpfe niedergedrückt ist? In dieser
Schlacht um Wilno nämlich schmückte die flügelrauschende
Nike doch sein Haupt mit Siegeslorbeer.
Bevor er aber diesen Siegeslorbeer erhielt, trachtet er
nicht die Schlacht selbst, aber den Anmarsch zur Schlacht
zu beschönigen. Da aber dieser Anmarsch gar nicht schön,
sondern recht zufällig erscheint, schmückt er ihn, wie dies
gewöhnlich in solchen Fällen zu sein pflegt, mit Worten
und Ausdrücken, die ihm Größe und Schönheit verleihen
sollen dort, wo es an Inhalt fehlt. Das sonst wirklich schöne
Buch Sergiejews ist leider voll von Bezeichnungen wie
„Place d’armes“. Bei diesem Marsch auf Wilno durchquert
er den Bezirk Swiejciany, wo mein Geburtsort liegt. Ich ver-
mutete nie, daß er so viele strategische Genüsse, so viele
„Places d’armes“ besitzt. Eine „Place d’armes“ befindet
sich in unsrer Bezirkshauptstadt Swi^ciany, eine andre ist
bei Swir. Da nun Swi^ciany nur eine armselige Schmalspur-
bahn besitzt, das schöne Städtchen Swir aber und seine
alten Schloßruinen seit seiner Entstehung keinen Loko-
motivpfiff vernahmen, so müssen dort der Boden und seine
Gebilde einen riesigen Wert besitzen, daß sie im zwanzig-
sten Jahrhundert jemandem als so große strategische „Places
d’armes“ dienen. Die dortigen Einwohner können wirklich
DIE KÄMPFE UM WILNO
127
stolz darauf sein. Wir erinnern uns an Orzechowna, das in
der reichen Phantasie Tuchatschewskys das stolze Smo-
lensk ersetzte, wir waren Zeugen davon, wie ein elender
Stacheldraht und einige armselige Gräben unsre höheren
Führer veranlaßten, der 7. Batterie der 1. litauisch-weiß-
russischen Infanteriedivision ein Sperrfeuer mit 24 Ge-
schossen anzubefehlen. Kein Wunder also, daß die Trup-
pen Sergiejews, trotzdem sie einem versprengten Gegner
folgen, dem berühmten Swi^cianer Bezirk gegenüber vor-
sichtig sind, wo ihnen so viele „Places d’armes66 drohen.
Trotzdem die Armee die Rolle eines von der Koppel gelas-
senen Windhundes spielen sollte, beeilt sie sich nicht über-
mäßig. Der Armeeführer, Sergiejew selbst, schreibt: „Der
Befehl wurde dem Kavalleriekorps auf drahtlosem Wege
übersendet, die Kavallerie führte ihn jedoch nicht aus/6
(S. 53.) „Die 164. Brigade verblieb den ganzen 8. Juli
hindurch in der Gegend von Zamosz.66 Nachher rückte sie,
der Ansicht Sergiejews nach, in einer völlig unnötigen Rich-
tung vor., Er kennzeichnet den Vormarsch der Kavallerie
folgendermaßen: „Sie bewegte sich sehr langsam auf brei-
ter Front66 (S. 54), und entschuldigt dies wie folgt: „Unbe-
deutende Gefechte mit feindlicher Kavallerie (unser Wil-
naer 13. Ulanen-Regiment) und schwachen Infanteriegrup-
pen (unser Slucker Schützen-Regiment) hielten den Vor-
marsch unsrer Kavallerie stark auf.66 (S. 54.) Sergiejew be-
schreibt weiter die Tätigkeit seiner Infanterie und kauka-
sischen Reiterei: „Trotzdem das Erscheinen unsrer Kaval-
lerie in der Gegend von Widze und Dukszty im Rücken des
Gegners Panik hervorrief, gelang es den Polen dennoch, in
den deutschen Stellungen einen gewissen Widerstand zu
organisieren. In der Gegend südlich von Postawy bis zum
Madziol-See genügte dieser Widerstand (es war unsre ,zer-
128
DAS JAHR \ 920
sprengte6 8. Infanterie-Division), um die kubanische Rei-
terei bis zum Abend des 9. Juli aufzuhalten, bis die 18. Di-
vision herankam.66 Die Bewegungen der 4. Armee erinnern
jetzt also sehr an das bekannte „Auf der Stelle hin und her
trippeln66 während des Sedan-Manövers vom 4. und 5. Juli.
Wiederum sehen wir den Verlust ganzer Tage, langsame
Schildkrötenmanöver, wo man schnell wie ein Windhund
sein müßte. Zu jener Zeit stehen noch der Armee Sergie-
jews drei unserer Divisionen gegenüber: Die 10. Infanterie-
Division General Zeligowskis am rechten, die 8. Infanterie-
Division unter Oberst Burhardt-Bukacki in der Mitte, und
die sich am Nordflügel langsam sammelnde 2. litauisch-
weißrussische Infanterie-Division unter General Boruszczak,
verstärkt durch das Wilnaer Ulanen-Regiment. Beim Zu-
rückgehen auf Wilno aber rückt die 10. Infanterie-Division
nach Süden, um wichtigere Aufgaben zu erfüllen, und be-
setzt die deutschen Stellungen im Paradies des Stacheldrah-
tes südlich des Öwir-Sees. Gegenüber der 4. Armee verblei-
ben also unsrerseits zwei Divisionen außerhalb der Schüt-
zengrabenlinie, zwar in einer schlechteren taktischen Lage,
dafür aber mit einer Frontbreite von fast 100 Kilometer
vomSwir-See bisDubinki. Und doch! E pur simuove! Auch
hier sind gefährliche „Places d’armes66! Die Truppen Ser-
giejews beginnen wieder auf der Stelle hin und her zu trip-
peln. Am 11. Juli beginnt im Norden bei Wilno die „drei-
tägige Schlacht an der Wilja66, wie Sergiejew schreibt. Sei-
nen Worten gemäß traf die Kavallerie am 11. Juli bei
Podbrodzie auf „starken Widerstand des Gegners und
führte einen hinhaltenden Kampf66, um das Heran-
kommen der restlichen Kavallerie und Infanterie abzu-
warten.
Die 53. und 12. Schützen-Division, die in breiter Front
DIE KÄMPFE UM WILNO
129
auseinandergezogen waren, überzeugten sich am 11. Juli,
daß „der Feind die ganze Wilja-Linie stark besetzt hielt
und alle Übergangsversuche unsrer (Sowjet)-Schützen ab-
wehrte“. Weiter südlich war es nicht besser. „Die kubani-
sche Reiterei traf schon im Raume von Öwir auf feindliche
Infanterie. Bei der Suche nach ihrem Flügel stellte sie fest,
daß die ganze Stracza-Linie von Swir bis Michaliszki vom
Feinde stark besetzt ist, der überdies den Raum hinter der
Wilja, westlich von Michaliszki hält.“ Die Reiterei hatte
kein Glück! „Nach Eintreffen der 18. Infanterie-Division
ging es nicht besser“ — schreibt Sergiejew. „Mehrere An-
griffe auf das Städtchen Swir wurden abgeschlagen und der
Divisionskommandeur entschloß sich, schwere Artillerie
heranzuziehen.“ Die Verfolgung stockte. Sergiejew hatte
den allgemeinen Eindruck, daß wir Wilno verteidigen wol-
len, und stützte sich dabei — o Ironie des Schicksals der
Feldherren! — „auf die ziemlich dichte Kräftegruppierung
des Feindes“ längs der Wilja und im Raume der „Place
d’armes“ von Swir. Nach Sergiejew währten die Kämpfe um
Wilno drei Tage lang und hatten an vielen Stellungen den
Charakter eines „langwierigen und erbitterten Kampfes“.
Sie begannen am 11. Juli und wurden am 14. Juli mit der
Einnahme von Wilno beendet.
Tatsächlich kämpften während dieser drei Tage unsre
zwei schwächsten Divisonen. Tatsache bleibt, daß eine von
ihnen, die 2. litauisch-weißrussische Infanterie-Division da-
mals angriff und daß ihr Bialostocker Schützen-Regiment
den 10 Kilometer hinter der Wilja-Linie liegenden Bahn-
hof Podbrodzie nahm. Tatsache bleibt auch, daß diese bei-
den Divisionen nicht eng gruppiert, sondern im Bereiche
der von General Szeptycki befehligten Front am lockersten
und schwächsten gruppiert waren. Wenn auch der Feind
9 Pilsudski II
130
DAS JAHR \ 920
diese Divisionen in den vorangehenden Kämpfen nicht zer-
sprengt hatte, trotzdem er fest daran glaubte, so bewirkte
unsre strategische Kräfteverteilung diese Zersprengung, da
sie ihnen einen dreitägigen Kampf in einer fast 100 Kilo-
meter breiten Front außerhalb des Schützengraben- und
Stacheldrahtparadieses zumutete.
Was machen indessen, am 11. Juli, andre glücklichere Di-
visionen, die enger gruppiert im Schützengrabenparadies
Aufstellung nehmen sollen, beschützt von riesigen Stachel-
drahtmengen, innerhalb welcher man sich selbst bei hellem
Sonnenlicht verirren kann? Wir schreiten der Reihe nach
die Front südwärts ab. Weiter südlich erreicht die benach-
barte 10. Infanterie-Division, die von ihren natürlichen
Rückzugswegen auf Swir und Michaliszki zurückgezerrt
wurde, am 10. Juli gegen Abend ohne irgendwelche Füh-
lung mit dem Gegner die Schützengrabenlinie. Der 11. Juli
vergeht dort in Ruhe. Südlich von ihr soll die 17. Infan-
terie-Division stehen. Am 11. Juli fehlt wieder jede Füh-
lung mit dem Gegner. Die 11. Infanterie-Division erreicht
am 11. Juli, wie Berichte besagen, nach anstrengendem
Marsch ohne Fühlung mit dem Feinde das wahrhafte Sta-
cheldrahtparadies hei Bogdanow. Die am 12. Juli ins Vor-
feld entsandten Patrouillen kehrten am Morgen des 13. Juli
zurück, ohne auf den Feind gestoßen zu sein. Die südlichste
Division der 1. Armee endlich, die 1. litauisch-weißrussi-
sche, erreicht am 11. Juli die Schützengrabenstellungen
südlich von Bogdanow, ohne den Feind zu sehen. Am
11. Juli also, als Sergiejew samt seiner ganzen Armee die
dichte Besetzung zwar nicht von Drahthindernissen und
Schützengräben, aber eigentlich von frischer Luft, die übri-
gens voll von verschiedenen „Places d’armes“ war, fest-
stellte und seine Truppen nach alter Gewohnheit auf der
DIE KÄMPFE UM WILNO
131
Stelle hin und her zu trippeln begannen, genießt der Rest
unsrer 1. Armee in beschaulicher Ruhe die Wohltaten des
Draht- und Schützengrabenparadieses der ehemaligen deut-
schen Stellungen, die seinerzeit mit ungeheurem Kräfteauf-
wand von Industrie und Gewerbe des industriereichsten
Landes Europas erbaut wurden und denen die litauischen
Wälder zum Opfer fielen.
Noch glücklicher gestaltete sich in strategischer Hinsicht
die Lage unsrer 4. Armee, die am 11. Juli Minsk räumte
und befehlsgemäß in Marschkolonnen überging. Sie befin-
det sich in vollem Rückzug gegen Westen ohne Fühlung mit
dem Feinde und strebt dem ihr zugewiesenen Abschnitt der
deutschen Stellungen zu. Dieser Abschnitt ist wahrhaftig
nicht klein! Unsre stärkste und durch Kämpfe am wenig-
sten geschwächte Armee erhält einen so breiten Abschnitt
wie die zwei Divisionen im Norden, die gerade an diesem
Tage den dreitägigen langwierigen und erbitterten Kampf
um Wilno beginnen.
Je weiter südlich, desto besser geht es den Truppen der
Front General Szeptyckis. Die taktische Lage ist besser und
die Geschenke der Strategie werden größer. Die am weite-
sten im Süden stehende Polesie-Gruppe bildet darin keine
Ausnahme. Sie besteht aus drei Infanterie-Divisionen und
hat nur einen schwachen Feind sich gegenüber, da die in
der Sowjetarmee als Mozyrz-Gruppe bezeichneten Truppen
zwei auseinanderstrebende Angriffsrichtungen einhalten.
Die Hälfte von ihnen greift unsre 14. Infanterie-Division an
und folgt ihr nördlich des eigentlichen Polesie-Gebietes von
Bobrujsk auf Sluck. Infolgedessen hat unsre Polesie-Gruppe
den schwächsten Feind vor sich. Wir sind dort so stark in
der Übermacht, wie wir es im Verlaufe des ganzen Krieges
niemals und nirgends waren. Die Berichte von dort klangen
132
DAS JAHR 4 920
immer siegessicher und waren mit Meldungen über Artil-
lerietrommelfeuer ausgesehmückt, mit dem man die Polesie-
sümpfe beiderseits — laut Berichten — bedeckte.
Ungefähr das gleiche geht bei den von Tuchatschewsky
befehligten Armeen vor. Am 11. Juli, als die Truppen der
nördlichen 4. Armee im Raume der „Place d’armes66 §wi^-
ciany hin und her zu trippeln begannen und da auf schwere
Artillerie, dort auf das Herankommen der Infanterie oder
Kavallerie warteten, rücken die zu einer Faust geballte 15.
und 3. Armee fast ohne Feindfühlung vor, weit entfernt von
den in Kampf verwickelten Truppen Sergiejews. Am Abend
dieses Tages erst besetzt die 15. Armee Molodeczno und ist
von den deutschen Stellungen wenigstens auf zwei Tages-
märsche entfernt. Nur ihre nördlichste 54. Schützen-Divi-
sion wird am 12. Juli mit ihren Vorhuttruppen mit unsrer
10. und 17. Infanterie-Division Fühlung nehmen. Neben
der 15. marschiert die gleichfalls zum „Sturmbock66 gehö-
rende 3. Armee. Am 6. Juli rückte sie aus der Gegend von
Dokszyce in fast südlicher Richtung auf Minsk. Sie bewegt
sich wahrscheinlich ebenso langsam wie die 15. Armee, da
sie eine massierte Stoßgruppe bildet. Als nun der Feind, das
heißt die Polen, ohne den Stoß abzuwarten, freiwillig zu-
rückgingen und Minsk preisgaben, schwenkt die Stoßgruppe
der 3. Armee, ohne etwas ausgerichtet zu haben, mit ent-
sprechendem Zeitverlust nach Nordwesten ein und nähert
sich diesmal der 15. Armee. Sie verbleibt ebenfalls am
11. Juli und an den folgenden Tagen ohne Fühlung mit
dem Feind. Die 16. Armee nimmt an diesem Tag Minsk und
trifft überall nur auf Nachhutpatrouillen, die befehlsgemäß
nur zu Erkundungszwecken zurückgelassen worden sind.
Es scheint somit ganz klar, daß die dreitägige Schlacht bei
Wilno ein Werk des Zufalls, nicht aber das Ergebnis ziel-
DIE KÄMPFE UM WILNO
133
bewußter Führung beiderseits ist. Dennoch hatten die Be-
deutung dieser Schlacht und ihr Ausgang weit größeren Ein-
fluß auf den weiteren Kriegsverlauf als die vorherigen weit
schwereren Kämpfe vom 4. und 5. Juli. Wir Polen hatten
von da ab statt eines Krieges zwei. Wie dies Tuchatschewsky
und Sergiejew richtig feststellen, trat Litauen aus seiner
bisherigen Neutralität heraus und stellte sich auf die Seite
Sowjetrußlands. Auf der Schale der Kriegsereignisse verur-
sachte dieses Ereignis bis Kriegsende eine weitere Belastung,
die unsre polnische Schale schwer niederdrückte. Es drückt
sie vielleicht bis heute noch. Der Kampf selbst war nicht
interessant, trotzdem ihn Sergiejew als erbittert bezeichnet.
Sobald er dank seinem persönlichen Einfluß an einigen Stel-
len stärkere Kräfte zum Angriff versammeln konnte, mußte
der Wahn einer „Place d’armes“ schwinden, und die gänz-
lich verstreuten Verteidiger Wilnos waren nicht weiter im-
stande, ihre Linie zu behaupten. Die Versuche von Gegen-
angriffen polnischerseits aber, die unternommen wurden
und sogar zur Einnahme von Podbrodzie führten, konnten
angesichts einer derartigen Unterlegenheit zu keinem Er-
gebnis führen. Als nun am 14. Juli Wilno fiel, bemerken
wir sogleich den Einfluß dieses Ereignisses auf die allge*
meine beiderseitige strategische Lage. In den polnischen Be-
fehlen finden wir von da ab im ersten Punkt stets die gleiche
Wendung: „Infolge der Umgehung unsres linken, nörd-
lichen Flügels durch den Feind“ gehen die restlichen Trup-
pen gegen Westen zurück. Sogleich nach der Einnahme von
Wilno am 14. Juli geht die am nächsten benachbarte 10.
und 17. Infanterie-Division, durch Paradiese von Schützen-
gräben und Drahtverhauen gedeckt, auf Lida zurück. Nach
ihnen beginnt der Rest der 1. Armee fast kampflos den
Rückzug. Noch weiter geht das gleiche bei der 4. Armee vor
134
DAS JAHR \ 920
sich, die ihre Schützengräben preisgibt, um eine neue Linie
ohne Stacheldrahtparadies hinter der Szczara zu besetzen.
So scheiterten alle strategischen Pläne plötzlich infolge der
zufälligen Schlacht hei Wilno. Die Geschenke der Strategie
für den Süden, die taktischen Belastungen für den Norden,
deren Anfang der Befehl General Szeptyckis vom 5. Juli
bildete, rächten sich blutig auf polnischer Seite.
Außer dem neuen Krieg und dem Umsturz unsrer strate-
gischen Lage hatten wir überdies einen gewaltigen morali-
schen Niedergang hei den Truppen, ihren Führern und der
ganzen Nation zu verzeichnen. Das, was der „armselige
Auta-Bach66 verschont hatte, das vollendete nun die Wilja,
die „Mutter unsrer Flüsse66. Ein fast amüsantes aber cha-
rakteristisches Zeichen dafür bildeten die Ereignisse der
nächsten Tage bei Lida. Zum erstenmal seit dem 4. Juli
bildet sich hier eine Art stärkere polnische Gruppe. Hier
sammeln sich einige Divisionen, die aus verschiedenen Rich-
tungen zusammenfluten, zu einer größeren Handlung. Jetzt
geschieht das, was noch einige Tage früher die Kämpfe bei
Wilno zu unsren Gunsten hätte entscheiden können. Doch
jetzt geschieht dies unter der Knute des Feindes, mit der
dem Sieg zuwiderlaufenden Absicht des Rückzugs, wobei
Artillerie verlorengeht und der Rückzug fast in regellose
Flucht ausartet. Nach dieser Schlacht hört auch das bis-
herige „Auf der Stelle hin und her trippeln66 der Sowjet-
truppen auf, die aus Furcht vor dem bisher siegreichen
Feinde kein genügendes Selbstvertrauen besaßen. Ein un-
bedeutendes Gefecht also, an dem verhältnismäßig wenig
Truppen teilnahmen, wurde zu einem gewaltigen Ereignis,
das in der Taktik des Kriegsschauplatzes tiefe Umwälzun-
gen bewirkte.
Bei der bisherigen Analyse unsrer Lage, die in unsrer
Tei
135
Niederlage bei Wilno abgeschlossen wurde, erwähnte ich kein
einziges Mal die Rolle, die unser Oberbefehlshaber darin
spielte. Ich verließ ihn bei seinem fast fertigen Entschluß,
den er noch vor den Kämpfen des 4. Juli gefaßt hatte, als
er zur Einsicht gelangte, daß er sein vorheriges Urteil über
die strategische Lage, die die Erfolge der Reiterarmee Bu-
diennys im Süden verursachten, ändern muß. In der Suche
nach neuen Mitteln zur Vermehrung unsrer Kavallerie war
ich mir bezüglich der Nordfront darüber im klaren, daß es
am besten ist, die ganze Front freiwillig ohne feindlichen
Druck zurückzunehmen. Dabei könnte man die Mitte auf
die Linie der deutschen Stellungen stützen und im Raume
der wirklichen „Place d’armes“ Wilno eine stärkere Ma-
növriergruppe bilden, die zu einem Stoß befähigt wäre. Im
Polesie-Gebiet hätte man damals größere Kräfte in Reserve
zurücknehmen können, denn die dortige Front wurde nach
Zurücknahme hinter den Ptycz-Fluß derart schmal, daß
größere Kräfte keinen Raum für ihre Entfaltung hatten.
Dazu kam es aber nicht.
Als ich Ende Juni General Szeptycki zwecks Besprechung
aller dieser Angelegenheiten nach Warschau berief, be-
merkte ich bei ihm eine große Depression. Während einer
Zusammenkunft mehrerer Generäle bei mir im Belvedere
erklärte er mir, daß er den Krieg eigentlich für verloren
halte und es für unbedingt nötig erachte, um jeden Preis
Frieden zu schließen. Er führte folgende Motive an: Die
Erfolge der Reiterarmee im Süden demoralisieren die Trup-
pen des ganzen Kriegsschauplatzes derart, und man be-
merkt bereits eine derartige Entmutigung im Innern des
Landes, daß es ihm unmöglich scheine, diese Erfolge abzu-
bremsen. Deshalb erwarte er, daß Budienny mit seiner Rei-
terei binnen kurzem tief in seinem Rücken in Brzese er-
(Beiiifcl
DIE KÄMPFE UM WILNO
136
DAS JAHR \ 920
scheinen würde, was ihm ein weiteres Verbleiben an der
Front unmöglich machen würde und den Rückzug in eine
regellose Flucht umwandeln könnte. Im Norden, wo er unsre
besten Truppen hätte, könnte er seine Front behaupten,
trotzdem ihr gegenüber eine sich ständig verstärkende
Feindgruppe in Bildung begriffen ist, die die Einnahme von
Minsk zum Ziel hat. Am gefährlichsten aber schiene ihm
das Anwachsen des nationalen Bewußtseins in der feind-
lichen Armee, das durch die Einnahme Kiews unsrerseits
verursacht wurde. Dies bewirkte den freiwilligen Eintritt
vieler Offiziere der soeben von den Sowjets zersprengten
Armee Denikins in die rote Armee, welche es zustande
brachten, in ihr Ordnung und Disziplin einzuführen. Wäh-
rend nun bei uns der Wirrwarr anwüchse, verhielte es sich
beim Feinde ganz umgekehrt, und es sei nicht ausgeschlos-
sen, daß angesichts der Mißerfolge im Süden bei uns revo-
lutionäre Unruhen entstehen könnten, die ein Eingreifen
von seiten der Truppen erfordern würden. Dazu eigneten
sich aber ausschließlich die von ihm befehligten ganz zu-
verlässigen Truppen.
Diese Motive leuchteten mir gar nicht ein, und den Vor-
schlag, um jeden Preis Frieden zu schließen, verwarf ich.
Dagegen gab ich mein Urteil über die Lage bekannt, sprach
die Hoffnung aus, die Fortschritte Budiennys im Süden
aufhalten zu können, und äußerte die Absicht, die ganze
Nordfront in der früher erwähnten Gruppierung zwecks
Zeitgewinn zurückzunehmen. General Szeptycki hingegen
hielt es für besser, den Kampf in den angeblich vorbereite-
ten Stellungen anzunehmen, die die Truppen besetzt hiel-
ten. Er sagte, er fühle sich in diesen Stellungen sicherer als
bei dem von mir geforderten Manöver.
Ich stand damals vor der Wahl, entweder General Szep-
DIE KÄMPFE UM WILNO
137
tycki als Frontoberbefehlshaber abzulösen oder seinen
Vorschlag anzunehmen. Ich ziehe nämlich immer einen
schlechteren Entschluß vor, wenn es sich dabei darum han-
delt, einen selbstbewußten Führer zu behalten. Nach eini-
gem Zaudern wählte ich die zweite Lösung, wobei ich aber
die Notwendigkeit betonte, im Falle eines Rückzuges eine
meiner Ansicht entsprechende Kräftegruppierung vorzu-
nehmen. Als der 4. Juli mit seinem Mißerfolg vorüber war,
war am 6. Juli schon mein Befehl aus Warschau unterwegs,
in dem ich General Szeptycki daran erinnerte, die Front
meiner Ansicht gemäß zu gruppieren. Meine Ansicht ent-
sprang nicht nur der großen strategisch-politischen Bedeu-
tung, die Wilno als Mittelpunkt des Lebens eines großen
Landstriches und Straßenknotenpunkt besaß, sondern auch
der einfachen Berechnung, die ergab, daß es unmöglich sei,
die Front längs der deutschen Stellungslinie auszudehnen,
die bis Dünaburg reichte. In der Gegend von Wilno mußte
daher in unsrer Nordflanke eine Gruppe außerhalb der
Schützengrabenstellungen verbleiben, für die man keinen
Stacheldrahtschutz finden konnte. Diese Gruppe würde an
dieser oder jener Stelle des feindlichen Angriffes zugleich
Wilno selbst decken. Im Verlaufe der damaligen Gespräche
und in unsren Befehlen bezeichnete man in Warschau diese
Gruppe als „stark66. Deswegen bildete auch der Befehl Ge-
neral Szeptyckis vom 5. Juli, der diesen Grundgedanken
völlig widersprach, eine sehr unangenehme Überraschung.
Alle Versuche General Szeptycki gegenüber, diesbezüglich
eine Wandlung zu bewirken, blieben fruchtlos. Ich betone
hier wie immer, daß ich als Oberster Feldherr immer bis
zu einem gewissen Grade mitverantwortlich bin. Wie ich
dies in einem von mir persönlich diktierten Schriftstück
zum Ausdruck brachte, das sich im militärhistorischen Büro
138
DAS JAHR \ 920
befindet und General Szeptyeki betrifft, bin ich der An-
sicht, daß mir die Verantwortung zufällt, General Szep-
tycki, der sich dazu in moralischer Hinsicht nicht eignete,
in seiner Führ er Stellung belassen zu haben. Trotzdem ich
sehr streng über alle zu Recht oder Unrecht den Obersten
Führern zur Verantwortung fallenden Tatsachen urteile,
kann ich wirklich nicht alle strategischen Ungeheuerlich-
keiten General Szeptyckis auf mich nehmen, die er während
des Rückzuges nach der Schlacht vom 4. und 5. Juli voll-
führte. Es widerspricht dem gesunden Verstand, dort stets
stärker zu sein, wo nicht gekämpft wird, und dort schwächer
zu sein, wo sich die Schicksale des Krieges entscheiden*
Wenn man überdies nicht danach trachtet, die offenbar
schlechte Kräftegruppierung abzuändern, so bedeutet dies
ein Sich-Unterwerfen unter den Führerwillen des Gegners.
Es bleibt noch übrig zu erwähnen, ob es wenigstens teil-
weise möglich war, den Willen des Obersten Feldherrn zu
erfüllen, der ausdrücklich auf die Gegend von Wilno hin-
wies, wo er eine stärkere Gruppe versammelt sehen wollte.
Ich stellte mir schon häufiger diese Frage und tue es bei
der vorliegenden Analyse wieder. Als Antwort zitiere ich
wörtlich einen Absatz des Befehls für die 4. Armee vom
7. Juli. Diese Armee ging auf einander zustrebenden We-
gen zurück, so daß sie von Tag zu Tag enger beisammen war
und ihre Lage sich von Tag zu Tag besserte. Ein Punkt die-
ses Befehls lautet: „Die 4. Infanterie-Division sammelt im
Zusammenhang mit dem Rückzug der 4. Armee ihre Trup-
pen im Raume von Minsk und besetzt die Befestigungen
von Minsk. Das 31. Infanterie-Regiment (es gehörte zur
10. Infanterie-Division), von dem zwei Bataillone die Be-
festigungen halten, ein Bataillon aber in Minsk steht, und
das 37. Infanterie-Regiment (es gehörte zur 6. Infanterie-
DIE KÄMPFE UM WILNO
139
Division), das sich im Marsch von Bobrujsk auf Minsk be-
findet, treten unter die Befehle des Gruppen-Kommandeurs
Oberst Kaliszek. Die Gruppe hat die Aufgabe, Minsk so
lange zu halten, bis die letzten Abteilungen der 2. Legionen-
Division durchmarschiert sind. Hierauf hat sie den weiteren
Rückzug zu decken.66 Wir sehen also, daß Minsk, das ver-
lassen werden soll, von zweieinhalb Divisionen gedeckt
wird. Wir isehen sogar den Luxus, daß eine Division den
Rückzug der andren deckt. Weiter bemerken wir ein in
Minsk untätig stehendes Infanterie-Regiment, das zu einer
in der Gegend von Wilno stehenden Division gehört.
Schließlich finden wir ein Regiment, das vereinzelt Minsk
zustrebt, welches in einigen Tagen geräumt werden soll, an-
statt nach Wilno zu marschieren, wo der Oberste Feldherr
auf die Notwendigkeit der Bildung einer starken Gruppe
hinwies. Überdies stehen in Minsk fahrbereite Eisenbahn-
züge und eine gebrauchsfähige Bahnlinie nach Wilno zur
Verfügung, die vom Feinde nicht bedroht ist, da doch an
der dem Feind nächstgelegenen Stelle, in Molodeczno, sich
noch am 7. Juli das Kommando der 1. Armee befindet.
Die Hälfte dieses Überflusses, das heißt eine Division
wenigstens, hätte leicht die untätig stehende 10. Infanterie-
Division von General Zeligowski ersetzen können, die mit-
tels sehr beschwerlichen Marsches aus der Gegend des Mad-
ziol-Sees, wo sie sich zusammen mit der 8. InfanterieJDivi-
sion befand, in südlicher Richtung herangezogen wurde, um
wie absichtlich unsren Nordflügel bei Wilno zu schwächen.
Wenn wir nun an jenes charakteristische Auf-der-Stelle-hin-
und-her-trippeln der 4. Armee Sergiejews vor unsren zwei
auf 100 Kilometer Front verstreuten Divisionen denken,
wenn wir uns klar darüber werden, daß weder am 11. noch
am 12. und wahrscheinlich am 13. Juli sogar keine andren
140
DAS JAHR \ 920
Sowjettruppen in den Kampf eingreifen konnten, wenn wir
schließlich in Betracht ziehen, daß die Verteidiger Wilnos
trotz ihrer Schwäche die einzige Gruppe der langen Front
Szeptyckis waren, die angriff, so können wir uns vorstellen,
daß hei dieser ganz im Bereiche der Möglichkeit liegenden
Unterstützung ein Sieg im Sinne des Obersten Feldherrn
über die ängstlich hin und her trippelnde 4. Armee Sergie-
jews möglich war. Es wäre dies ein Sieg über jene Armee,
die im weiteren Verlauf des Feldzuges bis vor Warschau
stets den unaufhörlichen Rückzug der Front Szeptyckis ver-
ursachte. Doch es wurde leider bis heute noch kein Mittel
erfunden, um im Kriege einem Sich-Unterwerfen unter den
Willen des Feindes entscheidend vorzubeugen.
VII
Rückzug auf Bug und Narew
Zwei Schlachten, die ich soeben analysiert habe, entschie-
den das Los des von Tuchatschewsky bis vor die Tore von
Warschau geleiteten Feldzuges. Die erste von ihnen wurde
von unsrer 1. Armee am 4. und 5. Juli ausgefochten, in-
dessen der Hauptteil unsrer Truppen, die 4. Armee und
die Gruppe Polesie, untätig verblieben und den Gegner
nicht hinderten, dank seiner Übermacht einen Teilsieg zu
erringen. In der zweiten focht nur ein kleiner Teil unsrer
Truppen, während der Rest der Front an keinerlei Kämp-
fen teilnahm. Jene beiden Schlachten öffneten zwar nicht
dem Gros Tuchatschewskys und seiner Stoßgruppe, dafür
aber seiner nördlichsten 4. Armee mit der Kavalleriegruppe
den weiteren Weg. Von da ab wurden alle unsre Versuche,
RÜCKZUG AUF BUG UND NAREW
141
den Feind aufzuhalten, seinerseits auf gleiche Weise wie
in der Schlacht bei Wilno entschieden. Sergiejew, der von
Wilno an sich mit seiner Armee und Reiterei in einem ver-
hältnismäßig schmalen Streifen bewegte, überflügelte syste-
matisch unsren Nordflügel und übernahm die Rolle einer
seitlichen Vorhut, die den Rest der Sowjettruppen hinter
sich herzog. Jede solche Überflügelung vereitelte, ähnlich
wie bei Wilno, jeglichen Versuch der 1. Armee, Wider-
stand zu leisten, und zwang sie zum Rückzug, worauf sich
die weiter südlich kämpfende 4. Armee gleichfalls beeilte
zurückzugehen. Da am äußersten Sowjetflügel Reiterei vor-
rückte, nahmen die Entscheidungen oft das Bild einer Nie-
derlage an, wenn man die riesigen Geländegewinne in Be-
tracht zieht. Unsre Versuche, Widerstand zu leisten, waren
eigentlich Episoden, die in strategischer Hinsicht einander
sehr ähnlich waren. Tuchatschewsky erwähnt zwar ausführ-
lich seine verschiedenen Kombinationen im Verlaufe seines
Vormarsches gegen die Weichsel. Auch unsrerseits gab es
die verschiedensten Berechnungen und Absichten. Ich will
jedoch von einer Analyse absehen, da alle diese Versuche
sich voneinander wenig unterschieden und unsre strategi-
sche Lage nicht veränderten. Sie bildeten, ich möchte sagen,
das schreckliche Erbe unsrer ersten Mißerfolge. Da jedoch
die erste Schlacht ein Halb sieg war, die Schlacht bei Wilno
aber zum Teil durch Zufall zustande kam, wird die Bedeu-
tung solcher Kämpfe für den Historiker stets ein seltsames
Rätsel bilden.
Der Vormarsch der Truppen Tuchatschewskys nach Öff-
nung des Weges für die 4, Armee und die Kavallerie
dauerte ununterbrochen. Auf einen Tag entfielen bis War-
schau und dessen Umgebung durchschnittlich 20 Kilometer,
also fast ein normaler Tagesmarsch. So lang währende, von
142
DAS JAHR \ 920
Kämpfen unterbrochene Märsche können sowohl dem Sol-
daten wie seinen Führern zur Ehre gereichen.
Ein Oberbefehlshaber aber, der genügend Kraft, Energie,
Willensstärke und Fähigkeiten besitzt, um solche Kriegs-
arbeit zu leisten, gehört sicherlich nicht zur gewöhnlichen
Durchschnittsklasse. Ich würde deshalb jetzt, wo ich dar-
über schreibe, im Büchlein Tuchatschewskys statt übertrie-
bener Wendungen und geschmackloser Beschimpfungen
wahrhaftig lieber die Methode erkennen, mit deren Hilfe er
diesen schönen Vormarsch organisierte. Jeder Historiker
und Analytiker muß ihn hierzu beglückwünschen. Die Fol-
gen dieses Vormarsches waren ungeheuer. Tuchatschewsky
will ihn in einer seiner strategischen Besprechungen mit
dem Vormarsch der deutschen Armee auf Paris vergleichen.
Diese unaufhörliche wurmartige wochenlange Vorbewe-
gung einer großen Feindesmasse, die hie und da sprung-
artig unterbrochen wird, erweckt den Eindruck von etwas
Unaufhaltsamem, das sich wie ein entsetzliches Gewitter-
gewölk heranwälzt und gegen das es kein Hindernis gibt.
Es liegt darin etwas Hoffnungsloses, das den innern Wert
des Menschen und der Masse erdrückt. Ich erinnere mich
an manche Gespräche aus jener Zeit. Einer der Generäle,
mit dem ich oft zu tun hatte, begann fast täglich seinen
Vortrag mit den Worten: „So ein Vormarsch! So ein Vor-
marsch!“ In diesen Worten lag teils Bewunderung, teils
bittere Hilflosigkeit. So ein Vormarsch erweckt hei Militärs
den Eindruck eines gespenstigen Kaleidoskops, in dem sich
die Lage mit ihren geographischen Punkten täglich ändert
und die Regiments- und Divisions-Nummern mit Ortsnamen
vermischt, während die Raumherechnungen ständig wech-
seln. Trotzdem sich in diesem Kaleidoskop die Bilder nur
langsam verschieben, verursacht es dennoch infolge der un-
RÜCKZUG AUF BUG UND NAREW
143
aufhaltbaren Bewegung nach einiger Zeit ein Chaos ver-
schiedener Kombinationen, Befehle und Meldungen, die
durch die inzwischen entstandene neue Lage schon nicht
mehr aktuell sind.
Unter dem Eindruck dieser heranziehenden Wetterwolke
zerbrach das Staatsgefüge, wankten die Charaktere und
wurden die Herzen der Soldaten weich. Überall sah ich den
Einfluß dieses Vormarsches. Früher schon erwähnte ich
den ähnlichen Einfluß, den die Reiterei Budiennys aus-
übte. Jetzt aber übertraf der unaufhörliche Vormarsch Tu-
chatschewskys sehr stark die vorherigen Ereignisse an Be-
deutung und Einfluß. Bei uns Polen entstand unter dem
Eindruck der Ereignisse immer deutlicher außer der äuße-
ren eine innere Front, deren Übergewicht — wie immer
in der Kriegsgeschichte — der Vorbote einer nahenden
Niederlage ist und den wesentlichsten Faktor nicht nur ver-
lorener Schlachten, sondern verlorener Kriege bildet. Tucha-
tschewsky will seinen Vormarsch auf Warschau mit dem
der Deutschen auf Paris vergleichen. Auch dort entstand
sicherlich eine innereFront, eineFrontdesunwiderstehlichen
Verstandes, der Schwäche und des Räsonierens der Feig-
linge. Doch Paris, welches im Verlaufe seiner Geschichte so
viele Proben siegreich bestanden hat, war kein Warschau, das
unlängst erst sich aus dem Schlamm der hundertjährigen
Knechtschaft erhoben hatte, wo ein Jahrhundert lang der
Verstand der Schwäche und das Räsonieren der Feigen
ihre Triumphe feierten. Deshalb war bei uns die innere
Front stärker als 1914 in Paris, wogegen der Widerstand
gegenüber dem Einfluß von Angst und Hilflosigkeit gerin-
ger war. Das Reich krachte in allen Fugen; die Anläufe
des Heeres verzettelten sich in Abwehrbewegungen, und die
Arbeit der Heeresleitung wurde mit jedem Tag moralisch
144
DAS JAHR 4 920
schwieriger und mühevoller. Zweifellos gab es mitten
zwischen Furcht, Ohnmacht und Hilflosigkeit verschiedene
Versuche, Elemente der Kraft und des Kampfes zu bilden,
doch man darf ihre geschichtliche Bedeutung nicht über-
schätzen. Sie entbehrten einer elementaren Gewalt und
Kraft und wurden durch wertloses Geschwätz und über-
große Organisationsmängel abgeschwächt. Dem Geschwätz
zuliebe warf man die sinnlose Parole einer neuen Freiwil-
ligen-Armee hin, wobei in erster Linie zahlreiche Stäbe voll
Neulinge entstanden. Es gelang mir, diesem Unsinn Einhalt
zu gebieten. Ich bestimmte das Bataillon als organisatorische
Grundlage und erlaubte nur, aus den stärksten und am we-
nigsten vorlauten Elementen eine Freiwilligen-Division zu
bilden, die übrigens bis Kriegsende Schulter an Schulter mit
den andren Divisionen kämpfte.
Dieser Zersetzungsprozeß unsrer Kräfte, dieses Versinken
der Willenskraft war meiner Ansicht nach der größte Tri-
umph Tuchatschewskys. Durch seinen Vormarsch auf War-
schau, der zweifellos in seinem Feldherrnwillen und seiner
Energie seinen Ursprung hatte, lieferte Tuchatschewsky den
Beweis, daß er weit über den Durchschnitt und die Alltäg-
lichkeit emporgewachsen war. Bei Durchblättern seines
Büchleins aber finde ich hie und da bewußte oder unbe-
wußte Lügen, mit denen er unnötigerweise seinen Vor-
marsch ausschmückt. Zur Charakteristik dieser unschönen
Dinge führe ich das Märchen von Tausendundeiner Nacht
an, das Grodno und den Njemen betrifft. Was gibt es dort
nicht! Wir sehen dort im Raume von Grodno einen merk-
würdigen, in unserer Geschichte unbekannten Aufmarsch
von fast sechs polnischen Divisionen von Westen und Osten.
Weiter ist die Rede von rätselhaften Bewegungen, die gar
nicht Platz hatten, von Fußvolkmassen, von Zermalmun-
RÜCKZUG AUF BUG UND NAREW
145
gen, verschiedenen Manövern und Gegenmanövern, die
schließlich in der „endgültigen Zertrümmerung und Demo-
ralisierung66 der polnischen Weiß-Armeen ihr Ende finden.
Wenn man nun diesen Roman liest, der sich in der Phan-
tasie des Herrn Tuchatschewsky abspielt — und solcher
Romane gibt es im Werk Tuchatschewskys recht viele —,
legt man das Buch mit einem gewissen Ekel beiseite. Wozu
auch so viel Narrentum in einem großen geschichtlichen
Kriegswerk!
Die Geschichte Grodnos ist kurz. Als sich das „Wilnoer
Tor66 vor der Armee Sergiejews und seiner Reiterei geöffnet
hatte und der Hauptteil der 2. litauisch-weißrussischen In-
fanterie-Division im doppelten Kampf gegen Sowjetrußland
und Litauen erlag, besetzte die Reiterei mit einigen Schwa-
dronen ihrer Vorhut Grodno. Dieses Grodno wird zur Be-
schönigung der Operationen nur in unsrer und der sowjet-
russischen Literatur als Festung bezeichnet, ähnlich wie wir
dort eine „Place d’armes66 ohne Bahnlinien, Befestigungen
ohne Stacheldraht, Trommelfeuer aus einigen verdorbenen
Kanonen und eine Festung mit verstreuten Forts finden, die
heute noch jeder besichtigen kann. Die Reiterei Sergiejews
überflügelte auf diese Weise stark den linken Flügel unsrer
1. Armee, die auf Parallelwegen von der blauen Wilja auf
ihren Geliebten, den grauen Njemen zurückging, ohne einen
Aufmarsch bei Grodno zu beabsichtigen, sondern um ein-
fach die Njemen-Szczara-Linie zu besetzen. An unsrem
äußersten Flügel, wo die 2. litauisch-weißrussische Infan-
terie-Division fehlte, befanden sich die 8. und 10. Infan-
terie-Division, die doch weder Tuchatschewsky noch Ser-
giejew zum zweitenmal weder zersprengen noch zermalmen
brauchte. Beide Verfasser hatten sie nämlich in ihren Wer-
ken auf ihrem Sedan-Wege, im Raume Hermanowicze—
\ 0 Pilsudski II
146
DAS JAHR \ 920
Szarkowszczyzna wenigstens schon fünfmal zersprengt und
zermalmt. Diesem Überfluß an Niederlagen zum Trotz, die
sie in den Büchern Sergiejews und Tuchatschewskys erlit-
ten hatten, erfüllten sie auch diesmal ihre soldatische
Pflicht. Unter dem Befehl von General Zeligowski, der bis-
her diese publizistischen Niederlagen nicht erlitt, mußten
beide Divisionen den Zugang zum Njemen, den sie versperrt
fanden, erkämpfen. Ähnlich wie am 6. Juli in Dunilowicze,
erwogen General Zeligowski und der Führer der 8. Infan-
terie-Division Oberst Burhardt-Bukacki, ob sie sich nicht
den Weg zum Njemen durch Grodno bahnen sollten, das
bereits von sowjetrussischer Reiterei besetzt war. Als es
ihnen aber gelang, bei Lunna Wola durchzustoßen, ließen
sie von einem Kampf um Grodno ab und überschritten den
Njemen in westlicher Richtung.
Mehr Märchen als Geschichte erscheint ebenso unsere
Kräftekonzentration auf Grodno aus dem Westen. Es ge-
lang uns außer einigen schnell zur Deckung unsres äußer-
sten Nordflügels an der neuen Njemen-Szczara-Linie ent-
sendeten Bataillonen noch rechtzeitig eine Brigade der
9. Infanterie-Division aus dem Polesie-Gebiet heranzutrans-
portieren, die wir auf Grodno, den schwächsten Punkt der
langen Front Szeptyckis, lenkten. Dies ist übrigens der ein-
zige Fall, wo der Nordteil der Front auf Kosten des Süd-
teiles verstärkt wurde.
Außer dem Grodnoer Märchen gibt es hei Tuchatschewsky
noch viele andre, so daß es schwer wäre, jedes von ihnen zu
berichtigen. Als Geschichtsforscher muß ich jedoch berück-
sichtigen, daß Tuchatschewsky sicherlich verschiedene Da-
ten und Angaben über uns hatte, die teils aus Gefangenen-
aussagen, teils aus andren damals von seinen Truppen er-
beuteten Dokumenten stammten. Diese bestimmt einander
RÜCKZUG AUF BUG UND NAREW
147
widersprechenden Daten und Angaben gaben ein vielleicht
sogar treues Bild des Wirrwarrs wieder, der bei uns bezüg-
lich Lagebeurteilung und verschiedener Versuche von Ge-
genmanövern herrschte. Aus diesem wahrscheinlich reichen
Material konnte er nach Belieben schöpfen. Ich selbst, der
Oberste Feldherr der polnischen Truppen, finde jetzt bei
meiner Arbeit mit einem gewissen Staunen und dem Ge-
fühl der Neuheit Dokumente und Papiere, die mir aus der
Zeit des Vormarsches Tuchatschewskys auf Warschau nicht
bekannt waren. Ich halte dieses übrigens gar nicht für ta-
delnswert, denn ich unterwarf mich damals keineswegs der
ängstlichen Stimmung und dem Gefühl der Ohnmacht und
blieb bezüglich der von General Szeptycki befehligten
Front bei einem ganz bestimmten Entschluß. Ich suchte
den Vormarsch zur Weichsel oder auf Warschau einzig mit-
tels eines Gegenangriffes aufzuhalten. Um meine diesbezüg-
liche Einstellung zu kennzeichnen, führe ich wörtlich mei-
nen Vermerk an, den ich im Jahre 1921, bei einem damals
weit frischeren Gedächtnis, auf einem historischen Schrift-
stück machte, das als „Angelegenheit General Szeptyckis“
bezeichnet war.
„Was die Operationen im Norden nach der Niederlage an
der Auta und Berezyna anbelangt, gestehe ich offen, daß es
mir zwecklos schien, diese oder jene Entschlüsse genau zu
überprüfen. Grundsätzlich kam ich auf den Plan der deut-
schen Stellungen mit einem starken linken Flügel außer-
halb der Schützengrabenstellungen bei Wilno zurück. Doch
während der ersten Angriffe gegen diel. Armee hörte ich auf,
an die Ausführung dieses Planes zu glauben. Er erforderte
nämlich: a) einen sehr schnellen Rückzug bei Aufgabe vie-
ler Dinge, um Zeit gewinnen zu können, b) eine Neuord-
nung der Truppen, c) die Ernennung neuer Führer, was für
\ o*
148
DAS JAHR \ 920
die Hebung des Geistes und Andeutung des Beginnes eines
neuen Zeitabschnittes für die Armee sehr wichtig war. Ich
bedachte dies alles im Laufe einiger Tage und ließ davon
aus folgenden Gründen ab: 1. Die Panik in der Etappe und
sogar weit von der Front im Hinterland begann sofort,
stimmte die Truppen sehr ängstlich und stellte die Arbeit
in der Etappe und auf den Eisenbahnen in Frage. 2. Die
persönlichen Verhältnisse in der Armee und speziell unter
den höheren Offizieren gehörten zu den ärgsten, die ich je
hei einem kriegsgeschichtlichen Studium kennenlernte. Ver-
änderungen in größerem Maße hätten also angesichts der
schlechten Moral im ganzen Lande zu einer organisatori-
schen Katastrophe führen können, die ohnehin stets drohte.
3. Ich fühlte eine moralische Neigung, mich selbst an die
Front zu begehen und dort den unmittelbaren Befehl zu
übernehmen. Und dieser Gedanke hielt mich am längsten
fest. Nur sehr ungern ließ ich diese Absicht fallen, da ich
zur Einsicht kam, daß die Moral im ganzen Lande sich so
schlecht für die weitere Kriegführung gestaltete und die
Stimmung so nervös und panikartig war, daß von da ab
außer der äußeren Front eine innere Front entstand, die
ich in meinen Berechnungen als bedeutendes Minus be-
rücksichtigen mußte. Ich wollte mich nicht leichthin meiner
Verantwortung entziehen und erkannte, daß vorläufig mein
Platz in Warschau sei, wo ich die Moral heben und die in-
nere Front wenn auch nur durch gute Haltung und selbst-
bewußtes Auftreten stützen mußte. Ich hielt also meine Ab-
reise für längere Zeit für unmöglich und faßte folgenden
allgemeinen Plan, den ich von da ab bis zu den Warschauer
Augusttagen heibehielt: 1. Die Nordfront kämpft um Zeit-
gewinn. 2. Im Innern des Landes werden energisch Reserven
vorbereitet, die ich damals an den Bug sandte, ohne sie in
RÜCKZUG AUF BUG UND NAREW
149
Rüekzugskämpfe der Nordfront zu verwickeln. 3. Budienny
wird erledigt, und aus dem Süden werden größere Kräfte
zum Gegenangriff herausgezogen, den ich aus dem Raume
von Brzesc zu führen beabsichtige. An diesem Plan hielt
ich bis zum Ende hartnäckig fest.46
Abgesehen von dem notizenartigen Stil meiner Anmer-
kungen am Rand jener Dokumente geben sie meine Erwä-
gungen als Oberster polnischer Feldherr getreu wieder.
Wenn ich schon nach den ersten Kämpfen vom 4. und
5. Juli so darüber dachte, so mußten mich die ergebnislosen
Versuche, unsre Lage an der Nordfront zu ändern, in dieser
Meinung noch bestärken. Bereits nach dem Verlust von
Wilno kam ich zur Überzeugung, daß das Überschreiten des
Bug und Narew durch unsre Truppen der entsprechende
Augenblick zum Wechsel der Führer an unsrer Nordfront
sein würde. Ich glaubte, daß unsre starken Truppen im Po-
lesie-Gebiet, die in Rückzugskämpfe fast gar nicht verwik-
kelt waren, den Raum von Brzesc würden behaupten kön-
nen, um auf diese Weise den Aufmarsch der Truppen aus
dem Süden zu decken, der zu einem stärkeren Gegenstoß
bestimmt war. Eine Grundbedingung für die Durchführung
dieser Konzentration war die Ausschaltung des starken
Kampffaktors, den der Feind in der Reiterei Budiennys
besaß. Mit der feindlichen Infanterie an unsrer Südfront
rechnete ich kaum. Nach der Niederlage, die ich der 12.
Sowjetarmee in der Ukraine bereitet hatte, verriet die
feindliche Infanterie nur wenig Unternehmungslust und
bildete eigentlich nur eine Zugabe zu den Operationen der
Reiterarmee Budiennys. Einige an dieser Front neu aufge-
tauchte Divisionen, deren eine den stolzen Namen „Eiserne
Division44 trug, stumpften ihr „Eisen44 schnell in Kämpfen
mit unsrer 3. Armee ab und büßten bald ihre Energie und
150
DAS JAHR \ 920
Kampflust ein. Das Schwungrad der Operationen im Süden
bildete die Reiterei Budiennys. Es schien mir nicht schwer,
nach Ausschaltung oder zumindest weitgehender Unschäd-
lichmachung dieser Reiterei stärkere Kräfte aus dem Süden
herauszuziehen, um sie ungefähr zwischen Kowel und
Brzese zu versammeln und vereint mit der wenig kampf-
müden Gruppe von Polesie zum Gegenangriff in nördlicher
Richtung anzusetzen.
Bei diesen meinen Erwägungen zog ich gleichfalls die Mo-
ral der Truppen in Betracht. Während ich im Norden eine
fortschreitende moralische Zersetzung bemerkte, beobach-
tete ich im Süden eine moralische Festigung und ein steigen-
des Vertrauen auf die endgültige Überwindung der kriti-
schen Lage. Dort, im Norden, ging die lange Front oft in-
folge kleiner Ursachen zurück, wobei die Truppen nicht
selten ohne Kampf und in Unordnung zurückfluteten; im
Süden hingegen bewahrten die Truppen ihre Manövrier-
fähigkeit und kehrten in die Kampfstellungen zurück. Diese
Kämpfe, wenn sie auch nicht immer siegreich waren,
schwächten von Tag zu Tag die Kräfte unsres Hauptgeg-
ners Budienny, wobei es ihm sehr schwer wurde, seine
Kräfte zu ersetzen. Der täglich wachsende Unterschied in
der militärischen Tätigkeit unsres Südens gegenüber der des
Nordens äußerte sich mit großer Klarheit in den Gelände-
strecken, die man beim Rückzug dem Feinde preisgab.
Wenn wir den 4. Juli als den Beginn unsrer Kämpfe im
Norden zum Ausgangspunkt unsres Vergleiches wählen und
am 20. Juli haltmachen, während die Truppen im Norden
ungefähr die Njemen-Szczara-Linie erreichen, so überzeu-
gen uns die entsprechenden Zahlen von der Richtigkeit
meines Urteils. Die 10. Infanterie-Division der 1. Armee
legte während dieser Zeit bei ihrem Rückzug 395 Kilometer
RÜCKZUG AUF BUG UND NAREW
151
zurück. Die 2. Legionen-Division der 4. Armee bewältigte
einen Rückmarsch von 295 Kilometern. Die entsprechenden
Zahlen der im Süden kämpfenden 6., 2. und 3. Armee be-
tragen 1009 80 und 130 Kilometer. Diese Zahlen sprechen
für sich und wurden von Tag zu Tag vielsagender. Die Or-
ganisation eines stärkeren Kavalleriekorps in der Gegend
von Zamosc schritt inzwischen langsam fort und näherte
sich ihrem Ende. Ich begab mich dorthin, um die organisa-
torische Arbeit zu beschleunigen und die Kavallerie mög-
lichst schnell verwendungsbereit zu haben. Ich rechnete da-
mit, daß ich wahrscheinlich gegen Ende Juli die entschei-
denden Operationen würde beginnen können. An den Bug-
und Narew-Fluß wurden einzelne Freiwilligen-Bataillone
und Ergänzungen für die zurückgehende 1. und 4. Armee
entsandt. Um den 25. Juli herum ordnete ich den Aufmarsch
im Süden zum Angriff gegen Budienny an. Diesen Angriff
sollte die 2. Armee von Norden aus dem Raume Beresteczko
führen, wohin die frisch aufgestellten Kavallerie-Divisionen
dirigiert wurden. Teile der 6. Armee sollten von Westen an
diesem Angriff teilnehmen.
