16078
Der
Dom zu Utrecht
Von
Ionkvr. Dr. C. H. de Zonge
Verlag Ed. Lölzel, Wien
er Dom ist eine Stiftung der Atrechter Bischöfe. Im engsten
Zusammenhang mit der Entwicklung und Bedeutung der bi-
schöflichen Macht in „dem Sticht" (Land Atrecht) steht die
Baugeschichte der Kirche. Wurde die Machtstellung der Kirchenfürsten
durch die stetig wachsende Anabhängigkeit der Städte im eigenen Lande
beeinträchtigt, oder war ein Krieg unvermeidlich geworden, um sich gegen
die angrenzende mächtige Grafschaft Lolland oder das Lerzogtum Geldern
zu behaupten, dann war es allein schon aus Geldrücksichten unmöglich,
den Bau des Domes fortzusetzen. Sv ist es zu erklären, daß beinahe drei
Jahrhunderte nötig waren, das große Bauwerk zu vollenden, das uns
heute nur in bedeutenden Fragmenten erhalten ist.
Am die Baugeschichte des Domes zu verstehen, muß auch kurz er-
wähnt werden, welche Kirchen früher in seiner Amgebung ihren Platz
hatten. Zu Beginn der Christianisierung des Landes war hier in Atrecht
eine Kapelle gestiftet worden; neben dieser entstand unter dem Episkopat
des hl. Willebrord (696) eine ursprünglich dem Erlöser geweihte
Kathedrale; später wurde der hl. Martin von Tours der Patron, der
seither Schutzheiliger des ganzen Atrechter Bistums blieb. Diese Kathedrale
wurde 857 durch die Normannen verwüstet und erst unter Bischof Ans-
frid (994—1010) wieder aufgerichtet. Als Altmünster erhielt sie sich das
ganze Mittelalter hindurch neben dem neugestifteten Dom als zweite
Kapitelkirche und wurde erst 1587 abgebrochen.
Schon Bischof Balderich (vor 929) hatte den Beschluß gefaßt, im
Vörden der alten Kathedrale eine neue Kirche zu bauen. Von dieser ist
nur bekannt, daß sie gleichfalls dem hl. Martin geweiht war und, obwohl
noch unvollendet, schon 944 inVerwendung stand; wurde doch der Bischof
selbst hier 977 beiaeseüt. Nack einem Brand im Jahre 1017 erfolate
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schnell die Wiederherstellung und Vollendung der Kirche, und zwar
während des Episkopates Adelbolds, der 1023 den Dom weihte. Wieder-
holte Brände beschädigten den romanischen Bau bald mehr bald weniger
(1131, 1148, 1253), doch konnte die Kirche ununterbrochen in Ver-
wendung bleiben und anscheinend jedesmal wieder hergestellt werden. Nur
beim letzten Brand war der Schaden, den sie erlitten, offenbar sehr be-
deutend, denn jetzt entschloß sich der Bischof Leinrich von Vianden zu
einem Neubau. Die Adelbold'sche Kirche mußte aber noch mehr als zwei
Jahrhunderte Dienst tun. Als im Jahre 1254 der erste Stein von Bischof
Äeinrich von Vianden gelegt wurde, begann der eigentliche Bau des
Domes, von dem wir gegenwärtig nur mehr die gewaltigen Reste er-
halten haben. Chor, Hochaltar und der Kapellenkranz mit fünf Kapellen
waren 1288 vollendet; mit Anrecht nennt sich der damalige Bischof
Johann von Nassau den Gründer des neuen Domes, da doch der Ruhm
dieses großartigen Unternehmens seinem Vorgänger gebührt.
In den folgenden Jahren ging der Bau anscheinend gut vorwärts;
der ganze Chor mit dem Amgang muß 1317 vollendet gewesen sein, da
in der angebauten Kapelle der damalige Bischof Guy von Avesnes be-
graben wurde. 0 (Taf. 1).
Das Maßwerk in den großen Fenstern, das Gewölbe und die Strebe-
pfeiler dürften aber erst in der ersten Äälfte des 15. Jahrhunderts, zugleich
mit dem Kreuzarm, vollendet worden sein. Doch wurde der Bau des
Transeptes nicht dem des Chores sofort angeschlossen, was wohl nur
daraus zu erklären ist, daß die Bauideen des Domkapitels mit dem in
nächster Nähe noch aufrechtstehenden Altmünster in Konflikt gerieten. Es
konnte kein Ausweg gefunden werden und das Domkapitel hat dort seinen
Bau fortgesetzt, wo der Weg frei war: in großem Abstand westlich von
dem Turm des Adelboldschen Doms wurde 1321 der Grundstein zum
Domturm gelegt, der dann 1382 vollendet war. Dieser 110 Meter hohe
Bau, die imposante Silhouette weit hinaus in das Land, hat schon zur
*) Das Grabmal ist noch erhalten; die Figur des Bischofs, in vollem
Ornat, liegt auf dem Sarkophag, in gotischen Nischen stehen Pleurants an den
Seiten. Das Denkmal aus schwarzem Stein hat sehr gelitten, so daß ihm nur
eine historische Bedeutung geblieben ist.
