2565
Rußland
Eine Einführung auf Grund feiner Geschichte
vom Japanischen bis zum Weltkrieg
von
Otto Äoetzfch
Zweite vollständig umgearbeitete Auflage
Mit 2 Karten
Berlin J9J7
Verlag von Georg Reimer
Hl OÖLB ÜNZ +X05562302 j
45801
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung
in fremde Sprachen, vorbehalten.
Druck von Gerhard Stalling in Oldenburg i. Gr.
usyi
Vorwort zur zweiten Auflage.
Die erste Auflage war im ersten Kriegsjahr vergriffen. Zunächst
glaubten der Verlag und ich, für eine neue Bearbeitung das Ende des
Krieges abwarten zu müssen, so daß sich der Verlag, da die Nachfrage
ununterbrochen weiter ging, mit einem zweimaligen anastatischen Neu-
druck behalf, der den bisherigen Text unverändert wiedergab und in dem
nur die Zeittafel bis zum Kriegsbeginn fortgeführt und statistische Bei-
gaben angefügt wurden. Dieser Behelf konnte aber auf die Dauer nicht
genügen, und so habe ich eine vollständige Umarbeitung vorgenommen, die
unter Fortführung der geschichtlichen Entwicklung bis zum Kriegsausbruch
1914 ein Bild Rußlands geben will, wie es zu Beginn des Weltkrieges war.
Natürlich spiegelt sich der Reflex des Krieges an manchen Stellen wieder,
indes ist die direkte Bezugnahme auf den Krieg oder gar auf seine möglichen
Folgen grundsätzlich vermieden worden. Das Buch will das Verständnis
der entfernteren und besonders der näheren Voraussetzungen (seit der Revo-
lution) für den Zustand Mitte 1914 vermitteln, ist doch nunmehr das
Jahrzehnt von 1904 bis 1914 eine eigene abgeschlossene Periode russischer
Geschichte geworden.
Die Disposition brauchte nicht allzu stark verändert zu werden. Da-
gegen konnte und mußte die Umarbeitung erheblich kürzen. Aus den Be-
sprechungen habe ich jede tatsächliche Verbesserung dankbarst verwendet. Für
die Richtigstellung von Irrtümern werde ich auch weiter immer dankbar
sein. Ich darf darauf hinweisen, daß Absicht und Sinn des Buches,
das auf der russischen und polnischen sowie der Literatur in den west-
europäischen Sprachen und auf eigener Anschauung des russischen Staats
und Volkes ruht, mit ganz geringen Ausnahmen überall verstanden worden
ist. In Rußland selbst ist es von der Zensur verboten worden. Die
Kriegsliteratur über Rußland ist verarbeitet, bot freilich im Verhältnis
zu ihrem Umfang nicht allzuviel brauchbares.
I*
IV
Vorwort.
In Sachen der Transkription habe ich mich überzeugen lassen, daß
die Anwendung der wissenschaftlichen Übertragung russischer Schriftzeichen,
wie sie die erste Auflage versuchte, in einem für die weitere Öffentlichkeit
bestimmten Werke doch nicht angängig ist. Daher ist die Wiedergabe in
den gewohnten Zeichen erfolgt. Alle Daten sind, wenn nicht Doppeldaten
mitgeteilt sind, durchgängig nach neuem Stil gegeben. Für die Beigabe der
beiden Karten werden die Leser mit mir dem Herrn Verleger besonders
dankbar sein.
Trotz des Krieges habe ich Politik und Wissenschaft nicht vermengt
und mich bemüht, so objektiv zu sein wie irgend möglich. An anderer
Stelle habe ich Gelegenheit, regelmäßig unsere politischen Gegensätze zu
Rußland zu erörtern und dazu Stellung zu nehmen. Hier war es meine
Aufgabe, wie in der ersten Auflage, in das Verständnis der russischen
Gegenwart auf Grundlage der Geschichte und unter Ausschluß jeglicher
politischen Stellungnahme einzuführen.
Gegen die erste Auflage ist von vielen Seiten der Einwand
erhoben worden, daß die Darstellung allzu optimistisch sei und keine Vor-
stellung von der inneren Zersetzung und Gärung gäbe, die durch Rußland
gehe. Der Verlauf des Krieges hat bisher gezeigt, daß meine Auffassung
sich gegenüber einer in Deutschland sonst weit verbreiteten und im
Kriege immer wiederholten Betrachtungsweise russischer Dinge als
richtig erwiesen hat. Um so höhere Bewunderung wird, wer sich der Auf-
fassung dieses Buches anschließt, der Genialität unserer Führung und der
Tapferkeit unserer Truppen zollen, die inmitten einer Welt von Feinden
diesen Gegner so glänzend niederwarfen!
Berlin, im Februar 1917.
Otto Hoetzsch.
Inhaltsverzeichnis
Seite
Zeittafel....................................................................... IX
I. Buch........................................................................ 1
I. Kapitel. Das Erbteil der Vergangenheit.................................... 1
I. Das geographische Erbteil............................................ 5
II. Das ethnographische Erbteil.........................................13
III. Das Erbteil der Geschichte..........................................23
1. Die Staatenbildung..............................................23
2. Der Aufbau des Staates (Byzanz, Tatarenherrschaft, Euro-
päisierung, Selbstherrschaft).....................................27
3. Das Volk........................................................37
II. Kapitel. Die Entstehung des modernen Rußlands und die Voraus-
setzungen der Revolution von 1905 .................................... 40
I. Die Reformen Alexanders II............................................40
II. Die geistigen Voraussetzungen der Revolution bis zu Alexander II. 50
III. Das Regierungsshstem Alexanders III. und Nikolais II. bis 1904 . 60
IV. Wirtschaftspolitik, Frühkapitalismus und Sozialismus..................67
V. Letzte geistige Voraussetzungen der Revolution . 80
III. Kapitel. Der Krieg mit Japan und die Revolution bis zum Zu-
sammentritt der ersten Duma..........................................88
I. Der Krieg............................................................88
II. Die Revolution.......................................................93
II. Buch.......................................................................106
IV. Kapitel. Innenpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von
1906—1914 ....................................................... 106
I. Parteibildungen......................................................106
II. Die beiden ersten Dumm..............................................113
III. Die dritte und vierte Duma bis 1914..................................122
V. Kapitel. Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik........................138
I. Die volkswirtschaftliche Struktur des Kerngebiets und der Grenz-
marken bei Ausbruch des Weltkrieges.......................................138
VI
Inhaltsverzeichnis.
Seite
n. Agrarstage und Agrarreform .%........................................ 146
1. Bis zur Revolution............................................146
2. Während und nach der Revolution...............................165
III. Finanzen, Finanz- und Verkehrspolitik 1906—1914 .................. 179
IY. Handel, Wirtschaft- und Sozialpolitik................................187
Y. Entwicklung und Stand des Kapitalismus 1904—1914 .................. 191
YI. Kapitel. Verfassung, Verwaltung und Gericht............................196
I. Die Verfassung.....................................................196
II. Die Verwaltung bis 1905 ........................................... 208
HI. Gericht, Recht und Staatsdienst bis 1905 ........................... 217
IY. Veränderungen seit 1905 in Verwaltung und Gericht....................221
YII. Kapitel. Die ständische Gliederung, die Selbstverwaltung und die
gesellschaftlichen Kräfte.........................................229
YÜI. Kapitel. Die geistige Welt............................................242
I. Die orthodoxe Kirche........................................ ... 242
II. Die Schule..........................................................259
III. Presse und Literatur...............................................272
IY. Die russische Seele................................................. 275
IX. Kapitel. Der Machtstaat..............................................280
I. Wesen, Richtungen und Träger der Machtpolitik......................280
II. Die Machtmittel: Heer und Flotte....................................288
III. Kolonialpolitik....................................................295
1. Inhalt und Ziel...............................................295
2. Verkehrspolitik............................*...............297
3. Sibirien......................................................301
4. Turkestan................................................... 309
5. Der Kaukasus..................................................316
IY. Die auswärtige Politik vom Frieden von Portsmouth bis zum
Ausbruch des Weltkrieges..........................................319
III. Buch. Die Nationalitätenfrage, Panslavismus und Nationalismus . . 333
X. Kapitel. Die Grenzmarken........................................... 333
1. Die nationale Zusammensetzung des Reiches............................333
2. Die Nationalitätenfrage während der Revolution.......................336
3. Das Zartum Polen.....................................................338
4. Die Ostseeprovinzen (Deutsche, Letten und Esten); die Deutschen im
ganzen Reiche.........................................................354
6. Bessarabien..........................................................362
6. Der Kaukasus und die armenische Frage................................363
7. Finnland.............................................................368
Inhaltsverzeichnis.
VII
XL Kapitel. Die nationalen Probleme des Kerngebiets .
1. Litauen und Weißrußland........................
2. Der jüdische Ansiedlungsrayon..................
3. Die ukrainische Frage..........................
4. Mohammedaner und Tataren.......................
XII. Kapitel. Nationalismus und Panslavismus . . .
I. Der Nationalismus.............................
II. Der Panslavismus...............................
Schluß..................................................
Literaturangaben........................................
Die Hauptzeitungen......................................
Personenregister........................................
Karte des russischen Reiches ...........................
Nationalitätenkarte.....................................
Seite
... 385
... 385
... 392
... 398
... 403
... 408
... 408
... 412
. . . 422
... 425
. . . 433
... 435
vor dem Titel
am Schluß
Zeittafel.
(Daten nach neuem Stil.)
1882. 30. Mai: Begründung der Bauernagrarbank.
1885. 16. Juni: Begründung der Adelsagrarbank.
1887—1892. I. A. Wyschnegradski Finanzminister.
1888. Dezember: Erste große Anleihe Rußlands bei Frankreich.
1889. 24. Juni: Gesetz betr. Errichtung des Amts der „Semskie Natschalniki".
1890. 24. Juni: Gesetz betr. die Semstwos (die heute geltende Ordnung).
1891. 30. März: Ukas für den Beginn des Baues der Sibirischen Bahn.
11. Juni: Erlaß eines neuen (Hochschutzzoll-)Zolltarifs (gültig ab 1./13. Juli).
Erste allgemeine Hungersnot.
1892. 23. Juni: (Heute geltende) Städteordnung.
11. September: Ernennung S. I. Wittes zum Finanzminister.
1894. Erste größere Arbeiterunruhen; neues Erwachen der Narodnaja Wolja.
10. Februar: Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrages (in Kraft
getreten am 20. März); Aufhebung des Verbots (seit 1887) der
Lombardierung russischer Wertpapiere bei der deutschen Reichsbank
und Seehandlung.
14. März: Gesetz betr. die Fabrikinspektion.
18. Juni: Einführung des Branntweinmonopols (in Kraft getreten nach und
nach seit 1. Januar 1895).
1895. 9. Dezember: Umgestaltung der Bauernagrarbank.
1896. Streiks der Arbeiter und Studenten, von Petersburg aus. — Vertrag mit
China über den Bau der chines. Ostbahn.
1897. 15. Januar: Allerhöchster Befehl betr. die Einführung der Goldwährung.
(Dazu die Ukase vom 10. September und 26. November 1897.)
9. Februar: Erste allgemeine Volkszählung in Rußland.
Hungersnot. — Gründung des jüdischen Arbeiterbundes im Zartum
Polen und Litauen. — Wiedererscheinen der Sozialrevolutionäre. —
Zession Port Arthurs von China an Rußland.
1./2. Juni: Revision des russisch-finnländischen Zolltarifs.
14. Juni: Gesetz betr. den Maximalarbeitstag.
10. September: Gesetz betr. Einführung der Goldwährung.
X
Zeittafel.
1898. Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands.
15. März: Pachtung von Port Arthur.
24. August: Vorschlag des Zaren auf einen Friedenskongreß (dessen Tagung
18. Mai bis 29. Juli).
1899. 15. Februar: Manifest über die finnische Verfassung.
16. Februar bis 13. März: Beginn der eigentlichen Studentenbewegung in
Petersburg.
30. Juli: Gründung von Dalni; dessen Freihafenstellung.
23. September: Beginn des Studentenstreiks.
Preissturz der Aktienwerte; Dauer der Krisis bis 1902. — Subatowschtschina.
1900. Erstes Mandschureiabkommen zwischen Rußland und China.
1901. Wiederbeginn des Terrors und Konstituierung der „sozial-revolutionären"
Partei.
27. Februar: Ermordung des Kultusministers Bogoljepow.
10. März: Veröffentlichung der Exkommunikation L. Tolstois.
17. März: Große Studentendemonstration (mit Arbeitern) vor der Kasan-
schen Kathedrale in Petersburg.
März: Studentendemonstrationen und -streiks in Petersburg, Moskau,
Kiew, Odessa, Charkow, Kasan, Tomsk und Dorpat.
4. April: Attentat auf Pobjedonoszew.
12. Juli: Finnische Wehrordnung; Auflösung des finnischen Heeres.
1902. 5. Februar und 4. März: Kommissionen zur Lösung der Agrarfrage eingesetzt.
März: Erster allrussischer Studentenkongreß.
8. April: Zweites Mandschureiabkommen zwischen Rußland und China.
15. April: Ermordung des Ministers des Innern Sipjagin; Nachfolger:
W. K. Plehwe.
6. Juni: Gründung der Semstwozenträle in Moskau.
14. Juli: Beginn des Erscheinens der „Oswoboschdenie" (erst in Stuttgart,
dann in Paris) von P. Struve.
Beschluß betr. die Bahnbauten Orenburg—Taschkent, Bologoje—Sjedlez,
Petersburg—Wjatka. — Vollendung der sibirischen Bahn.
1903. Sommer: Begründung des „Bundes des Befreiung", bis Oktober 1906. —
Gründung des „Komitees für den fernen Osten". — Große Arbeiter-
demonstrationen im Laufe des Jahres.
11. März: Manifest über Agrarreformen und religiöse Toleranz.
9. April: Bobrikow Diktator in Helsingfors.
16. Juni: Haftpflichtgesetz für die Industrie.
20. Juni: Erlaß über das Russische als Verwaltungs- usw.-Sprache in
Finnland.
Juli—August: Generalstreik in Südrußland und im Kaukasus.
August: Erster russ.-sozialdemokratischer Parteitag (im Auslande).
12. August: Beginn der Verhandlungen zwischen Japan und Rußland.
13. August: Ernennung Alexejews zum Statthalter des fernen Ostens.
Zeittafel.
XI
29. August: Wittes Rücktritt vom Finanzministerium und Ernennung zum
Präsidenten des Ministerkomitees.
November: Zweiter allrussischer Studentenkongreß (in Odessa).
1904. Seit 1904 Ausdehnung einer armenischen Sozialdemokratie.
21. Januar: Ukas betr. Reform der bäuerlichen Gesetzgebung.
5. Februar: Abbruch der Verhandlungen zwischen Rußland und Japan
durch letzteres.
8./9. Februar: Angriff auf Port Arthur.
18. Februar: Ernennung Kokowzows zum Finanzminister.
21. Februar: Ernennung Kuropatkins zum Oberkommandierenden der
Armee in der Mandschurei.
26. März: Aufhebung der Solidarhaft der Gemeinde.
1. Mai: Übergang der Japaner über den Aalu.
30. Mai: Besetzung von Dalni durch Japan.
16. Juni: Ermordung des Generalgouverneurs Bobrikow in Helsingfors.
I. Juli: Protest Tolstois gegen den Krieg in der „Times".
28. Juli: Ermordung Plehwes.
28. Juli: Deutsch-russischer (Zusatz-)Handelsvertrag (in Kraft tretend
1. März 1906 und laufend bis 31. Dezember 1917).
12. August: Geburt des Thronfolgers Alexej.
24. August: Gnadenmanifest, (Abschaffung der Prügelstrafe für die
bäuerliche Bevölkerung, firr Heer und Flotte; Steuererlasse usw.).
26. August bis 4. September: Schlacht bei Liaojan.
8. September: Ernennung Swjatopolk-Mirskis zum Minister des Innern.
II. September. Ausfahrt Roschdestwenskis aus Kronstadt.
26. September: Eröffnung der Baikalsee-Ringbahn.
30. September und ff.: Konferenz der Oppositionsführer in Paris, erster
Zusammenschluß dieser Art.
9. —19. Oktober: Schlacht am Schaho.
21./22. Oktober: Beschießung einer englischen Fischerflotte' an der Dogger-
bank (Einsetzung eines Schiedsgerichts darüber 26. November).
23. Oktober: Entsetzung Alexejews und Ernennung Kuropatkins zum Ober-
kommandierenden der gesamten Landarmee in Ostasien.
19. —22. November: Erster Semstwokongreß in Petersburg.
11. Dezember: Straßenunruhen in Petersburg.
19. Dezember: Straßeuunruhen in Moskau.
26. Dezember: Ukas an den Senat (bäuerliche Gesetzgebung, Glaubens- und
Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Gerichte usw.).
27. Dezember: Manifest über die Selbstherrschaft.
1905. 16. Januar: Kapitulation von Port Arthur. — Enthebung des Großfürsten
Sergius von der Stellung als Generalgouverneur von Moskau.
17. —20. Januar: Streiks in Petersburg.
19. Januar: Scharfe Schüsse beim Fest der Wasserweihe in Petersburg.
xn
Zeittafel.
22. Januar: Der „RoLe" Sonntag in Petersburg.
24. Januar: Ernennung Trepows zum Generalgouverneur von Petersburg;
Aufhebung der Stadthauptmannschaft von Petersburg.
Uuruhen in Helsingfors. — Schließung sämtlicher Hochschulen des Reiches.
— Matrosenunruhen in Sewastopol.
1. Februar: Rücktritt Swjatopolk-Mirskis und Ernennung Bulygins zum
Minister des Innern. — Empfang einer Arbeiterdeputation durch
den Zaren.
6. Februar: Belagerungszustand in Polen.
10. Februar: Beginn des Schulstreiks und -boykotts sowie überhaupt von
Streiks im Zartum Polen.
17. Februar: Ermordung des Großfürsten Sergius in Moskau.
19. Februar ff.: Beginn von Unruhen im Kaukasus.
24. Februar bis 9. März: Schlacht bei Mukden.
3. März: Reskript an Bulygin: Volksvertretung zur „Teilnahme
an der Ausarbeitung und Beratung der Gesetzentwürfe". — Ukas an
den Senat: Petitionsrecht für die Reichsreform. — Manifest gegen
den inneren und äußeren Feind und über die Erhaltung der Selbst-
herrschaft.
17. März: Ernennung von Linjewitsch an Stelle Kuropatkins.
19. März: Straßenunruhen in Riga.
März: Gründung des „Bundes russischer Männer".
Ende März: Unruhen in der Krim.
29. März: Aufhebung des finnischen Wehrgesetzes vom Juli 1901.
12. April und 19. Mai: Einsetzung eines Zentralkomitees für die Agrarfrage.
30. April: Erlaß aller bis zum 27. November 1894 gemachten Vorschüsse
für die Bauern.
30. April: Toleranzedikt für die Altgläubigen.
Mai: Erster Bauernkongreß in Moskau.
14. Mai: Toleranzedikt für die Bekenner anderer Konfessionen.
14. Mai: Ukas betr. Gestattung des Unterrichts im Polnischen und Litau-
ischen im Westgebiet und des Landerwerbs durch Polen ebendort.
21. Mai: Erster Kongreß und Gründung des „Verbandes der Verbände".
27./28. Mai: Seeschlacht bei Tsuschima.
5. Juni: Ernennung Trepows zum Gehilfen des Ministers des Innern. —
Ukas über das Preßrecht.
6. Juni: Semstwokongreß und Beschluß einer Adresse an den Zaren.
6./8. Juni: Zweiter Kongreß des „Verbandes der Verbände". — Unruhen
in Petersburg.
8. Juni: Anregung Roosevelts zum Frieden an Japan und Rußland.
14. Juni: Meuterei auf dem Kreuzer „Potemkin".
19. Juni: Empfang von Deputierten des Semstwokongresses durch den
Zaren; Anrede von Fürst Sergius Trubezkoi.
Zeittafel. XIII
19. Juni: Zulassung der polnischen Sprache in Schule und Verwaltung des
Zartums Polen.
21. Juni: Begründung des Reichsverteidigungsrats.
21.-25. Juni: Straßenkämpfe in Lodz.
26. Juni: Aufhebung des „Komitees für den fernen Osten".
27. Juni: Unruhen in Odessa.
27.-29. Juni: Dritter Kongreß des „Verbandes der Verbände".
29. Juni: Toleranzedikt für die Juden.
30. Juni: Auflösung des finnischen Militärbezirks.
I. Juli: Gestattung deutscher Privatschulen in den Ostseeprovinzen.
19./22. Juli: Zweiter eigentlicher Semstwo- und Städtevertreterkongreß
in Moskau.
23./24. Juli: Zusammenkunft Wilhelms II. und Nikolais II. auf der Höhe
von Björkö.
13. /14. August: Zweiter allrussischer Bauernkongreß und Gründung des all-
russischen Bauernbundes m Moskau.
19. August: Verfassung und Wahlgesetz.
5. September: Frieden von Portsmouth mit Japan.
8. September: Gewährung der Autonomie an die Universitäten.
14. —17. September: Allrussischer Studentenkongreß in Wiborg.
23.-28. September: Dritter Semstwo- und Städtevertreterkongreß in
Moskau.
September: Unruhen in Baku.
II. Oktober und ff.: Eisenbahnerstreik und Generalausstand.
14. Oktober: Gestattung des Polnischen und Litauischen als Unterrichts-
sprache in den Privatschulen des Zartums Polen.
25—31. Oktober: Gründung der Kadettenpartei.
27. Oktober: Ukas über das Versammlungsrecht.
28. Oktober: Generalstreik und Verhängung des Kriegszustandes im
Zartum Polen.
30. O k t o b e r: S o g. O k t o b e r m a n i f e st.
31. Oktober: Unruhen in Petersburg. — Straßenkämpfe in Odessa.
1. November: Entlassung Pobjedonoszews. — Aufhebung der Zensur. —
Umgestaltung des Ministerkomitees: Ministerpräsidium und
Ministerrat.
3. November: Ukas über Amnestie politischer Verbrecher.
4. November: Wiederherstellung der finnischen Verfassung.
6. November: Ernennung Wittes zum Ministerpräsidenten, Durnowos zum
Minister des Innern.
8. November: Entlassung Trepows. — Meuterei in Kronstadt.
16. November: Manifest betr. die Loskaufszahlungen, deren Herabsetzung
auf die Hälfte für 1906 und völliger Erlaß für 1. Januar 1907.
16./20. November: Zweiter Generalstreik.
XIV
Zeittafel.
19./27. November: 4. Kongreß der Semstwo- und Städtevertreter.
19. /26. November: Dritter allrussischer Bauernkongreß.
24./29. November: Meuterei in Sewastopol.
30. November: Gründung des allrussischen Bolksverbandes.
Oktober/November: Judenmassakers in Odessa und Kischinew.
November: Ausbruch der Revolution in den Ostseeprovinzen.
29. November/10. Dezember: Zweiter Eisenbahnerstreik (auch Post und
Telegraphie) und Versuch des Generalstreiks.
Dezember: Meutereien in zahlreichen Garnisonen.
7. Dezember: Aufhebung der Präventivzensur und Preßgesetz.
16. Dezember: Verhaftung und Auflösung des Arbeiterrats.
17. Dezember: Konstituierung des Oktoberverbandes.
20. /31. Dezember: Ausstand und Revolution in Moskau.
24. Dezember: Ukas über die Erweiterung des Wahlrechts.
1906. Januar: Judenverfolgung in Homel.
28. Januar bis 5. Februar: Kongreß der Mohammedaner in Petersburg.
4. März: Manifest und Ukas über den Reichsrat und die Duma.
17. März: Erlaß eines „temporären" Vereins- und Versammlungsgesetzes.
— Ukas betr. Einsetzung der Landorganisationskommissionen.
18. —30. März: Duma-Urwahlen.
21. März: Ukas betr. die Budgetregeln.
22. März: Festsetzung der dreijährigen Dienstzeit für die Infanterie. (Am
29. Juni veröffentlicht.)
10. April: Ermordung Gapons.
2. Mai: Gestattung des Deutschen, Lettischen und Estnischen als Unter-
richtssprache in den Ostseeprovinzen.
5. Mai: Verabschiedung Wittes und Durnowos.
6. Mai: Erlaß der Reichsgrundgesetze.
9. Mai: Aufhebung der Präventivzensur für Bücher.
10. Mai: Ernennung Goremhkins zum Ministerpräsidenten, Stolhpins zum
Minister des Innern und Kokowzows zum Finanzminister.
10. Mai bis 21. Juli: Erste Duma.
12. Mai: Ernennung Jswolskis zum Minister des Auswärtigen.
17. Mai: Adreßannahme, Verlangen der Duma nach allgemeiner Amnestie.
26. Mai: Mißtrauensvotum gegen das Ministerium.
29. Mai bis 20. Juli: Beratung der Agrarfrage in der Duma.
14—18. Juni: Judenpogrom in Bialhstok.
Mitte Juni: Militärische Besetzung der Alandsinseln.
24. Juni: Meuterei des 1. Bataillons des Garderegiments Preobraschensk.
2. Juli: Verlangen der Duma nach Ministerverantwortlichkeit und Ab-
schaffung der Todesstrafe.
20. Juli: Neue Landtagsordnung und Wahlgesetz für Finnland.
21. Juli: Auflösung der Duma.
Zeittafel.
XV
22. Juli: Ernennung Stolhpins zum Ministerpräsidenten.
. 23. Juli: Wiborger Aufruf der Kadetten.
31. Juli: Meuterei in Sweaborg.
August: Zahlreiche Unruhen und Plünderungen im Reiche.
2. August: Meuterei in Kronstadt.
25. August: Erfolgloses Attentat auf Stolypin.
25. August und 9. September: Bestimmung von im ganzen 9 Mill. Dessj.
Apanagen- und Kronsland zum Verkauf an die Bauern.
1. September: Einführung der Feldkriegsgerichte.
16. September: Tod Trepows.
2. Oktober: Ukas über Erschließung der Kabinettsländereien zur Ansiedlung
in Westsibiren.
18. Oktober: Ukas betr. die rechtliche Gleichstellung der Bauern.
Oktober/November: Begründung der „Deutschen Vereine" und Neubelebung
des deutschen Schulwesens in den Ostseeprovinzen; politischer Zu-
sammenschluß in der „Deutschen Gruppe" des Oktoberverbandes. —
Gründung polnischer Schulen im Zartum Polen durch die „Macierz
Szkolna"; politischer Zusammenschluß der Nationaldemokralen,
Ugodowzh und Fortschrittler.
30. Oktober: Ukas betr. Gestattung von Kirchengemeinden und -bau für
Altgläubige und orthodoxe Sektierer.
18. November und 4. Dezember: Oktobristenkongreß: Absage an die Ka-
detten und die Rechte.
22. November: Ukas betr. Auflösung des Mir.
23. Dezember: Ermordung des Grafen Alexander Jgnatiew.
Dezember: Terroristenkongreß in Luzern.
1907. 21. Januar bis 17. Februar: Dumawahlen.
28. Januar: Räumung der Mandschurei.
6. März bis 16. Juni: Zweite Duma.
15. /16. März: Wahlen zum finnischen Landtag.
19. März: Stolhpins Regierungsprogramm vor der Duma.
23. März: Tod Pobjedonoszews.
23. Mai: Rede Stolhpins über die Agrarfrage.
28. Mai: Ablehnung der Mißbilligung politischer Verbrechen und des
Terrors durch die Duma.
14. Juni: Verweigerung der Ausschließung und Auslieferung von Mit-
gliedern zu strafrechtlicher Verfolgung wegen Verschwörung gegen
den Zaren.
16. Juni: Auflösung der zweiten Duma und Erlaß eines
neuen Wahlgesetzes.
26. Juni: Semstwokongreß.
28. Juli: Handesvertrag mit Japan.
30. Juli: Vertrag mit Japan über China.
XVI Zeittafel.
3. /6. August: Zusammenkunft Wilhelms II. und Nikolais II. vor Swine-
münde.
31. August: Abkommen mit England über Persien.
14. September: Beginn der Neuwahlen.
27. Oktober bis 1. November: Wahlen der Abgeordneten.
14. November 1907 bis 11. September 1912: Dritte Duma.
26. November: Annahme der Adresse.
29. November: Programmerklärung Stolhpins.
18. Dezember: Auflösung der „Macierz Szkolna" in Polen.
1908. 6. Januar: Gesetz betr. Erhöhung der Offiziersgehälter.
Januar: Das „große" Flottenprogramm.
20. Februar: Verurteilung des Generals Stössel.
4. April: Auflösung des finnischen Landtags.
9. April: Feierlicher Empfang des Fürsten von Montenegro durch den
Zaren.
16. April: Beschluß des Baus der Amurbahn.
23. April: Ostseeabkommen mit Deutschland, Dänemark und Schweden.
18. Mai: Programmrede Stolhpins in der Duma über Finnland.
Mai: Allslawischer Kongreß in Petersburg.
6. und 9. Juni: Angriff Gutschkows auf die „unverantwortlichen Stellen"
in Heer und Flotte.
9./10. Juni: Zusammenkunft Eduards VII. mit Nikolai II. in Reval.
16. Juni: Beschluß des Baues eines zweiten Gleises der Sibirischen Bahn.
18. Juni: Gründung des allrussischen Nationalverbandes.
Juli: Allslawischer Kongreß in Prag.
1. Juli: Neuwahlen in Finnland.
16. Juli: Protest L. Tolstois („Ich kann nicht schweigen").
27. /28. Juli: Zusammenkunft des Zaren mit dem ftanzösischen Präsidenten.
21. August: Aufhebung des Reichsverteidigungsrats.
13. September: Wiedereröffnung der Universität Warschau (seit 1906 ge-
schloffen).
16. September: Beendigung des Kriegszustandes in den Ostseeprovinzen.
September/Dezember: Senatorenrevisionen in Moskau und Turkestan.
1909. Januar/Februar: Angelegenheit Asew.
22. Februar: Auflösung des finnischen Landtags.
April: Allflawischer Kongreß in Petersburg.
6. Juni: Gesetz betr. Schulbaudarlehnsfonds beim Ministerium für Volks-
aufklärung.
17. /18. Juni: Zusammenkunft Wilhelms II. und Nikolais II. vor Fredriks-
hamn.
23. Juni: Gesetz berr. Errichtung einer Universität in Saratow.
18. Juli: Poltawafeier.
26. Juli: Empfang von 120 Dumaabgeordneten durch Eduard VII.
Zeittafel.
XVII
6. September: Verfügung des Ministerrats betr. Art. 96 der Reichsgrund-
gesetze.
22. September: Ukas über die Universitätsreform.
Oktober: Reise von Stolypin und Kokowzow nach Sibirien.
23. /25. Oktober: Besuch des Zaren beim König von Italien in Racconigi.
17. /18. November: Militärkonflikt und Landtagsauflösung in Finnland.
16. Dezember: Annahme des Entwurfs über die bedingte Verurteilung und
29. Dezember: über die Reorganisation der Armee durch die Duma.
1910. 9. Februar: Neuwahlen in Finnland.
23. Februar/3. März: Besuch des bulgarischen Königspaares und
22. März: des Königs von Serbien am russischen Hofe.
21. März: Dumapräsident Chomjakow (seit Anfang der 3. Duma) durch
Gutschkow ersetzt.
Seit April: Senatorenrevision in Warschau.
30. Mai: Annahme des Entwurfs über die Semstwos im Westgebiet in der
Duma.
27. Juni: Gesetz über das Ausscheiden der Bauern aus
der Gemeinde.
30. Juni: Gesetz betr. gemeinsame Gesetzgebung für Rußland und Finnland.
4. Juli: Abkommen mit Japan über die Mandschurei.
28. August: Ernennung des Königs von Montenegro zum russischen Feld-
marschatt.
28. September: Ernennung Sasonows zum Minister des Auswärtigen.
8. Oktober: Auflösung des finnischen Landtags.
4./5. November: Besuch des Zaren in Potsdam.
20. November: Tod L. Tolstois.
8. Dezember: Annahme des 100 Mittionenfonds für die Volksschule in der
Kommission der Duma.
1911. 12. Januar: Neuwahlen in Finnland.
6. Februar: Annahme des Volksschulgesetzes in der Duma.
27. März: Staatsstreich: Ukas betr. Einführung der Semstwos im West-
gebiet. — Demission und Sieg Stolhpins. — Niederlegung des
Dumapräsidiums durch Gutschkow.
2. April: Gesetz betr. das Urheberrecht.
19. Mai: Potsdamer Abkommen mit Deutschland über Persien und die
Bagdadbahn.
27. Mai: Beginn des Konflikts mit Nordamerika in der Judenfrage.
11. Juni: Gesetz über die Landorganisation.
14. September: Attentat auf Stolypin in Kiew.
18. September: Tod Stolhpins.
23. September: Ernennung Kokowzows zum Ministerpräsidenten.
23. September und 30. Oktober: Zusammenschluß der Oktobristen und
Nationalisten.
Hoetzsch, Rußland.
II
XVIII
Zeittafel.
18. November: Kündigung des russ.-amerikan. Handelsvertrages durch die
Vereinigten Staaten (in Kraft bis 18. November 1912).
29. November: Annahme der Vorlage gegen die Trunksucht in der Duma.
1912. 1. Januar: Gesetz betr. die Verstaatlichung der Warschau—Wiener Bahn.
23. Januar: Gesetz betr. den finnischen Reichswehrbeitrag.
2. Februar: Gesetz betr. Rechtsgleichheit russischer Untertanen in Finnland.
24. März: Gesetz betr. die Sekte der Mariawiten.
23. Mai: Gesetz betr. Verbesserung der materiellen Lage der Gymnasial-
lehrer.