Der Aufmarsch ging leider sehr langsam vor sich, und die
Kämpfe im Raume von Beresteczko entwickelten sich recht
unklar, so daß es mir schien, daß der Kampf keine schnel-
len und entscheidenden Erfolge bringen würde, obgleich
die Reiterei Budiennys von zwei Seiten gefaßt eine starke
Schlappe erlitten hatte und zum Rückzuge gezwungen war.
Leider konnte ich nicht die kämpfenden Truppen errei-
chen, wie ich es beabsichtigte. Mein Auto versagte auf den
von mehrtägigem Regen auf geweichten Wegen. Als ich dann
im Hauptquartier des Oberkommandierenden der Front,
General Rydz-Smigiys, in Chelm dem Verlauf der Kämpfe
mit Ungeduld folgte, eroberte der Feind bereits im Norden
152
DAS JAHR \ 920
Eomza und näherte sich rasch dem Bug und der Festung
Brzese. Ich erinnere mich, daß ich am 30. Juli General Si-
korski, der in Brzese befehligte, fragen ließ, wie lange ich
darauf rechnen könnte, daß er den Raum von Brzese halten
würde. Dies war mir sehr wichtig, da ich Teile der 3. Armee
absichtlich am Stochod zurückließ, um den Raum von Ko-
wel gegen Osten zu decken, wo ich nach Ausschaltung Bu-
diennys meine Kräfte zum Gegenangriff zu sammeln beab-
sichtigte. Die Antwort klang erfreulich. General Sikorski
meinte, er könnte den Raum von Brzese zehn Tage lang
halten, was meiner Ansicht nach genügend war, um meine
Operationen gegen die feindliche Reiterei trotz ihres lang-
samen Fortschreitens zu beendigen. Leider bildeten die Be-
rechnungen General Sikorskis einen Trugschluß. Brzese
fiel am 1. August und begrub damit meine ganzen Berech-
nungen. Wenn ich bei meinen Analysen oft boshaft gegen-
über einem übermäßigen Sich-Anklammern der Führer an
geographische Namen, geometrische Figuren und hochtra-
bende Bezeichnungen, die der Terminologie der Taktik und
Strategie entnommen sind, war, so versuchte ich aus demsel-
ben Grunde mehrmals auch an mir selbst, diese Bosheit zu
üben und trachtete zu ermitteln, ob ich in bezug auf Brzese
nicht in einen ähnlichen Hinterhalt verfallen war. Nach Ver-
lust dieser Quasi-Festung verharrte ich einen ganzen Tag,
ohne meine Befehle zu ändern, trotzdem General Zielinski,
der Führer der 3. Armee, in Kowel eine gegen Norden gänz-
lich ungeschützte Flanke hatte. Überdies führte von dem vom
Feinde eingenommenen Brzese eine Chaussee auf Kowel,
die um das Zweifache kürzer und viel bequemer war als
der Weg von Brody und Beresteczko, wo meine Kräfte, die
ich für den geplanten Gegenangriff verwenden wollte, noch
in unentschiedene Kämpfe verwickelt waren. Es handelte
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 153
sich um die Frage, ob ich die längs des Stochod und des
Oberlaufs des Styr befindlichen Deckungstruppen zurück-
nehmen und so auf den geplanten Angriff in nördlicher
Richtung, längs des Ostufers des Bug, verzichten oder bei
meiner bisherigen Absicht verbleiben sollte? Der Fall von
Brzesc, mit dem ich so viele Pläne verband und der so un-
erwartet eintrat, machte auf mich jedenfalls einen starken
und tiefen Eindruck. Nach vierundzwanzigstündigem Über-
legen und Zaudern nahm ich aber dennoch Abschied von
meinem bisherigen Plan und erteilte den Befehl zur Räu-
mung der Stadt Kowel und zur Zurücknahme der 3. Armee
an den Bug-Fluß.
VIII
Die Schlacht vor Warschau. Die polnische
Gegenoffensive
Am 2. August kehrte ich von Chelm nach Warschau zu-
rück, wo ich eine bedeutend ängstlichere Stimmung vorfand
als bei meiner Abreise. Der Narew-Fluß, das letzte Fluß-
hindernis, das Warschau gegen Norden und Osten schützte,
war fast ganz im Besitz des Feindes und tags darauf fiel
Lomza, während unsre ganze 1. Armee auf die Hauptstadt
zurückging. Am Bug-Fluß standen noch die Truppen uns-
rer 4. Armee und der Polesie-Gruppe in heißem Kampfe,
wobei sich der linke Flügel der 4. Armee infolge des Vor-
marsches der 15. und eines großen Teiles der 3. Sowjetarmee
längs des Bug nach Westen abbog. Weiter südlich gingen
ohne Druck seitens des Feindes die 3. und Teile der 2. Ar-
mee meinem Befehl gemäß auf den Bug zurück. Der Kampf
mit der Reiterei Budiennys flaute ab. Wir nahmen ihm
154
DAS JAHR \ 920
Brody weg, und seine Reiterarmee war, trotzdem unsre
Kavallerie gegen Ende des Kampfes bei Klekotow einen
kleinen Mißerfolg erlitt, nach diesem Gefecht nicht im-
stande, zu offensiven Operationen sofort überzugehen. So
änderte sich die allgemeine strategische Lage im wesentlichen
nicht. Wie dies vom 4. Juli an der Fall war, war die Lage im
Norden schlechter als im Süden, wobei man nach dem bis-
herigen Verlauf der Operationen darauf gefaßt sein mußte,
daß, sobald Sergiejew mit seiner 4. Armee einen Sieg davon-
trüge, unsre 1. und etwas später auch unsre 4. Armee zu-
rückgehen würden. Unsre Südfront aber, die unlängst einen
Teilsieg über Budienny errang, mußte ihrem Schicksal über-
lassen werden.
Beiderseits bestand aber ein wesentlicher Unterschied in
der strategischen Lage gegenüber den früheren. Vor allem
näherten sich die Sowjettruppen der polnischen Hauptstadt,
was unbedingt unsre Lage schwer belastete und dem Feind
das strategische Übergewicht verschaffte. Dieses Überge-
wicht konnte selbst die Tatsache nicht ausgleichen, daß
zum erstenmal seit langer Zeit die Reiterarmee Budiennys
sich teilweise geschlagen vor unsrer Front, und nicht wie
bisher im Rücken unsrer Front befand. Vielleicht änderte
sich die Lage noch mehr infolge der Tatsache, daß zwischen
der Nord- und der Südfront das gewaltige strategische Hin-
dernis des von Sümpfen umgebenen Prypec-Flusses aus-
schied. Wir Polen genossen nun alle Vorteile daraus,
wogegen die Sowjettruppen noch den Bug vor sich hat-
ten, der die Manövrierfähigkeit ihrer Truppen stark be-
schränkte.
Wenn wir das Büchlein Tuchatschewskys durchblättern,
ersehen wir daraus, daß er seine Niederlage vor Warschau
hauptsächlich dem Umstand zuschreibt, daß er die Operati-
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 155
onen im Norden und im Süden nicht in Einklang bringen
und zu einer gemeinsamen Kräfteaufbietung vereinigen
konnte. Tuchatschewsky widmet seinen Erwägungen, die
seine und unsre Lage während seines Anmarsches zur
Weichsel betreffen, zwei ganze Abschnitte. Es würde mir
schwerfallen, alle die sehr zahlreichen Fehler, die Tucha-
tschewsky in seinen uns betreffenden Angaben begeht, zu
berichtigen, da ich dadurch meine Arbeit zu sehr in die
Länge ziehen müßte. Ich will auch die Richtigstellung aller
Behauptungen Tuchatschewskys aus diesem Grunde vermei-
den, da beide Abschnitte das übrigens ganz verständliche
Gepräge einer Rechtfertigung der während seines Vormar-
sches zur Weichsel bei Warschau erlittenen Niederlage tra-
gen. Nach Besprechung einiger der krassesten Fehler will
ich dann zur sachlichen Beurteilung der strategischen Er-
wägungen Tuchatschewskys übergehen.
Wie schon erwähnt, sieht er den Hauptgrund seiner Nie-
derlage im Mangel eines harmonischen Zusammenwirkens
zwischen ihm selbst und dem Südteil der Sowjettruppen
— der 12. und 1. Reiter-Armee. Diese Klage scheint mir
unberechtigt zu sein. Tuchatschewsky behauptet zwar, daß
ihm früher schon der russische Oberbefehlshaber versprach,
nach seinem Überschreiten der Brzesc- und der Bug-Linie
alle gegen Polen angesetzten Kräfte unter seinem Oberbe-
fehl zu vereinigen. Doch der Bug-Fluß wurde im Süden
nicht überschritten, und der Feind schlug alle Übergangs-
versuche südlich von Brzesc erfolgreich ab. Sergiejew, der
ebenfalls darüber nachgedacht hat, ist gerechter und be-
hauptet: „Die Mißerfolge bei Chelm und Hrubieszow be-
wiesen, daß die 12. Armee nur dort durchkommen wird, wo
der Feind dies zulassen würde.64 Weiter sagt er, daß „die
Mißerfolge bei Brody zu Zweifeln in den Erwägungen füh-
156
DAS JAHR \ 920
ren mußten — nawiesti na razmyszlenja“ (Sergiejew S.
102, 103). Die Klagen Tuchatschewskys sind wirklich selt-
sam. Was würde er dazu sagen, wenn er die Klagen Budien-
nys darüber hören würde, daß, während er gleichfalls im
Vormarsch zur Weichsel begriffen war und sich der Stadt
Zamosc näherte, Tuchatschewsky schon vor Warschau ge-
schlagen war und ihn bei der Ausführung seines stolzen
Vorhabens nicht unterstützen konnte. Budiennys Klagen
über Tuchatschewsky wären ebenso gerechtfertigt, wie die
Klagen Tuchatschewskys über Budienny. Die Reiterei Bu-
diennys ging damals zum Teil geschlagen gegen Osten zu-
rück, um die erhaltenen Wunden zu heilen. Wir Polen
konnten in Brody, das wir dieser Reiterei genommen hat-
ten, ungestört unsre 18. Infanterie-Division, die Brody er-
obert hatte, verladen und in aller Ruhe nach dem bedroh-
ten Warschau abtransportieren. Vorläufig blieb noch die
12. Armee, die nach der im April in der Ukraine von mir
erlittenen Niederlage bis Kriegsende keinen großen mili-
tärischen Wert besaß. Es freut mich, bei Sergiejew dem glei-
chen Urteil zu begegnen, und ich stelle fest, daß sie wäh-
rend der ganzen Schlacht bei Warschau nicht nur den Wi-
derstand von drei Divisionen, die ihr damals gegenüber-
standen, sondern sogar den Widerstand einer einzigen Divi-
sion (7. Infanterie-Division) zu brechen nicht imstande war,
die bis zur Beendigung der Warschauer Schlacht die rechte
Flanke unsres Gegenangriffes vom Wieprz-Fluß her bei
Chelm deckte. Entweder mußte Tuchatschewsky, wenn er
auf gemeinsames Zusammenwirken mit dem Süden rech-
nete, die Entwicklung der Operationen im Süden abwarten
beziehungsweise sie unterstützen, oder aber er durfte, so-
bald er sich entschlossen hatte, den endgültigen Vormarsch
zur Weichsel anzutreten, ohne auf effektive Unterstützung
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 157
aus dem Süden rechnen zu können, nicht nachträglich dar-
über klagen.
Indessen entschließt sich Tuchatschewsky, trotzdem er
auf dieses Zusammenwirken rechnet, nicht nur zum Vor-
marsch, sondern verschiebt sehr deutlich durch den Befehl
vom 8. August seine Truppen weiter gegen Norden, wobei
er sogar Warschau mit seinen Hauptkräften (2 Armeen)
umgeht, so daß es den Anschein erweckt, als ginge er diesem
Zusammenwirken aus dem Wege. Er erhielt übrigens die
nördlichste Division der 12. Armee (58. Schützen-Division)
als Unterstützung zugewiesen, die sich etwas südlich Brzesc
der Stadt Wlodawa näherte. Ich gestehe, daß ich mich wäh-
rend des Krieges selbst, wie auch heute noch, wenn ich ihn
analysiere, nicht des Eindrucks erwehren kann, daß Tucha-
tschewsky mit diesem Zusammenwirken gar nicht rechnete.
Er steckte sich nämlich, wie dies aus seinem Befehl, den ich
jetzt erst lese, ersichtlich ist, so weite Ziele wie die Forcie-
rung der Weichsel zwischen Plock und Modlin. Solch ein
Ziel konnte man aber weder mit der mutlos vor dem Bug
hin und her trippelnden 12. Armee noch mit der etwas mit-
genommenen Reiterarmee Budiennys verbinden, die nach
ihrem Mißerfolg bei Brody einige gute Tage hindurch kein
Lebenszeichen von sich gab. Wenn schon der Aufmarsch
der Sowjettruppen bei Warschau, den ich übrigens erwar-
tete, Tuchatschewsky über 200 Kilometer von der am Bug
stehenden 12. Armee gegen Westen entfernte, so vergrößerte
sein Vormarsch über die Weichsel unterhalb Warschau (der
mir unerwartet kam) diesen Zwischenraum um gute hun-
dert Kilometer und machte das Zusammenwirken mit der
weit östlich zurückgebliebenen 12. Armee völlig gegen-
standslos.
Als ich Tuchatschewsky bei Beginn meiner Arbeit charak-
158
DAS JAHR \ 920
terisierte, sagte ich, daß ich ihn für einen zu einseitig, aus-
schließlich von seiner Aufgabe und seinen Plänen erfüllten
Feldherrntypus halte. Diesen Typus bezeichne ich alsTheo-
retiker, der Grundsätzen huldigt, für den eine „Realite des
choses“ Napoleons selten besteht. Ich glaube, daß Tucha-
tschewsky auch in diesem Fall die Lage im Süden seiner Ar-
meen nicht genügend ernst nahm und sich über die ihm
dort drohende Gefahr sorglos hinwegsetzte. Sein zweites
Vergehen gegen die „Realite des choses“ scheint mir die
Unterschätzung des Gegners zu sein, den er in seiner Phan-
tasie und in seinem Buch so oft „zermalmte“, „vernichtete“
und „zersprengte“. Diesbezüglich hatte er aber eine wesent-
liche Rechtfertigung. Bisher kämpfte er gegen General
Szeptycki, wobei sich sein „Vormarsch zur Weichsel“ ver-
hältnismäßig sehr leicht gestaltete, da er alle Widerstands-
versuche mit Hilfe der 4. Armee allein vereitelte. Er verstand
es übrigens, häufiger gegenüber unsrer 1. Armee überwie-
gende Kräfte zu versammeln, während er gegen den Rest
unsrer Truppen nur schwache Kräfte zurückließ, wie wenn
er dessen sicher wäre, daß ihm unsrerseits keinerlei Über-
raschung drohe. Sobald aber Tuchatschewsky in seinem
Büchlein die Lage erwägt, verfällt er stets in einen merk-
würdigen Widerspruch. Einerseits glaubt er an die so oft
wiederholte „Zermalmung“ und behauptet, „es wären dies
nicht mehr dieselben Truppen gewesen, gegen die wir im
Juli zu kämpfen hatten“, denn sie seien vollständig demo-
ralisiert worden. Abgesehen von dieser „Zermalmung“ wa-
ren Etappe und Hinterland voll von Deserteuren. Daneben
schien es Tuchatschewsky in seiner Phantasie, daß es im
Innern Polens infolge der verschärften Klassenunterschiede
„dumpf gewitterte“, „brodelte und wallte“, also siedete.
Er durfte somit einen solchen Gegner geringschätzen!
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 159
Tuchatschewsky beschreibt aber selbst auf übertriebene und
unwahre Weise das unglaublich schnelle Anwachsen unsrer
Kräfte zu jener Zeit. Er fügt hinzu, daß die Neuformatio-
nen „trotz jungem Alter und Mangel an Ausbildung genü-
gend kampftüchtig waren64. Er sieht sogar eine der Ursachen
seiner Niederlage bei Warschau in dem anwachsenden
Kampfwert unsrer Truppen. Ich behaupte wiederum, daß
solche Widersprüche, die einer „Realite des choses66 offen-
bar widersprechen, nur im Kopf eines Theoretikers entste-
hen können.
Der Befehl Tuchatschewskys vom 8. August war die Folge
seiner Überlegungen und Erwägungen. Diesen Befehl wie-
derholt auch Sergiejew. Der Leser findet seinen kurzgefaß-
ten Inhalt im Büchlein Tuchatschewskys auf Seite 306 bis
307 und in der Skizze 12, wo Tuchatschewsky darzustellen
versucht, wie er sich die Ausführung dieses Befehls vor-
stellt. Ich muß hinzufügen, daß dieser Befehl uns Polen
unbekannt war und wir unsre Schlüsse ausschließlich auf
die Beobachtung der Bewegungen des Gegners gründen
mußten. Die Geringschätzung des Feindes ist in diesem
Befehl sehr deutlich. Tuchatschewsky wußte, daß wir ge-
rade im Raum von Warschau, zu dem ich auch Modlin ein-
beziehe, möglichst starke Kräfte zur Verteidigung von War-
schau versammelten; er spricht davon ausdrücklich bei sei-
nen Erwägungen. Trotzdem lenkt er auf Warschau und
Modlin seine zwei südlichen Armeen. Seine beiden nörd-
lichen, die stärkste 15. Armee einbegriffen, setzt er zur Um-
gehung Warschaus ein und befiehlt ihnen, die Weichsel
zwischen Plock und Modlin zu forcieren. Er vollführt also
ein Manöver, das seine ohnehin schon von der am Bug ste-
henden 12. Armee weit entfernten Kräfte durch das breite
und starke Flußhindernis der Weichsel in zwei Teile spal-
160
DAS JAHR \ 920
tet. Es gehört eine sehr schlechte Meinung über den Feind
und seinen Kampfwert dazu, ein so gefährliches Manöver
zu wagen. Die Gruppe Mozyrz, die Sergiejew auf zwei Divi-
sionen berechnet, konnte dabei die Deckung dieses Manö-
vers gegen Süden übernehmen. Dazu kommt noch die 58.
Schützen-Division, die Tuchatschewsky von der 12. Armee
erhielt, und die sich zwar der Gruppe Mozyrz näherte, aber
noch recht weit rückwärts war. Diese Gruppe erhält jedoch
in jenem Befehl nicht die klare Aufgabe, das beabsichtigte
Manöver gegen Süden zu decken. Im Gegenteil, Tucha-
tschewsky befiehlt ihr, gleichfalls über die Weichsel vorzu-
rücken und sie im Raume von Dublin zu forcieren.
Ich wiederhole, daß mir der Inhalt dieses Befehls völlig
unbekannt war. Ich beobachtete nur den Anmarsch der
Sowjettruppen aus allen Richtungen auf Warschau. Da ich
wußte, wie groß die Bedeutung jeder Hauptstadt im Krieg
ist, vermutete ich, daß Tuchatschewsky trachten würde, alle
seine Kräfte zu vereinigen, um unsren Widerstand zu bre-
chen und Warschau zu erobern. Ich bemerkte zwar gewisse
Bewegungen der Reiterei Sergiejews, die den Eindruck er-
weckten, die nördliche 4. Armee, zumindest aber ihre Rei-
terei, rückte nicht auf Warschau, sondern in rein westlicher
Richtung vor. Doch ich schrieb dies der Absicht Tucha-
tschewkys zu, uns mit Hilfe eines durch Infanterie unter-
stützten Kavallerie-Raids von Danzig und vom Meer abzu-
schneiden. In den Erwägungen Tuchatschewskys finde ich
gleichfalls dieses Leitmotiv. Es scheint jedoch, daß Tucha-
tschewsky bei der Erteilung seines Befehls Danzig verwarf,
denn er befiehlt der 4. Armee am 8. August, lediglich
in der Richtung von Thorn eine schwache Deckung zu ent-
senden.
Wir finden in den unsre Operationen betreffenden Er-
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 161
wägungen Tuchatschewskys noch ein merkwürdiges Miß-
verständnis. Er behauptet nämlich, wir hätten fast alle
Truppen aus Ostgalizien verschoben und dort nur ukrai-
nische Abteilungen Petluras und General Pawlenkos zu-
sammen mit einer Kavallerie-Division zurückgelassen. Tu-
chatschewsky selbst zweifelt zwar an der Richtigkeit dieser
Behauptung und meint, es könnte wohl auch ein Teil der
Infanterie-Divisionen als Rest unsrer Armee zurückgeblie-
ben sein; er lobt aber an andrer Stelle unsre Kühnheit und
scheint darin eine Verstärkung unsrer gegen ihn versam-
melten Kräfte zu sehen, was ihm weiteren Grund zu einer
schweren Anklage bietet, seine Kameraden im Süden hät-
ten ihn während seiner Niederlage bei Warschau nicht un-
terstützt. Der tatsächliche Sachverhalt gestaltete sich indes-
sen ganz anders. Aus dem Verbände unsrer 6. Armee wurde
lediglich die 18. Infanterie-Division und ein kleiner Teil
der Kavallerie abtransportiert, während die 12., 13. und
die Hälfte der 6. Infanterie-Division dort verblieben. Außer-
dem kam dort die im Norden stark mitgenommene 5. In-
fanterie-Division hinzu, die ich nach Lemberg zwecks Er-
gänzung und Reorganisierung abschieben ließ, da sie größ-
tenteils aus Einwohnern von Lemberg und Ostgalizien zu-
sammengesetzt war. Zu jener Zeit aber, als Tuchatschewsky
am 6. und 7. August seinen Befehl vorbereitete, standen der
12. Armee noch meine zwei besten Divisionen, die 1. und
3. Legionen-Division, gegenüber. Dieser Tatbestand konnte
Tuchatschewsky nicht völlig unbekannt sein, und wenn
auch das Eintreffen der 18. Infanterie-Division in War-
schau seiner Aufmerksamkeit entgangen wäre, so konnten
die übrigen Verschiebungen, die später stattfanden, bei sei-
nem Entschluß vom 8. Juli nicht in Betracht gekommen
sein. Ich beschäftige den Leser so lange mit diesen einlei-
\ \ Pilsudski II
162
DAS JAHR \ 920
tenden Erwägungen, da es oft wirklich schwer ist, in den
beiden Abschnitten, die Tuchatschewsky den Vorbereitun-
gen zur Schlacht bei Warschau widmet, die historische
Wahrheit zu ermitteln. Er hat nämlich in seinem Büchlein
viel Wehmut ob der mißlungenen Operationen und eine
Menge von Beweggründen dazu gemischt, die mit seinen Ge-
danken vor der Ausgabe des Befehls vom 8. August in kei-
nerlei Zusammenhang standen und späterem Erwägen und
Ermessen entsprangen.
Merkwürdigerweise stimmen die Daten der grundlegen-
den Befehle beider Seiten für die Schlacht bei Warschau
fast überein; den Unterschied bilden kaum zwei Tage, da
unser Befehl am 6. August bekanntgegeben wurde. Ich muß
vor allem die seltsame Behauptung richtigstellen, daß dieses
Datum angeblich mit einem Kriegsrat in Zusammenhang
stünde. Im Laufe des Krieges faßte ich nämlich alle wichti-
gen Entschlüsse selbständig, ohne je einen Kriegsrat zu be-
rufen. Als ich am 2. August aus dem Süden, aus Chelm,
nach Warschau zurückkehrte, fand ich dort eine sehr be-
ängstigte Lage vor. Ich fühlte sofort den Druck meiner mi-
litärischen Umgebung, der darauf abzielte, angesichts der
Bedrohung unsrer Hauptstadt Warschau neue Entschlüsse
zu fassen. Es bestanden wohl damals keine Zweifel darüber,
daß gerade Warschau das Ziel der Operationen Tuchatschew-
skys sei. Die Nerven aller verantwortlichen Zivil- und Militär-
personen waren äußerst gespannt. Die seit einem Monat wäh-
renden Mißerfolge mit allen ihren Folgen moralischer und
materieller Art bedrückten sehr stark, wie dies gewöhnlich
in solchen Fällen zu sein pflegt, alle Militärs. Ich selbst war
zwar entschlossen, bis zum Äußersten zu kämpfen, doch
der vereitelte Gegenangriff aus dem Raum von Brzese übte
seine Wirkung auf mich aus, und ich sah im ersten Augen-
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 163
blick keine vernünftige Lösung. Ich befreite mich daher
von jedem Druck und sagte meinen Entschluß für den
6. August an. Jeder Analytiker wird schon in der Wahl die-
ses Datums, das ich für glücklich hielt, da es der Jahrestag
meines Ausmarsches aus Krakau in den Krieg im Jahre
1914 war, unschwer das Gefühl von Unsicherheit und mora-
lischen Tastens entdecken. Die Zeiten, in denen die Feld-
herrn Wahrsager zur Seite hatten, welche die glücklichen
und ungünstigen Tage bezeichneten, waren doch schon
längst vorbei. Ich kann daher behaupten, daß das Datum
meiner Befehlserteilung in keinerlei Zusammenhang mit
der richtigen oder falschen Beurteilung der Lage durch
irgend jemand stand. Angesichts dessen jedoch, daß um die-
sen Entschluß herum bei uns ein äußerst lächerlicher Kno-
ten von Klatschereien, Mutmaßungen und Märchen ent-
stand und selbst in Broschüren und Veröffentlichungen,
deren Widerhall man sowohl bei Tuchatschewsky als auch
bei Sergiejew findet, breitgetreten wurde, will ich mich ein
wenig der historischen Wahrheit zuliebe bei dieser übri-
gens ganz unwichtigen Angelegenheit aufhalten.
Von Amts wegen standen mir damals drei Herren am
nächsten: General Rozwadowski als Chef des Generalstabes,
General Sosnkowski als Kriegsminister und General Wey-
gand, der kürzlich erst aus Frankreich in der Eigenschaft
eines technischen Beraters der englisch-französischen Mi-
litärmission gekommen war, welche man uns in jener be-
drohlichen Zeit geschickt hatte. Die Ansichten dieser Her-
ren über die Lage gingen wie gewöhnlich sehr auseinander.
Da nun die Lage ungewöhnlich gespannt war, waren wahr-
scheinlich auch die Debatten während meiner Abwesenheit
nicht gerade angenehm. Ich fand nämlich folgende Lage
vor, daß, wie ich mit Lachen feststellen mußte, zwei dieser
164
DAS JAHR \ 920
Herren, General Rozwadowski und General Weygand, mit-
einander ausschließlich mittels diplomatischer Noten ver-
kehrten, die am Sachsenplatz von einem Zimmer ins andre
befördert wurden. Der Kriegsminister General Sosnkowski
spielte dabei die Rolle eines besänftigenden und guten
Schutzgeistes, der diese Widersprüche der beiden miteinan-
der in Streit befindlichen Herren zum Ausgleich brachte.
Tuchatschewsky hatte anscheinend etwas von diesem Streit
gehört, denn er sagt, daß französische und polnische Ge-
schichtschreiber die Schlacht an der Weichsel mit dem
Marne-Feldzug zu vergleichen lieben. Tatsächlich wurde
die Marne sehr oft in Gesprächen erwähnt, wobei General
Weygand und General Sosnkowski eine große Vorliebe für
die Marne bewiesen. Wie einst Marschall Joffre die Marne
oder Seine als Deckung benützen wollte, um unter ihrem
Schutz seine bisher auf dem linken Flügel zurückgehenden
Truppen umzugruppieren, hinter dem sich die Hauptstadt
Paris befand, so suchte man auch hier nach einem Manöver
des starken linken Flügels unter dem Schutz des San-Flus-
ses und der Weichsel im Raum von Warschau und Modlin.
Hier wie dort beabsichtigte man einen Gegenangriff des
linken Flügels aus dem Raum der Hauptstadt. General Roz-
wadowski war ein Gegner dieser Marne, da er sich über-
haupt allem widersetzte, was in einem andren Zimmer des
Generalstabsgehäudes am Sachsenplatz gesagt wurde. Als
ganz eigenartiger ostgalizischer Lokalpatriot konnte er sich
übrigens innerlich mit der ihm wohlbekannten und feind-
lichen Parole „Über den San66 nicht ahfinden. Hingegen
überschüttete er uns wie gewöhnlich mit einer Fülle von
Plänen, wobei er bei keinem von ihnen länger verweilte
und sie fast jede Stunde änderte.
Ich schreibe dies keineswegs, um General Rozwadowski
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 165
Abbruch zu tun, sondern erwähne es angesichts der bei uns
manches Mal auftauchenden Absicht, diesen General, der
sich gerade in jener so schweren Zeit große Verdienste er-
worben hatte, lächerlich zu machen. Ich wählte ihn nicht
deshalb zum Chef des Generalstabes, weil er sich dazu am
besten eignete, sondern weil er eine glückliche und würdige
Ausnahme unter der Mehrzahl der damaligen älteren Gene-
räle war. Nie büßte er die Elastizität seines Geistes, die
Spannkraft seiner Energie und seine moralische Kraft ein.
Er wollte an unsren Sieg glauben, während sehr, sehr viele
das Vertrauen verloren hatten und nur noch mit gebroche-
ner Willensstärke arbeiteten. Dies versöhnte mich mit den
vielen Mängeln des Generals als Generalstabschef, obwohl
ich mich nicht erinnern kann, ob es überhaupt eine Ange-
legenheit gegeben hat, mit der er sich länger als eine Stunde
befaßte. Es wunderte mich daher gar nicht, daß General
Weygand, der an systematische Stabsarbeit gewöhnt war,
schließlich in seinen Beziehungen zu ihm zu diplomati-
schen Methoden gegriffen hatte*).
Ich selbst nahm nur geringen Anteil an diesen Debatten
und Streitereien. Trotzdem erfand ich ähnlich wie andre,
ja sogar wie Tuchatschewsky, einen historischen Vergleich,
der mir heute noch am treffendsten erscheint, soweit histo-
rische Vergleiche überhaupt zutreffen können. Tucha-
*) Irgendein Kerlchen macht in einer neuherausgegebenen Broschüre „Der
Feldzug 1920 im Lichte der Wahrheit“ General Rozwadowski lächerlich und
schreibt ihm ganz unglaubliche Dinge zu, mittels welcher er mich angeblich als
Obersten Feldherrn zermürben wollte. Dieses Schriftchen erhielt bereits eine
scharfe Entgegnung von seiten des Generals Piskors, mit dem ich in operativen
Angelegenheiten mehr zu tun hatte als.mit General Rozwadowski. Ich halte es
für zwecklos, mich mit derartiger Literatur zu befassen, denn wenn auch ihr
Verfasser ein Bewunderer General Rozwadowskis ist, so kann man hier wirklich
das russische Sprichwort anwenden: „Der dienstfertige Dummkopf ist gefähr-
licher als ein Feind.“
166
DAS JAHR \ 920
tschewsky, der seine Klagen über den Süden deutlicher ge-
stalten will, vergleicht die Schlacht bei Warschau mit der
Niederlage Samsonows in Ostpreußen 1914. Wie hier Bu-
dienny und der Führer der 12. Armee, so setzte sich dort
General Rennenkampf andre Ziele und eilte Samsonow
nicht rechtzeitig zu Hilfe, als Feldmarschall Hindenburg
seine Kräfte gegen ihn gesammelt hatte und ihm eine Nie-
derlage bereitete. Ich hingegen verglich Tuchatschewskys
„Marsch über die Weichsel“ mit dem Marsch „über die
Weichsel“, den General Paskiewicz im Jahre 1830 voll-
führt hatte. Ich behauptete sogar, daß die Grundidee und
der Aufbau des Feldzugs wahrscheinlich aus dem Archiv
des polnisch-russischen Krieges aus dem Jahre 1830 stammt.
Mit einem gewissen Triumphbewußtsein bemerkte ich hei
der Lektüre Tuchatschewskys und Sergiejews, daß gewisse
Beweggründe, denen ich bei Feldmarschall Paskiewicz be-
gegnete, welcher gegen das aufständische Warschau kämpfte
und zum Andenken an seine Taten den Titel eines Fürsten
von Warschau trug, den Beweggründen Tuchatschewskys,
der fast 100 Jahre später nach dem Besitz unsrer Haupt-
stadt griff, sehr ähnlich sind. Sowohl Tuchatschewsky als
auch Paskiewicz stützten ihren rechten Flügel, das Gros
ihrer Kräfte, auf angeblich neutrale Staaten, die uns aber
ausgesprochen feindlich gesinnt waren. Schon bei Beginn
seiner Operationen erwuchs Tuchatschewsky ein großer
Nutzen daraus, daß ihm Litauen aktive Hilfe leistete. Mit
einer gewissen Unruhe folgte ich nun den Ereignissen, als
sein rechter Flügel sich auf gleiche Weise auf Ostpreußen
zu stützen begann. Ich befahl sogar zu ermitteln, oh er
nicht wie seinerzeit Paskiewicz den gleichen Nutzen daraus
zog. Paskiewicz nämlich hatte ebenso wie Tuchatschewsky
sehr schwierige und unbequeme rückwärtige Verbindungen
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 167
und suchte daher nach preußischer Hilfe, die sich auf das
gemeinsame Interesse jener Mächte stützte, die an den Tei-
lungen Polens Anteil hatten. Diese Hilfe bestand in Liefe-
rungen alles dessen für die Truppen, was diese zum Leben
benötigten. Besonders befürchtete ich die Lieferung von
Munition, an der wohl Tuchatschewsky nach dem langen
Vormarsch von der Düna und Berezyna auf Warschau Man-
gel haben konnte.
Alle historischen Vergleiche lassen zwar manches zu
wünschen übrig, sie sind aber trotzdem ein Bedürfnis jedes
gebildeten Verstandes. Dies muß auch ein besondres Merk-
mal von Militärs sein, da sie ihren Verstand und ihren Cha-
rakter durch Studium der Kriegsgeschichte und längst ver-
gangener Kriegskunst bilden. Beispiele aus der Geschichte
sind also in den Erwägungen der Führer sehr oft die durch
mich so genannten Gedankenknoten. Sie sind wohl nie so
stark und mächtig wie Gedankenknoten, die verschiedenen
Schulregeln und Regelchen entnommen sind. Bei histori-
schen Beispielen, die man in Debatten anwendet, braucht
man wohl sehr selten an den unter der Kuppel des Invali-
dendoms in Paris angebrachten mächtigen Ausruf zu erin-
nern: „Mais c’est la realite des choses qui commande, mes-
sieurs!“, denn selten nur bilden historische Beispiele eine
treibende Macht für die Menschen und somit auch für den
Feldherrn. Wenn ich nun aber dieses Thema berühre und
mit Tuchatschewsky auf literarischem Gebiet meinen De-
gen kreuze, möchte ich nicht die Gelegenheit übergehen,
um ihm zu sagen, daß das Beispiel des Marne-Feldzuges für
ihn auch nicht ganz unberechtigt ist.
Natürlich handelt es sich dabei nicht um die strategische
Lage und den Plan der Schlacht, da doch diese wirklich aus
einem ganz einfachen Grund nichts miteinander gemein-
168
DAS JAHR \ 920
sam haben. Während General von Kluck seinen rechten
Flügel gegen Paris entblößte und sich der benachbarten
Armee des Generals von Bülow näherte, entfernte sich Tu-
chatschewsky von seinen Nachbarn im Süden und entblößte
eher seinen linken Flügel, während er seinen rechten Flü-
gel planmäßig auf das neutrale, den Polen jedoch feindlich
gesinnte Ostpreußen stützte. Eine gewisse Ähnlichkeit finde
ich eher schon in der geistigen Grundlage der Befehle und
Operationen der Deutschen im Jahre 1914 und Tucha-
tschewskys im Jahre 1920 — in der Unterschätzung näm-
lich des Gegners. Tuchatschewsky „zersprengte44, „zer-
malmte44 und „vernichtete44, wogegen die Generäle v. Kluck,
v. Bülow und v. Hausen, die in ihren Meldungen dieser
russischen Ausdrücke entbehrten, tagtäglich ins Haupt-
quartier Siegesbotschaften sandten, in denen der Feind
„fluchtartig44 den drohenden Kohorten der Deutschen aus-
wich. Als man schließlich im deutschen Hauptquartier an
die Zerschlagung der französischen Armee auf Grund die-
ser Meldungen zu glauben begann, schwächte man sie um
zwei Armeekorps, die anderswo benötigt wurden und die
gerade zum „Sieg44 an der Marne fehlten. Bei der Lektüre
Tuchatschewskys und Sergiejews stellte sich heraus, daß
während des Rückzuges von der Düna und Berezyna zur
Weichsel die 8., 10. und 1. litauisch-weißrussische Infante-
rie-Division am häufigsten „zersprengt44, „zermalmt44, „end-
gültig demoralisiert44 und „kampfunfähig44 waren. Gerade
diese Divisionen überstanden den ganzen Rückzug in mora-
lischer Hinsicht am besten, und ihr Gegenangriff brachte
die ersten Erfolge beim unmittelbaren Angriff auf War-
schau zum Scheitern.
Wenn ich nun zu meinem Entschluß vom 6. August über-
gehe, muß ich gleich bemerken, daß im Verlaufe dieser
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 169
Debatten, die ich manchmal mit Unwillen anhörte, zwei für
mich als Obersten Feldherrn sehr wichtige Umstände nicht
berücksichtigt wurden. Einen von ihnen bildete die Tat-
sache, daß wir Friedens Verhandlungen führen sollten. Ge-
rade infolge des Druckes von seiten dessen, was Tucha-
tschewsky als Komplott des internationalen Kapitalismus
und internationaler Bourgeoisie bezeichnet, die über uns
angeblich befehligte, sollten wir eine Abordnung nach
Minsk senden, wo sich Tuchatschewsky befand, die um
Frieden betteln sollte. Ich kann dies nicht anders als Bet-
telei nennen, wenn man zu jener Zeit, als der siegreiche
Feind an die Tore unsrer Hauptstadt pochte und den gan-
zen Staatsapparat zu zerstören drohte, bevor noch das Wort
„Frieden66 gefallen war, Friedensverhandlungen anknüpfen
wollte. Ich weiß nicht, und ich untersuchte nie, wie sich
die ehrenwerten Teilnehmer an diesen historischen Debat-
ten am Sachsenplatz in ihrem Gefühl und ihren Gedanken
einstellten. Ich weiß aber, daß dieser Umstand mich, den
Menschen, den man ohne Erfolg Demut gelehrt hatte und
der sie nie erlernte, mehr als alles andre bedrückte, wobei
ich als Oberster Feldherr und Staatschef mit allen
Kräften danach trachten mußte, unsre Friedensabordnung
nur in dem Falle zu entsenden, wenn absolute Sicherheit be-
stand, die Hauptstadt zu behaupten. Dies belastete, wie wir
sehen werden, sehr meinen Entschluß.
Den zweiten Umstand, der zwar nicht besprochen wurde,
der aber stets eine große Last der Feldherren dar stellt, bil-
dete die in die Augen springende Notwendigkeit, unsren
ganzen Befehlsapparat zu reorganisieren, falls wir die Ini-
tiative ergreifen wollten. Im Einklang mit meinem schon
erwähnten früheren Entschluß hatte ich bereits die Führer
im Norden, sowohl General Szeptycki als auch General Zy-
170
DAS JAHR \ 920
gadlowicz, der Führung enthoben. General Szeptycki wurde,
wie ich dies beabsichtigt hatte, nach Erreichung des Bug
durch die Truppen abberufen. General Zygadlowicz, der
Führer der 1. Armee, wurde schon früher, nach dem Fall
von Grodno, durch General Römer ersetzt. Mit wahrer
Freude muß ich feststellen, daß von dem Augenblick an,
als dieser energische General die Führung übernommen
hatte, unsre 1. Armee, trotzdem sie wiederum die Last der
vereinigten drei nördlichen Armeen des Gegners tragen
mußte, meine an unsre Nordfront gestellte Forderung —
Zeit zu gewinnen — zu erfüllen verstand.
Ich erinnere mich stets mit Genugtuung daran, als ich
eines Tages bei Überprüfen der Tageslage an Hand der ein-
gegangenen Meldungen ganz unerwartet bemerkte, daß die
rechte Flügeldivision der 1. Armee (1. litauisch-weißrus-
sische Infanterie-Division) bei ihrem Rückzug von der be-
nachbarten 4. Armee überholt wurde, so daß sie ihren ent-
blößten Flügel tief abbiegen mußte. Tuchatschewsky selbst
gibt übrigens zu, daß der Widerstand unsrer 1. Armee am
Narew-Fluß das erste größere Hindernis bildete, dem er
während seines Vormarsches an die Weichsel begegnet war.
Doch bei dem Entschluß, den ich fassen sollte, wo es sich
nicht mehr um Personalveränderungen handelte, mußte
sich vieles in bezug auf Organisation der Führung und Ab-
grenzung der Aufgaben ändern. Widrigenfalls wäre die Ab-
sicht, die Initiative zu ergreifen, im vorhinein verfehlt.
Diese zwei Aufgaben, die man nicht besprach, lasteten
unmittelbar auf mir, und die erste von ihnen erdrückte
mich fast, da sie mit einem strategischen Unsinn, mit einem
verständlichen Unsinn verbunden war. Mit dieser Last be-
schäftigte ich mich am meisten am Abend des 5. und in der
Nacht zum 6. August, als ich keineswegs während einer Be-
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 171
ratung, sondern im einsamen Zimmer des Belvedere mich
selbst mit der Fassung eines Entschlusses abmühte. Es gibt
einen wunderbaren Ausspruch Napoleons, des größten
Kenners der Menschenseele im Krieg, der erzählt, daß er,
sobald er daran geht, im Krieg einen wichtigen Entschluß
zu fassen, sich „comme une fille qui accouche“, wie ein
Mädchen fühlt, das gebären soll. Nach dieser Nacht dachte
ich häufiger über die große Feinheit dieses Gedankens Na-
poleons nach, der, obzwar er die Schwäche des schönen Ge-
schlechtes verachtete, sich, den Riesen an Willenskraft und
das Genie, mit einem schwachen Mädchen vergleicht, das
sich in Gehurtswehen quält. Er sagt, er sei bei solchen Fäl-
len „pusillanime“ — ängstlich. In dieser meiner ängstlichen
Qual bereiteten mir die Sinnlosigkeiten des Schlachten-
planes die größten Schwierigkeiten, vor allem aber die ganz
unsinnige passive Rolle des Gros meiner in Warschau ver-
sammelten Kräfte. Der Gegenangriff konnte meiner An-
sicht nach aus dem Raume Warschau—Modlin nicht ange-
setzt werden. Überall würde er frontal auf den Gegner und
seine Hauptkräfte stoßen, die insgesamt, wie es mir schien,
auf Warschau zusammengezogen wurden, wobei doch bis-
her weder unsre Truppen noch unsre Führer es verstanden
hatten, des siegreichen Angreifers Herr zu werden. Außer-
dem bedrückte ganz Warschau der Alp des Räsonnements
der Schwäche und der Feigheit. Einen krassen Beweis hier-
für bildete die Entsendung einer Abordnung, die um Frie-
den flehen sollte. Ich verurteilte Warschau im vorhinein zu
einer passiven Rolle, wobei es den Druck, der auf die Stadt
gerichtet war, aushalten sollte. Doch ich wollte nicht da-
mals das Gros meiner Truppen mit dieser passiven Rolle
binden. Als ich aber daran dachte, seine passive Besatzung
zu verringern, überkam mich die Angst, ob Warschau aus-
172
DAS JAHR \ 920
halten würde, und ob die Tatsache allein, daß ein Teil der
Truppen die Stadt verließe, die ohnedies schwachen mora-
lischen Kräfte und den Glauben an die Möglichkeit einer
Verteidigung nicht vermindern würde. Aus der Geschichte
Lembergs wußte ich gut, was eine große Stadt bedeutet,
wenn an ihrer Grenze der Kampf tobt, und ihre Straßen,
wie dies in Warschau damals der Fall war, in allen Rich-
tungen Teile der unmittelbar hinter der Front befindlichen
Nachschub- und Etappenformationen durchziehen. Der Sol-
dat muß in solchen Fällen ein mit der Stadt gemeinsames
Leben leben, und jedes Aufzucken der Seele der Stadt in
dieser oder jener Richtung bricht oder hält den Geist des
Soldaten aufrecht. Ich vergaß nicht, daß der größte Teil
meiner in Warschau versammelten Truppen die Hauptstadt
nach einer langen Reihe von Niederlagen und Mißerfolgen
erreicht hatte. Es schien mir daher gefährlich, ihre Kräfte
zu verringern und einzelne Kampfabteilungen aus War-
schau herauszuziehen. Sollte ich aber deshalb zehn Infan-
terie-Divisionen, fast die Hälfte der polnischen Kräfte, zu
einer passiven Rolle verurteilen? Dies war die Frage, die
ich mir stellte. Ich überdachte unaufhörlich die beabsich-
tigte neue Besatzung von Warschau und Modlin. Dank der
im Raume von Warschau entwickelten außergewöhnlichen
Energie des Generals Sosnkowski sprang sogleich die starke,
in unsrem Krieg bisher unbekannte Ausstattung mit Artil-
lerie in die Augen. Sie näherte sich sehr dem Ideal, das die
Erfahrungen des Weltkrieges vorgezeichnet hatten. Die Ar-
tillerie konnte also nicht nur eines jener Trommelfeuer ent-
fesseln, mit dem man mich seinerzeit so oft in verschiede-
nen Meldungen gefüttert hatte, sondern ein wirkliches
regelrechtes Trommelfeuer. Darum schien es mir mög-
lich, im Einklang mit den Grundsätzen der Kriegstechnik
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 173
und der Taktik wenigstens einen Teil der lebendigen Kräfte
der Infanterie, die bewegungsfähig war, durch verstärktes
Artilleriefeuer zu ersetzen. Wie oft ich mich von der Not-
wendigkeit zu überzeugen suchte, einen so deutlichen Un-
sinn zu vermeiden, schreckte ich wieder, durch Verantwor-
tungsgefühl für den Staat und die Hauptstadt erdrückt, vor
meinem Entschluß zurück. Ich konnte weder zu der mora-
lischen Stärke der Truppen und der Einwohner der Haupt-
stadt, noch zu den Führern der einen und der andren Ver-
trauen fassen. Diese sinnlose Voraussetzung quälte mich
derart, daß es mir öfters schien, als ob mir aus allen Ecken
etwas zugrinste und mich verspottete, sobald ich etwas
Sinnloses und offensichtlich Törichtes meiner Berechnung
und meinem Entschluß zugrunde legte.
Alle meine Kombinationen, die ich auf dieser Grundlage
aufzubauen versuchte, um eine Manövrier- und Stoßgruppe
zu bilden, mußten infolgedessen schwach ausfallen und
schwächer ausgerüstet sein, als der nur zur Verteidigung
verurteilte passive Teil meiner Kräfte. Denn woher sollte
ich diese Kräfte nehmen und sie zum Manövrieren befähigt
machen? Sobald ich aber die Notwendigkeit der Initiative
erwog und die Berechnungen abzuändern begann, schlug
mir die vorhandene Schwäche geradezu ins Gesicht. Die
4. Armee, die an den Bug-Fluß zurückging, war es vor al-
lem, die die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Die Richtung,
in der sie der Feind zurückdrängte, führte geradewegs auf
den Weichselabschnitt Warschau—Dublin, wo es weder
Brücken noch schnelle Übergangsmöglichkeiten gab. Im
Falle eines stärkeren Druckes von seiten des Feindes konnte
sie an die Weichsel gepreßt werden und in eine äußerst kri-
tische Lage geraten. Man mußte sie also entweder gegen
Warschau oder gegen Dublin wegreißen, oder auch ihre
174
DAS JAHR \ 920
Teilung durchführen und einen Teil nach Norden, den
andren aber nach Süden wenden. Wenn man daher alles
oder den größten Teil gegen Süden wandte, erhielt man
einige Kräfte, die nicht durch Warschau gebunden waren.
Dies erforderte jedoch eine sofortige, wenn auch schwache
Besetzung des westlichen Weichselufers zwischen Warschau
und Dublin. Wiederum wuchs also der zur Passivität ver-
urteilte Teil unsrer Truppen auf Kosten der zum Stoß be-
fähigten Truppen an. Die Moral der 4. Armee erweckte
ebenfalls gewisse Befürchtungen. Ihr Rückzug währte zwar
ebenso lange wie der der 1. Armee, wobei sie kleinere
Kämpfe zu bestehen hatte; doch der plötzliche und uner-
wartete Verlust von Brzese, der mir so frisch in Erinne-
rung stand, flößte mir in dieser Hinsicht kein großes Ver-
trauen ein.
Als zweite Kraftquelle konnte mir der Süden dienen, von
wo ich bereits die 18. Infanterie-Division herausgezogen
hatte. Der Süden befand sich in einer glücklicheren Lage
als der Norden, wobei die eifrige Gefechtstätigkeit und die
unermüdlichen Anstrengungen der Führer eine größere Ge-
währ für die Moral der von dort entnommenen Truppen
boten. Eine wesentliche Erleichterung bildete dabei die Tat-
sache, daß Budienny mit seiner ganzen Reiterei vor unsre
Front geworfen wurde und infolgedessen weder der Eisen-
bahnverkehr noch Fußmärsche durch die bewegliche Rei-
terei gestört werden konnten. Als ich aber die Kräfte zu be-
rechnen versuchte, die ich dem Süden entnehmen könnte,
kam ich immer zur Einsicht, daß ich meine Kräfte im Sü-
den nicht in größerem Ausmaß schwächen darf. Der Sieg
über Budienny war nur ein Teilsieg. Es schien zwar, daß er
zu einer sofortigen Offensive nicht befähigt sei; es war
aber meiner Ansicht nach nicht ausgeschlossen, daß im Falle
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 175
eines Versuches, unsre Kräfte dort bedeutend zu schwä-
chen, die Reiterarmee, die uns schon so viel geschadet hatte,
von neuem ihren Vormarsch beginnen würde. Dabei war
ihre natürliche und für uns gefährlichste Bewegungsrich-
tung diejenige, die sie den sowjetrussischen Hauptkräften,
den von Tuchatschewsky befehligten Armeen näher brachte.
Deshalb erlaubten mir alle Berechnungen, die ich in dieser
Beziehung während der Nacht zum 6. August versuchte,
lediglich, wenn ich nicht zu viel riskieren wollte, das Her-
ausziehen von zwei Infanterie-Regimentern und vielleicht
einer Kavallerie-Brigade aus dem Süden. Eine so kleine
Gruppe bedeutete nur wenig für die Stoßkraft des Gegen-
angriffes und konnte auf die Moral der andren Truppen
keinen großen Einfluß ausüben. Bei der Zusammenfassung
aller Tatsachen konnte ich im Verlaufe meiner Arbeit ledig-
lich zum Schluß gelangen, daß ich zum Gegenangriff drei
bis vier Infanterie-Divisionen und schwache Kavallerie ver-
wenden könnte. Was bedeutete dies aber angesichts eines
Feindes, der bisher den Widerstand des Gros unsrer Kräfte
unaufhörlich überwand?
Alle Versuche ergaben lediglich vollkommene Schwäche,
Sinnlosigkeit der Voraussetzungen, hilflosen Unverstand
oder ein Übermaß von Risiko, vor dem die Logik kapitu-
lierte. Alles erschien mir in schwarzen Farben und hoff-
nungslos. Die einzigen lichten Punkte an meinem Himmels-
rand bildete das Fehlen der Reiterei Budiennys in meinem
Rücken und die Schwäche der 12. Armee, die nach ihrer
Niederlage in der Ukraine nicht zu sich kommen konnte.
Die Reorganisierung des Führungsapparats war verhältnis-
mäßig klar. Sobald die Mehrzahl unsrer Truppen im engen
Raum um Warschau versammelt werden mußte, war es not-
wendig, dort eine einheitliche Führung einzurichten, wobei
176
DAS JAHR 4 920
die Anzahl der schon versammelten Truppen die Teilung in
zwei Armeen erforderte. Der Gegenangriff mußte, abgese-
hen von der Truppenstärke, von einem einzigen Feldherrn
befehligt werden. Der Süden, der den Norden vor Gefahren
deckte, mußte gleichfalls einheitlich geführt werden. Dies
zerbrach gänzlich den bisherigen Führungsplan. Die schwer-
ste Aufgabe fiel dem zu, der trotz seiner Schwäche Kraft
auf bringen mußte, und der entgegen der Vernunft die ent-
scheidende Rolle zu spielen gezwungen war. Ich beschloß
im vorhinein, daß ich niemanden meiner Untergebenen
mit diesem Unsinn belasten könnte. Wenn ich also als
Oberster Feldherr etwas Unsinniges in meinem Plan dulde,
so muß ich selbst die Ausführung des am meisten sinnlosen
Teiles meines Planes auf mich nehmen. Aus diesem Grunde
faßte ich im voraus den Gedanken, die Führung der zum
Gegenangriff bestimmten Gruppe, einerlei, ob sie nun stär-
ker oder schwächer sein würde, selbst zu übernehmen. An
diesem Gedanken fand ich übrigens deshalb auch Gefallen,
weil ich während der entscheidenden Operationen nicht
dem Druck räsonierender Furcht und Schwäche ausgesetzt
sein sollte.
Nach mehrfacher Überprüfung aller Berechnungen ent-
schloß ich mich, den Hauptteil unsrer 4. Armee gegen Sü-
den zurückzunehmen und eine Schwächung des südlichen
Flankenschutzes zu riskieren, indem ich ihm 2 Divisionen,
die ich für die besten hielt, die 1. und 3. Legionen-Division,
entzog. Außerdem beschloß ich endgültig, den Gegenangriff
selbst zu befehligen, obzwar ich mir dessen bewußt war, daß
ich Unordnung im Befehlsapparat verursache, wenn ich auf
längere Zeit die unmittelbare Führung eines kleinen Teiles
der Truppen übernehme, deren Oberster Führer ich war.