Zeit seiner Entstehung großen Eindruck gemacht. Er galt als das Sinn-
bild der bischöflichen Macht. Berühmt ist ja die Flugschrift des nieder-
ländischen Mystikers Geert Groote „Contra turrim Trajectensem"
(1377), die mit aller Strenge gegen Bischof und Domkapitel wegen des
auffälligen weltlichen Lebenswandels und des fürstlichen Äofstaates
auftritt.
Nachdem die Kräfte wieder für den Bau der Kirche freigeworden
waren, mußte man einsehen, daß in den sechzig Jahren, die inzwischen
verstrichen, sich noch immer keine Möglichkeit, den Bauplan zu Ende zu
führen, gefunden hatte. Dieselben Hindernisse, dieselbe Anfreiheit über das
Terrain zu verfügen, vereitelten die Fortsetzung des monumentalen Anter-
nehmens. Noch einmal konnte auch dieselbe Taktik eingeschlagen werden;
indem die ganze Anlage noch großartiger ausgearbeitet wurde, noch einmal
ein Ausweg gefunden werden. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts wird
gegen Süden des Chores das große Kapitelhaus gebaut und zugleich mit
dem östlichen und südlichen Arm des Kreuzganges begonnen, der die
Kirche mit dem Kapitelhaus verbinden sollte. Die abschließende Ge-
staltung dieses Kreuzganges durch einen westlichen Arm blieb aus den-
selben Gründen wie der Bau der Kirche erst der Folgezeit vorbehalten.
Gleichzeitig wurde auch im Norden des Chors die Sakristei gebaut (vor
1396). Dann aber tritt während der Episkopate des Friederich von
Blankenheim (1393—1423) und des Rudolf von Diepholt eine lange
Pause ein, bis endlich unter David von Burgund mit neuer Kraft an
den Bau gegangen wurde (1455). Der Erfolg blieb nicht aus: 1460 war
der Kreuzgang durch den Anbau des westlichen Armes geschlossen (Taf. 4).
Gleichzeitig wurde auch der Transept mit seinen großen Fenstern im
Norden und Süden gebaut; zu seiner Einwölbung kam es 1477, und 1479
ist nach mehr als zwanzig Jahren dieser bedeutende Gebäudeteil fertig
gewesen (Taf. 2).
Da es nun für die weitere Fortsetzung des Baus unumgänglich ge-
worden war, mußten jetzt doch die Teile des Adelboldschen Baus, die
immer noch in gottesdienstlicher Verwendung standen, aus dem Wege
geräumt werden. Die Rollen wurden nun getauscht: Der neue gotische
Bau wurde in Gebrauch genommen und u. a. auch die Orgel 1481 aus
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dem romanischen Dom in den neuen Kreuzarm übertragen. Dann konnte
man das alte Bauwerk ganz schleifen und endlich die Grundmauern für
das große Langhaus legen, das Chor und Kreuzarm mit dem schon be-
stehenden Turm verbinden sollte.
Für das Langhaus waren damals acht Traveen geplant; 1481 begann
man den Bau der drei östlichen, die mit Seitenkapellen ausgestattet
wurden, in einigen Jahren schon waren sie vollendet. Doch während der
Bau weiter vorschritt, brach der alte Streit wieder aus. Das Kapitel des
Altmünsters wollte nicht zugeben, daß durch diesen neuen Langhausbau
der Zugang zu dem eigenen Gebiet und zur Kirche fast ganz abgeschnitten
werden sollte. Man hat darum eine andere Lösung versucht; statt der fünf
noch im Bauplan vorgesehenen Traveen sollten nur vier gebaut werden. Sie
sollten ferner im Westen durch eine Mauer mit zwei großen Türen
abgeschlossen werden, die zur Kirche den Zugang herstellten, während
zwischen dieser Mauer und dein Domturm in der Äöhe der Türen die
sogenannte Bischofsloge angebracht wurde, in der der Bischof ungesehen
dem Gottesdienst in der Kirche beiwohnen konnte. Anter biefetn Ver-
bindungstrakt, der eine Fortsetzung des gewölbten Zugangstores unter
dem Turm darstellt, blieb dann ein geräumiger Zugang zum Domkirchhof
und auch zum Altmünster offen.