8. Juni: Gesetz über die höheren Elementarschulen.
18. Juni: Ablehnung des Volksschulgesetzes im Reichsrat.
22. Juni: Gesetz betr. Einführung der Semstwos in den Gouvernements
Astrachan, Orenburg und Stawropol.
22. Juni: Schluß der Duma.
28. I u n i: G e s e tz b e t r. U m w a n d l u n g d e s l o k a l e n G e r i ch t s.
2. Juli: Annahme des Flotten-Ouinquennats durch die Duma (sog. kleines
Flottenprogramm).
4.-6. Juli: Zusammenkunft Wilhelms II. und Nikolais II. in Baltischport.
6. Juli: Gesetz betr. Bildung des Gouvernements Cholm und betr. Abände-
rung des Statuts über die Wehrpflicht. — Die vier Arbeiterversiche-
rungsgesetze.
9. Juli: Gesetz betr. Gründung einer Staatsbank für den Semstwo- und
Kommunalkredit.
11. September: Auflösung der Duma.
Vom 25. September ab Neuwahlen.
3. November: Vertrag mit dem Chutuchtu der Mongolei.
12. November: Abschluß der Urheberkonvention mit Frankreich.
28. November: Zusammentritt der vierten Duma.
6. Dezember: Abordnung aus der Mongolei in Petersburg.
1913. 16. Januar: Großfürst Michael Alexandrowitsch verliert die Rechte auf die
Thronfolge wegen seiner Mesalliance.
22. Januar: Ablehnung der Vorlage über Einführung des Semstwos für
das Gouvern. Archangel im Reichsrat. — Erinnerungsstreiks an den
„Roten Sonntag".
1. Februar: Ernennung des General Dschunkowski zum Gehilfen des
Ministers des Innern.
3. Februar: Minister Maklakow zieht alle Toleranzvorlagen aus der Duma
zurück.
18. Februar: Abkommen mit der Mongolei zur Organisation der mongo-
lischen Armee.
27. Februar: Der Ministerrat erklärt Jnitativanträge der Duma über
Unverletzlichkeil der Person, über Vereine und Versammlungen und
Änderung des Dumawahlrechts für unannehmbar.
Zeittafel.
XIX
28. Februar: Abschluß der deutsch-russischen Literarkonvention (veröffentlicht
19. April).
5. März: Nichtbestätigung des Fürsten G. E. Lwow als Moskauer Stadt-
haupt.
6. März: Romanow-Jubiläum.
24. März: Delcassö in Petersburg.
31. März: Konferenz der Balkandelegierten in Petersburg; Aufläufe wegen
des Falles von Adrianopel.
7. April: Allslawische Straßendemonstration in Petersburg.
11. April: Regierungserklärung zur Balkanfrage.
17. April: Streiks wegen der Lena-Vorfälle.
24. Mai: Hochzeit der Prinzessin Viktoria Luise von Preußen in An-
wesenheit des Zaren.
13. Juni: Ministerrat lehnt Dumäbesuch infolge Rede des Abg. Markow II. ab.
5. Juli: Annahme des Gesetzes betr. Gouv. Cholm in der Duma.
21. Juli: Offizielle Erklärung betr. Bulgarien und Türkei.
3. August: Französische Militärmission unter Joffre in Petersburg.
10. August: Neuwahlen des finnischen Landtags.
14. August: Die deutsch-russische Literarkonvention tritt in Kraft.
13. September: Probemobilmachung in Witebsk und Livland.
September: Besuche eines russischen Geschwaders in Portland und Brest.
7. Oktober: Anordnung einer Probemobilmachung in den zentralasiatischcn
Besitzungen.
8. Oktober bis 10. November: Beilis-Prozeß in Kiew.
18. Oktober: Einweihung des Romanowkanals in Turkestan.
20. Oktober: Offizielle Bekanntmachung der Absicht, den aktiven Heeres-
dienst um 2 Monate zu verlängern.
23. Oktober: Anordnung einer Probemobilmachung im Gebiet Samarkand.
28. Oktober: Beginn der 2. Session der 4. Duma.
30. Oktober: Erinnerungsstreiks in Petersburg für das Oktobermanifest.
5. November: Vertrag zwischen China und Rußland über die Mongolei.
17. —20. November: Kokowzow in Berlin.
10. Dezember: Ablehnung des Gebrauchs der polnischen Sprache in der
Städteordnung für Polen im Reichsrat.
15. Dezember: Ausscheiden von 14 linken Oktobristen,
18. Dezember: von weiteren 28 aus der Fraktion.
19. Dezember: Eröffnung eines Teils der Amurbahn.
29. Dezember bis 3. März 1914: Hochverratsprozeß in Marmaros-Szigeth;
Graf Bobrinski als Zeuge.
1914. 21. Januar bis 4. Februar: 50jährige Jubelfeier der Einführung der
Semstwos.
8. Februar: Leo Mechelin f. — Ukas betr. Übungen der gesamten Reichs-
wehr I. Aufgebots, außer in Polen, im Jahre 1914.
XX
Zeittafel.
13. Februar: Rücktritt Kokowzows, Ernennung von Goremykin zürn
Ministerpräsidenten und von Bark zum Finanzminister.
14. Februar: Generalgouverneur von Polen Skalon -st
18. Februar: Verordnung über den Verschluß bestimmter Häsen fiir fremde
Kriegsschiffe.
3. März: Artikel der „Kölnischen Zeitung" über Kriegsvorbereitungen
Rußlands.
9. März: 100. Geburtstag des ukrainischen Dichters T. Schewtschenko.
13. März: Artikel der „Birschewyja Wjedomosti" (Rußland ist fertig).
13. März: Erklärungen der „Rossija" und der „Nordd. Allgem. Zeitung"
über die deutsch-russischen Beziehungen.
19. März: Reskript des Zaren an Goremykin.
1. Mai: Zusammenstoß zwischen Duma und Justizminister über die Rechte
des Senats.
7. Mai: Sturmszenen in der Duma.
9. Mai: Annahme des Gesetzentwurfs betr. Verzollung ausländischen Ge-
treides im Reichsrat.
25. Mai: Ablehnung der Vorlage über die Städteordnung des Zartums
Polen im Reichsrat.
29. Mai: Ablehnung der Wolostlandschaft im Reichsrat.
12. Juni: Artikel der „Birschewyja Wjedomosti".
13. Juni: Zusammentreffen des Zaren mit dem König von Rumänien in
Constanza.
15. Juni: Annahme des Gesetzes betr. Zoll auf ausländisches Getreide für
Finnland in der Duma, am 22. Juni im Reichsrat.
10. Juli: Russischer Gesandter Hartwig ff in Belgrad.
20. Juli: Besuch Poincares in Petersburg.
25. Juli: Russische Erklärung, im Konflikt zwischen Österreich und Serbien
nicht uninteressiert bleiben zu können.
29./31. Juli: Mobilmachung des russischen Heeres.
31. Juli: Ultimatum Deutschlands an Rußland.
31. Juli/1. August: Russische militärische Angriffe auf deutsches Gebiet
ohne Kriegserklärung.
31. Juli: Ukas betr. Aufhebung des staatlichen Branntweinmonopols.
8. August: Kriegssitzungen des Reichsrats und der Duma.
I. Buch.
I. Kapitel.
Das Erbteil der Vergangenheit.
„Das griechisch-slawische Prinzip trat in Rußland mächtiger hervor,
als es jemals in der Weltgeschichte geschehen; die europäischen Formen, die
es annahm, waren weit entfernt, dies ursprüngliche Element zu erdrücken;
sie durchdrängen es vielmehr, belebten es und riefen seine Kraft erst hervor"
— mit diesen Worten von unnachahmlicher Knappheit und Fülle weist
Leopold Ranke Rußland den Platz in seinen „Großen Mächten" an.
Er sagt so, ohne die geographischen und ethnographischen Faktoren darin
auch nur zu berühren, bereits das Entscheidende über das russische
Problem. Gliedert man danach die russische Geschichte als den Werde-
prozeß eines europäischen Staates, so reicht das Altertum bis zu
Wladimir I. (980—1015). Sein Mittelalter endet nicht, wie gewöhnliche
Annahme ist, mit Peter dem Großen, sondern entweder mit Iwan IV.
dem Gestrengen (ch 1584) oder mit der Thronbesteigung Michael
Romanows (1613) — denn der Absolutismus und die Rezeption west-
licher Staats- und Lebensformen, die in Rußland am offensichtlichsten die
Neuzeit herausführen, setzen nicht erst mit Peter ein, der kein Anfänger,
sondern der gewaltigste Fortsetzer und teilweise Vollender war. Wenn ein
Historiker aber die „Ansänge des zeitgenössischen Rußlands" schreiben
will, so hat er mit dem Krimkrieg und den Reformen Alexanders II.
einzusetzen; damit beginnt das Rußland der neuesten Zeit.
Diese teilt sich in zwei Perioden, beide eingeleitet und in der letzten
Wirkung ausgelöst durch zwei unglückliche Kriege, den Krimkrieg und
den Krieg mit Japan. Beide Male haben die Folgen der auswärtigen
Politik die innere Entwicklung auf das stärkste beeinflußt. Der Fehlschlag
Hoctzsch, Rußland. 1
2
I. Kapitel.
des Krimkrieges führte zu den Reformen Alexanders II., der des
japanischen Krieges zur Revolution von 1905. Aber die Voraussetzungen
dafür, daß diese Gewaltbewegung von unten her dem Selbstherrscher ihren
Willen wenigstens zum Teil aufzwingen konnte, liegen weiter zurück als
in den Niederlagen des japanischen Krieges. Wenn das Neue auch erst in
und mit der Revolution zu voller Wirkung und weiterer Beachtung in
Europa kam, so ist es doch schon seit den letzten achtziger Jahren des
19. Jahrhunderts vorbereitet worden. Die Zuspitzung der Agrarfrage zur
chronischen Agrarkrisis, — der Ausbau des Eisenbahnnetzes, — die erste
Industrialisierung, damit die Entstehung eines Früh-Kapitalismus und
städtischen Arbeilerproletariats, — die Goldwährung und Staats-
Verschuldung — die Verbindung der in Nihilismus und Sozialdemokratie
ausmündenden geistigen Bewegung der Intelligenz eben mit jenem
städtischen Proletariat, — das sind die Elemente, aus denen das Rußland
der Gegenwart mit seiner Revolution herausgewachsen ist. Seit den 90cr
Jahren haben sie sich immer fühlbarer gemacht, bis sie, durch den aber-
maligen Fehlschlag der großen Politik entfesselt, den Staat mit revolu-
tionären Mitteln in einem gewaltigen Ruck vorwärts schieben konnten.
Ein Ruck, der trotz aller späteren Abschwächung eine neue Zeit ein-
leitet, wie die ersten 60er Jahre des 19. Jahrhunderts, und nicht wieder
ganz illusorisch gemacht werden kann. Aber selbstverständlich konnte bamit
das Erbe der Vergangenheit nicht einfach ausgestrichen werden. Je mehr
sich vielmehr der Staat nach den ersten Erschütterungen, die ihn in
Stücke zu reißen drohten, wieder auf seine alten Kräfte und deren Wurzeln
besann, um so wichtiger wurde seine Aufgabe, Vergangenes, aber noch
Lebensfähiges mit unaufhaltsam hereindringendem Neuen organisch zu
verbinden.
Vor den Augen Europas begann sich so in schweren Kämpfen sein
Übergang vom absolutistischen zum monarchisch-konstitutionellen Staats-
wesen zu vollziehen, und seit der Entstehung der Verfassung der Ver-
einigten Staaten von Amerika hat die Verfassungsgeschichte keine Ent-
wicklung dieses Maßstabes und dieses Interesses auf — verfassungs-
geschichtlich angesehen — Neuland vor sich gehen sehen wie diese russische.
Dahinter stand die Frage, inwieweit der äußeren Europäisiemng, die der
Inhalt der russischen Staatsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert ist, nun
auch die innere Aufnahme und Verarbeitung westeuropäischer, intellektueller
Dos Erbteil der Bergaitgenheit.
und ethischer, Ideen und Normen entsprochen habe und entspreche. Damit
verbindet sich zuletzt, auch noch für die Gegenwart, die Zentralfrage, die
bis heute weder in der russischer? noch außerrussischen Wissenschaft und Welt
schon als entschieden gilt, ob sich die russische Entwicklung nach der
Art ihres Volkstums überhaupt in den gleichen Bahnen wie die West-
europas bewegt und bewegen kann, ob nach dem Worte I. Samarins
der Unterschied zwischerr Rußland und Europa in dem Grade oder im
Wesen seiner Zivilisation liegt? —
Der Geograph beginnt Osteuropa tvohl erst mit der bisherigen Ost-
grenze des Deutschen Reiches, für die politisch-geographische rind vollends
die Historisch-Politische Betrachtung aber stellt Osteuropa eine Einheit
dar von der Elbe bis an den Ural. Drrrch Karparthen und unterer!
Donarilarif gegen Südosteuropa abgegrenzt, ist es ein gewaltiger,' sehr
wenig gegliederter Kontinent ohne natürliche Grenzen in sich, mit einer
entweder sehr kurzen oder für den Weltverkehr nicht geeigneten Meeres-
küste. Die politische Gliederung dieses Gebietes hat nicht die Natur ge-
geben, sorrdern diese schufen die verschiedenen indogermanischen Bolks-
türner, die auf ihrn siedeln, in ihren Kämpfen der Staatenbildung. Auf
diesem großen Raume, der bis heute in seiner ganzen Airsdehnung noch
Westeuropa gegenüber den kolonialen Charakter an sich trägt, kämpften
Deutsche, Polen und Russen um die Vorherrschaft, d. h. um ein möglichst
großes Stück der baltischen Küste und um die zu ihr führenden Flußläufe.
Denn erst dies, Küste und Meer im Norden, machte den Anschluß an den
alten west- und mitteleuropäischen Kulturkreis möglich rind damit die Bahn
zrrr Aufwärtsentwicklring frei. Die entsprechende Verbindung im Süden
(Küste des Schwarzen Meeres und Anschluß an das Kulturgebiet des
Mittelländischen Meeres) war ja durch die von Osten, aus Asien, ein-
strömenden andersrassigen Stämme jahrhundertelang versperrt.
In diesern Ringen, dessen bestimmende Ideen für alle drei Völker
spätestens im 10. Jahrhundert dauernd feststehen, war das ostslawische
Volkstum, dessen politische Idee im Worte Ruß, im Staate Wladimirs I.,
seit der Wende des 9. und 10. Jahrhunderts gegeben war, von vornherein
in der ungünstigsten Lage. Denn es entstand und gründete seinen Staat arn
weitesten von Europa und seinem damaligen Kultur-Zentrum nach Osten
gerückt. Ja, seine mittelalterliche Geschichte warf es danach noch weiter von
dieser Stellring zurück. Denn die Geschichte Rußlands hat ja nicht mit
i*
4
T. Kapitel.
Moskau begonnen, um in Petersburg weitergeführt zu werden, sondern
seine erste Staatenbildung tag weiter westlich, am Dnjepr: der Kiewer
Staat steht am Anfang seiner Geschichte. Als dieser rettmtgslos zusammen-
gebrochen war, flutete das aus verschiedenen ostslawischen Stämmen im
Dnjeprtal und seinen Nebenflüssen bis zu den Karpathen eben entstehende
Volkstum nach den: Nordosten ab. Und hier, in den Bassins der Wolga,
Oka und Kama, im Süden der russischen Waldregion, ist das groß-
russische Volkstum und der russische Staat erwachsen, — gegen Westen
abgesperrt durch Polen-Litauen und den Staat des Deutschens Ordens,
gegen Süden durch die Steppe, die es vom Meere und von Bhzanz
trennte, gegen Osten und Südosten durch Asiaten und durch Hemmnisse
der Natur, die man erst vom 16. Jahrhundert an überwand.
Die Wirkung dieser Verschiebung und Absperrung, die „Lage im
Schatten" ist ein dauerndes Erbteil der russischen Vergangenheit geblieben.
Sie isolierte auf ein halbes Jahrtausend dieses Volkstum gegen Europa,
sie zerriß seine Gemeinschaft mit der abendländischen Christenheit und zer-
störte das Gemeinsamkeitsgefühl mit ihr, die beide vorher lebendig da-
gewesen waren. Das Volkstum des Moskauer Staates war kein Glied
der christlich-abendländischen Kulturgemeinschaft des Mittelalters, sondern
entwickelte ein selbständiges, ausschließendes osteuropäisches religiös-
nationales Selbstbewußtsein. Für das Abendland aber wurde damit dieses
Osteuropa Orient, ja Asien, und blieb es auch nach seinen Rezeptionen
aus Europa, nach der bewußt vollzogenen Wendung zu Europa. Darin
fühlt Westeuropa bis heute das Wesensfremde im Russentum, die Halb-
oder Mischkultur, die es sich noch nicht kongenial empfindet, ohne sich
darüber zumeist klarer Rechenschaft zu geben, als mit dem banalen, aber im
Grunde treffenden Worte, daß Rußland nicht Asien, aber nicht auch
Europa, daß Rußland eben Rußland sei. Auf dieses Empfinden stützt sich
dann die zweifelnde Frage, ob Rußlands historischer Beruf und kulturelle
Mission sei, Vorposten der europäischen Menschheit gegen das Asiatentum
oder dessen Führer gegen Europa zu sein. Und wenn man sieht, wie
ein altes europäisches Volkstum eine bis heute ununterbrochene jugendliche
Kolonialentwicklung in europäischen Formen, aber in einer den asiatischen
Nachbargebieten gleichartigen Natur und Lebensweise vollzieht, so weiß
Europa nicht, ob es Rußland zu den Vereinigten Staaten und Kanada
oder zu China und Japan in Parallele setzen soll oder — zu beiden.
Das Erbteil der Vergangenheit.
K
Das geographische Erbteil.
Die politisch-geographische Anschauung des heutigen Rußlands kaun
vorn Kiewer -Zeitalter absehen; sie hat die Stadt und den Staat Moskau
an den Anfang zu stellen. Von dieser Stadt an der kleinen Moskwa, die
beide, Fluß und Stadt, so merkwürdig Berlin und der Spree in unserer
Geschichte vergleichbar sind, nimmt die russische Geschichte oder, was das-
selbe ist, die Expansion des Volkstums, das sich diesen Staat schuf, ihren
eigentlichen Ausgang. Eine Expansion, die von Iwan III. an bis heute
etwas Unheimliches, lveil so ungeheuer Folgerichtiges, an sich trägt.
Diese Folgerichtigkeit war das Ergebnis des Zwanges der Lage. Denn die
Vielgestaltigkeit politischer Betätigung, die einem Lande mit reichgegliedertcr
Küste oder gar mit Jnselcharakter in die Wiege gelegt ist, war dem
russischen Volke von vornherein versagt. Seitdem der Ausgang seiner
Staatsbildung in die Gegend, wo heute Moskau liegt, zurückgeworfen
war, hatte diese nur die Alternative: entweder sich überall nach Küsten
und eisfreien Häfen hinzuarbeiten oder in der Unfruchtbarkeit eines kleinen,
asiatischen Kontinentalstaates zri versinken. Diese Notwendigkeit, die
gerade hier leicht zur nackten Eroberertendenz und zur Mißachtung jedes
Maßstabes verführte, ist in der russischen Geschichte sehr früh erkannt
worden. Sie gibt ihr besonders im Gepräge mächtiger Einzelpersönlich-
keiten — Iwans III., Wassilis IV., Iwans IV. des Gestrengen, Peters
des Großen, Katharinas II., der Zaren des 19. Jahrhunderts — die
Wucht und zugleich die Einförmigkeit, die sie auszeichnet.
Als der Weltkrieg ausbrach, stand Rußland da als ein Reich von
21,8 Millionen Quadratkilometern FlächenraumJ. Es umfaßte so ein
Sechstel der ganzen Erde, an Größe nur vom britischen Weltreich über-
troffen, zu dem es sich wie 1:1,3 verhielt, fast doppelt so groß wie das
Chinesische Reich, über doppelt so groß wie die Vereinigten Staaten von
Amerika, siebenmal so groß wie Deutschland einschließlich seiner Kolonien,
dreiundvierzigmal so groß wie das Deutsche Reich in Europa. Seine
st Dies die amtliche russische Zahl (19,16 Millionen Quadratwerst ä 1,138
Quadratkilometer). Die Zahl von 22,28 Millionen Quadratkilometer rechnet das
Asowsche und Kaspische Meer und den Aralsee, die Zahl von 22,66 Millionen
Quadratkilometer Chiwa und Buchara mit ein.
6
I. Kapitel.
Grenze war 69 000 Kilometer lang, davon 49 000 Kilometer Meeres-
grenze, die Grenze gegen Europa 11200 Kilometer lang. Es erstreckt
sich iiber 43 Breiten- und 187 Längengrade, und es vermag alles zu
produzieren außer den Produkten der tropischen Aquatoriolzonc. Aber
in diesem gewaltigen, politisch zu einem Reiche organisierten Raume über-
trifft die landwirtschaftlich nutzbare Fläche die des Deutschen Reiches nur
um das 9—lOfache, ist von der Meeresgrenze verschwindend wenig für
den Weltverkehr brauchbar und läuft von der Landgrenze ein ungeheurer
Teil durch Steppe, Wüste und Gebirge. Die Lage zu den Straßen des
Weltverkehrs ist für eine Einbeziehung in diesen und damit in den west-
europäisch-amerikanischen Kulturkreis so ungünstig wie möglich, die Idee
des Abschlusses nach außen und des wirtschaftlichen Selbstgenügens drängte
sich diesem Weltreich schon durch das Ergebnis seiner Raumgeschichte und
seine geographische Lage und Gestaltung auf.
Versucht man diese Masse etwas in sich zu gliedern, so wird eine
spätere Zeit wohl den europäischen Reichsteil und Westsibirien trotz des
Ural als eine Einheit, ein Gebiet für sich, vielleicht als besonderen Kultur-
kreis zu erfassen haben. Heute ist das noch nicht möglich. So muß die
alte Scheidung in europäisches und asiatisches Rußland noch stattfinden,
die, soweit die — wenig gegliederte, aber schmale und nicht sehr hohe —
Kette des Urals als Grenze dient, erkennbar getrennt sind, dann aber in
der Steppe zwischen Qrenburg und dem Kaspischen Meere ineinander über-
gehen, ohne durch den nun als Grenze geltenden Uralfluß wirklich ge-
schieden zu sein. Dann stehen den 16 Millionen Quadratkilometern des
asiatischen Teils (Sibirien 12,5, mittelasiatische Gebiete und sog. Steppen-
gouvernements 3,5 Millionen Quadratkilometern) nur 6,7 Millionen des
europäischen (immer noch etwas über das Zehnfache des deutschen Reichs-
gebiets in Europa) gegenüber.
Von letzterem sind die sog. „Grenzmarken" abzugliedern: Finnland
(326 000 Quadratkilometers), die Ostseeprovinzen Kurland, Livland und
Esthland, obwohl sie amtlich in die 50") Gouvernements des europäischen
Rußlands einbezogen werden (93 000 Quadratkilometer), das Zartum
0 Mt den inneren Gewässern.
ä) Das 1918 gebildete Gouvernement Cholm hatte noch keine eigene CWenz
gewönnet! und erschien noch nicht in der uns zugänglichen Statistik, so daß wir
an der Zähl der 60 Gouvernements durchgängig festhalten.
Das Erbteil der Vergangenheit.
7
Polen (127 000 Quadratkilometer) Bessarabien (44 000 Quadratkilometers
und der Kaukasus (469 000 Quadratkilometer)*), im ganzen rund eine
Million Quadratkilometer. Damit bleiben rund 4,7 Millionen Quadrat-
kilometer übrig, die zwar auch noch keine völlige ethnographische, wirtschast-
liche und historische Einheit, aber gegenüber den Grenzmarken das Kern-
gebiet bilden.
Um den Kern Großrußlands, um Stadt und Gouvernement Moskau
(33 000 Quadratkilometer) sind drei konzentrische Kreise gelagert, von denen
der äußerste itt seinen! westlichen und südlichen Teile starke nationale
Besonderheiten aufweisU). Die Gliederung nach Gouvernements in ihnen
spiegelt zwar einigermaßen die historisch-ethnographischen Grenzen wieder
und läßt namentlich in dieser Anordnung das Wachstum des Moskauer
Staates in seinem historischen Gange erkennen. Aber da die Gouverne-
mentseinteilung Peters des Großen auf die natürlichen, wirtschaftlichen
und nationalen Einheiten keine Rücksicht nahm, sind die in der folgenden
Einteilung gegebenen Grenzen z. T. doch etwas gewaltsam. Vor allein
müssen dabei Kursk, Woronesch und Astrachan, obwohl sie z. T. klein-
russisch sind, ganz zu Großrutzland gerechnet werden, ebenso das beinahe
zur Hälfte weiß-russische Smolensk, während Charkow mit % Groß-
russen ganz zu Kleinrußland genommen ist usw. Aber die Gouvernements-
einteilung gibt allein einen bestimmten Rahmen und die Möglichkeit
deutlicher Vorstellung.
- Der äußerste Kreis wird gebildet von 1. Litauen (Gouv. Kowuo,
Grodno, Wilna) mit 121000 Quadratkilometer und Minsk mit 90 000
Quadratkilometer. 2. Kleinrußland (Gouv. Wolhynien, Podolien, Kiew,
Cherson, Tschernigow, Poltawa, Jekaterinoslaw, Charkow) mit 455 000
Quadratkilometer. 3. Gouv. Taurien (Krim) mit 60 000 Quadrat-
kilometer. 4. Wolgagebiet (Gouv. Kasan, Simbirsk, Pensa, Samara,
Saratow, Astrachan, Gebiet der Donschen Kosaken, dazu Ufa und Oren-
0 Dabei ist Transkaukasien, das Rußland sonst zu seinem asiatischen Besitze
zählt, eingerechnet.
2) Litauen, Weiß- und Westkleinrußland werden oft als Westgebiet zusammen-
gefaßt, d. h. die 9 Gouvernements von der kurischen bis zur rumänischen Grenze
(zwischen dem Zartum Polen und Dnjepr und Düna). — Neurußland umfaßt die
Gouvernements Jekaterinoslow, Cherson, Taurien, Bessarabien, manchmal auch
das Gebiet der Don-Kosaken und Stawropol. Der Name existiert amtlich nicht
mehr und wird besser überhaupt vermieden.
8
I. Kapitel.
bürg) mit 1,1 Millionen Quadratkilometer uird 5. Nordostgebiet (Gouv.
Olonez, Wologda, Wjatka, Perm, Archangelsk) mit 1,86 Millionen.
Der zweite Kreis umfaßt die Gouvernements Nowgorod, Peters-
burg, Pskow, Witebsk, Mogilew, Smolensk, Orel, Kursk, Woronesch,
Tambow, Nischni-Nowgorod, Kostroma und Jaroslawl mit 750 000
Quadratkilometer, der innerste die Gouvernements Twer, Wladiniir,
Rjasan, Tula, Kaluga und Moskau — 250 000 Quadratkilometer. So
steht 1 Million Quadratkilometer in 19 Gouvernements der beiden inneren
Kreise den 726 000 Quadrakilometer in 13 Gouvernements des äußeren,
den 1,86 Millionen in den 5 Gouvernements des Nordostgebiets und den
1,1 Million des Wolgagebiets gegenüber. Im innersten Kreise liegen
die kleinsten Gouvernements des eigentlichen Rußlands, Tula und Kaluga
mit je 31000, Moskau mit 33 000 Quadratkilometer.
Diese drei konzentrischen Kreise stellen das Kerngebiet des russischen
Reiches dar, in das Bessarabien eigentlich einzurechnen wäre und das
trotz der nationalen Eigenheiten im Westen und Süden als eine Einheit
zu fassen ist. Das Weichselland, der baltische Schild und die finnische
Landbrücke stehen für sich, sind ihm aber, wie die geographische Be-
trachtung zeigt, für die Verbindung mit Europa notwendig. Dieses Kern-
gebiet ist ungefähr so groß wie alle anderen europäischen Staaten zu-
sammen und trägt, geologisch wie orographisch vom Westen getrermt,
ganz kontinentalen, binnenländischen Charakters — 650 Kilometer ist
Moskau vom Meere entfernt und die Ostsee und das Schwarze Meer sind
nur Binnenmeere, durch die Rußland wie „durch Flaschenhälse" auf das
freie Meer hinaussieht. Es ist ein gewaltiges, einförmiges und von
niedrigen Höhenzügen (von 2—300 Meter Höhe) nur gelegentlich durch-
zogenes, durch sie nicht gegliedertes Tafelland, dem nur die Krim wie
eine Insel vorgelagert ist. Danach kann sein Klima nicht anders als halb
oder ganz kontinental sein. Es bewegt sich in extremen Wechseln der Jahres-
zeiten und schwankt, wenn die meteorologischen Beobachtungen den Gesamt-
schluß schon gestatten, in Cyklen schlechter und guter Jahre. Vornehmlich
der Mangel an Feuchtigkeit rückt das Land den benachbarten asiatischen
0 Auf die geographische Charakteristik in K l j u t s ch e w ÖI i 8 Kurs
russischer Geschichte, (Moskau 1908) 1°, S. 43—97 sei besonders aufmerksam
gemacht.
Das Erbteil der Vergangenheit.
9
Gebieten näher als denen Westeuropas. Reich ist Kernrußland an schiss-
baren Strömen, unter denen „Mütterchen Wolga" mit ihrem 8700 Kilo-
meter langen Laufe der größte Strom Europas ist und 38% des ganzen
russischen Wasserverkehrs trägt. Mit ihrem geringen Gefälle sind die
Ströme dieses Kerngebiets Lebensadern des Wirtschaftsverkehrs, aber sic
sind fast die Hälfte des Jahres, iveil zugefroren, wirtschaftlich wertlos
und schließen mit ihren Mündungen ihr Land nicht an den Weltverkehr an,
für den auch das nördliche Eismeer oder gar das Kaspische Meer un-
brauchbar sind. Unter diesen Verhältnissen konnte das Russentum auch
nie eine tüchtige Seebevölkerung stellen.
Relativ arm ist Kernrußland an Schätzen des Bodens: Erze finden
sich am Donez, im Knie des Dnjepr und im Ural, Kohlei: in den
Vorbergen des Ural und vornehmlich im Donezbassin. Aber wenigstens
zu einem Teile hat das Land fruchtbarsten Ackerboden. Bis zum 60.
Breitengrade ist Getreidebau möglich, daneben der Anbau von Flachs
und Hanf, selbst von Tabak und Wein. Aber alles leidet unter der Kürze
der Vegetationsperiode, und um so mehr, je weiter nach Osten der Anbau
betrieben wird. Die Art des Bodenreichtums bestimmte das ganze Gebiet
vornehmlich zu Ackerbau und Getreideausfuhr, im Norden zur Wald-
wirtschaft, im Süden zur Viehzucht; autochthon wuchs bis heute allein die
Textilindustrie empor.
Wer durch dieses Gebiet eine Nacht gefahren ist, glaubt am anderen
Morgen, nicht von der Stelle gekommen zu sein, so gleichmäßig präsentiert
sich die Gegend dem AugeJ. Diese wohl von allen Reisenden empfundene
Gleichförmigkeit ist viel größer als auf entsprechenden Strecken des euro-
päischen Westens, und sie hat eine ebenso große Gleichförnngkeit der
Lebensbedingungen, der Lebensweise und damit der Kultur mit sich ge-
bracht. Es gibt keinen Lokalpatriotismus, keinen provinziellen Partikularis-
mus und, soweit das Russische in Frage kommt, keine tiefen Dialekt-
unterschiede. Diese Gleichförmigkeit, hat auch bis heute ununterbrochene
Wanderungen begünstigt. Noch heute ist das russische Volk, das keine Aus-
wanderung kennt"), im Innern wie Triebsand und hat die größte Binnen-
0 Ein Wort Leroh-Beaulieus.
s) Die Zahl der über europäische Häfen auswandernden russischen Unter-
tanen (Juden, Letten, Litauer, Deutsche usw.) bezeichnet ja nicht die Auswanderung
russischen Volkstums.
10
I. Kapitel.
Wanderung der Gegenwart, noch heute verläßt, tvie am Anfang der mittel-
alterlichen Geschichte seines Volkes und wie der nordamerikanische Farmer,
der russische Bauer leicht seine Scholle. Seine Hütte (Jsba), mit der er
schoir darunt niemals verwächst, weil der leichte Holzbau fortwährend
abbrennt, ist ebenso rasch und gut an einem Punkte 100 Werst weiter
wieder aufgebaut, und Art wie Aussehen des Landes ruft ihm überall die
Heimat ins Gedächtnis, in der er geboren ist1). Diese gleichförmig ihn
umgebende Natur hat ihm, so wenig starke Reize sie ausübt, doch eine
tiefe Liebe zu ihr eingeflößt. Aber ihre meteorologischen Eigenschaften
wie ihre Maße haben ihn bisher noch nicht völlig zu ihrem Herrn werden
lassen, er blickt zu ihr auf wie zu einer höheren Macht und nimmt sich,
weil sie doch stärker sei als er, daraus oft das Recht zu tveniger intensiver
Arbeit. ^ ^
Aber so gleichförmig dieses große Gebiet ist lind so nivellierend es
deshalb auf die, die es besiedelten, wirkte, ganz ohne Gliederung und
Differenzierung ist es doch nicht. Schon der aufmerksame Reisende, der
nrit ein wenig Liebe in die Landschaft schaut, empfindet jenes Aperyn
Lcroy-Beaulieus als oberflächlich. Er bemerkt den Unterschied der
Landschaft, wenn er von Petersburg nach Moskau, von Charkow nach
Melitopol oder von Kursk nach Kiew fährt, und er wird noch weniger
das in jener Beobachtung anklingende Gefühl haben, daß diese gleich-
förmige Landschaft darum etwas Langweiliges haben müsse. Der stille
freundliche Zauber der birkenbestandenen Landschaft des Nordens und der
Mitte, wie der eigenartige melancholische Reiz der unübersehbaren Steppe
im Süden ist oft genug vor: der landschaftmalenden russischen Poesie ge-
schildert worden und wird auch von dem empfunden, der sie durchfährt.