Als sich General Rozwadowski am 6. August früh bei
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 177
mir meldete, um meine Befehle zu empfangen, trat er in
mein Arbeitszimmer mit einer Skizze ein, die noch einen
neuen Vorschlag darstellte. Die Skizze stellte eigentlich den
Versuch einer Entscheidung dar, was mit der 4. Armee zu
geschehen hätte, falls sie auf den Weichselabschnitt zu-
rückgehen müßte, der weder Brücken noch die Möglichkeit
eines raschen Überschreitens dieses breiten Flußhindernis-
ses besitzt. In dieser Skizze versuchte Rozwadowski das Zu-
rückgehen der 4. Armee auszunützen, um sie, wie ich mich
erinnere, in der Stärke einiger Divisionen im Raum von
Garwolin zu versammeln. Da er vermutete, daß der Feind
seine Truppen ausdrücklich auf Warschau richten würde,
wollte er dann mit dieser zusammengezogenen Gruppe nach
Norden, gegen Warschau vorstoßen. Ich wies sogleich diesen
Vorschlag und diese Idee zurück und sagte, daß ich daran
zweifle, ob unter diesen Umständen der Aufmarsch gelin-
gen könnte. Der Feind, der bisher das Übergewicht hätte,
könnte leicht den Frontwechsel verhindern, und dann
müßte die im Aufmarsch begriffene Gruppe entweder auf
Warschau weichen, oder aber sie könnte — was noch schlim-
mer wäre — auf die Weichsel zurückgeworfen werden, was
mit einer Katastrophe enden würde. Ich wies auch gleich
darauf hin, daß die 4. Armee mit dem größten Teil ihrer
Kräfte weiter nach Süden zurückgehen müßte, um dort
ihren Aufmarsch durchzuführen und zum Gegenangriff
überzugehen. Dagegen befahl ich, was ich übrigens für un-
bedingt nötig hielt, die 1. und 3. Legionen-Division aus der
Südfront herauszuziehen, um die für den Gegenangriff be-
stimmte Gruppe zu verstärken. Da ich aber einsah, daß die
so geschwächte Südfront wahrscheinlich nicht imstande
sein würde, den ihr gegenüberstehenden Feind aufzuhal-
ten, ließ ich der 6. Armee die Weisung geben, im Falle eines
4 2 Pilsudski II
178
DAS JAHR \ 920
feindlichen Druckes langsam auf Lemberg zurückzugehen.
Für den Fall aber, daß Budienny gegen Norden vorrücken
würde, befahl ich, daß unsre ganze Reiterei mit der dort
befindlichen besten Infanterie-Division der Reiterarmee
Budiennys folgen sollte, um sie um jeden Preis in ihrem
Vormarsch zu hindern. Nach kurzer Besprechung wählten
wir für den Aufmarsch die durch den verhältnismäßig brei-
ten Wieprz-Fluß geschützte Gegend, die erlauben würde, den
linken Flügel auf Dublin zu stützen und so die Weichsel-
und Wieprz-Brücken zu decken. Auf dieser Grundlage
wurde der Befehl vom 6. August ausgearbeitet, der den
Aufmarsch der Truppen zur Schlacht bei Warschau fest-
legte*).
Mein grundlegender Befehl, der die Vorbereitungen für
die Schlacht anordnete, kreuzte sich fast gleichzeitig mit
dem Befehl Tuchatschewskys. Wenn ich jetzt diese zwei
Befehle vergleiche, bedaure ich außerordentlich, daß ich
damals in Minsk in die geheimnisvollen Befehle Tucha-
tschewskys keinen Einblick tun durfte. Wieviel leich-
ter wäre mein Herz gewesen! Wie viele andre tat-
kräftigere Pläne hätte man entwerfen können, wenn
ich gewußt oder mit einer gewissen Wahrscheinlich-
keit vermutet hätte, daß Tuchatschewsky Warschau
nicht zum Angriffsziel aller seiner Kräfte gesetzt hatte!
Diese Spaltung der Truppen und Bestimmung zweier
Armeen nicht zum unmittelbaren Angriff, sondern zum
langen Vormarsch und vielleicht noch längeren Überschrei-
ten des breiten Weichselflusses hätte mich von der Hälfte
meiner Sorge um Warschau befreit. Ich bin fest überzeugt,
daß ich mich dann mit dem wesentlichen Unsinn nicht
hätte abquälen müssen, den ich als Grundlage meines Ent-
*) Siehe Karte 6.
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 179
Schlusses angenommen hatte. Zwei Sowjetarmeen sollten Zeit
verlieren und ins Leere stoßen, während in diesem Augen-
blick die Zeit sehr kostbar war. Diese Zeit verlor der Feind,
während ich sie ohne Mühe gewann. Ohne Tuchatschewsky
in dem mir so nützlichen Zeitverlust zu behindern, hätte
ich versucht, die versammelten Truppen zum Manöver auf
innerer Linie auszunützen und den Feind teilweise zu
schlagen. Wer weiß, ob ich dann unsre 4. Armee nicht zum
Rückzug gerade auf Warschau gezwungen hätte!
Eine weitere Belastung des grundsätzlichen Unsinns mei-
nes Befehls vom 6. August bildete der Umstand, daß alle
passiven Gruppen teils bereits versammelt waren, teils in
geraden und natürlichen Richtungen zurückgehen sollten.
Eine Ausnahme, die Zweifel am Gelingen des Planes ver-
ursachen konnte, bildete gerade die aktive Gruppe, die zum
Stoß bestimmt war. Alle Truppen nämlich, die zu dieser
Gruppe gehören sollten, befanden sich in unmittelbarer
Berührung und Kampf mit dem Feinde, wobei ihre Rück-
zugsrichtung, die sie in den Aufmarschraum führte, statt
einfacher Operationen komplizierte Manöver erforderte. So
mußten sich also die Divisionen der 4. Armee, die 14., 16.
und 21. Infanterie-Division, die am 6. und 7. August noch
in harten Kämpfen am Bug standen, nicht nur vom Feind
loslösen, sondern zwecks Erreichung des Raumes hinter
dem Wieprz einen riskanten Flankenmarsch ausführen.
Dies war besonders bei der 14. Infanterie-Division der Fall,
die sich am weitesten nördlich bei Janow befand und den
längsten Quermarsch auf Dublin vor sich hatte. Der erste
beste Zufall, ein stärkerer Druck des Feindes an dieser
oder jener Stelle, die moralische Auflösung, die in dieser
oder jener Division oder diesem oder jenem Regiment bis
jetzt so oft um sich griff, stellten das ganze Manöver in
\ 2*
180
DAS JAHR \ 920
Frage und boten keine Sicherheit, daß sich die Stoßgruppe,
die ich mich zu befehligen entschloß, rechtzeitig und in
der vorgeschriebenen Stärke versammeln würde. Noch
schwieriger gestaltete sich die Lage für die zwei Divisionen,
die ich aus der Südfront für den Gegenangriff herausge-
nommen hatte: die 1. und 3. Legionen-Division. Ich befahl,
ihnen einen Teil der Reiterei zuzuteilen, welcher natürlich
der Abmarsch am leichtesten fiel. Die Aufgabe der beiden
Infanterie-Divisionen aber, die 150 bis 200 Kilometer vom
Aufmarschraum entfernt und in Fühlung mit dem Feind
waren, übertraf meiner jetzigen und damaligen Ansicht
nach menschliche Durchschnittskraft. Im Innern glaubte
ich, General Rydz-Smigly, dem diese Aufgabe zufiel, würde,
trotzdem der Befehl anders lautete, kaum eine Infanterie-
Division und eine Kavallerie-Brigade in den Aufmarsch-
raum bringen. Von der andren Division, der ich gleichfalls
den Marsch nach Norden befahl, wagte ich nicht einmal zu
träumen.
Es kann daher niemanden wundern, daß ich vom 6. bis
12. August mit fieberhafter Ungeduld der Entwicklung die-
ses so riskanten und gewagten Manövers folgte. Im Laufe
dieser Tage erweckte die Beobachtung des Verhaltens des
Feindes und seiner Bewegungen keinerlei Verdacht in mir,
daß die Truppen Tuchatschewskys im Sinne seines Befehls
vom 8. August vorgingen und Warschau auswichen. Man
konnte zwar Bewegungen in westlicher Richtung gegen die
Weichsel unterhalb Modlin bemerken, Ciechanow und
Mlawa wurden angegriffen, und man sah den Vormarsch
schwacher Truppenteile auf Plock und Wloclawek. Doch
waren dies Reiterabteilungen, die meiner Meinung nach
die Verbindung Warschaus mit der See — mit Danzig —
unterbinden sollten. Das Zurückgehen der Divisionen uns-
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 181
rer 4. Armee ging fast ohne Reibungen von seiten des Fein-
des vor sich, da seine 16. Armee ausdrücklich gegen Nor-
den abbog und ihren Südflügel an der Landstraße Brzesc—
Warschau besaß. Sobald also die Divisionen der 4. Armee
diese Straße verlassen hatten und dem Wieprz zustrebten,
hörte der feindliche Druck fast ganz auf. Ich konnte also
mit Sicherheit darauf rechnen, daß alle drei Divisionen
rechtzeitig den Wieprz als Deckung erreichen und zu mei-
ner Verfügung sein würden.
General Rydz-Smigly löste seine Aufgabe überaus ge-
schickt. Seine Operationen und die Tätigkeit der 1. und
3. Legionen-Division bilden eine der ehrenvollsten Seiten
der Geschichte der polnischen Armee. General Rydz-Smigly
und jene beiden Divisionen lösten ihre komplizierte Auf-
gabe auf aktive Weise. Im Einklang mit der Moral, die die-
sen Divisionen innewohnte, suchten sie zuerst den Feind,
mit dem sie in Fühlung waren, zu besiegen, um so Zeit zu
gewinnen und ruhig nach Norden, wohin ich sie berief, ab-
rücken zu können. Die 1. Legionen-Division schlug am
8. August die 24. Sowjet-Division, nahm ihr unweit Horo-
chow 8 Geschütze ab und rückte im Eilmarsch nach Sokal,
wo vorbereitete Eisenbahnzüge auf sie warteten. Ihr Ab-
transport vollzog sich ohne Schwierigkeiten. Auf gleiche
Weise ging die 3. Legionen-Division bei Hrubieszow vor,
mußte aber, da sie keine Eisenbahnzüge zur Verfügung
hatte, ihren Nordmarsch zu Fuß durchführen. Die Verspä-
tung dieser Division war außerdem durch Schwierigkeiten
hei der rechtzeitigen Zustellung des Abmarschbefehls ver-
ursacht. Dennoch fand sie noch genügend Zeit, den
Feind vor ihrem Abrücken zu schlagen, der im Begriff
war, den Bug-Fluß zu überschreiten, ihn über den Fluß
zurückzuwerfen und reiches Kriegsmaterial zu erbeuten.
182
DAS JAHR \ 920
Die Kämpfe der 1. und 3. Legionen-Division hatten noch
eine interessante und bezeichnende Folge. Bei einem
unsrer gefallenen Offiziere fand der Feind unsren Befehl
vom 6. August, der die neue Gruppierung der Truppen an-
ordnete. Diese Unvorsichtigkeit, die sich so oft in der Kriegs-
geschichte wiederholt und stets in den Vorschriften aller
Armeen streng untersagt wird, gab den Sowjets das Geheim-
nis unsrer Bewegungen preis. Ich finde aber bei Tucha-
tschewsky und Sergiejew, daß man im sowjetrussischen
Oberkommando diesem Schriftstück keinen Glauben
schenkte, da die 12. Armee meldete, daß die zum Angriff
im Norden bestimmte 1. und 3. Legionen-Division nicht im
Raum von Lubartow, wohin sie der Befehl vom 6. August
dirigierte, sondern im Süden, bei Hrubieszow siegreich
kämpfe. Tuchatschewsky behauptet zwar auf Seite 303, daß
er aus diesem Grunde mit seinem Vorgesetzten in Streit ge-
riet, unternahm aber selbständig nichts zur Sicherung sei-
nes gefährdeten linken Flügels und Rückens.
Vor meiner Abfahrt am Abend des 12. August aus War-
schau hatte ich am Sachsenplatz eine endgültige Bespre-
chung mit den drei früher erwähnten Herrn. Ich legte ihnen
folgendermaßen mein Urteil über die Lage dar:
1. Von den 20 Divisionen, die an dem Entscheidungs-
kampf um unsre Hauptstadt teilnehmen sollten, hatten 15,
fast drei Viertel der Gesamtkräfte, eine passive Rolle, wäh-
rend nur ein Viertel, fünfeinhalb Divisionen, deren eine im
Anmarsch verspätet ist, zur aktiven Rolle bestimmt sind.
Warschau, wo zehneinhalb Divisionen versammelt sind, be-
sitzt außerdem eine sehr starke Artillerie, so daß ich der
Ansicht bin, daß man den Feind verhältnismäßig leicht mit
Artilleriefeuer und Unterstützung von seiten der in War-
schau versammelten Fliegerkräfte aufhalten könnte. Ich
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 183
meine also nicht, daß die Zeit für Warschau eine größere
Rolle spielen sollte. Ich glaube selbst, daß es im Interesse
der Gesamtaktion sei, daß sich der Feind stark im Kampfe
mit der Warschauer Besatzung bindet, bei seinem Angriff
große Verluste erleidet und nicht imstande ist, den heran-
nahenden von mir befehligten fünf Divisionen größere
Kräfte entgegenzustellen.
2. Ich wies darauf hin, daß die zum Gegenangriff ver-
sammelten fünfeinhalb Divisionen einer gewissen Ruhe be-
dürften und Zeit zum Umgruppieren und Einreihen der
Ergänzungsmannschaften benötigten, die in den Aufmarsch-
raum entsendet würden. Ich selbst brauchte auch etwas Zeit,
um meine Truppen zu besichtigen, da ich befürchtete, daß
ihre Moral nicht so hoch sei, wie dies eine so schwierige
und gewagte Operation erheischen müßte. Aus diesen Grün-
den glaubte ich, daß ich die Operationen nicht vor dem
15. August würde beginnen können. Ich hoffte aber, im
Laufe von zwei Tagen dem angegriffenen Warschau so nahe
zu kommen, daß ein gemeinsames Handeln mit den um
Warschau versammelten Hauptkräften möglich sein würde.
Ich wies dabei darauf hin, daß es von Nutzen wäre, wenn
dann der Südabschnitt vor Warschau, verstärkt durch alle
Kampfwagen, die dort anzusetzen wären, zum Angriff längs
der nach Minsk—Mazowiecki und Brzesc führenden Land-
straße antreten würde. Ich beabsichtigte nämlich, auf sehr
breiter Front anzugreifen, wobei die linke Flügeldivision,
die 14. Infanterie-Division, die längs der Lubliner Land-,
Straße vorrückte, in eine sehr schwere Lage geraten könnte,
falls sie isoliert auf größere Feindeskräfte stoßen würde.
3. Ich wies auf die drohende Gefahr hin, die die von mir
geführte Unternehmung zu einer äußerst gewagten Hand-
lung gestaltete. Durch das Herausziehen der 1. und 3. Le-
184
DAS JAHR 4 920
gionen-Division aus dem Süden öffnete ich nämlich unter
andrem auch der Reiterarmee Budiennys das Einfallstor.
Die bisherigen Erfahrungen erlaubten mir nicht, mich in
Sicherheit zu wiegen, trotzdem sich dort unsre Reiterei be-
fände, die den Befehl erhielt, die Reiterarmee in ihrem
Marsch gegen uns aufzuhalten. Ich müßte also darauf ge-
faßt sein, daß ich hinnen kurzem die von Sokal und Hru-
bieszow anrückende Reiterarmee Budiennys oder einen Teil
von ihr in meinem unmittelbaren Rücken haben könnte,
was meine Absichten in hohem Maße vereiteln könnte. Ich
bemerkte dabei, daß ich gegenüber der 12. Sowjetarmee am
Bug nur sehr schwache Kräfte — die 7. Infanterie-Division
im Raume von Chelm und weiter südlich die sehr schwache
ukrainische 6. Infanterie-Division — zurückließe.
Schließlich wies ich bei meinem Abschied von General
Sosnkowski auf die Unordnung hin, die sowohl im Füh-
rungsapparat als in der Organisation des Heeres bestehe,
und forderte ihn auf, ständig und unaufhörlich danach zu
trachten, alle Gruppen, Grüppchen, Unter- und Obergrup-
pen, Vor- und Hintergruppen zu beseitigen, deren trotz mei-
ner Anstrengungen so viele vorhanden waren, daß es Füh-
rer und Stäbe ohne Truppen gab und an manchen Stellen
hundert Soldaten in drei von Generälen befehligte Grup-
pen geteilt waren. Ferner forderte ich von ihm, er möge
weiterhin der Schutzgeist der ewig zankenden und streiten-
den Generäle sein und mit allen Mitteln die Anarchie in
der Führung verhindern, die ich befürchtete. Die Verteidi-
gung der Hauptstadt könnte nämlich, wenn es an meiner
Autorität fehlte, selbst dann zusammenbrechen, wenn wir
das Übergewicht über den Feind besitzen würden.
Nach Erledigung dieser Angelegenheiten verließ ich die
Hauptstadt am Abend des 12. August. Ich verließ sie mit
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 185
dem vollen Bewußtsein des Sinnlosen und dem Gefühl einer
gewissen Abscheu mir gegenüber, weil ich infolge der pol-
nischen Feigheit und Schwäche in meinem Entschluß jed-
weder Logik und jedweden gesunden Grundsätzen des Krie-
ges zuwiderhandeln mußte. Ich fühlte aber — ich will es
gestehen — eine sehr große Erleichterung, als ich das Mi-
lieu verließ, wo eine Minute mehr als eine Stunde, eine
Stunde mehr als ein Tag und ein Tag mehr als eine Woche
bedeutete.
Nach Eintreffen in meinem Hauptquartier in Pulawy
orientierte ich mich über die Lage und stellte sogleich einige
Dinge fest. Die Moral aller dort versammelten vier Divisi-
onen war nicht so übel, wie ich es vorher vermutete. Trotz-
dem gerade vor meinem Eintreffen die 21. Infanterie-Divi-
sion gemäß der alten schon im Laufe eines Monats ange-
wöhnten Sitte unter dem Druck einer schwachen feindlichen
Gruppe den Wieprz-Brückenkopf von Kock geräumt hatte,
welchen man ihr befohlen hatte zu behaupten, hielt ich
dennoch den schwierigen moralischen Umschwung, den der
Gegenangriff nach langem Rückzug erfordert, nicht für
unmöglich. Hingegen waren die Ergänzungstransporte ge-
rade umgekehrt dirigiert worden, als dies ihre Bewaffnung
erforderte. So stießen also Marschbataillone mit französi-
scher Bewaffnung zu Divisionen, die deutsche Mauser-
gewehre oder österreichische Manlichergewehre besaßen.
Die Ordnung dieses Wirrwarrs erforderte also Zeit. Außer-
dem bemerkte ich geradezu unerhörte Mängel in der Aus-
rüstung und in der Bekleidung der Soldaten. Solche Bett-
lergestalten, wie ich sie nannte, sah ich während des ganzen
Krieges nicht. Die 21. Infanterie-Division defilierte vor
mir in Firlej zur Hälfte barfuß. Ich erinnerte mich daran,
wie oft und wie viele meiner Untergebenen im Laufe des
186
DAS JAHR \ 920
Krieges die erlittenen Niederlagen der schlechten Aus-
rüstung der Soldaten zuschrieben. Mit einer gewissen Weh-
mut dachte ich auch daran, daß der Hauptteil der Vorräte
an Truppen ausgegeben worden war, für die ich keine
kriegsentscheidende Rolle bestimmte. Zum Schluß waren
alle über den Feind gesammelten Angaben etwas rätselhaft.
Entsprechend der Kräfteverteilung des Feindes mußte ich
der Mozyrz-Gruppe gegenüberstehen. Ihre Stärke und Zu-
sammensetzung waren uns nie mit genügender Genauigkeit
bekannt. Wir wußten, daß die 57. Schützen-Division zu ihr
gehörte, doch wurden zu ihr auch andre Abteilungen (otri-
ady) gezählt, die etwas von dieser Gruppe Gesondertes dar-
stellten, so daß ich keine genauen Angaben darüber besaß.
Ihre bisherigen Kriegsoperationen ließen vermuten, daß es
eine sehr starke Gruppe sei. Sie griff vom 4. Juli ab in zwei
auseinandergehenden Richtungen an, wo wir übrigens am
stärksten waren: längs des eigentlichen Polesie-Gebiets und
nördlich davon längs der Straße Bobrujsk—Brzesc. Des öf-
tern las ich während des vergangenen Monats in verschiede-
nen Meldungen, daß ansehnliche feindliche Kräfte, sei es
in dieser, sei es in jener Richtung, uns erfolgreich angrif-
fen. Jetzt aber, am 13. August, beobachtete ich eine Leere
vor mir. Sie machten eigentlich nur den Eindruck von Pa-
trouillen, die in der Gegend von Kock und Maciejowice an
der Weichsel etwas dichter waren, wo sich diese kleinen
Gruppen angeblich zu einem Flußübergang anschickten.
Ich gestehe offen, daß ich alles dies für Streifabteilungen
hielt, die zu Requisitions- und Raubzwecken und zwecks
Einbringen von Futtermitteln entsendet wurden. Die größte
Gruppe bildete die 58. Schützen-Division der 12. Armee,
die von Wlodawa in der Richtung Lubartow oder Chelm
vorging.
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 187
Die Meldungen aus Warschau klangen beruhigend, da sich
der Feind anscheinend zum Angriff vorbereitete und ent-
sprechende Umgruppierungen seiner Kräfte vornahm. Aus
dem Süden trafen ebenfalls keine beunruhigenden Meldun-
gen ein. Dies festigte mich in meiner Überzeugung, die ich
schon hei Verlassen von Warschau besaß. Ich verfügte also
über etwas Zeit und beschloß, die Operationen nicht vor
dem Morgen des 17. August zu beginnen, bis der Angriff
auf Warschau sich genügend entwickelt haben würde und
das Gros der Sowjetkräfte sich mit dem Gros unsrer um
Warschau stehenden polnischen Truppen bände. Inzwi-
schen konnte ich meine Truppen enger in einer einheit-
lichen Gruppe vereinigen, der der Angriff bevorstand, und
das Eintreffen der in ihrem Nordmarsch verspäteten 3. Le-
gionen-Division abwarten.
Jedoch am nächsten Tag, am 14. August, änderte sich die
Lage zu meinen Ungunsten. Aus Warschau kamen angst-
erfüllte Telegramme. Die Sowjettruppen brachen unsren
Widerstand im ersten Ansturm und besetzten im Sturm
Radzymin und seine Umgebung. Die Telegramme klangen
angstvoll und gaben die Stimmung wieder, die in der Haupt-
stadt herrschen mochte. Eine gewisse Verwunderung mei-
nerseits verursachten die Gerüchte von einem anwachsen-
den Druck Tuchatschewskys in westlicher Richtung, auf
Plock, ja sogar Wloclawek und Brodnica. Die telegraphi-
schen Berichte darüber erwähnten nicht nur Kavallerie,
wie ich das vorher vermutete. Ich fand darin ein Rätsel,
das ich nicht zu lösen vermochte, da es in einem gewissen
Maße meine bisherige Meinung umstieß, daß Tuchatschew-
sky alle seine Kräfte gegen Warschau ansetzte. In diesen
ängstlichen Telegrammen aus Warschau versuchte man
ausdrücklich einen Druck auf mich auszuüben, um zu Hilfe
188
DAS JAHR H920
zu eilen und den Entschluß zu fassen, selbst unvorbereitet
sofort den Vormarsch zu beginnen. Trotzdem dieser ganze
Druck und diese Angst mir ganz sinnlos schienen, so ver-
schob ich dennoch, da ich ja schon früher die Logik und
die Grundsätze des Krieges dem Angstgefühl geopfert hatte,
nach einigem Zaudern den Beginn des Vormarsches um
einen Tag und verständigte Warschau, daß ich den Angriff
bei Morgengrauen des 16. August beginne. Der von mir er-
lassene Befehl gefährdete am stärksten beide Flügeldivi-
sionen, die 14. Infanterie-Division am linken und die 1. Le-
gionen-Division am rechten Flügel. Ich beschloß nämlich,
wovon ich alle Truppen verständigte, schnell vorzustoßen
und Strecken zurückzulegen, an die nur die 1. Legionen-
Division gewöhnt war. Ich untersagte es, auf die Flügel
Rücksicht zu nehmen, denn jede Division mußte so schnell
wie möglich vorstoßen, ohne daran zu denken, ob die Nach-
barn rechtzeitig nachkommen. Da ich aber mit dem allge-
meinen Kampf nicht anderswo als bei Warschau rechnete,
befahl ich der 1. Legionen-Division den allereiligsten Vor-
marsch, da sie im Falle, daß die 14. Infanterie-Division im
Raume von Kolbiel auf vorbereiteten Widerstand gegen die
zum Entsatz von Warschau eilenden Truppen träfe, viel-
leicht schon am zweiten Operationstag den einschwenken-
den rechten Flügel bilden müßte. Die sogenannte Mozyrz-
Gruppe beunruhigte mich; ich sah ihre Truppen nicht mir
gegenüber, und Fliegermeldungen stellten große Troßbewe-
gungen von Osten und Nordosten auf Lukow und Zelechow
fest. Es konnte dies also eine rasch entsendete Gruppe, viel-
leicht sogar die Mozyrz-Gruppe sein, so daß meine 1. Le-
gionen-Division, die gegen Osten entblößt war, in eine recht
gefährliche Lage geraten konnte. Als allgemeines Ziel setzte
ich allen meinen Truppen, das ist den vier Divisionen, die
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 189
Erreichung der Straße Brzese—Warschau am zweiten Ope-
rationstag fest. Eine Ausnahme bildete hier die 3. Legionen-
Division, die mit der 58. Sowjet-Division in Fühlung trat
und sich in Kämpfe verwickelte; ich konnte sie bei den Be-
rechnungen einer sich näher bei Warschau entwickelnden
Schlacht nicht in Betracht ziehen. Eher schon wollte ich auf
die 2. Legionen-Division oder Teile von ihr rechnen, die
den passiven Abschnitt am westlichen Weichselufer nörd-
lich Dublin besetzt hielt. Der Vormarsch allein meiner
Kräfte gegen Norden befreite schon diese Division von ih-
rer Aufgabe.
Am 15. August klangen die Nachrichten aus Warschau
etwas beruhigender, doch alle Kämpfe wiesen darauf hin,
daß sich der Druck des Feindes in der Gegend von Radzy-
min und nördlich Warschau, im Raum von Modlin immer
mehr verstärkte. Im Süden aber entwickelte die Reiterarmee
Budiennys ihre Tätigkeit, unter deren Druck unsre 6. Ar-
mee auf Lemberg zurückzugehen begann.
Am 16. August begann ich den Angriff, wenn man dies
überhaupt Angriff nennen darf. Allein die 21. Infanterie-
Division hatte bei Beginn ihres Vormarsches einen leichten
Kampf zu bestehen, da sie unnötigerweise vor einigen Tagen
nach Beschädigung der Brücke aus Kock zurückgegangen
war und jetzt gezwungen wurde, den Wieprz zu durch-
waten, um Kock wiederzunehmen. Die andren Divisionen
rückten fast ohne Fühlung mit dem Feind vor, und ich
würde es nicht wagen, die unbedeutenden Geplänkel an die-
ser oder jener Stelle mit kleinen Feindgruppen, die sofort
nach Fühlungnahme mit ihnen auseinanderstoben und flo-
hen, als Fühlung zu bezeichnen. Den ganzen Tag verbrachte
ich im Kraftwagen bei der am linken Flügel vorgehenden
14. Infanterie-Division und sammelte ununterbrochen meine
190
DAS JAHR H 920
Eindrücke sowie die meiner Untergebenen. Ich kann nicht
verschweigen, daß am Abend dieses Tages, als alle Divisi-
onen schon gut einige dreißig Kilometer in nördlicher Rich-
tung zurückgelegt hatten, das hauptsächliche Rätsel, das
ich erraten wollte, die geheimnisvolle Mozyrz-Gruppe bil-
dete. Eigentlich existierte sie außer der 57. Schützen-Divi-
sion nicht; doch so eine Folgerung meiner Überlegungen
widersprach vollkommen den Eindrücken, die sich mir tag-
täglich einen Monat lang eingeprägt hatten. Das war doch
ein apokalyptisches Ungeheuer, vor dem im Laufe eines Mo-
nats zahlreiche Divisionen zurückwichen. Ich glaubte zu
träumen. Schließlich gelangte ich zur Überzeugung, daß
mir irgendwo ein Hinterhalt droht. Die am linken Flügel
vorgehende 14. Infanterie-Division hatte Garwolin ruhig
überschritten und war eigentlich seit mittag schon im Ope-
rationsbereich des linken Flügels der 16. Sowjetarmee, die
Warschau angriff. Ich war nämlich im Besitz von Meldun-
gen, die besagten, daß diese Armee bei Gora Kalwarja die
Weichsel forcieren müsse. Überdies kamen die Vorhuttrup-
pen der 14. Infanterie-Division am 16. August auf 20 bis
25 Kilometer von Karczew und Wigzownia, die laut tele-
graphischen Nachrichten angegriffen wurden. Aber einen
Feind gab es nicht! Ich befahl am Abend der ganzen 2. Le-
gionen-Division, die von ihrer Aufgabe enthoben war, sich
sofort in Dublin zu sammeln, um eine Reserve angesichts so
vieler von allen Seiten mit Hinterhalten drohenden Geheim-
nisse zu bilden. Irgendwo mußte sich aber die bisher sieg-
reiche Mozyrz-Gruppe und die Warschau angreifende 16.
Armee dennoch befinden.
Der 17. August brachte mir keinerlei Klärung dieser
Rätsel, die ich jetzt am rechten Flügel suchte. Wiederum
verbrachte ich den ganzen Tag im Kraftwagen auf der Suche
Gem,
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DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 191
nach Spuren des Geheimnisses und der Hinterhalte. Am
späten Nachmittag traf ich in Lukow den Führer der 21. In-
fanterie-Division mit seinem Stabe an, der nach einem so
herrlichen Vormarsch ein fröhliches Fest feierte. Als mich
die Brigadekommandeure und die Kommandeure einzelner
Regimenter bei Tisch umringt hatten, behaupteten alle ein-
stimmig, daß es eigentlich keinen Feind gäbe, und erzähl-
ten mit Begeisterung, wie ihnen die ganze Bevölkerung zu
Hilfe eilte. Wenn eine kleine Gruppe des Feindes Wider-
stand leisten will, wetteifern die Dorffrauen mit Dreschfle-
geln und Bauern mit Heugabeln bewaffnet mit unsren Go-
ralen*), während diese barfuß zum Angriff schreiten. Die
Vorhut der Gebirgs-Division**) blieb auf halbem Wege zwi-
schen Lukow und Siedlce stehen. Ich befahl sofort den wei-
teren Angriff auf Siedlce, da ich hoffte, in diesem Zentral-
punkt vielleicht eine Klärung des Geheimnisses der Mo-
zyrz-Gruppe zu finden. Ich wußte schon, daß weiter östlich
die 1. Legionen-Division allen voran mit ihren Vorhuten
Biala und Mi^dzyrzecz erreicht hatte, während noch wei-
ter die 3. Legionen-Division in ihrem Vormarsch auf gehal-
ten die 58. Sowjet-Division geschlagen hatte und sie vor
sich hertreibend auf Wlodawa und Brzese anrückte. Als
ich gegen Abend die prächtige Straße von Lukow auf Gar-
wolin in westlicher Richtung zurückfuhr und die Gegend
von 2elechow bereits hinter mir hatte, wo ich dem Troß der
auf Kaluszyn vorrückenden 16. Infanterie-Division begeg-
net war, schien es mir, daß ich träumte, daß ich mich in
einem verzauberten Märchenland befand. Ich verstand
eigentlich nicht, was Traum und was Wirklichkeit war. Ich
*) Bergländer aus dem Gebiet der Tatra. Anm. d. Übers.
**) Die 21. Infanterie-Division ergänzte sich aus den Westkarpathen und trug
den Namen „Gebirgs-Division“. Anm. d. Übers.
192
DAS JAHR \ 920
fragte mich, ob ich damals geträumt hatte, als mich vor kur-
zem noch ein Schreckgespenst mit dem unwiderstehlich
näherrückenden Griff seiner scheußlichen, nach meiner
Kehle ausgestreckten Tatzen bedrückte, oder ob es jetzt ein
Traum war, daß fünf Divisionen ohne Schwierigkeiten und
Widerstand den gleichen Raum kühn durchmaßen, den sie
vor kurzem noch, von tödlicher Angst des Rückzugs erfüllt,
dem Feind überlassen hatten? Trotzdem dieser Traum ein
freudiges Gefühl erwecken konnte, war es schwer, ihn da-
mals für wahr zu halten. Ein ganzer Monat, beherrscht von
einem Bann einer furchtbaren Übermacht, wollte nicht
weichen. Der selige Traum konnte nicht Wirklichkeit sein!
Mit diesen Eindrücken kam ich abends in Garwolin an. Ich
erinnere mich ja lebhaft an jenen Augenblick, als wäre es
heute geschehen, da ich beim Glase Tee neben dem zur
Nachtruhe vorbereiteten Bett plötzlich aufsprang, als ich
endlich ein Lebenszeichen, einen Widerhall der Wirklich-
keit, und zwar den aus dem Norden her zu mir dringenden
dumpfen Kanonendonner vernahm. Der Feind besteht also
doch! Er ist kein bloßer Wahn! Meine Scham ob der Angst
und Furcht, die ich einst vor dem scheußlichen Schreck-
gespenst hatte, das mir jetzt ein wildes Phantasiegebilde zu
scheinen begann, war also nicht unberechtigt und ohne
Grund! Der Feind war da, und die Kriegsmusik im Norden
bestätigte sein Dasein. Als ich mich schon zum Schlaf nie-
dergestreckt hatte, hob ich noch ab und zu meinen Kopf
von dem Kissen, um mich von der Wahrheit meines Ein-
druckes zu überzeugen. Dumpfer Kanonendonner erschüt-
terte in langsam aufeinanderfolgenden aber regelmäßigen
Abständen die Luft und berichtete mir von einem ruhigen,
ohne Aufregung, in regelmäßigem Taktschlag geführten
Kampf. In der Gegend von Kolbiel, vielleicht sogar etwas
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 193
weiter kämpfte in der Nacht meine 14. Infanterie-Division.
Ich berechnete rasch, daß dieser Kampf, selbst wenn er
vorläufig erfolglos bleiben sollte und vielleicht sogar die
14. Infanterie-Division zum Rückzug zwänge, das ge-
fährdete Warschau etwas entlasten müßte. Am näch-
sten Tag aber werde ich rechtzeitig noch die 2. Le-
gionen-Division aus Dublin und die benachbarte 16. Infan-
terie-Division von Osten her aufs Schlachtfeld heranbrin-
gen können.
Als ich am Morgen des 18. August aus dem Schlaf auf-
sprang, spielten die Kanonen nicht mehr. Ich entschloß
mich sofort aufzubrechen, um die Lage zu prüfen. Ich werde
nie den merkwürdigen Eindruck vergessen, als ich unbe-
hindert Kolbiel erreichte und in dem bei der Landstraße
gelegenen Gutshof nur den Troß der 14. Infanterie-Division
und die Nachricht antraf, daß die Division in der Nacht
einen Kampf zu bestehen hatte und im Eilmarsch auf
Minsk-Mazowiecki vorgerückt war, um gemäß meinem Be-
fehl bei Morgengrauen des dritten Operationstages die nach
Brzese führende Landstraße zu erreichen. Wo bleibt denn
aber die 16. Armee? Während meiner Fahrt nach Minsk-
Mazowiecki zeugten Geschütze, die ohne Bespannung und
Bedienungsmannschaft zurückgelassen worden waren, und
recht zahlreiche Menschenleiber und Pferdekadaver, die an
der Landstraße lagen, von ihrem Dasein: auch die Bevölke-
rung bestätigte es, die, sobald sie mich erkannte, mein Auto
anhielt und voll Bewunderung erzählte, daß die „Bolsche-
wiken66 in Unordnung und Panik in allen Richtungen da-
vonrannten. Viele unter den Erzählenden hielten meine
Fahrt für wenig sicher, da doch in der ganzen Umgebung
so viele „rote Kosaken66 verstreut wären. In Minsk-Mazo-
wiecki fand ich die 14. Infanterie-Division und das 15. Ula-
\ 5 Pilsudski It
194
DAS JAHR H920
nen-Regiment versammelt. Alle Angaben über den stattge-
fundenen Kampf, die ich sofort ermittelte, wiesen darauf
hin, daß die 14. Infanterie-Division der Gegenaktion der
südlichsten Divisionen der 16. Sowjetarmee begegnet war
(8. und 10. Schützen-Division). Unsre Division brach ihren
Widerstand mit verhältnismäßig kleinen, 200 Mann nicht
überschreitenden Verlusten, und war Zeuge einer panikarti-
gen Flucht. Ich erfuhr auch, daß im Sinne meines früheren
Befehls ein Teil der Besatzung von Warschau, die 15. In-
fanterie-Division, längs der Landstraße Warschau—Minsk-
Mazowiecki vorgestoßen war und gegenwärtig im nahenD^by
Wielkie stände. In D§by Wielkie fand ich die 15. Infanterie-
Division konzentriert und in einer äußerst komischen
Kampfaufstellung vor. Beiderseits der Landstraße standen
Batterien, deren etliche nach Norden, die andren aber nach
Süden gerichtet waren. Im Divisionskommando erklärte man
mir, daß dies unerläßlich sei, da der von Warschau eilig
zurückgehende Feind sich eigentlich überall — im Nor-
den und im Süden — befände. Ich kündigte der Division
ihre Zuteilung zur 4. Armee an und befahl ihr, sich zum
Marsch in nördlicher Richtung vorzubereiten, um den Bug-
Fluß zu forcieren, wo ich mit Widerstand rechnete. Ich
war dessen sicher, daß ein so schnell ausgeführter Stoß
sich schon bei Warschau fühlbar machen mußte. Ich schloß
aus allen Nachrichten, daß, obwohl ich nirgends auf den
Widerstand der sogenannten Mozyrz-Gruppe stoßen konnte,
der von mir erwartete Widerstand von seiten der 16. Sow-
jetarmee eigentlich erledigt sei. Ihre drei Divisionen (8.,
10. und 17. Schützen-Division) waren nach kurzem und
wenig blutigem Kampf fast zersprengt. Ich glaubte nicht,
daß die übrigen zwei Divisionen dieser Armee (2. und 27.
Schützen-Division) imstande sein würden, dem vereinigten
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 195
Druck unsrer 14. und 15. Infanterie-Division von Süden
aus und der zur Dichtung der Bresche bei Radzymin von
Westen angesetzten Divisionen der Warschauer Besatzung
Widerstand zu leisten. Angesichts dessen konnte ich nur am
Bug auf einigen Widerstand stoßen, wo der Feind die Trup-
pen seiner 3. Armee, die bei Zegrze und weiter westlich am
Narew-Fluß kämpften, zu sammeln gezwungen sein mußte.
Widrigenfalls würde sich nämlich die 3. Armee in einer
überaus schweren Lage befinden, da alle ihre Rückzugs-
wege doppelt gesperrt wären durch den Feind und durch
den Narew-Fluß. Daraus folgerte ich, daß der Hauptteil der
Sowjetarmeen von Warschau in östlicher Richtung zurück-
gehen müßte. Unsrerseits aber müßte man möglichst schnell
ein einheitliches Zusammenwirken aller bei Warschau ver-
sammelten Truppen anordnen, um nach Zerschlagen einer
der Sowjetarmeen durch energische Verfolgung und Nach-
drücken von allen Seiten den Rest der feindlichen Kräfte
zu schlagen.
Deshalb beschloß ich, sofort nach Warschau zu fahren,
um den allgemeinen Angriff und die Verfolgung zu organi-
sieren und zu befehlen. In Warschau traf ich eine etwas
andre Stimmung an, als ich erwartet hatte. Wenn auch eine
gewisse Erleichterung und Freude darüber herrschte, daß
Warschau vom unmittelbaren Druck befreit worden war,
so bestand doch zugleich große Unruhe wegen zahlreicher
Angriffe des Feindes auf die an der unteren Weichsel gele-
genen Städte wie Plock und Wloclawek, und wegen des im-
mer weiteren Vorrückens feindlicher Abteilungen in dem
sogenannten Danziger Korridor. Dabei schien allen, mit
denen ich darüber sprach, unsre strategische Lage nicht so
günstig und so gründlich verändert zu sein, wie ich meinte.
Während ich mich schon vom Eindruck unsrer einen Mo-
lo5
196
DAS JAHR -1920
nat lang dauernden Mißerfolge befreit hatte und die ein-
zige Möglichkeit für den Feind, der ihm drohenden Nieder-
lage zu entgehen, in der Verteidigung des Bug-Flusses sah,
dem sich die Divisionen der 4. Armee und die Truppen des
General Rydz-Smigly bereits näherten, so fühlte ich in
Warschau deutlich den noch andauernden moralischen
Druck, der das Ergebnis der bisherigen Erfolge Tucha-
tschewskys war.
Die Versuche, die Ostfront Warschaus durch einen Angriff
der bei Modlin vom Feind weniger bedrängten Nordfront
(unsre 5. Armee) zu entlasten, brachten einen gewissen Er-
folg. Man kam bis Nasielsk und nordwärts längs des Narew-
Flusses vor. Desto bedrohter schien aber den Herren in War-
schau der linke Flügel der weiter gegen Norden vorrücken-
den 5. und jenes Teiles der 1. Armee, welcher westlich des
Narew-Flusses angriff. Während ich darin keine Gefahr er-
blickte und überzeugt davon war, daß der Feind trotzdem
werde zurückgehen müssen, konnte ich diese Überzeugung
und Sicherheit in Warschau nicht feststellen. Das Bangen
und die Angst um die Hauptstadt waren dort noch so stark,
und die weiteren Fortschritte des Feindes gegen Westen
zeichneten sich so bedrohlich ab, daß man meinem Druck
nur schwer nachgab.
Mein Befehl vom 18. August setzte unsren Armeen fol-
gende Operationsziele:
„Die 3. Armee: Deckung der Gegend von Lublin und
Chelm, Besetzung des Bug-Flusses, Aufklärung jenseits des
Bug und Unterstützung des linken Flügels der Südfront
durch Operationen von Norden gegen die Truppen der
12. Sowjetarmee, ohne auf die Südgrenze ihres Abschnittes
Rücksicht zu nehmen.
Die 2. Armee: Energische Verfolgung in nördlicher Rieh-
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 197
tung, um Bialystok einzunehmen und die zurückgehenden
Kolonnen des Feindes von Osten anzugreifen, gleichzeitig
Sicherung gegen Osten durch Besetzung von Brzesc Litew-
ski (die 3. Legionen-Division, die zur 2. Armee diri-
gierte 19. Infanterie-Division und Infanterie-Regiment 41
sind für Operationen in der Richtung Augustow-Wolkowysk
bestimmt).
Die 4. Armee: Energische Verfolgung in nördlicher Rich-
tung, um schnell den Bug-Fluß zwischen Brok (einschließ-
lich) und Granne (ausschließlich) zu forcieren, Einnahme
von Mazowieckie und Abdrängen des Feindes gegen die
deutsche Grenze mit der Tendenz, mit dem rechten Flügel
zwecks Überflügelung schneller vorzukommen.
Die 1. Armee: Frontale Verfolgung in nordöstlicher Rich-
tung über Warschau—Wyszkow—Ostrow—Lomza. Die Ka-
vallerie auf den linken Flügel dirigieren, um die Lücke
zwischen der eigenen Infanterie und der Landesgrenze zu
schließen.
Die 5. Armee: Gänzliche Liquidierung des zur 4. Armee
gehörenden 3. Kavalleriekorps und jener Teile der 15. Sow-
jetarmee, die durch das Vorrücken der 5. Armee in nörd-
licher Richtung auf Przasnysz—Mlawa abgeschnitten wer-
den.66
Ich ergänzte diesen Befehl durch einen Brief, den ich
schon am 19. August spät in der Nacht in Siedlce schrieb,
als ich bereits wußte, daß weder die 4. Armee noch die
Truppen des General Rydz-Smigly am Bug-Fluß auf größe-
ren Widerstand stoßen würden. Deshalb hielt ich auch die
Verminderung der zur unmittelbaren Verfolgung angesetz-
ten Truppen schon für durchaus möglich. Ich glaubte, man
könnte einen großen Teil der bisher um Warschau versam-
melten Truppen teilweise nach Süden, teilweise nach Osten
198
DAS JAHR \ 920
transportieren, um eine neue, natürliche, nicht wie bisher
gegen Norden, sondern gegen Osten gerichtete Front zu bil-
den. Die Ansätze zu dieser Reorganisation der Front findet
man schon im Befehl vom 18. August. Im Punkt 3 dieses
Befehls ordnete ich das Herausziehen der 19. Infanterie-
Division, die ehemals die 1. litauisch-weißrussische hieß,
und des 41. Suwalker Infanterie-Regiments an. Dies stand
mit meinem damals schon gefaßten Plan in Zusammenhang,
das 41. Infanterie-Regiment, welches aus Freiwilligen zu-
sammengesetzt war, die aus der Gegend von Suwalki stamm-
ten, in seine Heimat zu schicken, um diese von der sowjet-
russisch-litauischen Invasion zu befreien. Die 19. Infante-
rie-Division aber, die gleichfalls aus Freiwilligen aus den
Grenzlanden bestand, sollte laut Befehl „in Eiltransport66
über Warschau—Siedlce auf Czeremcha abgehen, um sofort
die Vorhut der zur Säuberung ihrer engeren Heimat vom
Feinde bestimmten Truppen zu bilden. Meine Absichten
sind im 2. Punkt meines Briefes an den Chef des General-
stabes genau festgelegt. Ich hielt den Feind für geschlagen
und formulierte meine Anordnungen auf folgende Weise:
„Die 5. Armee übernimmt die Verfolgung. Die 4. Armee
drückt gegen Norden und verlegt immer mehr alle Rück-
zugswege. Die 2. Armee springt von Osten ein. Wenn ich die
1. Armee (die sich zwischen der 5. und 4. Armee befindet)
nicht erwähne, so geschieht dies deshalb, weil ich vermute,
daß sich für sie kein Platz finden wird und daß sie wahr-
scheinlich der 2. und 3. Armee wird zugeteilt werden müs-
sen, von denen die letztere nicht nur die Deckung des Bug-
Flusses und Lublins übernehmen muß, sondern auch einen
Stoß in südlicher Richtung zur Entlastung Galiziens
ausführen soll.66 Ich wollte also schon am 20. August mit
diesem strategischen Unsinn aufräumen, den ich seiner-
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 199
zeit zum Ausgang der Schlacht hei Warschau gewählt
hatte.
Mein Befehl vom 18. August, den ich am 19. August ein
wenig abänderte, begegnete dem fast zu gleicher Zeit aus-
gegebenen Befehl Tuchatschewskys. Tuchatschewsky will
ihm das gleiche Datum, also den 18. August, geben. Nach
Durchsicht der ganzen diesbezüglichen Belege finde ich lei-
der so viel Widersprüche mit jener Behauptung Tucha-
tschewskys, daß ich mich gezwungen fühle, mich bei diesem
Widerspruch etwas aufzuhalten. Sergiejew schreibt aus-
drücklich auf Seite 92, daß der Befehl am 17. August um
18 Uhr ausgegeben wurde. Er behauptet, daß man im Haupt-
quartier der Front, in Minsk, am 17. August früh Nachrich-
ten von „einem aus der Umgebung Lublins beginnenden
Angriff irgendwelcher polnischer Truppen in nördlicher
Richtung und von der zu gleicher Zeit auf breiter Front
von Dublin bis Wlodawa erlittenen Niederlage der Mozyrz-
Gruppe66 erhielt. Tuchatschewsky hingegen behauptet auf
Seite 313, daß „leider das Oberkommando der Front von
einer polnischen Offensive erst am 18. August während
eines Ilughesgespräches mit dem Führer der 16. Armee
Kenntnis erhielt. Er selbst erfuhr davon erst am 17. August.
Die Mozyrz-Gruppe hatte nichts über das, was geschehen
war, gemeldet. Der Führer der 16. Armee, der während des
Ilughesgespräches über die neuentstandene Lage Meldung
erstattete, hielt einen Rückzug zwecks Neuorganisierung der
eigenen Truppen für notwendig, schätzte aber die Offensive
der weißen polnischen Truppen nicht zu hoch ein und er-
achtete ihre Liquidierung für möglich.66 Ich stelle mit aller
Entschiedenheit fest, daß am 18. August keinerlei Gespräch
zwischen dem Führer der 16. Armee in Siedlce und Tucha-
tschewsky in Minsk Litewski möglich war, da Siedlce groß-
200
DAS JAHR \ 920
tenteils schon am Spätabend des 17. August von unsrer 21.
Infanterie-Division eingenommen war. Es ist daher ganz
unglaubwürdig, daß der Führer der 16. Armee, der wahr-
scheinlich genötigt war, seinen Aufenthaltsort schnell zu
verändern, am 18. August ein so merkwürdiges Gespräch
hatte führen können. Am Abend des 17. August und in der
darauffolgenden Nacht war der Hauptteil seiner Armee (8.,
10., 17. Schützen-Division) in einem völlig regellosen Rück-
zug begriffen und jedwede Verbindung zwischen dem „Ko-
mandarmom 16“ und seinen Divisionen war schon während
dieser Nacht unterbrochen. In den Erinnerungen W. Putnas
unter dem Titel „Bei Warschau“, die die Tätigkeit der 27.
Sowjet-Division behandeln, welche zur 16. Armee gehörte,
Radzymin angriff und eroberte, finde ich folgende Angaben
in dieser Sache: „Laut Aviso zum Armeebefehl, den die
27. Schützen-Division gegen 16 Uhr des 17. August erhielt,
sollten die zur Armee gehörenden Divisionen hinter den
Fluß Liwiec zurückgehen.“ Putna schreibt dies der Nieder-
lage der 8. und 10. Schützen-Division, die südlich der 27.
Schützen-Division standen, und der Einnahme von Minsk-
Mazowiecki durch die polnischen Vorhuten zu. Er stellt fest,
daß die 27. Schützen-Division befehlsgemäß am 17. August
um Mitternacht vom Feinde unbehindert von Radzymin ab-
rückte, wobei sie jedoch in Unordnung zurückgehende Teile
der südlichen Nachbardivisionen vor sich hatte. Nach Ver-
gleich dieser Tatsachen kann ich nicht annehmen, daß der
Befehl Tuchatschewskys am 18. August ausgegeben wurde,
sondern ich glaube, daß dies entweder ein Druckfehler ist
oder aber daß Tuchatschewsky das Datum bei der Nieder-
schrift seines Büchleins absichtlich verschoben hat. Aus
diesem Grunde enthält die meinen Erwägungen über die
Warschauer Schlacht beigefügte Skizze die beiderseitige
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 201
Lage am Abend des 17. August, als der Befehl Tuchatschew-
skys schon zu wirken begann, mein Befehl aber erst am
folgenden Morgen in Wirkung treten sollte.
Ich muß gleich im voraus feststellen, daß die von Tucha-
tschewsky und von mir fast gleichzeitig ausgegebenen Be-
fehle fast das gleiche Los erreichte. Sie wurden in beiden
Armeen nur von einem Teil der Truppen ausgeführt. Tu-
chatschewsky erließ seinen Befehl, wie er selbst meint, zu
spät. Er stellt fest, daß der Befehl zum Rückzug durch die
kritische Lage auf seinem linken Flügel verursacht worden
war. Ich füge hinzu, daß Tuchatschewsky infolge der Zer-
splitterung der 4. Armee Sergiejews hei der Ausgabe des Be-
fehls nicht dessen sicher war, daß er auf seinem rechten
Flügel einen größeren Erfolg schnell erringen konnte, den
er gerade dort am rechten Flügel suchte. Der Befehl zum
Rückzug von Warschau wurde also vom Sowjet-Führer un-
ter dem Eindruck des ganz unerwarteten Angriffs von fünf
polnischen Divisionen erlassen. Wenn er nun behauptet,
daß dieser Befehl bereits verspätet war, so tut er es aus
dem Grunde, weil er, als er seine am linken Flügel kämp-
fende 16. Armee an den Liwiec-Fluß befahl und sie auf
diese Art dem Angriff jener fünf polnischen Divisionen ent-
ziehen wollte, nicht wußte, daß diese Armee bereits zu jed-
wedem Widerstand unfähig war.
Den rechten Flügel dieser Armee, ihre nördlichste Divi-
sion, bildete die bereits erwähnte 27. Sowjet-Sehützen-Divi-
sion, die noch vor einigen Tagen Radzymin erobert und
Warschau in Angst versetzt hatte. Aus der Beschreibung
der Tätigkeit dieser Division, die ich schon zitierte, ent-
nehme ich wörtlich die Lage der 16. Armee am Nachmittag
des 18. August: „Am 18. August noch stellte sich heraus,
daß die andren zur Armee gehörenden Divisionen ihre ope-
202
DAS JAHR \ 920
rativen Rückzugslinien verlassen hatten, und ihre Abtei-
lungen sich mit kleinen Ausnahmen in nordöstlicher Rich-
tung bewegten, die am wenigsten gefährdet war. Die Stäbe
der 2. und 10. Schützen-Division befanden sich gegen Mit-
tag des 18. August in Paplin und Sudninow, im Abschnitt
der 27. Schützen-Division. Auf der Landstraße Wejgrow—
Sokolow marschierten Abteilungen der 21. Schützen-Divi-
sion (sie gehörte zur 3. Armee und nahm an den Kämpfen
bei Radzymin teil), und die Nachhuten und der Troß der
27., 2., 17., 10. und 8. Schützen-Division (alle fünf Divi-
sionen gehörten zur 16. Armee, es fehlt keine einzige). Die
Straße war von einer ununterbrochen in zwei bis drei Rei-
hen sich vorwärtsbewegenden Kolonne vollgepfropft. Der
Stab der 27. Schützen-Division traf am 18. August um 21
Uhr 30 in Sokolow ein. Dort stellte sich heraus, daß der
Feind bei Anbruch des 18. August schon Siedlce eingenom-
men hatte und auf Sokolow und Drohiczyn vorrückte. Ge-
gen 21 Uhr besetzten die Polen schon die Gegend von Roz-
bity Kamien, von wo sie die 50. Schützen-Brigade (17.