Nach diesem neuen Plan wurde 1485 der Bau fortgesetzt und schon
zwei Jahre darauf war das ganze Schiff — außer dem hohen Lichtgaden
— provisorisch überdacht. 1492 war der gesamte Bau zusammengeschlossen,
aber die Qberwölbung der Innenräume und insbesondere das Aufrichten
der hohen Mauern des Mittelschiffs und seine Lberwölbung sollten noch
jahrelange Arbeit beanspruchen. Neben diesem wichtigsten Teil zog sich
noch die Ausarbeitung der Kapellen — drei im Süden und drei im
Norden des Mittelschiffes — lange hin. In den ersten Jahrzehnten des
16. Jahrhunderts wird zwar noch an der Vollendung des Baus ge-
arbeitet, doch Geldmangel machte es immer schwieriger, den großzügigen
Plan zu verwirklichen. Immer langsamer ging die Arbeit vorwärts;
1514 wird noch das Mittelschiff mit einer hölzernen Decke geschlossen,
wird noch steinernes Maßwerk in die Fenster eingesetzt. Noch zieht es
sich bis 1517 hin, daß die großen Fenster an der Westfront fertig werden.
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And das war auch vielleicht das letzte, das überhaupt noch an dem Dom-
bau geschah; von da ab ist nichts weiter zustande gekommen.
So blieb denn dieses herrliche Bauwerk, an dem mehr als 250 Jahre
gearbeitet wurde/ am Ende noch unvollendet. Die nahende Zeit der Refor-
mation in den Niederlanden war der Fortsetzung des Anternehmens nicht
günstig. And dies ist darum umso bedauerlicher, weil die bestehenden Teile,
vor allem das Mittelschiff, nicht genügend ausgefertigt waren, um auf die
Dauer bestehen zu können. Niemals kam es zur Einwölbung und von den
unentbehrlichen Strebepfeilern, die die hohe Mauer stützen sollten, ist nur
ein einziger 1512 aufgeführt worden. So war das Bauwerk unrettbar
dem Antergang geweiht. Fast zwei Jahrhunderte noch haben die Mauern
des Schiffes ausgehalten, dann hat ein Sturm im Jahre 1674 das ganze
Mittelschiff einstürzen lassen. Die Trümmer wurden erst 1818 weggeräumt,
so daß seither der Turm wieder isoliert steht. (Siehe den Grundriß S. 5.)
Von der Kirche ist also nur mehr erhalten: der dreischiffige Chor mit
Amgang und Seitenkapellen, das Querschiff und zwei Joche des Seiten-
schiffes, das im Süden des ehemaligen Mittelschiffes lag, mit den zu-
gehörigen Kapellen der Van Veen und Van Montfoort. Am 1830. ist
die Westseite des Querschiffes zugeschlossen und ein kleiner Anbau mit
dem Laupteingang angesetzt worden, dessen Erweiterung bei der gegen-
wärtigen Restaurierung vorgesehen ist.
Der Dom zu Atrecht folgt in seiner Anlage den französischen Kathe-
dralen. Als Bischof Äeinrich von Vianden 1254 den Plan für seine
Kirche machte, dachte er sie dem Kölner Dom ähnlich zu gestalten, der
damals gerade gebaut wurde und sich auch an französische Muster, vor
allem an Amiens, Hielt. Für'Atrecht wurde der Grundriß der Kathedrale von
Doornik — die Soiffons nachfolgt — maßgebend. Der französische Cha-
rakter ist sofort an dem Chorumgang mit dem ausgebauten Kapellenkranz
'kenntlich. Doch weicht der Bau darin von den französischen Kathedralen,
die eine größere Mittelkapelle besitzen, ab, daß alle fünf Kapellen gleich
groß, überdies nicht ganz frei ausgebaut sind, sondern mehr als dreiseitige
Erker direkt an den Chorumgang, zwischen die Strebepfeiler eingeklemmt,
angeschlossen sind.
Die verschiedenen Bauzeiten lassen sich an dem Chor deutlich unter-
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scheiden. Der Kapellenkranz stellt die frühgotische schwere Bauweise dar,
für die vor allem die Konstruktion wichtig ist. Das Maßwerk hat eine
einfache Zeichnung. Als der Chor um 1400 aufgerichtet wurde, bekam
er schon eine leichtere Gestaltung, damals war schon eine überströmende
Verzierung gebräuchlich geworden. So zeigt der Ausbau der im 13. Jahr-
hundert begonnenen Strebepfeiler eine reichere Gestaltung, in der die für
das 15. Jahrhundert charakteristischen übereck gesetzten Fialen auffallen.