Und die Züge der Landschaft gewinnen um so stärkeren Reiz, je mehr der
Beschauer sie dann in den Zügen des Volkstums und seiner Stämme
wiederfindet.
Die natürliche Gliederung des Kerngebiets, das nach und nach
an Moskau politisch herangezogen wurde, wie es physikalisch-geographisch
daraufhin gravitierte, ergibt folgende Teile: 1. Die Tundra, der mit Moos
0 S. Äogolö meisterhafte Schilderung der russischen Erde im 11. Kapitel
der „Toten Seelen".
Das Erbteil der Vergangenheit.
11
bedeckte Btoorboden im äußersten Norden, nötig wegen der Verbindung zur
Meeresküste hin, so wenig wertvoll diese ist, und selbst, niemals völlig auf-
tauend, volkswirtschaftlich fast ohne Nutzen. 2. Das Waldgebiet und 3.
das waldlose Gebiet, nicht scharf voneinander geschieden, sondern inein-
ander übergehend, aber doch die große Cäsur der russischen Landschaft,
Wirtschaftsweise und Stammesunterschiede bezeichnend. Im Waldgebiet
ist die Birke charakteristisch für den russischen Wald wie kein anderer
Baum, hier sind auch heute noch die gewaltigen Reservoirs, die eine un-
entwickelte Forstwirtschaft verwüstend ausbeutet, so den an sich schon be-
scheidenen Boden austrocknend und in seiner Ertragsfähigkeit gefährdend.
Nach Süden schließt sich daranZ das waldlose oder Steppen-Gebiet an.
Zunächst das Land der berühmten schwarzen Erde (Tschernosem), deren
schwarz blinkender humusreicher Lößboden von größter, gleichfalls für
unerschöpflich gehaltener Fruchtbarkeit ist, ein Gebiet, das von der
Wolga — in Orenburg und Ufa über sie hinausgreifend — südlich der
Linie etwa Kasan-Tula (über Orel-Kursk herunter nach Charkow) in
das Gebiet von Tschernigow und Kiew hineinstreicht und in seinen Aus-
läufern Wolhynien und Podolien, sowie das östliche Galizien wirtschafts-
geographisch einbezieht. Von der schtvarzen Erde leitet die eigentliche
Steppe zur Küste des Schwarzen Meeres und in die Kaspische Senkung
über, zum Teil, wie in dieser, reine Wüste, zum Teil Grassteppe. Diese
Steppe ist jahrhundertelang das Durchzugsgebiet der asiatischen Völker-
schaften gewesen, die aus der großen Völkerpforte zwischen dem Südende
des Ural und dem Kaspischen Meere hereinfluteten und diesem Süden
immer wieder die Keime des Lebens zertraten.
Diese Gliederung des Kerngebietes spiegelt sich in der Geschichte
Rußlands ebenso wieder, wie in seiner heutigen Volkswirtschaft. Waldgebiet
und Steppenregion sind ebenso voneinander unterschieden und gehen doch
ineinander über, wie Groß- und Kleinrussentum, die vornehmlich auf
dem einen oder dem anderen ihre Sitze haben. Aber diese natürliche
Gegensätzlichkeit ist geringer als die Einheit, die die verschiedenen Zonen
miteinander verbindet. Man hat versucht, — so Haxthausen und manche
nach ihm — mehrere selbständige wirtschaftsgeographische Einheiten gegen-
l) S, die gute Bodenzonenkarte bei K r a ß n o w, Rußland, (Wien 1907)
S. 166.
12
I. Kapitel.
einander zu stellen, mindestens die sog. Ufraitta1) als eine eigene Einheit
schon geographisch herauszuheben. Aber so selbständig die Steppenregion
geologisch, klimatisch und sonst sein mag, sie bildet mit dem Norden
zusammen eine naturgegebene Einheit. Schon die nordsüdlich ziehenden
Wasserstraßen, die das Land wohl gliedern, aber deren Scheiden so leicht
zu überwinden sind, halten dies Kerngebiet zusamlnelt, hi dem nach
Leroy-Beaulieus richtigem Wort zudem Ebene und Klinia, die beiden großen
Gemeinsamkeiten, eine isolierte Existenz beider Teile nicht möglich machen.
Wer alle Beobachtungen vom Weißen Meer und der Newamündung bis
zur Schwarzen-Meer-Küste, vom Ural bis zur Ostgrenze des Zartums
Polen zusammennimmt, kommt zu dem Ergebnis, daß diese einzelnen
Teile von der Natur zu einer Einheit bestimmt sind. Das hat schon
Moltke klassisch ausgedrückt"): „Man hat gesagt, daß bei zunehmender
Bevölkerung das unermeßliche Reich in sich zerfallen müßte. Aber kein
Teil kann ohne den anderen bestehen, der waldreiche Norden nicht ohne
den kornreichen Süden, die industrielle Mitte nicht ohne beide, das Binnen-
land nicht ohne die Küste, nicht ohne die gemeinsame große Wasserstraße
der 100 Meilen schiffbaren Wolga." Diese Einheit wirkt in der Gegenwart
mit immer stärkerer Gewalt, und so sehr sich das Reich gedehnt hat,
Moskau ist das Herz dieses Gebietes geblieben und wurde es immer mehr,
je fester die einzelnen Teile auch durch Verkehrsmittel miteinander in
Verbindung gebracht wurden. Und um so wichtiger und notwendiger
wurde dann dieser Einheit die Küste im Norden und im Süden, auf die
sich darum der Druck der Staatsorganisation immer stärker richtete.
st Ukraina bedeutet Grenzland, Grenzmark, nämlich des polnischen und des
Moskauer Staates gegen die Tataren des Südens. Das Wort ist kein bestimmter
historisch-politischer und auch kein klar zu umgrenzender geographischer Begriff.
Es kommt schon in den altrussischen Chroniken vor, wird später lokalisiert aus
die Gebiete der sog. Hetnianschtschina ■— Teile von Podolien, Kiew, Tschernigow,
Jekaterinoslatv und Cherson, sowie ganz Poltawa —, ist aber niemals eine
offizielle Bezeichnung gewesen. Die Begrenzung des Begriffs etwa auf die Gouver-
nements Poltawa, Tschernigow, Charkow, Kiew, Wolhynien, Podolien, Jekaterinos-
law, Cherson, Tauricn und die Flächenbercchnung auf 600000 Quadratkilometer
oder ähnlich ist willkürlich. Die an sich gute Landeskunde von S t. R u d n i ck y j,
Ukraina, Land und Volk (Wien 1916) wird in ihrem wissenschaftlichen Wert
durch die nationalistische Tendenz sehr herabgesetzt, die Ukraine in dieser Weise
als eine geographische Einheit darzustellen, was sie nicht ist.
st In den 1856 geschriebenen „Briefen aus Rußland". (1877.)
Dis Erbteil der Vergangenheit. 1Z
II.
Das ethnographische Erbteil.
Diese Einheit bildet den natürlichen Untergrund für die russische
Geschichtsschreibung, die daher in patriotischem Stolze gern Großrussen
mit der Bevölkerung Rußlands und Russisches Weltreich mü diesem
Kerngebiet gleichsetzt, die Einheitlichkeit und in der Zarengewalt gipfelnde
Geschlossenheit betonend, wie das schon das erste Werk wissenschaft-
licher russischer Geschichtsschreibung, Karamsins Geschichte des russischen
Staats in klassischer Weise tut. Da der Staat dieser offiziellen Auffassung
bis iu die Gegenwart in Schule und Presse die fast ausschließliche Herr-
schaft erhalten konnte, hat sie auch im Auslande gewirkt. Dabei tritt in
den Hintergrund einmal, daß dieses Kerngebiet zwar eine natürliche Einheit
darstellt, aber in sich nicht von einem völlig einheitlichen Bolkstume be-
wohnt wird. Ferner wird die Tatsache leicht übersehen, daß die Er-
hebung jener staatlichen Einheit mit Moskau an der Spitze zu einem
europäischen Staate nur durch die gewaltsame Angliederung von Grenz-
marken möglich wurde, die ethnographisch dem Kerngebiet ftemd sind:
Finnland, die Ostseeprovinzen, Polen, Bessarabien, der Kaukasus im
Westen und die mohammedanischen Gebietsteile in: Osten, die zur großen
Stellung in Asien überleiten. Daß die Expansion nach Asien herein die
Völkerkarte des dadurch zum Weltreich tverdenden Staates dann noch
b>mtcr machte, lag allerdings auch für den flüchtigen Beschauer auf der
Hand. Diese dreifach komplizierte nationale Mischung bestimmt das Bild
der russischen Bevölkerung.
Die Bevölkerung des russischen Reiches zahlte am 1. Januar 191;':
174 099 600 Seelen, ohne die beiden Vasallenstaaten Chiwa und Buchara,
die aber wegen ihrer Lage und politischen Stellung mit eingerechnet werden
müssen; dann waren es 176 >2 Million'). Das ist etwa ein Zehntel der
-------------- ! ,.fij
9 Der Zustand der russischen Statistik ist so, daß auch bei sorgfältigster Ver-
wendung stets nur mit Annäherungszahlen gerechnet lverden darf. Es existiert
ein ungeheures Material, herausgegeben vor allem vom „Zentralstatistischen
Komitee" des Ministeriums des Innern, von den anderen Ministerien, den
Semstwos usw. Aber es wird an den verschiedenen Stellen unter verschiedenen
Gesichtspunkten gesammelt und verarbeitet und ist von der lokalen Polizei-
verwaltung abhängig, die wiederum ihre Informationen aus dem Lande bei den
Wolostschreibern und darunter den Dorffchulzen einholt. Trotz dieses gewaltigen
14
T. Kupitel.
Gesamtbevölkerutig der Erde, zwei Fünftel der des britische» Weltreiches,
das 1,8fache der der Bereinigten Staaten und das 2,6fache der reiche
deutschen Bevölkerung. Auf einer Qundratwerst wohnen im russischen
Weltreich 8,9 Menschen, in Deutschland 139,9 (123 auf ein Quadrat-
kilometer), Rußland ist also 43mal größer und 16mal dünner bevölkert
als Deutschland. Zum gewaltigen Raum die noch sehr dünne Be-
völkerung — das weist Rußland weiterhin im Imperialismus der Gegen-
wart seine besondere Stellung an.
Im asiatischen Teile wohnten danach 20,7 Millionen, davon in
Sibirien 9,7 (0,9)* *) und in Zentralasien und den Steppengouvernements
10,9 Mill. (3,4). Scheiden wir von den für den europäischen Teil
bleibenden 153,3 Millionen (29,8) die Grenzmarken, so fallen 32,7 Milli-
onen weg. In Finnland wohnten 3,1 (10,9), in den Ostseeprovinzen 2,7
(33,3) in Polen 11,9°) (114,5), im Kaukasus 12,5 (29,8), in Bessarabien
2,5 (65,1). Dann beträgt die Bevölkerung des Kerngebiets 120,6 Milli-
onen mit einer Dichtigkeit von zirka 28 auf die Quadratwerst.
Im ganzen Reiche waren am 1. Januar 1912 von 171 Millionen
85,7 Millionen Männer und 85,3 Millionen Frauen. Auf 100 Männer
kommen in Sibirien 80,6 in Zentralasien 84,6 im europäischen Teile
(einschl. der Ostseeprovinzen) 93,6, im Kaukasus 79,1, in Polen 96,6 und
in Finnland 110,1 Frauen.
Auf 1000 Einwohner wurden
geboren starben heirateten Bevölkerungszunahme
1901/05 (i. Durchschn.) 47,6 31,5 - 16,1°/°«
1907 46,6 28,1 8,8 18,5 °/°° (2 Will.),
1908 44,3 28,0 7,9 16,3 °/°° (1,85 „),
1909 44,0 28,9 7,9 15,1 %«(1,74 „).
Diese Zahlen geben die große Geburtenzahl wie die hohe Sterblichkeits-
ziffer und die große Zahl der (in sehr frühem Alter stattfindenden) Ehe-
Materials hat Rußland keine periodischen Volkszählungen, keine Berufs- und
Gewerbestatistik in unserem Sinne und keine völlig genügende Agrarstatistik. Die
erste und bisher letzte allgemeine Volkszählung hat am 9. Februar 1897 statt-
gefunden; eine zweite war für 1916 in Vorbereitung.
*) Zahl in Klammern die Dichtigkeit der Bevölkerung auf die Quadratwerst.
") Die Abnahme gegen 12,4 Mill. am 1. Januar 1912 erklärt sich durch die
Ablösung des Gouvernements Cholm, das dem Kerngebiet zugezählt wurde.
Das Erbteil der Vergangenheit.
15
schließungen zur Genüge wieder; tiefer eindringende Bergleichsstudien
kämpfen so gut wie hoffnungslos mit dem unzureichenden Rohmaterial.
Das russische Volk ist langlebig. Die hohe Sterblichkeitsziffer, die aber im
letzten halben Jahrhundert von 35,8 auf obige Zahl gesunken ist, bedeutet
vor allem Kindersterblichkeit (im Durchschnitt 1901/05 auf das 1000: 263),
demnächst Erwachsenensterblichkeit vor dem Greisenalter infolge der hygie-
nischen Mängel aller Art. Nach alledem ist die jährliche Geburtenver-
mehrung der russischen Bevölkerung in der Gegenwart auf mindestens
2 bis 2Yn Millionen Köpfe anzusetzen.
Rußland zählte 1725: 13, 1762: 19, 1796: 36, 1800: 37,5, 1825:
53,5, 1855: 72,7, 1870: 86,2, 1880: 99,7, 1890: 121,3, 1897: 128,8
und 1913: 174 Millionen Einwohner. Diese gewaltige Vermehrung
verführt zu Berechnungen, — 400 Millionen nach einem halben Jahr-
hundert u. ä. —, die phantastisch sind, weil sie nur rechnen, oft die Zu-
nahme durch Eroberung vergessen und von allen anderen die Bevölkerungs-
vermehrungdbeeinflussenden Momenten ganz absehen. Wenn man die
aus Nordamerika bekannte Lehre vom Bevölkerungszentrum auf Rußland
anwendet, so lag dieses 1897 im Gouvernement Tambow (südöstlich von
Koslow) und rückt seitdem immer weiter nach Osten, mit einer Neigung
nach Süden vor. Das zeigt schon, daß sich ein Ausgleich zwischen
den dünner und dichter bevölkerten Gegenden vollzieht. In diesen:
agrarischen Lande werden nicht die dichter bevölkerten Stellen dichter und
die dünneren dünner, sondern der Prozeß geht aus naheliegenden Gründen
umgekehrt und wird durch die Agrarreform und die Ubersiedelungs-
bewegung nach Sibirien vom Staate stark gefördert, durch die Industriali-
sierung heute noch kaum aufgehalten. Auf absehbare Zeit reicht das
Land zur Aufnahme des Geburtenüberschusses aus, an dem, was sehr zu
bemerken ist, die griechisch-orthodoxen Untertanen des Zaren den größten
Anteil haben: auf je 10 000 werden jährlich 292 Protestanten, 307
Juden, 315 römische Katholiken, 439 Jslambekenner, 511 Rechtgläubige
geboren. Die stärkste physische Kraft liegt also in den Bekennern
der griechischen Kirche, d. h. im eigentlichen Russentume. Diese hat
so gut wie ohne Einwanderung,, aus sich heraus — wenn von der
durch Erobenmg hinzugeschlagenen Bevölkerung abgesehen wird —
die starke Bevölkerungszunahme bewirkt. Wesentliche Anzeichen der Er-
schlaffung sind trotz der sinkenden Geburtenziffer noch nicht vorhanden,
16
l. Kapitel.
obwohl der Philosoph Solowjew schon 1897 behauptete, daß die damalige
Zahlung das Aufhören der Zunahme des russischen Stammvolkes feststelle.
Aber trotz seines Riesengebietes stellen die natürlichen und tvirtschaftlichen
Bedingungen Rußlands der Aussicht eine uriübersteigliche Schranke ent-
gegen, daß es eine Bevölkerung im Stile Indiens oder Chinas erhielte;
es wird sogar nicht einmal mit der Zunahme der Vereinigten Staaten oder
Südamerikas Schritt halten können.
1912 wohnten von 171 Millionen in den Städten 23,8 Millionen
- 13,9%; 1724: 3, 1796: 3,1, 1851: 7,8, 1878: 9,2 und 1897: 13%.
Von 100 Menschen wohnten 1912:
in in Städten auf dem Lande
Sibirien 11,6 88,4
Kaukasus 13,1 86,9
Europ. Reichsteit (einseht. Ostseeprovinzen) . 13,2 86,8
Zentralasien 13,6 86,4
Finnland 15,1 84,9
Polen 23,3 76,7
Die Zahlen der Berufs- oder besser Standesstatistik sind ungenügend,
rechnen Finnland nicht ein (was das Bild nicht wesentlich verschiebt) und
stammen vor allem aus der Zählung von 1897. Es gab damals:
1. Adel: erblicher 1,2 Mill. = 1,0%
persönlicher und Beamte 0,6 „ = 0,5% 1,5%
2. Erbliche Ehrenbürgers Bourgeoisie) 0,3 „ = 0,3%
Kaufleute (= Bourgeoisie) .... 0,28 „ = 0,2% 0,5%
3. Kleinbürgers 13,3 „ = 10,7%
4. Bauern 96,9 „ = 77,1%
5. Geistlichkeit 0,58 „ = 0,5%
6. Kosaken 2,9 „ = 2,3%
7. Fremdstämmtge ) 8,2 „ = 6,5%
8. Andere = 0,9%
9 S. Kapitel VII.
ä) S. Kapitel X.
DnS Erbteil bet Vergangenheit.
17
Die Fabrikarbeiter (damals 2,39 Mill.) stecken in den Gruppen
8, 3 und vor ollem 4, die Intelligenz in Gruppe 8. Diese zählte^) 0,35
Mill.; es gab 119 000 Ärzte (1 auf 1000), 12 000 Advokaten (1 auf
10 000), 201000 Lehrkräfte (1 auf 625) und 31000 der Wissenschaft
und Literatur Anghörende (1 auf 4000).
In Prozenten der Bevölkerung stellt sich der Anteil der einzelnen
Klassen in den verschiedenen Reichsteilen so:
Adel Bour- geoisie Klein- bürger Bau- ern Geist- lichkeit Ko- saken Fremd- stamm andere
1. Asiat. Rußland
Sibirien 0,8 0,3 5,6 70,9') 0,3 4,5 14,6 3,0
Zentralasien .... 0,4 0,1 2,0 5,0'; — 3,3 88,9 0,3
2. Europ. Rußland
a) Polen 1,9 0,1 23,5 73,0 0,1 0,1 — 1,3
b) Kerngebiet (ein-
schl. Ostseeprovinzen) 1,5 0,6 10,6 84,1 0,5 1,6 0,5 0,6
o) Kaukasus.... 2,4 0,4 8,1 74,8 0,6 10,4 * * 1,5 1,8
So unvollkommen diese Zahlen sind, so geben sie doch ein Bild
der sozialen Struktur, wobei zu beachten ist, daß in den Bauern — der
Begriff dieser Statistik ist ja der Bauer im ständischen, nicht im wirt-
schaftlichen Sinne — zumeist noch die Arbeiter jeder Art stecken, anderer-
seits aber die Kosaken und die Fremdvölker ihren Erwerb ganz überwiegend
in der Landwirtschaft haben.
Lesen und schreiben konnten am 1. Januar 1913 im ganzen Reiche
(ohne Finnland): 21%, in Polen 30,5%, im übrigen europäischen Ruß-
land 22,9%, im Kaukasus 12,4%, in Sibirien 12,3%, in Zentralasien
5,3%. Auf 100 männliche Personen konnten weibliche lesen und schreiben:
im ganzen Reich 45, in Polen 77, in Sibirien 26.
Die Konfessionsstatistik zählte Rechtgläubige (Griech.-Kathol.) 69,9,
Römisch-Katholische 8,9, Protestanten 4,85, Juden 4,0, Mohammedaner
10,8, andere christliche Kulte (fast nur die Armeno-Gregorianer) 0,96,
andere nichtchristliche Kulte 0,5. Danach hätte Rußland — gleiche Ver-
mehrung der Konfessionen, was nicht ganz zutrifft, vorausgesetzt — eine
9 Die °/oo-Sätze haben sich kaum verändert.
*) Russische Bauern, sog. Übersiedler.
Hoetzsch, Rußland.
2
18
I. Kapitel.
Christenbevölkerung von rund 147 Mill., der rund 18,8 Mill. Mohammc-
daner, 6,9 Mill. Juden und 0,9 Mill. Heiden gegenüberstünden.
Schließlich die Nationalitätenfrage*). Die amtliche russische Statistik
unterscheidet folgende nationale Gruppen, deren Prozeniverhättnis für das
ganze Reich nach der Zählung von 1897, da neuere Zahlen nicht existieren,
mitgeteilt werden muß: Russen 65,5, Turko-Tataren 10,6, Polen 6,2,
Finnen (im Reich und in Finnland zusammen) 4,5, Juden 3,9, Litauer
und Letten 2,4, „Germancy" (Deutsche und Schweden) 1,6, karthwelische
Gruppe 1,1, kaukasische Bergbewohner 0,9, Armenier 0,9, Mongolen 0,4,
andere 2,0. Das sind, diese Berhältnisse für die Gegenwart zugrunde gelegt,
von 174 Millionen ungefähr: 114 Mill. Russen, 11 Mill. Polen, 6,7
M.ll. Juden, 4 Brill. Litauer, VA Mill. Deutsche, VA Mill. Finnen
und 28/4 Mill. andere Nationalitäten.
Diese Zahlen, so wenig exakt sie sind, geben einen ersten Anhalt. Das
Weltreich umschließt (nach der Zählung von 1897), ohne die „anderen
Nationalitäten" und mancherlei Nüancen zu rechnen, 48 verschiedene Volks-
stämme. Auf dieser Musterkarte sind die slawischen Elemente mit fast
72 % irrt ganzen die Mehrheit. Die Völker altaischen Stammes mit 11 %
und die kaukasischen Stämme mit 3% können als unterworfene indigene
Kolonialbevölkerung gelten. Dann wären für die Nationalitätenfrage des
Reiches, da die 4% Juden für sich stehen, nur die finnischen, litauischen
und germanischen Elemente, 8A% der Gesamtbevölkerung, von Be-
deutung. Es stünde mithin ein Block von mindestens 125 Millionen, als
national einen slawischen Einheitsstaat tragend und beherrschend, einer
Kolonialbevölkerung von 28 bis 29 Millionen und einer andersrassigen,
aber der beherrschenden sonst gleichstehenden von 13 A Millionen gegen-
über, in der weder die Germanen noch die Letto-Litauer eine bedrohliche
Einheit darstellen.
Dem Slawenblock von 125 Millionen dürfen indes die 11—12 Mill.
Polen nicht zugerechnet werden. Ist nun der Rest, die 113—114 Mill.
Russen, eine in sich geschlossene volkliche Einheit? Die amtliche Statistik
schied sie 1897 nach der Muttersprache in Großrussen, Kleinrussen und
Weißrussen, und wies damals für die Kleinrussen 22,4, für die Weiß-
russen 5,8 Millionen aus. Genaue Zahlen für die Gegenwart fehlen. Die
0 Genaueres in den Kapiteln X und XI.
Das Erbteil der Vergangenheit.
19
ukrainische Bewegung berechnet die Kleinrussen in Rußland aus 29% bis
33 Millionen, der sorgfältige Semstwostatistiker A. Russow auf 27,5 im
Jahre 1911. Die Verteilung dürfte ungefähr das richtige treffen, die von
den 113—114 Millionen Russen im Jahre 1913 den Großrussen rund
80 Millionen, den Kleinrussen rund 28 Millionen zuweist; der Rest von
etwa 6 Millionen fällt auf die Weißrussen.
Letztere sitzen in den Gouvernements Minsk, Mogilew, Witebsk und
Smolensk, sowie auch im eigentlichen Litauen. Die Hauptsitze der Klein-
russenH sind die Gouvernements Poltatva, Tschernigow und Charkow
links und Kiew, Wolhynien und Podolien rechts des Dnjepr, demnächst
in Jekaterinoslaw und Cherson, tvo sie überall eine starke Mehrheit von
50—100% ausmachen; am reinsten kleinrussisch sind Poltatva mit 98
und Tschernigow mit 86%. Die Kleinrussen erreichen ferner etwas den
Don imb Kuban,, in einzelnen Siedlungen auch Sibirien und erstrecken
ihre Sitze über die Reichsgrenze hinaus, da Ostgalizien bis zum San
ethnographisch dazu gehört: die Ruthenen Galiziens, Nordostungarns und
der Bukowina sind eines Stammes und einer Sprache mit den Klein-
russen des Zarenreiches. Das Großrussentum sitzt so östlich von der:
Weißrussen und nördlich und östlich, aber auch südlich und südöstlich von
den Kleinrussen.
Was der Unterschied zwischen groß- und kleinrussisch wirklich be-
deutet, ethnographisch und linguistisch, historisch und politisch — darüber
existieren begründete, doch auch nicht einheitliche Vorstellungen nur in dem
kleinen Kreise, der sich wissenschaftlich mit der sog. ukrainischen Frage be-
schäftigt. Eine lebhafte Agitation fiir diese hat dagegen die grundsätzlichen
Gesichtspunkte eher verwirrt, ja oft verfälscht. Die von Österreich aus-
gegangene ukrainische Bewegung erhebt den Anspruch, daß die Kleinrusseu
eine selbständige slawische Nation mit eigener Sprache, wie die Tschechen
oder Serben seien. Sie verwendet deshalb ausschließlich den modernen
und nicht historischen Namen Ukrainers für sie, mit dem die anderen
Namen: Kleinrussen, Ruthenen synonym sind* 2), und lehnt jede Gernein-
samkeit mit dem Großrussentum ab.
0 Die beste und vorsichtigste Karte findet sich in H r u s ch e w s k i j s
Grundriß.
2) Der Großrusse nennt den Kleinrussen mit Spitznamen „Chochol" (Haar-
schopf) und wird dafür von ihm „Kazap" (Bocksbart) genannt.
2*
I. Kapitel.
20
Der richtige Standpunkt ist nicht allzuschwer zu gewinnen, wenn
man von der Entstehung des russischen Volkstums durch die Kolonisation
ausgeht. Von den Ursitzen der ostslawischen Stämme (Karpathen und
östliches Vorgelände bis Kiew und nach Norden in die heutigen Sitze der
Weißrussen) strömt nach dem Zusammenbruch des Kiewer Staats (end-
gültig mit der Eroberung von Kiew 1169 durch Andrei Bogoljubski) in
einer der Kolonisation unseres Ostens drirchaus vergleichbaren Bewegung
die Bevölkerung nach Nordosten, nach der Wolga und Oka und darüber
hinaus. Im Kampfe und in der Assimilation mit den vorgefundenen
finnischen, also asiatischen Elementen verschinelzen diese Jndogermanen zu
einer neuen Einheit. Aus diesem Prozeß, der, immer höher hinaus nach
Nordosten reichend, in der Gegenwart noch nicht zum Stillstand gekommen
ist, ist das Großrussentum erwachsen, das den Moskauer, den Petrinischen
Staat und das russische Weltreich geschaffen hat, ein Kolonialvolk wie
die Preußen der Mark und des deutschen Ostens, das, wie diese, den auf
mutterländischem Boden zerfallenden Staat wieder aufrichtete und ihm
seine Züge unbedingt und dauernd aufdrückte. Russischer Staatsgedanke
und russische Sprache sind großrussischer Natur. Was auf dem mutter-
ländischen Boden zurückblieb und dort jahrhundertelang unter den von
Osten kommenden Asiaten und der von Westen kommenden polnischen
Expansion zu leiden hatte, wurde das heute kleinrussisch genannte Element
des russischen Volkstums. Dieses ist zwar auch nicht vollständig rein ge-
blieben, sondern hat sich mit turko-tatarischeni, auch jüdischem Blute
gemischt, hat aber seinen Volkscharakter reiner erhalten, als die Groß-
russen, die durch die finnische Blutzufuhr stark verändert worden sind.
Es greift siedelnd nach Süden, in die eigentliche Steppe aus erst wieder
leiser mit dem 14., dann stärker seit Mitte des 16. Jahrhunderts, seitdem,
besonders nach den Eroberungen Katharinas II., dorthin und nach Süd-
osten, aber immer stärker mit dem Großrussentum gemischt. Von beiden
Elementen getragen wird sodann die dritte große Kolonisation, die
Sibiriens, seit dem 19. Jahrhundert.
So sind am reinsten slawisch die Weißrussen, die in den alten
Sitzen zurückgeblieben und dort degenerierten. Sie bilden zum großen Teil
den Untergrund der litauischen Geschichte und waren so in das Gewirr
der litauisch-polnischen und moskauischen Kämpfe einbezogen, wie sie auch
in der Gegenwart in den Bereich der litauischen Frage, Bewegung, Hoff-
Das Erbteil der Vergangenheit.
21
nung oder wie Ulan das undeutliche, aber im ganzen nicht (Groß-Muß-
landfreundliche Gewirr der Probleme des Nordwestgebiets nennen will,
hereingehören. Etwas mehr mit anderen Volkselementen vermischt haben
sich die Kleinrussen, am stärksten aber ist der fremde Einschlag im groß-
russischen Stamme. Dessen Charakter vor allem ist durch die Wanderungs-
geschichte hart geworden, so daß er sich nicht und itirgends entnationali-
sieren läßt und stark genug ist, andere, auch Angehörige sog. höher stehender
Volkstümer, sich völlig zu assimilieren. Vornehmlich die Völkerinseln des
Nordostens und Ostens erobert dieses Russentum in langsamer und
sicherer Assimilierung, während es im fernen Osten dem reinen Mon-
golentum nicht gewachsen ist. Diese Blutmischung hat im Norden den
gewaltigen staatenbildenden Sinn hervorgebracht, durch den das Groß-
russentum zur ersten politischen Macht aller Slawen geworden ist. Da-
gegen ist, wie es scheint, gerade ihre geringere Vermischung und größere
Reinheit des Volkscharakters den Kleinrussen immer hinderlich gewesen, zu
einem eigenen Staat zu kommen.
Der anthropologische Unterschied zwischen beiden Elementen ist auch
heute noch zu erkennen. Es hat nichts genützt, daß die russische Regierung
sogar die Existenz eines kleinrussischen Dialekts negierte, indem sie den
Gebrauch dieses Dialektes einfach verbot. Wenn der flüchtig? Reisende in
Südrußland, in der Gegend von Poltawa oder Charkow, nichts vom klein-
russischen merkte, so war dieses doch vorhanden, und wer einigermaßen
scharf zusieht, erkennt den ethnographischen Unterschied zwischen den Groß-
russen, deren beste Typen man etwa in Wladimir oder Nischui-Now-
gorod sieht, und den Kleinrussen leicht. Wallace schon bemerkt, daß es sich
uni zwei verschiedene Nationalitäten handle, die sich schärfer unterscheiden
als Engländer und Schotten. Indes gur Stabilierung einer eigenen
Nation reichen diese anthropologischen Unterschiede, die sich aus der ver-
schiedenen Blutmischung erklären, nicht aus; ethnographisch ist der Gegensatz
nicht größer als der zwischen zwei Stämmen gleichen Volkstums und ge-
ringer als der gemeinsame Unterschied gegen andere slawische Volkstümer.
I Freilich sind die Enttvicklungen beider Stämme lange genug neben-
einander hergegangen, so daß erhebliche Besonderheiten entstehen konnten.
Die Bauernhütte zeigt Unterschiede zwischen der großrussischen „Jsba" und
der kleinrussischen „CH ata". Die Siedlung des Südens kennt die agrarische
Zwangsgenossenschaft des Mir nicht oder nicht mehr. Im Norden hat alle
22
I. Kapitel.
staatliche Tradition an das Moskauer Zarentum angeknüpft, im Süden
an die — ganz kleinrussische — Kosakenromantik. In seiner
Volksdichtung, nach Jagick der schönsten und reichsten der slawischen
Stämme, in seinen „Dump" und Kosakendichtungen zeigt das Kleinrussen-
tum stärkere poetische und Phantasiebegabung, als das realistischere Groß-
russentum. Jenes ist individualistischer, dieses associativer, jenes weicher,
dieses härter, jenes melancholischer, sentimentaler, sinnender, dieses heiterer,
praktischer, positiver, jenes mehr Kind des Südens, darum den Süd-
slawen näherstehend, dieses Kind des Nordens. Demokratisch, nach-
ahmungsbegabt, rezeptions- und kulturfähig sind sie beide.