Schützen-Division) zurückwarfen. Ein feindlicher Panzer-
zug näherte sich Sokolow und beschoß mit seiner Artillerie
die Landstraße, auf der immer noch der Troß aller Divi-
sionen der 16. Armee in einigen Kolonnen marschierte.
Einzelne gelockerte Abteilungen der 8., 10., 17. und 57.
Schützen-Division (von der Mozyrz-Gruppe) und Teile vom
Troß gingen über Sokolow in nordöstlicher Richtung (also
schon nicht auf Drohiczyn!!) zurück. Angesichts einer sol-
chen Lage und der Unterbrechung einer Drahtverbindung
mit dem Armee-Kommando beschloß die Division, hinter
den Bug-Fluß zurückzugehen, wovon man die 2., 10. und
21. Schützen-Division verständigte.66
Der Liwiec-Fluß, den Tuchatschewsky der 16. Armee als
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 203
Halteort vorschrieb, wurde also von der ganzen Armee in-
folge des Druckes der Vorhut unsrer 21. Infanterie-Divi-
sion und eines ihr zugeteilten Panzerzuges bereits am
Abend des 18. August aufgegeben. Überdies nahm bereits
außer der 16. Armee auch eine Division der 3. Sowjet-
armee an der Räumung des Liwiec teil. Dieses Teilbild, das
nicht unsren Gefechtsberichten, sondern den des Feindes
entnommen ist, zeugt deutlich vom Stand der 16. Armee,
die den gewaltigen Raum von der Berezyna bis Warschau
siegreich durchquert hatte, dabei Erfolg über Erfolg er-
ringend. Jetzt aber verzichtete diese Armee nach dem
Kampf vom 17. August gegen nur zwei unsrer Divisionen
(14. und 15. Infanterie-Division) auf die Ausführung aller
ihrer Aufgaben, infolge des Druckes der Vorhut einer Di-
vision (21. Infanterie-Division). Ich muß hinzufügen, daß
alle drei Divisionen: die 14., 15. und 21. Infanterie-Divi-
sion, die jetzt am 17. August einen Sieg über die 16. Armee
errangen, ihr längst bekannt waren, da sie von der Bere-
zyna bis vor Warschau ständig mit ihnen zu tun hatte. Die
16. Armee konnte also den Befehl Tuchatschewskys nicht
ausführen.
Sehen wir uns nun die 3. Armee an. Sie soll befehlsgemäß
den Feind aufhalten. Wir sahen bereits, daß ihre am linken
Flügel kämpfende 21. Infanterie-Division in die Kata-
strophe der 16. Armee geriet und mit ihr deren trauriges
Los teilte. Der aus drei Divisionen bestehende Rest der Ar-
mee, der unlängst noch Warschau und die Gegend von
Zegrze angriff, ging jetzt hinter den Bug-Fluß zurück. Ser-
giejew stellt fest, daß die weiter nördlich kämpfende 15. Ar-
mee am 19. August in eine schwere Lage geriet, als sie die
Fühlung mit dem linken Flügel der schnell nach Osten zu-
rückgehenden 3. Armee verlor.
204
DAS JAHR \ 920
Meinerseits führe ich den Absatz meines schon erwähnten
Briefes an General Rozwadowski an, den ich in der Nacht
vom 19. auf den 20. August schrieb. Am Ende des Briefes
schrieb ich: „Ein bisher ungelöstes Rätsel bildet für mich
die Frage, wo sich die feindliche 3. und jener Teil der 15.
Armee befindet, der an den Operationen nördlich Modlin
nicht teilnimmt/4 Ich versuchte es bedeutend später noch,
nach dem Kriege, dieses Rätsel zu lösen. Ich wußte zwar,
daß die 3. Armee schnell über Ostrow abzog und den Bug-
Fluß vorher sehr schwach verteidigte, doch sie spielte in
der von mir vom 19. August früh anbefohlenen sehr kräfti-
gen und eiligen Verfolgung durch unsre 4. Armee nicht
diese Rolle, die ihr Tuchatschewsky zuschreiben wollte;
sie hielt den Feind gar nicht auf. Es gab zwar im Verlaufe
des 20. und 21. August von Zeit zu Zeit unbedeutende Plän-
keleien mit leicht zu zersprengenden Abteilungen; doch
niemand bot wirklichen und vorbereiteten Widerstand. Auf
einer Kopie der letzten Skizze Sergiejews finde ich die
3. Armee am 19. August hei Wyszkow, am 20. August hinter
Ostrow, am 22. August aber weicht sie Bialystok und Lomza
aus und ist im Marsch auf Ossowiec begriffen. Wiederum
muß ich feststellen, daß die 3. Sowjetarmee ebenfalls den
Befehl Tuchatschewskys nicht befolgte, und nachdem sie
den riesigen Raum vom „armseligen Auta-Bach“ bis zur ge-
waltigen Weichsel siegreich durchquert hatte, schnell, ja
sogar sehr schnell zurückging, ohne den ihr befohlenen
Kampf gegen einige polnische Divisionen aufzunehmen, die
von Süden gegen sie vorstießen.
Der Befehl Tuchatschewskys wurde nur von seiner 15. Ar-
mee befolgt, die sich zur Rettung der Lage stellte. Sie sollte
den Abmarsch der weit gegen Westen vor geprellten 4. Ar-
mee sichern, was sie bemüht war am 18. und 19. August zu
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 205
vollbringen. Wie dies gewöhnlich bei Niederlagen zu sein
pflegt, leidet derjenige am meisten, der sich am tapfersten
schlägt. Die 15. Armee wurde zu jenem Zeitpunkt angegrif-
fen, als die andren Armeen — wie dies bei der 16. und
3. Armee der Fall war — schleunigst nach Nordosten zu-
rückfluteten, oder — wie dies die 4. Armee tat, die den
Befehl nicht rechtzeitig erhalten hatte — sich bemühten,
ihre zu sehr zerstreuten Divisionen zum Rückzug zu sam-
meln.
Unmöglich ist es, die Lage der 15. und 4. Sowjet-Armee
genau zu begreifen, ohne sie mit unsren Operationen west-
lich des Narew-Flusses zu vergleichen. Mein Befehl vom
18. August wurde nicht von allen Truppen vollständig aus-
geführt. Er lenkte ausdrücklich alle Armeen, außer der
westlichsten 5. Armee, nach Nordosten. Die 4. Armee sollte
auf Mazowieckie vorrücken, um sich der zu sehr isolierten
2. Armee des General Smigly zu nähern, die auf Bialystok
zustrebte. Die 2. Armee nämlich hatte eine doppelte Auf-
gabe: sie sicherte uns gegen Osten, wozu sie einen großen
Teil Kräfte auf wenden mußte, und versuchte gleichzeitig
die Rückzugswege des gegen Osten zurückgehenden Fein-
des in der Linie Bielsk—Bialystok zu besetzen. Ihre Kräfte
waren hierfür infolge der sinnlosen Voraussetzung, von der
ich bei der Kräfteverteilung zur Schlacht bei Warschau aus-
gegangen war, sehr gering.
Die 1. Armee hingegen, die infolge meines vom Wieprz-
Fluß ausgeführten Gegenangriffs von jedwedem Druck ent-
lastet war, erhielt durch den Befehl vom 18. August für
ihre weiteren Operationen die Richtung Lomza—Ostro-
l^ka. Diese Bewegung führte aber die 1. Armee weder am
19. noch am 20. August aus. Im Befehl für den 19. August
schon wurden die Operationen der 1. Armee in zwei Teile
206
DAS JAHR \ 920
zerrissen. In Ausführung meines Befehls vom 18. August
begannen die 8. und 10. Infanterie-Division und 7. Reserve-
infanterie-Brigade ihre Verfolgung gegen den Bug-Fluß und
hielten die anbefohlene Richtung auf Lomza—Ostrol^ka
ein. Der Rest der 1. Armee aber wurde eigentlich mit den
Operationen der 5. Armee verknüpft. Während sich also
der Feind zum Rückzug anschickte oder auch diesen Rück-
zug eiligst ausführte, trachtete unsre 1. Armee laut eigenem
Befehl immer noch westlich des Narew stark zu sein, nicht
aber östlich des Flusses. Am 20. August schon gelangt diese
westliche Orientierung der Führung unsrer 1. Armee so
deutlich zum Ausdruck, daß die ganze Armee, einschließ-
lich der östlich des Narew kämpfenden Divisionen den Be-
fehl erhält, den Narew-Fluß in westlicher Richtung zu
überschreiten. Dieser Befehl, der in krassem Widerspruch
zu meinem Befehl vom 18. August steht, wurde durch die
Meinung verursacht, daß der Feind seine 4. und 15. Armee
nördlich Ciechanow bei MIawa sammelt.
Wenn ich erwähnte, daß nur die 15. Armee den Befehl
Tuchatschewskys ausführte, so muß ich zugeben, daß ihre
Haltung im Laufe des 18. und 19. August wirklich helden-
haft sein mußte, wenn sie polnischerseits eine Konzentrie-
rung der Truppen in westlicher Richtung, die für die Ge-
samtoperationen so unnütz war, verursacht hatte, und somit
unsre ganze 1. Armee von Verfolgungsaufgaben abzog. Diese
Richtung war am 20. August um so weniger nützlich, als
die 15. Sowjetarmee sich am Abend des 19. August ent-
schloß, über Ostrol^ka auf Lomza zurückzugehen, das in-
folge eines unglücklichen, zu meinen Anordnungen — ich
wiederhole es — in vollem Widerspruch stehenden Befehls
von jedwedem Druck unsrerseits befreit wurde. Sergiejew
läßt darüber auf Seite 92 seines Werkes keine Zweifel. Er
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 207
schreibt darüber, daß er erst am 19. August in Sierpc den
grundlegenden Rückzugsbefehl Tuchatschewskys erhielt.
Er konnte noch über Mlawa und Przasnysz persönlich die
Lage mit Tuchatschewsky besprechen, der in Minsk weilte.
Sergiejew schreibt, daß er „erst im Laufe dieses Gespräches
mit dem Oberkommandierenden die Überzeugung von der
Notwendigkeit gewann, seine Truppen nicht nur in die Ge-
gend von Ciechanow, sondern bedeutend weiter nach Osten
zurückführen zu müssen. Erst am 19. August begann die
4. Armee ihren Rückzug.66 Über die 15. Armee schreibt Ser-
giejew, daß sie zwar im Laufe des 17., 18. und 19. August
im Kampf gestanden hatte; „da ihr rechter Flügel aber
die Fühlung mit der eilig nach Osten zurückgehenden 3. Ar-
mee verlor, entschloß sich die 15. Armee im Einklang mit
den Weisungen des Frontoberkommandos zum Rückzug
und rückte über Ostrol^ka in die Gegend von Lomza66. Auf
Seite 94 berichtet Sergiejew, daß er am 19. August, als die
Verbindung mit dem Frontoberkommando abermals unter-
brochen wurde, versuchte, die Verbindung über die 15. Ar-
mee herzustellen, wobei er bei Ciechanow gerade eintraf,
als die 15. Armee mit ihren Nachhuten auf Ostrol^ka zu-
rückging. Da er sich auf diese Weise von seiner 15. Armee
abgeschnitten sah und nicht in Gefangenschaft geraten
wollte, fuhr er in östlicher Richtung nach Augustow und
Grodno weg. Als die 15. Armee am Abend des 19. August
eilig nach Osten abrückte, unternahm unsre 1. Armee das
komische Manöver eines mühevollen Überschreitens des
Narew in gerade entgegengesetzter — westlicher — Rich-
tung.
Dieser seltsame und sinnlose Befehl, der nicht wenig zur
Verringerung der Niederlage der Sowjetarmee bei Warschau
beigetragen hatte, verursachte zwar einen scharfen Protest
208
DAS JAHR \ 920
meinerseits, doch leider nur geringe Änderungen. Mittels
eines Sonderbefehls untersagte ich der schon bei Ostrow
stehenden 8. Infanterie-Division, dem Befehl ihres Armee-
kommandos nachzukommen, und unterstellte sie der 4. Ar-
mee, mit der sie von nun ab ihr weiteres Los teilen sollte.
Ich leitete die 4. Armee wieder nach der vernachlässigten
Richtung auf Lomza und lockerte endlich den Druck auf
die abrückende 3. Sowjetarmee, die auch im Einklang mit
der Charakteristik Sergiejews am besten bei der Niederlage
bei Warschau davonkam. Ich gefährdete auf diese Weise
auch die Armee des General Rydz-Smigly, besonders aber
die 1. Legionen-Division an ihrem rechten Flügel, die un-
unterbrochen einer gänzlichen Isolierung entgegeneilte,
ohne auf Unterstützung von seiten der Nachbararmeen
rechnen zu können*).
Nach Beendigung des Krieges erwog ich mehrmals unsre
Operationen und die des Gegners während der Schlacht bei
Warschau und versuchte sie zu analysieren. Es schien mir
nämlich, daß ich die Lage, die durch den Angriff unsrer
5 Divisionen über den Wieprz-Fluß verursacht wurde,
nicht genügend ausgenützt hätte. Ich erzielte, wie dies dem
Leser schon bekannt ist, durch diesen Angriff am 17. Au-
gust die Ausgabe des Befehls zum Rückzug aller Sowjet-
truppen von Warschau nach Osten. Bei meiner Analyse
aber gelangte ich zur Vermutung, daß meinerseits Nachläs-
*) Ich konnte in unsren Archiven das scharf gehaltene Telegramm nicht
finden, das ich aus Siedlce anläßlich der mir unerwarteten Bewegung der
1. Armee absandte. In meinen Aufzeichnungen, die ich vor mir habe, nenne
ich diese Bewegung „Blödsinn46 und bezeichne sie als Aufmarsch in der
Richtung Posen. Ich machte so eine Anspielung auf das verhältnismäßig
zahlreiche Davonflüchten der am meisten an Demut gewöhnten Elemente
unsrer Hauptstadt aus Warschau, als diese Stadt bedroht war. Man flüchtete
nach Posen, wohin man die Regierung und die zentralen Behörden zu evaku-
ieren beabsichtigte.
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 209
sigkeitsfehler unterlaufen waren, die daran schuld waren,
daß die von den Sowjettruppen bei Warschau erlittene Nie-
derlage nicht zu einer endgültigen Zertrümmerung ausge-
staltet wurde, aus der das gegen uns kämpfende Reich kei-
nen Ausweg hätte finden können. Meine erste Unterlas-
sung sah ich immer in der ungenügenden Ausnützung des
18. August, den ich in Warschau verbracht hatte. Dieser
Tag war für unsre 4. Armee, besser gesagt für ihre weiteren
Verfolgungsoperationen fast verloren. Infolge eines Erman-
gelns meines unmittelbaren Druckes tat diese Armee sogar
zur Klärung der Lage sehr wenig. Und sie hätte meiner
Meinung nach, wenn ich sie weiter angetrieben hätte,
leicht den Bug-Fluß erreichen können und durch ihre
Vorhuten bereits am 18. August die Größe der Niederlage,
die die 16. Sowjetarmee erlitten hatte, klären und mit der
bereits im Zurückfluten begriffenen 3. Sowjetarmee in Füh-
lung treten können.
Diese Möglichkeit bestand, wenn man in Betracht zieht,
daß man der Schwungkraft der 4. Armee die Anstrengun-
gen der ganzen 1. Armee hinzufügen konnte, wenn sie an
diesem Tage in der ihr erst am Nachmittag des 18. August
anbefohlenen Richtung vorgerückt wäre. Ich verbrachte
diesen Tag in Warschau, wo man die Lage nicht so hoff-
nungsvoll ansehen wollte und wo man nur halbe Arbeit
— aber ja nicht ganz entschiedene zu leisten trachtete. Die
zweite Unterlassung, die ich bei meiner Analyse immer
wieder entdeckte, beruhte darauf, daß ich am 19. August,
als ich schon jene halbe Arbeit von seiten der Herren, die
ich in Warschau zurückgelassen hatte, wahrgenommen
hatte, nicht alles sofort in meine Hände nahm, um dieses
Chaos in der Organisation und diese Unordnung in der
Führung zu beseitigen, die sich nach meiner Abreise am
44 Pilsudski II
210
DAS JAHR J920
12. August zur Ausführung des Gegenangriffs entwickelt
und vergrößert hatte. Der Unsinn in der Anlage der Schlacht
bei Warschau, der durch Suggestion der seit einem Monat
erlittenen Mißerfolge und Niederlagen verursacht worden
war, hatte sich in Warschau so stark verankert, daß die
Leute sich nur schwer von seinen Folgen befreien konnten.
Dort bestand die ständige Tendenz zum Festhalten einer
möglichst großen Truppenzahl an der unmittelbaren Front
Warschaus, die die Hauptstadt vor Angst bewahren sollte.
Der schnelle, blitzartige Umschwung in der Lage, der von
mir mit so unbedeutenden Kräften erreicht worden war*
schien niemandem dauerhaft genug, da doch vorher fast
anderthalb Monate lang unsre ganze Armee im Süden und
Norden dem Feind nicht standhalten konnte. Und da der
Einfluß des so lange wirksamen Schreckgespenstes noch ge*
nügend stark war, griff man alle Anzeichen feindlicher Ak-
tivität auf, um noch mit der Möglichkeit einer Niederlage
und nicht mit der Sicherheit eines Sieges zu rechnen. Es
herrschte also in den Geistern und Herzen eine gewisse
Verdunkelung, während ich mich schon am 19. und 20. Au*
gust von jedweder Angst befreit fühlte. Ich war mir dessen
vollkommen bewußt, daß man möglichst schnell die un-
nötige Truppenansammlung bei Warschau beseitigen müsse,
die eine Folge des Unsinnes in der strategischen Anlage bei
Beginn der Schlacht war. Wie schon erwähnt, betrafen die
heißesten Debatten, die während meines Aufenthaltes in
Warschau am 18. August unter dem Druck der Unruhe ge*
führt wurden, die Nachrichten aus der Stadt Plock, die an
diesem Tage von den Sowjettruppen erobert wurde, die An-
griffe auf Wloclawek und die Operationen der Sowjetarmee
in der Gegend von Thorn und Brodnica. Die Bannkraft der
Mißerfolge und Niederlagen wuchs auf diese Weise, der
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 211
Feind rückte ununterbrochen weiter vor, eroberte neue
Städte und breitete sich gegen Westen aus. Deshalb gestehe
ich, daß ich mit einer gewissen Bewunderung bei Tucha-
tschewsky die Klagen über seine 4. Armee, und bei Sergie-
jew die Anerkennung der Richtigkeit jedweder ihn betref-
fenden Kritik bezüglich der Führung der 4. Armee wäh-
rend der Schlacht bei Warschau las. Die Klagen Tucha-
tschewskys sind überhaupt nicht gerechtfertigt. Er gab doch
selbst am 8. August den ausdrücklichen Befehl, der die 4.
und 15. Armee nicht zur Eroberung Warschaus, sondern
zum „Vormarsch über die Weichsel66 bestimmte.
Beide Armeen rückten also, ohne Warschau und die dort
versammelten polnischen Kräfte anzufassen, geradewegs
gegen Westen. Die Weichsel bei Plock oder Wloclawek er-
reichte aber nur die 4. Armee Sergiejews, die wie bisher
den andren Truppen auf breiter Front voraneilte. Für die
Absicht der Weichselforcierung selbst war dies keine
schlechte Methode. Deshalb frage ich nochmals, um was es
Tuchatschewsky in seinen Klagen über Sergiejew zu tun
ist? Ich vermute, daß beide Verfasser einer gewissen Sug-
gestion zum Opfer gefallen sind, als sie die Tätigkeit der
4. Sowjetarmee einer Kritik unterwarfen. Die Autorität,
der sie beide zugänglich waren — dem Inhalt verschiede-
ner Ausführungen nach zu urteilen —, bildete die sehr
flüchtige Analyse eines französischen Offiziers, der eine
Broschüre über diese Schlacht herausgegeben hatte. Dieser
Franzose meint in einer witzigen Anmerkung, daß die
4. Sowjetarmee statt bei Warschau zu stehen, eher schon
gegen den Versailler Friedensvertrag als gegen die Polen
kämpfte. Er sieht sogar bis zu einem gewissen Grad die Ur-
sache des sowjetrussischen Mißerfolges in dem Mangel eines
Zusammenwirkens der 4. Armee Sergiejews mit den Haupt-
212
DAS JAHR \ 920
kräften vor Warschau. Dieses Mißverständnis finde ich völ-
lig erklärlich. Es beruht auf der suggestiven Angst um War-
schau, als alle unwillkürlich die Kräfte Tuchatschewskys
vor Warschau versammelt sehen wollten. Inzwischen wollte
im Sinne des Befehls Tuchatschewskys vom 8. August nicht
allein die 4. Armee nicht um Warschau kämpfen, sondern
auch die 15. Armee, die stärkste und am besten ausge-
rüstete, ging Warschau aus dem Wege und verwickelte sich
nur mit ihrem linken Flügel in den Kampf. Man muß aber
deutlich feststellen, daß in ihrem „Vormarsch über die
Weichsel66 nur die nördliche 4. Armee Sergiejews die Weich-
sel selbst zu sehen bekam. Da sie sich aber am weitesten
gegen Westen befand, mußte sie beim Rückzug im Vergleich
mit den andren Armeen in die schwerste Verlegenheit ge-
raten. Ihr gebührt aber das Verdienst, uns Polen am läng-
sten unter dem Bann der Mißerfolge und Niederlagen ge-
halten zu haben. Dadurch kam sie, als sie es nicht mehr
verstand oder vermochte, unmittelbar zu helfen, sowohl der
3. als auch der 15. Sowjetarmee bei ihrem Rückzug sehr zu
Hilfe.
Wenn ich nun auf den sowjetrussischen Rückzug und
unsre Operationen zurückkomme, so muß ich feststellen,
daß infolge des merkwürdigen Befehls, der unsre 1. Armee
gegen Westen wendete, unsre 4. Armee auf Lomza dirigiert
wurde, in welcher Richtung die 15. Sowjetarmee am Abend
des 19. August zurückflutete. Zur Unterstützung der den
Rückzug erst antretenden 4. Armee hatte sie eine Division
nördlich von Ciechanow zurückgelassen. Der Rückzug voll-
zog sich sehr eilig, wobei sich ihm Teile der 4. Armee, die
Ciechanow umgehen konnten, anschlossen. Am 21. Au-
gust schon findet sich der Hauptteil der 15. mit Teilen
der 4. Armee in Lomza ein und sichert den weiteren
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 213
Rückzug durch eine Seitendeckung in der Gegend von
Sniadowo. Unsere 4. Armee, die gezwungen wurde ihre
Marschrichtung zu ändern, befreite auf diese Weise die
3. Sowjetarmee von ihrem unmittelbaren Druck, es ge-
lang ihr aber nicht, ihr neues Ziel rechtzeitig zu erreichen,
das die seltsamerweise gegen Westen zurückgehende 1. Ar-
mee aufgegeben hatte. Aus diesen Gründen treten am
21. August bei Öniadowo bloß Vorhuten der am linken
Flügel vorrückenden 15. Infanterie-Division mit der zu-
rückgehenden 15. Armee in Fühlung. Diese Vorhuten er-
oberten dennoch Sniadowo, was, soweit mir bekannt, bei
den Sowjettruppen in Lomza eine wirkliche Panik aus-
löste. Am nächsten Tag, dem 22. August, sammelt sich
schon unsre ganze 15. Infanterie-Division und erobert in
kräftigem Angriff Lomza. Bei einem so schnellen Tempo
konnte natürlich von einem geordneten Rückzug keine
Rede sein. Als ich am folgenden Tag in Lomza ankam,
stellte ich fest, daß sehr viele Untergebene Tuchatschewskys
in Lomza selbst und seiner Umgebung nach Wegen, die
nach Ostpreußen führen, fragten. Wiederum ging eine
ganze Armee unter dem Druck einer einzigen unserer Divi-
sionen eilig zurück.
Im Westen verblieb noch die 4. Armee. Sie befand sich
am weitesten entfernt, am Ufer der Weichsel, empfing den
Befehl am spätesten und verlor ihren bisherigen Führer,
der Sieg um Sieg errang, jetzt aber allereiligst auf Augu-
stow und Grodno im Rückzug begriffen war. Dank jedoch
ihren bisherigen Siegen und ihrer Moral zog diese Armee
soviel Aufmerksamkeit auf sich und verursachte soviel
Ängste, daß alle Truppen (außer 2 Divisionen), die bisher
zur Verteidigung Warschaus bestimmt waren, gegen sie auf-
geboten wurden, um sie mit einem engmaschigen Netz zu
214
DAS JAHR \ 920
umgarnen und abzuwürgen. Von Osten rückt ihr unsre
1. Armee entgegen, die aber einige anbefohlene Wendun-
gen auszuführen hat und gezwungen ist, den Narew-Fluß
noch einmal ohne Brücken zu überschreiten, weshalb sie
nirgends rechtzeitig eintrifft — weder in Lomza, wohin sie
am 18. August dirigiert wurde, noch bei Mlawa, wohin sie
neue Befehle ihrer Führer entsenden. Von Süden verfolgt
sie unsre viel aktivere 5. Armee. Doch die Armee Sergie-
jews wehrt sich selbst ohne Führer wie ein umzingelter Löwe.
Am 22. August, als Lomza und die eilig verlassene Narew-
Brücke schon in meinem Besitz waren, durchbrach die
4. Sowjetarmee das ihr entgegengestellte Hindernis und öff-
nete sich den Weg für Infanterie und Troß. Am nächsten
Tag beseitigte sie schnell ein kleines Hindernis in Gestalt
einer Abteilung unsrer 5. Armee, die eiligst nach Chorzele
entsendet wurde, und der Rest der 4. Sowjetarmee rückte
weiter gegen Osten ab. Es war jedoch zu spät. Aus Lomza
rückten bereits zwei Divisionen unsrer 4. Armee (14. und
15. Infanterie-Division) gegen Norden, um ihr den Weg zu
verlegen. Nach kurzem Kampf, in dem sie versuchte, auch
dieses Hindernis zu durchbrechen, verzichtete die 4. Sow-
jetarmee auf weitere Versuche und überschritt die Grenze
Ostpreußens, wo sie die Waffen streckte. So endete die histo-
rische Schlacht bei Warschau.
Sergiejew legt seinem Buch eine Skizze der Schlacht bei
Warschau bei, die etwas verwickelt und bezüglich unsrer
Operationen, die er nicht näher kannte und verstand, nicht
ganz genau ist. Zur Charakteristik der Sowjetarmeen bringe
ich diese Karte, wobei ich alle Einzelheiten weglasse, da
sonst wenige nur sich in dieser verwirrten, beiderseits
schlecht geleiteten Schlacht auskennen würden*). Da ich
*) Siehe Karte Nr. 8.
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 215
eine genaue Analyse der Schlacht bei Warschau auf später
verlege und mich auf eine ganz allgemeine strategische Be-
wertung beschränke, will ich mich ebenfalls bei dieser
Skizze auf gleiche Weise beschränken. Um so deutlicher
tritt dann die Tätigkeit der einzelnen Armeeeinheiten
Tuchatschewskys hervor. Ich will nun kurz ihr Los schil-
dern, wobei ich vom Süden beginne.
Die Mozyrz-Gruppe ist auf der Skizze mittels einer hel-
len Linie dar gestellt, die die 58. Schützen-Division in Wlo-
dawa mit einem Pfeilchen mit der Nummer 57 bei 2ele-
chow verbindet; überdies besteht ein geheimnisvoller klei-
ner Kreis um Lukow. Da weder diese Skizze, noch die Ope-
rationen meiner Truppen mir das Geheimnis der Mozyrz-
Gruppe aufgeklärt haben, die vom 4. Juli ab in zwei Rich-
tungen siegreich war, am 16. und 17. August aber gar kei-
nen Widerstand leistete, will ich mich kurz fassen. Die 58.
Schützen-Division versuchte zweimal erfolglos unsre 3. Le-
gionen-Division aufzuhalten und zog sich geschlagen hinter
den Bug-Fluß zurück, wobei sie Wlodawa und Brzesc preis-
gab, das am 19. August besetzt wurde. Unsre 3. Legionen-
Division machte darauf in Brzesc halt und verlängerte so
die passive Sicherungslinie des Bug-Flusses. Solchermaßen
beschränkte sich die weitere nordwärts gerichtete aktive
Tätigkeit der Truppen des General Ömigly auf die Opera-
tionen der durch eine Kavallerie-Brigade verstärkten 1. Le-
gionen-Division, die weit im Westen von der 21. Gebirgs-Di-
vision unterstützt wurden. Der Rest der Mozyrz-Gruppe mit
der 57. Schützen-Division konnte überhaupt nicht in Be-
tracht kommen, da er tatsächlich derart zerstreut war, daß
alle unsre Truppen von der 14. Infanterie-Division am
linken Flügel bis zur 1. Legionen-Division am rech-
ten Flügel im Raume vom Wieprz-Fluß bis Bialystok
216
DAS JAHR 1920
und Lomza Gefangene von der 57. Schützen-Division
einbrachten.
Als zweite wurde die 16. Armee getroffen. Ihre südlichen
Divisionen, die 8., 10. und 17. Schützen-Division, wurden
am Abend des 17. und am Morgen des 18. August bei Kol-
hiel und Minsk-Mazowiecki von unsrer 14. und 15. Infan-
terie-Division von zwei Seiten angegriffen. Ein Teil der
Sowjettruppen wurde sofort zersprengt und ging in der für
sie natürlichen Richtung, aus der sie gekommen waren, gegen
Osten auf Brzesc zurück. Ich erwähnte sie in meinem Brief
an General Sosnkowski. Ein großer Teil von ihnen wurde
von der ansässigen Bevölkerung abgefangen, die geradezu
Jagd auf sie machte. Auf der Skizze Sergiejews sehen wir
die 16. Armee am 18. August am Liwiec-Fluß bei W^grow
dabei begriffen, sich zu sammeln, wobei sie jetzt die Rück-
zugsrichtung auf Drohiczyn hat. Als sie am Abend von
der Vorhut der 21. Infanterie-Division angegriffen wird
und Kenntnis davon hat, daß unsre Kavallerie gemeinsam
mit der Vorhut der 1. Legionen-Division ihr den Rückweg
bei Drohiczyn verlegt, geht die 16. Armee, wie dies aus der
Skizze ersichtlich ist, gegen Norden auf Bielsk zurück. Der
Widerstand, der am Bug-Fluß versucht wird, wird schnell,
vor allem durch ein Umgehungsmanöver der 1. Legionen-
Division gebrochen. Einem Teil des Trosses und einem
kleinen Teil der Truppen gelingt es, der Verfolgung zu ent-
gehen und nach Wolkowysk zu flüchten. Das Gros aber
wird infolge der Einnahme von Bielsk am 20. August schon
durch die 1. Legionen-Division festgehalten und wendet
sich nach schwachem Widerstand gegen Norden, wo es über
Bialystok zu entschlüpfen versucht.
Da die Skizze Sergiejews das Schicksal der 16. Armee mit
den Operationen bei Bielsk beendet und später nur noch
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 217
einzelne Pfeilchen in verschiedenen Richtungen aufweist,
herufe ich mich auf Putna, den Geschichtschreiber der
27. Sowjet-Division während dieses Rückzuges. Er schreibt,
daß die 21. Sowjet-Division versuchte, unsrer 1. Legionen-
Division Bielsk wegzunehmen. Als dies mißlang, überschritt
die 16. Armee, die die ganze Zeit hindurch keine Ver-
bindung weder mit ihrem Führer noch mit einer andren
Sowjetarmee besaß, mit viel Mühe den Narew-Fluß hei
Suraz und erreichte gegen Mittag des 22. August die zwölfte
Werst der Landstraße Bialystok—Mazowieck, indessen
Bialystok vom Morgen des 22. August an bereits von der
Vorhut der 1. Legionen-Division besetzt war. Putna schreibt
folgendermaßen über das, was sich an der zwölften Werst
einfand: „Auf der Landstraße nach Bialystok befanden sich
zahlreicher Troß und einzelne Abteilungen dreier Armeen
(407., 408., 409., Schützen-Regiment, Teile der 2., 3., 6., 8.,
10., 17., 21. und 55. Schützen-Division). Der Feind hatte
Bialystok stark besetzt, und Versuche der 2. und 21. Schüt-
zen-Division, ihn aus der Stadt herauszuwerfen, hatten kei-
nen Erfolg/6 Am Abend griffen die einen noch einmal ver-
zweifelt Bialystok an, während die andren im Schutze der
Nacht einen Umkreisungsmarsch ausführten. Eine Zeit-
lang war sogar der Weg durch Bialystok offen, schließlich
ließ man aber eine Menge Kriegsmaterial und viele Gefan-
gene in den Händen der 1. Legionen-Division. Den Stand
der Armee schildert Sergiejew folgendermaßen: „Jedwede
Ordnung wurde endgültig umgestoßen und Teile der
16. Armee entgingen als armselige Reste der ehemals so
gefürchteten Divisionen.66 Er fügt hinzu: „Eine gewisse
Ordnung bewahrten noch je eine Brigade der 8. und 17.
und zwei Brigaden der 27. Schützen-Division (von 15 Bri-
gaden, die die Armee besaß).66
218
DAS JAHR \ 920
Der folgenden 3. Sowjetarmee fiel in der Schlacht bei
Warschau das glücklichste Los zu. Der Befehl Tucha-
tschewskys warf sie zum Angriff auf Modlin, mit ihrem
linken Flügel aber unterstützte sie die 16. Armee, weshalb
auch ihre 21. Schützen-Division das Geschick der Nachbar-
armee teilte. Während der Niederlage der 16. Armee ging
sie hinter den Narew-Fluß zurück und versuchte nur eine
Weile lang am Bug-Fluß Fuß zu fassen. Als dieses mißlang,
brach sie die Fühlung mit der 15. Armee ab und überließ
sie ihrem Schicksal. Als sie aber die Niederlage der 16. Ar-
mee sah, begann sie sich eiligst längs der Straße Wyszkow—
Ostrow—Zambrow zurückzuziehen. Auf der Skizze Sergie-
jews sehen wir sie am 19. August bei Wyszkow, am 20. Au-
gust bei Ostrow, wo sie überhaupt nicht mehr versucht,
Widerstand zu leisten, und weiter zurückgeht, wobei sie
sich noch auf gleicher Linie mit der gleichfalls zurück-
gehenden 15. Armee befindet, die bereits bei Ostrol^ka
steht. Später aber verzichtet sie auf irgendwelches Zusam-
menwirken mit andren Armeen und trachtet die Zeit mög-
lichst auszunützen, während unsre 4. Armee auf Lomza
gewendet wird, die 1. Armee aber über den Narew nach We-
sten zurückgeht. Auf der Skizze sehen wir sie am 22. Au-
gust, am Tag der Niederlage der 16. Armee bei Bialystok
und der 15. Armee bei Lomza, in Gestalt von 3 Pfeilchen
in nordöstlicher Richtung auf Ossowiec und Grodno zu
flüchten, ohne in irgendeiner Richtung Hilfe zu leisten.
Sergiejew behauptet, daß sie hei der Warschauer Niederlage
am besten davonkam, was ich übrigens bestätigen kann, da
ich sie einen Monat später bei der zähen Verteidigung
Grodnos und der Njemen-Übergänge antraf.
Die 15. Armee marschierte nicht auf Warschau; sie um-
ging die Hauptstadt und wendete sich der Weichsel unter-
DIE SCHLACHT VOR WARSCHAU. DIE POLNISCHE GEGENOFFENSIVE 219
halb Modlin zu, wobei sie aber mit ihren linken Flügeldivi-
sionen mit unsrer Besatzung von Warschau in Fühlung ge-
riet. Bevor sie aber ihr Ziel erreicht hatte, erhielt sie am
Abend des 17. August den Befehl, infolge des polnischen
Angriffs über den Wieprz-Fluß zurückzugehen. Sie ging zu-
rück, um zu jener Zeit den Kampf aufzunehmen, als schon
keine der übrigen Armeen kämpfte. Am 19. August sehen
wir sie im Raume Ciechanow—Makow—Przasnysz versam-
melt, wo sie das Herankommen der 4. Armee abwartet.
Doch angesichts der völligen Vernichtung der 16. und des
Zurückgehens der 3. Armee, geht sie ebenfalls zurück. Auf
der Skizze Sergiejews finden wir sie am 20. August in der
Umgebung Ostrol^kas, am 22. August aber in Lomza, das
sie infolge Drängens einer unsrer Divisionen (15. Infante-
rie-Division) an diesem Tage noch verliert. Sie geht nun
eilig über Grajewo zurück, wobei sie die Grenze Ostpreu-
ßens berührt. Sie ließ während des letzten Kampfes und
der darauffolgenden Verfolgung viele Gefangene zurück,
ein nicht unbedeutender Teil aber überschritt kriegsmüde
und entmutigt die Grenze Ostpreußens, wo er entwaffnet
wurde.
Die 4. Armee endlich finden wir auf der Skizze Sergie-
jews im Sammeln aus allen Richtungen — Wloclawek,
Brodnica und Wkra-Fluß — begriffen, in der Stärke von
4 Schützen-Divisionen und eines Kavallerie-Korps. Am
22. August durchbricht sie bei Mlawa das erste Hindernis
(unsre 18. Infanterie-Division), am 23. August das zweite
Hindernis bei Chorzele (ein Schützen-Regiment der
sogenannten Sibirischen Schützen-Brigade). Am 25. Au-
gust endlich wird sie bei Kolno durch unsre 14. und 15.
Infanterie-Division aufgehalten, überschreitet die Grenze
Ostpreußens und läßt sich entwaffnen.
220
DAS JAHR \ 920
In der Geschichte der Warschauer Schlacht muß jedem
der merkwürdige, unerwartete und so plötzliche Rollen-
wechsel beider kämpfenden Parteien ins Auge fallen. Der
Besiegte wird im Verlaufe einiger Tage zum Sieger, der
Sieger aber zum Besiegten. Wenn man aber den ungewöhn-
lich starken Bann der polnischen Niederlage, der unwider-
stehlich alle Menschengeister und Herzen nicht nur bei uns,
in Polen, sondern auch auf der ganzen Welt gefangenhielt,
wenn man die unleugbare Tatsache des moralischen Nie-
derbruches des jungen polnischen Staatsgebildes, die in der
Entsendung einer Friedensabordnung zu Tuchatschewsky
zum Ausdruck kam, mit dem plötzlichen Umschwung ver-
gleicht, der blitzartig um sich griff — so sucht man un-
willkürlich nach ungewöhnlichen Ursachen dieses plötz-
lichen Wechsels, dieses blitzartigen Umschwunges. Als ich
den gewaltigen Einfluß charakterisierte, den Tuchatschew-
sky durch seinen siegreichen Vormarsch bewirkte, erwähnte
ich, daß wir unsrerseits den Eindruck eines Kaleidoskops
hatten, das ein Chaos von Berechnungen, Befehlen und
Meldungen verursachte. Dieses Kaleidoskop bewegte sich
vielleicht langsam, doch ein Tag sah dem folgenden so
wenig ähnlich, daß sich alle Manöverfiguren von Divisio-
nen und Regimentern wie im Quadrilletanz mit geographi-
schen Namen vermischten. Jetzt hatte ich meine Revanche,
jetzt triumphierte ich.
Die Schlachtenmusik schmetterte jetzt keine armselige
Quadrille, sondern einen wütenden Galopptanz! Nicht nur
Tag für Tag unterschieden sich voneinander, sondern eine
Stunde glich der andren nicht! Das im wütenden Galopp-
tempo angekurbelte Kaleidoskop erlaubte keinem der Sow-
jetführer, bei irgendeiner Tanzfigur zu verweilen. Sie zer-
sprangen augenblicklich und schoben vor die entsetzten
POLEN UND DIE SOWJET-RUSSISCHE REVOLUTION
221
Augen ganz neue Gestalten und Lagen, die alle Vermutun-
gen übertrafen und die eigenen Pläne und Absichten um-
stießen. Ich weiß nicht, ob meine damaligen Untergebenen
in diesem Galopptempo der sich abspielenden Ereignisse
sich Rechenschaft darüber gaben, was eigentlich vorging.
Die Westgruppe sicherlich nicht! Sie waren am Höhepunkt
ihres recht elenden Tanzes. Dagegen erinnere ich mich
stets mit Vergnügen daran, daß ich, nachdem die Kurbel
des Kaleidoskops zum wütenden Galopptempo einmal an-
gekurbelt würde, stets prüfend mit Freude feststellen
konnte, daß ich eine gute „tete froide d’un chef“ bewahrte,
dem es infolge eines Sieges nicht schwindlig wird und der
infolge einer Niederlage nicht zusammenbricht. Als jetzt
Warschau von einem überaus langdauernden Bann der Nie-
derlage zu Feiern und Festlichkeiten überging, bereitete
ich in Siedlce den weiteren Feldzug vor und verfaßte am
23. August den Grundriß für die weiteren Operationen.
Ich änderte sogleich die unnatürliche gegen Norden gerich-
tete Front in eine natürliche nach Osten gewendete, ver-
teilte die Truppen von neuem auf neue Armeen und ging
jetzt über eine Menge von komischem aus der Zeit der
Mißerfolge stammendem Wirrwarr in der Führung als Sie-
ger zur Tagesordnung über.
IX
Polen und die sowjet-russische Revolution
Tuchatschewsky wurde vom Staate, dem er diente, auf
einen so hohen Posten in dem Gefüge der kriegführenden
Armee berufen, daß er nicht frei von verschiedenen Be-
rechnungen und Erwägungen walten konnte, die den ober-
222
DAS JAHR \ 920
sten Führerposten im Krieg zur Pflicht fallen. Ein Füh-
rer von solchem Rang darf sich nämlich nicht bloß auf die
technischen Aufgaben beschränken, die mit einer in Kriegs-
handlungen begriffenen Armee in Zusammenhang stehen.
Er muß, um sich wenigstens ein eigenes Urteil über die
Ausführungsmöglichkeit der seinen Untergebenen gestell-
ten Aufgaben bilden zu können, ständig über die Kräfte
und den Kampfwert seines Staates sowie auch jenes Staa-
tes, mit dem er Krieg führt, auf dem laufenden sein. Ohne
diese Rechnung ist die höhere Führung naturgemäß
schwach, und solch ein Führer kann dann die rein militäri-
sche Berechnung durch Hinzufügen von sich aufdrängen-
den Elementen und Tatsachen aus einem ihm fremden Ge-
biet, das ihn aber unwiderruflich belastet, leicht verwirren.
Ein solches Gebiet bilden die, um eine schon früher be-
nützte Bezeichnung zu gebrauchen, inneren Fronten
beider kriegführenden Parteien. Die Kraft und die Einstel-
lung der inneren Front bedeutet oft im Verhältnis zum
Krieg, der geführt wird, viel mehr, als die Kraft und der
Wert der Truppen selbst. Deshalb wundert es mich nicht,
daß Tuchatschewsky Erwägungen auf diesem mit der
Kriegskunst im Zusammenhang stehenden Gebiet einen
ganzen Abschnitt gewidmet hat. Da ich aber während des
Krieges einen noch höheren Posten bekleidete als Tucha-
tschewsky, denn ich war nicht allein Oberster Feldherr aller
polnischen Truppen, sondern auch Staatsoberhaupt, war
ich gezwungen, dieselbe Berechnung ständig und systema-
tisch durchzuführen. Ich will nun, da ich über diesen Krieg
schreibe, beide Rechnungen und ihren Einfluß auf den
Krieg auch in einem dieser Sache besonders gewidmeten
Abschnitt kurz zusammenfassen.
Tuchatschewsky führte seine Armeen auf die Weichsel
iPRföffäi
—
POLEN UND DIE SOWJET-RUSSISCHE REVOLUTION 223
zu und über sie hinaus mit der Absicht, gewaltsam das zu
verbreiten, was wir in unsren Erwägungen als Revolution
bezeichnen. Im Einklang damit lautet auch der Titel des
betreffenden Abschnittes „Revolution von außen66. Die
Nennung dieses Kriegszieles selbst trägt schon die deut-
lichen Spuren dessen, daß eine innere Revolution in Polen
nicht bestanden hat, da man sie erst auf den Bajonettspitzen
von außen bringen mußte. Jedenfalls bleibt die Tatsache
unleugbar — was übrigens auch Tuchatschewsky bestä-
tigt — daß Sowjetrußland mit uns Krieg unter der Parole
führte, uns Polen eine gleiche Staatsordnung wie im Räte-
staat aufzuzwingen, und daß dieses Ziel als „Revolution
von außen66 bezeichnet wurde. Es war mir gut bekannt, daß
dies das Ziel des Krieges bildete. Deshalb stellte ich von
vornherein fest, daß ich persönlich gerade darum Krieg
führte, um die Verbreitung dieser Revolution von außen
mit Hilfe von Bajonetten zu verhindern. Der Krieg Polens
gegen Sowjetrußland begann schon im Jahre 1918, in dessen
zwei letzten Monaten Polen erst ein selbständiges Leben zu
führen begonnen hatte. Bis dahin nämlich war es gleichfalls
durch Bajonette, was Herrn Tuchatschewsky bekannt sein
dürfte, gezwungen, ein nicht selbständig polnisch aufgebau-
tes Leben, sondern ein fremdes Dasein zu führen, das sogar
mit drei Staaten verknüpft war: mit Rußland, Deutschland
und Österreich. Diese Knechtschaft unter der Gewalt der Er-
obererstaaten dauerte über 120 Jahre bis Ende 1918. Mehr
als ein Jahrhundert also überhäufte man Polen unter Zu-
hilfenahme von Bajonetten, die seinerzeit den Zusammen-
bruch Polens bewirkten, mit Wohltaten fremden Lebens,
das gerade deshalb oft so leidenschaftlich gehaßt wurde.
Polen stand somit im Jahre 1918 bei Antritt des Winters
im Frühling seines nach hundertjähriger Knechtschaft wie-
224
DAS JAHR 4 920
der freigewordenen Daseins. Trotzdem nun unsre Ge-
schichte diesen Frühling als kurzfristig bezeichnen wird,
trotzdem die Blumen, die der Frühling den Menschen
schenkt, den Schimmel und die Ausdünstungen hundertjäh-
riger Sklaverei noch nicht mit einem bunten Teppich be-
deckt hatten, war dieser Frühling doch stark genug, um
eine genügende Anzahl von Menschen zu neuen Kraftan-
strengungen zu stählen, die keine Lust hatten noch einmal
das Bajonett des Herrn Tuchatschewsky am eigenen Leibe
zu fühlen, das den Untergang unsres eigenen Lebens zugun-
sten, ganz gleich ob guter oder schlechter, jedenfalls aber er-
zwungener Qualen der Sklaverei bedeutete. Ich bin heute
noch, als Staatsoberhaupt Polens und Oberster Führer sei-
ner Wehrmacht, stolz darauf, daß ich jene Menschen ver-
körperte, die den Frühling Polens ankündeten und seine
Anzeichen mit der eigenen Brust schützten.
Schon im Jahre 1918 stellte ich mir ganz unabhängig ein
klares Ziel des Krieges mit Sowjetrußland. Ich entschloß
mich, alle Kräfte einzusetzen, um möglichst fern von den
Gebieten, wo das neue Leben Polens entstand und geschmie-
det wurde, alle Proben und Versuche zu Fall zu bringen,
die darauf abzielten, uns nochmals ein fremdes nicht von
uns auf gebautes Leben aufzuzwingen. Im Jahre 1919 voll-
brachte ich diese Aufgabe. Ich wies alle Versuche der Sow-
jetrussen so weit zurück, daß sie nicht imstande waren, den
schlechten oder guten Wiederaufbau unsres eigenen Da-
seins zu stören. Dieser große Zwischenraum, mit dessen
Hilfe ich mich vor der „Revolution von außen66 sicherte,
hatte sogar in militärischer Hinsicht seine Nachteile. Bei
unsrem allgemein bekannten Leichtsinn, bei unsrem leider
langsamen und oft unbeholfenen Wiederaufbau unsres
neuen Daseins vergaß man die Gesetze, denen eine krieg-
POLEN UND DIE SOWJET-RUSSISCHE REVOLUTION 225
führende Nation unterworfen ist. Man sah den Krieg nicht
aus der Nähe und zog ihn zu wenig in Betracht. Ich er-
reichte also das mir gestellte Ziel im Jahre 1919. Man darf
nun fragen, ob kein Fehler in den Berechnungen und Er-
wägungen Tuchatschewskys vorhanden ist? Als bei uns nach
seinen über uns errungenen Siegen die Wiederaufbautätig-
keit unter dem Einfluß dieser Siege erstarb, als er bereits
seine Hand nach dem Mittelpunkt unsres Lebens, nach der
Hauptstadt Warschau ausgestreckt hatte, als die Bajonette
also ihre Arbeit schon vollendet hatten, blieb die Sowjet-
revolution doch nur an den Bajonettspitzen hängen und
besaß in Polen keinen inneren Wert. Und doch stützte sich
die ganze Berechnung Tuchatschewskys und seines Staates
gerade darauf, daß die Bajonette nur die Parole geben soll-
ten, um der Sowjetrevolution im Innern des Landes, in das
sie eingedrungen waren, die Möglichkeit zu schaffen, ihre
Kräfte zum Ausdruck zu bringen.
Tuchatschewsky trachtet nun mit Hilfe von Worten, Re-
densarten und Vortrag das zu erreichen, was er im Jahre
1920 mit Bajonetten und Gewalt nicht zu erreichen ver-
mochte. Freilich ist es ein leichtes, Worte anderen Worten
gegenüberzustellen und dabei dem Leser die Möglichkeit
zu bieten, sich mit seinem Herzen auf jene Seite zu schla-
gen, deren Ausdrucksweise ihm besser gefällt. Ich will es
beispielweise versuchen. Tuchatschewsky bezeichnet uns
als Weißpolen. Dies kann wohl die Herzen mancher seiner
Leser freudiger schlagen lassen, doch hin ich ihm ob die-
ser Bezeichnung nicht böse. Im Wappen unsres Landes füh-
ren wir nämlich gerade einen weißen Adler, der, wie jeder
Adler, einen gekrümmten Schnabel und scharfe Krallen
hat, und der im Feldzug Tuchatschewskys vom Jahre 1920
seine Schwingen entfaltete und es verstand, sich dieser dop-
\ 5 Pilsudski II
226
DAS JAHR \ 920
pelköpfigen Mißgeburt zu widersetzen, trotzdem sie sich
rot gefärbt hatte. Bleiben wir also Weißpolen, da wir einen
weißen Adler im Schilde führen, der einen natürlichen
Kopf und genügend scharfe Krallen besitzt, um Mißgebur-
ten zu besiegen und sein eigenes Nest zu beschützen. Wahr
ist es ebenfalls, daß wir ein „Polnisches Herrenvolk66 sind.
Wie deutlich erinnert mich dies an die Zeiten meiner Kind-
heit, als ich in Wilno mit Abscheu und Ekel die Bücher
der im russischen Schulwesen so gut bekannten Verfasser,
wie Illowajski, fortwarf! Dort lehrte man gleichfalls die
Kinder, mit welchen Wohltaten die großen Moskauer Za-
ren das „Polnische Herrenvolk66 überhäuften, wie große
Verdienste sie Gott, der Menschheit und Polen gegenüber
erwarben, wogegen dieses unbotmäßige „Polnische Herren-
volk66 jeden Frühling einer neuen Generation durch bluti-
gen Aufstand feierte! Dies erinnert mich an eine sehr
schöne Anekdote. Einer der russischen Radikalen nämlich
behauptete, daß Polen von herrischer Kultur und abscheu-
licher herrischer Denkart so durchdrungen sei, daß es so-
gar Gott mit „Herr Gott66 anredet und einen gewöhnlichen
„tufiel66 als „pan-tufiel66 bezeichnet*). Tuchatschewsky be-
rücksichtigt nicht in seiner Berechnung, daß gerade damals,
als er seinen „Vormarsch über die Weichsel66 ausführte, in
unsrem Parlament die Bauernpartei die stärkste war, die
ebenfalls Gott mit „Herr Gott66 anspricht und „tufiel66 als
„pan-tufiel66 bezeichnet! Gerade zu jener Zeit, als Tucha-
tschewsky an die Tore unsrer Hauptstadt pochte, standen
an der Spitze der Regierung, die die Verteidigung Polens
leitete, die Vertreter der Bauern und der Arbeiter, die Her-
ren Witos und Daszynski. Doch wie es kein Mittel gegen
*) Tufiel bedeutet auf russisch Pantoffel, indessen „Herr“ polnisch „pan44,
bedeutet. Anm. d. Übers.
POLEN UND DIE SOWJET-RUSSISCHE REVOLUTION
227
einen Führer gibt, der moralisch gebrochen sich dem Wil-
len des Gegners unterwirft, so wurde auch bisher kein Mittel
gegen den Verstand und die Augen eines Doktrinärs erfun-
den. Tuchatschewsky sieht dies nicht und will es nicht ver-
stehen; er kennt keine „realite des choses“, sie besteht da-
her auch in vielen andren Fällen dort nicht, wo er über uns
spricht.
So schreibt er zum Beispiel auf S. 289: „Noch vor Be-
ginn unsrer Offensive loderten in ganz Weißrußland, das
unter dem Joch polnischer Großgrundbesitzer und der
weißpolnischen Truppen ächzte, Bauernaufstände auf.64
Fürwahr, die Köpfe der Doktrinäre sind wunderbar!