Jetzt wird auch in die Strebepfeiler Maßwerk eingeblendet und die Fenster
mit Bogen und Kreuzblumen verziert. Ebenso lassen sich auch im Innern
der Kirche die verschiedenen Bauperioden ablesen. In dem Chorumgang
liegen die Gewölbe auf Pfeilern, die aus Säulen und Diensten bestehen,
während ein Blattkapitell die Verbindung zu dem Gewölbeansatz herstellt.
An den westlichen Pfeilern des Chorumganges fehlt das Kapitell und die
Pfeiler gehen gradaus in die Gewölberippen über, was auf die spätere
Bauzeit hinweist. An den breiten südlichen und nördlichen Abschlüssen
des Querschiffes, die völlig in große Fenster mit reichgestaltetem Maß-
werk in der Sprache der ausgebildeten Gotik des 15. Jahrhunderts auf-
gelöst sind, ist der stärkste Gegensatz in Konstruktion und Ornament zu
dem frühen Chorbau zu erkennen. Der Vollständigkeit halber sei gesagt,
daß dieses Maßwerk im 19. Jahrhundert wiederhergestellt wurde; doch
ist es wahrscheinlich, daß die Restaurierung sich an die Zeichnung der ur-
sprünglichen Füllung hielt.
Der Turm (Taf. 3) aber, der im 14. Jahrhundert als selbständiges Bau-
werk aufgeführt wurde, weicht völlig vom französischen Stilcharakter ab.
Während nämlich die französischen Kathedralen immer zwei Türme an
die Westfront stellen, die mit den Seitenschiffen zusammengehen, so ist
hier in der Achse der Kirche ein einziger Turm aufgebaut, der mit dem
Stil des übrigen Bauwerkes keine engere Verbindung als die allgemeinen
gotischen Merkmale aufweist. Die drei Vertiefungen gehen ohne begleitende
Strebepfeiler ineinander über. Doch könnte man sagen, daß diese in der
durch zahlreiche Nischen ausgehöhlten kubischen Steinmasse versteckt sind.
Auch die achtseitige durchsichtige Laterne ist übergangslos auf die vier-
eckige Basis der zweiten Vertiefung gesetzt, während die beinahe allzu
schroffe Trennung ihrer Geschosse durch Galerien gemildert wird.
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Der Atrechter Domturm wurde das Vorbild für ganz Lolland. 3m
15. Jahrhundert erheben sich zu Amerssoort, Rhenen, Groningen und
Maastricht die Türme, alle mehr oder minder von dem Atrechter Muster
beeinflußt.
Der Dom hat im Lause der Zeit viel von seiner Pracht verloren.
Wichtige Kunstwerke, die dem Gebrauch oder Schmuck gedient hatten,
sind verschwunden. Einen Begriff, wie das Innere der Kirche noch im
17. Jahrhundert ausgesehen hatte, geben zwei Zeichnungen von Peter
Saenredam (1636), die u. a. auch die verzierten Pfeiler, das reiche Ge-
stühl, die vielarmigen Kronen und die Glasmalereien zeigen. Welchen
Eindruck aber die Kirche machte, als sie noch dem katholischen Ritus diente,
als sie noch voll war mit bunten Altären und Reihen von Bildern, die
die Kirche schmückten, als ihre Ausstattung noch zu dem Reichtum des
Gebäudes paßte, davon können wir uns kaum mehr eine Vorstellung
machen. Auch der mächtige Eindruck, den allein das Bauwerk geben mußte,
wenn man von der Mitte des Querschiffes aus die ganze Kirche überblickte,
ist uns genommen, da in dem 19. Jahrhundert der für den protestantischen
Gottesdienst so wichtigen guten Akustik zuliebe ein hölzerner Einbau rund
um die Traveen des Langchors und die Vierung des Querschiffes auf-
gestellt wurde. Ein hölzerner Bau in dem Kirchenbau drin, ohne den
geringsten Ansprüchen auf Schönheit zu genügen; ja man ist selbst nicht
zurückgeschreckt, ganze Stücke der Pfeiler abzuschlagen, um Platz für diese
Umzäunung zu gewinnen. And es ist gewiß eine begrüßenswerte Absicht
der gegenwärtigen Domrestaurierung, diesem Adelstand abzuhelfen, so daß
es wieder möglich sein wird, den Dom zu „sehen".