Auch in der Sprache sind sie geschieden. Das kleinrussische war ein
früh selbständig entwickelter Dialekt. Während der Tatarenherrschaft, die
die südrussische von der nörd- und östlichen Gruppe trennte, und durch
die Zugehörigkeit zu einem anderen (dem polnischen) Staatswesen wurde
es immer selbständiger, bis die Intelligenz im 19. Jahrhundert
daraus eine eigene Schriftsprache schuf. Aber trotzdem blieb der gemein-
same Grundcharakter. Freilich stößt, auch wer die russische Schriftsprache,
das großrussische, gut beherrscht, beut kleinrussischen gegenüber auf
Schwierigkeiten. Die Unterschiede beschränken sich indes wesentlich auf
Aussprache und Orthographie*), sowie auf fremdes Sprachgut, und recht-
fertigen schwerlich die wissenschaftliche Charakteristik des kleinrussischcn
als einer eigenen Sprache; großrussisch und kleinrussisch stehen einander
gegenüber wie hochdeutsch und niederdeutsch oder tschechisch und slowakisch.
Alle diese Besonderheiten sind von dem unterwerfenden Großrussentum
doch als so stark, das darauf sich gründende und erhaltende Bewußtsein
des nationalen Gegensatzes so sehr als separatistisch-gefährlich empfunden
tvorden, daß es die Kleinrussen barbarisch unterdrückt hat, bis zur vollen
Entwicklung der Leibeigenschaft unter Katharina II. und bis zur offiziellen
Unterdrückung der kleinrussischen Sprache 1876. Dagegen hat eine freiheit-
liche Bewegung, die jedenfalls durch sich schon die kleinrussisch-ukrainische
Sonderart bewies, reagiert, und ist, vom literarischen durch die Unter-
9 Die Grvßrussen schreiben die alte Orthographie, die Klemr rissen ver-
wenden eine phonetische Orthographie, die den Unterschied beider .Idiome rin-
berechtigt groß erscheinen läßt.
Das Erbteil der Vergangenheit.
23
drückung zum politischen Selbstbewußtsein gesteigert, in Betonung der
eigenen geschichtlichen Überlieferungen zu einem gewissen politischen Sepa-
ratismus, doch nicht zu mehr, gediehen. Aber trotz alledem wirkt schon die
einheitliche Art des Landes zwischen beiden Stämmen assimilierend.
Sprache und vor allem Religion ziehen wie die Geographie die Kleinrussen
auf die großrussische Seite. Nach Süden und Südosten gehen beide Stämme
ineinander über; auf dem ganzen kleinrussischen Gebiet sind der große
Besitz, die Städte und ein großer Teil der Intelligenz großrussisch, und im
Lande der Donschen Kosaken, der Krim und des Gouvernements Jekatc-
rinoslaw schneiden die Großrussen die Kleinrussen stark vom Meere ab.
Jedenfalls erlaubt weder die Ethnographie noch die Linguistik, die
„Ukrainer" als eine eigene Nation den Polen und „Moskowitern" gegen-
überzustellen.
III.
Das Erbteil der Geschichte.
1. Die Staatenbildung.
Die Hauptdaten der Staatenbildung sind: 862 (als offizielles Grün-
dungsjahr angenommen) die Begründung durch Rurik — 989 der über-
tritt Wladimirs I. von Kiew zum Christentum in seiner griechischen Form
— bis 1015 Begründung des Kiewer Staates als der ersten Staatsbildung
des Ostslawentums — 1169 endgültige Verschiebung des Schwerpunktes
(nach den Zeiten der Zersplitterung im Teilfürstenzeitalter) nach Nordosten
an Wolga und Oka — 1224 Schlacht an der Kalka und Beginn der
Tatarenherrschaft — 1328—1340 Iwan I., Abschluß der Begründung
des Moskauer Staates — 1480 Abschüttelung des Tatarenjoches.
Die Tatsachen der Expansion sind dann diese: 1479 Eroberung von
Nowgorod; 1552 von Kasan; 1554 von Astrachan; 1684 Gründung
von Archangelsk; 1654 Vertrag von Perejaslawl; 1667 Frieden von
Andrussow und 1686 von Moskau, durch die die Ukraine links des Dnjepr
gewonnen wurde.
Von dieser Basis ans beginnt mit Peter dem Großen die Erweiterung,
die zu dem Ergebnis der Neuzeit geführt hat: 1721 Friede von Nystad,
24
1. Kapitel.
durch den der größte Teil der Ostseeprovinzen russisch wurde — 1772, 93
und 95 die Teilungen Polens — 1795 Angliederung von Kurland —
1809 Friede von Fredrikshamn, durch den Finnland ganz zu Rußland
geschlagen wurde, — die Reihe der Friedensschlüsse (1774, 1792, 1812,
1856, 1878), durch die die Grenze Rußlarids gegenüber der Türkei ver-
schoben wurde.
Durch diesen Prozeß, der den Hauptinhalt der äußeren Geschichte seil
Peter dem Großen ausmacht, dehnte sich das ursprüngliche Kerngebiet nach
allen Richtungen. Es erreichte im Norden das Weiße Meer, den Finnischen
Meerbusen und die Ostsee, es stieß im Westen keilförmig weit nach Mittel-
europa hervor. Es erreichte nach Südwesten den Pruth und gewann die
Hälfte der Küste des Schwarzen Meeres. Es hatte nach Osten die Wolga-
grenze bis zu ihrer Mündung nicht nur erreicht, sondern überschritten;
schon unter Iwan IV. ziehen die Kosaken Jermaks über den Ural und
beginnen die Eroberung Sibiriens (1582). Es umfaßte den Kaukasus,
den es sich im 19. Jahrhundert (abgeschlossen 1856) erobert hat und von
dem aus es im kleinasiatischen Teile der Türkei Fuß faßte. Dazu gewinili
es sich im 19. Jahrhundert ein asiatisches Kolonialgebiet, das in der
Mitte das Pamirplateau beinahe erreichte und es zum unmittelbaren
Nachbarn Chinas und zum Küstenstaate des Stillen Ozeans machte.
Die erste russische Staatsbildung, der von den germanischen Warägern
geschaffene Kiewer Staat, viel günstiger zu Europa gelegen als das spätere
Moskau, brach zusammen. Mit der Kolonisation des Nordostens „wen-
deten nun diese Ostslawen Europa den Rücken zu", und ein eigenartiger,
gar nicht heroischer und skrupelloser Zweig des Rurikgeschlechts, die sich
merkwürdig gleichenden Danilowitschi, verstand es, um Moskau herum
die Zersplitterung zu überwinden, den Grund zuin Weltstaat zu legen
und den Widerstand der Bojaren zu besiegen. So entstand er als
typischer Kolonialstaat, nicht, wie die Vereinigten Staaten, durch das Volk,
das sich von der Siedelungsarbeit aus in freier Zusammenarbeit seinen
Staat aufbaute, sondern durch die Dynastie, die durch Kirche, Adel und
Heer dem Volke die Staatsorganisation ausdrückte. Moskau „sammelte",
nach dem treffenden Ausdruck der russischen Geschichtsschreibung, genau so
wie ein sonst in Europa entstehender Gesamtstaat, Territorien uni sich,
durch kriegerische Unterwerfung und durch Angliederuna, die zunächst auch
die innere Selbständigkeit, die Autonomie des angegliederten Teiles bestehen
Das Erbteil der Vergangenheit.
25
liefe1). Die Ukraine, die Ostseeprovinzen, Finnland, im gewissen Sinne
auch Bessarabien und Polen treten zu dem von Moskau neu gesammelten
Staat prinzipiell ebenso, wie Preußen oder Cleve zu Brandenburg. Durch
Rezeß und Privileg, Gnadenbrief des Herrschers und Huldigung der
Unterworfenen wird hier die Unterordnung unter den entstehenden Gesamt-
staat geradeso begründet, die innere Freiheit der neuen Staatsglieder ebenso
garantiert, wie in gleichen Prozessen des Westens. Für die Ostseepro-
vinzen (Privilegien von 1710, 1712, 1731, 1801) liegt das ebenso auf
der Hand wie für Finnland (1809 Manifest von Borgs), für das aber
die Verhältnisse anders werden, als (1869) sein Landtag zum modernen
Parlament wird, als sein Verhältnis als ständischer Staat zum absoluten
Herrscher auf die Grundlage des Gesetzes, der Volksvertretung gestellt lvird.
Auch die Ukraine ist so zu Moskau gekonlmen. Zwischen 1169 und dem
Kosakentum des 16. Jahrhunderts ohne selbständiges, politisches Leben,
lvird sie durch die Verträge von 1654 und 1667 Moskau unterworfen, be-
hält in ihnen aber ihre Autonomie und Privilegien garantiert. Damit
lvar der Kiewer Staat mit dem Moskauer vereint, die beide ja aus einer
Wurzel stammen. Denn der Kiewer Staat ist dem ganzen Russentum ge-
meinsam; ihn selbständig dein Moskauer gegenüberzustellen und von einer
eigenen ukrainischen Staatsidee zu sprechen, ist historisch unmöglich —
es hieße dasselbe, als wenn sich Bayern und Preußen gegenseitig das
Königtum der Karolinger streitig machen wollten. Kleinrußland entsteht
eigentlich erst iu den Kämpfen der Kosaken gegen Polen und zieht in
diesen den Anschluß an Moskau vor, das mit dieser Unterwerfung der
Steppe den ersten Schritt zum Großstaat tut. Die Schlacht bei Poltawa
(1709) entscheidet sodann über eine nochmalige selbständige Reaktion Klein-
rußlands, dem danach Peter der Große und Katharina II. seine Besonder-
heiten, wie erwähnt, in brutalster Unterdrückung nehmen.
Wenn der russische Staat dann ebenso auch die sonst gewährten
Autonomien antastet, so ist auch das der gleiche Prozeß wie im
Westen, daß sich über dem dualistischen Ständestaat der Absolutismus
') S. die ausgezeichnete Arbeit van Baron B. Nvlde, Einheit und Unteil-
barkeit Rußlands in seinen: Otseherki russk. gossudarstv, prawa (Petersburg
1911) S. 223 bis 654; der auf die Ukraine bez. Teil (S. 287 bis 331) ist ins
französische übersetzt (L'Ukraine sous le protectovat russe, Paris 1915) und
wurde von der ukrainischen Belvegung verbreitet.
26
I. Kapitel.
erhebt. Weder Peter noch Katharina II. sind Russifikatoren im Sinne Pob-
jedonoszews und Alexanders HI., aber sie haben beide schon bewußt uitd
mit Unterdrückung der Autonomie zu russifizieren, d. h. den zentralisierten
Staat, wie Friedrich Wilhelm I. in Preußen, herzustellen gesucht, der seine
Einheit zunächst nur im Herrscher fand. So löst sich — rein wissenschaftlich
betrachtet — der scharfe Gegensatz zwischen Karamsins Geschichtsauf-
fassung, die die Einheit des Staates betont und ihr Werden allein schildert,
und der etwa Kostomarows, der ähnlich wie Alexander Herzen den Födera-
lismus als das natürliche Prinzip des Slawentums betrachtet, die russische
Geschichte als Prozeß der Vergewaltigung föderalistischer Selbständigkeiten
durch die roh zentralisierende Moskauer Gewalt auffaßt. Int Zeitalter des
Absolutismus erweiterte Rußland, in paralleler Entwicklung mit den
westlichen Staaten, seine Machtstellung außerordentlich und steigerte seine
wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeit gewaltig. Und dieses Ergebnis war
eine große Leistung politischer Kraft; an staatenbildender Fähigkeit und
Kraft hat es, wie die Geschichte lehrt, dem Großrussentum nicht gefehlt.
Aber es fehlte an etwas anderem und daher darf diese Parallele nicht
über die Formen der Verfassung hinaus getrieben werden. Diese Staaten-
bildung verband Wohl zur natürlichen Einheit, zur wirtschaftlichen Er-
gänzung bestimmte Zonen und konnte aus diesen Gründen Zusammenhalt
und inneren Zusammenhang schaffen. Aber national hingen weder Finn-
land noch die Ostseeprovinzen, weder Litauen noch Polen, weder die Krim
noch der Kaukasus, weder die von mohammedanischen Völkerschaften be-
wohnten Ufer der Wolga noch gar Sibirien und Zentralasien mit dem
Kerngebiet ihres Reiches zusammen. Und dieser Staat vermochte nicht, die
innere Verschmelzung dieser Teile zu einer höheren Einheit herzustellen, wie
es etwa den Hohenzollern nach der äußeren Staatsbildung so glänzend ge-
lang. Das Großrussentum hat es verstanden, über alle von ihm unter-
worfenen Völkerschaften ein einheitliches Verwaltungs- und Militärnetz
zu legen; es hat sich ihnen allen politisch-militärisch weit überlegen gezeigt.
Aber es hat sich diese Völkerschaften nirgends assimiliert, hat dies an den
meisten Stellen gar nicht gewollt und da, wo es das wollte, nicht gekonnt.
Im Wesen war diese Expansion zunächst nichts anderes als die anderer
Staaten und ihre Motive waren die gleicher!. Ost genug sind sie genannt
worden: der Zug nach dem Westen und das Streben nach der natürlichen
Grenze, vor allem zu den eisfreien Häfen und Zugängen des Weltmeeres,
Das Erbteil der Vergangenheit.
27
in den: das Verlangen nach der ain leichtesten erreichbaren, dem Herzen des
Staates und seinen natürlichen Reichtüinern am nächsten liegenden Passage,
der des Bosporus und der Dardanellen, am stärksten war. Gerade wegen
seines binnenländischen Charakters ist dieser Zug des russischen Staates
zum Meere elementar, er fühlte früh, daß ihm mit dem Zugang zum
offenen Meere die Freiheit der Bewegung fehlte, und wegen seiner un-
günstigen geographischen Lage tvird der Drang zum Meer fast Mittel-
punkt seiner Machtpolitik. Im 19. Jahrhundert kam dann der wirtschaft-
liche Gesichtspunkt seiner Ausfuhr, besonders seiner Getreideausfuhr im
Süden dazu.
Diese Staatsbildung hat nun auch ein immer stärkeres und aggressiver
werdendes Nationalbewußtsein in ihrem Volke geschaffen. Ihre Expan-
sionsidee ist im 19. Jahrhundert gewiß auch gedanklich vertieft, ja mystisch
verklärt worden; man denke an Dostojewskis Opfer- und Befreiungsidee,
die er der Machtpolitik seines Staates als sittliche Mission zugrunde legte,
an den ideologischen national-religiösen Untergrund des Panslawismus,
auch der OstasienpolitikJ Trotzdem aber empfindet Europa diese Staats-
geschichte als noch hohl, ja negativ, tveil ihr noch zu wenig originaler
Kulturgehalt entspricht, den freilich auch die ähnliche Expansion der Ver-
einigten Staaten reicht einrnal schaffen konnte, obwohl ihre Siedler mit
denr Kulturreichtum Europas an ihre Küsten kamen, während Rnßlarid
dieser Zustrom fehlte.
2. Der Aufbau des Staates.
(Byzanz, T a t a r e n h e r r s ch a f t, E n r o p ä i s i e r u n g ,
Selbstherrschaft.)
Die ungeheure Arbeit, deren es bedurfte, um auch nur diesen ziel-
bewußten Prozeß von sechs Jahrhunderten zrnn bisherigen Erfolg zu
führen, war nur durch ebenso ungeheure Steigerung der Staatsmacht zu
leisten. Auch bei stärksten Einzelpersönlichkeiten wäre sie indes ohne Ein-
flüsse und Kraftquellen von außen nicht durchzusetzen gewesen.
*) S. das Schlußkapitel.
28
I. Kapitel.
Zuerst hat das Christentum die zarische Gewalt außerordentlich ge-
hoben. Es war in seiner griechischen Fassung angenommen worden; als
Byzanz siel, ging das Patronat seiner Kirche auf den Moskauer Staat
über. In seiner Heirat mit der Verwandten des letzten Paläologenkaisers
(1472) und der Aufnahme des byzantinischen Adlers in das Moskauer
Wappen dokumentierte Iwan III. Wassiljewitsch (1462—1505) auch,
daß er sich der Tragweite dieses Zusammenhanges bewußt war. Damit
wurde der byzantinische Zäsaropapismus auf das russische Volk übertragen.
Es ist zunächst gleichgültig, daß in diesem kirchenpolitischen System die
weltliche Macht des Zaren und die geistliche der Patriarchen noch mit-
einander uin die Herrschaft ringen. In jedem Falle kam die im Worte
selbst ausgedrückte engste Verbindung der Kirche mit dem Staate der
Fürstengewalt gegen Gesellschaft und Volk zu einer großen Steigerung
ihrer Verfügungsfreiheit über Leben und Geist der Untertanen zu Hilfe,
und sie umgab den Zaren mit einer fast göttlichen Glorie, die ihn seinen
Untertanen geradezu entrückte.
In gleicher Richtung wirkte die Herrschaft der Tataren (1224—1480).
Zuerst vermochte auch die wieder gefestigte großfürstliche Gewalt ihr Volk
nicht zu schützen, zwei Jahrhunderte lang lastete das Joch der Tataren,
merkwürdig unheroisch ertragen, auf Staat und Volk Moskaus. Da diese
Tatarenherrschaft nicht eine ins einzelne dringende Herrschaft an Ort und
Stelle war, sondern der Chan der Goldenen Horde, der bei Zarizyn an der
Wolga residierte, sich mit der Entrichtung des Jahrestributs begnügte,
sich dafür aber an die Person des Großfürsten hielt, wurde dieser der
lokale Repräsentant der tatarischen Oberherrschaft für sein eigenes Volk.
Wie er vor dem Chan zittern mußte, dessen Schiedsspruch auch in den
Thronstreitigkeiten der großfürstlichen Familie angerufen wurde, so mußte
sein Volk vor ihm zittern, der ihm gegenüber der Vertreter der Fremd-
herrschaft war. Und da das Verhältnis zwischen Großfürst und Tataren-
chan gar nicht ethisch, sondern nur auf Gewalt und roher Abhängigkeit
begründet war, so werden auch die Beziehungen zwischen Großfürst
und Volk nicht versittlicht. Das hob die fürstliche Gewalt ihren Untertanen
gegenüber, brutalisierte aber die Beziehungen zwischen Fürst und Volk
und beraubte sie alles gemütlichen Inhalts, wie nirgends sonst in einem
indogermanischen Volke. Dieser Druck hat zwei Jahrhunderte angedauert,
während außerdem noch seine Lage diesem Staatswesen die Vorstellungen
Das Erbteil der Vergangenheit.
29
des asiatischen Despotismus näher rückte als dem Westen, korrigierende und
mildernde Vorstellungen aus dem Christentum? heraus aber hier unendlich
viel schwächer wirkten.
Dagegen darf die allgemeine Wirkung der Tatarenherrschaft nicht so,
lvie es gewöhnlich geschieht, überschätzt werden. Von einem rassenmäßigen
Einfluß ist nur bei. einem kleinen Teile des Dienstadels zu reden. Sonst
hat ein „connubiiun" zwischen Russen und Tataren uicht bestanden;
was man heute als tatarisch am Großrusscntunt bezeichnet, sind die
Folgen seiner finnisch-ugrischen Blutmischung in der Kolonisationszeit.
In das private oder religiöse Leben der Unterworfenen hat sich die Tataren-
herrschaft nicht eingemischt. Dagegen hat sie auf das stärkste die Aus-
bildung der absoluten Fürstengewalt und der Finanzverwaltung und das
Ethos der Unterworfenen beeinflußt. Die kulturelle Nachwirkung konnte
nicht anders als sehr gering sein, die Herrschaft eines so niedrig stehenden
Eroberervolkes aber nur korrumpierend wirken. Ist schon die fatalistische
Art, in der sie ertragen wurde, einzigartig, nur mit der Türkenherrschaft
auf dem Balkan zu vergleichen, so ist kein Wunder, daß die sittlichen Vor-
stellungen in Rußland heute noch (z. B. in der Nichtachtung der Persön-
lichkeit, dem Mangel an Wahrheitsliebe und an Achtung vor dem öffent-
lichen Eigentum) die Folgen der Tatarenzeit an sich tragen. Bor allem
aber zog sie die Kluft gegen Europa noch weiter und tiefer.
Darum wurde der Sprung nach Europa, als er von Peter getan
wurde, auch als so gewaltsam empfunden, obwohl sich das Gesicht Mos-
kaus schon längst Europa zugewandt hatte. Die Voraussetzungen für eine
schrankenlose Staatsgewalt, die in der mittelalterlichen Geschichte Moskaus
gegeben waren, haben zu unerhörter und in Europa sonst nicht erreichter
Höhe gesteigert Peter der Große und Katharina II. Die Mittel bogn fanden
sie beide in dem, was man die Europäisierung ihres Staatswesens genannt
hat. Der Widerspruch ztvischen indogermanischem Volkscharakter und
asiatischer Hingebung, ja Herrschaft hat die Zaren Moskaus frühzeitig auf
die technische und militärische Überlegenheit des Westens hingewiesen. Der
Gedanke, die Einrichtungen dieses Westens anzunehmen, uni die Tatareu-
herrschaft abwerfen und die Expansion zum Meere hin weiterführen zu
können, ist daher schon von ihnen energisch gedacht tvorden. Nur eine
graduelle Steigerung ist es, wenn Peter der Große aus gleichen politischen
Motiven heraus die technisch-militärisch-politischen Mittel des damaligen
30
Europas in vollem Umfange übernimmt. Er hat das ganze System des
absolutistisch-merkantilistischen Staatslebens seiner Zeit mit gewaltigster
Kraftanstrengung und erstaunlichem Erfolge auf seinen Staat übertragen.
Denn er sah allein darin die Möglichkeit, ihn vom Moskauer Territorial-
staat zum europäischen Großstaat zu erheben. Wenn er damit auch euro-
päische Zivilisation in breiten: Strom hereinführte, so hat er dies nur
als Mittel zu jenem realistisch gesehenen und gewollten Zweck seines
Lebens benutzt. Er hat die Frage ignoriert oder gar nicht gesehen, ob die
Entwicklung seines Volkes prinzipiell in derselben Bahn gehen werde und
müsse, wie die der europäischen Völker, und ob deshalb eine unbedingte
Nachahmung und Einführung europäischer Kulturelemente ohne weiteres
gestattet sei. Deshalb schwankt bis heute noch die Beurteilung seines
Lebenswerks in der russischen Geschichtsschreibung und kaum. etwas ist
für die Zwiespältigkeit im russischen Wesen charakteristischer als die Tat-
sache, daß die Nation noch heute keine übereinstimmende Anschauung von
ihrem größten Herrscher hat.
Genau in seinen Bahnen ist Katharina II. weiter gegangen. Sie
hat auch Elemente der geistigen Kultur Europas, der sie als deutsche
Prinzessin und französisch gebildete Dame angehörte, gefördert; wesentlich
war das aber für sie als Herrscherin nicht. Die zarische Staatsgewalt
wollte und konnte nur einen europäischen Staatsbau schaffen, der ihr die
Mittel zur Erreichung ihrer großen politischen Zwecke gab, in Stellung
des Fürsten, Beamtentum, Finanzen, Heer, und das gelang in vollern
Maße. Es war das Wesen des Staates, der seit 1904 nach dern Willen
der Revolutionäre zugrunde gehen oder nach dem der Liberalen von Grund
aus umgestaltet werden sollte, daß er autokratisch war. Das war auch die
hauptsächlichste Vorstellung, die Europa von Rußland hatte, und die von
dort aus bewußt und geschickt genährt worden ist, daß dieses riesengroße
Reich den: Willen eines einzigen Mannes gehorchen müsse, dessen Herrscher-
gewalt nicht die geringsten Schranken gesetzt seien, und der sich zur Durch-
setzung seines Willens eines ungeheuren, vor keinem Verbrechen zurück-
scheuenden Beamtenorganismus gegen ein in Sklavengehorsam ge-
haltenes Volk bediene. Die Vorstellung war allgemein, daß das Leben
in Rußland einer im Dunkeln schleichenden grenzenlosen Willkür preis-
gegeben sei und jede Opposition gegen den in die Einzelheiten des Lebens
eindringenden zarischen Willen mit der Verschickung nach Sibirien bestraft
Das Erbteil der Vergangenheit.
31
werde. Durch eine bewußte Abschließungspoiitik, die den Verkehr mit dem
Auslande am liebsten überhaupt verhindert hätte, tat auch das herrschende
System, vor allem unter Nikolai I. und Alexander III., alles, um sich
diese Vorstellung in Europa so sehr wie möglich festsetzen zu lassen. Sie
schreckte von der Erforschung Rußlands ab und ließ demgemäß das Urteil
über seine wirkliche Lebenskraft, vor allem seine militärische und politische
Schlagfertigkeit in einem höchst erwünschten, unbestimmten Dunkel. In
diesem Dunkel steigerte sich die Vorstellung von der großen Macht Rußlands
ins Ungemessene. Sie wurde zwar regelmäßig durch die in bestimmten Ab-
ständen wiederkehrenden schlimmen Erfahrungen eines Krieges — so
1853/55, 1877/78, 1904/05 — erheblich ernüchtert und herabgestimmt,
kehrte aber in den folgenden Friedenszeiten ebenso regelmäßig wieder
zurück.
Richtig war in diesen unbestimmten Urteilen, die zwischen Über-
und Unterschätzung unsicher hin- und herschwankten, daß die fürstliche
Gewalt in Rußland eine Steigerung erfahren hatte, wie nirgends in der
indogermanischen Welt. So sehr, daß der Begriff der Selbstherrschaft
(Samoderschawie)*), mit dem die russische Sprache den Absolutismus be-
zeichnet, von der slawophilen Anschauung als einer der drei Grundsteine,
auf denen Rußland ruht, betrachtet wurde, deren Erschütterung oder Ver-
änderung die russische Zukunft gefährden soll. Wer fragt, was de:
Konstitutionalismus in Rußland heute bedeuten kann, muß sich vor
allem das Wesen dieser zarischen Gewalt klar machen.
Ihre geschichtlichen Wurzeln liegen in der Zeit der Moskauer Zaren.
Das russische Volk hat nicht von Anbeginn seiner Geschichte an ein abso-
lutes Herrschertum hervorgebracht und ertragen. Im Gegenteil zeigte
der Kiewer Staat wie der Freistaat Groß-Nowgorod eine erstaunlich hohe
Bedeutung des Volkes neben dem Staate. Und die Schwächung der
fürstlichen Gewalt durch die Zersplitterung des Kiewer Reiches in Teil-
fürstentümer und die Unsicherheit der großfürstlichen Gewalt trug auch
nicht dazu bei, eine starke Staatsgewalt zu schaffen. Diese ist erst auf
dem Boden des Moskauer Staates erstanden, und in den großen Zaren
des 15. und 16. Jahrhunderts, Iwan III., Wassili IV., Iwan IV., zur
Vollendung gebracht worden. Die persönlichen Fähigkeiten der Herrscher-
y Die Wortübersetzung der byzantinischen Autokratie.
32
J. Kapitel.
reihe, die den Moskauer Staat geschaffen hat, fanden Bundesgenossen im
Charakter des Volkstums, das sich mit dieser Staatsbildung selbst erst ganz
ausbildete, und in jenen von außen wirkenden Momenten. So liegen die
Wurzeln des Absolutismus iveder im Altertum (die Selbstherrschaft ist
nicht, ivie manche Slawophilen wollen, dem russischen Volke ureigen) noch
in der Neuzeit (sie ist nicht erst von Peter dem Großen geschaffen), sondern
in seinem Mittelalter.
Als die Tatarenherrschaft beseitigt war (1480), war die zarische Ge-
walt fertig. Sie war die patriarchalische Eigentümerin des ganzen Reiches
— die Vorstellung, daß das Reich im Grunde nur Privateigen der kaiser-
lichen Familie sei, ist bis in die Gegenwart lebendig geblieben — und
hatte sich auch ihre Organe zur Durchsetzung ihres Willens im Inneren
und zur Führung ihrer Politik nach außen geschaffen. Formal, im
System von Verfassung und Verwaltung, Finanzen und Heer, ist später
von Peter dem Großen bis zu Alexander I. ein völliger Neubau errichtet
worden. Dagegen sind dabei materiell die Beziehungen zwischen Zar und
Gesellschaft nur äußerlich verändert worden. Es sei daher das Gebier for-
maler Arbeit und das Erbteil der Vergangenheit daraus später lediglich
für die Neuzeit festgestellt. Aus dem Mittelalter aber wurde, wenigstens
in seinen dauernden Wirkungen, zweierlei herübergenommen: das
„Mjestnitschestwo" und die „Kormlenie".
Das merkwürdige System des Mjestnitschestwo, das einem Manne
verbot, im Staatsdienst eine niedrigere Stellung gegenüber einem anderen
einzunehmen, als ihre beiderseitigen Vorfahren zueinander eingenommen
hatten, ist allerdings unter Feodor Alexejewitsch (1676—1682) aufgehoben
worden. An seine Stelle hat Peter der Große die noch heute im wesentlichen
geltende Hierarchie der RangK)Tabelle von 1714 gesetzt. Trotzdem sind
die Wirkungen aus dem Mittelalter nicht beseitigt worden; sie lebten, wenn
auch in anderer Form, gerade in der neuen Ordnung Peters fort. Denn
in beiden Systemen ist das Entscheidende, daß ausschließlich die Stellung
zur Person des Zaren die ganze Hierarchie bestimmt. Wort und Begriff
des „Dienstes" (Sluschba), so, wie sie noch für das heutige Rußland so
charakteristisch sind, sind hier erwachsen, in dem Satz gipfelnd: „Groß
y Russisch: Tschin. — Die Tabelle ist, wie sie heute gilt, abgedruckt z. B.
bei Palme, Die russ. Verfassung, S. 110 j.
Das Erbteil der Vergangenheit.
33
und klein lebt man (nur) durch die Gnade des Zaren." Dieses Ver-
hältnis war aber nicht durch sittliche Beziehungen geadelt, wie persönliche
Hingabe an den Fürsten oder Begeisterung für die Idee des Staates,
sondern wurde durch die zarische Gewalt erzwungen und durch die Furcht
vor ihr erhalten.
Aus den Beziehungen des Großfürsten zu den Tataren entstand erst in
vollem Umfange das Beamten- und Finanzwesen des Moskauer Staates.
Und wenn im Verhältnis zu den Tataren die Ethik keine Stelle hatte, so
kamen auch in das Ämter- und Finanzsystem Ethik und Pflicht nicht herein.
Wie der Großfürst sich kein Gewissen daraus machte, den Tataren zu über-
vorteilen, so auch seine Beamten nicht gegenüber dem Volke in der Er-
hebung der Steuer, aus der der Tribut bezahlt wurde. Erpressung und
Unterschleif sind darum im russischen Mittelalter schon typisch und wurzeln
um so fester, als die Sittenlehre der Kirche einen Halt dagegen nicht ge-
währte, eine Sittenlehre des Staatslebens nicht vorhanden war. So ist
der für Rußland so charakteristische Begriff und Grundsatz der Kormlenie,
der „Ernährung" im Wortsinne entstanden, daß nämlich Amt und Dienst
nicht Vergütung für pflichtgemäße Erfüllung des Amtes ftttb, sondern
Mittel, sich als Glied der dienenden Klasse zu erhalten, daß Amt und
Vaterland für den Träger des Amts nach einem Worte des Satirikers
Salthkow-Schtschedrin nur „ein süßer Knödel" sind, nur zur Ernährung
und zum Genuß für den Beamten da sind. Und so erklärt es sich, warum
die Korruption von Anfang an geradezu ein Fundamentalprinzip im
Staatskörper geworden ist.
Der Absolutismus nach europäischem Muster, den Peter der Große
einführte und Katharina II. abschloß, ist danach nicht etwas grundsätzlich
Neues. Er steigerte vielmehr nur bereits vorhandene Einrichtungen oder
besser, da das prinzipiell nicht möglich war, er stellte die größeren Mittel
des europäischen Absolutismus für den Dienst der Zarengewalt bereit.
Die Europäisierung ist in diesem Sinne nichts als die Übernahme der
Verwaltungs- und Heereseinrichtungen Europas. An die Stelle der alten
Verwaltung tritt das System, das Peter begründete und Alexander I.
1802 abschloß: die Zentralbehörden als: Senat (1711 errichtet), Reichsrat
(1802 geschaffen), Ministerkomitee und Ministerien (gleichfalls 1802
begründet), dazu der „Allerheiligste Synod" (1721 begründet), als
Haeßsch, Rußland. 3
34
I Kapitel.
Organ des -arischen Willens in Kirchenangelegenheiten, da der Kampf
zwischen Zar und Patriarch mit dem vollständigen Siege der weltlichen
Spitze in der Kirche geendet hat. Darunter das System der Gouverne-
ments- und Kreisverwaltung und daneben das stehende Heer, das Peter
an die Stelle des wertlos gewordenen allgemeinen Aufgebots und der
überlebten Ritterorganisation gesetzt hatte. Auf allen Gebieten wird der
Dienst für den Staat und, da Staat und Zar zusammenfallen, der Dienst
für den Zaren das alles in Anspruch nehmende und alles regulierende
Prinzip des Lebens. Überall reichen die Wurzeln in das Mittelalter
zurück, aber überall hat die absolutistische Neuzeit frühere Anfänge zur
Vollendung geführt und gesteigert. Das gilt namentlich für zweierlei.