Tuchatschewsky bemerkt nicht, daß während des ganzen
Krieges, den Sowjetrußland mit uns führte, andre Sowjet-
truppen und Kameraden Tuchatschewskys ausschließlich
damit beschäftigt waren, im unmittelbaren Rücken und im
Hinterland der gegen uns gerichteten Front mit Mühe diese
oder jene gegen die Sowjets gerichteten Aufstände nieder-
zuringen! Sogar ein großer Teil der von Tuchatschewsky
befehligten Armee kam an unsre Front erst nach Nieder-
werfung verschiedener Aufstände im Innern Rußlands. In
Polen hingegen gab es nichts Ähnliches. Truppen, insofern
sie organisiert waren, konnte man unbehindert dem Feind
entgegenstellen, ohne sie zur Bekämpfung dessen einsetzen
zu müssen, was hinter der Front war! Während des ganzen
Krieges sah ich mich kaum an einigen Stellen veranlaßt,
schwache Abteilungen zu entsenden, die nicht kämpfen,
sondern massenweise Haussuchungen durchführen soll-
ten, um Waffen abzunehmen, die mir gefährlich werden
konnten. Ich erinnere mich daran, wie ich einen her-
vorragenden Vertreter einer der Westmächte, der dem den
Zaren verherrlichenden Historiker Illowajski mehr Glauben
228
DAS JAHR 4 920
zu schenken pflegte als mir, und der deshalb wie Tucha-
tschewsky erwartete, daß bei uns etwas „brodeln66 und „ko-
chen66 mußte, sehen ließ, wie in meinem Rücken Eisen-
bahnen und Telegraph ohne jeden militärischen Schutz ar-
beiteten. Vielleicht will Tuchatschewsky, wie er dies auch
an andren Stellen behauptet, darin eine mangelhafte Ent-
wicklung der „Revolution66 sehen, in den Aufständen da-
gegen, die er selbst im Rücken der polnischen Front be-
kämpfte, eine Überwucherung der Gegenrevolution. An
der Strategie und an den Berechnungen des Feldherrn än-
dern solche Worte gar nichts. Die Tatsachen sprechen da-
für, daß Tuchatschewsky in seinen Voraussetzungen im Irr«
tum war, ich hingegen beging weder in meinem Herzen
noch in Gedanken einen Fehler. Tuchatschewsky sagt, er
hätte noch ein „charakteristisches und ausgezeichnetes Bei-
spiel der klassenweisen Aushebung66 in Gestalt von 30 000
Mann, die in seine über die Weichsel geführten Armeen
eingereiht wurden. Wenn dies wahr sein sollte, trotzdem
Tuchatschewsky diesen „Zuschuß66 in den Tabellen seiner
Kräfteberechnungen bescheiden verschwieg, so muß ich
feststellen, daß unsre zwei sogenannten litauisch-weißrussi-
schen Infanterie-Divisionen zusammen ebensoviel Freiwil-
lige aufwiesen, welche sich der Armee Tuchatschewskys
entgegenstellten. Wiederum ist es für die Strategie und
Feldherrnkunst Nebensache, wie diese Zahlen benannt wer-
den, da sie im ärgsten Falle nur davon zeugen würden, daß
beide Parteien die gleichen Ergänzungsmöglichkeiten be-
saßen. Was mich anbelangt, so stelle ich fest, daß ich, als ich
nun daran ging, mein Ziel zu erreichen und Warschau von
den Sowjets durch einen möglichst großen Zwischenraum zu
trennen, so handelte wie ein Mensch, der den Kriegsschau-
platz derartig gut kannte, daß ihn sowohl das Land als auch
POLEN UND DIE SOWJET-RUSSISCHE REVOLUTION
229
alle Menschen für den ihrigen hielten und eine ihm voll-
ständig verständliche Sprache führten. Ich habe also gut
feststellen können, daß ein weitaus überwiegender Teil der
Bevölkerung den Sowjets und ihrer Herrschaft großes Miß-
trauen und oft sogar ausgesprochenen Widerwillen entge-
genbrachten und in ihr — mit Recht oder Unrecht, dies
spielt in der Strategie keine Rolle — eine unerträgliche
Schreckensherrschaft sahen, die man als jüdisch bezeich-
nete. Deshalb empfand ich nie während des ganzen Krie-
ges Angst darob, daß in meinem Rücken ein Aufstand ent-
brennen könnte.
Was aber Polen anbelangt, das ebenfalls bei Tucha-
tschewsky so aussieht, daß niemand, der den Krieg von 1920
miterlebte, es erkennen würde, so will ich Tuchatschewsky
als Antwort einen Absatz aus einem meiner vor Warschau
geschriebenen Briefe zitieren. In der Nacht vom 19. auf den
20. August in Siedlce verglich ich alle Angaben über die
Haltung der Truppen und der Bevölkerung. Auf Grund die-
ser Angaben brachte ich einige Änderungen in meinem Be-
fehl vom 18. August an und schrieb an General Sosnkowski,
den damaligen Kriegsminister, über Regierungsangelegen-
heiten. Meine damaligen Eindrücke waren folgende: „Das,
was hier vorgeht, übertrifft völlig die menschliche Einbil-
dungskraft. Kein Weg ist sicher, überall wimmelt es in der
ganzen Umgebung von zersprengten und zerstreuten, aber
auch von geschlossenen und völlig abgeschnittenen Abtei-
lungen, die ihre Geschütze und Maschinengewehre besitzen.
Vorläufig werden sie von der ansässigen Bevölkerung und
von rückwärtigen Abteilungen verschiedener Divisionen
liquidiert, die aber ihren Divisionen folgen müssen. Nach
ihrem Abmarsch bleibt dann eine vollständige Leere, so
daß ich vermute, daß, wenn die bewaffneten Bauern es
230
DAS JAHR \ 920
nicht hindern würden, morgen oder übermorgen die ganze
Gegend von Siedlce unter der Herrschaft der Bolschewiken
sein könnte, die vorher durch uns zersprengt und geschla-
gen wurden. Ich aber und verschiedene Kommandos würden
unter Beihilfe der bewaffneten Bevölkerung in bewaffneten
Städten bleiben müssen. Wiederholen Sie das Herrn Skul-
ski (dem ehemaligen Innenminister) und sagen Sie ihm,
daß ich drei Tage nach Eroberung von Siedlce dort gar
keine Zivilbehörden und keinen bewaffneten Polizeimann
antraf.66 Dieses Bild meiner Lage als Staatsoberhaupt, der
sich sicher und geborgen fühlt, trotzdem es in der Stadt
keine Polizei gibt und in der Umgebung sich mehr feind-
liche, zwar zersprengte, Truppen als eigene befinden, be-
weist ausdrücklich die Einstellung des damaligen Polens zu
den auf den Spitzen der Bajonette Tuchatschewskys ge-
brachten Wohltaten Sowjetrußlands. Wenn aber Tucha-
tschewsky die Beschlüsse der „Massenversammlungen66 in
Bialystok höher stellt, so ziehe ich, aufrichtig gesagt, meine
Lage in Siedlce vor.
Sergiejew bleibt immer der Wahrheit näher als Tucha-
tschewsky. Er schreibt auf Seite 82 ganz anders über die
Lage: „Nur in politischen Kanzleien, die genügend weit
von der Front entfernt waren, konnte man mit Ernst auf
den Ausbruch der polnischen Revolution rechnen. In der
Armee glaubte man wenig daran, und es scheint, daß der
Versuch, eine polnische rote Armee in Bialystok zu bilden,
einen genügenden Beweis dafür lieferte, daß unsre Nach-
richtenquellen die Lage in Polen zu optimistisch auffaß-
ten.66 Die Aussage Sergiejews bezeugt, wie viele Wahnbilder
und Trugschlüsse der Sowjettruppen bei ihrer Berührung
mit der „realite des choses66 schwinden mußten. Tucha-
tschewsky war übrigens zu jener Zeit nicht der einzige, der
POLEN UND DIE SOWJET-RUSSISCHE REVOLUTION
231
eine solche Ansicht vertrat. Sehr viele Ausländer, die da-
mals zum erstenmal Polen besuchten und wie Tuchatschew-
sky geneigt waren, eher Schulhistorikern in der Art von
Illowajski Glauben zu schenken als der „realite des choses“,
fragten mich sehr oft im Gespräch, ob ich nicht als das da-
malige Staatsoberhaupt bei uns den Ausbruch einer Revo-
lution in der Art der russischen befürchtete. Sie erhielten
von mir immer die gleiche Antwort, daß, wenn es der Welt
beschieden sein sollte, das russische Experiment zu ver-
suchen, woran ich übrigens zweifle, wir Polen die
letzten sein würden, die diesen Versuch machen wür-
den. Ich fügte stets hinzu, daß wir zu nahe Nachbarn
Rußlands wären, um uns leichthin zu seiner Nachahmung
zu entschließen.
Die ganze Ausdrucksweise Tuchatschewskys ist mir wohl
bekannt. Ich verbrachte so viele Jahre meines Lebens im
Dienst der sozialistischen Bewegung, daß ich befürchten
muß, daß Tuchatschewsky noch gar nicht geboren war, als
ich die Literatur, deren Ausdrucksweise er benützt, schon
in meinen Händen hatte. Sie ist den Werken des großen
Gelehrten Karl Marx entlehnt. Trotzdem ich nie in meinem
Leben ein Anhänger dessen war, was man materialistische
Auffassung der Geschichte nennt und was als Grundlage
der Ausdrucksweise der Marxisten bezeichnet wird, so ver-
mochte ich doch immer die Größe des Werkes von Marx
von der Vulgarisierung seiner tiefgründigen Gedanken zu
unterscheiden. Wenn ich aber Tuchatschewsky den Spuren
des Fürsten von Warschau Paskiewicz folgen sehe, wenn
ich ihn an die Tore Warschaus pochen und den Werken
von Marx entlehnte Beschwörungen wiederholen höre, so
muß ich ihm als Antwort den Titel einer bei uns in Polen
sehr bekannten Schrift Liebknechts, der ebenfalls ein gro-
232
DAS JAHR \ 920
ßer Theoretiker des Sozialismus ist, anführen: „Soll Europa
kosakisch werden?66.
Wenn man ausschließlich das Ergebnis der Feldherrn-
tätigkeit Tuchatschewskys berücksichtigt, ohne auf die
Grundlagen seiner Meinung uns gegenüber einzugehen, so
muß man feststellen, daß er im Irrtum war, als er daran
glaubte, während des Krieges in Polen ausgiebige Unter-
stützung für sich zu finden. Da aber dieser Trugschluß
zweifellos seine Feldherrntätigkeit beeinflußte und ihm
Veranlassungen und Beweggründe unterschob, als er den
„Vormarsch über die Weichsel66 beschlossen hatte, muß
eine gerechte Untersuchung feststellen, daß er bei Berech-
nung der eigenen Kräfte und der des Feindes einen Feh-
ler beging, der sich an ihm und den von ihm befehligten
Truppen rächte.
Ich will nun den Abschnitt mit einem Punkt über dem
„i66, was die politische Seite der Frage betrifft, beschließen.
Tuchatschewsky wie übrigens auch Sergiejew wollen immer
in meiner Tätigkeit ein Verhältnis der Unterordnung gegen-
über sehr vielen nicht näher bezeichneten Mächten wahr-
nehmen, die sie in großer Anzahl anführen. Es gibt eine
Entente, einen Verband der Kapitalisten der ganzen
Welt, eine Verschwörung der Imperialisten, einen Entente-
Generalstab und einen französischen Generalstab im enge-
ren Sinn. In dieser Beziehung ist Tuchatschewsky manchen
meiner Untergebenen und Landsleute ähnlich, die alle
unsre Mißerfolge mir, alle Siege dagegen sich selbst, oder,
da sie fürchten, man würde es ihnen nicht glauben, den
Franzosen zuschreiben. Dagegen gibt es natürlich kein Mit-
tel, wenn jemand noch so heiß verlangt, daß es derart wäre.
Der geschichtlichen Wahrheit zuliebe, nicht aber um jemand
von den so gut über sich Urteilenden zu überzeugen, füge
POLEN UND DIE SOWJET-RUSSISCHE REVOLUTION
233
ich noch hinzu: Ich übernahm den Oberbefehl über die pol-
nischen Truppen als Oberster Feldherr einer Armee, die
aus Nichts erbaut wurde, ohne von jemand dazu ermächtigt
zu sein. Zum Staatsoberhaupt Polens aber wurde ich vom
Landtag einstimmig erwählt, den ich selbst einberufen
hatte, und ich glaube nicht, daß es für jemand ein Geheim-
nis sein dürfte, daß beides nicht auf Betreiben, sondern
geradezu gegen den Wunsch dessen geschah, was damals
Entente genannt wurde. Ich sehe übrigens darin weder für
mich noch für die Entente Ursache, sich zu schämen. In po-
litischer Beziehung vertrat ich stets diejenigen, welche im
leider so kurzen Lenz unsres neuerweckten Lebens mit eige-
ner Brust den Wiederaufbau Polens verteidigen wollten,
das aus dem Kot der Knechtschaft die Scherben seines Da-
seins hervorholte. Da ich wußte, wie schwer eine solche Ar-
beit ist, spannte ich alle meine Kräfte und Sinne nur zu
diesem einzigen Ziel an, indessen die Entente — was auch
kein Geheimnis ist — vielmehr nach einer Lösung des rus-
sischen Problems strebte, als nach dieser oder jener Gestal-
tung der polnischen Angelegenheiten. Ich war nicht geneigt,
in Fragen, die den Krieg betrafen, und in diesbezüglichen
Entscheidungen jemandem untertan zu sein. Deshalb unter-
ließ auch der militärische Bevollmächtigte Frankreichs in
Polen, General Henrys, an den ich stets voll herzlicher
Wertschätzung zurückdenke, derartige Versuche vollstän-
dig, wenn er auch vielleicht einmal anderelllusionen gehabt
haben sollte. Ich sehe übrigens darin nichts Merkwürdiges
und glaube nicht, jemandem Abbruch zu tun, wenn ich den
sehr weisen Ausspruch eines andren Vertreters der glei-
chen Entente und des gleichen französischen Generalstabs,
General Weygands, wiederhole, der gerade aus der Zeit der
Warschauer Krise stammt. Als ich müde des Mangels an
234
DAS JAHR \ 920
innerer Härte bei uns Polen, während man im gefährlich-
sten Augenblick nach Demut suchte und, einem Ratschlag
von außen folgend, eine Friedensabordnung ins Quartier
Tuchatschewskys nach Minsk entsenden wollte, die Ver-
antwortung zur Hälfte von mir abzuwälzen versuchte und
General Weygand die Mitarbeit in der Führung vor schlug,
lehnte er ab. Er erklärte auf sehr vernünftige und kluge
Weise, daß die Führung von Truppen, die so schnell gebil-
det waren wie die unsren, und deren Wert und Führer er so
wenig kannte, wobei er infolgedessen nicht wußte, was er
von den Truppen verlangen konnte, zu schwer und für ihn
unmöglich sei. Deshalb beschränkte er sich auch auf die
Bekanntgabe theoretischer Ansichten, und hielt sich zu-
rück, irgendwelchen Druck auf meine Entscheidungen und
Beschlüsse auszuüben. Und wenn ich nun in meiner Wahl
unbehindert einen meiner Ansicht nach sinnlosen Plan
für die Schlacht hei Warschau gefaßt habe, indem ich drei
Viertel der Truppen zur passiven Verteidigung, ein Viertel
aber zum Angriff bestimmte, so belastete ich damit nie-
mandes Gewissen außer dem meinen.
X
Schlußfolgerung
Kriegführung ist eine Kunst, die Kunst schafft Werke,
das Ziel der Kriegskunst aher ist immer der Sieg. Jeder
Feldherr also strebt nach dem Sieg, der das Ergebnis seiner
Führertätigkeit, der Arbeit seines Hirnes, seiner Nerven
und seiner Willenskraft ist. Die Tätigkeit der vom Feld-
herrn geführten Truppen bildet eigentlich die Verkörpe-
rung dessen, was der Feldherr vorher durchdacht, durch-
lebt und veranschlagt hat.
SCHLUSSFOLGERUNG
235
Zweifellos war Tuchatschewsky kein durchschnittlicher
Feldherr. In seinem Vormarsch über die Weichsel verkör-
perte er seine vorherigen Erwägungen und seine frühere
Seelenarbeit. Er trug Siege davon — das ist nicht zu be-
streiten. Er mußte also Wege und Methoden suchen, durch
die er Siege davontrug, mit denen er die befehligten Trup-
pen und den Staat, den er im Kriege vertrat, beschenkte.
Polnischerseits führte ich diesen Krieg. Da ich meine
Arbeit in dieser Hinsicht genau kenne, weiß ich und ver-
stehe ich es gut, daß die Feldherrntätigkeit auf der Seite
des Gegners, auf der Seite Sowjetrußlands also, gleichfalls
schwer war — wie bei uns. Darum eben, als ich, wie ich in
der Einleitung bereits gesagt habe, manchmal das Buch
Tuchatschewskys mit Mißbehagen weglegte, das voll eines
bissigen, wie es ihm schien, Vernichtungswillens dem Feinde
gegenüber ist, welchen er in Wirklichkeit nicht verwirk-
lichen konnte, voll von geschichtlichen Fälschungen, und
für mich einen widrigen Beigeschmack hat, da es ein gro-
ßes Kriegswerk mit armseliger Publizistik anstreicht — dar-
um allein rettete mich und meine Arbeit der Gedanke, daß
ich an Hand des Beispiels Tuchatschewskys die große Feld-
herrnarbeit werde erläutern können, die er unter unge-
wöhnlichen Verhältnissen geleistet hat.
Tuchatschewsky hat als Feldherr häufiger vermocht
einen Sieg zu erringen. Der Sieger ist keineswegs verpflich-
tet zu erklären, wie er seinen Sieg vollbrachte. Die Feld-
herrn sind keineswegs dazu verpflichtet, ihre Taten in theo-
retische Erwägungen, theoretische Bezeichnungen nach der
Art einer Doktrin zu kleiden. Das französische Sprichwort
„La critique est aisee, mais l’art est difficile“, bezeichnet
klar die Rechte der Schöpfer von Kunstwerken, die das
Schaffen von Kunst-Doktrinen und -Theorien andren über-
236
DAS JAHR \ 920
lassen. Und nicht jeder Feldherr in großen Kriegen ver-
suchte es, seine Arbeit in Theorie, in eine bis in alle Ein-
zelheiten vollendete Doktrin zu kleiden. Doch jeder fast,
der an seinem Werk, für den Sieg arbeitete, war bemüht,
nachträglich wenigstens einen Grundriß zu geben, welcher
seine Arbeitsmethode und die Entwicklung seiner Ge-
danken erläuterte, die er mit Hilfe der lebendigen
Menschenkraft der ihm unterstellten Truppen verwirklicht
hatte.
Tuchatschewsky hat dies ebenfalls versucht, wobei — ich
wiederhole es nochmals — einige Seiten seines Werkchens,
welche er diesem Gebiet seiner Tätigkeit widmete, meiner
Ansicht nach seinen Vorträgen zur Zierde gereichen und
mich mit meiner gegenwärtig unternommenen Arbeit ver-
söhnen.
Tuchatschewsky war, als er seinen Vormarsch über die
Weichsel unternahm, vom Gegenstand seiner Wünsche, den
er sich zum Ziel gesetzt hatte, einige gute hundert Kilome-
ter entfernt. Er durchmaß also vorerst in Gedanken und
dann mit seiner Arbeit einen Raum von der Größe von
halb Europa. Kein kleines Unternehmen! In seinem Werk-
chen führt er seine Arbeitsmethode an, die er bildete, bevor
er sie auf dem Schlachtfeld anwandte. Er behauptet, daß
das „Versammeln von Stoßmassen66 bei den „gegenwärtig
so ausgedehnten Fronten66 eine unbedingte Folge des Cha-
rakters des jetzigen Krieges ist. Er sucht demnach in seinen
Erwägungen nach einer Methode, den Krieg hei Durchque-
ren großer Räume mit Kräften in Gestalt von geformten
Stoßmassen zu unterhalten. Sie müssen überall hingelangen
können, wo die Operationen stocken, als Reserve, die der
Oberste Feldherr in seinen Händen behält. Mit Hilfe die-
ser Reserve will er überall dort den Widerstand brechen,
SCHLUSSFOLGERUNG
237
wo sich der Feind ihm wird stellen wollen. Tuchatschewsky
behauptet, daß man nur auf diese Art und Weise große,
auf weite Ziele berechnete Operationen in solchen Verhält-
nissen führen kann, in denen man mit großen, weitgestreck-
ten Fronten und weiten Räumen zu tun hat.
Ich habe nicht die Absicht, die Erwägungen Tucha-
tschewskys in ihren Einzelheiten zu analysieren. Ich habe
mich gefreut, sie zu lesen. Sie tragen nicht den Charakter
eines verblendeten Doktrinärs. Man sieht in ihnen die Ge-
dankenarbeit, die das „Für“ und das „Gegen“ abwägt und
die Entscheidung dieser schweren Arbeit des Hirnes und
der Nerven in seelischer Qual sucht. Ich will diesen Erwä-
gungen nicht folgen, trotzdem ich sie selbst bei Behandlung
des gleichen Problems, das sich Tuchatschewsky stellte,
häufiger durchlebt habe. Ich könnte seinen Beweggründen
eine ganze Menge neuer hinzufügen; wahrscheinlich würde
Tuchatschewsky beim Überlegen dieses Problems selbst zu-
geben müssen, daß er nicht alle Beweggründe erwähnt hatte,
die man anführen könnte. Ich will nur die Wirkung des-
sen, was er Stoßmasse nennt, während seines ganzen Vor-
marsches von der Berezyna und Düna bis zur Weichsel ver-
folgen. Ich möchte entdecken, wie und in welchem Grade
sich die Idee Tuchatschewskys im Kampf und in der Tätig-
keit der Truppen verkörperte. Tuchatschewsky begann sei-
nen Feldzug mit dem Einleitungskampf am „armseligen
Auta-Bach“ am 4. Juli. Ich bezeichnete in meiner Unter-
suchung seinen Aufmarsch als geschickt, gut durchgedacht
und kühn ausgeführt. Er versammelte an einer Front von
100 Kilometern drei Armeen, um unsre dort stehende 1. Ar-
mee zu schlagen. Gegenüber dem Gros der polnischen Trup-
pen an der Berezyna und im Polesiegebiet stellte er
schwache Kräfte auf und suchte dort Übergewicht zu schaf-
238
DAS JAHR \ 920
fen, wo er die Entscheidung anstrebte. Doch ich sehe dort
keine Stoßmasse. Als ich die Organisation der Streitkräfte
des Herrn Tuchatschewsky prüfte, glaubte ich, daß die am
besten ausgerüstete 15. Armee die Stoßmasse bilden sollte.
Sie griff aber, ohne in die Tiefe gegliedert zu sein, in einer
solchen Gruppierung an, die ihr nicht erlaubte, beim Stok-
ken des Angriffes andren Armeeteilen zu Hilfe zu kom-
men. Einer Stoßgruppe viel ähnlicher waren beide Flügel-
armeen, besonders aber die nördliche 4. Armee. Dies stand
eigentlich mehr im Einklang mit der Sedan-Idee, mit dem
Gedanken an das sofortige, kurz gesteckte Ziel, den Feind
nicht nur zu schlagen, sondern ihm eine Katastrophe zu
bereiten. Dort sah ich aber keine Stoßmasse. Ich suche
übrigens im Beginn der Operationen nicht die unbedingte
Notwendigkeit für Tuchatschewsky, seinem Plan treu blei-
ben zu müssen. Er öffnete das Tor von Smolensk durch
Kampf, dem er seinen Aufmarsch anpaßte, ohne auf den
Vormarsch mit weitgestecktem Ziel, auf die nötige Über-
windung der Entfernung und die mögliche Gegenwirkung
des Gegners Rücksicht zu nehmen.
Am 4. Juli gab es also keine Stoßmasse. Sofort aber, ohne
den Kampf zu beendigen, bildet Tuchatschewsky diese
Stoßmasse aus zwei Armeen: der 3. und 15. Armee, und be-
reitet gleichzeitig die weitere Bewegung gegen Westen vor.
Er opfert sogar, wie wir dies gesehen haben, viel Zeit da-
für. Die Idee selbst ist ihm teuer. Von weitem, einige hun-
dert Kilometer entfernt, winken ihm die Türme von War-
schau, schimmert das breite Band der Weichsel ihm ent-
gegen; den Weg dahin muß man sich aber mit Mühe und
Gewalt bahnen. Gemäß der Grundidee Tuchatschewskys
soll die 15. und 3. Armee die künftigen Kämpfe unterhal-
ten und die künftigen Hindernisse durchbrechen. Er wen-
SCHLUSSFOLGERUNG 239
det sie dorthin, wo das Hindernis besteht, wo er noch vom
Kampf nicht gebrochene polnische Kräfte sich gegenüber-
sieht — also gegen Süden. Unsre an der Berezyna stehende
4. Armee soll am eigenen Fell die Kraft der materialisier-
ten Idee Tuchatschewskys, die Wirkung der Stoßmasse, zu
fühlen bekommen. Bei der Analyse dieser Bewegung schon
suchte ich die ruhig auf Molodeczno marschierende 15. Ar-
mee mit Napoleons alter Garde zu vergleichen. Sie wartet
mit der Pfeife im Mund als letzte Reserve des großen Kai-
sers ab. Sie sieht gleichgültig dem vor ihr tobenden Kampfe
zu und weiß im voraus, daß die Siegespalme, die Wollust,
den Widerstand des Feindes zu brechen, seinen Mißerfolg
zu einer Niederlage zu gestalten, ihr zufallen wird, wenn
das kaiserliche Auge den entsprechenden Augenblick für
gekommen erachtet.
Die Stoßmasse kam also in Schwung. Die 3. Armee rückte
auf Minsk, die 15. Armee auf Molodeczno vor. Doch der
Feind wollte, wie dies übrigens Tuchatschewsky in seinen
Erwägungen zum Ausdruck brachte, sich dieser Operation
nicht unterziehen und sich von dieser Stoßmasse schlagen
lassen; er wich dem Schlage aus. Die von der 3. Armee ge-
bildete und auf Minsk gerichtete Stoßmasse traf ins Leere.
Er tat also das, was eben Tuchatschewsky in seinen Erwä-
gungen befürchtete. Die auf Molodeczno vorgehende
15. Armee, die alle unterstützen sollte und in ihrem Vor-
marsch verspätet war, kam ebenfalls zu spät. Die Kämpfe
Sergiejews, dessen Armee nicht zur Stoßmasse gehörte, ent-
schieden in günstigem Sinne an der blauen Wilja, „der Mut-
ter unsrer Flüsse66, über den erwarteten feindlichen Wider-
stand, bevor die Stoßmasse etwas bewirken konnte. Unsre
Truppen gingen abermals nicht infolge der Operationen der
Stoßmasse, nicht infolge des gemeinsamen Vorstoßes aller
240
DAS JAHR \ 920
Armeen Tuchatschewskys, sondern infolge der Umgehung
unsres Flügels zurück, der in dreitägigen Kämpfen an der
Wilja gebrochen wurde. Die Stoßmasse und ihre Operatio-
nen hatten daran kein Verdienst.
Wir sehen weitere Versuche, der Stoßmasse eine neue
Richtung zu weisen. Zu meiner großen Verwunderung wird
aber die neue Stoßrichtung der Stoßmassen weder von der
Absicht, den Widerstand des Feindes zu finden, noch von
der Absicht, zu ermitteln, wo er am stärksten ist, beein-
flußt. Umgekehrt, als die blaue Wilja versagte, vertrat ihr
grauer Geliebter, der Njemen-Fluß, Tuchatschewsky den
Weg, und indem er den vaterländischen Boden beschützte,
schrieb er Tuchatschewsky seine Manöver vor. Er zwang
ihn, vom Feinde abzulassen und die Bewegung der Stoß-
masse dem sich schlängelnden Lauf seiner Gewässer anzu-
passen. Eine derart durch den Njemen-Fluß geformte Stoß-
masse hat wenig mit der Kriegskunst gemeinsam und ver-
mag schwerlich die Kräfte dort an den Flügeln der Armee
zu nähren, wo sie schwächer werden. Die Flügel bewegen
sich vollkommen selbständig, ohne mit der Stoßmasse in
Verbindung zu stehen. Ein neues Hindernis wächst empor,
das der Gegner für sich ausnützt. Diesmal ist es der Njemen
mit der Szczara.
Die durch den Lauf des Njemen-Flusses eingeengte Stoß-
masse wird enger und häuft sich an. Gerade an dieser Stelle
ist sie am engsten und erweckt den Eindruck, als ob Tucha-
tschewsky befürchtete, daß gerade sein rechter Flügel, die
4. Armee, aufgehalten werden könnte und die Hilfe der
Stoßmassen benötigen würde.
Doch der Njemen wird bezwungen. Wer forciert ihn
schließlich? Wiederum ist es nicht die Stoßmasse, sondern
die 4. Armee Sergiejews mit seiner Kavallerie! Wieder
SCHLUSSFOLGERUNG
241
sehen wir eine Umgehung des Flügels ohne Versuch, den
Widerstand durch die Stoßmasse zu brechen. Wieder wur-
den die Stoßmassen, diesmal durch den Njemen und nicht
von Tuchatschewsky, zwecklos versammelt und geformt!
Etwas weiter erscheint ein neues Hindernis. Weder Wilja
noch Njemen haben helfen können. Abermals sind es zwei
Flüsse, Narew und Bug, die dieses Hindernis bilden. Die
Stoßmasse, die der Njemen von seiner ursprünglichen Rich-
tung abgezogen hatte, bewegt sich auch weiter in enger
Gruppierung, breitet sich nicht gegen Süden aus und sucht
dort nicht die Entscheidung, da sie gleich bei Beginn ihrer
Bewegung in südlicher Richtung einen Stoß ins Leere aus-
geführt hatte.
Was geht nun an diesen Flüssen vor? Da haben wir einen
interessanten Befehl Tuchatschewskys vom 1. August 1920,
den Sergiejew anführt und den ich wörtlich zitiere: „Der
Gegner leistet vor der Front der 15. Armee entschlossenen
Widerstand. Zwecks Umgehung und Vernichtung des Geg-
ners befahl der Oberkommandeur der Front unsrer Armee
den Marsch auf Ostrol^ka fortzusetzen und mit zwei Divi-
sionen den Gegner in der Richtung Mazowieckie anzugrei-
fen.66 Wiederum soll die 4. Armee Sergiejews, die zu jener
Zeit durch denselben Narew-Fluß bei Lomza aufgehalten
wurde, der Stoßmasse zu Hilfe kommen, nicht aber die
Stoßmasse der 4. Armee. Fast möchte ich sagen: „Wenn
man Angst fühlt, betet man zu Gott.66 Der entschlossene
Widerstand soll nicht durch die Stoßmasse, sondern durch
Umgehung überwunden werden, wobei diese Umgehung
nicht die Stoßarmee, sondern die zur Verfolgung bestimmte
nördliche Armee ausführen soll.
Bis jetzt also errang die Stoßmasse nirgends einen Er-
folg; sie stieß entweder ins Leere, wie dies bei Minsk der
\ 6 Pilsudski II
242
DAS JAHR \ 920
Fall war, sie kam zu spät, wie bei Wilno, oder sie überließ
die Entscheidung der das Umgehungsmanöver ausführen-
den, ursprünglich zur Verfolgung bestimmten 4. Armee,
wie dies am Narew-Fluß geschah. Vielleicht aber trug sie
irgendwie zum letzten Teil des Vormarsches bei, als bereits
die Weichsel den Truppen Tuchatschewskys, wenn auch
nicht ihm selbst, vor den leiblichen Augen stand?
Ich will nicht boshaft sein, da ich die Lasten der Führung
und die manchmal unumgänglichen Fehler wohl kenne.
Doch ein Gedanke taucht bei mir auf — wer weiß — viel-
leicht trug die Idee der Stoßmasse, an der Tuchatschewsky
so hartnäckig festhielt, zur Niederlage Tuchatschewskys bei
Warschau bei. Die zur Stoßmasse geformte 15. Armee
rückte im Sinne seines Befehls vom 8. August nicht zur
Entscheidung der Kämpfe bei Warschau vor — sie sollte
an ihnen nicht teilnehmen —, sondern sie hatte eine geo-
graphische Aufgabe, die breite Weichsel zu überschreiten,
wo es keinen Feind gab.
Und nur diese letzte Aufgabe der Stoßmasse, die nicht
den Sieg, sondern die Niederlage verursachte, erfüllte die
als Stoßarmee am besten ausgerüstete und dazu vorberei-
tete 15. Armee am besten. Während alle andren Armeen
entweder in Unordnung zurückgingen (16. Armee) oder
die Waffengefährten in Stich ließen (3. Armee), versuchte
die 15. Armee zwei Tage lang, am 18. und 19. August, die
Rolle der alten Garde zu spielen, die stirbt, aber sich nicht
ergibt.
Ich will keineswegs mit dieser historischen Darstellung
der Materialisierung der Idee Tuchatschewskys sagen, daß
er unproduktiv arbeitete, daß er in Gedanken so weit im
Irrtum war, daß er seinen Plan von vornherein zum Miß-
lingen verurteilte. So war es keineswegs. Sein Plan hat so-
SCHLUSSFOLGERUNG
243
gar großen Wert. Er enthält viel von dem, das ich man-
chem, der Kriegskunst studiert, zu erwägen rate. Er bildet
einen Versuch, der fruchtlos bleiben konnte, der sicherlich
sogar seinen Schöpfer nicht befriedigte.
Wenn ich daran gehe, den Plan Tuchatschewskys gründ-
lich zu analysieren und versuche, die irrige Grundlage in
seinen Erwägungen und Schlußfolgerungen zu ermitteln,
finde ich immer denselben Fehler. Dieser Fehler beruht
weder auf der Stoßmasse noch auf der Methode, die zum
Ernähren — wie ich es zu nennen pflege — langwieriger
Operationen mit lebenden Kräften angewandt wurde,
welche im vorhinein mit dem Widerstand des Feindes rech-
nete, sondern er liegt darin, daß man im voraus darauf ver-
zichtet, dem Feind seine Haltung vorzuschreiben, und trotz-
dem nur dort auf feindlichen Widerstand rechnet, wo sich
dies der Doktrinärschädel vorstellt und wünscht.
Wenn ich daran denke, daß Tuchatschewsky seine Tätig-
keit mit der Tätigkeit der deutschen Armee an der franzö-
sischen Front im Jahre 1914 zu vergleichen suchte, finde
ich immer in seinen Erwägungen, Überlegungen und Aus-
führungen einen Fehler. Schon in meinen früheren Analy-
sen trachtete ich ununterbrochen zu beweisen, wie gefähr-
liche Fallen Worte, Bezeichnungen, geometrische Figuren
und Namen für den Führer bilden können sowie alles ähn-
liche, das der laute Protest des Großen Napoleon trifft,
der bis heute noch unter der Kuppel des Invalidendoms
verkündet: „Mais c’est la realite des choses, qui commande,
messieurs!“
Was nun den Vormarsch der Deutschen auf Paris, der
Seine zu und über die Seine anbetrifft, kam es da Tucha-
tschewsky nicht in den Kopf, daß dieser Vormarsch, aus
dem großen Geist und der großen Hirn- und Nervenarbeit
4 o!
244
DAS JAHR \ 920
Schlieffens geboren, eng mit dem Versuch der Lösung eines
Problems verbunden ist, das einst im Gebiete der Strategie
entstand, um im Jahre 1914 seine Feuerprobe zu erleben.
Dieses war ein Versuch, das Problem der Massenstrategie
zu lösen. Nachdem die Heere Europas in ihrem Wettlauf
nach Stärke, Kraft und Übermacht, der die Strategie nach
den preußischen Siegen von 1870 kennzeichnet, die Zahl
einer Million überschritten hatten, entstand ein neues bis-
her unbekanntes Problem, wie man Manövrierfähigkeit mit
solchen Massen in Einklang zu bringen vermag? Wie soll
Bewegung mit einer Menge von Einrichtungen in Einklang
gebracht werden, die zum Aufrechterhalten des Krieges
nötig sind, mit einer ungeheuren Artillerie, unzähligem
Troß und einer Menge von Anstalten, deren der Krieg mit
seinen neuzeitlichen Kampfmitteln nicht entbehren kann.
Massenstrategie und ihre Manövrierfähigkeit zugunsten des
Sieges! Dies war das gewaltige Problem, das gebildete Offi-
ziere in aller Stille durcharbeiteten, das eine Menge von
Köpfen beschäftigte, die von einem neuen „Cannä“, einem
neuen Sedan, Jena und Austerlitz träumten!
Da ich vermute, daß mein Werk Menschen lesen werden,
die sich über diese Probleme ihre Köpfe nicht zerbrachen
und ihre Nerven dabei nicht zugrunde richteten, führe ich
einen Vergleich an, der vielleicht das Ungeheure dieses
Problems veranschaulichen kann.
Nehmen wir also eine Millionenstadt, z. B. Warschau,
und stellen wir uns das Problem der Versetzung Warschaus
heute nach diesem, morgen aber nach jenem Provinznest
vor. Stellen wir uns Warschau mit seinem alltäglichen Ver-
kehr, mit seinen riesigen Bedürfnissen und seiner Alltags-
arbeit vor.
Der höllische Wettlauf nach Zahlen überstieg aber be-
SCHLUSSFOLGERUNG
245
reits bei weitem eine Million und reichte schon an die fünf
Millionen. Die Massenstrategie verlangte also, daß fünf
Städte wie Warschau zum Sieg auf marschierten, tagtäglich
an einem andren Ort ihr Dasein fristen sollten, daß sie alle
Abfälle der Kriegsproduktion weit ins Hinterland abführ-
ten und den Werkzeugen des Krieges, den ewig unersätt-
lichen Kanonenschlünden und Gewehrläufen, täglich neue
Nahrung zuführten. Massenstrategie mit Bewegung verbin-
den und durch Bewegung den Sieg erringen! Das war das
Problem, das mit dem Vormarsch der Deutschen an die
Seine verbunden war.
Wenn Tuchatschewsky seine 15. Armee zur Stoßmasse
formt, so erlaube ich mir, ihn daran zu erinnern, daß ge-
mäß seiner Berechnung die 15. Armee überhaupt nur
46 883 Kämpfer zählt. Jedes deutsche Armeekorps zählte
während seines Vormarsches zum Sieg mehr! Wenn er also
den Ausdruck „Masse66 für die 15. Armee anwendet, sie in
einen engen Korridor hineinpfercht und ihren Lauf
hemmt, so rate ich ihm den Durchmarsch der 5 Armee-
korps der deutschen 1. Armee Klucks durch eine für die
Massen wirkliche Paß-Enge, durch die Stadt Aachen anzu-
sehen und ihn mit dem Marsch seiner Stoßmasse quer
durch die weiten und breiten Gefilde von Gl^bokie bis
Molodeczno zu vergleichen! Dann würde er wahrscheinlich
seine 15. Armee nicht so unbescheiden als „Masse66 bezeich-
nen und nicht nach einer Lösung von Problemen suchen,
die bei der Strategie der Massen entstanden, welche er nicht
besaß.
Die Strategie der Massen gab im Jahre 1914 keiner der
Parteien den Sieg. Die großen Siege, die Hindenburg und
Ludendorff errangen, ihre kühnen Manöver auf den
Schlachtfeldern in Polen und Ostpreußen, gehören nicht
246
DAS JAHR H920
zur Massenstrategie, da diese Führer über keine Massen im
wahren Sinne des Wortes verfügten. Die Strategie der Mas-
sen hatte keinen Sieg zu verzeichnen. Die erträumte Bewe-
gung der Massen artete schnell, soweit vom Westen die
Rede ist, in einen Stellungskrieg aus.
In der Strategie der Massen bildete das Vereinigen von
Millionen zu einer einheitlichen ständig zusammenwirken-
den Truppenmasse die Hauptsache. Alle Truppenteile muß-
ten miteinander in enger Fühlung sein. Der Raum, den Mil-
lionen durchquerten, war derart von Krieg und Soldaten er-
füllt, daß ihre Dichte der Bevölkerungsdichte der Städte
glich; die taktischen Bindeglieder sollten aber in der Gestalt
von gegenseitiger Unterstützung, sei es durch Feuer oder
sofortiges Manöver, gesichert werden. Tuchatschewsky
möge sich nicht täuschen, daß, als Kluck seinen rechten
Flügel völlig entblößt hatte, dieses einzig mit Absicht ge-
schah, um den Raum vom Kampf und Truppen frei zu hal-
ten. Es fehlte ihm an Truppenmassen zu diesem Zweck. Die
taktischen und strategischen Bindeglieder wären gerissen,
wenn man den Flügel an die Meeresküste anlehnen wollte.
Die Strategie der Massen also erforderte außer den Massen
selbst noch enge Verbindung und Möglichkeit eines Zusam-
menwirkens im engsten Sinne der Taktik.
Wie bereits erwähnt, hat die Massenstrategie keine Er-
gebnisse gezeitigt. Sie erstarrte nach vielen Versuchen in
Bewegungslosigkeit und Ohnmacht. Die Bewegung wurde
von der Macht des Schützengrabens und von materiellen
Kräften und Hindernissen überwunden, die sich die Geg-
ner gegenseitig entgegenstellten. Von da ab beginnt der
Kampf gegen den Schützengraben, gegen jenes Hindernis,
das die Bewegung, die ohnedies stark abflaute, hemmt. Je-
den Versuch, den Schützengraben zu durchbrechen und
SCHLUSSFOLGERUNG
247
die Bewegungsfreiheit zu erlangen, bezahlte man mit so un-
geheuren Opfern, daß man dieses Problem, trotzdem die
besten und stärksten Köpfe daran arbeiteten, um das Ele-
ment der Bewegung aus seiner Erniedrigung zu befreien,
lange nicht lösen konnte. Man opferte viel, unermeßlich
viel, um der Bewegung wieder zum Sieg zu verhelfen. Ich
erinnere mich dessen, als mir Marschall Petain die blutge-
tränkten Hügel von Verdun zeigte und sagte, daß fast eine
Million Menschen auf diesem von Granaten durchfurchten
Kampffeld begraben liegt! Eine Million Menschen, die
spurlos verschwunden sind, so daß die Skelette beider
Feinde miteinander vermischt sind und sogar die nächsten
Verwandten sie nicht auseinanderkennen! So ungeheure
Hekatomben wurden geopfert, um die Bewegungsfreiheit
wiederzugewinnen, als die Bewegung besiegt in den düste-
ren Schützengräben daniederlag!
Ich erinnere mich gut dieser Zeiten! Als ich in den ent-
legenen Urwäldern des Polesie stand, arbeitete ich auch an
Schützengräben. Hundertjährige Fichten fielen unter der
Axt, um dort Wege zu pflastern, wo bisher nur das Elentier
vorbeizog. Telephon- und Telegraphendrähte zogen sich
dort in der Wildnis, wo einst nur Wölfe und Auerhähne
hinkamen. In den Drahthindernissen vor den Schützengrä-
ben konnte man sich wirklich bei hellem Sonnenschein ver-
irren. Ich baute Unterstände aus riesigen Holzblöcken un-
ter der Erde und aus Beton über der Erde, um den Leuten
in den Urwäldern eine Unterkunft zu gewähren. Man baute
Feldbahnen dort, wo vorher ein armseliges, sich träge auf
sumpfigen Wegen fortbewegendes Pferdchen den Bedürf-
nissen des Menschen genügte. Vollbahn und Feldbahn
führten uns nicht nur Lebensmittel für die neue im Kriege
mitten im Urwald entstandene Stadt zu, nicht nur Massen
248
DAS JAHR \ 920
von Baumaterial, das tagtäglich verbraucht wurde, wobei
man stets nach mehr schrie, sondern sie führten uns eben-
falls lebendiges Kriegsmaterial — Menschen zu. Wohin?
Aus einem Grabenstück ins andre, aus einer im Kriege ent-
standenen Stadt in eine andre ebenso zufällig entstandene
Anhäufung von Soldaten.
Ich kenne den Schützengrabenkrieg. Ich erinnere mich
daran, wie ich hellauf lachte, als eines Tages der Ausfall
einer Kompanie von mir von über zwanzig Batterien ver-
schiedener Kaliber und Geschützart unterstützt wurde, die
ein wahres Höllenfeuer verursachten. Beim wunderbaren
Feuerwerk verschiedenfarbiger in die Luft geschleuderten
Signale erweckten diese wilden und unbewohnten Gegen-
den den Eindruck eines feierlichen Festes in einer reichen
und wohlhabenden Stadt.
Damals glaubte ich nicht nur, daß der Krieg entartet sei,
sondern daß er für immer zugrunde gehen müßte. Als das
Hauptelement des Sieges, die Bewegung, erstarb, sank die
Kriegstätigkeit zu einer sinnlosen, wilden Methode zum
Töten der Menschen herab. Ich konnte mir kaum vor stel-
len, daß die Menschheit noch einmal imstande wäre, eine
solche Probe zu unternehmen; daß sie noch einmal das Le-
ben ganzer Länder Umstürzen würde, um den Schützen-
graben zu nähren, die Strategie und Kriegskunst aber mit
verschämten Augen sich auf das Nachzählen der Gefalle-
nen, der vernichteten Lebewesen beschränken sollte, um aus
dieser scheußlichen Rechnung Folgerungen über den Sieg
zu ziehen. Damals freute ich mich im Schützengraben. Der
Krieg wird also verschwinden! Das Gespenst, das so viele
Menschengeschlechter bedrückte, wird endlich sich selbst
den Todesstoß versetzen! Er wird soweit entarten, daß die
Kriegskunst, die das kriegerische Leben nicht verschönert,
SCHLUSSFOLGERUNG
249
durch die Scheußlichkeit des maschinenweisen Menschen-
mordens ihren begeistertsten Anhängern die Lust dazu
rauben wird. Der Krieg mit allen seinen Folgen wird un-
tergehen! Dies wird — so dachte ich — auch meinem Va-
terland, das ein Opfer des Krieges ist, Erleichterung brin-
gen! Sogleich tat es mir aber leid um diese himmlische
Kunst, die den Fortschritt der Menschheit durch Jahrtau-
sende kennzeichnete. Jene Kriegskunst, welche so viele
große Männer gebar, Männer, in denen eine unbegreifliche
Macht eine wunderbare Kraft eingepanzert hatte, so daß
sie durch ihre Taten, ihre Siege neue Gebilde der Welt-
geschichte schufen, die Jahrhunderte lang leben konnten.
Wird die Menschheit andre Methoden der Zusammenfas-
sung ihres geschichtlichen Werdens finden? Dies waren
Fragen, durch deren Beantwortung ich als kleiner mitten in
entlegenen Schützengräben verlorener Brigadier meine
Schlüsse in bezug auf die Zukunft zog.
Als ich aus Magdeburg nach Polen zurückkehrte und fast
in einem Augenblick die politische und militärische Ge-
walt in meinen Händen vereinigt wurde, wußte ich im vor-
aus, daß ich einem neuen Krieg entgegengehe, daß ein
neuer Kriegssturm meiner wartet, in dem ich die Last des
Obersten Feldherrn, die ich auf meine Schultern nahm,
tragen würde. Ein neuer Krieg, mit neuen, unbekannten
Problemen, wie es bei jedem Krieg zu sein pflegt. Ich war
nicht so einfältig, Massenstrategie ohne Massen zu wieder-
holen und nachzuahmen. Ich war mir zu sehr meiner
Schwäche und der dadurch verursachten Demütigung be-
wußt, um meine Probleme mit Ausdrücken und Bezeich-
nungen beschönigen zu wollen, die dem Luxus der im
Jahre 1914 entwickelten Zahlenstärke entnommen sind.
Von diesem Kriegsproblem, von einem Sieg mittels dieser
250
DAS JAHR H 920
Methode, konnte man lediglich träumen und sich dabei
durch leere Worte und inhaltlose Ausdrücke betören. Statt
Armeekorps — Bataillone, statt Armeen — Regimenter;
wo sind also diese Massen, denen die Massenstrategie die
Ausdrucksweise anpaßte und für die sie neue Methoden
schuf? Schwäche, die sich mit leeren Worten schmücken
will, war mir stets verhaßt gewesen. Tuchatschewsky wählt
einen andren Weg. Er liebt Worte, ohne ihnen einen In-
halt zu geben. Für ihn bildet die 15. Armee eine Stoßmasse,
2000 armselige Reiter — eine halbe Kavallerie-Division
aus dem Jahre 1914 — sind ihm eine Reitermasse, die er
zur größeren Betörung andrer und seiner selbst Kavallerie-
korps nennt.
Diese Worte kenne ich gut. Ich war ebenfalls Zeuge
davon, wie man unsre Armee mit hochtrabenden Ausdrük-
ken verzieren wollte, die aus anderem Inhalt geschöpft
wurden: mit Ausdrücken, die einst anderswo Kraft be-
zeichneten, die hei der Suche nach Sieg auf andren, für uns
unmöglichen Wegen auf gewachsen waren. Nie ließ ich mich
von Wahnbildern verleiten, wenn sie auch noch so schön
und farbenprächtig auf der Landkarte aufgetragen waren,
wo kleine und größere Kreise, die winzige Abteilungen dar-
stellten, auf der Karte dermaßen auseinandergezogen wur-
den, um zahlenmächtige, dem Siege entgegeneilende Mas-
sen vorzutäuschen, deren Bezeichnung aus der Massenstra-
tegie entnommen war.
Doch den Sieg muß man suchen; das bildet den Zweck
des Krieges und dazu sind die Feldherren da. Als ich daher
das Büchlein Tuchatschewskys durchblätterte, trachtete ich,
mich in seinen Gedankengang zu versetzen und den Spu-
ren seiner Arbeit zu folgen, um zu erkennen, wie er die
Schwierigkeiten des Problems überwand, wie er — da
SCHLUSSFOLGERUNG
251
keine wirklichen Massen vorhanden waren, da er, wie dies
auch bei uns der Fall war, die Truppen zu einer mächtigen
taktisch zusammenwirkenden Kette nicht zu vereinigen
vermochte — das Hauptproblem löste, mit dem ich mich
so lange abgequält hatte? Dieses Problem, das Problem des
Raumes und seiner Belebung mit militärischen Operatio-
nen, erwuchs vor mir nämlich sogleich in seiner ganzen er-
schrecklichen Nacktheit. Ein so ungeheurer Raum, eine
Riesenfront von 1000 Kilometern, das ganze zivilisierte
Europa kennt keinen so großen Raum! Sowohl mir, wie
Tuchatschewsky fehlte es an Truppen und Kräften, um
einen solchen Raum mit militärischen Operationen zu be-
leben, um ihn durch deren Bindeglieder zu bewältigen.
Alle meine gedanklichen Versuche, dieses schwierige Pro-
blem mit den Erfahrungen des unlängst beendeten Krieges
in Zusammenhang zu bringen, mißlangen stets. Weder Mas-
senstrategie, noch jene Strategie, die die einzelnen Trup-
penteile zu engem taktischen Zusammenwirken verbindet,
noch die Strategie des Schützengrabens gewährten mir eine
Lösung. Mich selbst durch Worte und Bezeichnungen be-
trügen, leeren Klängen zuliebe in eine Falle zu ge-
raten, wie dies viele andre taten, wollte und konnte
ich nicht.
Ich wiederhole es, daß die Strategie der Massen sowohl
auf dem Bestehen von Millionen in Bewegung befindlicher
Menschen, als auch auf der Gewißheit beruhte, daß alle
diese in Bewegung befindlichen Truppen sich gegenseitig
fast taktisch unterstützten und daß sie eng miteinander
verbunden wären. Als ich dieses Problem erwog, nannte
ich diese Strategie „Strategie serree“ oder „Strategie enca-
drante“. Eingeengte Strategie, weil sie die Truppen in ihrer
Bewegung beengt, um ihnen die Kraft der Masse zu sichern;
252
DAS JAHR \ 920
eingerahmte Strategie — ich fand keinen polnischen Aus-
druck hierfür — weil sie jedem Truppenteil die Unterstüt-
zung seiner Nachbarn sichert, die mit ihm in enger Verbin-
dung stehen. Die Strategie des Schützengrabens änderte
nichts in dieser Beziehung, sie brachte dies noch mehr zum
Ausdruck. Sie vergrößerte die Massen, da sie doch das
schwierige Millionenproblem nicht scheute. Sie sperrte die
Millionen im Schützengraben ein und schaltete die Bewe-
gung aus. Die Bindeglieder aber verstärkte sie mit materiel-
len Mitteln, indem sie die Massen durch ununterbrochene
Drahtverhaue und Schützengrabenreihen verband. Daher
stammt auch die Vorliebe derer, die diese Strategie bei uns
nachahmten und laut verkündeten: „Faites une ligne
forte!66
Bei Tuchatschewsky kann ich keine Spur eines Versu-
ches wahrnehmen, dieses Hauptproblem des Kampfes mit
dem Raum zu lösen, den er weder mit militärischen Ope-
rationen zu beleben noch zu bewältigen vermochte. Viel-
leicht mißlang also auch darum die Idee der Stoßmassen,
die den Krieger in weiten Räumen, bei langwierigen Ope-
rationen und ausgedehnten Fronten mit Kräften nähren
sollten, weil Tuchatschewsky schon bei ihrem Beginn und
ihrer Anlage selbst diesen Grundfehler beging. Er spielte
mit leeren Worten. Er besaß keine Massen und konnte
ihnen keine wirkliche Kraft durch Einrahmung verleihen.
Am Ende meiner Erwägungen, die den Versuch Tucha-
tschewskys betreffen, das große Problem zu lösen, das einst
vor mir stand, als ich unter denselben Verhältnissen Krieg
führen mußte, will ich davon absehen, die Methode meiner
Erwägungen und Gedankengänge anzuführen, als ich
manchmal nach mühseligen Qualen das zu tun versuchte,
was die Strategie vorschreibt: mir selbst, den Truppen und
SCHLUSSFOLGERUNG
253
dem Land, das ich schützte, den Sieg zu geben. Ich füge le-
diglich hinzu, daß ich den ganzen zwei Jahre währenden
Krieg durch Siege gekennzeichnet habe. Jedesmal, wenn
ich das Kriegshandwerk mit eigenen Händen ausübte, er-
focht ich Siege, die in der Geschichte dieses Krieges Epo-
chen bedeuteten. Sie bedeuteten nämlich nicht bloß eine
taktische Überlegenheit, sondern waren immer Siege stra-
tegischer Natur. Ich zwang den Feind, seine Kräftegrup-
pierung zu ändern und infolge meines Sieges neue Pläne
zu fassen, da die vor meinem Siege durchgeführten Vor-
bereitungen im Feuer der Schlacht zerbarsten.