Glücklicherweise ist nicht alles fortgekommen, was einst die Kirche ge-
ziert hat und es verlohnt sich noch, die erhaltenen Reste aufzusuchen und
zu betrachten.
Reben den Zugängen durch den Transept, die völlig unansehnlich sind,
besitzt die Kirche innen noch eine alte mit Bildhauerarbeit geschmückte
Türe (Taf. 5) zur Sakristei hinein, die zu den schönsten uns aus gotischer
Zeit gebliebenen Türen zu zählen ist. Es ist historisch sichergestellt, daß der
Bildhauer Jan van Schayck 1497 die Tür gearbeitet und Lenrick Bont-
maker die steinerne Laibung hinzugefügt hat. Wenn man von der später
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oben eingesetzten Bogenfüllung absieht, ist diese Dir ein ausgezeichnetes
Kunstwerk dessen Feldereinteilung vollkommen harmonisch wirkt. Das
Schnitzwerk der eigenartigen Fächer und der Bogen ist durch die außer-
ordentlich geschickte Materialbehandlung ein einheitliches und bewegtes
Motiv geworden. Die untersten Felder, mit dem sogenannten Brief-
Paneel gefüllt, klingen in dem ruhigen Ausdruck der Pfeilerpostamente
wieder, die ein strenges Rosettenornament belebt, während die leichteren,
scharf geschnittenen Wappenschildfelder in den ä jour gestochenen Distel-
blättern in dem Bogen und dem Abschluß ihr Gegenüber finden. Die
letzte Vollendung gaben dem Kunstwerk wohl die Figürchen auf den
Konsolen, die heute nicht mehr vorhanden sind. Für die spätgotische Enk-
stehungszeit der Türe ist es besonders charakteristisch, daß die Verhältnisse
schon den neuen Geist der Renaissance ankündigen, das Ornamentale aber
noch die gotische Sprache spricht.
Zwischen den Mittelpfeilern des Chores an der Rückseite, wo ehedem
der Hochaltar stand, ist heute das 1501 aufgerichtete hl. Grab. (Taf. 6.)
Die einzige Nachricht darüber ist uns erhalten, daß der Bildhauer Gerrit
Splinterß, der 1512 als Dombaumeister genannt wird, die Kapitelle, auf
denen der Bogen aufruht, gemeißelt hat. Ob aber das ganze Grab sein
Werk ist, kann nicht festgestellt werden — es fehlen auch zu bedeutende
Teile dieses Denkmals — und die erhaltenen Bruchstücke (der Leichnam
Christi, der Sarkophag, die schlafenden Wächter an der Vorderseite)
sind zu arg beschädigt, daß man sich überhaupt eine deutliche, zu einer
Stilvergleichung geeignete Vorstellung bilden könnte. Doch ist der Bogen
mit den ausdrucksvollen hockenden Prophetenfiguren, die vor sich Schrift-
rollen halten, ein der Türe ebenbürtiges Kunstwerk. Wie dort bei der Türe
ist auch bei diesem Bogen die Technik vollendet, und ebenso zeigt der
prächtige Engelfries mit den vier Paaren einander zugewandter Engel,
die immer mit neuen Gebärden die Trauer ausdrücken, in seiner meist
siüchtigen, nur skizzierten, man möchte sagen impressionistischen Dar-
stellung das letzte Ausklingen gotischer Kunst. And hier noch stärker als
bei der Türe, die doch nur fünf Jahre älter ist, bezeugen die in die
Breitenrichtung gezogenen Verhältnisse des Denkmals die Renais-
sanceauffaffung seines Schöpfers. Das Ornament ist durchaus der
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Konstruktion untergeordnet und erfüllt so schon die Funktion des Re-
naiffaneeornamentes.