Die Staatsdienstpflicht des Adels war schon im Mittelalter ohne
Einschränkung durchgesetzt worden, mochten diese Adligen auf freiem Erbe
oder auf Lehnsgut sitzen; es gab, als Peter der Große sein Werk begann,
grundsätzlich in seinem Staate keinen von der Pflicht des Staatsdienstes
freien adligen Mann. Trotzdem hätte eine Grundaristokrätie wie in
England oder Preußen vorhanden fein können. Aber der russische Adel
ist nur eine bevorzugte Schicht der Gesellschaft geworden, in erster Linie
zum Dienst mit der Waffe verpflichtet, wofür der Landbesitz Belohnung,
nicht aber Basis einer eigenen selbständigen Lebensführung ist1), eine be-
vorrechtete Klasse, die aber vor dem Zaren genau so rechtlos war,
wie jeder andere Russe. Peter hat ihr dann vollends das Rückgrat ge-
brochen, indem er jene Rangtabelle einführte. Zunächst erscheint diese
nur wie eine Hofrangordnung, aber sie ist mehr. Sie stellt die
Hierarchie eines Beamtentums dar, dessen Glieder stets den ihrem Amte
entsprechenden Rang haben sollten, und in die der Adel dadurch voll-
ständig einbezogen oder durch die er dadurch vollständig aufgelöst wurde,
daß mit einer bestimmten Stelle der persönliche und mit einer bestimmten
— höheren — Stelle der erbliche Adel von selbst „erdient" (Wysluga)
wird. Damit wurde eine unabhängige Aristokratie als Stand unmöglich,
und, was im 15. und 16. Jahrhundert vorbereitet war, abgeschlossen:
die Entstehung einer großen Beamtenklasse, die der Zar zur Durchsetzung
i) Der russische Adel ist nie mit dem Boden wirklich verwachsen, er hat Frei-
Teilbarkeit seines Besitzes und sträubte sich immer gegen Majorat und Fidei-
kommiß. Der russische Adlige heißt auch nicht nach seinem Gute.
Das Erbteil der Vergangenheit.
35
seines Willens braucht, die von ihm unbedingt abhängig, mit ihm auf
Gedeih und Verderb verbunden ist, und die dein Volk überall, auch im
kleinsten und untersten Beamten, als der Zar in Person mit aller seiner
ilnbegrenzten Machtfülle gegenübertritt, sich vonl Volk durch eine weite
Kluft getrennt fühlt.
Der neuzeitliche Absolutismus hat aber auch hier nichts getan, um
in die Beziehungen seiner Beamten zu ihni und der Beamten zum Volk
einigermaßen sittlichen Inhalt hereinzutragen. Was Friedrich Wilhelm I.
aus genau dem gleichen Absolutismus heraus erzieherisch für fein Be-
amtentum leistete, fehlt in der russischen Geschichte völlig. Dieses Beamten-
tum, das im Absolutisnms erwuchs, übernahm aus dein Mittelalter den
alten Begriff der Dienstpflicht unb ihrer Ausnutzung, der Kormlenie, und
stabilierte damit die Korruption weiterhin wie ein leitendes Prinzip des
Verwaltungsrechts. Auch Rußland hat in der Neuzeit sehr viele sitt-
lich urianfechtbare Verwaltungsbeamte gehabt, die ihrem Staat aris Hin-
gabe an die Pflicht oder aus Begeisterung für die Idee des Vaterlandes
oder aus persönlicher Anhängigkeit an Zar und Dynastie dienten. Aber
dergleichen ist nicht aus dem staatlichen Verwaltungsrecht und Beamtentum
selbst entstanden, sondern durch Erziehung oder Berührung der Jndividueii
mit west-europäischem Denken aufgenommen worden.
So war das Erbteil der Vergangenheit zu Beginn der Revoliitioii
formal: ein gewaltiger staatlicher Mechanismus, der, nach dem Vorbilde
Westeuropas aufgebaut, den Staatsdienstbegriff bis auf das Äußerste ge-
steigert hatte, dessen Funktionieren aber dadurch sehr erschwert wurde, daß
Zahl und Bildungsniveau seines Beamtentums in einem schreienden Miß-
verhältnis zu dem ungeheuren Raume und seinen Riesenbedürfnissen
stand. An der Weitmaschigkeit des Vertvaltungssystems, dem Mangel an
Verkehrsmitteln und den Eigenschaften der Bureaukratie fand die Willkür
des Staatsbeamtentums und die Machtvollkommenheit des Zaren eine
oft unübersteigbare Schranke. Tatsächlich genoß das russische Volk und
genossen auch die anderen Nationalitäten im Reich eine viel größere
Freiheit, als man in Europa annahm.
Freilich in den Beziehungen, auf die es dem Staate ankam, zog er die
einzelnen sehr ausgiebig heran. Es lag ihm nicht so sehr daran, das
Bildungsniveau seiner Untertanen zu heben, und es bekümmerte ihn wenig,
wenn daher das Schulwesen auf sehr niedriger Stufe stehen blieb. Aber für
3*
36
T. Kapitel.
seine Machtansprüche verstand dieser Staat die Untertanen aufs äußerste zu
fassen. Im Innern, insofern als ein außerordentlich ausgebildetes Potizei-
system Ruhe und Ordnung aufrechterhielt — letztere in ganz mechanischen!
Sinne, den in höchster Ausprägung Nikolai I. vertrat —, wenn auch die
Staatsgewalt zu keiner Zeit stark genug gewesen ist, revolutionäre
Zuckungen des Volkskörpers ganz zu verhindern oder den verbotenen Ver-
kehr nrit der« Ideen des Auslandes völlig abzuschließen. Für die Macht-
ansprüche nach außen aber brauchte der Staat eiu großes Heer und in
weiterem Abstande eine Flotte und die dafür notwendigen finanziellen
Mittel.
Mit seinem Ukas von 1699 über die Pflicht der Rekrutengestellung
und der ersten „Revision" (d. h. Zählung zu Aushebungs- und Steuer-
zwecken) 1718/19 hat Peter der Große auch hierfür die Grundlinien
gezogen und die Dienstverpflichtung für die Masse des Volkes abgeschlossen.
Das Dorf haftete solidarisch für die Zahl der Rekruten, die es zu stellen
hatte, und für den Anteil an der — 1722 eingeführten — Kopfsteuer,
der auf es fiel1). Diese Anteile wurden nach der Zählung der „Seelen"
(der männlichen kopfsteuerpflichtigen Bauern), deren Revision alle zehn
Jahre stattfinden sollte2), bestimmt; in der Zwischenzeit fand die natürliche
Bevölkerungsveränderung keinen Reflex in der Seelenzahl — ein Mißver-
hältnis, auf dem Gogols Tschitschikow in den „Toten Seelen" sein geniales
Schwindelmanöver aufbaut.
Damit war auch die bäuerliche Masse ganz in den Dienst des Staates
gestellt, der Mechanismus lvar fertig, wie im friderizianischen Staat.
Denn ebenso lvaren die — viel geringenen — Schichten der Kaufleute und
Gewerbetreibenden in ihren Pflichten genau reglementiert; sie hingen ja
auch vor allem von den Aufträgen und Bedürfnissen des Staates ab.
Während aber das sonst ebenso aufgebaute Preußen Friedrichs des Großen
unter allen Umständen den einzelnen erfaßte, erreichte hier der Staat seine
Zwecke zum großen Teile mittelbar. Die Dorfgemeinde war für den
Anteil der Rekruten und Steuern solidarisch haftbar. Wie sie aber diesen
st Die Solidarhaftung (krugowaja Poruka) für die Steuer ist gesetzlich erst
durch das Manifest von 1811 festgestellt worden, aber schon seit der Moskauer Zeit
in Übung gewesen.
st Die erste derartige Revision hat 1718/19, die letzte (10.) 1856 bis 1858
stattgefunden.
Das Erbteil der Vergangenheit.
37
Anteil unter sich verteilte, wie sie ihre Angelegenheiten sonst — und diese
waren sehr umfassend — regelte, das blieb ihr überlassen. Die Bauern-
gemeinde, die überwiegende Mehrheit des russischen Volkes, hat sich bis
in die unmittelbare Gegenwart einer Autonomie erfreut, von der man sich
in Westeuropa niemals eine richtige Vorstellung gemacht hat. Man sah
nicht, daß zwischen den Bauern und dem Zaren nicht nur der Grundherr,
sondern auch die Dorfgemeinde als die herrschende Macht des einzelnen
Lebens stand. Das aber führt zu der Frage nach dem Erbteile der Ver-
gangenheit für das Volk.
3.
Das Volk ging in die Zeit der Reformen gebunden herein. Ge-
bunden war es zunächst materiell durch seine agrarische Organisation,
und zwar trug es — wenigstens in seiner überwiegenden Mehrheit —
sowohl die Gebundenheit der „Großfamilie", die sich bei fast allen slawischen
Völkern findet, wie die Gebundenheit der Dorffeldgemeinschaft, die wir aus
der allgemeinen Agrargeschichte kennen, an sich.
Diese Feldgemeinschaft (Mir/), die den einzelnen an die Verfügungs-
gewalt der Gemeinde über das Land band und die in immer wiederholten
Umteilungen des Landes nach den Veränderungen der Zahl der Dorf-
bewohner ein individuelles Verhältnis des einzelnen zu seiner Scholle nie-
mals aufkommen ließ, die so ohne weiteres erklärt, warum der Abso-
lutismus die Solidarhaftung einführen konnte, wurde durch die guts-
herrlich-bäuerlichen Verhältnisse, die Leibeigenschaft ergänzt und in ihrer
Wirkung abgeschlossen. Ist die Feldgemeinschaft schon in frühesten Zeiten
der russischen Geschichte vorhanden, so entsteht die Leibeigenschaft erst in
ihrem Mittelalter. Sie ist am Ende dieses Mittelalters, durch den Ukas
von 1597 zum Abschluß gekommen, der im Interesse der kleineren Dienst-
mannen die Freizügigkeit der Bauern verbot. Dem Wesen nach entstanden
mit Mir und Leibeigenschaft bäuerliche Verhältnisse, wie sie in West-
europa, insonderheit Deutschland ebenso vorhanden waren. Nur einen
Gradunterschied bedeutet die schärfere Anspannung der Abhäugigkeitsver-
hältnisse, die bis zum Verkauf von Leibeigenen ohne Land, also bis zur
reinen Sklaverei und zu barbarischen Mißhandlungen führte.
9 Näheres s. Kapitel V.
38
I. Kapitel.
Diese dreifache Bindung — durch die Dorfgemeinde, den Grund-
herrn und den Staat — wurde nun durch den weltlichen Absolutismus
des Zaren, dessen psychologische Wirkungen noch einmal betont werdeit
müssen, und den geistlichen der Kirche noch außerordentlich verstärkt.
Die Tatarenherrschaft hatte in die kirchlichen Verhältnisse nicht ein-
gegriffen, und so zog die Kirche in ihrem Bunde mit dem Zarentum auch
für sich aus der Stärkung der großfürstlichen Gewalt Vorteil, um so mehr,
als ihre Führung noch lange in den Händen der Griechen, also volks-
fremder Elemente, lag. Nur flüchtig sei hier schon darauf hingewiesen*'»,
»vas es für Rußland gegenüber Westeuropa bedeutet, daß es das griechische
Christentum annahm. Die griechische Kirche, die Wladimir I. einführte,
war aber auch schon innerlich erstarrt und hat an lebendigen Kräften wenig
in das Volksleben hereingeleitet, wenn auch gerade die Tatarenherrschast,
die Anhänglichkeit an die Kirche vertiefend, die Gleichsetzung von Religion
lind Vaterland begründete, aus der der tief im Volksgemüt verankerte Be-
griff des „heiligen Rußland" hervorwuchs. An Bildungselementen und
sittlicher Erziehung vermochte sie verzweifelt wenig zu bieten, weshalb sic
auch bis heute die Reste des Heidentums nicht ganz hat überwinden können.
Das Wesentlichste ist doch an ihr ihre Verbindung mit deni Zarentum.
Dadurch vermochte sie, das Fürstentunr durch die Erfüllung mit dem
religiös verklärten byzantinischen Staatsgedanken noch hebend und steigernd,
die Gemüter zu binden und zu beherrschen, das ganze Volk von der höchsten
Spitze bis zum letzten Bauern an sich zu fesseln, es ihrem Dogma unb
noch mehr ihrem Ritus in einer Weise zu unterwerfen, die über ihre
innere lebendige Kraft oft täuscht. Ein Kampf gegen die Kirche war daher
bis zur Gegenwart, wie die Geschichte aller sektiererischen Bewegungen
in Rußland lehrt, ein Kampf gegen den Staat, also Revolution. Eine
Abkehr von ihr geschieht bis heute nur, indem sich der Russe innerlich
von ihr frei »nacht, ohne aber den Entschluß zu einem entschlossenen
Atheismus oder zum Übertritt zu einer airderen Konfession zu finden.
Die Bindung der Geister, die die orthodoxe Kirche herbeizuführen ver-
standen hat und die heute in der Masse noch ungehindert in Macht ist,
kann psychologisch gar nicht hoch genug angeschlagen werden.
r) Weiteres s. Kapitel VIII.
Das Erbteil der Vergangenheit.
39
So war also dies das Erbteil der Vergangenheit für das 19. Jahr-
hundert: ein dreifach, durch die lokale Organisation (Familie, Gemeinde,
Gutsherr), durch die Staatsgewalt, durch die Kirche gebundenes Volk,
eine ins äußerste gesteigerte fürstliche Gewalt mit einem gewaltigen Orga-
nismus, der ihren Zwecken dienstbar war und das ganze Volk für ihre
Zwecke dienstbar machte, ein Staat, der nach seiner äußeren Entfaltung
das volle Recht, als europäischer Großstaat betrachtet zu werden, erworben
hatte und nachdrücklich geltend machte. Er hatte die dafür in ihm liegenden
Ansätze durch Befruchtung mit europäischen Gedanken und Einrichtungen
außerordentlich und einseitig ausgebildet und zu einem großen System ent-
wickelt, das in der slawophilen Anschauung seine theoretische Begründung
fand. Ihre drei Schlagworte: Selbstherrschaft, orthodoxe Kirche und (groß-
russisches) Volkstum (Samoderschawie, Prawoslawie, Narodnost), sprechen
in einer geläufigen Formel diese historische Anschauung und zugleich ein
politisches Programm aus, wobei freilich gern vergessen wird, daß erst die
Befruchtung mit dem aus Westeuropa (Polen, Holland, Deutschland,
Frankreich) Gekommenen diese Entwicklung vorhandener Ansätze ermöglicht
hat, daß erst durch die aus Europa hereingeholten Steine diese drei Funda-
mente des russischen Staates zu dem gewaltigen Bau von heute ausgebaut
werden konnten.
Auf Kolonialland, aus indogermanischem Grundstock und finnischem
Einschlag hatte der großrussische Volkscharakter sich gebildet. Zwar war
er Asien zugewandt, aber der Mensch war stärker in ihm als das Land
und Europa stärker als Asien. Realistisch-positiv war er in dieser Natur
geworden, mit starkem natürlichen Verstand und tief-religiöser Anlage, an-
passungsfähig (mit der „russischen Akzeptivität", wie A. Herzen sagt),
wenig originell, oft rätselhaft in seinen Instinkten, harmlos kindlich und
weich (mit dem „russischen Mitleid" Dostojewskis), aber auch bestialisch-wild
und roh, groß vor allem in passiver Widerstandsfähigkeit und Tapferkeit,
schwach in aktivem Wollen und Ausdauern. Unter allem Druck, der
schwerer auf ihm lastete als je auf einem europäischen Volke, wahrte sich
dies Volkstum doch eine naturwüchsig starke sittliche Kraft. Anziehend und
abstoßend zugleich war sein Charakter geworden, nicht völlig rätselhaft,
aber schwer zu begreifen. Seine Psychologie haben weder das neue Rußland
seit 1855 noch das neueste seit 1905 wesentlich geändert.
II. Kapitel.
Die Entstehung des modernen Rußlands und die
Voranssetznngen der Revolution von 1905.
I. Die Reformen Alexanders II.
Der Entwicklung des Staates zum europäischen Großstaat und der
äußeren Europäisierung seines Ausbaues und der Gesellschaft hatte eine
Durchdringung mit der westlichen Kultur noch nicht in gleichem Maße
entsprochen. Dieser Widerspruch wurde schon im 18, Jahrhundert
empfunden; man fühlte, daß das, was dieser Staat beanspruche und dar-
stelle, nicht dem entspreche, was er für sein Volk und was dieses Volk wieder-
um für die Menschheit leiste. Und ebenso früh empfand man den Wider-
sinn, daß die bestehende Staatsorganisation auch nur die Erörterung dieser
Fragen, die Diskussion eines stärkeren Anschlusses an die europäische
Ideenwelt nicht dulden zu können glaubte. Daher konnte die geistige
Bewegung, die diesen Widerspruch zu lösen strebte und forderte, so wichtig
ste ist, bis zur neuesten Zeit nur einen kleinen Teil des Volkes erfassen.
Sie mußte sich auf die sog. Intelligenz*) und einen Teil des Adels, des
Beamtentums und Ossizierkorps beschränken, da der Versuch, den der
Nihilismus in den 70er Jahren machte, die Bauern zu gewinnen, voll-
i) Dieser Begriff ist in allen slawischen Ländern sehr beliebt und in seinem
Umfange klar. Eigentlich alle umfassend, die lesen und schreiben können
(gramotnhe), bezeichnet er vornehmlich die liberalen Berufe (Anwälte, Arzte,
Lehrer, Schriftsteller u. dgl.). Er überläßt es dem Beamtentum, wieweit es sich
selbst zu dieser sozialen Gruppe rechnen will, die bewußt den Fortschritt, ja den
Radikalismus vertritt und überall da eine große Rolle spielt, wo eine starke
Aristokratie oder Bourgeoisie noch fehlt. Das ist in Kernrußland der Fall, während
in Polen und seinem fertigen sozialen Bau, ebenso wie in den Ostseeprovinzen,
diese Kreise heute bereits die richtige Stelle und Bedeutung haben.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
41
ständig scheiterte. Von einer die bestehenden Zustände ernstlich bedrohenden
geistigen Bewegung ist daher erst zu reden, seitdem ein industrielles
Proletariat die Verbindung mit der Intelligenz fand. Deshalb ist hier
zunächst wichtiger als die geistige Bewegung, die mehr Vorbereitung der
Gegenwart ist, die große Arbeit der staatlichen Reformen, die sich mit dem
Namen Alexanders II. verbindet).
Das System der ausschließlich auf die Zwecke des Staats eingestellteir
politischen und sozialen Ordnung war schon vor Alexander II. in einem
wesentlichen Zuge verändert worden. Peter III. hatte 1762 die Dienst-
pflicht des Adels, die ohne Unterschied bestand und zu einem großen Teile
Voraussetzung und Bedingung seines Landbesitzes bildete, aufgehoben.
Dieser Schritt war an sich ebenso notwendig gewesen, wie die Allodifizierung
der Lehen in Westeuropa, da das auch in Rußland eingeführte moderne
Heerwesen den Lehnsritterstand hier ebenso überflüssig gemacht hatte wie im
Westen. Dann aber war an dieser Stelle das Band zwischen Gesellschaft
und Staat zerschnitten; der Adel besaß seitdem sein Land zu freiem Eigen-
tum und hatte nur noch eine moralische Verpflichtung zum Dienst gegen
den Staat, die hier freilich besonders stark weiterwirkte. Es gelang ja nicht,
wie in Preußen, im Adel ein richtiges Verhältnis zwischen dem unab-
hängigen Grundbesitzer und dem Offizier oder Staatsdiener herzustellen.
Der Adel bedeutete als Stand nichts niehr, auch die korporative Verfassung
Katharinas II. für ihn änderte daran nichts; an seiner Statt stand als
geschlossene Klasse der neue Beamtenstand der „Tschinowniki", in der Adel
und Nichtadel ineinander aufgingen.
Die organische Ergänzung der Dienstverpflichtung des Adels war
im absoluten Rußland die Abhängigkeit, die Leibeigenschaft der Bauern
gewesen, deren Aufhebung die logische Folge der Aufhebung der staatlichen
Dienstpflicht für den Gutsbesitzer gewesen wäre. Gegen die Leibeigenschaft
ist seit Ende des 18. Jahrhunderts Sturni gelaufen worden; tatsächlich
wurde an ihr nichts geändert, obwohl sich Katharina II. wie Alexander I.
und auch Nikolai I. lebhaft damit beschäftigt haben.
Am Ende der Regierung Nikolais I. aber, der noch einmal und mit
imponierender Kraft das alte Rußland verkörperte, zeigte sich, daß dieses
System absoluter Staatsgewalt und unbedingter Zentralisation, das die
l) Eine auch nur entfernt genügende deutsche Darstellung dieser Reformen
fehlt völlig; russische Werke s. im Literaturverzeichnis.
42
n. Kapitel.
individuelle Freiheit und die Verbindung mit Gedanken Westeuropas
grundsätzlich ausschloß, nicht einmal seine Aufgaben für die politischen
Zwecke erfüllte, für die es da war und in denen es seine Rechtfertigung
fand. Diese Erkenntnis verbreitet und vor allem in den maßgebenden
Kreisen durchgesetzt zu haben, ist die große Bedeutung des Krimkrieges.
Mit der Überzeugung, daß es mit diesem System nicht weitergehen könne,
weil es sich in der großen Probe des Kampfes gegen England und Frank-
reich nicht bewährt hatte, setzt die Einleitung zu der Geschichte des neuen
Rußlands ein.
Der Grundgedanke für die Arbeit, die mm beginnen sollte, ist
wenigstens in den klarsten Köpfen der Reformzeit der gewesen, die be-
stehende Staatsorganisation umzubilden und dadurch zu ergänzen, daß
die Kräfte der Gesellschaft zu freier Mitarbeit am Staate entbunden
würden. Dafür hatte die — immer illegale — geistige Bewegung unab-
hängig vom Staate auf das stärkste vorgearbeitet. Ihre Phasen waren
gewesen: die Berührung mit den Ideen von 1789, die durch den Aufent-
halt der russischen Armee auf französischem Boden gewonnen worden
war und im Aufstande der Dekabristen schon ihre Früchte getragen
hatte, — der Aufschwung der schönen Literatur seit Puschkin und Ler-
montow —, die Arbeit der „Männer der 40er Jahre", — der geistige
Kampf der Slawophilen und „Westler". Noch einmal aber muß unter-
strichen werden, daß diese geistige Bewegung nur auf die oberen Schichten
beschränkt blieb, daß sie nicht revolutionierend wirken konnte, weil sie an
das Volk gar nicht herankam, und weil sie auch in den gebildeten Schichten
fortwährend durch Staat und Polizei gehemmt und unterbunden wurde.
Daher fehlt in Rußland eine allgemeine geistige Vorbereitung, wie sie die
Reformzeit in Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorfand. Die
Formeln für die Reformen sind im Ka'.npf der Geister geprägt worden
bis zu der letzten Konsequenz, der Forderung einer Verfassung, aber das
Werk selbst, die Durchführung der Reform, ist ausschließlich Arbeit und
Verdienst des Staates, d. h. des Zaren und seiner Diener gewesen.
Das Urteil über Alexander II. lautet gemeinhin in dieser Beziehung
ungünstig, weil er die Reformarbeit in der zweiten, längeren Periode seiner
Regierung aufgegeben hat. Aber trotzdem steht er am Beginn der neu-
zeitlichen Geschichte Rußlands, und ist dieser Beginn sein persönliches
Verdienst. Ein Verdienst weniger der Einsicht — denn daß es anders
Die Entstehung des modernen Rußlands.
43
werden müsse, war allgemeine Überzeugung geworden, und wie es anders
werden sollte, darüber war auch genug diskutiert und geschrieben worden —
als des Willens und der Tatkraft, die den Widerstand der konservativen
Tendenzen in der eigenen Familie, ain Hofe, im Adel und Beamtentum
überwanden und in sehr kurzer Zeit die Grundsteine für den Neubau legten.
Sicherlich war Alexander dabei insofern im Vorteil, als Rußland die
Vorbilder der westeuropäischen Staatest für diese Arbeit vor sich hatte.
Daß diese, insonderheit das preußische, das Werk der Reform sehr
stark beeinflußt haben, ist keine Frage, wenn es auch in der russischen
Geschichtsschreibung wenig zum Ausdruck kommt. Und weiter konnte
Alexander sein Volk mit der ganzen traditionellen, durch nichts gehemmten
Macht des Zarentums in diese Bahnen leiten; der Widerstand, den er
fand, ist dem, der sich in Preußen den Reformen entgegenstellte, nicht zu
vergleichen. Aber schon darin lag auch eine Schwäche. Alle Verantwortung
legte sich auf die Schultern eines Mannes, zugleich mit der lähmenden
Frage, auf die das Zarentum bis heute keine es selbst befriedigende und be-
freiende Antwort gefunden hat: ob nicht diese Umbildung des eigenen
Staates und Volkes in die Bahn des tvesteuropäischen Individualismus
urtb Konstitutionalismus hinein mit der grundlegenden Veränderung des
bestehenden Systems auch die Stellung der Dynastie, die innere Geschlossen-
heit des Einheitsstaats und seine Stellung nach außen gefährlich erschüttere.
In dem Zweifel, den diese Frage aufrührte, besonders als die Einwirkungen
des Aufstandes in Polen dazukamen, liegt schon die psychologische Er-
klärung daftir, warum den ersten frohen Jahren der Erwartung und
Reform so schnell die Enttäuschung unb Kritik, die Reaktion und eine schnell
immer schärfer tverdende Opposition folgten.
Mit der Reformgesetzgebung hat der Ukas vom 19. Februar/3. März
1861 über die Auflösung der gutsherrlich-bäuerlichen Abhängigkeitsver-
hältnisse begonnen. Die Bauernbefreiung ist dabei in den Bahnen ähnlicher
Gesetzgebringen Westeuropas vor sich gegangen, ist aber auf halbem Wege
stehen geblieben. Denn sie hat lediglich die Gebundenheit des Bauern an
seinen Grundherrn aufgelöst, den sie durch vom Bauern an ihn zu ent-
richtende Loskaufszahlnng uird Abtretung von Land entschädigte. Sie hat
so, radikaler und sofort durchgreifender als in Preußen, das Band zwischcrr
Herrn und Bauer mit einem Male zerrissen, aber sie setzte für den Bauern
an die Stelle der Abhängigkeit vom Herrn nun die Abhängigkeit von der
44
II. Kapitel.
Gemeinde. Denn sie hat nicht die Gebundenheit des Bauern an diese, an die
agrarische Zwangsgemeinschaft des Mir, und an seine Großfamilie beseitigt,
und hat damit eine Quelle größter Mitzstände und sozialer Krankheiten er-
halten. Diese zweite notwendige Hälfte der Bmlernbefreiungsgesetzgebung
hat darum erst unter dem Drucke der Revolution in der Gegenwart nach-
geholt werden müssen. Aber trotz dieses schweren Fehlers wurde mit der
Reform ein gewaltiger Schritt vorwärts getan. Es ist die größte soziale
Bewegung seit der französischen Revolution und eine Bewegung, die
ohne Bürgerkrieg, nur durch die Tatkraft eines einsichtigen Autokraten
durchgeführt worden ist. Mit ihr erst konnte der Kapitalismus ein-
dringen, durch sie erst die im Lande noch fast völlig fehlende Bourgeosie
entstehen, wie sie auch die Entwicklung eines ländlichen Proletariats
nicht nur nicht verhindert, sondern sogar gefördert hat. Die Bauern-
befreiung bedeutete noch keine unbedingte Mobilisierung des Eigentums
am Land und ebenso nicht der freien Arbeit, die Voraussetzung des
modernen Industrialismus und Kapitalisinus ist. Aber ein weiter Schritt
in dieser Richtung wurde getan, der Grund zu einer kapitalistischen Volks-
wirtschaft gelegt, deren von vornherein noch zwiespältiger Eharakter freilich
damit gleich gegeben war.
Die Bauernbefreiung hat maßgebend auch auf die Lage des Adels
eingewirkt, der ebensowenig wie das Bauerntum auf diesen jähen Über-
gang in die kapitalistische Wirtschaft vorbereitet war. Dem: er wurde mit
einem Male auf die Basis freier Arbeit gestellt und vom Getreideexport ins
Ausland abhängig gemacht. Es ist darum nicht verwunderlich, daß dieser
ganz unvermittelte Umschwung nicht nur vom Bauernstande, sondern auch
vom Adel teuer bezahlt werden mußte.
Der nächste Schritt war die Reform der Justiz (2. Dez. 1864). Man
schuf die Organisation der Gerichtsbehörden und die Zivilprozeßordnung,
die in der Hauptsache heute noch gelten, und wollte bewußt die europäische
Form dieser Ordnungen auf russischen Boden übertragen. Das war
nach zwei Richtungen von epochaler Bedeutung. Die Trennung der Justiz
von der Verwaltung löste die Rechtsbeziehungen aus der bisherigen Ver-
quickung mit der Verwaltung heraus urid vermochte die Rechtsprechung
selbst im Sinne einer für alle gleichen und unbestechlich richtenden Justiz
zu modernisieren. Dieser große Fortschritt konnte selbstverständlich nicht
in kurzer Zeit praktisch werden. Denn auch der Richterstand trug dieselben
Die Entstehung des modernen Rußlands.
45
Züge an sich wie das ganze Beamtentum, und konnte, aus denselben
Wurzeln wie dieses erwachsen und nachdem er sich ebenso als eine vom
Zaren abhängige, ihr Amt als Nährquelle ausnutzende Beamtenklasse wie
alle anderen betätigt hatte, nicht in wenigen Jahren zu einer gebildeten
und unbestechlicheti „Noblesse de Robe" werden. Hier mußte die Wirkung
der Zeit abgewartet werden, wenn nur der Wille des Staates, die Reform
weiterzuführen, ununterbrochen derselbe blieb.
Bedenklicher war es, daß auch hier die Arbeit, entsprechend der
Bauernbefreiung, auf halbem Wege stehen blieb. Indem rnan die Dorf-
gemeindeverfassung nicht auflöste, beseitigte man auch nicht ihre Gerichts-
autonomie und die ständige Absonderung der Bauern vom übrigen Volke.
Es beeinträchtigt den sozial-geschichtlichen Wert der Rechts-Reformen
Alexanders II. und daher ihre Bedeutung für die Neugestaltung Rußlands
außerordentlich, daß sie sich in der Gerichtsorganisation nur auf die nicht-
bäuerliche Minderheit des Volkes beschränkten und für die bäuerliche
Mehrheit nur Polizei- und Kontrollmaßregeln brachten. Infolgedessen ist
jener Fortschritt nur der Minorität zugute gekommen und stand die Gegen-
wart, die unter dem Drucke der Revolution das gleichfalls nachholen sollte,
nicht nur vor der Aufgabe, die bäuerliche Mehrheit des Volkes auch hier mit
dem übrigen Volksteil zu verbinden und die Rechtsprechung für sie zu
modernisieren, sondern für sie überhaupt erst ein bürgerliches Recht zu
schaffen.
Von größter Wichtigkeit aber war, daß dieses Justizreformgesetz für
alle Gebiete, in denen die neuen Gerichtsordnungen eingeführt wurden, die
Kabinettsjustiz grundsätzlich aufhob: der absolute Zar band sich freiwillig,
indem er der unmittelbaren Ausübung der richterlichen Gewalt entsagte.
Freilich ist die Unabsetzbarkeit der Richter als unumgängliche Voraus-
setzung einer unabhängigen Justiz später nicht gewahrt worden. Daß ferner
die Amtsverbrechen vom Geschworenengericht eximiert und politische Ver-
brechen Sondergerichtshöfen ohne Geschworene zugewiesen waren, minderte
den Wert dieser Reform herab und ließ bis zur Gegenwart der Verwaltung
nach wie vor einen großen Einfluß aus die Rechtsprechung. Aber der grund-
sätzliche Fortschritt war groß und er führte naturgemäß die Resormwünsche
weiter zu der Idee, das so in seiner rechtlichen Existenz sichergestellte Volk
nun auch unmittelbar an der Bestimmung der Geschicke des Staates
zu beteiligen.
46
II. Kapitel.
Daß der Gedanke einer Verfassung in diesen Jahren Volt vorn-
herein gehegt wurde, lag zu sehr im Gange der Reform, und dafür
konnte auch an freilich vergessene Erinnerungen der Vergangenheit ange-
knüpft werden. Vorher aber faßte Alexander die Frage von einer anderen
Seite an. Man konnte das Volk, die Gesellschaft zur Mitarbeit an den
Aufgaben des Staates heranziehen entweder in einer Verfassung, durch
Parlament und Wahlrecht, oder durch die Verwaltung, durch eine
Organisierung der Gesellschaftsgruppen und Übertragung staatlicher Ver-
waltungsausgaben an sie. Der letztere Gedanke mußte im russischen Staate
naheliegen, wo die Gesellschaft schon vollständig durch den Staat organisiert
worden war. Katharina II. hatte im Jahre 1785 eine Städteordnung
verliehen und 1775 die Organisation des Adels geschaffen, die heute noch
besteht, die zunächst nur für die Standesinteressen des Adels bestimmt,
organisch mit der Staatsgewalt verbunden ist: an der Gouvernements-
verwaltung und ihren Untergliedern hat der Adel sehr starken Anteil und
Einfluß. Für die bäuerliche Welt bestand schließlich seit alters die Auto-
nomie der Dorfgemeinde, die nach unten und im Innern ihre Angelegen-
heiten in staunenswerter Selbständigkeit ordnete.
So war der Gedanke der Selbstverwaltung im Zusammenhang der
alexandrinischen Reformen nicht so revolutionär und neu, wie er zuerst
erschien. Für die weitere Ausbildung aber fand der Zar innerhalb seines
Reiches, in den Ostseeprovinzen, ein trefflich arbeitendes Vorbild, das schon
für die Bestrebungen Katharinas auf diesem Gebiete benutzt worden ist.