Zu Beginn des Jahres 1919 verlegte ich so durch einen
Schlag auf Wilno unsre Front innerhalb einiger Tage um
200 Kilometer nach Osten und überwand einen so großen
Raum mit verhältnismäßig schwachen Kräften. Als ich
meine Methode nochmals auf den Gefilden der Ukraine
versuchte und die Truppen zum Angriff führte, stellte ich
mich absichtlich an die Spitze einer Armee — nämlich der
dritten — um eigenhändig meine Ideen zu prüfen, ohne
jemand meiner Untergestellten mit, wie es mir schien, über-
triebenen Anforderungen zu belasten. Zwei Tage genügten,
um die 12. Sowjet-Armee, die sich mir entgegenstellte, nie-
derzuwerfen, fast gänzlich zu zersprengen, so daß sie sich
von diesem Schlag bis zum Kriegsende nicht mehr erholen
konnte. Ich erinnere mich an den freudigen Augenblick,
als ich auf meinem Schreibtisch ein Telegramm des Füh-
rers der 12. Sowjet-Armee vorfand, das in Klarschrift auf-
gegeben wurde und lautete: „Wo sind meine Divisionen?“
Der Armeeführer erhielt nur von einem Divisionsführer
Antwort, der ihm aus einem Wäldchen mittels seiner geret-
teten Funkstation berichtete: „Ich bin dort und dort, doch
ich weiß nicht, wo meine Truppen sind.“
254
DAS JAHR \ 920
Zum drittenmal ergriff ich die Führung in der Schlacht
hei Warschau. Trotzdem ich mich stets mit Unbehagen des
Sinnlosen im Schlachtenplan erinnere, das ich nicht besei-
tigen konnte, so wird dennoch der Augenblick des
Triumphgefühls, als im wütenden Schlachtengalopp eine
feindliche Armee nach der andren auseinanderkrachte und
panikartig entfloh, obwohl sie unlängst noch Triumphe
gefeiert hatten, für immer ein Sieg der Kraft der Führung
und der Feldherrnarbeit für das Werk des Sieges verbleiben.
Schließlich beendigte ich am Njemen-Fluß, dem grauen
Ritter und Geliebten der Wilja, während ich unmittelbar
die Hälfte unsrer Truppen befehligte, mit einem Sieg den
siegreichen Krieg. Wiederum fühle ich mich nicht ver-
pflichtet, die Methode meiner Feldherrntätigkeit zu erklä-
ren und sie in die Gestalt von Erwägungen und Doktrinen
zu kleiden. Ich weiß, daß ich trotz Kraftlosigkeit und
zahlenmäßiger Schwäche gegenüber dem Raum den Sieg
an die Fahnen unsrer Truppen heftete. Doch ich voll-
brachte dies niemals durch die Methode der Strategie der
Massen, welche ich nicht besaß, auch nicht durch die Me-
thode des Zusammenwirkens und der Verbundenheit von
allem im engen Rahmen, durch Bindeglieder, durch die
Methode einer eingeengten Strategie, die alles taktisch ein-
rahmt, auch nicht durch die Strategie der Schützengräben,
die ich nicht anlegte. Ich kämpfte mittels einer andren
Methode, die ich — wenn ich mich abmühe, sie in Worte
zu kleiden — immer als Strategie der frischen Luft, „Stra-
tegie de plein air“, bezeichne, bei der immer mehr Luft ist
als kriegerische Belebung des Raumes durch Strategie, und
wo Wölfe und Auerhähne, Elche und Hasen sich unbehin-
dert bewegen können, ohne das Werk des Krieges und des
Sieges zu stören.
SCHLUSSFOLGERUNG
255
Ich weiß wohl, daß viele, die sich an demselben Pro-
blem, wie ich, die Köpfe zerbrochen haben und nach Me-
thoden suchten, um uns den Sieg zu schenken, ihre Hände
ohnmächtig fallen ließen, ohne dieses Problem zu bewäl-
tigen, und längst erklärt haben, daß tatsächlich ein Sieg
deshalb nur erfochten worden ist, weil dies kein richtiger
Krieg gewesen war. Ein Halb- oder Viertelkrieg, ein kindi-
sches Raufen und eine Schlägerei, vor der die große Theo-
rie des Krieges verächtlich ihre Tore schließt.
Ich will nicht widersprechen. Ich will nur hinzufügen,
daß diese Schlägerei unmittelbar das Schicksal zweier Staa-
ten erschütterte, die zusammen 150 Millionen Menschen
zählen. Ich will damit sagen, daß dieser Krieg oder diese
Schlägerei um ein Haar das Schicksal der ganzen zivilisier-
ten Welt erschüttert hätte, und ihre Krisen Krisen von
vielen Millionen Menschen bedeuteten, der Sieg aber, Gott
gebe es, hat für längere Zeit die historischen Grundlagen
für ein gegenseitiges Verhältnis der beiden kriegführenden
Staaten geschaffen. Möge denn dieser Krieg eine Schläge-
rei bleiben, wenn es unmöglich scheint, entsprechende Me-
thoden und Doktrinen für ihn ausfindig zu machen. —
M. Tuchatschewsky
Der Vormarsch über die Weichsel
Vorträge
am Ergänzungskursus der Militärakademie R.K.K.A.
in Moskau, 7.—10. Februar 1923
Genossen! Die Hauptquelle dieser Vorträge bilden meine Er-
innerungen. Teilweise stütze ich mich auf die von mir durchge-
sehenen amtlichen Dokumente der Operationsabteilung des
Frontstabes. Ich bediente mich gleichfalls des Buches des Genos-
sen Sergiejew „Von der Düna zur Weichsel66 sowie mancher fran-
zösischer und polnischer Presseartikel. Zeitmangel erlaubte mir
nicht, diesem Thema soviel Zeit zu widmen, wie ich es gewünscht
hätte und wie es notwendig gewesen wäre. Deshalb werden die
Vorträge das Gepräge eines allgemeinen Überblicks der Opera-
tionen vom Standpunkt der Strategie aus und den Charakter eines
Studiums strategischer Einzelheiten besitzen. Taktische Handlun-
gen verschiedener Armeeteile zu beschreiben werde ich in mei-
nen Vorträgen vermeiden.
I. Der Ausbruch des Krieges
Den Überblick der Ereignisse beginne ich mit dem Augenblick,
als die Polen ihren Angriff an unsrer Südwestfront einleiteten
und Kijow einnahmen. Die damalige Lage Sowjetrußlands gestal-
tete sich folgendermaßen: Im Osten war Kolczak und im Kauka-
sus Denikin erledigt. Nur Wrangels Stützpunkt behauptete sich
noch auf der Krimhalbinsel. Im Norden und Westen waren (Po-
len ausgenommen) die Operationen abgeschlossen. Mit Lettland
war bereits Friede geschlossen. Die Aktion Polens traf uns also
in verhältnismäßig günstigen Umständen an. Wenn die polnische
Regierung es vermocht hätte, sich mit Denikin vor seiner Nieder-
lage zu verständigen, wenn sie nicht die imperialistische Lösung
„Ein einziges, unteilbares, großes Rußland66 befürchtet hätte, so
hätte ein Angriff Denikins auf Moskau, unterstützt durch eine
polnische Offensive von Westen, viel ärger für uns ausfallen kön-
nen und es scheint schwer, sieh Rechenschaft von den möglichen
Konsequenzen dessen zu geben. Doch die verwickelten Interessen
des Kapitalismus und Nationalismus ließen ein solches Bündnis
260 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
nicht zu, so daß es der roten Armee vergönnt war, den Feinden
nacheinander zu begegnen, was ihre Aufgabe bedeutend leichter
gestaltete. Im allgemeinen waren wir in der Lage, im Frühjahr
1920 fast alle Streitkräfte an die Westfront zu werfen, um den
schweren Kampf gegen die „weißen66 Kräfte der Polen zu be-
ginnen.
II. Der Operationsraum
Der voraussichtliche Operationsraum der Westfront wurde un-
gefähr dem Breitegrad entsprechend durch die Berezyna geteilt.
Ihre versumpften und bewaldeten Ufer bilden längs ihres ganzen
Laufes ein ansehnliches Hindernis. Diese Eigenschaft vergrößert
noch die Tatsache, daß sich in ihrem Oberlauf, im Raum Lepel —
Berezyna — Peliksee, fast undurchdringbare, mit Wald bewach-
sene Sümpfe befinden. Im Süden, längs ihres Unterlaufes, sowie
ost- und westwärts des Flusses breiten sich ununterbrochene,
größtenteils versumpfte und sehr schwach besiedelte Waldungen
aus. Die Eisenbahn überschreitet die Berezyna lediglich an drei
Stellen, bei Borysöw, Bobrujsk und Szacilki. Infolgedessen ist die
zum Forcieren des Flusses am besten geeignete Stelle — in der
Richtung Ihumen — äußerst ungünstig für die rückwärtigen Ver-
bindungen der Armee. Nördlich der Berezynasümpfe, zwischen
Lepel und Düna, befindet sich ein trockenes Gebiet, das für Be-
wegungen und Operationen großer Truppenmassen günstig ist.
Dieser Raum ist zwar von vielen Seen durchfurcht, doch hier
operieren die Truppen in besiedelten Gegenden, vor allem aber
verfügt hier die Armee über zwei bequeme Verbindungen: die
Düna und den Eisenbahnknoten Polock. Diesen Raum nennen die
Polen das „Tor von Smolensk66.
Südlich des Unterlaufes der Berezyna ist das Terrain für Ope-
rationen größerer Truppenkörper völlig ungeeignet. Wälder,
Sümpfe und schwache Besiedlung verursachen dies.
Im großen kann man zwei Richtungen feststellen, die für
unsren Vorstoß am besten geeignet sind: das Tor von Smolensk
und die Richtung auf Ihumeü.
Zu jener Zeit nahmen die Polen ungefähr längs der Linie
Dzisna — Polock — Ullafluß — Eisenbahnstation Krupki — Bobrujsk
— Mozyrz Aufstellung. Günstig waren bei dem Tor von Smolensk
für unsren Angriff, wie dies früher schon erwähnt wurde, seine
Bevölkerungsdichte, sein fester Boden und seine bequemen Ver-
M. TUCH ÄTSCHE WSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 26l
bindungen. Nachteilig hingegen war die Tatsache, daß ein An-
griff von Polock her auf ein sehr schweres Hindernis — die
Düna stieß. Ein Stoß zwischen Düna und Lepel aber zwang unsre
Armee nach Erreichen der Gegend der Eisenbahnstation Orze-
chowna, ihre Operations-
linie abzudrehen und mit
ihrem rechten Flügel um
mindestens 90 ° einzu-
schwenken. In der Ihu-
menier Richtung konnte
man aber bequem in ge-
rader Richtung vorrük-
ken. Wie bereits erwähnt,
mußte der Vormarsch in
einer weglosen Gegend
mit versumpftem Wald-
boden stattfinden, wo die
Einrichtung unsrer rück-
wärtigen Verbindungen
angesichts unsrer elenden
Hilfsmittel auf unüber-
windbare Hindernisse sto-
ßen müßte. Dies sind die
Gründe, warum hei Aus-
arbeitung des Angriffs-
plans das Tor von Smo-
lensk für den Hauptvor-
stoß gewählt wurde.
III. Die Gruppierung der Kräfte
Gemäß dem Plan des Oberbefehlshabers sollte die Westfront
die strategische Hauptrolle spielen. Hier, im Raum vonWitebsk —
Toloczyn — Orsza sammelten sich starke Kräfte, die von verschie-
denen liquidierten Fronten überführt wurden. Der vom Oberbe-
fehlshaber gewählte Aufmarschraum ermöglichte dem Oberkom-
mandeur der Front freie Wahl der Operationsrichtung. Mittels
mehrerer Tagesmärsche konnte man die Truppen zum Tor von
Smolensk heranbringen, in der gleichen Zeitspanne konnte man
sie gleichfalls in der Richtung auf Ihumen sammeln (Skizze 1).
Unsre versammelten Truppen konnten nicht zu einem gleichen
262 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
Niveau gehoben werden. Die Abteilungen, die früher schon län-
gere Zeit an der Westfront waren, schienen nicht besonders ver-
trauenswert zu sein. Sie befanden sich dort einige Jahre lang in
breit auseinander gezogenen Stellungen, wobei die polnischen
Truppen, die unternehmungslustiger waren, unsre Truppen durch
immerwährende Ausfälle und kleinere Unternehmungen ermüde-
ten und demoralisierten. Sie verloren Geschütze, Maschinenge-
wehre und Verwundete, ohne daß man beiderseits ernste Offen-
sivaktionen unternahm. Das alles vereint mit unsren vorjährigen
im Kampf gegen die Polen erlittenen Mißerfolgen warf auf unsre
Truppen einen Schatten von Unsicherheit und Entmutigung. Da-
gegen waren unsre Truppen, die von andren von uns soeben sieg-
reich liquidierten Fronten kamen, voll Kampfesmut und be-
saßen eine gute Moral. Ihre Kampftüchtigkeit war unbedingt groß.
Die Abteilungen, die sich schon früher an der Westfront be-
fanden (48., 58., 8., 10., 17., 2. und 57. Schützen-Division), stan-
den in der Kampffront. Die von andren Fronten herübergewor-
fenen Truppen waren in dem bereits erwähnten Raum Witebsk —
Toloczyn — Orsza versammelt. Aja der Westfront bestanden ledig-
lich zwei Armeekommandos: das Kommando der 15. und der 16.
Armee. Der beabsichtigte Aufmarsch aber (entsprechend der
Zahl der 21 Divisionen) erforderte zumindest 4 bis 5 Armeekom-
mandos. Die Westfront besaß sehr wenig technische, Nachrichten-
und Eisenbahntruppen, unbedingt zu wenig, um ernstere Opera-
tionen durchzuführen. Die Sammlung dieser Truppen verspätete
sich im allgemeinen sehr gegenüber dem Aufmarsch der Haupt-
waffengattungen, weshalb die darauffolgenden Operationen unter
äußerst schweren Verhältnissen durchgeführt werden mußten.
Die polnischen Truppen waren kordonartig ungleichmäßig
längs der ganzen von ihnen gehaltenen Linie auseinander gezo-
gen. Jede Division trachtete eine Reserve auszuscheiden. Das
gleiche taten ihrerseits die Armeen. Auf diese Weise gliederten
sich die gleichmäßig längs der Front auseinander gezogenen Trup-
pen ebenfalls gleichmäßig in die Tiefe. Dieses scheinbare Gleich-
gewicht der polnischen Kräftegruppierung barg von Grund aus
die Gefahr in sich, daß das polnische Oberkommando selbst hei
den größten Anstrengungen nicht in der Lage sein würde, die
Hauptkräfte in irgendeiner Richtung zu versammeln. Unser An-
griff konnte immer nur einen kleinen Teil der polnischen Armee
treffen, und mußte dann die darauffolgenden Gegenangriffe der
Reserven der Reihe nach abwehren.
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 263
Diese Fehler in der polnischen Kräftegruppierung wurden von
uns berücksichtigt, und man rechnete bei der Vorbereitung des
Angriffes darauf, daß ein schneller Stoß unsrer überlegenen
Kräfte in einem Zug die erste polnische Linie vernichten würde.
Um in kürzester Zeit die besten Ergebnisse zu erreichen, erhiel-
ten die Divisionsführer den Befehl, ihre Truppen gleichzeitig
einzusetzen, ohne Reserven auszuscheiden. Unsre Truppen er-
drückten durch ihre Masse und fegten dort, wo sie angriffen, die
in der ersten Linie fechtenden polnischen Truppen im wahren
Sinne des Wortes hinweg. Die darauffolgenden Gegenstöße der
Reserven waren dann nicht mehr gefährlich, und die Reserven
teilten das Los der ersten Linie.
Die Ausbildung der polnischen Truppen stand im allgemeinen
höher als die unsrer Truppen. Die Bewaffnung und Bekleidung
waren gleichfalls besser.
Die zahlenmäßigen Stärken unsrer und der polnischen Trup-
pen glichen sich nach Beendigung unsres Aufmarsches aus. Un-
ser Stab meinte sogar, daß wir stärker sein würden. Das kam da-
her, daß wir unsre Kräfte nach der Zahl der Kämpfer berechne-
ten, indessen die Polen nach Bajonetten und Säbel rechneten
(Tabelle I), was die Berechnung sehr erschwerte.
IV. Die Maioffensive
Während des Aufmarsches unsrer Hauptkräfte an der West-
front kämpften die Polen weiter siegreich an der Südwestfront.
Ihre Erfolge machten sich auch im Norden fühlbar. Die Polen
eroberten Mozyrz und begannen einen erfolgreichen Angriff auf
Rzeczyca. Andauernde Ausfälle und Unternehmungen kleiner
und mittlerer polnischer Abteilungen ließen sich an der ganzen
Westfront bemerken. Alles wies darauf hin, daß wir vor dem Be-
ginn einer polnischen Offensive stehen. Es war für uns eine Not-
wendigkeit, von der Verteidigung zum Angriff überzugehen, um
unsre Stellungen zu halten und die Polen daran zu hindern, unsre
Hauptkräfte in uns aufgezwungene Operationen zu verwickeln.
Aus diesem Grunde unternahmen wir am 14. Mai eine Offensive.
Diese Offensive begannen wir, bevor noch alle unsre Kräfte
versammelt waren. Die verspäteten Divisionen mußte man als
Reserve betrachten. Gleichzeitig mußte man daran denken, daß
der Erfolg unsrer ersten Offensive zur gegebenen Zeit unbedingt
264 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
TABELLE
Das gegenseitige Kräfteverhältnis
DER FEIND
Truppenkörper Bajonette Säbel Anmerkung
8. Inf.-Div 4 800 400
V, Kampflinie
l-H o 1. lit.-weißruß. Inf.-Div. . . 3 500 400
fl © Zusammen 8 300 800
OD V u 3. Leg.-Div 4 800
H Tiefgestaffelte Re-
ao V 6. Inf.-Div. (1 Regiment). . 1200 — serven, darin gegen
T! bß 10, Inf.-Div 4 800 — Litauen gerichtete
fl B 2. lit.-weißruß. Inf.-Div. . . 4 800 __ Truppenkörper
a miteinbegriffen
s Kav.-Div — 1800
Zusammen 15 600 1 800
Insgesamt 23 900 2 600
2. Inf.-Div 4 800 400
fl 6. Inf.-Div. (3 Regimenter) . 3 400 600 Kampflinie
8 14. Inf.-Div . 4 000 600
u 9. Inf.-Div 5 000 1600
Tä ’
*5 Zusammen 17 200 3 200
'S •H
cn
17. Inf.-Div 4 800 — Reserven
16. Inf.-Div 4 800 —
Zusammen 9 600 —
Insgesamt 26 800 3 200
Zusammen gegenüber der
Westfront 50 700 5 800
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 265
I
an der Westfront am 15. Mai 1920
UNSRE TRUPPEN
Truppenkörper Bajonette Säbel Zusammen Streiterz ahl Anmerkung
Nordgruppe Das Gros der Div.
vj 28. Sch.-Div. . . 2 028 4 929 an der Grenze Lett-
lands. Außerdem
'ß 4) 164. Sch.-Brig. . 1 141 — 2 320 befindet sich dort
© B Zusammen 3 169 7 249 die 18. Sch.-Div.
CD fl
o > 15. Armee
© oi 4. Sch.-Div. . . 5 597 — 7 923
H 6. Sch.-Div. . . 3 162 — 6 700
CD © 11. Sch.-Div. . . 2 638 72 5 999
TS
h£ rt 29. Sch.-Div. . . 9 863 605 13 567
M 3 53. Sch.-Div. . . 3 157 — 5 142
rfl ü 56. Sch.-Div. . . 2 500*) — 5 162*) *) beiläufig
Ph Versch. Truppen 1144 — 1803
15. Kav.-Div. . . — 1967 2 315
Zusammen 28 061 2 644 48 647
Insgesamt 31 210 2 644 55 896
16. Armee
fl 2 2. Sch.-Div. . . 2 500*) — 6 500*) *) beiläufig
8. Sch.-Div. . . 4 291 991 7 972 Außerdem langt
TS < 10. Sch.-Div. . . 2 730 — 6 930 noch die 21. Sch.-
*53 17. Sch.-Div. . . 6 841 301 11270 Division ein.
S :fl 57. Sch.-Div. . . 1580 57 3 230
CD
Versch. Truppen 302 — 595
Zusammen 18 244 1349 36 506
Insgesamt 18 244 I 349 36 506
Zusammen an der
Westfront .... 49 474 3 993 92 402
266 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
erweitert werden mußte und sich nicht auf kleine Augenblicks-
aufgaben beschränken durfte.
Der Plan der Offensive sah einen Durchbruch durch das Tor
von Smolensk, die Zertrümmerung des linken polnischen Flügels
und das Hineindrängen des Restes der polnischen Armee in die
Pinsker Sümpfe vor. Dieser Plan besaß den Vorteil, daß er ein
Aufsparen starker Kräfte ermöglichte. Das den Polen feindlich
gesinnte Litauen konnte bei unsrem Vormarsch erfolgreich uns-
ren Flügel und unsren Rücken decken. Weiter konnte die gleiche
Aufgabe Ostpreußen, abgesehen davon, ob es damit einverstan-
den war, zufallen. Solchermaßen konnten alle unsre Kräfte gleich
nach dem ersten Durchbruch zu aktiven Operationen gegen die
polnischen Hauptkräfte verwendet werden, und wir konnten
unsre Aufmerksamkeit von unsrem rechten Flügel und unsrem
Rücken abwenden. In der Richtung auf Ihumen sollte die
16. Armee (Armeeführer Sollohub, Stabschef Batorski) nach
Forcieren der Berezyna die Hauptgruppe der polnischen Trup-
pen frontal angreifen und sie an einem gegen den Hauptstoß der
15. Armee gerichteten Manöver hindern.
Die Truppen der 15. Armee, die nördlich der Düna operierten,
waren unter dem Oberbefehl des Genossen Sergiejew zur Nord-
gruppe vereint, der man das Forcieren der Düna in der Gegend
westlich von Polock zur Aufgabe stellte, um auf die Flanke und
in den Rücken des Feindes zu wirken, der gegen die 15. Armee
kämpfte.
Die 15. Armee (Armeeführer Kork, Stabschef Kuk) stieß wie
ein Sturmbock auf die schwache litauisch-weißrussische Division,
die ungefähr den Ullafluß besetzt hielt. Die Abteilungen dieser
Division wurden gleich am ersten Tag zerschlagen, demoralisiert
und zerstreut. Das allmähliche Einsetzen der polnischen Reser-
ven vergrößerte noch die Niederlage und bedrückte die polnische
Armee noch mehr in moralischer Hinsicht. Unsre Offensive ent-
wickelte sich schnell und kräftig (Skizze 2). Die 15. Armee voll-
zog im Tor von Smolensk ihre Schwenkung ohne Schwierigkeit
und ging weiter auf Molodeczno vor.
Der Erfolg war so entscheidend und kam den Polen so uner-
wartet, daß ihr Oberkommando völlig schwankend wurde und
Kräfte von der Südwestfront an die Westfront zu verlegen be-
gann.
Der Einsatz dieser neuen Reserven spielte eine gewisse Rolle,
wie z. B. in der Linie Postawy — Budslaw — Ziembin. Unsre Trup-
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 267
pen begegneten einer Reihe von vorbereiteten Gegenstößen und
wurden zum Stehen gebracht. Der Mißerfolg der 16. Armee bei
ihrem Flußübergang komplizierte noch mehr die Lage. Man muß
bemerken, daß nicht nur Ursachen sachlicher Natur die 15. Ar-
mee an ihrer Offensive hinderten, sondern auch eine Kräftever-
zettelung bestand. Die Divisionen verstreuten sich in drei Rich-
tungen (Postawy i— Molo-
deczno — Ziembin) und bil-
deten nirgends eine Stoß-
gruppe; die im Zurück-
gehen befindliche Division
aber konnte nicht rechtzei-
tig ihre Richtung ändern.
Schließlich entschied der
entscheidende Stoß der Po-
len aus der Richtung
Postawy die Operation. Die
Truppen der 15. Armee wur-
den durchbrochen und die
ganze Armee mußte eilig
zurückgehen. Wie dies nach
großen Überanstrengungen
und großen Siegen zu sein
pflegt, breitet sich der große
Mißerfolg in der Hauptrich-
tung blitzartig auf die ganze
Front aus und untergräbt das
Gleichgewicht der Truppen. Es beginnt ein schneller Rückzug.
Um die zurückflutenden Massen aufzuhalten, beschloß man, die
Verteidigung des Tores von Smolensk auf folgende Weise zu
organisieren (Skizze 3): Der Nordgruppe wurde befohlen, die
Gegend von Hermanowicze zu besetzen und die Seeengen zwi-
schen dem Bialy-, Jelna- und Zade-See stark zu sperren. Die
15. Armee hatte durch Verstärkung ihrer Südgruppe die Zugänge
zu den Berezynasümpfen in der Richtung auf Wielka Czernica zu
sperren. Der Rest der 15. Armee sollte die Zugänge zur Mniuta
verteidigen. Das weitere Vorrücken der Polen auf Polock kam in
eine Zange.
Das polnische Oberkommando, das eine frontale Bewegung be-
fürchtete, beschloß vor allem unsre Nordgruppe zu schlagen. Der
18. Division (die frisch zur Nordgruppe eingetroffen war) stellte
268 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
man die 10. Infanterie-Division und die 7. Reserve-Brigade ent-
gegen.
Der Kampf währte ganze 24 Stunden und die 18. Division
mußte schließlich unter großen Verlusten zurückgehen. Doch
der angreifende Feind kam gleichfalls ins Wanken und büßte
seine Fähigkeit zu weiteren entscheidenden Operationen ein. Dies
wurde zum Wendepunkt der Operation. Ein gewisses Wanken
währte noch lange nach, doch im großen verblieb das Tor von
Smolensk in unseren Händen bis zum Augenblick, in dem wir
unsere zweite entscheidende Offensive begannen.
Schlußfolgerungen
Unsre erste Operation war für uns von großer Bedeutung.
Unsre Truppen überzeugten sich, daß sie die Polen besiegen
konnten. Es ist wahr, daß die polnischen Truppen in einer Reihe
von Kämpfen ihre bessere Ausbildung an den Tag legten, doch
unsre Energie, Kühnheit und Geschicklichkeit im Gruppieren der
Kräfte bewiesen, daß unsre Truppen in taktischer Hinsicht den
Polen überlegen seien. Dies beseitigte endgültig die Unsicherheit,
welche in manchen Abteilungen vorherrschte. Alle dachten voll
Seelenstärke und Siegeszuversicht an die künftigen Kämpfe.
Eine weitere wichtige Folge unsrer ersten Offensive bestand
darin, daß wir die Lage an der Südwestfront entlasteten und im
schwersten Augenblick einen Teil der polnischen Truppen von
der Richtung Kijow abbrachten.
Die wichtigste Folge der Offensive aber war für uns die Besitz-
nahme des Tores von Smolensk. Dies erleichterte uns die Vorbe-
reitungen für unsre weitere Offensive und brachte unsre Trup-
pen von Anfang an an die Bahnlinie Molodeczno — Polock.
V. Die Vorbereitungen zur Hauptoffensive
In der ersten Junihälfte kam die ganze Westfront zur Ruhe.
Das gegenseitige Kräfteverhältnis veranschaulicht Tabelle II.
Natürlich konnte man bei solchen Kräften, wenn man dazu
berücksichtigt, daß alle Verstärkungen bereits eingetroffen waren,
nicht mit einer entscheidenden Entwicklung der Hauptoperation
rechnen. Es war unerläßlich, unsre geschwächten Abteilungen
aufzufüllen.
i|||!P . -
M. TUGHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 269
Das Oberkommando der Front zog in Betracht, die Bajonett-
zahl jeder Schützen-Division zu verdoppeln.
Es entstand dabei ein sehr schwieriges Problem — das Problem
der Ergänzung. Zu jener Zeit waltete noch der große Rus-
sische Generalstab, ein äußerst bürokratisches Amt, das die ihm
gestellten Aufgaben nicht
erfüllen konnte. Die Ar-
beit der Reserveformatio-
nen, die Mobilisierungs-
arbeiten und die Bekämp-
fung des Bandenwesens
wurde zu formalistisch
und seelenlos durchge-
führt und zeitigte keine
Resultate. Die Oberste
Heeresleitung verfügte
über die Reservearmee, der
hauptsächlich die Auf-
gabe der Ergänzung uns-
rer aktiven Armeen zu-
fiel. Doch ihre Mittel
waren begrenzt und nicht
geeignet, unsre Bedürf-
nisse zu befriedigen.
Ich muß hier bemer-
ken, daß die Ausbildung
der Soldaten der Roten
Armee in den Reservefor-
mationen auf nicht gerade hoher Stufe stand. Solange man keine
Bekleidung erhielt, konnte man angesichts der kühlen Frühlings-
tage, die eine Ausbildung barfüßiger Soldaten ausschlossen, die
Ausbildung nicht auf eine entsprechende Stufe bringen. Sogleich
nach Eintreffen der Bekleidung bildete man in aller Schnelle
Marschkompanien und Marschbataillone, die man verlud und an
die Front schickte.
So elend stand es zu jener Zeit um die Ergänzung unsrer Ar-
meen. Alle Fronten und alle aktiven Armeen mußten auf eigene
Faust mit Hilfe der zur Stelle befindlichen Mittel die Verluste
der Truppen ergänzen. Dies ist natürlich eine schwere Aufgabe
und bringt Unordnung im Ergänzungswesen, doch es gab keinen
andren Ausweg.
33 ECkEra 11
270 M. TTJCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL
TABELLE
Das gegenseitige Kräfteverhältnis an der Westfront gegen Ende
POLEN
Truppenkörper Bajonette Säbel Anmerkung
1* 10. Inf.-Div. (1 zuget. Rgt.) . . 5 000 500
7. Res.-Inf.-Brig 3 000 —
'o
1 8. Inf.-Div 1800 500
fl
o ► 1. Kav.-Div — 1800
GO ü
M o 2. lit.-weißruss. Inf.-Div. . . 4 800 —
H
GO 11. Inf.-Div 4 800 —
H3
b£ fl 6. Inf.-Div. (1 Brig.) .... 1600 —
fl
| 17. Inf.-Div 1800 —
£
1. lit.-weißruss. Inf.-Div. . . 2 000 —
Insgesamt 28 800 2 800
16. Inf.-Div. (3 Rgt.) 4 200
fl O 4. Inf.-Div. (3 Rgt.) 4 000 —
£
Wi 9. Inf.-Div 4 000 1700
-fl,
p—t ‘53 2. Inf.-Div 3 200 500
-M 'fl
:fl CD 6. Inf.-Div. (1 Brig.) .... 1600 600
10. Inf.-Div 4 800 600
Insgesamt 21 800 3 400
Zusammen gegenüber der
Westfront 50 600 6 200
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL 271
II
der Maioperationen (einschließlich der neueingetroffenen Truppen)
UNSRE TRUPPEN
Truppenkörper Bajonette Säbel Zusammen Streiterzahl Anmerkung
3 Nordgruppe
® 8. Sch.*Div. . . 3 650 260 8 768 Die 48. Sch.-Div.
0) 160. Sch.-Brig. . . 2 109 205 3 849 an der Grenze Lett-
0 1 164. Sch.-Brig. . . 906 — 1692 lands, die 54. Sch.-
fl o Zusammen 6 665 465 14 309 Div. langt an
CD u 15. Armee
H 4. Sch.-Div. . . . 4 385 304 10 727
s 5. Sch.-Div. . . . 7 766 490 10 800
no bD 6. Sch.-Div. . . . 2 815 35 6 000*) *) beiläufig
fl 3 11. Sch.-Div. . . . 2 211 35 6 000*)
-W 12. Sch.-Div. . . . 2 500*) — 5 363
2 53. Sch.-Div. . . . 2 938 144 6 286
56. Sch.-Div. . . . 1894 — 4 271
Zusammen 24 509 1008 49 447
Insgesamt 31 174 1473 63 756
16. Armee
2. Sch.-Div. . . . 2 500*) — 6 500*)
•M 8. Sch.-Div. . . . 3 200 177 5 626
fl 2 10. Sch.-Div. . . . 2 405 81 7 483
17. Sch.-Div. . . . 3 273 238 7 222
S ns, 21. Sch.-Div. . . . 3 358 1424 5 942
#<U Zusammen 14 736 1920 32 773
1
CD Mozyrzgrupp e
57. Sch.-Div. . . . 1099 63 3 749
Versch. Truppen 1833 — 3 597
Zusammen 2 927 63 7 346
Insgesamt 17 663 1 983 40119
Zusammen an der
Westfront .... 48 837 3 456 104 075
272 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL
Zu den Beweggründen rein technischer Natur, die gegen eine
lokale Ergänzung sprachen, gesellten sich gleichfalls wichtige
Beweggründe politischer Natur. Es gab viele, die der Meinung
waren, daß die Soldaten der Roten Armee in Gegenden unweit
ihrer Heimat schlecht kämpfen, daß der geringste Mißerfolg
Fahnenflucht und Zersprengung der Truppen verursachte.
Doch die Wirklichkeit, die alle überall zu einer derartigen loka-
len Ergänzung zwang, bewies die Unrichtigkeit dieser vorsichti-
gen Meinung. Im Falle eines Mißerfolges flüchteten Bewohner
der entferntesten Gegenden ebenso leicht wie die ansässigen. Dar-
in gab es keinen großen Unterschied. Dagegen stützten sich alle
bedeutenderen Kraftleistungen, alle kühnen Unternehmungen
und Feldzüge fast immer auf lokale Mobilisierung und lokale Er-
gänzung. Dieses war ebenfalls im Juni 1920 der Fall. Die schwa-
chen Stände der Truppen, die Notwendigkeit einer schnellen Of-
fensive und die aussichtslose Lage der zentralen Reserveabteilun-
gen zwangen die Westfront dazu, die Ergänzung mit eigenen Mit-
teln durchzuführen.
Erhaltenen Nachrichten zufolge wimmelte es an der Westfront
von Deserteuren jener Jahrgänge, die von der Mobilisierung um-
faßt waren. Wir rechneten, daß man bei entsprechender Vorbe-
reitung dieser Aktion 40 000 Deserteure aus dem Lande wird her-
auspressen können.
Es wurde hierzu ein sorgfältiger Plan vorbereitet, man setzte
politische und Verwaltungsbehörden in Bewegung, führte strenge
Strafen in weitestem Maße ein und begann die ganze Aktion sehr
intensiv. Ihre Resultate übertrafen alle Erwartungen. Die Deser-
teure meldeten sich freiwillig. Sehr oft trachteten sie, sich als
Freiwillige bei den kämpfenden Truppen einzustellen. Nur we-
nige wurden auf administrativem Wege herangezogen. Im Laufe
des Monats Juni reihte man beiläufig 100 000 Deserteure ein, was
unsre Erwartungen zweieinhalbmal übertraf.
Die ganze Menschenmasse wurde unsrer Reservearmee und den
Reserveregimentern der aktiven Armee zugeteilt, wo man eine fie-
berhafte Ausbildungsarbeit begann, um sie den kämpfenden Re-
gimentern zuzuführen. In dieser Hinsicht bestanden gewaltige
Schwierigkeiten. Gänzlicher Mangel an Bekleidung, ungenügende
Anzahl von Kasernenunterkünften erschwerten den Unterricht
und setzten sein Niveau herab.
Die an die Front gelangten Kommunisten und Mitglieder der
Berufsarbeitervereinigungen wurden mit dieser frisch angewor-
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL 273
benen Masse vermischt, gewannen rasch die Oberhand und flöß-
ten ihr Kampfgeist und Tapferkeit im Kampf gegen das „Her-
ren“-Polen ein.
Im allgemeinen wurde bis Ende Juni dank angespannter Tat-
kraft der Männer, die am Ausbau der Roten Armee wirksam
waren, diese ungeheure, fast unlösbare Aufgabe erfüllt und viele
Tausende von Ergänzungsmannschaften begannen unsren Divi-
sionen zuzuströmen. Gegen Ende Juni war der Plan der Verdop-
pelung der Kampfstärke fast vollständig ausgeführt. Dies stellte
im vorhinein unsren künftigen Sieg sicher und ermöglichte uns
eine breite und auf lange Sicht berechnete Entwickelung unsrer
Operationen.
Der Geist unsrer Truppen war sehr gut. Das Bewußtsein des
Ernstes der Lage und der Notwendigkeit, Sowjetrußland abge-
sehen von Opfern vor dem Überfall der polnischen „Herren“ zu
schützen, erweckten nicht nur hei den Soldaten der Roten Ar-
mee unsrer Abteilungen, sondern auch bei der ganzen Arbeiter-
und Bauernbevölkerung die feste Überzeugung, daß man bis zum
Letzten kämpfen müsse.
Mit der gleichen Energie wurden die Etappeneinrichtungen
für unsre künftigen Operationen vorbereitet. Die vorhandenen
Eisenbahntruppen (Reparaturzüge und Eisenhahnahteilungen)
wurden herbeigezogen, und trotzdem sie den beabsichtigten Auf-
gaben nicht gewachsen waren, ermöglichten sie dennoch die In-
standsetzung der Eisenbahnlinien im Einklang mit dem Auf-
marsch der Truppen.
Der Bau der Dünabrücke hei Polock stand vor seiner Beendi-
gung, und bei Beginn der Operationen verfügten wir über eine
Eisenbahnverbindung mit der Eisenbahnstation Ziabki. Ange-
sichts der mit der Wiederherstellung der Brücke bei Borysow
(die Länge des Hindernisses: 75 Klafter) verbundenen Schwierig-
keiten trafen wir beizeiten Vorbereitungen zum Bau dieser
Brücke. Unser Kundschaftsdienst gab uns Nachrichten, daß die
Berezyna in dieser Gegend 25 Klafter breit sei. Das Profil des
Unterbaues war uns bekannt. Da wir die Brücke auf Balkenunter-
lagen bauen wollten, verfertigten wir im vorhinein die einzelnen
Bestandteile der Brücke und verluden sie auf offenen Güter-
wagen. Diese Vorsorgen erlaubte uns während der Offensive
die 75 Klafter lange Brücke wiederherzustellen. Unsre Militär-
eisenbahnstellen hatten nicht an die Möglichkeit eines so schnel-
len Baues geglaubt.
\ 8 Pilsudski II
274 M. TUCH ÄTSCHE WSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
Infolge Mangels an Transportmitteln bei unsren Truppen sahen
wir uns genötigt, im weitesten Umfange zur Mobilisierung von
Fuhrwerk zu greifen. Die 4. Armee mobilisierte gegen 8000, die
15. und 3. Armee bis 15 000, die 16. Armee aber ungefähr 10 000
Bauernwagen. Dies bedeutete zwar eine große Belastung der an-
sässigen Bevölkerung, doch die Angst vor dem Überfall der „Her-
ren46 erlaubte uns mit Leichtigkeit zu diesem Mittel zu greifen.
Die große Zahl von Fahrzeugen ermöglichte unsren Truppen, die
Operationen schnell und kühn durchzuführen und die rückwärti-
gen Einrichtungen ständig in Gang zu erhalten. Es ist wahr, daß
dabei ein großes Durcheinander herrschte, trotzdem aher wur-
den unsre Truppen bis zu ihrem Anlangen am Bug und Narew
stets recht gut mit allem, was sie brauchten, versorgt.
Nachrichtenmittel zogen wir ebenfalls von allen Seiten zusam-
men, teilweise verfertigte man sie bei der Reservearmee der West-
front. Trotz großen Druckes begannen wir aber die Julioperatio-
nen in dieser Hinsicht ungenügend vorbereitet. Es mangelte an
Nachrichtenmitteln und schließlich mißlangen die Operationen
infolgedessen. Ich muß bemerken, daß wir in der Julioperation
zum erstenmal Operationspunkte und Nachrichtenabteilungen
der Linientruppen planmäßig in Anwendung brachten.
Das „weiße44 Oberkommando verblieb ebenfalls nicht untätig
und ergänzte und verstärkte seine Truppen (Tabelle III).
In den obenerwähnten Tabellen sind bei unsren Schützen-Divi-
sionen die Reservebataillone der Divisionen mit einbegriffen.
Deshalb finden sich in den Berechnungen ebenfalls die Reserve-
bataillone der polnischen Kampfregimenter.
Trotzdem die Gruppierung der polnischen Truppen ein gewis-
ses Streben zur Verstärkung gegenüber unsrem rechten Flügel
aufwies, konnte man dies nicht als ausgesprochen betrachten, und
die Gruppierung schien kordonmäßig und passiv. Diese schwa-
chen Seiten der polnischen Armee wurden unsrerseits berücksich-
tigt und in der entscheidenden Julioffensive ausgenützt.
VI. Das gegenseitige Kräfteverhältnis
Der Plan der Offensive war dem Maiplan sehr ähnlich. Seine
Grundlage bildete weiterhin die Absicht, unsren rechten Flügel
auf Litauen und Ostpreußen zu stützen und die polnischen Kräfte
in die Polesiesümpfe zurückzuwerfen. So führte die Richtung des
Hauptstoßes wieder durch das „Tor von Smolensk44. Doch der
M. TUGHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 275
Durchmarsch durch das „Tor66 war jetzt für uns weitaus günsti-
ger. Wir brauchten nicht mehr unsren linken Flügel ahzubiegen
und man konnte unmittelbar auf den polnischen Flügel wirken,
wobei man sich an beiden Seiten der bereits in Betrieb stehen-
den Eisenbahnlinie Polock — Molodeczno festsetzte.
Bis zu einem gewissen Grade beugten wir den Mängeln in der
Führung vor, die sich in der ersten Operation bemerkbar ge-
macht hatten. Wir verfügten über 4 Armeekommandos und das
Kommando der Mozvrz-Gruppe. Freilich waren diese Komman-
dos außer der 15. und 16. Armee sehr schwach ausgestattet und
verfügten über keine hesondren technischen Nachrichtenmittel.
Doch sogar in dieser Beziehung war ein gewisser Fortschritt
sichtbar.
Wir ließen drei unsrer Armeen in den entscheidenden Rich-
tungen auf marschieren: die 4. Armee (Armeeführer Sergiejew,
Stabschef Szuwajew, ehemalige Nordgruppe), die 15. Armee (bis-
herige Führer) und die 3. Armee. Die 16. Armee (bisherige Füh-
rer) blieb weiterhin auf Ihumen, die Mozyrz-Gruppe (Führer
Lazarewicz, Stabschef Lisowski) aber auf Mozyrz gerichtet (Füh-
rer Chwesin). Ein solcher Aufmarsch ermöglichte uns, unsre über-
wiegenden Kräfte in der Richtung auf Gl^bokie zu versammeln,
wobei wir sie jedoch ständig und elastisch in der Hand behielten.
Die 4. Armee zählte (ohne 48. Schützen-Division) ungefähr
14 000, die 15. Armee gegen 26 000, die 3. Armee aber gegen
20 000 Bajonette und Säbel; die 16. Armee besaß ihrer 25 000,
die Mozyrz-Gruppe aber ungefähr 6 000.
Auf diese Weise stellten wir an unsrem rechten Flügel den
etwas mehr als 30 000 Bajonetten und Säbeln der Polen unge-
fähr 60 000 unsrerseits gegenüber. Dabei muß beachtet werden, daß
die Polen ihre Kräfte weit nach rückwärts staffelten, ohne jedoch
eine ausgesprochene Gruppierung anzunehmen, wogegen ihre
erste Linie kordonartig in die Breite gezogen war. Gleichzeitig
konnten ihre Reserven, selbst im Falle ihrer Umgruppierung, im
Augenblick, in dem wir zum Angriff übergingen, keinerlei für
uns gefährliche Kräfteansammlung bilden. Hierzu waren sie zu
schwach, zu verstreut und auseinandergeworfen. Unsrem Plan ent-
sprach es weiterhin, mit allen verfügbaren Kräften gleichzeitig
einzugreifen, um mit einem Schlag die erste Kampflinie des Geg-
ners zu vernichten. Ein späteres Eingreifen der polnischen Re-
serven würde bereits für uns und nicht für jene von Nutzen sein,
da es uns erlauben würde, sie nacheinander zu schlagen.
\ 8:
276 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
TABELLE
Das gegenseitige Kräfteverhältnis
POLEN
Truppenkörper Bajonette Säbel Anmerkung
8. Inf.-Div 3 600 500
'S V 10. Inf.-Div 3 700 —
o a 7. Res.-Inf.-Brig 2 900 —
CD fl 1. Kav.-Div — 1200
► CD 5. Inf.-Div 4 100 —
03 M Ol 1. lit.-weißruss. Inf.-Div. . . 2 400 500
H 4. Inf.-Div 3 700 —
o pü 15. Inf.-Div 4 000 — Wilno —
bD fl 0 6. Inf.-Div. (1 Brig.) .... 2 000 — gegen Litauen
£ o 2. lit.-weißruss. Inf.-Div. . . 3 200 —
S 11. Inf.-Div 3 000 -
Insgesamt 32 600 2 200
2. Leg.-Div 4 000 1 100
6. Inf.-Div. (1 Brig.) .... 2 000 1200
'S O 14. Inf.-Div 5 000 600
(h 16. Inf.-Div 4 800 —
« na ■ 3. Leg.-Div. (1 Rgt.) .... 1000 —
’S 1. Geb.-Div. (1 Brig.) . . . 2 000 —
1 CD 9. Inf.-Div 4 000 1700
2. Leg.-Div. (Reit Jäg.-Rgt.) — 600
17. Inf.-Div 4 000 —
Reserven Insgesamt Res.-Bataillone und Res.- Schwadronen der Rgt. in der Kampflinie Zusammen gegenüber der Westfront 26 800 27 000 86 400 5 200 1200 8 600 Bereit zur Einreihung
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 277
III
an der Westfront am 4. Juli 1920
UNSERE TRUPPEN
Truppenkörper Bajonette Säbel Zusammen Streiterzahl Anmerkung
4. Armee Die 48.Sch.-Div. an
18. Sch.-Div. . . 4 168 220 7 005 d.Grenze Lettlands
12. Sch.-Div. . . 2 500*) — 5 000*)
j4 53. Sch.-Div. . . 2 047 252 4 500*) *) beiläufig
cd "P 164. Sch.-Brig. . . 1 000*) — 1 500*)
<v 3. K.-Korps**) — 3 644 4 911 **) Besteht aus der
B Zusammen 9 715 4 116 22 916 10. u. 15. Kav -Div.
d 15. Armee
o ► 4. Sch.-Div. . . . 5 000*) 258 10 000*)
CO ü 11. Sch.-Div. . . . 5 411 207 8 854
u o\ 15. Sch.-Div. . . . 4 417 837 9 660
H 33. Sch.-Div. . . . 3 060 1289 7 569
OD 54. Sch.-Div. . . . 4 401 171 8 596
ü na Versch. Truppen 885 — 2 254
b£ d Zusammen 23 204 2 714 46 883
3 ja 3. Armee
o 5. Sch.-Div. . . . 7 000*) 509 10 000*)
£ 6. Sch.-Div. . . . 3 500*) 50 6 386
21. Sch.-Div. . . . 4 000*) 1424 8 805
56. Sch.-Div. . . . 3 222 272 5 987
Yersch. Truppen 151 — 445
Zusammen 17 873 2 255 31623
Insgesamt 50 792 9 085 101 422
16. Armee
2. Sch.-Div. . . . 4 282 — 8 354
8. Sch.-Div. . . . 4 194 324 7 842
d o 10. Sch.-Div. . . . 4 370 130 7 637
£ 17. Sch.-Div. . . . 5 624 249 12 920
u 27. Sch.-Div.. . . 5 000*) 250*) 9 000*)
na Yersch. Truppen 575 — 575
’S Zusammen 24 045 953 46 328
3 Mozyrz-Gruppe
c/D 57. Sch.-Div. . . . 3 142 170 6 438
Komb. Abteilung 1547 313 3 000*)
Versch. Truppen 1416 — 3 000*)
Zusammen 6 105 483 12 438
Insgesamt 30150 1436 58 766
if Res.-Bataill.u.Res.-
Schwadr. der Div. ***) ***) ***) Bei den Div.
CO I in der Kampflinie miteingerechnet
PH Zus.and.Westfront 80 942 10 521 160188
278 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
Im Abschnitt der 16. Armee waren die Kräfte ungefähr ausge-
glichen. Am wenig wichtigen linken Flügel hingegen (Richtung
Mozyrz) waren wir zweimal schwächer als die Polen (Skizze 4).
Das Frontoberkommando beabsichtigte bei einer solchen Kräf-
tegruppierung, mit der 4. Armee nördlich des Gr. Jelna-Sees
eine Umgehung des
feindlichen Flügels
auszuführen, mit der
15. Armee einen fron-
talen Durchbruch auf
Gl^bökie und mit der
3. Armee einen Flan-
kenstoß auf Parafja-
nowo durchzuführen.
Die 16. Armee sollte
mit geballten Kräften
in der Richtung Ihu-
men und Minsk an-
greifen und die ganze
Mitte des Gegners
binden. Die Mozyrz-
Gruppe, die zu dieser
Zeit Mozyrz einnahm,
sollte mit der 16. Ar-
mee auf Glusk Zu-
sammenwirken.
Die obenerwähnte
Kräftegruppierung wurde durch Befehl des Oberkommandos
der Westfront vom 30. Juni festgelegt. Der 4. Armee teilte man,
abgesehen von der 48. Schützen-Division, die 12., 18. und 53. Schüt-
zen-Division, 164. Schützen-Brigade und das 3. Kavallerie-Korps
zu, das aus der 10. und 15. Kavallerie-Division bestand und vom
Genossen Gaj befehligt wurde. Der 15. Armee teilte man die 4.,
11., 16., 33. und 54. Schützen-Division, der 3. Armee die 5., 6., 21.
und 56. Schützen-Division, der 16. Armee die 2., 8., 10., 17. und
27. Schützen-Division zu. — Die Zusammensetzung der Mozyrz-
Gruppe blieb unverändert.
M. TÜGHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL 279
VII. Die Offensive vom 4. Juli
Am 2. Juli erließ der Oberkommandeur der Westfront den Be-
fehl, bei Morgengrauen des 4. Juli zur entscheidenden Offensive
überzugehen (Skizze 5 und 6).
Die 4. Armee er-
hielt den Auftrag,
ihren Hauptstoß nörd-
lich des Gr. Jelna-
Sees zu führen und
am 5. Juli die Gegend
Szarkowszczyzna —
Luzki zu erreichen.
Die Reitermassen soll-
ten am linken Düna-
ufer und auf Swi§-
ciany angesetzt wer-
den.
Die 15. Armee er-
hielt den Befehl auf
Gl^bokie vorzusto-
ßen.
Die 3. Armee er-
hielt die Aufgabe, am
5. Juli Dokszyce zu
nehmen, am 6. Juli
aber dem Gegner den
Rückweg im Raume
der EisenbahnstationParafjanowo zu verlegen.
Die 16. Armee sollte in der Nacht vom 5. auf den 6. Juli die
Berezyna forcieren und auf Ihumen angreifen.
Die Mozyrz-Gruppe sollte mit der 16. Armee Zusammenwirken
und den feindlichen Flügel fassen.
Die Operationsräume der Armeen waren durch folgende Tren-
nungsslinien begrenzt: Zwischen der 4. und 15. Armee Uszacz-
mündung —Luzki —Budzicze; zwischen der 15. und 3. Armee
Dzwonie — Berezyna quellen; zwischen der 3. und 16. Armee
Peliksee — Oberlauf des Hajnaflusses.
Die Offensive entwickelte sich erfolgreich. Die 4. Armee schob
nördlich des Gr. Jelna-Sees die 12. und 53. Schützen-Division und
280 M. TÜGHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
die 164. Schützen-Brigade vor. Hinter ihnen rückte das Kaval-
lerie-Korps, längs der Düna die 18. Schützen-Division vor.
Die Stoßgruppe der 4. Armee durchbrach mit Leichtigkeit
schwache feindliche Infanterieabteilungen und führte die Um-
gehung des feindlichen Flügels rasch und entschlossen aus. Un-
terwegs begegnete sie aber unerwartet Abteilungen der polnischen
8. Infanterie-Division. Früher schon hatten wir Nachrichten dar-
über, daß die Polen selbst eine Offensive vorbereiten und daß
ihre erste Aufgabe darin
bestehen soll, uns aus dem
Raum von Dzisna zu ver-
treiben.
Höchstwahrscheinlich bil-
dete der Vormarsch der
8. Infanterie-Division von
Hermanowicze aus längs
des Nordufers des Gr.
Jelna-Sees eine Vorberei-
tung dieses Manövers. Die
Truppen der 8. Infanterie-
Division wurden während
ihres Marsches angegriffen,
geschlagen und büßten jed-
wede Kampffähigkeit ein.
Doch unsre Truppen er-
reichten auch nicht das, was
sie unter diesen Umständen hätten erreichen können. Mangel an
Nachrichtenmitteln, die dem Führer der 4. Armee zur Verfügung
hätten stehen sollen, erlaubte ihm nicht, seine Truppen fest in
der Hand zu behalten, und deshalb hatten die Kampfhandlungen
der 12. und 53. Division einen wenig koordinierten Charakter. Je-
denfalls war der Gegner zersprengt, unsre Truppen aber setzten
die Offensive fort, und blieben kaum vor der Erfüllung der ihnen
gestellten Aufgabe zurück. Die 18. Division kämpft hartnäckig
mit dem Gegner und eine Umgehung des Flügels durch die Stoß-
gruppe und der Erfolg der benachbarten 15. Armee erst erlau-
ben ihr, von der Stelle zu kommen.
Die 15. Armee, die die Hauptkräfte des Gegners vor sich hatte,
kämpfte den ganzen Tag hindurch blutig und hartnäckig. Gegen
Abend erst wurden die polnischen Truppen an der Front des gan-
zen Abschnittes völlig vernichtet, geschlagen und mit großen Ver-
M. TUGHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 281
lüsten auf Gl^bokie zurückgeworfen. Man erbeutete Gefangene,
Maschinengewehre und Geschütze.
Die 3. Armee forcierte die Berezyna, schlug die ihr gegenüber-
stehenden polnischen Truppen, nahm rechtzeitig Dokszyce ein
und durchbrach ebenfalls rechtzeitig die Eisenbahnlinie in der
Gegend von Parafjanowo. Der Gegner, der in diesem Raum durch
den energischen Vormarsch der Truppen der 3. Armee zersprengt
wurde, mußte in Unordnung in nördlicher und nordwestlicher
Richtung durch das ver-
sumpfte Gelände zurück-
gehen, das nördlich der
Bahnlinie liegt.