Jede der drei Kapellen an der Südseite des Chores weist ein wichtiges
Denkmal auf. In erster Linie die Jan van Arkel-Kapelle, in der 1919 ein
steinernes Bildwerk aufgedeckt wurde, das zu dem ehemaligen Annenaltar
gehörte. Es war hinter einer Mauer versteckt, muß aber offenbar zur
Zeit des Bildersturmes beschädigt worden sein, denn die Zerstörung
der Gesichter kann nicht durch die Cinmauerung erklärt werden/ Bis auf
diese Entstellung ist das Kunstwerk in bestem Erhaltungszustand, vor allem
sind die ursprünglichen Farben, das Rot, Blau und Gold in seiner vollen
Klarheit ans Licht gekommen. Die Darstellung zeigt in der Mitte unter
einem Baldachin die Gruppe der hl. Anna Selbdritt, die von den Leiligen
Antonius, Jakob von Compostella,Martin,Katharina,Agnes und — wahr-
scheinlich — MariaMagdalena umgeben wird. Aber dem Baldachin ragt
Gottvater mit dem Oberkörper aus Wolken hervor. Diese Leiligen, alle
angetan mit prächtigen bunten Gewändern, mit vergoldetem Linnen und
Brokat, stehen vor einem hinter den Baldachin gespannten Goldbrokat,
dessen reiches Granatapselmuster in rot und gold die Kostbarkeit der Aus-
führung dieser Arbeit beweist. Die ganze Darstellung wird von profilierten
Leisten eingefaßt, von einem blau gemalten und mit Sternen besetzten Netz-
gewölbe überdacht und von einem Rundbogen abgeschlossen. Der Stil der
Bildhauerarbeit ist der der sogenannten Niederrheinischen Skulptur, die
im 15. und 16. Jahrhundert ein ausgedehntes Gebiet beherrscht hat und
zu deren Einflußsphäre außer Calcar und Tanten, in dem sich die vorzüg-
lichsten Beispiele erhalten haben, auch der Osten unseres Landes gehörte.
Dieser neue Fund im Atrechter Dom kann durch seine vortreffliche Qualität
den bekannten holzgeschnitzten Altären von Calcar und Tanten als eben-
bürtige Arbeit gegenübergestellt werden. Der Altar ist von einem Mit-
glied der Familie Pot, wahrscheinlich von dem Magister Antonius Pot,
gestiftet worden, der 1473 Kanonikus, 1500 Offizial des Domes wurde.
Er starb — nach seinem Grabstein in derselben Kapelle — am 24. Oktober
1500. Mit einem der beiden Daten wird man wohl die Ausführung des
Altares in Zusammenhang bringen können; die archivalische Überlieferung
gibt uns keine weitere Landhabe.
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In der angrenzenden Kapelle, wo das schon erwähnte Grabmal des
Bischofs Guy von Avesnes (nach dem die Kapelle genannt wurde) steht,
ist ebenfalls 1919 eines der Kunstwerke wieder ans Licht gekommen, die
ehemals den Reichtum dieser Kirche ausgemacht haben. Es ist eine Wand-
malerei, in den figuralen Teilen ziemlich unverletzt, die sich im Tympanon
des vormals an dieser Stelle befindlichen Margaretenallares befand;
sie stellt die Kreuzigung dar mit Maria und Johannes zur linken und der
hl. Margareta zur rechten, wie sie unverletzt aus dem Drachen hervorkommt.
Mer der Inschrift des Kreuzes sind, wie es die Tradition verlangt, Sonne
und Mond gemalt und noch deutlich zu sehen; kaum kennbar aber ist die
Reihe von übereinander stehenden Heiligen an der Außenseite des Bogens.
Rur die Kasein von zwei Geistlichen kann man unterscheiden und nach dem
Turm, ihrem Attribut, die hl. Barbara herausfinden. Bei diesem Fresko,
dessen Farben an Stärke und Helligkeit vielleicht eingebüßt haben, berührt
uns vor allem die dramatische Kraft in dem Körper des Gekreuzigten und
in den Gesichtszügen von Maria und Johannes. Diese Ausdruckskraft
bei einem so frühen Werk — es muß wohl um 1430 angesetzt werden —
ist für Holland ganz ungewöhnlich. Auch ist die Technik vorgeschritten:
die Malerei ist zart und die Forin plastisch empfunden, vor allem in den
nackten Teilen zeigt das Ganze eine besonders leichte fließende Linie, die
ein dünner schwarzer Kontur, der längs dem Korpus und den Händen der
Heiligen läuft, noch mehr hervorhebt. Kein Fresko dieser Qualität in
- Holland kann zur Vergleichung herangezogen werden. Wir müssen bis in
das Ende des 14. Jahrhunderts zurückgehen, um den Stil dieser Atrecht-
schen Malerei fassen zu können. Ich denke an die Heiligen an den Flügeln
des sogenannten Zütphenschen Altars (jetzt im Niederländischen Museum
in Amsterdam) und das Fresko in der St. Walburgskirche in Zütphen,
den hl. Christoph mit drei Heiligen. Aus diesem großartigen dekorativen
Stil kann auch die Atrechtsche Wandmalerei herausgewachsen sein und es
wird gewiß nötig sein, wenn es einmal zu einer genaueren Umschreibung
ihres Meisters kommen sollte, dem Einfluß nachzugehen, der am durch-
greifendsten im Osten unseres Landes gewirkt hat.