Denn wenn auch für die 1864 begründete Landschaftsorganisation (die sog.
Semstwos) wohl die preußischen Einrichtungen mit als Anregung benutzt
wurden, so hat doch namentlich die ritterschaftliche Selbstverwaltung der
deutsch regierten baltischen Provinzen als Vorbild gedient. Jedenfalls führte
das Gesetz vom 13. Januar 1864 in den „Semstwos'") eine Organisation
der Selbstverwaltung ein, die von beinahe gleicher Bedeutung werden
konnte, wie die Befreiung der Bauern. Ansgesprochenerniaßen war die
Absicht, wie es in der Denkschrift zum Enttvurf heißt, „nach Möglichkeit
die volle und folgerichtige Entwicklung des Prinzips der lokalen Selbst-
verwaltung". Mit diesen Kreis- und Gouvernementssemstwos, mit ihren
Kreis- und Gouvernementsämtern (Uprawa) wurde ein Element in den
st Das Wort wird wohl am besten mit Landschaft wiedergegeben.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
47
russischen Staatskörper eingeführt, das der preußischen Selbstverwaltung
durchaus entspricht, und oberflächlich ist das Semstwo in Kreis und Gou-
vernement damit charakterisiert, wenn man sich seine Tätigkeit, wie die von
Kreistag und Kreisausschuß, von Provinziallandtag und Provinzialaus-
schuß in Preußen vorstellt*).
Damit und mit der neuen Städteordnung von 1870, die den Ge-
danken kommunaler Selbstverwaltung in weitem Ausmaß verwirklichte,
trat nun aber doch ein neues Prinzip in das Staatsleben ein. Rußland
hatte jetzt die Möglichkeit, die aktiven Kräfte eines Liberalismus, der durch
die geistige Bewegung entstanden war, in der Selbstverwaltung zu wirklich
konstitutionellem Denken, zum Gefühl staatsmännifcher Verantwort-
lichkeit zu erziehen. Wer die Reihe der politischen Führer in der Gegenwart
überblickt, sieht auch, wie segensreich diese Semstwoeinrichtung geworden
wäre, wenn nian sie sich ungestört hätte betätigen lassen. Man ist in und
außerhalb Rußlands im Urteil über diese Reform geneigt, die Leistungen
der Semstwos entweder zu überschätzen oder sie zu gering zu bewerten.
Wo sie auf dem Gebiete der Volkswohlfahrt und des Schulwesens etwas
leisten konnten, haben sie ungemein segensreich gewirkt. Daß sie öfter ver-
sucht haben, ihre — nicht klar bezeichneten — Grenzen zu überschreiten, und
daß ihre Finanzwirtschast nicht überall musterhaft war, ist gleichfalls
richtig. Aber ohne Zweifel sind die Elemente, die die Entwicklung
Rußlands ruhig und organisch weiterführen wollen und ein Augenmaß für
das politisch Mögliche haben, beinahe durchgängig aus der Schule der
Semstwoverwaltung gekommen. Wenn trotzdem aus dieser Reform
nicht die Voraussetzung für ein gesundes konstitutionelles Leben, die daraus
hätte entstehen können, geworden ist, so lag die Schuld zunächst daran, daß
man die nötige verwaltungsrechtliche Lösung, die Teilung der Gewalten
zwischen Staats- und Selbstverwaltungsbehörden, nicht gefunden und so
den Konflikt zwischen Selbstverwaltung und Staatsverwaltung, in dem
die Bureaukratie natürlich im Vorteil war, verewigt hat. Später wurde
der Charakter des Selbstverwaltungsorgans im Semstwo auch bewußt
und durch gesetzgeberische Maßregeln immer mehr eingeengt und auf die
Stufe eines staatlichen Beratungsorgans heruntergedrückt. Auch hier blieb
die Reform stehen, gewissermaßen am zweiten Drittel ihres Weges, der
0 Näheres s. Kap. VII.
48
II. Kapitel.
dann ein ganzes Teil wieder zurückgegangen wurde. Dadurch wurde die
Bedeutung der Einrichtung für die Zukunft gelähmt und die Elemente
der Gesellschaft, die dafür in Frage kamen, in den Radikalismus Herein-
getrieben.
Bei seiner Begründung tvurde das Semstwo vor allem deshalb mit
großer Begeisterung aufgenommen, weil es Anfang und Voraussetzung für
eine Konstitution zu sein schien, wie auch der Moskauer Adel gleich damals
bat, das ganze Werk durch die Berufung einer allgemeinen Versammlung
von „aus dem russischen Volk gewählten Leuten" zu krönen. Es kamen
da Vergangenheit und Gegenwart merkwürdig zusammen. Obwohl die
Reichstage (semskie Sobory) der Moskauer Zeit seit Mitte des 17. Jahr-
hunderts verschwunden waren*), lebte die Erinnerung daran, daß selbst
in diesem Lande eines schrankenlosen Absolutismus früher auch das Volk
in seiner damaligen ständischen Gliederung an den Aufgaben des Staates
mitgetvirkt hatte, noch fort, wie sie auch 1904 sofort wieder neu belebt
worden ist. Andererseits lag, wenn einmal das Zarentum gewisse Gebiete
der staatlichen Verwaltung an die Selbstverwaltung abgab, der Gedanke
nahe genug, die Organisation der Semstwos durch ein Reichssemstwo
abzuschließen. Wollte man eine Rechtfertigung dafür auch aus der Geschichte
der Romanows selbst, so lagen die Verfassungsentwürfe vor, die Speranski
1809 und Nowossilzow zwischen 1819 und 1821 für Alexander I. gemacht
haben. Aber Alexander II. konnte sich zu diesem letzten Schritt nicht ent-
schließen. Er hat auch nicht das Gefühl gehabt, daß er gerade mit seinen
Reformen Kräfte entfesselte, die zu diesem Abschluß drängen mußten, und
daß es staatsklug gewesen wäre, die Entwicklung selbst fest in die Hand zu
nehmen und weiterzuführen. Besonders unter dem Eindrucke der Atten-
tate auf ihn — das erste, von dem die Schwenkung des Zaren datiert, ist
das Karakosows am 15. April 1866 gewesen — hat Alexander diese Ver-
fassungspläne bis kurz vor seinem Ende liegen gelassen. Es liegt eine un-
geheure Tragik nicht nur für Alexander als Menschen, sondern für die Ge-
schichte des neuzeitlichen Rußlands überhaupt darin, daß, als Alexander II.
am 13. März 1881 von dem tödlichen Bombenwürfe getroffen wurde,
wenigstens der Ansatz zu einer Verfassung in seinem Kabinett unter-
schrieben vorlag: die sogenannte Konstitution des Grafen Loris-Melikow^).
1) Die Einrichtung ist in Europa ganz unbekannt geblieben.
2) Seit 18. August 1880 Minister des Innern.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
49
Sie hätte zunächst die Wünsche der konstitutionellen Semstwomänner
wenigstens einigermaßen befriedigt, indem sie eine Kommission aus
Semstwo- und Städtevertretern und ernannten (auch Regierungs-)Mit-
gliedern zur Ausarbeitung dringender Gesetze, also eine Art von Volks-
vertretung in Aussicht nahm. Wie anders wäre die Entwicklung Rußlands
verlaufen, wenn das Reformwerk der sechziger Jahre früh genug in dieser
Weise gekrönt worden wäre! —
Es war schließlich noch nach zwei Richtungen ergänzt worden. Zu-
nächst mußte die beginnende Befreiung des Individuums von einer um-
fassenden Reform des Unterrichtswesens begleitet sein. Freilich haben das
Universitätsstatut von 1863 und die neue Ordnung für die Mittelschulen
bei weitem nicht das getan, was geschehen mußte, und die Reaktion hat nicht
einmal diese Keime zur Entwicklung kommen lassen. Vor allem auf dem
Gebiete des Volksschulwesens geschah zu wenig, reichte, was geschah, nicht
entfernt an das Notwendige heran; dem Gedanken der allgemeinen Schul-
pflicht, der so eng mit diesen Reformideen zusammenhing, blieb man ganz
fern. Was wirklich geschah, geschah durch die Semstwos; sonst blieb die
ungeheure Arbeit auf diesem Gebiete vollständig dem Rußland seit 1904
überlassen.
Diesen Überblick schließt die Armeereform sinngemäß ab. Das Gesetz
von 1874, das Werk Dmitri Miljutins (ch 1912), führte die allgemeine
Wehrpflicht ein und setzte die aktive Dienstzeit, die ursprünglich volle 25
Jahre gedauert hatte, aber schon früher auf 12 und 10 Jahre herabgesetzt
worden war, auf 5 fest. Bei der Lage des Volksbildungswesens bedeutete der
Dienst in der Armee, durch den nun jeder gehen mußte und der freilich
in diesem am Anfang des Kapitalismus stehenden Lande die jungen männ-
lichen Kräfte 5 Jahre der Erwerbszeit fern hielt, einen wichtigen Teil
der Erziehung; für die Europäisierung des Bauern ist die allgemeine Wehr-
pflicht fast wichtiger geworden als alle anderen Reformen zusammen.
So ist ein gewaltiges Stück Arbeit in den wenigen Jahren von 1861
bis 1864 geleistet worden, in denen sich der Gedanke einer Umgestaltung
Rußlands frei entfalten konnte. Wenn auch die Sympathien der Bureau-
kratie rasch erschöpft waren und sich eine erfolgreiche Reaktion aus Hof,
Adel und Beamtenschaft gegen jede Reform bald sammelte, so war doch
eine soziale Entwicklung durch die Autokratie begonnen worden, über deren
Bedeutung sich diese selbst kaum klar war. Halbheit und Mangel an
Hoetzsch, Rußland. * 4
60
II. Kapitel.
Konsequenz werden mit Recht den Reformen Alexanders II. vorgeworfen,
aber ohne sie wäre Rußland entweder in völlige Stagnation versunken
oder durch eine Revolution erschüttert worden, gegen die die Bewegung
der Gegenwart ein Kinderspiel gewesen wäre.
II. Die geistigen Voraussetzmigen der Revolution bis zu
Alexander II.
Aller geistigen Vorbereitung zur Revolution hat der Absolutismus
des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Voraussetzung immer unterbunden:
die Freiheit nicht nur der Organisation, sondern auch die der legalen
Rede und Erörterung. Daher die beiden Charakterzüge der geistigen Be-
wegung im 19. Jahrhundert: sie vollzieht sich illegal, oft geheim und
revolutionär, verschleiert häufig durch die Formen der schönen Literatur,
die dadurch einen ganz tendenziösen Charakter erhält. Und sie geht, im
engsten Zusammenhang zwischen Philosophie, Literatur, Religion und
Politik, ohne zureichende erkenntnistheoretische Grundlegung und mit großer
Vorliebe für ethische Fragen, fast ausnahmslos die Bahnen völlig ab-
strakten, extrem-doktrinären Denkens, in einer Intelligenz, von der man
treffend gesagt hat, daß der russische Bauer ihr Vater und Frankreich ihre
Mutter sei, für die besonders das geistreiche Wort eines Russen gilt:
„Vielleicht liegt es an der Kraft des jungfräulichen russischen Bodens, daß
jegliches darauffallende Samenkorn sich bis zu den äußersten Grenzen der
Möglichkeit auswächst."
Im 19. Jahrhundert sind als vorbereitend für die Revolution und
zugleich politisch-parteibildend zu unterscheiden: die geheimen Gesellschaften
und die Dekabristen unter Alexander I., — die literarische Bewegung der
40er Jahre —, die Slawophilen und die sog. Westler, — Nihilisten und
Sozialrevolutionäre —, die Richtungen unter Nikolai II. bis 1904*).
Zwischen den ersten vier zusammen und der fünften besteht der grund-
sätzliche Unterschied, daß jene nur Bewegungen der Intelligenz sind, obwohl
der Nihilismus versucht hat, die Bauern, und die Sozialrevolutionäre sich
1) Der Raum gestattet nicht die Angabe von vielen Zahlen und Titeln;
dafür sei auf die im Literaturanhang zitierten Werke von Kropotkin, Masaryk und
Wolkonski verwiefen.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
51
bemüht haben, die Arbeiter mobil zu machen. Aber erst in der Gegenwart
erhalten diese geistigen Strömungen ein breiteres >tnd tieferes Bett, indem
erste Streiks^), die Anfänge sozialdemokratischer Parteibildung, Be-
rührungm zwischen Intelligenz und Arbeiterschaft, politische Gärungen
im Bauernstande entstehen. Alles das fehlte den älteren Richtungen, deren
große Bedeutung in ihren: Einfluß auf die Geister, auf das Denken der
Führer liegt und deren Gedanken alle noch in der geistigen Struktur des
politischen Russen der Gegenwart nachleben.
Wenn man von den Freimaurerbünden unter Katharina II. ab-
sieht, ist der wesentlichste Anstoß für die Entwicklung der politischen Ideen
der schon erwähnte Aufenthalt der russischen Armee auf französischem
Boden während der Befreiungskriege gewesen. Er brachte das Offizier-
korps in Berührung mit den Ideen von 1789, überhaupt mit der euro-
päischen Gedankenwelt, und führte in ihm und den ihm nahestehenden
Kreisen zu einer Revision der herrschenden Anschauungen, die bald über
diese Hinaustrieb. Gleich diese erste Bewegung zeigt den typischen Gang,
den sie alle in Rußland seitdem eingeschlagen haben: man nimmt
neue — philosophische, politische, volkswirtschaftliche — Ideen rasch an und
läßt aus ihnen ein Streben gleich nach den äußersten Reformen erwachsen,
das an den bestehenden Gewalten scheitert und erstaunlich schnell erst
theoretisch, dann praktisch zu Gedanken an gewaltsamen Umsturz führt.
Die Anhänger dieser Offizierbewegung sind die Träger der ersten
großen politischen Refornibewegung in Rußland. Sie haben die Grundsätze
einer Verfassung diskutiert und erscheinen mit ihren Grundforderungen als
erster Ansatz zu einer politischen liberalen Partei. Freilich ergab sich der
Widerstreit zweier Richtungen unter ihnen aus der Lage der russischen
Verhältnisse schon von selbst. Den einen, Pestel an der Spitze, lag die
gelvaltsame Durchsetzung ihrer Wünsche näher, während die anderen ihre
Ziele und Wege mehr auf der Seite der Reform suchten: Nikolai Turgenjew
kann als ihr Typus gelten, der sich auf der Universität Göttingen und
in: Verkehr mit dem Freiherru vom Stein seine tiefgreifenden Reform-
gedanken über Steuer- und Zollwesen und namentlich über die Bauern-
befreiung schuf. Die Richtung Pestels überwog: im Dezember 1825 brach
l) 1896 der berühmte erste Versuch eines gewerkschaftlichen Massenkampfes
in Petersburg,
4*
52
II Äojjitcl.
die als Dekabriftenverschwörung bekannte Militärrevolte aus, für die der
Boden in Geheimgesellschaften vorbereitet worden war. Parallel mit ihnen
und sie stützend ging die allgemeine Opposition am Hof und in der Gesell-
schaft, die sich, da eine andere Form politischer Meinungsäußerung un-
möglich war, der schönen Literatur bediente. Puschkins und Rylejews
Verse, Gribojedows berühmte Komödie „Verstand bringt Leiden" geben
diese Stimmung wieder. Ihre von nun an typischen Elemente: oppositio-
nelle Literatur und politische Verschwörung, der alte absolutistische Druck
und die schärfste Ablehnung des Staates durch eine Gesellschaft, die doch
noch ganz in seinen Dienst gepreßt war, geben dem Staatsleben des 19.
Jahrhunderts das Dumpfe und Ungesunde und entsittlichen in ihrem
Gegensatz sowohl die Träger der alten Ordnung wie die Verfechter der
Umgestaltung.
Ohne Mühe wurde der Dekabristenaufstand niedergetvorfen. Es be-
gann das 30jährige Regiment Nikolais I., das die Beherrschung der Ge-
müter durch den Absolutismus bis in die äußersten Konsequenzen durch-
geführt hat. Die fortarbeitende Umbildung der Geister in Opposition und
Negation hat es gleichwohl nicht aufhalten können. Jetzi erst gewinnt die
Belletristik ihre ungeheure Bedeutung für die politischen und sozialen Be-
wegungen. Der Druck der Zensur führte dabei zu höchster Ausbildung der
Geschicklichkeit, den Leser in einer nur andeutenden oder doppelsinnigen
Ausdrucksweise das „zwischen den Zeilen lesen zu lassen", wie man es
technisch nannte, was man aus Angst vor der Polizei osten nicht sagen
konnte. Kunst und Dichtung galten als mächtigste soziale Hebel, — diese
Anschauung hat am schärfsten und erfolgreichsten der Schöpfer der litera-
risch-publizistischen Kritik, Rußlands größter Kritiker, W. G. Bjelinski
(1811—1848) vertreten. „Es erschien nicht seltsam, ein Schauspiel für die
Verteidigung des Freihandels oder ein Gedicht zum Lobe einer gewissen
Art von Steuern zu schreiben, noch daß man in einer Erzählung seine
staatlichen Ansichten darlegte, während der Gegner in einem Lustspiele
dagegen stritt." Darum kann man die Phasen des politischen und sozialen
Denkens leicht an den Männertypen und Helden der großen Dichter ver-
folgen^): Puschkins Eugen Onjegin, Lennontows Petschorin, Gontscharows
y Am wichtigsten sind Turgenjews Romane, in der Reihenfolge, wie sie der
Dichter selbst gelesen wünscht: Dmitri Rudin (1858), Das Adelsnest (1859), Am
Vorabend (1860), Väter und Söhne (1862), Dunst (1867), Neuland (1876).
DK Entstehung des modernen Rußlands.
53
Oblomow, Herzens Bettow, Turgenjews Basarow, desselben Neschdanow
und Solomin (in „Neuland"), Dostojewskis Stawrogin (in den „Dä-
monen") und die Tolstoischen Gestalten. Nimmt man dazu noch ein Meister-
lverk der so wichtigen Satire, Gogols Werke oder Saltykow-Schtschedrins
„Herren Golowlew", dann Aksakows und Chomjakows Schriften, Katkows
Lebenswerk und Bjelinskis Kritik, dann ist mit diesen Werken der schönen
Literatur schon fast der ganze politisch-soziale Gedankenkreis beschrieben,
der bis an die Schwelle der Gegenwart geherrscht hat.
Was klingt darin immer wieder? Die Opposition gegeir den Staat,
in dem man lebt, die Begeisterung für die Freiheit und die Ideale des
Liberalismus, später des Sozialismus, der Drang nach Reformen auf allen
Gebieten, der Kampf um die Weltanschauung und die Auseinattdersetzung
mit den geistigen Strömungen des Westens, die Gefühle der Enttäuschung,
des Berzagens, der Resignation, des Pessimismus, des Weltschmerzes
und der Weltverachtung, bis zur wildesten Verzweiflung an sich rind an
der Zukunft, religiös-mystische, manchmal an den Wahnsinn streifende
Verzückung, unendlich viel Reflexion und Zerfaserung des eigenen Fühlens
und Denkens, unendlich wenig Wollen. Dabei bleibt bei allen, auch bei
den Sozialisten, die Grundlage ein starker Glaube an das eigene Volk,
eine rührende Vaterlandsliebe, die, manchmal phantastisch-religiös ge-
steigert, zu seltsam grotesker Überschätzung der Bedeutung imb Rolle
Rußlands im Weltgeschehen führt. Es ist eine ungemein reiche geistige
Welt, zu einem großen Teile nicht gesund und ohne reale Fundamente,
oft ohne geistige Disziplin, nur verständlich im Zusammenhang mit ihrer
politisch-sozialen Umgebung, auf die sie unbedingt wirken will, aber nur
sehr gehindert wirken kann.
Schon vor 1840 waren die Körner gesät worden, aus denen die über-
haupt wichtigste gedankliche Weiterentwicklung aufging. An der Uni-
versität Moskau hatte sich damals ein Kreis zusammen gefunden, dem
nach und nach angehörten: Aksakow, Chomjakow, Katkow, Bjelinski,
Bakunin, Herzen und Ogarjew. Das find vornehmlich die „Männer der
vierziger Jahre", deren geistiges Schaffen für das Wissen Westeuropas
von Rußland noch längst nicht ausgeschöpft ist, Männer von Generationen
darlernder Wirkung auf das geistige Leben ihres Vaterlandes, seine eigentlich
selbständigen Denker, und daher die Führer aller kommenden geistigen
Richtungen, die die Zeit Alexander II. erfüllen: Slawophilen, Panslawisten,
54
II. Kapitel.
Liberale, Sozialisten, Anarchisten. Sie sichen unter dem stärksten Ein-
stusie des Auslandes, vor allem der deutschen Philosophie, demnächst der
Naturwissenschaft und des Sozialismus von Marx und Engels, sie regten
die Schwingen besonders, als mit Alexander II. eine neue und freiere Zeit
beginnen wollte.
Bis 1863 hin gehen diese Jahre der Erwartung, die langsam trotz
aller Reformen zur Enttäuschung wird. In ihnen bildet sich der durch die
Dekabristen und „Männer der vierziger Jahre" begründete Liberalismus
zu einem demokratischen Radikalismus um, der sozialistisch angehaucht
ist und auch schon Verbindungen mit revolutionären Gedanken des Aus-
landes, Mazzinis, Garibaldis u. a. findet. Er trat in Widerspruch gegen
den aristokratischen Snobismus, der seinen typischen, schlagwortmäßigen
Ausdruck in Gontscharows 1868 erschienenem „Oblomow" hatte. Im
leidenschaftlichen Kampf gegen dies Oblomowtum, das überall ins Leere
führte und jegliches Wollen lähmte, wird der Liberalismus radikaler,
aktiver, befaßt er sich entschlossener mit konstitutionellen und volkswirtschaft-
lichen Gedanken. Das ist im ganzen die Geistesrichtung der sog. „Westler",
so genannt, weil sie die Übertragung der politischen und sozialen Vor-
stellungen des Westens auf Rußland sans phrase fordern, dabei ohne
weiteres annehmend, daß die russische Entwicklung nur zeitlich hinter der
Westeuropas zurück sei, aber der Art nach dieselben Bahnen gehe, gehen
müsse, solle Rußland überhaupt aus Mittelalter und asiatischer Gebunden-
heit emporsteigen. Diese „Westler" der vierziger, fünfziger und ersten
sechziger Jahre — N. Turgenjew, Bjelinski, Stankewitsch, Granowski,
Tschitscherin, zuletzt der Dichter Iwan Turgenjew — sind in Welt- und
Staatsanschauung die geistigen Väter der heutigen „Kadetten".
Noch nicht von ihnen scharf zu trennen war im Anfang die slawophile
und die Richtung Alexander Herzens. Die Begründer der Slawophilie sind
Kirjejewski, ihr stärkster philosophischer Kopf, Aksakow und Chonijakow;
Juri Samarin, Katkow, Dostojewski führen sie weiter. Sie wurzelt in
der Romantik, entstand unter Nikolai I. aus der Reaktion gegen die geistige
Vorherrschaft Europas über Rußland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts
und arbeitete, obwohl immer aufs stärkste westlich gebildet und beeinflußt,
mit Liebe die nationale und religiöse Sonderart des Slawentums und des
Russentums, beide Begriffe oft und besonders im Anfange zusammen-
werfend, heraus. Deshalb betonte sie den grundlegenden Unterschied zweier
Die Entstehung des modernen Rußlands.
55
wesensverschiedener Kulturentwicklungen zwischen dem alten „heiligen"
Rußland und dem „faulenden" Westen, glorifizierte das Prinzip der
Theokratie und Autokratie, verherrlichte Mir und Artjel als die nationalen
Organisationsformen der Volkswirtschaft und gab der Vaterlandsliebe eine
besondere anspruchsvolle Nuance im Sinne etwa des Kawelinschen Wortes:
„Wir sind das Volk der Zukunft. Nicht umsonst ist Jwanuschka der Narr
der Lieblingsheld der großrussischen Märchen. In der europäischen Völker-
familie sind wir Jwanuschka der Narr, aber denken wir daran, es wird
eine Zeit kommen, wo dieser Narr seine klugen Brüder überlisten wird."
Oder tiefer und mystischer in denr messianischen Glauben des durchaus
slawophilen Dostojewski, daß der Westen krank sei und am russischen Wesen
die Welt genesen solle. Auf diesem Boden erwuchsen später, nach 1863,
nach der Niederwerfung des polnischen Aufstandes, die praktischen Forde-
rungen des aggressiven Nationalismus, d. h. die Russifizierung, dann, be-
sonders in den 70er Jahren, der politische Panslawismus und die Forde-
rung auch des wirtschaftlichen Abschlusses nach außen, der wirtschaftlichen
Autarkie, die sich in entschiedener Schutzzollpolitik ausdrückte. Das
Reaktionäre, das allem Konstitutionalismus und aller Reform Feindliche
lag jedoch nicht von vornherein in dieser Gedankenwelt. Selbst Katkow
(1820—1887), der später zum extremen Führer der konservativen Richtung
wurde, der größte, wenn auch nicht charaktervollste Publizist, den Rußland
hervorgebracht hat, hat konstitutionelle Gedanken erörtert. Und wenn
manche Slawophilen gegen eine Konstitution waren, so waren doch alle
für die Emanzipation der Bauern.
Liberal war zuerst auch der Grundcharakter der Anschauung und
Tätigkeit Alexander Herzens (1812—1870), dessen, auch vom Zaren
gelesene, Zeitschrift „Kolokol" (Glocke) seit 1857, obwohl verboten, die
öffentliche Meinung Rußlands jahrelang verkörperte, mindestens beherrschte.
Ihm lag zunächst die Bauernbefreiung im Sinn; er ist nicht von vornherein
antizarisch gewesen. Aber er wurde bald philosophisch wie politisch
radikaler, als ihm die Reformen nicht schnell genug gingen und durch
den Einfluß des viel mehr der kommunistisch-anarchistischen Bewegung
Westeuropas als der geistigen Bewegung Rußlands angehörenden Bakunin
(1814—1876). Wie schnell die Stimmung umschlug, zeigt schon 6 Jahre
nach der Thronbesteigung Alexanders II. eine Stelle aus Tschernyschewskis
offenem Brief an Herzen vom 1. März 1860: „Nur das Beil und nichts
56 II Kapitel.
anderes kann Rußland helfen. Deshalb soll die Glocke nicht zur Messe,
sondern znm Sturm läuten."
Wenn diese Ansicht so rasch um sich griff, so war daran nicht nur schuld,
daß die Ungeduld und die Neigung für das Extreme in Rußland besonders
groß war, sondern auch, daß sich die Regierung zu einer Gewährung der
geistigen Freiheit nicht entschließen konnte. Namentlich wirkte die den
Universitäten gegenüber befolgte Politik aufreizend, geradezu revolutio-
nierend. Auf den Universitäten mit ihren polizeilichen Beschränkungen
des akademischen Lebens, mit ihrem Proletariat, mit der zum Abstrakten
und zur Überschätzung des Wissens neigenden geistigen Disposition ihrer
Schüler und auch ihrer Lehrer wurde darum der Boden für die den Libera-
lismus vornehmlich*) ablösende, übertrumpfende Stimmung des Nihilis-
mus bereitet.
Begriff und Name des Nihilismus stammen bekanntlich von Iwan
Turgenjew, der ihn in „Väter und Söhne" so meisterhaft geschildert hat,
daß man sein Porträt der Wirklichkeit in Rußland als Zerrbild empfand.
Gegen den übernommenen Despotismus aller Art, so definiert der Anarchist
Kropotkin (1842 geb.) den Nihilismus, konnte „nur eine starke gesellschaft-
liche Bewegung, die der Wurzel des Übels selbst einen Schlag versetzt
hätte, alles umbilden. Und in Rußland nahm diese Bewegung, der
Kampf für die Individualität, einen noch stärkeren Charakter an und
wurde noch schonungsloser in ihrer Negation, als irgendwo anders".
Darum ist dieser Nihilismus keineswegs von vornherein Terrorismus und
Anarchismus, er ist dem Sozialismus innerlich gerade entgegengesetzt, indem
er einen ins äußerste Extrem getriebenen Individualismus und Sub-
jektivismus darstellt, der erst allmählich als geistige Struktur der mit den
alexandrinischen Reformen eingeleiteten neuen Zeit entstehen und sich durch-
kämpfen mußte und in diesen Anfängen allen Halt verlor, weil jede
rechtliche und sittliche, politische und soziale Norm ins Wanken gekommen
war. Erst durch den Druck von oben und außen ist diese geistige Strö-
mung in die „Propaganda der Tat", durch die sie dem Frühsozialismus
nur ähnlich, aber nicht gleich wurde, gedrängt worden: seit 1868 wurde sie
populäre Propaganda, seit 1877 zum Terrorismus.
*) Zürn kleineren Teile ging er, wie nachher zu zeigen ist, direkt zum
Sozialismus über; dieser Übergang stellt sich am besten in der Erscheinung
Tschernyschewskis dar.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
57
So lassen sich in den Ansängen Alexanders II. diese Ansätze zu
politischer Parteiung unterscheiden: der gemäßigt liberale Adel — die
liberal-radikale Schicht der Intelligenz, die schon ins Sozialistische einlenkte,
— der Nihilismus der noch Jüngeren, der zuerst mehr mit dem Wort
als mit der Tat revolutionär war, — die Slawophilie als Ansatz
einer konservativen Partei. Für das weitere waren entscheidend) der
polnische Aufstand 1863 und dann das Attentat Karakosows auf
Alexander II., Erfahrungen, die dem Zaren zeigten, wie weit die radikale
Stimmung schon ins Revolutionäre ging. Der namentlich in Herzen und
Bakunin zutage tretende Zusammenhang mit den revolutionären Ten-
denzen Westeuropas verstärkte den Eindruck, daß man mit den Reformen
Geister gerufen habe, die man vielleicht nicht mehr bändigen konnte.
So trat seit 1866 ein voller Rückschlag in der Politik Alexanders ein,
der Zartum und liberale Ideen von nun an unversöhnbar trennte.
Die Geister schieden sich: Herzens Stellung in der öffentlichen Meinung,
die seine dem Polenaufstand freundliche Haltung vernichtet hatte, nahm
Katkow (in den „Moskauer Nachrichten") als Wortführer eines auf der
Slawophilie sich aufbauenden Nationalismus ein, und aus der anderen
'Seite ging Bakunin ganz zum internationalen Sozialismus über.
Schon seit 1862 arbeiteten auf der geistigen Grundlage des Nihilismus
geheime Gesellschaften mit der Parole: Land und Freiheit (Semlja i Wolja)
gegen die Regierung. Durch die Strafverschickungen ihrer Anhänger in
kleine Städte gab die Regierung dieser Bewegung ungewollt selbst eine Ver-
breitung über die Zentren hinaus auf das Land. Allmählich, von 1869
bis 1872, dringt nun neben dem Nihilismus der Sozialismus ein.
Noch nicht im Marxschen Sinne sozialistisch waren die „Historischen
Briefe", die Peter Lawrow 1868/69, gerade in bemerkenswertem Gegensatz
zu Karl Marx, schrieb: noch erscheinen Schule und Genossenschaft, Bildung
und Artjel als die Rezepte zur Heilung der sozialen Krankheiten Rußlands.
Aber schon war die Tätigkeit Bakunins und noch mehr die Netschajews
(seit 1869) rein revolutionär, auf gewaltsamen Umsturz gerichtet, und
bildete sie den Nihilismus völlig um. Von 1872 bis 1875 wird die Pro-
paganda immer sozialistischer, bis 1878 wird daraus eine revolutionäre
Agitation und ihre Durchsetzung durch den Terror. Nachdem schon 1862
das kommunistische Manifest ins russische übersetzt worden war, folgte seit
1872 auch der 1. Band des „Kapitals" von Karl Marx. An dieser Quelle
58
II. Kapitel.
des internationalen Sozialismus hatten längst die Elemente getrunken,
die ins Ausland gegangen waren und die Schweizer Universitäten, nament-
lich Zürich, besuchten. Sorgte doch die Regierung selbst immer wieder
für Nachschub in diese aufgeregte Jugend durch Schließung der Univer-
sitäten und die Behandlung der akademischen Welt daheim. In dieser Ent-
wicklung aber macht Epoche das Verbot, die Universität Zürich weiter
zu besuchen, 1873. Während die Zusammenhanglosigkeit und Stagriation
der Reformen die pessimistische und oppositionelle Stimmung steigerten
und die Semstwos in Tatlosigkeit versinken mußten, strömte eine Menge
junges Volk in die Heimat zurück, das mit sozialistischen Ideen durch-
tränkt war. Noch war es nicht gleich durchaus revolutionär. Theoretisch
stritten noch Lawrow und Bakunin miteinander: der zweite für Putsch, und
gewaltsamen Umsturz, der erste für die Forderung, sich und das Volk zur
Erringung der Macht erst reif zu machen. Und praktisch begann man zuerst
in Lawrows Sinne zu handeln, in dem sog. Narodnitschestwo, dem
„Gehen ins Volk", — ein Ausdruck und eine Aufforderung (Gehet ins
Volk!), die aus einer Bakuninschen Proklamation stammen. Geschildert
ist diese Phase des Nihilismus wundervoll im letzten Roman Iwan
Turgenjews, in „Neuland" (erschienen 1876). Etwa von 1872 bis 1874
ist ihre Blütezeit: gebildete junge Leute beiderlei Geschlechts gingen ins
Bauerntum hinein, dieses zu gewinnen, für moderne Gedanken reif zu
machen, zu bilden und zu erziehen. Es ist viel echter Idealismus in dieser
planlos friedlichen Propaganda über das Land hin, aber auch viel Unklar-
heit, mancherlei Segen und mancherlei Keime zum Guten hat sie aus-
gestreut. Die Bauern zu gewinnen aber vermochte sie niemals; sie hat
nur Mißtrauen bei ihnen gefunden und nur Unruhe und Verwirrung
gestiftet.