Am 7. Juli schon war es
jedem klar, daß die feind-
lichen Truppen im Raum
unsres Hauptstoßes völlig
zersprengt seien.
Die Kampfhandlungen
der 16. Armee waren gleich-
falls von Erfolg gekrönt.
Nachdem sie die Berezyna
überschritten und die un-
terwegs angetroffenen pol-
nischen Abteilungen ge-
schlagen hatte, rückte sie
schnell auf Xhumen vor.
Die Mozyrz-Gruppe unterstützte sie aktiv durch einen aus der
Gegend von Glusk in nordwestlicher Richtung geführten Angriff.
Um den Erfolg der 16. Armee besser zu sichern, befahl das
Oberkommando der Front der 3. Armee am 6. Juli, mit ihr durch
Vormarsch auf Minsk zusammenzuwirken (Skizze 7).
Am 7. Juli ergeht der Befehl, der der 4. Armee folgende Auf-
gabe stellt: „Am 9. Juli hat sie den Raum Twerecz — Goduciszki —
Komaj zu erreichen, am 10. Juli aber den Raum Eisenbahnsta-
tion Molodeczno zu besetzen. Die 3., 16. Armee und Mozyrz-
Gruppe behalten ihre bisherigen Aufgaben.66 Die Offensive ent-
wickelt sich an der ganzen Front vollkommen zufriedenstellend.
Das Kavallerie-Korps, das sich von dem Gros der Kräfte seiner
Armee losgetrennt hatte und nördlich des seenreichen und ver-
sumpften Dzisnaraumes wirkte, gelangte tief in den Rücken der
„weißen66 polnischen Armee, und besetzt am 9. Juli, nach gewon-
282 M. TUGHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
nener Schlacht, Swi^ciany, wobei es dem Feind bedeutende Ver-
luste zufügte und viel Kriegsbeute machte. Die durch diesen Vor-
stoß des Kavallerie-Korps beim Feinde verursachte Demoralisie-
rung war so groß, daß er außerstande war, den Hauptkräften
der 4. Armee in den stark befestigten ehemals deutschen Stellun-
gen Widerstand zu leisten. Am 9. Juli erfüllte die 4. Armee die
ihr gestellte Aufgabe. Die 15. Armee besetzte Molodeczno gleich-
falls in der ihr vorgeschriebenen Zeit. Die 3. und 16. Armee ver-
eitelten mittels konzentrischer Angriffe jedweden feindlichen Wi-
derstandsversuch und führten ihre Offensive erfolgreich fort.
Wir erbeuteten polnische Befehle, aus denen ersichtlich wird,
daß das polnische Oberkommando angesichts der vollkommenen
Niederlage am Nordabschnitt einen planmäßigen und allmäh-
lichen Rückzug vor unsrer 16. Armee anordnete. Doch das von
uns unternommene Manöver durchkreuzte diese Pläne gänzlich
und erlaubte den Polen nicht, irgendeinen bezeichneten Punkt
weder zu besetzen, noch eine entsprechende Zeit hindurch zu hal-
ten. Die Organisation ihres Rückzuges kam ins Wanken und
nahm den Charakter gänzlicher Unordnung an.
Jetzt erwuchs der Westfront eine neue strategische Aufgabe.
Längs der Berezyna, die nebst vielen Nebenflüssen in den Njemen
mündet, ziehen sich schwer überschreitbare Sümpfe, die von dich-
ten Wäldern bedeckt sind und kaum einige für Bewegungen ge-
eignete Wege besitzen. Der Oberlauf des Njemen bietet den an-
greifenden Truppen kein ernstes Hindernis. Vom versumpften
Berezynaraum an fließt er jedoch in westlicher Richtung bis zur
Szczaramündung und bildet auf dieser ganzen Strecke ein recht
ernstes Hindernis infolge seiner Stromstärke und der Breite des
Flußbettes. Das Oberkommando der Front mußte sich nun ent-
scheiden, ob es seine Hauptkräfte nördlich oder südlich dieses
Hindernisses lenken wollte.
Unter Berücksichtigung der Grundidee, unsren rechten Flügel
an die Grenzen der Polen feindlichen Länder zu lehnen, und in-
folge des geringeren Zeitverlustes bei einer Umgruppierung be-
schloß man, den Hauptangriff nördlich des Njemen zu führen
(Skizze 8). Am 9. Juli erließ man den Befehl, dem gemäß die
3. Armee sich am 11. Juli im Raume Chochlo — Pierszaje-Rakow
sammeln sollte. Der 16. Armee befahl man, am 11. Juli Kojdanow
zu besetzen. Der Mozyrz-Gruppe wies man die Richtung auf
Sluck und Luniniec zu. Als Trennungslinien setzte man fest: zwi-
schen der 4. und 15. Armee die Linie Budzicze —Naroczsee —
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL 283
Oszmiana; zwischen der 15. und 3. Armee die Linie Stadt Ilja —
Berezynafluß — Eisenbahnstation Listopady; zwischen der 3. und
16. Armee die Linie Hajnafluß — Stadt Wolma. Die nördlichen
Armeen sollten die Offensive fortsetzen.
Die Abteilungen des 3. Kavallerie-Korps griffen, unterstützt
durch die 164. Schützen-Brigade weiter von Swi^ciany in der
Richtung auf Michaliszki
an. Hier trat infolge von
Mangel an Nachrichtenmit-
teln, was die Führung der
Truppen unerhört er-
schwerte, eine unerwünsch-
te Verzögerung ein. Das
Kommando der 18. Divi-
sion verlor im Raum Swir-
see — Michaliszki fruchtlos
seine Zeit, wobei seine Ab-
teilungen ohne Zusammen-
hang und verstreut vorgin-
gen. Zwischen den einzel-
nen Divisionen bestand
keine Verbindung. Der Ar-
meeführer mußte persön-
lich die Divisionsstäbe auf-
suchen, um dort die nöti-
gen Nachrichten zu erhal-
ten und an Ort und Stelle
Weisungen zu geben. Die
vorbereiteten und vereinigten Anstrengungen dreier Schützen-
Divisionen bringen schließlich einen Erfolg und der Wiljafluß
wird forciert. Der Feind, der hier bedeutende Verluste erlitt, be-
ginnt einen schleunigen Rückzug.
Das 3. Kavallerie-Korps hatte gleichfalls am Anfang keinerlei
Erfolg. Einige Versuche, die Wilja zu forcieren, wurden jedesmal
von polnischen Infanterieabteilungen abgeschlagen. Schließlich
wurde diese Aufgabe mit Hilfe der 164. Brigade erfüllt und Ab-
teilungen des Kavallerie-Korps drangen in die Vorstadt von
Wilno ein. Eine Zeitlang währten auch hier erbitterte Kämpfe,
doch am 14. Juli früh wurde Wilno endgültig von uns besetzt.
Als die Litauer bemerkten, daß die Rote Armee ganz deutliche
Erfolge erringt, änderte sich sofort ihre Haltung den Polen gegen-
284 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
über von einer neutralen in eine feindliche. Die litauischen Trup-
pen griffen die polnischen Kräfte an und besetzten Nowe Troki
und die Eisenbahnstation Landwarowo.
Die rasche Umgehung des feindlichen Flügels durch das Kaval-
lerie-Korps und die Unterstützung durch die litauische Armee
verlegten der polnischen Nordarmee den Rückweg auf Orany und
Grodno. Ein Teil von ihr begann schnell auf Lida zurückzugehen.
So mußten die polnischen Truppen von Norden und Osten in der
Richtung zurückgehen, in der drei unsrer Armeen konzentrisch
vorrückten. Eine Daseinsfrage für die Polen bildete das Aufhal-
ten unsrer 15. Armee vor den deutschen Stellungen, um dadurch
den Hauptkräften und Etappenformationen den Rückzug zu er-
möglichen. In der Tat stieß der Angriff der 15. Armee längs der
ehemaligen deutschen Stellungen auf heftigen Widerstand. Es
begann ein hartnäckiger Kampf in der Gegend von Smorgon.
Um die Entwicklung der Operationen am rechten Flügel der
15. Armee zu beschleunigen und sie mit dem erfolgreichen An-
griff der 4. Armee zu verknüpfen, schob man die 5. Schützen-
Division, die von der 3. Armee zur Frontreserve zurückgenommen
worden war, auf Smorgon vor.
Die 15. Armee kämpft einige Tage erfolglos auf der Linie der
deutschen Stellungen. Die Umgehung des Flügels durch die 18.
Schützen-Division der 4. Armee aber bricht endlich den polni-
schen Widerstand in der Gegend von Smorgon und die Truppen
der 15. Armee besetzten nach und nach vom rechten zum linken
Flügel die deutschen Stellungen. Der Angriff gewinnt wieder an
Entschlossenheit, wobei die 15. Armee nun auch die Aufgabe er-
hält, bei der Verdrängung der Polen im Abschnitt der 3. Armee
mitzuwirken.
Laut Befehl vom 12. Juli erhält die 4. Armee die Aufgabe, am
17. Juli die Gegend von Orany zu erreichen (Skizze 9). Die 15.
und 3. Armee sollen zu diesem Zeitpunkt die Linie Zyrmuny —
Lida, die 16. Armee aber Baranowicze besetzen. Die Mozyrz-
Gruppe soll auf Pinsk vorrücken. Um der 16. Armee die allmäh-
liche Besetzung der deutschen Stellungen vom rechten Flügel an
zu erleichtern, wird ihr die 2. Schützen-Division von der Front-
reserve zugeführt. Als Trennungslinien werden bestimmt: zwi-
schen der 4. und 15. Armee die Linie Oszmiana — Woronowo —
Skidel; zwischen der 3. und 15. Armee die Linie Listopady —
Sobotniki — Lida — Eisenbahnstation Mosty; zwischen der 3. und
16. Armee die Linie Wolma —Berezynamündung —Dereczyn. Auf
M. TÜGHATSGHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL 285
diese Weise stellte man der 3. Armee die Aufgabe eines teilweisen
Forcierens des Njemenflusses, zugleich mit der Verschiebung eines
Teiles ihrer Kräfte längs des linken Ufers dieses Flusses. Dieses
Mittel sollte der 16. Armee die schwere Aufgabe erleichtern, die
ehemaligen deutschen Stellungen auf weiter Front zu durchbre-
chen und weiter gegen den Szczarafluß vorzurücken.
Man konnte mit viel Wahrscheinlichkeit damit rechnen, daß
die polnische Führung sich zu einem hartnäckigen Widerstand
vor der 16. Armee ent-
schließen und hierzu die
deutschen Stellungen
und den Njemen aus-
nützen würde. In diesem
Fall konnte unsre Nord-
gruppe in eine Lage ge-
raten, die sie zwänge,
ihren Vormarsch aufzu-
halten. Da man dies vor-
aussah, gab man den Ar-
meen die Weisung, im
Falle, daß die 16. Armee
vor den deutschen Stel-
lungen aufgehalten wür-
de und sich südlich des
Njemen große polnische Truppenmassen sammeln sollten, die
Operationsrichtung der 3. und 15. Armee zu ändern und von Nor-
den in südlicher Richtung in den Flügel und Rücken der Polen zu
stoßen. Die 4. Armee hatte diese Operation durch Angriff auf
Grodno zu sichern. Doch diese Vermutung verwirklichte sich nicht.
Die 16. Armee brachte es zustande, mit eigenen Kräften den Wider-
stand der geschlagenen polnischen Truppen zu brechen. Dieses
Manöver selbst jedoch und die Bereitstellung unsrer Hauptkräfte
zu diesem Manöver verdient etwas genauer analysiert zu werden.
Bei den gegenwärtigen ausgedehnten Fronten ist es unmöglich,
überall mit gleichmäßig zusammengezogenen Kräften anzugrei-
fen. Kühne Operationen müssen unbedingt die Versammlung gro-
ßer Truppenmengen in den entscheidenden Richtungen voraus-
sehen und minimale Kräfte in weniger wichtigen Richtungen be-
lassen. Im Falle eines Erfolges, eines günstigen Fortganges der
Operationen erwächst dem Kommando der größeren Truppen-
körper ein unvermeidliches Problem: soll man die Operationen
286 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
in der bisherigen Gruppierung und Richtung fortführen, oder
auch eine neue Richtung wählen? Soll man alle im Kampf einge-
setzten Kräfte in der Kampflinie belassen, oder die eingesetzten
Kräfte schwächen und einen Teil von ihnen in Reserve zurück-
nehmen? Wird es nicht besser sein, mit schwachen Kräften zu
verfolgen und nur im Falle, daß eine neue Kräftegruppierung
des Feindes festgestellt werden sollte, sie mit starken Reserven
anzugreifen?
Diese Probleme sind in Operationen der Gegenwart entschei-
dend, denn es ist mit wenigen Ausnahmen unmöglich, die feind-
lichen Kräfte mit einem einzigen mächtigen und entscheidenden
Schlag zu vernichten. Es ist unerläßlich, eine Kampfhandlung
nach der andren, einen Schlag nach dem andren durchzuführen
und dem Feinde stets Verluste beizufügen. Man kann nicht ein
für alle Male dieses Problem mittels entsprechender Formeln
lösen. Die Lage pflegt verschieden zu sein, so daß man die glei-
chen Regeln nicht immer anwenden kann. Doch zwingt die ge-
wöhnliche Entwicklung der Operationen zugleich, gewisse Fol-
gerungen zu ziehen. Die Breite der Angriffsfront vor allem und
das unvermeidliche Zerstören der Eisenbahnlinien durch die zu-
rückgehende Armee macht das rechtzeitige Verschieben der Trup-
pen unmöglich. Deshalb kann der bereits vollzogene Aufmarsch
während einer sich schnell entwickelnden Offensive nur mit gro-
ßer Mühe und nur teilweise geändert werden. Außerdem kann
das Belassen nur unbedeutender Kräfte in der Kampflinie dem
Gegner die Möglichkeit bieten, sich zu organisieren, unsren An-
griff zum Stehen zu bringen und seine in Auflösung geratenen
Truppen zu ordnen. Dies bedeutet allerdings nicht, daß der Feind
sich sofort zum Kampf stellen will. Er wird im Gegenteil in einer
Reihe von Fällen einem Zusammenstoß aus dem Wege gehen, bis
er mit der Vorbereitung eines neuen gewaltigen Gegenstoßes fer-
tig ist. In diesem Fall kann das Einsetzen der von uns gebildeten
bedeutenden Reserven zum Zwecke der Vernichtung des Geg-
ners, der seine Truppen zum Stehen gebracht hat, zu einem Luft-
stoß führen, der nicht nur keine positiven Ergebnisse zeitigt, son-
dern sogar einen unvermeidlichen Zeitverlust verursacht. Die Un-
möglichkeit, die feindliche Armee bei den gegenwärtigen ausge-
dehnten Fronten mit einem Schlag zu vernichten, zwingt dazu,
dies mit einer Reihe von nacheinander folgenden Schlägen zu er-
reichen, die den Feind mehr kosten müssen als uns. Je schneller
wir ihn vor uns hertreiben, je weniger Zeit wir ihm zum Abbre-
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 287
chen der Schlacht und Vorbereiten des Rückzuges lassen werden,
desto stärker werden wir die Auflösung seiner Kräfte beeinflus-
sen und eine neue Schlacht unmöglich machen oder doch sehr
erschweren. Eine Reihe logisch durchgeführter Vernichtungs-
manöver, die mit ununterbrochener Verfolgung verbunden sind,
kann also diese Entscheidungsschlacht ersetzen, die seinerzeit die
beste Kampfart bildete, als die Armeen nicht derart ausgedehnte
Fronten besetzen mußten.
Solchen Ausführungen gegenüber stellt man nicht mit Unrecht
entgegen, daß das Versammeln von Stoßmassen in der entschei-
denden Richtung den operativen Grundgedanken zu deutlich
bloßlegt. Die Möglichkeit einer Überraschung entfällt vollständig.
Das Versammeln von Stoßmassen ermöglicht dem Gegner recht-
zeitig einen Gegenstoß vorzubereiten, und diese werden auch im
entsprechenden Zeitpunkt und an der entsprechenden Stelle sei-
nem Gegenangriff begegnen.
Jede Schlacht ist eine komplizierte und vielseitige Sache. Die
Mängel des Angriffes mit Hilfe von Stoßmassen, die soeben ange-
führt wurden, entsprechen tatsächlich der Wirklichkeit. Wenn
wir aber dieses Problem vom weiteren Gesichtspunkt aus betrach-
ten, so erblicken wir wiederum Eigenschaften, die jene Mängel
völlig aufwiegen. Man darf vor allem nicht vergessen, daß der ge-
schlagene Feind in der Anordnung seiner Kräfte schlechter dar-
an ist als die siegreiche Armee. Die durch die Niederlage erzeugte
Erschlaffung und das Gefühl der Aussichtslosigkeit bemächtigt
sich des Zurückgehenden, wenn man ihn daran hindert, sich an
etwas anzuklammern und sich umzugruppieren, wenn man ihn
tagtäglich zu neuen Kämpfen und neuen Krafteinbußen zwingt.
Wenn daher der ursprüngliche Aufmarsch der Stoßmasse in ent-
sprechender Richtung stattfindet und an den Flügeln und in
weniger wichtigen Richtungen gesichert ist, so bildet ein jeder
Übergang des Feindes zum Angriff keinen Verdruß für sie, son-
dern einen erwünschten Traum. Jedes Anzeichen einer Aktivität
des Gegners kann beim siegreichen Angreifer einzig Freude er-
wecken, da sie ihm endlich die Möglichkeit bietet, die Haupt-
kräfte des erschütterten Feindes zu erreichen und ihm den end-
gültigen, entscheidenden Stoß zu versetzen.
Die Zusammenziehung von Stoßmassen ist, wie schon erwähnt,
eine unvermeidliche Folge der Eigenart des Krieges der Gegen-
wart. Die deutschen Armeen an der Westfront im Jahre 1914 und
eine Reihe unsrer Operationen während des Bürgerkrieges kön-
288 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
nen hierzu als Beispiel dienen. An Hand des Beispieles unsres
Feldzuges gegen die „weißen64 polnischen Streitkräfte im Jahre
1920 kann man ebenfalls mit viel Nutzen das Problem der An-
wendung von Stoßmassen studieren. Sobald die 16. Armee Unter-
stützung von Norden bedarf, gewährt sie ihr die Stoßmasse in Ge-
stalt der 3. Armee, die sofort auf Minsk vorstößt. Hätte aber die
16. Armee auf der Linie der alten deutschen Stellungen Hilfe be-
nötigt, so wäre ein gewaltiger Stoß von mindestens zwei unsrer
Armeen auf den Flügel und in den Rücken der gegen uns kämp-
fenden polnischen Truppen geführt worden. Im weiteren Verlauf
unsrer Operationen, während der Kämpfe am Bug, konnte solch
ein Manöver von seiten der nördlichen Armeen notwendig wer-
den. Wäre es wirklich nötig gewesen, so hätte es natürlich sofort
ausgeführt werden können. Der Mißerfolg unserer letzten Kriegs-
handlungen an der Weichsel darf nicht das Wesen des Problems
verwischen und zu falschen und leichtsinnigen Schlüssen führen.
Es unterlief dort nicht ein Fehler bei der grundsätzlichen Grup-
pierung unsres Stoßes, sondern ein Versehen bei seiner Flanken-
sicherung. Davon wird noch später die Rede sein.
VIII. Revolution von außen
Als die endgültige Niederlage, die die polnischen Truppen an
der Westfront erlitten, deutlich und klar in Erscheinung trat, als
unsre Truppen endlich die ehemaligen deutschen Stellungen
durchbrachen, bemächtigte sich Unruhe und Panik nicht nur der
polnischen Bourgeoisie, sondern auch ihrer Beschützer in
Europa.
Wir erhielten die Note Curzons, der uns vorschlug, in den er-
reichten Räumen haltzumachen, die englische Regierung aber
würde bei Festlegung unsrer gemeinsamen Grenzen im Sinne des
Versailler Vertrages, längs der ethnographischen Grenze Polens,
zwischen uns und der polnischen Regierung vermitteln. Natürlich
durfte man diesem Schritt der Diplomatie der englischen Kapita-
listen keinen Glauben schenken. Wir erlebten schon eine solche
Probe der Vermittlung Englands zwischen uns und Wrangel, die
eine Verstärkung Wrangels und sein aktives Auftreten unter dem
Mäntelchen englischer Vermittlung zur Folge hatte. Gleichzeitig
hatte die Note Curzons, die durch unsre Siege verursacht worden
war, die Eigenschaften eines Ultimatums. Falls wir den engli-
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 289
sehen Vorschlag nicht annahmen, drohte uns das aktive Eingrei-
fen des englischen Kapitals gegen uns. Auf welche Weise dieses
Eingreifen stattfinden sollte, war uns nicht genau bekannt, doch
es war klar, daß die Lage sich bedrohlich gestaltet hatte. Der
Kampf des polnischen Kapitals gegen die Revolution des russi-
schen Proletariats begann sich zu einer Frage von europäischer
Bedeutung zu entwickeln.
Durch die Ablehnung der Vermittlung Curzons hatten wir das
englische Kapital herausgefordert, und der Kampf versprach sich
zu einem Kampf auf Tod und Leben auszuwachsen. Es war völ-
lig klar, daß sogar im Falle einer gänzlichen Vernichtung des
„Herren“-Polens der Klassenkrieg keine Unterbrechung erleiden
konnte und unbedingt mit elementarer Gewalt die Länder Mit-
teleuropas erfassen müßte.
Wie gestaltete sich die Lage des westeuropäischen Proletariats?
War es zur Revolution vorbereitet? Wäre es imstande gewesen,
die sozialistische Lawine zu unterstützen, die sich von Osten her-
anwälzte und ihm Freiheit brachte? Die weiteren Ereignisse bie-
ten eine klar bejahende Antwort auf diese Frage.
Noch vor Beginn unsrer Offensive loderten in ganz Weißruß-
land, das unter dem Joch polnischer Großgrundbesitzer und der
weiß polnischen Truppen ächzte, Bauernaufstände auf. Wir wuß-
ten, daß wir bei unsrem Durchmarsch durch Weißrußland nicht
nur eine uns freundliche Haltung, sondern auch bedeutende
Unterstützung in Gestalt von zu mobilisierenden Massen von Sol-
daten der Roten Armee finden würden. Diese Voraussetzungen
verwirklichten sich im vollen Umfang. Über 30 000 gute und zu-
verlässige Rekruten wurden von uns ausgehoben und ausgebildet
und in die Rote Armee einverleibt. Dies ist ein kennzeichnendes
und glänzendes Beispiel klassenmäßiger Rekrutierung.
Die Lage in Polen war für die Revolution ebenfalls günstig.
Eine starke Bewegung im Proletariat und eine nicht minder gefähr-
liche Landarbeiterbewegung stellten die polnische Bourgeoisie in
eine ungemein schwierige Lage. Viele polnische Kommunisten
meinten, es würde genügen, wenn wir die ethnographische Grenze
Polens erreichten, damit sich die Revolution des Proletariats in
Polen als unvermeidbar und völlig sicher gestaltete. Tatsächlich
begegneten wir nach Besetzung der Gegend von Bialystok einem
sehr warmen Empfang und reger Unterstützung von seiten der
Arbeiterbevölkerung. Auf Massenversammlungen beschloß man,
in die Rote Armee einzutreten. Die Bauern brachten uns anfangs
\ 9 Pilsudski II
290 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
unter dem Einfluß der von Priestern und vom Adel geführten
Agitation Mißtrauen entgegen, gewöhnten sich aber sehr schnell
an uns und beruhigten sich. Die Landarbeiter sympathisierten
ausdrücklich mit uns. Alles dies, was wir also in dem von uns be-
setzten Teil Polens sahen, begünstigte unbedingt eine sozialisti-
sche Offensive und zeigte Bereitschaft, sie zu unterstützen.
Was man über die Erweckung nationaler Gefühle unter der
polnischen Arbeiterklasse im Zusammenhang mit unsrer Offen-
sive spricht, ist einfach die Folge des von uns verlorenen Feld-
zuges. Die Angst hat große Augen. Man darf auch nicht verges-
sen, daß es unter der Arbeiterschaft von Praga, Lodz und andren
Fabrikzentren bei unsrem Nahen vor die Tore von Warschau
dumpf gärte, daß diese Bewegung aber durch die Freiwilligen-
abteilungen der polnischen Bourgeoisie erstickt wurde. Das Rech-
nen mit einer Revolution in Polen, die unsrer Offensive entgegen-
käme und die Zertrümmerung des Werkzeuges der Bedrängung
in der Hand der polnischen Bourgeoisie zur Folge hätte, war sehr
berechtigt und wäre, wenn wir keine Niederlage erlitten hätten,
von vollem Erfolg gekrönt worden.
Konnte Europa diese sozialistische Bewegung mit dem Aus-
bruch einer Revolution im Westen beantworten? Die Ereignisse
bejahen diese Frage. Unsre schnelle und siegreiche Offensive
bewegte ganz Europa und brachte es in Erregung, hypnotisierte
alle und jeden einzelnen und zog aller Augen nach Osten. Alle
Zeitungen, seien es Organe der Arbeiterschaft oder der Bour-
geoisie, beschäftigten sich einzig und allein mit einer Frage: mit
der bolschewistischen Offensive. Dieser Gedanke war allgemein,
man schenkte dieser Sache überall gespannte Aufmerksamkeit.
Die deutschen Arbeiter traten offen gegen die Entente auf, lie-
ßen Eisenbahntransporte mit Ausrüstung und Verpflegung, die
Frankreich Polen sendete, zurückgehen, weigerten das Ausladen
von französischen und englischen Schiffen mit Waffen und Mu-
nition in Danzig, verursachten Eisenbahnunfälle usw. — mit
einem Wort: sie führten einen aktiven revolutionären Kampf
zugunsten Sowjetrußlands. Aus Ostpreußen, sobald wir mit ihm
in Berührung kamen, strömten uns Hunderte und Tausende von
Freiwilligen zu, Spartakisten und parteilose Arbeiter, die unter
der Fahne der Roten Armee eine deutsche Schützen-Brigade bil-
deten.
Man muß bemerken, daß das polnische revolutionäre Komitee
ebenfalls beschloß, eine polnische Rote Armee zu bilden, die im
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 291
beschleunigten Tempo zu entstehen begann, im Augenblick uns-
rer Niederlage aber ihre Organisation noch nicht beendet hatte.
In Deutschland siedete und kochte es; man wartete mit dem
endgültigen Ausbruch der Revolution nur auf den Augenblick,
wo es vom bewaffneten Revolutionsstrom unmittelbar berührt
wurde.
In England war die Arbeiterklasse ebenfalls von einer sehr
lebhaften revolutionären Bewegung erfaßt. Das Komitee des Ver-
kehrswesens begann einen offenen Kampf gegen die englische
Regierung, deren Lage stark erschüttert war. Die Lage ähnelte
der der zaristischen Regierung während des Rates der Arbeiter-
delegierten im Jahre 1905.
In Italien brach ein wirklicher Aufstand des Proletariats aus.
Die Arbeiter besetzten Fabriken und Industrieanlagen und bilde-
ten ihre Ausschüsse. Die Revolution hätte zweifellos einen rie-
senhaften Umfang angenommen, wenn die Sozialdemokraten
nicht ihre niederträchtige Tätigkeit entwickelt hätten.
In allen Ländern Europas kam die Stellung des Kapitals ins
Wanken. Die Arbeiterklasse erhob das Haupt und griff zu den
Waffen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß im Falle unsres Sie-
ges an der Weichsel die Flammen der Revolution das ganze euro-
päische Festland ergriffen hätten.
Nach einem verlorenen Krieg ist es natürlich leicht, politische
Fehler und Irrtümer zu entdecken. Doch die soeben geschilderte
Lage spricht für sich. Eine Revolution von außen war möglich.
Das kapitalistische Europa war tief erschüttert, und der pol-
nische Krieg hätte vielleicht zum Bindeglied zwischen der Okto-
berrevolution und der Revolution in Westeuropa werden können,
wenn unsre strategischen Fehler und unsre Niederlage auf dem
Kampffelde dies nicht verhindert hätten.
IX. Das Forcieren des Njemen- und Szczaraflusses
Die weitere Offensive unsrer Nordgruppe entwickelte sich un-
aufhaltsam und erfolgreich. Im Raume Zyrmuny —Lida erlitt
der Feind eine bedeutende Niederlage und verlor viel Gefangene
und Artillerie. Die 16. Armee und die Mozyrz-Gruppe hatten an-
haltend gleiche Erfolge.
Am 18. Juli wies das Oberkommando der Front weitere Auf-
gaben zu (Skizze 9). Die 4. Armee erhielt den Befehl, am 21. Juli
den Njemenfluß südlich Grodno zu forcieren, die 15. Armee, den
<19*
292 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
Njemen am 22. Juli, die 3. Armee, den Njemen mit ihren Haupt-
kräften im Gebiet der Szezaramündung, die 16. Armee aber, den
Szczarafluß nördlich von Slomin zu forcieren. Es bestanden nach-
folgende Trennungslinien: zwischen der 4. und 15. Armee die
Linie Skidel — Indura, zwischen der 15. und 3. Armee Eisenbahn-
station Mosty —Ros; zwischen der 3. und 16. Armee beließ man
die vorherige Trennungslinie.
Das polnische Oberkommando bereitete inzwischen seinerseits
ebenfalls eine neue Operation vor. Es beabsichtigte den Lauf des
Njemenflusses und der Szczara um jeden Preis zu halten, und
wollte im Raum von Grodno eine Stoßgruppe von 6 Infanterie-
Divisionen bilden, um mit ihr einen Stoß gegen den Flügel uns-
rer Hauptgruppe auszuführen. Zu diesem Zweck marschierten
die 5., 8. und 10. Infanterie-Division auf Grodno, wogegen die in
Bialystok versammelte 9. und 17. Infanterie-Division und drei
Ulanenregimenter über Kuznice von Westen auf Grodno vorgin-
gen, wo die 2. litauisch-weißrussische Infanterie-Division sich
bereits befand (Skizze 10).
Die schnelle Operation des 3. Kavallerie-Korps zerschlug alle
polnischen Pläne. Schon am 19. Juli wurde die Festung Grodno
durch einen Raid genommen. Die litauisch-weißrussischen Ab-
teilungen waren zersprengt und wurden in Unordnung aufs West-
ufer des Njemenflusses zurückgedrängt. Abteilungen der 15. Ka-
vallerie-Division nahmen die Stadt Kuznice ein, die 10. Kaval-
lerie-Division aber besetzte Skidel und wartete das Herankom-
men der Fußtruppen der 4. Armee ah. Die Masse der polnischen
Infanterie kam inzwischen an die Stellungen unsrer Kavallerie-
divisionen heran, ging zu entschlossenem Angriff über und be-
gann sie zurückzudrängen. Während am Westufer des Njemen
die 15. Kavallerie-Division in die Festung zurückgedrängt wurde
und sich am Flußufer festsetzte, kämpfte die 10. Kavallerie-Divi-
sion einen erbitterten Kampf gegen die auf dem Vorfeld von
Grodno aus der Richtung Lida entwickelten „weißen46 Divisio-
nen der Polen. Inzwischen trat aber die Infanteriemasse der 4.
Armee aus der Grodnoer Heide heraus und fiel den vorgehenden
polnischen Divisionen in Flanke und Rücken. Sie wurden über
den Haufen geworfen, erdrückt und in völliger Unordnung in
südlicher Richtung auf die Eisenbahnstation Mosty zurückgetrie-
ben. Truppen der 15. Armee verlegten ihnen den Rückzug und
schlugen sie endgültig, indem sie ihre Demoralisierung verur-
sachten und sie aufs Westufer des Njemen zurückwarfen. So un-
M. TUCHATSCHEWSK.Y, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 293
günstig endete der von den Polen unternommene Versuch, eine
Gegenstoß gruppe zu bilden. Unsre Truppen griffen entschlossen
an und forcierten auf der ganzen Frontbreite nach einer Reihe
von Kämpfen den Njemenfluß. Die 16. Armee fing nach der For-
cierung des Szczaraflusses auf dem Vorfeld von Wolkowysk einen
starken polnischen Gegenangriff auf. Er wurde abgewiesen, wo-
bei die Polen viele Gefangene und Geschütze einbüßten. Unsre
Offensive schritt an der ganzen Front weiter vor.
Nach Eintreffen der Nach-
richt über die Einnahme
von Grodno gab der Oberste
Führer der Westfront die
Weisung, bis zum 12. August
Warschau zu erobern.
Die Frage, ob es nötig
war, an der ethnographi-
schen Grenze Polens haltzu-
machen, ist tatsächlich eine
verlockende Streitfrage. Die
Mehrzahl unsrer Schriftstel-
ler weist darauf hin, daß es
bequemer war, dort stehen-
zubleiben, die Etappe ein-
zurichten, das Nachrichten-
wesen zu verbessern und die Eisenbahnlinie wiederherzustellen,
die Ergänzungstransporte einzureihen, die 60 000 Mann stark
in Staffeln den vorgehenden Truppen folgten, danach aber erst,
nach einer solchen Verbesserung und Verstärkung eine neue Of-
fensive zu beginnen, um die polnische Aj^mee endgültig zu ver-
nichten.
Eine derartige Auffassung der Sachlage ist tatsächlich sehr ver-
lockend. Um wieviel angenehmer ist es anzugreifen, wenn die
Eisenbahnen in Ordnung sind, wenn das Nachrichtenwesen un-
unterbrochen tätig ist, mit auf ihren vollen Stand ergänzten Ab-
teilungen, während der Feind demoralisiert und in Zersetzung
begriffen ist! Gestaltete sich aber die Lage tatsächlich derart?
Unsre unablässige Verfolgung demoralisierte die polnischen
Truppen endgültig. Nach dem Zeugnis französischer und polni-
scher Offiziere büßten die Truppen alle Widerstandskraft und
Ausdauer ein. Die Etappe der Polen wimmelte von Deserteuren.
Es gab keine Hoffnung auf Rettung; alles flüchtete, ohne im
SKIZZE Nr. 10.
294 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
kleinsten Gefecht standhalten zu können. Und dieser Mangel an
Ausdauer herrschte nicht allein unter den Truppen, sondern auch
unter den polnischen Feldherren.
Konnte diese Lage, in der wir trotz zahlenmäßiger Unterlegen-
heit dem Gegner überlegen waren, weiter fortdauern, falls wir an
der polnischen Grenze stehengeblieben wären? Sicherlich nicht!
Wenn dieses Stehenbleiben uns die Möglichkeit geboten hätte,
die Ergänzung der Truppen durchzuführen, unsere Etappe zu
verstärken und den Aufbau der angreifenden Armeen zu ordnen,
so besaßen die Polen in dieser Hinsicht selbstverständlich noch
weit größere Möglichkeiten. Man darf nicht vergessen, daß da-
bei nicht nur die Existenz der kapitalistischen Welt Polens, son-
dern diejenige von ganz Europa auf dem Spiel stand. Munitions-
und Waffentransporte aus Frankreich und England strömten der
polnischen Armee ununterbrochen zu. Streiks und tätlicher Wi-
derstand deutscher Arbeiter in Danzig und auf den Eisenbahnen
wurden durch französische und englische Truppen mit Gewalt
unterdrückt, die für das Ausladen und Verladen des notwendigen
Nachschubs sorgten. Das polnische Kapital spannte alle seine
Kräfte an und entfaltete eine wütende Agitation gegen die bol-
schewistische Offensive. Die Priester stellten sich ganz in seinen
Dienst und riefen die polnische Bevölkerung zur nationalen
Selbstverteidigung auf. Die Bildung von Freiwilligen-Bataillonen
der Bourgeoisie ging gut vonstatten. Wenn wir nun den Polen
erlaubt hätten, diese Tätigkeit ungestört durchzuführen, so hät-
ten wir nach Verlauf von zwei oder drei Wochen, die wir zur
Beendigung unserer Arbeit benötigten, zahlenmäßig bedeutend
überlegenen Heeren gegenübergestanden und hätten in strategi-
scher Hinsicht wieder unsere Zukunft auf eine Karte setzen müs-
sen. Angesichts der von der polnischen Armee erlittenen Erschüt-
terung waren wir berechtigt und verpflichtet, unsere Offensive
fortzusetzen. Unsere Aufgabe war schwierig, gewagt und ver-
wickelt; aber Weltprobleme kann man nicht mit Hilfe leichter
Aufgaben entscheiden.
X. Der Kampf am Narew und Bug
Ende Juli beginnen unsere Kämpfe am Narew- und Bugfluß.
Zum ersten Male seit Beginn der Operationen leisteten uns die
Polen hier zähen Widerstand.
Auf den Abschnitten der 4., 15. und 3. Armee mußten wir un-
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 295
bedingt den Biebrza-, Narew- und Nurzecfluß forcieren, die
wenig Übergänge boten und ein ernstes Hindernis bildeten. Die
Polen nützten dieses Hindernis aus, gruppierten ihre Truppen
etwas dahinter und leisteten uns sehr hartnäckig Widerstand.
Ihrem Erfolg kamen auch unsere ungenügenden Nachrichten-
mittel und die dadurch verursachten Schwierigkeiten der Füh-
rung zugute, was den Kämpfen oft den Charakter der Uneinheit-
lichkeit gab und selbst-
verständlich den Erfolg
hemmte. Insbesondere be-
merkte man dieses im
Abschnitt der 16. Armee,
die eine ausgedehnte
Front von etwa 80 Werst
einnahm und nur fünf
Schützen-Divisionen be-
saß. Die Lage der 16. Ar-
mee erschwerte noch die
Festung Brzesc, die in
ihrer Flanke lag.
Nach Forcierung des
Njemen ordnete der Be-
fehl vom 23. Juli die wei-
tere Offensive an. Den
Armeen der Westfront
wurde aufgegeben, am
3. August die Linie Ostrol^ka —Ostrow —Kosow —Drohiczyn —
Biala — Wlodawa zu erreichen. Man setzte folgende Trennungs-
linien fest: zwischen der 4. und der 15. Armee Indura — So-
kolka — Zambrow — Pasieki einschließlich für die 4. Armee; zwi-
schen der 15. und der 3. Armee Ros — Strabla — Brok einschließ-
lich für die 15. Armee; zwischen der 3. und der 16. Armee
Dereczyn —Bahnhof Hajnowka — Bodki — Miedzna einschließlich
für die 3. Armee; zwischen der 16. Armee und der Mozyrz-
Gruppe Brzesc — Miedzyrzecz (Skizze 11).
Das Kavallerie-Korps, das gegenüber den Hauptkräften der
4. Armee weiterhin einen bis zwei Tagesmärsche gewann, rückte
auf Osowiec vor und eroberte nach kurzem Kampf diese Festung.
Sein weiterer Vormarsch wurde auf Lomza gerichtet. Ihm folgte
die 12. Schützen-Division. Die 18. und die 53. Division erreichten
das Narew-Ufer im Abschnitt Str^kowa Gora —Babino, ver-
296 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
wickelten sich in entscheidende Kämpfe, forcierten den Fluß,
doch der unentschiedene Kampf dauerte mit wechselndem
Glück an.
Die 15. Armee, die die versumpften Ufer des Narewflusses er-
reicht hatte, begann ebenfalls unentschiedene frontale Kämpfe.
Die 3. Armee focht nach Erreichung der versumpften Ufer des
Nurzecflusses recht ungeordnet. Der Führer der 3. Armee, Ge-
nosse Lasarewitsch, erkrankte zu jener Zeit, konnte sich nicht
rühren, und die Führung der Armee kam etwas ins Wanken. Die
3. Armee erhielt tatsächlich die leichteste Aufgabe: sie hatte
keine ernstlichen, natürlichen Hindernisse vor sich und besaß
genügende Stoßkraft.
Das Kavallerie-Korps langte vor Lomza an, stieß mit der 15.
Kavallerie-Division von Norden vor und setzte die 10. Kavallerie-
Division auf das Südufer des Narewflusses über. Doch die Kämpfe
führten hier erst allmählich zu einem Ergebnis. Erst mit Hilfe
der 12. Schützen-Division gelang es, dieser Festung am 2. August
Herr zu werden.
Die 53. Schützen-Division forciert endlich am 1. August den
Narewfluß im Raum von Str^kowa Gora und stößt in die Flanke
des Gegners, welcher der 18. Division Widerstand leistet.
Die 18. Schützen-Division überschreitet den Narew in der Rich-
tung Jezioro und rückt unter erbitterten Kämpfen vor. So be-
ginnt der Gegner, der an der ganzen Front der 4. Armee zurück-
geworfen und überflügelt wurde, nun auch vor der 15. und der
3. Armee zu weichen, die ihm auf den Fersen folgen und ihn
durch fortwährende Nachhutkämpfe beunruhigen.
Bei der 16. Armee standen die Dinge weniger günstig. Das
Oberkommando der Front wies angesichts der weit ausgedehnten
Front dieser Armee auf die Notwendigkeit hin, ihre Hauptkräfte
auf dem rechten Flügel zu gruppieren, um zusammen mit der
Hauptgruppe der Front den feindlichen Widerstand rasch zu
brechen. Doch die Festung Brzesc fesselte die Aufmerksamkeit
der 16. Armee und zog ihre Hauptkräfte ab, obwohl diese
Festung hei der Stärke ihrer Besatzung uns keinesfalls bedrohte.
Die auf riesigem Raum auseinandergezogene 27. und 8. Schüt-
zen-Division kämpften längs des Bugflusses erfolglos und hatten
keine Möglichkeit, den Flußübergang zu forcieren. Erst nach der
Einnahme von Brzesc nimmt die 16. Armee die befohlene Grup-
pierung an und überschreitet den Bug. Die Offensive entwickelt
sich wieder erfolgreich. Die Mozyrz-Gruppe, die der 16. Armee
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 297
bei der Eroberung von Brzesc zu Hilfe gekommen war, geht
gleichfalls über den Bugfluß und führt die erhaltene Aufgabe
aus.
In Anbetracht dessen, daß die 4. und die 15. Armee den Narew-
fluß nochmals würde forcieren müssen, und unter Berücksichti-
gung des sich verstärkenden Widerstandes des Gegners wird die
Trennungslinie zwischen der 4. und der 15. Armee von Zambröw
über Ostrol^ka gezogen. Auf diese Art umgeht die ganze 4. Armee
den Narewfluß ohne Schwierigkeiten.
Die Kämpfe der Hauptgruppe unserer Front am Narew und
an der Biebrza dauerten im ganzen vom 28. Juli bis zum 1. Au-
gust. Hier wurden wir zum ersten Male ernstlich aufgehalten. Im
Abschnitt der 16. Armee aber stand es viel schlimmer. Infolge
der obenerwähnten Kräftezersplitterung gelang es der 16. Armee
erst am 6. August, den Bug zu forcieren.
Diese letzte Stockung, die weder in der Widerstandskraft des
Feindes noch in Schwierigkeiten des Flußübergangs ihre Ursache
hatte, sondern größtenteils infolge von Mängeln in der Kräfte-
gruppierung entstand, verursachte eine abweichende Einschät-
zung der Lage beim Oberkommando der Front und bei der Ober-
sten Heeresleitung. Aus dem Hughesgespräch vom 8. August er-
sehen wir, daß nach der Meinung der Obersten Heeresleitung
die Hauptkräfte der Polen am linken Bugufer versammelt und
zur Annahme einer neuen Entscheidungsschlacht bereit wären.
Deshalb hielt es die Oberste Heeresleitung für zweckmäßiger,
den Massenangriff unsrer Nordgruppe gegen Westen einzustellen
und mit der Hauptkraft den linken Flügel der feindlichen Haupt-
gruppe anzugreifen, um die polnische Armee noch vor Errei-
chung der Weichsel endgültig zu zersprengen.
Nach den Nachrichten der Kundschafterstelle der Westfront
stellte sich die Lage ganz anders dar. Die Hauptgruppe der Po-
len befand sich weiter in der Richtung unseres Hauptangriffs.
Das gegenseitige Kräfteverhältnis stellt die Tabelle IV dar.
Demzufolge bestand die natürliche und einzig richtige Aufgabe
darin, die nördliche Hauptgruppe des Gegners zu zerschlagen zu
suchen. Das war um so natürlicher, als es weniger komplizierte
Bewegungen und Zeitverlust erforderte als irgendeine andere
Operation. Vor allem aber konnte man schon dessen völlig sicher
sein, daß der Feind den Rückzug hinter die Weichsel begonnen
hatte. Infolgedessen würde das Abbiegen unsres Stoßes nach Sü-
den einen Stoß ins Leere und einen Zeitverlust bedeutet haben
298 M. TUCH ÄTSCHE WSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL
TABELLE
Gegenseitiges Kräfteverhältnis
POLEN
Truppenkörper Bajonette Säbel Anmerkung
2. lit.-weißruss. Inf.-Div. . ] 5. Inf.-Div. (1 Brig.) • • • j 9. Inf -Div. (1 Brig.) . . . j i 7 300 1400 Zusammen
bß a 10. Inf.-Div
PQ 3. Res.-Div
© 17. Inf.-Div 17 200 1555
i 1. Res.-Div
u so 8. Inf.-Div J
£ 1. lit.-weißruss. Inf--Div. . 4. Inf.-Div. (1 Brig.) . . . < 6. Inf.-Div. (1 Brig.) . . . J i — —
Zusammen 29 600 3 850
15. Inf.-Div )
4. Inf.-Div. (1 Brig.) . . . 2. Inf.-Div > 10 900 1000
bC a 16, Inf.-Div
m 14. Inf.-Div
© 5 Ersatz-Bataillone . . . ,
'S 1. Geb.-Div ) Andre Truppen-
:fl CD 9. Inf.-Div körper wurden
Gruppe Jaworski 4 900 1000 nicht festgestellt,
Abteilung Bulak- da sie sich weit
Batachowicz rückwärts befan-
den
Zusammen 15 800 2 000
fl
fc/ Polnischerseits nahmen am
S) pp Kampfe teil ? ?
45 400 5 850
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 299
IV
am Narew und am Bug
UNSRE TRUPPEN
Truppenkörper Bajonette Säbel Anmerkung
4. Armee
12., 18. und 54. Sch.-Div.. |
164. Sch.-Brig t 9 568 4 861 Zusammen
3. Kav.-Korps J
8 15. Armee
'■Ö rC| 4. Sch.-Div '
o 11. Sch.-Div ► 12 729 465
tO 16. Sch.-Div
Ä 33. Sch.-Div ^
3. Armee
5., 6., 21. u. 56. Sch.-Div. 9 205 914
Zusammen 31492 6 240
16. Armee
2. Sch.-Div
hD 3 8. Sch.-Div
PQ 10. Sch.-Div 10 584 244
CD 17. Sch.-Div
27. Sch.-Div
?3
SÖ
cn Mozyrz-Gruppe
57. Sch.-Div 1 A 1 QQ Die 48. Sch.-Div.
Kombinierte Abteilungen / 4) Lyo an der Grenze Lett-
Zusammen 14 777 244 lands
a .
« f >■) Unsererseits nahmen am
»1 Kampfe teil ? ? Die 48. Sch.-Div.
P=J nicht eingerechnet,
die 4262 Bajonette
und 192 Säbel
46 269 6 484 zählte
300 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL
und die ganze Truppenmasse wäre in die am schwierigsten zu
bewältigende Richtung auf Warschau gelenkt worden. Daher er-
hielt das Oberkommando der Front die den Armeen erteilten
Befehle aufrecht und setzte die Offensive fort.
Heute, da wir wissen, was zu jener Zeit auf polnischer Seite
vorging, können wir ganz sicher feststellen, daß die Westfront mit
ihren Operationen recht hatte. Schon am 6. August beschloß man
in einer Sitzung des Engeren Kriegsrats in Warschau, sich von
unsren verfolgenden Truppen zu lösen und nach Durchführung
einer wesentlichen Umgruppierung hinter der Weichsel zur Ge-
genoffensive überzugehen. Natürlich wäre es uns viel angeneh-
mer gewesen, die Entscheidungsschlacht zu beginnen, ehe die
Weichsel erreicht war; doch der Feind wich zurück. Man mußte
sich auf die schwierigste, folgeschwerste und gefährlichste Auf-
gabe vorbereiten, auf den Kampf gegen die gesamten polnischen
Streitkräfte, die sich auf die breite, schnell strömende und schwer
überschreitbare Weichsel stützten.
Unsere Nordarmeen rückten unter mittelstarken Kämpfen
ständig vor. Die 16. Armee und die Mozyrz-Gruppe setzten mit
Leichtigkeit, stellenweise ohne Fühlung mit dem Gegner, ihre
Offensive fort.
Der Befehl vom 3. August stellte der Armee die Aufgabe, am
8. August die Linie Przasnysz — Makow —Wyszkow —Parczew zu
erreichen.
Diese Aufgabe wurde erfüllt.
XI. Die Lage an der Weichsel
Die fortgesetzten Mißerfolge und der andauernde Rückzug zer-
rütteten die Kampffähigkeit der polnischen Armee endgültig.
Das waren nicht mehr dieselben Truppen, mit denen wir im Juli
desselben Jahres zu kämpfen hatten. Völlige Demoralisierung
und der fehlende Glaube an die Möglichkeit eines Sieges unter-
gruben die Kräfte sowohl der Führer wie auch der Soldaten.
Man wich oft ohne jeglichen Grund zurück. Die Etappe war voll
von Deserteuren. Keinerlei Gegenmaßregeln konnten die Ord-
nung wiederherstellen und Disziplin durchsetzen. Überdies ka-
men noch verschärfte Klassengegensätze hinzu.
Mit Hilfe der mobilgemachten ganzen polnischen Bourgeoisie
und Intelligenz wurden die Arbeiterzentren unter Druck gesetzt;
aber in ihren Adern pochte die Rebellion.
M. TUCHATSGHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 301
Angesichts seiner völligen Niederlage ging Polen fieberhaft
daran, mit Hilfe des französischen Generalstabs und französi-
scher Waffen- und Versorgungstransporte seine Kampfkraft wie-
derzugewinnen. Zu jener Zeit hatte die polnische Armee noch
nicht ihren endgültigen Aufbau erlangt; jetzt aber ging die Neu-
bildung mit Volldampf vorwärts. Divisionen zweiter Linie mit
Regimentsnummern von 101 aufwärts erschienen nacheinander
an unserer Front. Schließlich tauchten sogar Formationen dritter
Linie, sogenannte Freiwilligen-Formationen, auf. Diese Forma-
tionen hatten trotz Jugend und Mangel an Ausbildung genügen-
den Kampf wert, denn sie bestanden größtenteils aus Elementen,
die dem Bürgertum und der Intelligenz angehörten, und da sie
einsahen, daß ihr Dasein auf dem Spiel stand, legten sie große
Entschlossenheit und Erbitterung an den Tag. Kurz: man führte
im Hinterlande jenseits der Weichsel, durchgreifende Vorbe-
reitungen, eine Mobilisierung neuer Kräfte und Aufstellung
neuer Formationen durch. Man sammelte das alles hastig und
brachte es in den hauptsächlichen Aufmarschrichtungen zum
Einsatz. Vor Warschau wurden die Befestigungen verstärkt.
Von Modlin bis Warschau und etwas weiter südlich schuf man
einen sehr starken Aufmarschraum. Hier sammelte man Truppen
aus allen Richtungen. Wenn während unsrer Kämpfe am Njemen
und an der Szczara das Kräfteverhältnis für uns günstig war, so
änderte sich jetzt die Lage wesentlich. Die Westfront zählte kaum
40 000 Bajonette. Die Kräfte der Polen stiegen dagegen nach den
Nachrichten unsres damaligen Kundschafterdienstes auf 70 000,
tatsächlich aber waren sie noch beträchtlicher.
Die polnische Führung, in der richtigen Erkenntnis ihrer aus-
sichtslosen Lage, faßt am 6. August — wahrscheinlich nicht ohne
Mitwirkung des französischen Generalstabs — den folgerichtigen
und kühnen Entschluß, die polnischen Truppen von unsren ver-
folgenden Massen zu lösen und an der ganzen Front eine allge-
meine Umgruppierung durchzuführen. In der Erkenntnis, daß
sich Polens Schicksal an der Weichsel entscheiden wird, sam-
melt die polnische Führung dort alle ihre Kräfte. Aus der Ge-
gend von Lemberg werden fast alle polnischen Einheiten abbe-
rufen. Man beläßt dort nur Abteilungen ukrainischer Partei-
gänger der Armee des Generals Pawlenko und die Reste der
6. Armee, die nach polnischen Quellen*) aus kaum einer Kaval-
lerie-Division bestanden. Dennoch muß man vermuten, daß dort
*) Stan. Künstler, „Nasza ofensywa sierpniowa“ (Unsere August-Offensive).
302 M. TUCH ATS CHE WSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
auch etwas Infanterie verblieb. Diese ganze schwache Gruppe
erhielt die Aufgabe, das Petroleumbecken zu sichern. Alle übri-
gen Truppen werden mit der Eisenbahn nach dem Norden ge-
worfen. Das polnische Kommando läßt es auf den Verlust Gali-
ziens ankommen, hofft aber, die Hauptschlacht zu gewinnen und
dadurch das bürgerliche Polen zu retten. Deshalb wird die ganze
polnische Armee an der Weichsel konzentriert.