Die dritte Kapelle an der Südseite des Chors, die an das Querschiff
grenzt, ist von Bischof Rudolf von Diepholt (f 1455) gestiftet worden.
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Bei seinem Tod war sie noch unvollendet, erst um 1465 war sie iin Rohbau
fertig, der skulpturale Schmuck, der die Kapelle zu einer der schönsten die
einst den Dom zierten, macht, gehört erst dem letzten Viertel des 15. Jahr-
hunderts an. An der Ost-und Westwand zeigen das Maß-und Stabwerk
noch deutlich die Polychromie, die ehemals offenbar die ganze Kapelle
belebte. Aber dem Altar an der Ostwand war eine Kreuzigung skulpiert
zwischen Maria und Johannes über Konsolen, die noch erhalten sind.
Von demselben Bildhauer sind auch zahlreiche Engelsfiguren als Zwickel-
füllung des Bogens gearbeitet, in Erfindung und Ausführung gleich ge-
lungen. Rach den letzten Untersuchungen ist der Dombaumeister Jacob
van der Borch (1475) als ihr Schöpfer sichergestellt. Den Engelsfiguren
wohnt große Ausdruckskraft und tiefes Gefühl inne; in den dreieckigen
Feldern der Zwickel bewegen sie sich frei und unbehindert, die Passions-
werkzeuge in den Länden, den lauten Schmerz in Laltung und Gebärde
darstellend.
Auch an der Westwand sind von den Figuren, die in den Nischen
standen, nur mehr die Konsolen übrig geblieben, die mit kauernden Wappen-
trägern skulpiert sind. Sie weisen eine andere Land als die Engelsfiguren
auf, doch gehören sie stilistisch zu fünf kleinen Steinfiguren vom Grabmal
Rudolfs von Diepholt, die jetzt im Zentralmuseuni in Atrecht aufbewahrt
werden (T.7 und 8). Diese stellen die Leiligen Georg, Paulus,Agnes und
Magdalena dar, Lochreliefs von den Längsseiten des Grabes, und den
hl. Martin zu Pferd, eine größere Gruppe, die die Schmalseite abschloß.
Wahrscheinlich ist Cornelis de Wael, der dem Jacob van der Borch als
Dombaumeister nachfolgte, der Schöpfer dieser Figuren (und der Konsolen)
gewesen, die in der Skulpturgeschichte Lollands eine hervorragende Be-
deutung besitzen. Sie weisen einen durchaus eigenen auch einigermaßen
eigenartigen Charakter auf; an ein Format gebunden, das die Löhe der
Grabtumba bestimmt, haben sie etwas gedrungenes bekommen, das noch
durch die breiten Basen betont wird, auf denen sie in gewichtigem Stand-
motiv, von schweren Stoffen drapiert, dastehen. Der Reliefeindruck drängt
sich auf. Wie das Laar gelegt wird, wie die Draperie sich faltet oder um
den Arm gezogen wird, erinnert an die Art der Lolzschnitzer. And während
wir sonst bei den Kunstschätzen des Domes schon zu wiederholten Malen
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auf den Zusammenhang mit der niederrheinischen Skulptur Hinweisen
Mußten, lassen diese Bildwerke ausfallenderweise viel eher an die burgun-
dische Schule denken; ja man hat an Claus Sluters Stil denken wollen,
der vor allem in der Figur des hl. Paulus nachzuwirken scheint. Falls
diese Skulpturen in der Tat von Cornelis de Wael gearbeitet sind, wäre
es gewiß von großer Wichtigkeit, diesen Meister näher kennen zu lernen.
Mit diesen ist die Zahl der Kunstwerke — so weit sie uns seither be-
kannt geworden — erschöpft, die während des Baues des Domes zu dessen
Ausschmückung angebracht wurden. Aber im Chor befinden sich noch zwei
Denkmäler aus der späteren Zeit. Das eine ist das Grabdenkmal des
Bischofs Georg von Egmont,das zwischen zwei Pfeiler des Chorumganges
gesetzt wurde (Taf. 9). Die architektonische Amrahmung ist noch fast völlig
intakt, aber die Skulpturen fehlen. Anten lag die Figur des Gestorbenen
oder ein Geripp auf einer gemeißelten Strohmatte ausgestreckt, wie es
auch bei anderen Grabmonumenten dieser Zeit vorkommt; auf dem
schwarzen Sarg aber kniete der lebend dargestellte Bischof in vollem
Ornat, dem Altare zugekehrt. An der Anterseite des Bogens, der diese
Statue einschloß, sind 16 Wappenschilde angebracht, an den Tiefenseiten
ist in schwarzen Lettern auf Goldgrund die Arkunde zu lesen, durch die der
Bischof eine Messe des hl. Sakraments bei dem Äochaltar gestiftet hat.