Seit 1874 suchte die Regierung diese Propaganda mit zunehmender
Härte zu unterdrücken. Damit beginnt die letzte Phase im Nihilismus,
der vom schrankenlosen Individualismus über den Sozialismus und eine
friedlich-aufklärende Propaganda jetzt zur Negation der bestehenden Gewalt
durch Mieder-Gewalt wird. Die Demonstrationen auf dem Platz vor
der Kasanschen Kathedrale in Petersburg 1876 und das Attentat der
Wera Sassulitsch 1878 (5. Februar) auf den General Trepotv leiteten
diese Phase ein. Sie verzichtet auf die auf den Bauernstand als aktiven
revolutionären Faktor gesetzten Hoffnungen, sie zentralisiert die Organi-
Die Entstehung des modernen Rußlands.
59
sation und konzentriert die Taktik auf ein Mittel (das Dynamit) und auf
Einzel-Ziele, von denen die Ermordung des Zaren schließlich das letzte
Ziel wird.
Die Apathie der Gesellschaft ging mit den: Türkenkrieg von 1877/78
zu Ende. Die konstitutionellen Hoffnungen belebten sich, als die Regierung
den Bulgaren eine Verfassung erwirkte, und die national-russische
Stimmung stieg durch die Sympathie für die Balkanslawen und die Miß-
stimmung gegen Deutschland nach dem Berliner Kongreß: die Slawo-
philie setzte sich in den Panslawismus um. Aus den Männern der
Semstwos war schon in den siebziger Jahren eine konstitutionelle Be-
lvegung gemäßigter und klarer, aber natürlich entschieden oppositioneller
Richtung entstanden, ein Semstwobund (Semski Sojus). Er suchte, ge-
schart besonders um I. I. Petrunkjewitsch, Verbindung mit allen, auch
den radikalen Strömungen, die auf eine Verfassung hingingen. Z. T.
suchte er auch die vom Absolutismus am Boden gehaltenen, durch eine
Verfassung naturnotwendig in die Höhe kommenden Nationalitätengegen-
sätze durch die Idee einer Föderativversassung Rußlands an Stelle der
Zentralisation zu lösen1). Für die Terroristen aber war es wesentlich,
daß die vage Hoffnung auf größere Freiheit doch trog, die Regierung
sich auch jetzt nicht entschloß, die Reformen durch eine Verfassung
zu krönen. Immer mehr wird das Attentat zur Form ihres poli-
tischen Kampfes, immer kleiner, straffer ihre Organisation, immer
raffinierter ihre Anschläge; seit 1879 ist der Kaisermord der Mittel-
punkt ihrer Pläne. Im August 1879 trennt sich die Partei, wenn
man die revolutionäre Gruppe „Selmja i Wolja" schon so nennen will,
in die Partei der „Narodnaja Wolja" und die der schwarzen Umteilung
(Tscherny Peredjel), d. h. in eine politisch-terroristische und eine sozia-
listisch-agitatorische Gruppe. Auf der zweiten hat sich später Plechanows
Arbeit für eine russische Sozialdemokratie aufgebaut, die erstere, die Jünger-
schaft Bakunins und die Grundlage für die heutigen Gruppen der Sozial-
revolutionäre, kennt nur noch die Jagd auf den Zaren: am 13. März
1881 erreichte sie mit der Ermordung Alexanders II. ihr Ziel.
y Ein Weg, den der russische Liberalismus in der Gegenwart ablehnt.
S. Kapitel IV und XII.
60
II. Kapitel.
III. Das Regiemngsshstem Alexanders III. und
Nikolais II. bis 1904.
Alexander III. ist unter den Romanows seit dem Tode der Elisabeth
Petrowna der erste bewußt und durchaus russische Zar. In ihm gehen
der Absolutismus und der russische Nationalgedanke zu einer betoußt
empsundenen Einheit zusammen — ein geistiger Prozeß, auf den allgemein-
europäische Strömungen so gut wie die zum Nationalismus gewordene
Slawophilie, besonders aber der tiefe Eindruck der polnischen Erhebung
von 1863 eingewirkt haben. Aus den starken Erschütterungen seines
Staates, die er miterlebt hatte, hatte Alexander die Überzeugung, vor
allem unter dem Einflüsse seines Erziehers Pobjedonoszew und Katkows,
in sich gefestigt, daß das Heilmittel nur in der unbedingten Erhaltung der
bestehenden Ordnung auf national-russischer Grundlage liege, gemäß jener
Dreiheit des slawophilen Programms, in der ihm die Selbstherrschaft
das wichtigste war. Gewissenhaft, sittlich ernst und tüchtig als Soldat, war
er früh zum Mann geworden und ergriff nun die Zügel in der Auf-
fassung seines Amts wie ein sehr strenger, aber sehr gewissenhafter
Familienvater. Als eine in sich geschlossene Herrschernatur, die er aller-
dings mehr zu sein schien, als tatsächlich war, war er imstande, jenes sehr
einfache politische Programm, das ihm unerschütterlich feststand, mit
größter Folgerichtigkeit und Wirkung durchzuführen.
Nachdem sich die Erregung der nihilistischen Agitation im Attentat
gegen Alexander II. entladen hatte, trat ein Rückschlag in Abspannung
und Lethargie ein, in dem Auf und Ab der Empfindungen und
Stimmungen, das für das russische Volk so charakteristisch ist. Dadurch
war die Gesellschaft, als sich die schwere Hand Alexanders III. auf sie
legte, psychologisch vorbereitet, in eine Zeit der Reaktion und eines bleiernen
Druckes herüberzugleiten, in der Europa nur aus den ab unb zu vor-
kommenden Anschlägen gegen den Zaren merkte, daß diese Ruhe eben
nur die Folge eines ungeheuren Druckes war und unter ihm die alte Un-
zufriedenheit weiter schwelte.
Zuerst erfolgte die entschiedene Abkehr von den konstitutionellen Ge-
danken des Vaters, so wenig entschlossen diese gewesen waren. Die trei-
bende und entscheidende Kraft dafür ivar Pobjedonoszew; er arbeitete
mit Hilfe Katkows ein Manifest für den Zaren aus, das dessen Beifall
61
Die Eiilstehuuft des luoderuen Rußlands.
fand und am 11. Mai 1881 veröffentlicht lvnrde. Darin war gesagt,
daß Alexander die Absicht habe, „inl Gehorsam gegen die Stimme Gottes
die Zügel fest zu fassen, im Glauben au die Kraft und Wahrheit der selbst-
herrschendeil Gewalt, die zum Heile des Volkes zu befestigen und vor
allen Anfechtungen zu bewahren er berufen sei". Damit begann das Zeit-
alter Pobjedonoszews, das die Regierungszeit Alexanders III. überdauerte,
und das Grundprinzip der neuen Regierung war gegeben. Nach 13 Jahren
hat, tvie verbürgt erzählt tvird, Alexander III. in Lüvadia auf dem Sterbe-
bette seinem Sohne Nikolai das Versprechen abgenommen, unerschüttert
die gleiche Bahn weiterzugehen. Alexander III. lvollte so zum Regierungs-
system Nikolais I. zurückkehren und in der Praxis ähnelt feine Negierungs-
zeit auch der des Großvaters. Aber er unterschied sich vom Ahnen in
zweierlei, tvas seiner Regierung ein ganz anderes Gepräge als der
Nikolais I. gibt.
Nikolai war in erster Linie Monarch, Mitglied und Führer der
großen europäischen Fürstenfamilie, die in ihm den Hort der Legitimität
verehren sollte. Bewußt als Russe und im Gegensatz zu anderen Natio-
nalitäten seines Reiches und Europas hat er sich nicht gefühlt; der nationale
Gedanke lag ihm fern. Wenil er die Autonomie der Polen unterdrückte,
so war das die Strafe für den Aufstand von 1830; beu loyalen Balten
und Finnen hat er ihre Selbständigkeit nicht angetastet. Das ist bei seinem
Enkel grundsätzlich anders. Dieser war nicht nur national-russisch,
sondern schon nationalistisch; er wurde so der erste Zar einer bewußten,
vom extrem nationalen Gedanken getragenen Russifizierung. Ferner ver-
änderte sich unter ihm Rußlands Stellung nach außen. Die herzlichen
Beziehungen der Dynastien Romanow und Hohenzollern, die der Zeit
bis 1881 das Gepräge gegeben hatten, wurden schwächer, wenn der Zar
die orientalische Frage unter national-russischen Gesichtspunkten ansah,
und die aus dem Nationalismus erwachsende Abneigung gegen das deutsche
Wesen von den deutschfeindlichen Kreisen ausnutzen ließ, in die er auch durch
seine Gemahlin, die dänische Prinzessin Dagmar, einbezogen wurde. Doch
hinderte ihn seine unbedingte Friedensliebe — er ist der einzige Zar aus
der Dynastie Romanow, der keinen großen Krieg geführt hat — daran,
daß dieser neue Charakter der russischen Politik in die Weltverhältnisse
emgriff. Dagegen trat das Aggressive seines Absolutismus in der innerem
Politik stark hervor.
II. Kapitel.
Seine nächsten Diener formulierten diese Gedanken und führten sie
auf den einzelnen Gebieten des Staatslebens durch: Jgnatjew, Pobjedo-
noszew, Graf Dmitri Tolstoi und Katkow, vier Männer von sehr ver-
schiedenem Geiste und Gehalt, aber alle einig im Programm ihres Zaren.
Mit Jgnatjew, der eine kurze Zeit Minister des Innern war, kam
schon ein Haupt der Panslawisten zu Einfluß aus die inneren Geschicke
Rußlands. In seiner Richtung hatte der Panslawismus die Wendung
genommen, die ursprünglich nicht in der slawophilen Theorie lag, die aber
dem Regierungssystem Alexanders III. entsprach: die grundsätzliche Ver-
bindung mit der Idee der Selbstherrschaft und damit die ebenso grundsätz-
liche Feindschaft gegen alle Reformen und Verfassungspläne, — was
übrigens diese Richtung niemals hinderte, demokratische Empfindungen
innerhalb und außerhalb des Reiches zu begünstigen. Jgnatjews Bedeutung
liegt in der Ausbreitung dieses panslawistischen Gedankens, für den er schon
unter Alexander II. durch seine Agitation unter den Balkanslawen gearbeitet
hatte und nach seiner Ministerzeit unter Alexander III. als Präsident der
„Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaft" weiter erfolgreich tätig geblieben ist.
Viel bedeutender als er ist K. P. Pobjedonoszew (1827—1907). Bon
Haus aus Jurist, Professor in Moskau und einer der besten Kenner des
russischen Zivilrechts, über das er ein viel benutztes Lehrbuch geschrieben
hat, wurde er 1860 Lehrer der kaiserlichen Prinzen, unter denen der
spätere Zar war, 1868 Mitglied des Senats, 1872 des Reichsrats und
1880 Oberprokuror des „Allerheiligsten Synods", welches Amt er bis
zum 1. November 1605 bekleidet hat. Eine kühle, reflexive Natur,
äußerlich mehr den Eindruck eines Gelehrten als eines Staatsmannes
machend, persönlich selbstlos und seinem Amte völlig hingegeben, wirkte er
durch die unerbittliche Logik seiner Anschauungen, durch seinen kaltleiden-
schaftlichen Patriotismus und die Energie seines Willens zunächst auf
seinen Schüler, dann auf Kirche und Staat und schließlich auch auf den
Sohn seines Schülers, der in von ihm stark beeinflußten Anschauungen
den Thron bestieg.
In Pobjedonoszews politischen Anschauungen ist wenig Originelles
und Neues. Denn sie sind alle schon im Kreise der Männer der 10er
Jahre erörtert worden. Das Neue liegt bei ihm vielmehr in der Praxis,
in der Anwendung aus das Staatsleben, in der Steigerung dieser Ge-
danken zu einem Programm aktiver und aggressiver innerer Politik. Ihm
Dic Entstehung des modernen Ruhlnnds.
63
sind die orthodoxe Kirche und die Selbstherrschaft die einzigen zuverlässigen,
von Gott gewollten und geschichtlich begründeten Fundamente des russischen
Staates. Rußland ist ihm das Bollwerk Europas gegen Osten und hat
darin seine historische Mission. Die Kraft dazu findet es in seiner Natio-
nalität und seiner orthodoxen Kirche, die beide auf das engste miteinander
verbunden sind, und von denen die Staatskirche nicht angegriffen werden
kann, ohne daß auch der nationale Gedanke, der zugleich die Selbstherrschaft
umschließt, erschüttert wird. Darum mußten ihm freilich die fremden Natio-
nalitäten und Kirchen im Staate als Fremdkörper, ja als Gefahr erscheinen,
und von ihnen betrachtete er die evangelische Kirche und das diese tragende
und von ihr zusammengehaltene Deutschtum als besonders staatsgesährlich.
Seine Art der Deutschfeindlichkeit zeigt ein Satz von ihm, wie dieser: „Die
Majorität der deutschen „Kulturträger" blickt auf uns bis jetzt noch
immer wie auf halbe Barbaren herab, sie sieht in unserer Religion einen
Stillstand und den ertötenden Geist des Byzantinismus, in unseren
Patrioten Demagogen, im einfachen Volk einen einfachen, wenig ent-
wicklungsfähigen Charakter, der von dem Geschick dazu ausersehen
ist, von den Deutschen exploitiert zu werden."
Im Gefühl, daß in einem föderativen Charakter des Staates eine große
Gefahr liegen könne, und in der Überzeugung, daß seine Kirche und seine
Nationalität auch wirklich die höherstehenden seien, fand Pobjedonoszew
weiter die berechtigenden Gründe für die Russifizierung, für eine Politik, die
die innere Verbindung der nichtorthodoxen und nicht-großrussischen Reichs-
teile durch gewaltsame Einführung der russischen Sprache und Schule,
Rechtsprechung, Verwaltung und Kirche herbeiführen und sicherstellen
wollte. So ist er vor anderen der geistige Urheber und Träger der Russi-
fizierung geworden. Er hat die Slawophilie zu einem Programm gewalt-
samer und intoleranter Russifikation umgestaltet, auch gegen slawische
Bestandteile des Reiches, wie die Polen und die Kleinrussen. Er weicht
dabei von der Auffassungsweise Jgnatjews insofern ab, als es ihm aus-
schließlich darauf ankommt, den g r o ß - russischen Gedanken zum Siege zu
führen, womit er in einen unlösbaren Widerspruch zum Panslawismus
trat — diesen hat er wohl überhaupt nicht als erfolgversprechende Idee und
als Realität betrachtet. Indem er so die älteren Gedanken mit seiner
modernen Bildung fundierte und in einer brutalen Praxis und mit Fana-
tismus ins Staatsleben einführte, hak er das Regierungssystem Alexan-
64
II. Kapitol.
ders III. dogmatisiert und außerordentlich gehärtet. Er hat ferner diesem
System durch die Verbindung mit der Kirche auf Leben und Tod auch das
geringste Paktieren mit anderen Gedanken fast unmöglich gemacht. Wie
er als das Kirche und Staat verbindende weltliche Mitglied der höchsten
Kirchenbehörde Rußlands, des „Synods", diese Kirche selbst in einer
knechtischen Abhängigkeit vom Staate hielt, damit einen von Peter dem
Großen begonnenen, von Alexander I. fortgesetzten Prozeß zum Abschluß
brachte und jedes eigene Leben in dieser Kirche ertötete, so hat er auch
den Staat und das Zarentum, in deren Dienst er die Kirche stellte,
wiederum von ihr und von der unlösbaren Verbindung mit ihr abhängig
gemacht. Die Macht über die Kirche, die er so als letzter Faktor in einem
Jahrhunderte währenden Kampfe dem Zarentum verlieh, kehrte sich damit
wiederum gegen dieses selbst, indem sie ihm Fesseln anlegte, die jede Aner-
kennung moderner Gedanken ausschlossen. In dieser Kombination lag die
gewaltige Stärke Pobjedonoszews, die er niemals für sich persönlich aus-
genutzt hat, und lag der Grund zu den schweren Konflikten, die der Zar in
sich dürchfechten mußte, als seit 1904 doch neue Gedanken unwiderstehlich
an ihn und seinen Staat herandrängten. Pobjedonoszew war daher auch
der einzige Staatsmann, für den auch nur ein Verhandeln mit diesen
ganz ausgeschlossen war; er ist deshalb am 1. November 1905 aus seinem
Amte geschieden. Kurze Zeit darauf, am 23. März 1907, ist er gestorben.
Neben ihm, auf dem die historische Verantwortung für die Katho-
liken- und Uniatenversolgungen in Polen und Litauen, wie für die Russi-
fizierung der Ostseeprovinzen ruht, stehen Tolstoi und Katkow. Der be-
deutende Aristokrat aus altem moskauischen Adel, aber mit westeuropäischer
klassischer Bildung, Graf Dmitri Tolstoi hatte schon als Unterrichtsminister
unter Alexander II. die gleiche überzeugte Rechtgläubigkeit, seine groß-
russisch-nationale Staatsgesinnung und seine von reaktionären Zügen nicht
freie konservative Überzeugung mit großer Energie dem Staatsdienst dienst-
bar gemacht. Sein Ideal war der Kampf gegen den Nihilismus, der in die
Zeit Nikolais I. zurückführen sollte, und er hat sich zuerst als Unterrichts-
minister durch die Gestaltung des Jugendunterrichts bemüht, die geistige
Vorbereitung der nächsten Generation dafür in die Hand zu bekommen.
Dazu erschien ihm das Studium der klassischen Sprachen als vortreff-
lichstes Mittel, der Jugend Disziplin beizubringen und sie zu guten Staats-
bürgern und Gegnern des Nihilismus zu erziehen. Vom erzieherischen
Die Entst-Kung de? »wdenien Rußland?.
65
Werte des Klassizismus für Kultur- und Staatsleben durchdrungen, ver-
mochte er diesem Prinzip nur durch ein entsetzlich formalistisches Unter-
richtssystem Leben zu geben, weil er den in der russischen Kulturgeschichte
liegenden Widerspruch nicht überwinden konnte, — fehlt doch Rußland
ganz die Lateinschule des Mittelalters und seiner Kultur die Grundlage
der Antike. 1882 ist er dann als Nachfolger Jgnatjews Minister des
Innern geworden (bis 1889). Positive Leistungen konnten nicht gut von
ihm erwartet werden. Denn die Möglichkeit dazu lag gar nicht in dem
System der inneren Politik Alexanders III. Was er überhaupt durchführte:
die temporären Regeln über die Juden und die Presse vom Jahre 1882,
— das Universitätsstatut von 1884 und die Förderung der Kirchen-
schulen, — die Errichtung des Instituts der Landhauptleute (semskie
Natschalniki) 1889, — die Änderungen in der Gerichtsverfassung, besonders
im Geschworenengericht, und die fast völlige Beseitigung der gewählten
Friedensrichter vom selben Jahre, — das den Begriff der Selbstverwaltung
so gut wie aufhebende Gesetz über die Semstwos 1690, — die Städte-
ordnung vom Jahre 1892 endlich, alles zielte nur auf Festigung und
Steigerung der absoluten Staatsgewalt und aus eine maßlose Zentralisation
der Verwaltung hin. Damit verband er die rücksichtslose Verfolgung jeder
Opposition, die Unterstützung der Russifikation im Geiste Pobjedonoszews,
die weitgehendste Überwachung alles Lebens durch Polizei und Zensur
und den Abschluß gegen Europa, die Erschwerung des' Verkehrs aus
Rußland heraus und in das Land hinein.
Und alle diese Maßnahmen, alle Ideen, aus denen sie flössen, ver-
kündete als das Sprachrohr der Regierung Katkow in seinen „Moskauer
Nachrichten". Durch ihn wurden die Begriffe slawophil und reaktionär
ganz identisch, er Predigte den Klassizismus, die Russifizierung, er
war vor allem aber der Herold einer neuen Orientierung Rußlands
auch in der äußeren Politik. Von seinem berühmten Artikel vom
31. Juli 1886 mit den Fragen: „Ist die Freundschaft zwischen Deutsch-
land und Rußland mehr eine Notwendigkeit für Deutschland als
ein Vorteil für Rußland? Wozu diese Bündnisse? Welche Bedürfnisse hat
Rußland, den europäischen Frieden zu sichern?" kann die bewußt ge-
wordene Abkehr von der bisherigen Politik datiert werden, die durch
die Differenzen in der orientalischen Frage und die Mißstimmung über
den Berliner Kongreß vorbereitet war. Und wenn er auch fortfuhr:
Hoetzsch, Rußland. 5
66
n. Kapitel.
„Wir sind überzeugt, daß man in unseren Worten eine Anspielung auf
eine französisch-russische Allianz sehen wird, aber wir protestieren gegen
eine ähnliche Überlegung", so ist Katkow doch gerade einer der ersten und
erfolgreichsten Wegbahner dieser neuen politischen Verbindung für sein
Vaterland gewesen.
Mit dem Kriegsminister Wannowski und Obrutschew, der als Chef
des Generalstabs vor allem den Gedanken des Bündnisses mit Frankreich
vertrat, ist dies der nächste Kreis der Staatsdiener, mit denen Alexander III.
seine Politik machte. Ihm gelang es, die Stellung des Absolu-
tismus unerschüttert zu erhalten. Das bedeutete in der Verwaltung
die ungehinderte Herrschaft der Bureaukratie, die, unkontrolliert wie sie war
und nur auf das Weiterklappern der Verwaltungsmaschine angewiesen, in
Leistungen und Integrität immer schlechter wurde, zur Verzweiflung des
Zaren selbst, der das sah und dessen persönlicher Ehrenhaftigkeit alle
Korruption ein Greuel war, der aber gegen das System auch machtlos
blieb. Und, wo diese Politik, wie in den Grenzmarken, an andersartige
Einrichtungen und Anschauungen stieß, an die baltische oder polnische oder
finnische oder litauische Besonderheit, konnte sie nirgends innerlich das
erreichen, was sie anstrebte. Später zeigte sich, daß sie nur zerstört, den
Boden für revolutionäre Erhebung geradezu vorbereitet hatte.
Nach außen aber erschien diese von einem großen Selbstbewußtsein
getragene Regierung von Jahr zu Jahr stärker. Da kriegerische Ver-
wicklungen vermieden wurden, vergaß Europa bald die Schwächen, die der
Feldzug von 1877 und 78 im russischen Heer gezeigt hatte. Durch die Per-
sönlichkeit Alexanders III. absichtlich gefördert, stieg die Vorstellung Europas
von der Macht Rußlands immer mehr, weil es sah, wie sich der alte Ab-
solutismus aufrecht erhielt, seine Stellung in Europa durch die Verbindung
mit Frankreich noch hob und zugleich eine grandiose Politik erst in Zentral-
asien, dann in Ostasien führte und beinahe vollendete. Ein begründetes
Urteil über die lebendigen Kräfte dieses Staatswesens hatten in West-
europa nur sehr wenige, wenn man auch ahnte, daß die Ruhe im Innern
zum Teil die des Kirchhofs war, und auch sah, daß ein gut Stück des
großen Prestiges nur auf der nicht zu erschütternden Friedensliebe des
Zaren beruhte.
So wurde die Zeit Alexanders III. eine Periode der höchsten Macht
nach außen, während im Innern von einer positiven Politik nicht gesprochen
Die Eingehung des modernen Rußlands.
6?
werden konnte, die Kulturarbeit des Staates fast gleich Null war, das
Land zurückging, die Bevölkerung, wie in den letzten Jahren Alexanders III.
auch Europa schon bemerkte, imnier ärmer wurde. Und dieses System,
das sich über die Schwäche seiner eigenen Basis von Jahr zu Jahr immer
unklarer wurde, hat Nikolai II. in vollem Umfange übernommen. Nach
seinem Wesen anders, weicher und zarter als der Vater, konnte er sich,
selbst wenn er gewollt hätte, aus dem System Alexanders III. und
Pobjedonoszews allein gar nicht freimachen. Man spürte zwar, daß die
Hand, die die Zügel des Ganzen hielt, leichter war, als die des Vaters,
aber das Regime im ganzen änderte sich nicht. Der Einfluß Pobjedonoszews
dauerte ungeschwächt fort, der jeden Hinweis auf eine Änderung mit den
Worten abwies: „C’est ainsi qu'on faisait du temps du feu Czar."
Das System erweichte sich an manchen Stellen, aber es blieb in den
Prinzipien dasselbe und steigerte höchstens noch die Herrschaft der Polizei,
der Spionage und des Denunziantentums. Auch die neuen Züge des
Regimes änderten daran nichts, weder die imperialistische Politik,
der sich der Zar unter dem Einflüsse seines Jugendfreundes, des Fürsten
E. E. Uchtomskll) entschieden zuwandte, noch die Finanz- und Wirtschafts-
politik, die Witte seit 1692 inaugurierte. Das Prestige nach außen wurde
fast noch erhöht: durch den Abschluß des französischen Bündnisses, durch die
Fertigstellung der sibirischen Bahn und durch die große ostasiatische Politik,
die mit steigender Wucht betrieben wurde. Aber gerade aus ihr kam der
Anstoß, der den Staat Alexanders III. und Nikolais II. auf das stärkste
erschütterte und das Ventil für eine Opposition öffnete, von deren Umfang
und Kraft Europa keine und die herrschenden Kreise Rußlands nur eine
schwache Vorstellung hatten.
IV.
Wirtschaftspolitik, Friihkapitalismus und Sozialismus.
Die Revolution von 1905 ist nicht zu verstehen, wenn man nur
auf die bisher charakterisierten Voraussetzungen blickt und die wirtschaftlich-
sozialen und sozialistischen Vorbedingungen außer Acht läßt. In dieser
*) Er hatte Nikolai 1890/91 auf der Reise begleitet, die diesen als den ersten
Zaren nach dem fernen Osten geführt hat. S. darüber Uchtomskis Buch, das ein
wichtiges Werk zur russischen Ostasienpolitik ist: Voyage en Orient de
S. A. I. le Cesarevitch. 2 Bde. Paris 1893/98.
5*
68
tl. Kapitel.
Beziehung war sie zum Teil Bauernunruhe, deren tiefere Gründe und
elementar-zusammenhangsloser Charakter später geschildert Werdens, zum
Teil Arbeiterbewegung, geführt von der Intelligenz und bestimmt vom
Sozialismus, der mit dem fortschreitendem Kapitalismus Boden und
Klärung gewann. Diese Voraussetzungen entstehen zwischen dem Tode
Alexanders III. und 1804.
In einem Lande, in dem der Staat so ein und alles war, wie hier,
mußte auch die Wirtschaftsentwicklung und die sich aus ihr ergebende soziale
Gliederung die Spuren des Staatswillens ans das stärkste an sich tragen.
Indes ist auch dies nicht eine Besonderheit des russischen Absolutismus,
sondern die gleiche Erscheinung, wie sonst in der neuzeitlichen Geschichte:
der wirtschaftspolitische Ausdruck des Absolutismus ist die merkantilistische
Wirtschaftspolitik, die Politik, die Handel und Industrie, überhaupt die
Wirtschaftskraft des Volkes zu allererst zur Konsolidierung des Staats-
wesens entwickelt und in seinen Dienst stellt. Diesen Zusammenhang hatte
Peter der Große voll ersaßt, und darum bildete er seine Wirtschaftspolitik
in jeder Weise dem westeuropäischen Merkantilismus nach. Das Be-
sondere für Rußland aber ist, daß dieser Charakter der Wirtschaftspolitik
ununterbrochen bis heute erhalten geblieben ist. Rußland hat keine Zeit
des freien Handels gehabt, um dann erneut zu Schutzzoll und Neumerkanti-
lismus zurückzukehren, sondern ist immer und bis heute von merkantili-
stischen Gesichtspunkten bestimmt gewesen. Das zeigt seine spezielle Handels-
politik und ihre Geschichte, in der trotz mancherlei Schwankungen in den
Tarifen der Schutzzoll bis zur Ausschließung fremden Imports immer
festgehalten worden ist. Noch wesentlicher ist, daß die Förderung des
Handels und Industrie bisher niemals Selbstzweck war, sondern zuerst
dazu dienen sollte, das steigende Geldbedürfnis des Staates zu befriedigen.
Aus dieser Abhängigkeit von staatsfinanziellen Gesichtspunkten hat sich
die russische Handels- und Weltwirtschcistspolitik bisher nicht freimachen
können. Sie waren, wie überall sonst, das erste und drängendste, sie sind
es im Unterschied zu anderen Ländern aber auch geblieben, weil die Auf-
gabe der Bildung und Konzentrierung des Staates noch nicht gelöst ist.
Das gibt der russischen Betätigung aus diesem Gebiete eine große Ge-
schlossenheit, aber auch Einseitigkeit, die immer in Gefahr ist und meist
auch dahin wirkt, die Kraft des Volkes übermäßig für die Aufgaben des
si S. Kap. IV und V.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
69
Staates anzuspannen. So ist die Geschichte der staatlichen Fürsorge für
die Wirtschaft und auch des Kapitalismus hier in erster Linie die Ge-
schichte seiner Finanzpolitik und seiner Finanzminister.
Als die Reformen Alexanders II. die Entstehung des modernen Ruß-
lands einzuleiten begannen, war dieses ein so gut wie ungewerbliches Land.
Eine Volkswirtschaft gab es nicht. In jeder Weise ivar die Landwirtschaft
die Grundlage aller Wirtschaft. Millionen Einzelwirtschaften standen,
ihren Bedarf fast allein deckend, wie Atome liebeneinander, nur lose ver-
bunden durch lokale Märkte, Jahrmärkte (vor allem die Messe in Nischni-
Nowgorod), und ein bescheidenes Wandergewerbe in der nationalen Form
des Artjel. Ohne handwerkliche Tätigkeit war der Balier freilich nicht.
Jln Gegenteil hatten die lange Winterzeit und die manuelle Geschicklichkeit
des Volkes ein Handwerk (Kustar) von eineln Umfang, einer Vielfältigkeit
und Kunstfertigkeit entstehen lassen, wie in kaum einem Lande der Welt.
Noch heute ist dies Kustarhandwerk des Bauerntums die nationale Be-
triebsform des Handwerks, die ein städtisches Halidwerk als beinahe über-
flüssig erscheinen ließ; „der Kleinbürger (Mjeschtschanin) und der Hand-
werker tvaren nur der Muschik der Städte". Eiile Art Bürgertum über
ihnen bildeten die Kaufleute, jene „breit angelegten Naturen" der „Kupzy",
die Ostrowskis Komödien so anschaulich schildern. Verkehrsmittel, freie
Lohnarbeit, Industriekapital fehlten fast ganz. Anfänge der Industrie gab
es, aber wie überall unter dem Absolutismus, vom Staat für die Be-
dürfnisse des Heeres und der Flotte geschaffen: Tuch und Eisengerät
brauchte der Staat. Er hatte durch Privilegien, Bestellungen, ins Land
gezogene Ausländer eine Textil- und eine Eisenmanufaktur geschaffen, von
denen erstere an die Kustarweberei und -Spinnerei anknüpfte. Die Eisen-
industrie erwuchs ganz aus ben Bestellungen des Staates; sie stützte sich
auf die seit Anfang des 18. Jahrhunderts betriebene Roheisenproduktion
des Ural, die aber seit Ansang des 19. Jahrhunderts ununterbrochen
zurückging. Für Heer, Adel, Hof arbeitete diese Manufaktur allein, deren
Produktionswert 1851' auf 160 Millionen Rubel in ximb 10 000 Fabriken
mit 460 000 Arbeitern geschätzt wurde. Die überwiegende Mehrheit des
Volkes brauchte sie überhaupt nicht, die Slawophilie war teilweise geradezu
kapitalseindlich und freute sich, in: Mir einen Schutz gegen den Einbruch
des Kapitals zu Habens.
0 S. Kapitel V,
70
II. Kapitel.
Viel anders war — von Kongreßpolen abgesehen — das Bild beim
Tode Alexanders II. auch noch nicht, wo man den Produktionswert der
Industrie auf 998 Millionen Rubel in 31 000 Fabriken mit 770 000
Arbeitern schätzte. Krimkrieg wie türkischer Krieg hatten dazu die Wirtschaft
furchtbar überanstrengt und zurückgeworfen. Aber zwei wesentliche Voraus-
setzungen des Kapitalismus hatte diese Regierungszeit eingeführt: die
Eisenbahnen und die freie Lohnarbeit, letztere wenigstens zum Teil. Der
Krimkrieg hatte gezeigt, wie schlecht die einzelnen Reichsteile miteinander
verbunden waren. Deshalb übersprang, wie man gesagt hat, Ruß-
land das Zeitalter der Chausseen und konzentrierte alle Verkehrspolitik
darauf, sich ein Eisenbahnnetz zu schaffen. Dieser Entschluß revolutionierte
hier stärker als irgendwo sonst, weil der Ausbau sehr rasch erfolgte und
mit der Bauernbefreiung zusammentraf. Damit wirkte der Anreiz zur
industriellen Produktion außerordentlich stark und umgestaltend. Das
Kapital aber, mit dem dieses Eisenbahnsystem gebaut wurde und mit
dem eine einheimische Eisenindustrie erst wirklich entstand, wurde aus
dem Auslande hereingezogen, in Form der Staatsanleihe oder der Anlage
ausländischen Kapitals in Privatunternehmungen: 1860 wurde durch den
Engländer I. Hughes die Gesellschaft „Neurußland" gegründet und damit
das Fundament zur südrussischen Montanindustrie gelegt, für die mit der
„Donez-Eisenbähn" in den 70er Jahren auch der schon 1839 begonnene
Steinkohlenabbau im Donezbassin einen großen Aufschwung nahm. Das
gleiche galt von der älteren, organischer erwachsenen Textilindustrie. Sie
brachte es mit dem freien Arbeiter und durch fremde Hilfe rasch zu einer be-
deutenden Entwicklung, die auch ein Ausländer, der Bremer Ludwig
Knoop (1894 ch), seit 1856 vor allem gefördert hat. Sie schuf einen großen
Textilindustrierayon, den mittelrussischen Jndustriebezirk, dessen Mittel-
punkte Moskau, Wladimir und Kostroma geworden sind und der zum
Teil die Organisationsformen vom Kustardorf zum städtischen Fabrik-
zentrum schon durchlaufen hat, zum Teil die Zwischenstadien noch ausweist.