Auf unsrer Seite sah die Lage folgendermaßen aus: Die Trup-
pen der Westfront waren zwar erschöpft und körperlich ge-
schwächt, aber ihr Geist war kraftvoll und sie fürchteten den
Feind nicht. Der Gegner, der doppelt oder dreimal so stark war,
konnte unsren Angriff nicht zum Stehen bringen. Das Behar-
rungsvermögen der Offensive und des Sieges wirkte weiter. Wenn
wir aber unsre allgemeine strategische Lage beurteilen, so sehen
die Dinge nicht so rosig aus. Vor Beginn des polnischen Feld-
zuges hatte man schon die Vereinigung der Westfront mit der Süd-
westfront erwogen. Damals hielt die Oberste Heeresleitung eine
solche Vereinigung für verfrüht und beabsichtigte ihre Durch-
führung erst nach der Erreichung des Meridians von Brzesc. Das
sumpfige Polesien machte tatsächlich ein unmittelbares Zusam-
menwirken der West- mit der Südwestfront unmöglich; deshalb
war jene Entscheidung durchaus richtig gewesen. Als wir aber
nach Erreichung der erwähnten Kampflinie versuchten, die Ver-
bindung herzustellen, da ergab es sich, daß dieses infolge völligen
Mangels an Nachrichtenmitteln unausführbar war. Die West-
front konnte mit der Südwestfront nicht in Nachrichtenverbin-
dung kommen. Mit Hilfe der elenden Hilfsmittel, die wir be-
saßen, konnten wir diese Aufgabe nicht vor dem 13. oder
14. August durchführen; die Lage erforderte aber schon Ende
Juli unbedingt eine sofortige Zusammenfassung aller Truppen
unter gemeinsamem Befehl. In den Hughes-Gesprächen mit dem
Obersten Führer und in den Telegrammen finden wir diese Ange-
legenheit und die zu ihrer Verwirklichung angewandten Mittel
immer wieder berührt. Das Oberkommando der Front, das damit
rechnete, von einem Tag auf den andern die 12. Armee und die
1. Reiterarmee zu seiner Verfügung zu erhalten, stellte ihnen
schon im voraus die Aufgabe, die Hauptarmeen der Front nach
dem linken Flügel hin zu verstärken; doch die Sache zog sich
in die Länge, und diese Aufgabe blieb ungelöst.
Die Truppen der Südwestfront wirkten nicht mit den Haupt-
kräften der Westfront zusammen. Das rührte vor allem davon
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 303
her, daß die Südwestfront eine örtliche Aufgabe zu erfüllen
hatte, und zwar eine an sich sehr wichtige Aufgabe: die Be-
setzung der Hauptstadt Galiziens, der Stadt Lemberg. In dieser
Richtung wandten sich daher die wesentlichen Anstrengungen
der Südwestfront und gingen also mit den Kraftanstrengungen
der Westfront um mindestens 90 ° auseinander.
Die Lage gestaltete sich für die Westfront überaus ungünstig.
Beim Eintritt in die Weichselebene blieb sie auf ihre eigenen
Kräfte angewiesen, während ihr gegenüber die ganzen Streit-
kräfte der polnischen Armee versammelt waren. Dieser Umstand
wurde schon früher, beim Beginn unsrer Kämpfe an der Weich-
sel erläutert. Der Kundschafter dienst des Generalstabs wider-
sprach unseren Nachrichten über die Umgruppierung der Polen;
sie meinten, alle Kräfte, die an der Südwestfront waren, seien
weiter dort verbheben. Über diese Meinungsverschiedenheit fin-
det man einiges in den Hughes-Gesprächen wieder.
Dazu kam noch die Schwierigkeit, daß die Südwestfront ihren
Blick nach zwei Richtungen wenden mußte: auf Lemberg und
auf die Krimhalbinsel, von wo aus damals Wrangel seine Tätig-
keit entwickelte. Die andauernden Erfolge der Westfront ließen
gar keinen Zweifel an unsrem endgültigen Siege aufkommen.
Daher beabsichtigte man, aus der West- und der Südwestfront
eine Anzahl von Divisionen herauszuziehen, um sie gegen die
Krimhalbinsel zu werfen. Mehrmals war es notwendig, sich dem
zu widersetzen, daß unsre Truppen angetastet würden.
In großen Zügen kann man die strategische Lage folgender-
maßen skizzieren: die Polen hatten eine kühne und regelrechte
Umgruppierung durchgeführt, Galizien aufs Spiel gesetzt und
alle ihre Kräfte zum Hauptangriff gegenüber der entscheiden-
den Westfront zusammengezogen. Unsre Kräfte waren in diesem
wichtigen Augenblick zersplittert und nach verschiedenen Rich-
tungen gewandt. Die Anstrengungen der Obersten Heeresleitung,
die Hauptmasse der Südwestfront gegen Lublin zu richten, hat-
ten aus verschiedenen unvorhergesehenen Gründen keinen Er-
folg, und die Umgruppierung blieb in der Luft hängen.
Französische und polnische Schriftsteller vergleichen mit Vor-
liebe die Schlacht an der Weichsel mit der Schlacht an der
Marne. In Wirklichkeit aber besteht hier keineswegs Ähnlich-
keit.
Dagegen springt ein andrer Vergleich ins Auge: der Vergleich
mit den Operationen in Ostpreußen im Jahre 1914. Dort hatte
304 M. TÜCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL
sich Rennenkampf die Aufgabe gestellt, Königsberg zu erobern,
und schob seine ganze Armee nach Nordwesten, während sich
Ilindenburg nach Südosten hin, gegen den Flügel der Armee
Samsonows zurückzog. Das erlaubte ihm, ungestraft alle seine
Kräfte gegenüber der Hälfte der russischen Truppen zu ver-
einigen, die auf Unterstützung seitens ihres Nachbarn rechneten.
XII. Der entscheidende Angriff
Inzwischen entwickelte sich unsre Offensive unaufhaltsam. Es
wurde klar, daß es nicht der Zeitpunkt war, an Zaudern und Aus-
ruhen zu denken, sondern daß der Augenblick gekommen war,
da man mit einem letzten Schlag die weitgediehenen Ereignisse
entscheiden mußte. Mehrmals werden diesbezügliche Weisungen
erteilt, die am 12. August durch die Anordnung des Oberbefehls-
habers unterstrichen werden, daß Warschau möglichst schnell
genommen werden soll. Der Befehl des Genossen Trotzki weist
ebendiesen Charakter auf.
Für die Westfront war es ganz klar, daß die Hauptkräfte des
Gegners gegenüber unsrer Hauptgruppe im Raum Ciechanow —
Modlin — Warschau versammelt worden waren. Nach unsren Be-
rechnungen verfügte der an Zahl verstärkte Gegner hier über
70 000 Bajonette und Säbel. In den übrigen Richtungen waren
seine Kräfte bedeutend schwächer. Nur die Mozyrz-Gruppe traf
auf ihrem Wege auf zäheren Widerstand „weißer“ polnischer
Abteilungen.
Der linke Flügel, das heißt die Gruppierung der Südwestfront,
beunruhigte die Westfront die ganze Zeit hindurch. In der Er-
wartung, die Reiterarmee würde der Westfront jeden Augenblick
zur Verfügung gestellt werden und man würde mit ihr die Ver-
bindung auf nehmen können, beabsichtigte man, eine starke
Gruppe mit der Richtung auf Lublin zu bilden, indem man dort
die Hauptkräfte der 12. Armee und der 1. Reiterarmee zusam-
menzog (Skizze 12). Wie bereits erwähnt, entstand eine Lage,
in der man rasch und entschlossen handeln mußte. Dabei betru-
gen die Kräfte der Westfront nicht über 40 000 Bajonette und
Säbel. So kam es, daß wir einen doppelt so starken Gegner an-
greifen mußten, der sich überdies auf ein so mächtiges Hinder-
nis wie die Weichsel stützte. Es war selbstverständlich, daß man
durch einen Teilsieg, durch Vernichtung zunächst eines Ab-
M. TUGHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 305
Schnitts der polnischen Front die Entscheidungsschlacht hätte
gewinnen können.
Bei der Wahl der Richtung für den Hauptangriff mußte man
nicht nur an ihre taktischen Vorteile für den Kampf denken,
sondern auch die lebenswichtigen Hauptverbindungen des Geg-
ners berücksichtigen. Unsren Stoß gegen die Mitte, auf War-
schau zu richten,
überstieg unsre
Kräfte. So blieb
nur die Zertrüm-
merung eines Flü-
gels, des rechten
oder des linken,
übrig. Wenn wir
dem Gegner in die
Flanke fielen, be-
drohten wir seine
Verbindungen mit
Danzig. Berück-
sichtigt man, daß
die revolutionäre
Bewegung in
Deutschland den
normalen Waffen-
und Munitions-
nachschub aus
Frankreich für die
polnische Armee
unterband, daß die
Verbindung mit
Danzig eine sehr wichtige Ader bildete, so muß man erkennen,
daß dieses Manöver uns nicht nur in die Flanke der polnischen
Hauptgruppe führte, sondern daß es auch die wichtigsten polni-
schen Verbindungen gefährdete. Einen weiteren Vorteil bildete
der Umstand, daß unsre Truppen zu diesem Stoß keinerlei
wesentliche Umgruppierungen vorzunehmen brauchten, wodurch
man Zeit ersparte und es nicht nötig wurde, unsre rückwärtigen
Hauptverbindungslinien zu ändern. Sie liefen von Wilno und
Lida nach Südwesten.
Einen Nachteil der erwähnten Angriffsrichtung bildete der
Umstand, daß die Truppen, die den Flankenangriff ausführten,
20 Pilsudski II
306 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
gewissermaßen Ostpreußen den Rücken zuwandten, wodurch die
operative Bewegungsfreiheit im Falle eines Mißerfolges stark
eingeschränkt wurde und sogar eine gewisse Gefahr entstand.
Ein Angriff auf den rechten Flügel der polnischen Haupt-
gruppe stellte die Armeen der Westfront vor die Aufgabe, die
ganze strategische Front der Polen zu durchbrechen, was — ab-
gesehen von den wesentlichen Schwierigkeiten infolge der feind-
lichen Übermacht — durch die Notwendigkeit eines Weichsel-
übergangs in dieser Gegend erschwert wurde. Außerdem erfor-
derte dieser Angriff recht verwickelte Umgruppierungen unsrer
Kräfte und eine Änderung unsrer rückwärtigen Verbindungen
auf Kleszczele und Brzesc. Es war selbstverständlich, daß der be-
deutend verstärkte Gegner uns nicht erlauben würde, diese Be-
wegungen ungestraft durchzuführen.
Einen Angriff in zwei Gruppen schloß unsre zahlenmäßige
Schwäche völlig aus. Man mußte sich also zu einem Angriff auf
den linken polnischen Flügel entschließen, sich dabei in der
Richtung Deblin sichern und auf das Herankommen der Kräfte
der Südwestfront in der Richtung auf Lublin während dieser
Operation rechnen.
Am 8. August ergeht der Befehl des Oberkommandos der
Front, die polnischen Streitkräfte anzugreifen und die Weichsel
zu überschreiten, wobei der Beginn auf den 14. August festge-
setzt wird (Skizze 12). Der Hauptstoß ist nördlich von War-
schau beabsichtigt. Die 4. Armee sichert sich bis zu einem gewis-
sen Grad gegen Thorn und forciert die Weichsel mit ihren Haupt-
kräften bei Plock. Die 15. Armee überschreitet den Strom in der
Richtung auf Lowicz, die 3. Armee im Raum von Wyszogrod —
Modlin. Die 16. Armee sichert sich gegen Garwolin und geht
nördlich von Warschau mit ihren Hauptkräften über die Weich-
sel. Die Mozyrz-Gruppe greift weiter an, um die Weichsel bei
Deblin zu überschreiten. Auf Anforderung der Westfront wurde
sie durch die 58. Schützen-Division der zur Südwestfront gehöri-
gen 12. Armee verstärkt. Als Trennungslinien bezeichnete man:
zwischen der 4. und der 15. Armee die Linie Makow — 0 jrzyn—
Plock —Pi^tek; zwischen der 15. und der 3. Armee die Linie
Brok —Nasielsk —Wyszogrod —Sochaczew; zwischen der 3. und
der 16. Armee die Linie Miedzna —Modlin —Blonie; zwischen
der 16. Armee und der Mozyrz-Gruppe die Linie Brzesc — Wieprz-
mündung; zwischen der West- und der Südwestfront setzte der
Oberste Führer die Linie Wlodawa — Pulawy fest.
flHSBNiMMHRim
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 307
So richteten wir auf den rechten Flügel der polnischen Haupt-
gruppe nicht weniger als 14 Schützen-Divisionen und das 3. Ka-
vallerie-Korps. Wenn wir überdies die moralische Überlegenheit
unsrer Truppen in Betracht ziehen, so konnten wir hier mit vol-
lem Recht auf den Sieg rechnen.
Das sehr weitgreifende Umgehungsmanöver unsrer Armeen
verdient Aufmerksamkeit. Diese Operation stützt sich aber auf
feste Unterlagen. Wenn der Gegner uns am rechten Weichselufer
mit einem Gegenangriff begegnet wäre, so wäre unsre Gruppie-
rung stark konzentriert und zur Überflügelung fähig gewesen.
Wenn aber die „weißen66 polnischen Truppen nicht imstande
waren, den offenen Kampf mit uns aufzunehmen, und hinter die
Weichsel zurückgingen, so wäre es um der günstigeren Lage wil-
len unerläßlich gewesen, dieses ungemein schwere Hindernis in
breiter Front zu überschreiten. Dazu zwang uns der Material-
mangel, besonders an Pontons.
Am 6. August, zwei Tage vor diesem Entschluß, legten die Po-
len in ihrem Hauptquartier folgenden Operationsplan fest
(Skizze 12):
In der Richtung Lublin verbleiben lediglich ukrainische Par-
tisanen-Abteilungen und die polnische Kavalleriegruppe in der
Stärke von eineinhalb Divisionen. Alle übrigen Kräfte wirft man
an die Weichsel und verteilt sie auf die fünf Armeen.
Gegenüber unsrem rechten Flügel sammelt sich die 5. Armee
mit drei Infanterie-Divisionen, einer Infanterie-Brigade und einer
großen Anzahl von Grenzschutztruppen und verschiedenen ande-
ren Formationen, zusammen 29 000 Bajonette und Säbel. Als
Operationsgebiet gilt der Raum Modlin — Makow. Ihre Aufgabe
besteht darin, den Angriff der Bolschewiken nicht über den Bug
und den Narewfluß durchzulassen.
Die 1. Armee sammelt sich mit vier Infanterie-Divisionen, einer
Infanterie-Brigade und einer bedeutenden Anzahl von Freiwilli-
gen-Truppen und verschiedenen Gelegenheitsabteilungen inner-
halb des Warschauer Brückenkopfs; sie zählt gegen 40 000 Ba-
jonette und Säbel.
Die 2. Armee mit zwei Infanterie-Divisionen und verschiedenen
kleineren Abteilungen verteidigt den Weichselabschnitt südlich
Warschau bis Dublin und zählt 16 000 Bajonette.
Die 4. Armee sammelt sich mit drei Infanterie-Divisionen süd-
westlich des Wieprzflusses, um unsren angreifenden Hauptkräf-
ten in die Flanke zu fallen. Den Aufmarsch der 4. Armee sichert
20:
308 M. TÜCHATSGHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL
die 3. Armee, die aus drei Infanterie-Divisionen und einer Ka-
vallerie-Brigade bestellt, welche in der Richtung auf Lublin vor-
rücken. Diese beiden Armeen zählen bis zu 22 000 Bajonetten.
Bei der Beurteilung dieses polnischen Aufmarschs muß man
angesichts der gegebenen Verhältnisse und der entstandenen Lage
seine völlige Zweckmäßigkeit zugeben. Dennoch scheint es, ob-
wohl ein völliger Sieg errungen wurde, daß in der entscheiden-
den Richtung (auf Lublin) zu wenig Kräfte zusammengezogen
wurden. Wenn nicht un-
sererseits Fehler unter-
laufen und wenn die in
dieser Richtung sichern-
den Truppen besser zu-
sammengefaßt worden
wären, so hätte diese
Gruppe nicht nur nicht
aktiv in den Kampf ein-
greifen können, sondern
sie wäre sogar erdrückt
worden (Skizze 13).
Auf diese Art konnten
unsrer 4., 15. und 3. Ar-
mee mit zwölf Infanterie-
Divisionen und zwei Ka-
vallerie-Divisionen die
Polen kaum dreieinhalb
Infanterie-Divisionen —
allerdings in voller Stärke — und verschiedene kleine Abteilun-
gen entgegenstellen. Wir besaßen hier die Möglichkeit, dem Feind
einen zermalmenden Schlag zu versetzen und seinen linken Flügel
sowie seine rückwärtigen Verbindungen bloßzulegen. Die 16. Ar-
mee griff die stärkste polnische Gruppe frontal an und mußte sie
im Verlauf der ganzen Operation binden. Unser linker Flügel
aber war hinsichtlich seiner Kräfte in einer ungünstigen Lage.
Gegen die zwei Divisionen der Mozyrz-Gruppe und die drei Divi-
sionen der 12. Armee, die auf Lublin vorgingen, setzten die Polen
sechs auf vollen Stand gebrachte Divisionen an und hatten hier
dadurch das Übergewicht. Wenn wir rechtzeitig die Reiterarmee
gegen Lublin hin zusammengezogen hätten, so wäre auch hier
unsre Armeegruppe den „weißen66 polnischen Truppen gefährlich
geworden. In diesem Falle hätten die Polen nicht nur keinen An-
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 309
griff aus dem Raum Dublin — Lublin wagen können, sondern sie
wären selbst in eine sehr schwierige Lage geraten und gewiß aufs
Westufer der Weichsel zurückgeworfen worden. Diese Umstände
zeigen deutlich, daß wir uns zur Offensive über die Weichsel
entschließen konnten und sollten, daß diese Offensive größte Aus-
sicht auf Erfolg gehabt hätte, wenn unsrerseits keine strategi-
schen Aufmarschfehler unterlaufen wären.
Die polnische 5. Armee ist nicht imstande, ihre Aufgabe zu er-
füllen. Sie wird durch
den entschlossenen
Angriff unsrer Nord-
armee geworfen und
gezwungen, auf das
westliche Weichsel-
ufer zurückzugehen.
Die 16. Armee beginnt
Kämpfe in der Rich-
tung auf Warschau.
Um diese Zeit er-
eignet sich an der Ver-
bindungsstelle zwi-
schen der 4. und der
15. Armee ein an sich
unbedeutender Vor-
fall, der aber im Ver-
lauf unsrer Opera-
tionen eine entschei-
dende Rolle spielte und den Anfang der Katastrophe bildete
(Skizze 14).
Der Stab der 4. Armee, der nach dem Beginn der Offensive
nach Ciechanow verlegt worden war, wurde unvermutet von klei-
nen feindlichen Abteilungen angegriffen, die zwischen die 4. und
die 15. Armee eingedrungen waren, so daß er schleunigst zusam-
menpacken und westwärts seinen Truppen folgen mußte. Da-
durch wurde die Verbindung zwischen dem Generalstab der
Front und dem der 4. Armee unterbrochen und bis zu unserem
Rückzug nicht mehr hergestellt, was natürlich eine Folge unsres
völligen Mangels an strategischen Verbindungsmitteln war.
Dieser taktische Zwischenfall an sich wurde sehr schnell aus-
geglichen. Die 15. Armee sendet ihre Reserve-Divisionen auf
ihren Flügel, stellt rasch die frühere Lage wieder her, und unsre
310 M. TUCHATSGHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
Offensive nimmt ihren Fortgang. Aber im Laufe der Ereignisse
stellte sich heraus, daß dieser Zwischenfall kein gewöhnlicher
Zufall war. Die polnische 5. Armee, die hinter die Weichsel zu-
rückgedrängt wurde, erhielt den Befehl, zum Angriff überzu-
gehen, und begann ihn auf der ganzen Front der 15. und der 3.
Armee.
Nun dauerte unsre Offensive schon fünf Wochen. Fünf Wo-
chen hindurch suchten wir die lebendigen Kräfte des Feindes
aufzuspüren und sie in einem entscheidenden Angriff endgültig
zu vernichten. Fünf Wochen lang wichen die „weißen“ polni-
schen Armeen, infolge der Auflösung ihrer Truppen, einer Ent-
scheidungsschlacht aus und entschlossen sich erst an der Weich-
sel, durch neue Formationen verstärkt, zum Kampfe. Wir wuß-
ten nicht rechtzeitig, wo wir dem Hauptwiderstand des Gegners
begegnen würden: an der Weichsel oder hinter der Weichsel. Wir
wußten aber, daß wür seine Hauptkräfte irgendwo finden und im
Entscheidungskampf vernichten mußten. Nun gab uns der Gegner
selber Gelegenheit, diese Aufgabe durchzuführen. Die 5. Armee,
die hinsichtlich Zusammensetzung und Geist der Truppen die
schwächste war, griff unsre 15. und 3. Armee an, während sich an
ihrer entblößten linken Flanke unsre frischesten und kampfkräf-
tigsten Truppen der 4. Armee befanden. Das Oberkommando der
Front konnte seine Freude darüber kaum unterdrücken; die 15.
und die 3. Armee erhielten Befehl, den feindlichen Angriff an
der ganzen Front mit kräftigem Gegenangriff zu beantworten und
den Gegner hinter den Wkrafluß zurückzuwerfen (Skizze 14);
die 4. Armee aber sollte sich gegen Thorn sichern und den Feind
mit allen Kräften im Flügel und im Rücken aus der Gegend
Raci^z — Drobin in der Richtung auf Modlin angreifen.
Der Untergang der feindlichen 5. Armee schien unabwendbar;
ihre Vernichtung hätte im weiteren Verlauf unsrer Operationen
die folgenschwersten Wirkungen gehabt. Aber den Polen war das
Glück hold. Unsre 4. Armee, deren neuer Führer die Verbindung
mit dem Generalstab der Front verloren hatte, war sich über die
Lage nicht klar. Ohne einen diesbezüglichen Befehl vom Ober-
kommando der Front zu erhalten, sicherte sie sich in einer schwer
definierbaren Weise im Raume Raci^z — Drobin und zersplitterte
auf diese Weise ihre Kräfte auf dem Abschnitt Wloclawek —
Plock. Die feindliche 5. Armee war gerettet und griff, mit unsrer
aus vier Schützen- und zwei Kavallerie-Divisionen bestehenden
starken Armee im Rücken, ungestraft weiter unsre 3. und 15.
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 311
Armee an. Eine so ungeheuerliche und kaum vorstellbare Lage
machte es den Polen möglich, nicht nur die Offensive der 3. und
der 15. Armee zum Stehen zu bringen, sondern sogar die Truppen
Schritt für Schritt gegen Osten zurückzudrängen.
Inzwischen fegte die 16. Armee in einem kräftigen Angriff die
polnischen Truppen fort und kam schon ganz nahe an die Weich-
selübergänge heran, als ein Gegenangriff dieser Truppen sie zum
Zurückgehen zwang. Abermals geht sie zum Angriff über, und
nun beginnen Kämpfe, die mit wechselndem Glück ohne ent-
scheidende Ergebnisse geführt werden.
Am linken Flügel erreicht die 16. Armee kampflos die Weich-
sel; der rechte Flügel der Mozyrz-Gruppe erreicht sie ebenfalls
unbehindert. In der Richtung Parczew aber verwickelt sich die
Gruppe in ergebnislose Kämpfe.
Am 13. August wird endlich die 12. Armee dem Oberbefehls-
haber der Westfront unterstellt.
Angesichts der Notwendigkeit, den linken Flügel der West-
front zu stärken, gibt die Oberste Heeresleitung am 11. August
um 3 Uhr der Südwestfront die Weisung, ihre Gruppierung zu
ändern und die Reiterarmee unverzüglich nach Zamosc — Hrubie-
szow zu entsenden. Eine Berechnung der Zeit und der Entfernung
beweist, daß diese Weisung der Obersten Heeresleitung unbedingt
durchgeführt werden konnte, ehe die polnische Südgruppe ihren
Angriff begann. Selbst wenn sich die Ausführung etwas verzögert
hätte, so hätten sich die polnischen Truppen trotzdem einer un-
abwendbaren, vollständigen Niederlage ausgesetzt, da ihnen
unsre siegreiche Reiterarmee in den Rücken gefallen wäre.
Im Hinblick jedoch auf die Lage in Galizien, wo alle bisheri-
gen Truppenbewegungen auf Lemberg gerichtet waren, wurde
die Ausführung dieser Weisung hinaus geschoben. Am 12. August
teilt der Oberste Führer in einem Hughes-Gespräch mit, daß ihm
diese Verzögerung in der Ausführung seiner Anordnungen uner-
klärlich ist, und bestätigt seine Weisung nochmals. Als man end-
lich an ihre Durchführung ging, war es fast zu spät. Das
schlimmste war aber, daß sich unsre siegreiche Reiterarmee in
jenen Tagen in heftige Kämpfe um Lemberg verwickelte und vor
seinen befestigten Stellungen im Kampf gegen Infanterie, Kaval-
lerie und starke Fliegergeschwader nutzlos Zeit und Kraft ver-
lor. Diese Kämpfe fesselten die Reiterarmee so sehr, daß sie ihre
Umgruppierung erst sehr spät beginnen konnte und in der Rich-
tung auf Lublin nichts mehr auszurichten vermochte.
312 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL
Inzwischen gelangte die 12. Armee in den Besitz eines für die
3. polnische Armee bestimmten Befehls, aus dem klar hervor-
ging, daß die Polen vom Wieprzfluß her eine Offensive gegen
unsern linken Flügel vorbereiteten. Nebenbei bemerkt, schien
dieser Befehl dem Stab unwahrscheinlich; das geht aus einem
Hughes-Gespräch hervor, nach welchem alle in dem Befehl er-
wähnten Truppen nicht an unsrer Front, sondern immer noch
an der Südwestfront operier-
ten. Leider war der Befehl
aber echt.
Die 16. Armee griff nörd-
lich Warschau weiter erfolg-
los an. Die Lage gestaltete
sich so, daß es unerläßlich
wurde, unsren linken Flügel
zu verstärken und zugleich der
16. Armee die Möglichkeit zu
geben, ihre Operationen in
Richtungen zu lenken, die
vom Feinde weniger stark be-
festigt waren. Infolgedessen
befahl das Oberkommando
der Front am 14. August der
16. Armee, den Weichselüber-
gang südlich von Warschau zu
versuchen und eine Schützen-
Division als Frontreserve nach Lukow zu entsenden (Skizze 15).
Dieses begann man auszuführen.
XIII. Die polnische Gegenoffensive
Während dieser Umgruppierungen ging die polnische Armee
zur Offensive über. Die Truppen der Mozyrz-Gruppe wurden
mit Leichtigkeit geschlagen und zersprengt und begannen einen
regellosen Rückzug. Die 16. Armee begann den Flankenstoß um
so empfindlicher zu spüren, als sie gerade in der Umgruppierung
begriffen war und die Verbindung der Divisionen mit dem Armee-
kommando unterbrochen war; das kam daher, daß der Armee-
stab von der Kampflinie zu weit entfernt lag. Diese Lage wurde
für uns sehr bedrohlich, um so mehr, als die Reiterarmee
i
M. TÜCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜRER DIE WEICHSEL 313
statt in der Richtung auf Lublin vorzugehen hartnäckig weiter
vor Lemberg operierte.
Das Oberkommando der Front erhielt leider erst am 18. August
während eines Hughes-Gespräches, mit dem Führer der 16. Armee
Kenntnis von einer polnischen Offensive. Dieser hatte selbst erst
am 17. August davon erfahren. Die Mozyrz-Gruppe hatte nichts
über das, was vorgefallen war, gemeldet.
Der Führer der 16. Armee, der während des Hughes-Gesprächs
über die neuentstandene Lage Meldung erstattete, hielt einen
Rückzug zwecks Neuorganisierung der eigenen Truppen für not-
wendig, schätzte aber die
Offensive der weißen pol-
nischen Truppen nicht zu
hoch ein und erachtete
ihre Liquidierung für
möglich. Ein Vergleich
der Kundschafternach-
richten vom Feinde mit
der Tatsache dieser Offen-
sive, die hinter dem
Wieprzfluß einsetzte, nö-
tigte jedoch zu einer and-
ren Auffassung der La-
ge. Der Oberbefehlshaber
der Front erläßt sofort
einen Befehl, der die Auf-
gaben seiner Armeen gänzlich ändert (Skizze 16).
An unsrem linken Flügel wurde die Lage bedrohlich. Auf uns-
rem rechten Flügel war es infolge der unverständlichen Opera-
tionen der 4. Armee unmöglich, dem gegnerischen Angriff rasch
ein Ende zu bereiten; im Gegenteil, die 4. Armee, die sich bis
Wloclawek vorgewagt hatte, brachte sich dadurch von vornherein
in eine äußerst kritische Lage.
Der erteilte Befehl ordnete an: Die 4. Armee hat sich mit allen
ihren Truppen bis spätestens 20. August unbedingt in der Gegend
Ciechanow — Przasnysz — Makow zu sammeln und unterwegs die
15. Armee zu unterstützen. Ein Telegramm des Stabschefs der
Westfront wies die 4. Armee an, dieses Zusammenwirken mit der
15. Armee zu unterlassen, falls sie dieses in ihrer Bewegung auf-
halten würde; das Ziel sei nämlich, sich rechtzeitig in dem ange-
gebenen Raum zu sammeln. Die 15. und die 3. Armee erhielten
J
(I
314 M. TUCHATSGHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
die Aufgabe, den Feind aufzuhalten und die Zusammenziehung
der Reserve der 4. Armee zu sichern. Die 16. Armee hatte hinter
den Liwiecfluß zurückzugehen, die Mozyrz-Gruppe aber den lin-
ken Flügel der 16. Armee zu decken. Die 12. Armee erhielt den
Befehl, anzugreifen, um den vom Wieprzfluß her vordringenden
Feind zu binden. Der 21. Division der 3. und einer Division der
16. Armee wurde befohlen, sich in Gewaltmärschen in den Raum
von Drohiczyn —Janow als Frontreserve zu begeben.
Es war offenbar, daß die versäumte Zeit uns die Gelegenheit
genommen hatte, dem Feind eine Niederlage zu bereiten, daß wir
selbst in eine schwierige Lage geraten waren und zum Rückzug
gezwungen sind. Das Oberkommando der Front, das den Charak-
ter der Kämpfe und der Operationen an unsren unzusammen-
hängenden und weit ausgedehnten Fronten kannte, gab sich
durchaus nicht der falschen Hoffnung hin, daß wir uns würden
behaupten können, und war sich darüber im klaren, daß der
Rückzug wahrscheinlich bis zur Linie Grodno — Brzesc fortge-
setzt werden müßte. Dort erst würden wir Gelegenheit haben,
die 60 000 Mann Verstärkung einzugliedem, die schon in Staffeln
im Aufmarsch zu den Ersatzbataillonen unsrer Armeen be-
griffen waren. Dort erst würden wir ausruhen, uns neu organi-
sieren und dann von neuem zum Angriff übergehen können. Eine
Grundbedingung dafür war aber, daß wir unsre Armeen aus der
entstandenen Lage in gutem Zustand herausbringen konnten. Da-
her machte uns das Ablösen der 4. Armee vom Feinde einige Be-
sorgnis; man bestimmte ihr deshalb einen endgültigen Zeitpunkt
für ihren Rückzug.
Doch damit war unser Unglück noch nicht zu Ende. Der Man-
gel an Nachrichtenmitteln und das Hin und Her der 4. Armee
im Danziger Korridor machten es offenbar dem Führer der 4. Ar-
mee unmöglich, den für ihn bestimmten Befehl rechtzeitig zu er-
halten. Überdies hielt der Führer der 4. Armee, der vom Stabe
des Oberkommandos der Front und von den Nachbararmeen ab-
geschnitten war und infolgedessen von der allgemeinen Lage an
der Front keine Ahnung hatte, die Lage für äußerst günstig und
den Rückzug für durchaus unangebracht. Als er am 19. August
zufällig mit dem Oberbefehlshaber der Front in Verbindung kam,
äußerte er ihm gegenüber in einem Hughes-Gespräch seine An-
sicht, erhielt aber die nachdrückliche Bestätigung des ergange-
nen Befehls. Es liegt auf der Hand, daß die 4. Armee, nachdem
sie so viel Zeit verloren hatte, die gestellte Aufgabe innerhalb
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 315
der ihr gesetzten Frist keinesfalls ausführen konnte. Dieser Um-
stand, zu dem noch die zu ihrem Höhepunkt gelangte Auflösung
der Mozyrz-Gruppe und die Tatsache hinzu kam, daß der Feind,
der von uns die Kühnheit gelernt hatte, hier mit rasender Schnel-
ligkeit angriff, verurteilte die 4. Armee von vornherein zu einem
fast sicheren Untergang. Die einzige Hoffnung lag noch darin,
daß der Feind, um seine Etappe einzurichten, wenigstens eine
Zeitlang haltmachen oder das Tempo der Offensive verlangsamen
würde. Das tat der Feind aber nicht. Er warf die 16. Armee zurück,
fiel der 3. und der 15. Armee in die Flanke und erreichte am
20. August die Linie Przasnysz — Makow — Ostrow — Bielsk — Brzesc
(Skizze 17). Währenddes-
sen marschierte die 4. Ar-
mee erst auf Przasnysz
zu und befand sich noch
in der Gegend von Cie-
chanow. Am 22. August
gelangt der Feind an die
Linie Ostrol^ka — Lomza
— Bialystok; die 4. Armee
nähert sich noch dem erst-
genannten Ort. Die Trup-
pen der 15. und der 3. Ar-
mee strengen alle ihre
Kräfte an, um den feindlichen Angriff aufzuhalten und der
4. Armee den Durchmarsch durch den schmalen Korridor zwi-
schen dem Narew und der ostpreußischen Grenze zu ermöglichen.
Aber diese Aufgabe ist unausführbar. Die 3. und die 15. Armee
verlieren in ungleichen Kämpfen in schwerster Lage einen gro-
ßen Teil ihrer Kräfte und können die 4. Armee nicht mehr ret-
ten. Ihr Hauptteil wird gegen die ostpreußische Grenze gedrückt
und zum Übertritt auf deutschen Boden gezwungen.
So endete unsre herrliche Operation, die das ganze Kapital
Europas erzittern ließ, welches erst nach ihrer Beendigung wie-
der frei auf atmete.
Die Polen, welche die ganze ihnen verbliebene Energie in die
Gegenoffensive gelegt hatten, verloren den Atem und konnten
die errungenen Erfolge nicht weiter ausnutzen. Unsre Truppen
erreichten in höchst bedauernswertem Zustand die Linie Grodno
— Wolkowysk und sammelten sich dort zu ihren Armeen. Es gab
von neuem heiße Arbeit. In die verbliebenen Stammtruppenteile
316 M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL
wurden Ergänzungsmannschaften eingereiht, und nach zwei bis
drei Wochen war die Front wieder gekräftigt. Aber diese Kräfti-
gung muß man mit gewissem Vorbehalt beurteilen. Die eingetrof-
fenen Ergänzungsmannschaften waren trotz des Herbstwetters
ohne Bekleidung und Schuhwerk.
Erst nach dem Empfang von Uniformen war an eine Offensive
zu denken. Ohne eine Offensive aber konnte man schwerlich vom
Kampfwert der Truppen sprechen. Wenn der Feind vor uns zum
Angriff übergehen würde, so würden wir zweifellos geschlagen
werden. Dennoch war der Geist der Truppe gut. Der verlorene
Feldzug ließ sie eine neue Offensive wünschen. Wir hatten die
besten Aussichten, das Kriegsglück wieder auf unsre Seite zu
bringen. Es kam nur darauf an, wer zuerst bereit sein und zum
Angriff übergehen würde. Leider gestattete uns die wirtschaft-
liche Lage der Republik nicht, unsre Aufgabe zu erfüllen. Die
Polen begannen zuerst die Offensive, und unser Rückzug wurde
unvermeidlich.
Die Reiterarmee, die schließlich mit großer Verspätung in der
Richtung auf Lublin eintraf, wurde von der Obersten Heeres-
leitung zu einem Handstreich gegen Zamosc angesetzt, doch es
war schon zu spät.
Schlußwort
Die wichtigste Folgerung aus unserem Feldzug von 1920 ist die,
daß er nicht durch die Politik, sondern durch die Strategie ver-
loren wurde. Die Politik hatte der Roten Armee eine schwere,
gewagte und kühne Aufgabe gestellt. Aber bedeutet das, daß
diese Aufgabe falsch gestellt war? Es gibt kein großes Werk, das
nicht Kühnheit und Entschlossenheit erfordert. Wenn man etwa
unsre Oktober-Revolution mit unsrer sozialistischen Außenoffen-
sive vergleicht, so muß man zu dem Schluß kommen, daß die
Aufgabe im Oktober noch viel kühner, viel waghalsiger war. Die
Rote Front hätte die ihr gestellte Aufgabe lösen können; sie hat
sie aber nicht gelöst. Der wesentlichste Grund unsrer Niederlage
war die ungenügende Vorbereitung der russischen Truppenkom-
mandanten auf ihre Aufgabe. Es fehlte an technischen Mitteln,
weil man ihnen nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Die mangelhafte Vorbereitung bei manchen unsrer Führer
machte es unmöglich, die Mängel in der technischen Leitung an
Ort und Stelle auszugleichen. Daß im entscheidenden Augen-
M. TUCHATSCHEWSKY, DER VORMARSCH ÜBER DIE WEICHSEL 317
blick die Hauptkräfte der West- und der Südwestfront (Skizze
18) in einem beinahe rechten Winkel auseinander gingen, führte
das Mißlingen der Operationen herbei, gerade als die Westfront
in der Offensive gegen die Weichsel begriffen war. Die mit dem
Ganzen nicht zusammenhängenden Bewegungen der 4. Armee
nahmen uns den Sieg aus der Hand und führten letzten Endes
unsre Katastrophe herbei.
Die Nachricht von der Offensive der Roten Armee hatte in der
Arbeiterklasse West-
europas eine revolu-
tionäre Bewegung auf-
gewühlt. Die vom pol-
nischen Bürgertum
ausgegebenen natio-
nalen Losungen konn-
ten nicht die Wirk-
lichkeit verschleiern,
daß ein Klassenkrieg
ausgekämpft werden
sollte. Das empfand
sowohl das Proleta-
riat wie die Bour-
geoisie in Europa,und
eine revolutionäre Er-
schütterung durch-
bebte die Welt. Es unterliegt keinem Zweifel: wenn wir der pol-
nischen Bourgeoisie ihre bürgerlich-adlige Armee hätten entrei-
ßen können, so wäre die Revolution der Arbeiterklasse in Polen
zur Tatsache geworden. Und dieser Brand hätte sich nicht an
den Grenzen Polens aufhalten lassen. Gleich einem wilden Ge-
birgsbach hätte er ganz Westeuropa ergriffen. Die Rote Armee
wird diese Erfahrung über die nach draußen getragene Revolu-
tion nicht vergessen. Wenn Europas Bürgertum uns jemals zu
einem neuen Kampf herausfordem wird, so wird es der Roten
Armee gelingen, es zu vernichten und die Revolution in Europa
zu unterstützen und auszubreiten.
Zur Aussprache
3 — nasales o, wie das franz. on.
c = wie das deutsche Z.
c oder ci — innige Verschmelzung von tss mit j.
ch = wie in ach.
cz = wie das deutsche tsch.
dz = enge Verbindung von d und s.
dz oder dzi zu innige Verschmelzung von ds und j.
dz = wie dsch.
e = offenes, kurzes e oder kurzes ä.
§ = nasales ä, wie das franz. in.
ki = k mit j innig verschmolzen.
1 — wie uo.
mi = innige Verschmelzung von m mit j,
ri = innige Verschmelzung von n mit j, wie im Spanischen n.
o = offenes, kurzes o.
ö = kurzes, geschlossenes u.
pi = p mit j innig verschmolzen.
8 = das stimmlose ss wie in Ross.
s oder si = wie ssi.
sz = wie das deutsche sch.
wi = w mit j innig verschmolzen.
y = wie ein kurzes ü, aber näher einem i.
z = das stimmhafte s in Rose.
z und rz — wie in Logis, Journal.
z oder zi — wie sj.
Register
A
Aachen 245
Augustöw 197, 207, 213
Austerlitz 243
B
Baranowicze 19, 284
Batorski, Stabschef einer sowjetrus•
sischen Armee 266
Berdyczow 33
Beresteczko 151, 152
Berezyna 260
Biala 191, 295
Bialystok 197, 204—205, 215—218, 230,
289, 292, 316
Bielsk 205, 216—217, 315
Blonie 306
Bobrujsk 61, 91, 131, 139, 186, 260
Bocki 295
Bogdanöw 130
Boruszczak, poln. Oberst 128
Borysow 260, 273
Brodnica 187, 210, 219
Brody 152—154, 156—157
Brok 197, 295, 306
Brzesc (Brest Litowsk) 43, 135, 149,
bis 157, 163, 174, 181, 186, 189, 191,
193, 215—216, 295—297, 302, 306,
314—315
Budjenny, Führer einer sowjetrussü
REGISTER
319
sehen Reiterarmee 39, 53, 55, 62 bis
63, 65, 135—137, 143, 148—157, 166,
174—175, 178, 183, 189
Budslaw 266
Budzicze 279, 282
Buelow von, deutscher General 168
Burliardt-Bukacki, poln. Oberst 128,
146
C
Chelm 153—156, 162, 184, 186, 196
Chochlo 282
Chorzele 214, 219
Chwastow 39
Chwesin, Führer einer sowjetrussi-
schen Gruppe 275
Ciechanöw 180, 206—207, 212, 219,
304, 309, 313, 316
Curzon, englischer Staatsmann 288
bis 289
Czeremcha 198
D
Danzig 160, 180, 195, 290, 294, 305,
314
Daszyhski, polnischer Sozialistenfüh-
rer und Minister 226
Dublin (Iwangorod) 160, 173, 178 bis
179, 189—190, 193, 199, 306—308
D§by Wielkie 194
Denikin, russischer General 32, 136,
259
Dereczyn 284, 295
Dokszyce 75, 90, 113, 132, 279, 281
Drobin 310
Drohiczyn 202, 216, 295, 314
Dubinki 128
Dubno 64
Dukszty 127
Dunilowicze 81, 84—86, 117, 146
Dzisna 280
Dzwonie 279
F
Firlej 185
G
Gaj, Führer eines sowjetrussischen
Kavalleriekorps 278
Garwolin 177, 190—192, 306
Gl§bokie 39, 41, 68—70, 76, 81—82,
85—88, 111, 114, 124, 245, 275, 278
bis 279, 281
Glusk 60, 278
Göra Kalwarja 190
Grajewo 219
Granne 197
Grippenberg, russischer Armeeführer
26
Grodno 144—146, 169, 207, 213, 218,
284—285, 291—293, 314—315
H
Hajnöwka 295
Haller, Stanislaus, poln. Generalstabs-
chef 32, 39
Hausen von, deutscher General 168
Hei-kau-tai 27
Henrys, franz. General und Chef der
franz. Mil.-Mission in Polen 233
Hermanowicze 48, 69, 71, 76, 81, 84,
145, 267, 280
Hindenburg 166, 245, 304
Hoduciszki 117, 281
Horochöw 181
Hrubieszöw 155, 181—182, 184, 311
I
lhumeii 24, 39, 40—41, 57, 260—261,
266, 275, 278—279, 281
IIja 282
Illowajski, russischer Schriftsteller
226, 227, 231
lndura 292, 295
J
Janöw 179, 314
Jgdrzejewski, poln. General 70, 80 bis
83, 85, 94, 106, 108—109
Jena 244
Jezioro 296
J off re, franz. Marschall 164
* K
Kalenkowicze 38
Kaliszek, poln. Oberst 139
Kaluszyn 191
Karczew 190
Kiew 43, 63, 136, 259, 268
Klekotöw 154
Kleszczele 306
Kluck von, deutscher General 168,
245—246
Kock 185—186, 189
Kojdanöw 282
Kolano 108—109
Kolbiel 188, 192, 216
Kolczak, russischer Admiral 259
Kolno 219
Komaj 281
Königsberg 304
Kork, sowjetrussischer Armeeführer
266
320
REGISTER
Korosten 33, 39, 63
Kosöw 295
Kostinchnöwka 54
Kowel 150, 152
Koziany 116, 117
Koziatyn 33, 55, 62—63
Krakau 163
Krupki 260
Kuk, Stabschef einer sowjetrussischen
Armee 266
Kuropatkin, russischer Armeeführer
und Kriegsminister 26
Kurylowicze 69, 78
Kuznice 292
L
Landwarowo 284
Lazarewicz, Führer einer sowjetrussi-
schen Gruppe 275, 296
Ledöchowski, poln. General 94
Lemberg 161, 172, 178, 189, 301, 303,
311, 313
Lepel 260—261
Lida 33, 39, 134, 283—284, 291—292,
305
Liebknecht, Sozialistenführer 231
Lisowski, Stabschef einer sowjetrussi-
schen Gruppe 275
Listopady 283—284
Lomza 152—153, 197, 204—208, 212
bis 214, 216, 218—219, 241, 295 bis
296, 316
Lowicz 302
Lodz 290
Lubartöw 182—186
Lublin 183, 195, 198—199, 303—305,
306—309, 311, 313, 316
Ludendorff 245
Lukow 188, 191, 215, 312
Luminiec 282
Lunna Wola 146
Luzki 68, 78—81, 83—84, 87, 114, 279
M
Maciejowice 186
Magdeburg 249
Maköw 219, 290, 306—307, 313, 315
Malkinia 58
Marx, Sozialistenführer 231
Mazniewo 108—109
Mazowieckie 197, 217, 241
Michaliszki 81, 129—130, 283
Miedzna 295, 306
Mi^zyrzecz 191, 295
Minsk 24, 40, 42, 49, 57, 74, 76, 108,
113—114, 131, 132, 136, 138, 169,
178, 199, 207, 234, 239—241, 278,
281, 288
Minsk Mazowiecki 183, 193—194, 200,
216
Mlawa 180, 197, 206—207, 214, 219
Modlin (Nowogeorgiewsk) 157, 159,
164, 171—172, 180, 189, 196, 204, 218
bis 219, 301, 304, 306—307, 310
Mohylew 38
Molodeczno 28, 40, 42, 49, 70, 75, 80,
85, 88, 91—92, 103, 114, 123, 132,
139, 245, 266—268, 275, 281—282
Mosarz 83, 86
Mosty 284, 292
Mozyrz 43, 61, 64, 260, 263, 275, 278
N
Napoleon L 24, 61, 98, 158, 171, 239
Nasielsk 196, 306
Niebyszyn 116
Nowe Troki 284
O
Ojrzyn 306
Orany 284
Orsza 28, 261—262
Orzechowna 24—28, 39, 45, 47—48,
51, 70, 127, 261
Osinogrödek 69, 78
Osipowicze 32
Osowiec 204, 218, 295
Ostroleka 205—207, 218—219, 241, 295,
297 316
Oströw 197, 204, 208, 218, 295, 315
Oszmiana 283—285
Oyama, japanischer Armeeführer 26
P
Paplin 202
Parafjanowo 82, 90, 103, 278—279,
281
Parczew 300, 311
Paris 142—143, 164, 167, 168, 243
Pasieki 295
Paskiewicz, russischer General und
Armeeführer gegen Polen im Krieg
1830/31 166, 231
Pawlenko, ukrainischer General 161,
301
Petain, franz, Marschall 247
Petlura, ukrainischer General 161
Piqtek 306
Pierszaje 282
Pinsk 37, 44, 266, 284
Piskor, poln. Oberst 165
REGISTER
321
Plock 157, 159, 180, 187, 195, 210 bis
211, 306, 310
Podbrodzie 128—129, 133
Podswilje 103
Pohost 74, 77—79, 83
Polock 28, 42, 50, 74, 88, 260—261,
266—268, 273, 275
Porpliszcze 82
Posen 208
Postawy 49, 81, 84, 91, 112, 115, 117,
127, 266—267
Praga (Vorstadt von Warschau) 290
Przasnysz 197, 207, 219, 300, 313, 315
Pulawy 185, 306
Putna, sowjetrussischer Divisions-
kommandeur 18, 200, 217
R
Raciqz 310
Radzymin 187, 189, 195, 200—202
Raköw 282
Rennenkampf, russischer General 166,
304
Römer, poln. General 170
Ros 292, 295
Rostow 54
Röwne 64
Rozbity Kamieh 202
Rozwadoivski, poln. Generalstabschef
163—165, 176, 204
Rydz-Smigly, poln. General 63, 151,
180—181, 196—197, 205, 208, 215
Rzqdkowski, poln. General 80, 103
Rzeczyca 38, 263
S
Samsonow, russischer General 166,
304
San-de-pu 26—27
Sarny 63
Schlieffen, Graf, deutscher General-
stabschef 244
Sedan 68—70, 73—80, 82, 83, 88, 90,
113—115, 125, 128, 145, 238, 244
Sergejew, sowjetrussischer Armeefüh-
rer 11, 43—45, 48, 51, 52, 56—57,
66—69, 70—73, 75—79, 83—84, 86
bis 91, 92, 111, 114, 124, 126—129,
130—133, 139—141, 145—146, 154
bis 155, 159—160, 163, 166, 168, 182,
199, 201, 203—208, 211—219, 230
bis 232, 239—241, 259, 266, 275
Siedlce 191, 197—198, 199, 202, 208,
221, 229—230
Sierpc 207
Sikorski, poln. General 152
Skidel 284, 292
Skierski, poln. General 120
Skulski, poln. Minister 230
Slonim 292
Sluck 61, 91, 131, 282
Smigly, siehe Rydz-Smigly
Smolensk 24—27, 37, 39, 45—51, 60,
71, 91, 114, 127, 238, 260—261, 266
bis 268, 274
Smorgoh 284
Sniadowo 213
Sobotniki 284
Socliaczew 306
Sokal 181, 184
Sokölka 295
Sokolöw 202
Sollohub, sowjetrussischer Armeefüh-
rer 266
Sosnkowski, poln. Kriegsminister 49,
162—163, 172, 184, 216, 229
Spichem 112
Stahczyk, poln. Hofnarr 5
Strahla 295
Strqkowa Göra 295—296
Stukany 90
Sudninöw 202
Suraz 217
Suwalki 198
Swigciany 40—42, 49, 81,116, 126, 132,
279, 282—283
Swir 81, 126, 129—130
Szacilki 260
Szarkowszczyzna 71, 77, 83, 86, 90,
116, 117, 146, 279
Szeptycki, poln. General 19, 22, 33,
38—41, 50, 52, 56, 64, 70, 81, 94,
104, 115—120, 123, 125, 129—131,
134—140, 146—147, 158, 170
Szuivajew, Stabschef einer sowjetrus-
sischen Armee 275
T
Thorn 160, 210, 306, 310
Toloczyn 28, 261—262
Trotzki, sowjetrussischer Oberster
Führer 304
Tuchatschewsky, Führer der sowjet-
russischen Westfront 4—11, 13—14,
16—17, 19, 21—35, 37—48, 50—53,
55—64, 65—71, 74^-77, 85, 87, 90 bis
92, 111—115, 119, 123—127, 132 bis
133, 140—147, 154—170, 175, 178 bis
182, 187, 196, 199—207, 211—215,
218, 220, 221—246, 250—252
Twerecz 117, 281
21 Pilsudski II
322
REGISTER
V
Verdun 247
Vionville 112
W
Warschau 18, 27, 38—41, 46, 58, 60,
70, 73, 89, 92, 120, 135—144, 147 bis
148, 153—183, 187—190, 193—205,
208—215, 218—221, 225, 229, 231,
234, 238, 242, 244, 254, 290, 293,
300—301, 304, 307, 309, 312
W$gröw 202, 216
Weygand, franz.General 163—165, 234
Wiqzowna 190
Widze 127
Wielka Czernica 267
Wilejka 76, 108
Wilno 19, 81, 91, 118—119, 125—126,
128—131, 133—141, 147—148, 226,
242, 253, 283, 305
Witebsk 28, 261—262
Witos, poln. Bauernführer und Mini-
sterpräsident 226
Wloclawek 180, 187, 195, 211, 219, 310,
313
Wlodawa 157, 186, 191, 199, 215, 295,
306
Wolczek 54
Wolkowysk 197, 216, 301, 315
Wolma 283—285
Woronowo 284
Wrangel, russischer General 32, 259,
288, 303
Wyszköw 197, 204, 218, 300
Wyszogröd 306
Z
Zambröw 218, 295, 297
Zamosc 151, 156, 311, 316
Zamosz 127
Zegrze 196, 203
Zelechöw 188, 191, 215
Zeligowski, poln. General 69—70, 78,
81—88, 91, 115, 117, 128, 139, 146
Ziabki 273
Zielihski, poln. General 152
Ziembin 266—267
Zlobin 38
Zygadlowicz, poln. General 94, 101
bis 102, 110, 170
Zyrmuny 284, 291
Zytomierz 39, 46, 53, 63
Josef Pitsudski: Erinnerungen und Dokumente • Band II
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320 16 v. u. Luminiec Luniniec
Essener Verlags anstatt
J. Pitsudski. Das Jahr 1920.
Karte Nr.1
J.Pilsudski. Das Jahr 1920.
3 Kav. Korps.
Karte Nr. 2
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J.Pilsudski. Das Jahr 1920.
Karte Nr. 4
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J.Pitsudski. Das Jahr 1920.
Karte Nr. 5
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14.1.D
POLEN
/totui Die deutschen Stellungen mit den
anbefohlenen Divis ionsabschn Uten
Ruckzugsrichtungen.
Die Inder Nacht vom 11 auf 1Z Juli
erzeichten Räome•
Armeegrenze.
Die Lage der Sowiettruppen qeqen
Abend des 11. Juli. y
Diebeiderseitige Lage vom 11.auf den 12.VIL
Massstab1;1.500.000.
Grodno
O Grajewo
Kuznica
Osowiec
Sokölka
O Holno
O Myszynie c
Jt Janowo
4. Armee?
O Szumsk
Mtawa
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Nowogröd
lomza
Biatystok
Grödck
Ostrofcka
Przasnysz
Snladowo ® Zambröw
Wy sohle Mazowieckie O
Rözan i
O Hakim
15. Armeen
Oströw O
Hajnotvka
O Bransk
Maikiri. Dl
Sochoen
Puttusk
Kleszczetc
Siemiatycze
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W$gr6w
ODrohiczgr
Sokofow
Matuszyn
Siedlce•
Janön O
Kotbiel
Karczem
M iQdzyrzec
Cöra-Kalwarji
Lukon
Osieck
Skiernicwicc
O GartvOl
Slawatycze
RadzynO
LQr.M.
irczew
Hörend
n " 21.1
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Putatvy
Gr. Batachowicz.
Radom
Lublin
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Hrubieszpv*
J. Pitsudski. Das Jahr 1920.
Karte Nr. 6
Lage am Abend des 12.VIII
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Gr. Barar^wskiFO\6.
WEICHSEL r re iw. ID. 11X0.
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WARSCHAU
25.
12Armee
J. Pitsudski. Das Jahr 1920
Karte Nr. 8