Der Bogen ruht über schmalen Pfeilern auf, die ebenso wie das oben
abschließende Gebälk ornamental verziert sind. Die Dekoration zeigt den
vollen Renaifsancecharakter, das sogenannte „Floris"-Ornament, dem der
Antwerpner Künstler, der es am reichsten ausgestaltete, den Namen lieh.
Die Farbe ist in der Hauptsache schwarz; leuchtend hebt sich dagegen
das Goldrelief der Kränze tragenden, tanzenden Satyrfigürchen ab, die
zwischen die Maskarons, Kartuschen, Vasen gesetzt sind, während ein
Schildchen die Jahreszahl 1549 bringt. Im Laufe der Zeit ist viel von
dem Gold geschwunden und die rote Grundfarbe durchgewachsen, die heute
dem Denkmal ein anderes Aussehen gibt. Doch kann es noch immer in
seinem ganzen Aufbau und seinem Schmuck, trotz allein was daran fehlt,
als schönes Renaissancewerk gelten.
Im Gegensatz zu diesem Monument, das in feinempfundener Zurück-
haltung aufgebaut ist und seine Zeichnung und seinen Farbenschimmer in
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kleinen begrenzten, symmetrisch aufgelösten Feldern gliedert, prangt in der
Mitte des Chores das massige Grabmal des Admirals van Gendt, das
Rombout Verhulst 1672 schuf (Taf. 10). Nach dem barocken Geschmack
unseres 17. Jahrhunderts in schroffem Kontrast von weiß zu schwarz auf-
gerichtet, mit schweren Trophäen und gedrängten Kränzen geschmückt,
ist es ein richtiges Prunkgrab, pompös und großartig I Als Architektur-
werk steht es weit hinter dem Denkmal des 16. Jahrhunderts zurück, doch
bilden die skulpturalen Teile seinen besten Reiz. Die für Verhulst so
charakteristische, beinahe schon typisch gewordene Marmorfigur des Toten
fesselt durch die Ausarbeitung des Antlitzes und der Lände, wie auch die
kleinen Putten, die zur Seite der Pyramide einen Wappenschild halten
und das malerisch gebildete Relief der Seeschlacht an der Vorderseite des
Sarkophags große skulpturale Bravour zeigen.
Mit diesem Grabmal ist zuletzt noch ein Kunstwerk in den Dom ge-
kommen, das der Absicht des großzügigen Bauwerkes einigermaßen ent-
sprach, obschon der Glanz doch nicht erreicht werden konnte, den er in der
Blütezeit des späten Mittelalters besessen hatte.
Literatur.
P. I. Blok, Geschiedenis van het Nederlandsche volk, Dl. II, Groningen
1893; S. Müller Fz., Oe Dom van Utrecht, Utrecht 1906; derselbe, Het 8chip
van den Dom van Utrecht in „Bouwk :nst“, Tweemaandelyksch T.jdschrift,
1. Jaarg., Afl. 6, Nov. 1909; Dehio und Bezold, Die kirchliche Baukunst des
Abendlandes, Band II, Stuttgart 1901; A. W. Weiß mann, 6e5chiedeni3 der
Nederlandsche Bouwkunst, Amsterdam 1912; Voorloopige lijst der Nederland-
sche Monumenten van Geschiedenis en Kunst, Dl. 1, Utrecht 1908; Slothouwer
und De Ionge in dem Bulletin van den Nederlandschen Oudheidkundigen Bond
1919; S. Muller Fz., De Beeiden van Orattornbe van Bisschop R. van Diepholt,
in „De Nederlandsche Musea“, 1916; M. van Notten, Rombout Verhulst,
5oaag 1907.
Verzeichnis der Bildtafeln:
Tafel 1: Chor vorn Südosten. Tafel 2: Kircheninneres. Blick zum Chor
und zu der Triforiengalerie. Tafel 3: Turm. Tafel 4: Kreuzgang. Tafel 5:
Sakristeitür. Tafel 6: Äl. Grab. Tafel 7: Ll. Agnes. Tafel 8: St. Georg
und St.Paulus. Tafel 9: Grab des Bischofs Georg von Egmond. Tafel 10:
Grabmal des Admiral van Gendt.
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