Schließlich lag die Bedeutung der Eisenbahnen für die entstehende
Volkswirtschaft darin, daß erst sie den Absatz von Getreide ermöglichten
und damit die Verbindung mit der Welttvirtschaft herstellten, der sie das
Getreide über die Seehäfen, besonders Odessa, zuführten. Auf den euro-
päischen Märkten fand es bei den geringen Getreidezöllen und der Kon-
kurrenzlosigkeit der sonstigen Getreideproduktion in den 60er und 70er
Die Entstehung des modernen Rußlands.
71
Jahren auch guten Absatz, was angenehme Wirkungen für die Zahlungs-
bilanz des Staates mit sich brachte.
So sahen die 60er und 70er Jahre doch eine Mobilisierung der
Arbeitskraft und eine Steigerung der Jndustriealisierung, die hier das
Vorspiel zum Frühkapitalismus darstellen; die Motoren waren die
Bauernbefreiung, der Eisenbahnbau, eine etwas freiheitlichere Tendenz der
Zollpolitik und die Heranziehung westeuropäischen Kapitals. Im letzten
Jahrzehnt Alexanders III. kamen nun zusammen die kritisch werdende Lage
der Landwirtschaft (aus inneren Gründen*) und infolge des Sinkens der
Weltgetreidepreisc — auch die deutsche Schutzzollpolitik wirkte mit —■) und
die finanziellen Staatsbedürfnisse, denen ein ungeordnetes Steuersystem,
eine schwankende Währung und ein chronisches Defizit im Reichsbudget
gegenüberstanden. So gewann in dieser schwierigen Lage der merkantili-
stische Geist vollends die Oberhand in der Wirtschaftspolitik, was auch der
nationalistischen Tendenz Alexanders III. und seiner Ratgeber entsprach:
man strebte durch den Hochschutzzoll, eine nationale Industrie zu entwickeln,
damit Rußland sich womöglich wirtschaftlich selbst genügen könne.
I. A. Wyschnegradski, hat, von 1887 bis 1892 Finanzminister,
bereits diese mit Unrecht als spezifisch Wittesches System bezeichnete
neumerkantilistische, große und — waghalsige Wirtschafts- und Finanz-
politik energisch und einseitig verfolgt. Er begann die Verstaatlichung der
Eisenbahnen und strebte die Sicherung der Währung an, die Wieder-
herstellung der Metallzirkulation oder wenigstens eine Fixierung des
Wertes des Kreditrubels. Doch kam er darin nicht weiter, als — wie
schon sein Vorgänger Bunge getan hatte, — einen Goldvorrat
in der Reichsbank als Grundlage dafür anzusammeln. Außerdem
suchte er fremdes Kapital durch Anleihen hereinzuziehen. Da der deutsche
Markt infolge des Verbots der Lombardierung russischer Werte bei der
Reichsbank und Seehandlung — es hat von 1887—1894 gegolten
— verschlossen war, hat schon Wyschnegradski den Blick nach Paris
gerichtet: die erste große Anleihe Rußlands auf dem französischen Kapital-
markt (125 Millionen Rubel) ist unter ihm, sehr mit Unterstützung all-
gemein politischer Motive auf beiden Seiten, im Dezember 1888 ab-
geschlossen worden. Mit diesen Prinzipien rückte die Sorge um die Handels-
y S. Kap. V.
72
II. Kapitel,
und Zahlungsbilanz bald immer ausschließlicher in den Mittelpunkt der
Finanzpolitik, da die Entstehung einer nationalen Industrie so schnell
nicht ging und man durch die Kapitaleinfuhr für sie und für die Staats-
bediirfnisse gerade vom Auslande abhängiger wurde. Je kapitalistischer man
werden wollte, um so mehr kam es zunächst auf den internationalen Kredit
an. Dieser aber war nur durch wirkliche Aktiva zu sichern, und das wesent-
lichste Aktivum blieb noch allein die Landwirtschaft, deren Lage jedoch gerade
sie nicht mehr als ausreichende Quelle für die Staatsfinanzen erscheinen
ließ. Gleichwohl wußte schon Wyschnegradski, der darum ebenso wie Witte
mit der Opposition des Großgrundbesitzes zu kämpfen hatte, nichts anderes,
als die Landwirtschaft weiter als allein tragendes Fundament der ganzen
Staatswirtschaft auszunutzen, ohne der sich ankündigenden Agrar-Krisis
entgegenzuarbeiten.
Die Aufgabe war für Wyschnegradskis Nachfolger, Witte, 1892 prin-
zipiell klar: die politische Europäisierung des Staates durch die finanzielle
und wirtschaftliche zu ergänzen und zu beenden, damit jene dauernd zu
sichern und die Grundlage für die kulturelle Europäisierung zu legen.
Praktisch hieß das nichts weiter, als für die ununterbrochen steigenden Aus-
gaben an politische Zwecke Geld zu schaffen, die Finanzen zu konsolidieren,
um das Vertrauen des Auslandes zu gewinnen, und dann, wenn es noch
möglich war, die Schäden der Volkswirtschaft zu heilen. Nur die Maß-
stäbe und die Sorgen waren für Witte viel größer, als für seine Vor-
gänger: Hungersnot als chronische Krankheit des Bauernstandes und
asiatische Expansion — das waren die Probleme, an denen sich seine
Finanzkunst und Wirtschaftspolitik bewähren sollten.
S. I. Witte (1849—1915) stammte aus einer russischen (nicht-
adligen) Beamtcnfamilie, hatte aber von Vatersseite germanisches Blut in
seinen Adern. Diese Herkunft hat ihm wesentliche Charakterzüge vermittelt,
aber auch verschuldet, daß er bis zum Ende seiner glänzenden Laufbahn
weder irt der Beamtenhierarchie noch am Hofe eine feste, von dauerndem
Vertrauen getragene Stellung hat gewinnen können, weil er nicht un-
bedingt zum Nationalrussentum gerechnet wurde und auch innerlich nicht
dazu gehörte. Er begann seine Karriere in der Verwaltung der damals
privaten Südwestbahn und erwarb sich dort seine vorzügliche Kenntnis
des Eisenbahnwesens; das noch heute geltende „Eisenbahnreglement" hat
er entworfen. 1888 wurde er, als die Verstaatlichung der Eisenbahnen
Die Entstehung des modernen Rußlands.
73
einsetzte, in dm Staatseisenbahndienst gezögert. Dort bewies er seine
großen finanztechnischen Gaben; binnen 4 Jahren wurde er Verkehrs-
minister (Februar 1892). Am 11. September desselben Jahres wurde er
zum Finanzminister ernannt und ist das bis zum 29. August 1903 ge-
blieben?)
Witte war in seinen wirtschaftspolitischen Anschauungen ein Anhänger
der Ideen Friedrich Lifts und der Bismarckschen Zollpolitik. Damit
forderte er nichts Neues für die Wirtschaftspolitik seines Vaterlandes, aber
ihr Geist und ihre Tendenz sind allerdings vor ihm niemals mit solcher
theoretischen Klarheit ausgesprochen und mit so umfassender praktischer Ent-
schiedenheit vertreten worden. Über Wittes rein Politische Tätigkeit schwankt
das Urteil heute noch, aber über seine finanzpolitischen und finanztechnischen
Leistungen steht es fest. Denn auf diesen Gebieten hat er sich glänzend
bewährt.
Er hat zunächst das Branntweinmonopol durchgeführt. Das Gesetz,
vom 18. Juni 1894, galt (bis zum 3. August 1914, an dem der Zar
es ohne Einschränkung aufhob), überall außer in Turkestan, Trans-
kaukasien und dem sogenannten Küsten-(Amur)-Gebiet (einschließlich
Kamtschatkas und Sachalins). Der Gesichtspunkt, unter dem Witte die
Verstaatlichung des Branntweinhandels — denn das Monopol war kein
Produktions-, sondern nur ein Handelsmonopol — durchgeführt hat, war
in erster Linie fiskalisch. Er hat sich zwar dagegen verwahrt, daß der
Staat die Trunksucht fördere und das wegen der hohen Erträge aus dem
Monopol tun misste. Gewiß hatte er auch sozialpolitische Gesichtspunkte
im Auge: er wollte durch die Verstaatlichung des Handels wenigstens
garantieren, daß dem Volke, wenn es nun einmal ohne den Wodka nicht
auskommt, reiner Stoff geliefert werde, und dem entsetzlichen Wucher der
Branntweinschenkwirte ein Ende machen. Aber die Hauptsache war das
fiskalische Interesse, die Eröffnung einer neuen Einnahmequelle für den
Staat. Unzweifelhaft hat es dadurch schädlich gewirkt, vor allem, tveil sich
der Finanzminister an diese Einnahmequelle gewöhnte, die 600—800
Millionen Rubel, gleich einem Viertel oder Fünftel des ganzen Budgets,
st Seine spätere Laufbahn s. Kap. IV. Seit 5. Mai 1906 war er ver-
abschiedet, Mitglied des Reichsrats; ohne je wieder eine wesentliche Rolle gespielt
zu haben, ist er am 13. März 1915 gestorben.
74
II. Kapitel.
ausmachte, und aller Agitation in der Duma und im Volke gegen die
Trunksucht nur achselzuckend erwidern konnte, daß erst andere Steuer-
quellen erschlossen werden müßten.
Wittes zweites sinanztechnisches Verdienst war die Durchsührung
der Währungsreform (Gesetz vom 10. Seht. 1897). Ihm gelang,
worum seine Vorgänger erfolglos gerungen hatten, die russische Währung
auf die feste Basis des Goldrubels (— 2,16 Mk.) zu stellen und damit die
Rubelspekulation und Kursschwankungen, die eine Stabilität der wirt-
schaftlichen Verhältnisse unmöglich machten, zu beseitigen. Die Maß-
nahme war ein verschleierter teilweiser Staatsbankrott, weil der Gold-
rubel nur auf Grund des Wertes von zwei Drittel des Nominalwertes
gesichert wurde. Aber damit kam Rußland aus der Kreditrubelwirtschaft
heraus — die konsolidierte Währung war die notwendige Voraussetzung
zur weiteren Kapitalisierung der Volkswirtschaft, und diese hat Witte
geschaffen. Ihre schwache Seite blieb freilich, daß sie nicht aus eigener
Kraft durchgeführt und sichergestellt werden konnte, sondern mit fremdem
Golde, mit dem Witte den Goldvorrat der Reichsbank verstärkte und aus
dem er die Zinsen der Anleihen im Auslande bezahlte.
Denn das war sein drittes und größtes Verdienst, daß er fremdes
Kapital in Gestalt von Staatsanleihen und ausländischen Unter-
nehmungen in einem Maße hereinzog, wie es noch keinem seiner Vorgänger
gelungen war. Die Verschuldung Rußands ist unter ihm von 5,3
Milliarden Rubel (Anfang 1892) auf 6,6 Milliarden Rubel (Anfang
1904) gestiegen. In früheren Jahren ist dieses System Witte
auf das schärfste angegriffen worden, das letzten- Endes darin be-
stand, im Auslande fortwährend zu borgen und die Zinsen, dieser
Schulden aus Schulden beim Auslande selbst wieder zu bezahlen. Man
glaubte nicht einmal an das Vorhandensein des berühmten „freien Be-
standes" der Reichsrentei (der Zentralreichskasse), mit dem man die
Defizits rechnungsmäßig ausglich. Mindestens aber prophezeite man
diesem System einen vollständigen Zusammenbruch, wenn einmal das
Vertrauen des ausländischen Kapitals erschüttert würde, der Abfluß der
mühsam aufgestapelten Goldreserve der Reichsbank nicht mehr aufzu-
halten sei und so die Goldwährung zusammenbräche. Aber trotz der großen
Krisen seit Wittes Rücktritt als Finanzminister hat der Zinsendienst
niemals gestockt, ist das Vertrauen des ausländischen Kapitals nicht ins
Die Entstehung des modernen Rußlands.
75
Wanken gekommen. Gegen die Erwartungen des Auslandes hat sich
Wittes Werk glänzend bewährt, sowohl die schwarzen Jahre der inneren
Wirtschaftskrisis (1900—1903), wie die große Probe des russisch-
japanischen Krieges und die unsichere Zeit der Revolution überstanden.
Die Konsolidierung der Staatsfinanzen wurde noch durch den Ab-
schluß der Konversionen erhöht, durch den neben dem Zinsgewinn Kapital
im Lande für die Industrie frei wurde, und der Eisenbahnverstaatlichung,
durch die der Staat Unternehmer und Herr des weitaus wichtigsten Teiles
des ganzen Bahnnetzes geworden ist. Alle diese Maßnahmen, mit
Ausnahme des Branntweinmonopols, waren schon von seinem Vorgänger
vorbereitet. Aber das schmälert Wittes Verdienste nicht. Denn er ist
schneller und entschiedener und mit größeren Maßstäben auf dieser Bahn
vorangegangen und hat die Reformen gegen den einflußreichen Groß-
grundbesitz, der in Sipjagin und dann in Plehwe seine Vertreter in der
Regierung hatte, durchzusetzen vermocht. Er hatte sich so zum Herrn des
Geldverkehrs im Lande gemacht, er war, zumal er auch das Ministerium
für Handel und Industrie mit wahrnahm, die Verkörperung der Wirt-
schaftspolitik, er war der Mann des Vertrauens für das ausländische
Kapital, und übertriebene Bewunderung konnte ihn als einen Peter den
Großen für die finanzielle und wirtschaftliche Europäisierung seines
Vaterlandes feiern. Die Steigerung der Macht des Finanzministers war
natürlich zugleich eine solche der Staatsmacht überhaupt; ganz richtig hyt
Fürst Meschtscherski von Witte gesagt: „Kaum ein Minister dürfte soviel
zur Stärkung staatlicher Macht beigetragen haben wie Witte." Die Bilanz
des Reichsbudgets stieg unter ihm von 965 Millionen Rubel in 1892
auf 2 Milliarden in 1903 (von 1883—1892 von 778 auf 965 Millionen,
von 1903—1913 von 2 Milliarden auf 3% Milliarden). Und Wittes
Verdienst war es unbestritten, daß Rußland 1905 während der Friedens-
verhandlungen mit Japan noch eine Gesamtgoldreserve von über einer
Milliarde Rubel einzusetzen hatte, während Japan pekuniär am Ende war.
Er hat eine, oft geschmacklose, unbedingte Bewunderung gefunden, wie eine
scharfe, oft weit übertriebene, weil mit zu kleinen Maßstäben rechnende
und kurzsichtige Kritik des Auslandes^). Heute wird man das Verdienst
st Diese hatte sehr oft rein politische Motive. Obwohl Witte kaum im
eigentlichen Sinne deutschfreundlich war, vertrat er zum mindesten den Stand-
76
II. Kapitel.
dieses Ministers um die Finanzen und damit die politische Geltung seines
Staates sehr hoch werten müssen; ein Charlatan war dieser Staatsmann
nicht.
Aber freilich kamen, tvenn er das Einnahme-Budget von ein auf
zwei Milliarden steigerte, also mehr als verdoppelte, davon nicht weniger
als 659 Millionen Rubel, d. h. drei Fünftel auf Anleihen im Auslande,
und vom übrigen erheblich niehr aus der fiskalischen Anspannung des
Steuerdruckes, besonders durch das Branntweinmonopol, und die ge-
steigerten Umsätze der Staatsunternehmungen überhaupt als aus der
absolut gestiegenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Volkes. Hier lag
nun aber die Kardinalfrage.
Auf die Dauer war ein solches System nur möglich, wenn mit ihm
die produktiven Kräfte des Landes weiter entwickelt tvurden. Das war
auch Wittes Gedanke, den er so ausgedrückt hat: „Das Schutzzollsystem
ist eine Schule für die Industrie, deren Kosten auf allen Bevölkerungs-
schichten lasten. Wir müssen daher sehen, wie wir diese Last los
werden. Die Befreiung davon kann durch Hereinziehung ausländischer
Kapitalien nach Rußland erreicht werden. Wir haben keine eigenen Kapi-
talien; tvo aber solche vorhanden sind, da sind sie unbeweglich. Durch
Heranziehung ausländischer Kapitalien wird die Schule des Schutzzoll-
systems billiger. Gewiß ist zuzugeben, daß mit dein Zuflusse ausländischer
Kapitalien für uns Opfer verbunden sind. Ist es nun besser, daß wir
ausländische Erzeugnisse für Hunderte von Millionen einführen, oder daß
wir mit Hilfe fremder Kapitalien, die im Lande bleiben, eine eigene
russische Industrie schaffen? Ein ausgedehnter Zufluß ausländischer
Kapitalien nach Rußland ist nach Möglichkeit zu fördern." Diesen Motor
hat er auch in großem Maße hereingeführt. Er hat fremdes Kapital nicht
nur in Gestalt von Staatsanleihen herangezogen, für die er den Pariser
Markt voll eröffnete und den Berliner beibehielt (seit 1894 wieder eröffnet).
Er hat es auch zu Anlagen in privaten Unternehmungen ins Land
gelockt und ist so der Vater der eigentlichen Industrialisierung Rußlands
geworden, die er durch Herabsetzung der Eisenbahn-Personentarife, durch
die Differentialtarife für Getreide und — als erster russischer Handels-
punkt, daß die deutschen und die russischen Wirtschaftsinteressen aufeinander an-
gewiesen seien.
Die Entstellung des modernen Rußlands.
77
minister — durch Handelsverträge mit Tarifbindung und ermäßigten
Zollsätzen weiter förderte^).
Der Beginn prinzipiell-kapitalistischer Entwicklung liegt für Ruß-
land etwa ein Jahrfünft vor Wittes Amtsantritt. Will man ein Jahr
angeben, so kann man 1887 als Ausgangspunkt nennen. Die Förde-
rung^ der modernen Industrie galt schon damals als das wesentliche,
geradezu als eine patriotische Tat. Aber unter Witte nimmt dieser
Übergang Rußlands vom „Agrikultur"- zum Agrikulturmanufakturstaat"
ein rapides Tempo an. Bis 1897. steigt das ununterbrochen an, um vom
Winter 1899 an durch eine lange Krise, besonders 1901/02, abgelöst zu
werden, die erst von 1903 an überwunden war unb in der Hunderte
von Millionen an französischem und belgischem Kapital verloren wurden.
Die Hausse ist auch durch Krieg lind Revolution nicht wesentlich unter-
brochen worden; nur vorsichtiger ist man seitdem geworden als in jenen
90er Jahren der eigentlichen Gründerzeit. Denn das ivar sie im verwegenen
Sinne des Wortes. Und der Staat ging vor allem auf dem Gebiete des
Eisenbahnbaues unternehmend und produktionsanreizend voran: 1892
hatte Rußland 31000 Kilometer, 1902 über das Doppelte (61200 Kilo-
meter) an Eisenbahnell. Deshalb wurde auch die Eisen- und Kohlenindustrie
in erster Linie von dem Gründungssieber und dem Jndustriefanatis-
mus ergriffen. Die Katharinenbahn (Bari beschlossen 1880) hatte Kohle
und Eisen des Südens zusammengebracht. Jetzt entstanden dort Berg-
werke, Hütten und Hochöfen mit größter Schnelligkeit. Die Produktion
in Eisen und Stahl betrug 1893: 945 000, 1902: 1870 000 Tonnen.
Die anderen Zweige, besonders die Textilindustrie, folgten langsamer, aber
sie folgten auch. 1897 zählte man 34 154 Betriebe mit 2499,5 Millionen
Rubel Umsatz. 1902 gab es schon 302 industrielle Großbetriebe mit
über 1000 (im ganzen 710 000) Arbeitern. Typus und Rythmus der
Kapitalisierung wurden namentlich in den ausgehenden 90er Jahren des
Jahrhunderts als amerikanisch enipfunden und gefeiert. Dem entsprach
auch die Konzentration: 1903 schossen die Syndikate nur so aus dem
Boden, in der Eisen- und Stahlproduktion erreichte die Syndizierung schon
die Züge Westeuropas. Den Grad der Verschiebung zeigte die Berufs-
statistik, die zum ersten Male 1897 aufgenommen wurde und freilich
immer noch ergab:
■) Deutsch-russischer Handelsvertrag vom 10. Februar 1894.
78 u. Kapitel.
als beschäftigt in: Millionen Prozent der Bevölkerung
Landwirtschaft . . 93,7 75,5
Bergbau, Industrie usw. . . . . 12,2 9,7
Handel . . 4,9 4
Verkehrswesen - • 1,9 1,5
Beamte, Militär . . . . . . 2,1 1,6
Private Dienstleistungen . . . . 5,7 4,8
Im ganzen bot sich so das typische Bild des Frühlapitalismus, d. h.
einer Stufe, auf der noch keine große und geschlossene Klasse ernst-
haft am Kapitalismus beteiligt und interessiert ist, also den Staat auch
noch nicht entscheidend im kapitalistischen Interesse beeinflussen und be-
stimmen kann. Witte meinte in vollem Ernst, durch eine derartige Groß-
industrie nach europäischem Vorbild die produktive Kraft des Landes
zu wecken und seine Volkswirtschaft vollkommen zu einer solchen aus-
zugestalten. Man konnte auch nicht von einer „künstlichen" russischen
Großindustrie schlechthin reden, wenn man diesen Import fremden
Kapitals, technischen Geistes und Unternehmertums im Auge hatte. Denn
die realen Vorbedingungen für eine Großindustrie waren und sind in
Rußland ja vorhanden. Die Besonderheit liegt darin, daß hier die Ver-
bindung von Kapital und Technik mit Rohmaterial allein durch die
Regierungspolitik hervorgerufen ist (mit Ausnahme der von dem Schweden
R. Nobel seit 1874 in Baku begründeten Naphthaindustrie), und daß sie
bisher nicht von einem inländischen Bürgertum geschaffen und getragen
wird, sondern das Ausland und die Ausländer noch stark beteiligt bleiben:
nicht die natürlichen, sondern die sozialen Voraussetzungen fehlten.
Freilich war Witte nicht volkswirtschaftlich geschult genug, um zu
wissen, inwieweit eine kapitalistische Großindustrie rein nach europäischem
Muster im Lande eingeführt werden konnte. Um eine Anknüpfung an
einheimische Ansätze kümmerte er sich nicht, wie auch der Kustar trotz
aller Modefürsorge vernachlässigt wurde. Am bedenklichsten aber war, daß
sich dieses Finanz- und Jndustriesystem schließlich doch allein auf Kosten
des Bauern auswirkte. Witte hat den verhängnisvollen Zirkel nicht ge-
schaffen, in dem sich sein Vaterland bewegte, daß ein an vielen Stellen
chronisch an Hungersnot leidendes Land einen gewaltigen Getreide-
export aufrechterhalten mußte. Aber er hat auch nichts getan, um das
Die Entstehung des modernen Rußlands.
7tz
Volk aus diesem Zirkel herauszuführen. Er hat gehofft, daß der Bauer
noch eine Zeitlang diese Anspannung aushalten würde, weil er eine be-
rechtigt große Vorstellung von der Fähigkeit seines Volkes, Not zu leiden,
hatte, und er glaubte, daß Rußland Zeit genug haben würde, um sich
von diesem Zustande ausländischer Kapitaleinfuhr und auf Kosten des
Bauern zu bezahlender Verschuldung an das Ausland zur gereiften boden-
ständigen Volkswirtschaft zu entwickeln. Es ist auch nicht erlaubt, über sein
System in dieser Beziehung einfach verurteilend abzusprechen. Gewiß war
die agrarische 9tot sehr groß, aber denkbar war es, die wirtschaftliche Kraft
des Volkes zunächst auf dein von Witte eingeschlagenen Wege so weit zu
festigen, daß dann an eine agrarische Reform gegangen werden konnte. Nur
war dafür die Voraussetzung, deren Notwendigkeit Witte auch immer ein-
gesehen hat, daß Rußland eine längere Zeit friedlicher Entwicklung beschieden
war. Witte erkannte die Notwendigkeit der Expansion nach dem fernen
Osten an, aber sie durfte nach ihm nur friedlich sein. Von jeder kriegerischen
Verwicklung mußte er befürchten, daß sein fmanztechnischcs Lebenswerk
dadurch erschüttert würde und daß Millionen volkswirtschaftlich un-
produktiv weggeworfen werden müßten. Daher gehörte er zu den Gegnem
der Kriegspolitik, die aber über ihn hinweg ging und siegreich blieb.
Er wurde 1903 gestürzt, indem die jahrelangen Wirkungen der industriellen
Krise, die Gegenarbeit der agrarischen Gegner und die seinem System
Schuld gegebenen revolutionären Bewegtingen übermächtig gegen ihn zu-
sammenflössen. Nun hatte aber weder der Krieg noch die aus ihm hervor-
gehende Revolution die befürchteten finanziellen Folgen. Deshalb ist
dieses sog. System Witte auch nicht im ganzen zusammengebrochen. Nur
insoweit hat diese Krisis gewirkt, als die Vernachlässigung der Agrarfrage
zugunsten anderer Zweige von nun an schlechterdings nicht mehr erlaubt
war. Die einseitige Förderung einer Großindustrie um jeden Preis wurde
aufgegeben und die Agrarreform begonnen. Sonst aber ist die spätere
Wirtschafts- und Finanzpolitik ganz auf den Bahnen Wittes weiter-
gegangen.
Für die Revolution von 1904 aber schuf die Wittesche Industrie-
politik unmittelbar eine Voraussetzung durch das.Arbeiterproletariat, das
sie mit sich brachte. Ein Statistiker*) rechnete, daß zu Beginn des 20.
y Lositzki.
[1 Kapitel.
SO
Jahrhunderts fast A (22%) der russischen Bevölkerung proletarisiert
waren. Aber weder das agrarische noch das Lumpenproletariat der Städte
(der sog. 5. Stand Gorkis) waren zu einer Revolution allein im Stande,
sondern dazu mußten sich mit ihnen die Jndustriearbeiterzentren verbinden,
die im modernen Sinn erst jetzt entstanden. 1879 zählte man 685 286,
1890: 868 844, 1897: 1487 019 Arbeiter; die Zahlen der ofsiziellm
Gewerbezählung von 1897 sind noch höher: 2,39 Millionen in Industrie,
Bergbau und Bauwesen, davon 2 Millionen männlicher Arbeiter. Diese
Verschiebung machte sich durch Streiks und Lohnbewegungen, vor allem
durch eine Sozialdemokratie suhlbar, und das ergab für die ältere nihilistisch-
revolutionäre Bewegung eine ganz neue Aussicht.
V.
Letzte geistige Voraussetzungen der Revolution.
Als der Nihilismus auch mit dem Zarenmord von 1881 den Um-
sturz des Staates nicht herbeizuführen vermochte, haben seine zerstörenden
Kräfte unter der Oberfläche weiter gearbeitet. Die Partei der „Narodnaja
Wolja" blieb bestehen und versuchte in weiteren Attentaten auf den Zaren
und seine Diener doch noch zu ihrem letzten Ziel zu kommen. Aber
sie erfaßte weitere Kreise nicht mehr, weil diese einsahen, daß die
Staatsorganisation die stärkere blieb und ihren Druck auf das öffentliche
Leben deshalb höchstens steigerte. Dafür ging die zerstörende Arbeit geistig
im Verborgenen unaufhaltsam weiter. Der prinzipielle Anarchismus, in
den der Nihilismus schließlich ausgemündet war und dessen Hauptvertretcr
P. KropotkinZ ist, sammelte in den 20 Jahren bis zum Beginn der
Revolution nicht übermäßig viele tatbereite Anhänger. Um so stärker wirkte
er auf die Geister mit seinen radikalen Lösungen, die dem russischen Geiste
so besonders nahe lagen, und wurde darin durch die schöne Literatur
unterstützt.
Erst in diesen zwei Jahrzehnten ist Dostojewski (gest. 1881) zu seiner
vollen destruktiven Wirkung gekommen. Da er wie die russische moderne
Dichtung überhaupt aufs stärkste in fremde Sprachen übersetzt wurde, ge-
wann diese Richtung eine große Bundesgenossenschaft, indem durch ihre
Schilderungen des russischen Lebens die öffentliche Meinung Westeuropas
0 S. dessen Memoiren eines Revolutionärs. Stuttgart 1900 f.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
81
stark beeinflußt wurde. Dieses Moment tritt im Urteil über den Einfluß
der Russen auf die westeuropäische, besonders die deutsche Literatur der
90er Jahre zu sehr zurück. Man nahm sie in erster Linie als Potenzen
der allgemeinen geistigen Bewegung in der Literatur. Man staunte über
die unerhörte realistische Kühnheit, mit der sie vor keiner Schattenseite des
Lebens zurückschreckten, und über die so noch nirgends erreichte Sensibilität,
mit der die psychologische Analyse, die Schilderung seelischer Stimmungen
und Schwingungen eine ungeahnte Höhe erklomm. Uber dieser allgemeinen
Wirkung ist immer übersehen worden, daß diese Literatur voll bestimmter
Tendenzen zugleich auch russisches Leben schilderte und der russischen Un-
zufriedenheit ein auf diese Weise gewaltig erweitertes Feld der Äußerung
gab. Kaum haben sich die russische Regierung und die maßgebenden
Kreise des Landes überlegt, was diese einseitigen und tendenziösen, aber oft
von Meisterhand und mit elementarer Kraft gezeichneten Bilder des
russischen Lebens für die Bewertung Rußlands in Europa bedeutet haben.
Was sich so vorbereitet hatte, hat dann Leo Tolstoi (1828—1910)
zu einer Höhe gesteigert, die nicht überboten werden konnte. Aus dem
großen Romancier war in der Mitte der 70er Jahre ein Religions-
philosoph geworden, der sich in die Sittenlehre des Urchristentums ver-
tiefte und immer mehr den schreienden Widerspruch empfand, in dem
diese zu dem Rußland seiner Gegenwart, insonderheit zu der Lage der
Bauern stand. Man war zuerst geneigt, die Art, in der Tolstoi aus seinen
neuen Überzeugungen die praktischen Konsequenzen für sein eigenes Leben
zog, als Narrheiten eines Sonderlings zu beurteilen und darüber zu
übersehen, wie destruktiv es wirken mußte, daß dieser Mann in seiner
Lehre und in seinem Leben entschlossen auch vor den Autoritäten des
Staates und der Kirche nicht Halt machte, mit denen er sich in Wider-
spruch fühlte. Die Leute, die in den 70er Jahren „in das Volk gingen",
haben den Bauer nicht zu gewinnen vermocht, aber Tolstoi, der ein Volts-
schriststeller ersten Ranges war und dessen kleine volkspädagogische Schriften
ungeheuer verbreitet wurden, hat das gekonnt. Und der theoretische Komniu-
nismus, mit dem er endete, war um so wirksamer, als er an Urvor-
stellungen im Bauerntum anknüpfte, die noch sehr lebendig waren. Mit
seiner Lehre hat Tolstoi so den Nihilismus zwar geistig überwunden, indem
er, von einer starken religiösen Grundlage pantheistischer Färbung aus-
gehend, eine umfassende Sittenlehre predigte. Aber er hat die auf Zer-
Ho etzsch, Rußland. 6
82
II Kapitet.
srörung des bestehenden Staates gerichtete Tendenz dieser geistigen Be-
wegung abgeschlossen, indem er mit seiner Lehre die bestehende staatliche
und kirchliche Ordnung einfach auflöste. Dadurch, daß diese Ideen von
einem Meister der Literatur mit größter geistiger Kraft, mit aller Schön-
heit der Sprache ausgesprochen wurden, waren sie ihrer Wirkung auf die
Intelligenz immer sicher und fanden sie im Auslande Verbreitung und
Beifall. Durch ihre Wendung zum Praktischen aber, die zur Aufforderung
zur Steuerverweigerung und Verweigerung des Militärdienstes führte,
gewannen sie Kreise, an die bis dahin die Agitation niemals herangekommen
war. So ist Tolstoi in den zwei Jahrzehnten vor 1904 einer der stärksten
Wegbereiter der Revolution gewesen, ein Feind des bestehenden Staates
und der bestehenden Kirche, den diese beiden Mächte der Autorität in sich
nicht mehr dulden konnten. Die Kirche hat darum, von ihrem Stand-
punkt aus mit Recht, die Konsequenz gezogen, indem sie ihn exkommuni-
zierte (März 1901)*).
Jedoch aus diesen beiden Quellen, dem Nihilismus letzter Phase und
dieser destruktiv wirkenden Literatur, hätte nicht der Strom werden
können, der 1905 mit so großer Wucht gegen das Gebäude des Zaren-
tums heranbrauste. Es war für den Staat wohl schädlich und verhängnis-
voll, daß seine gebildeten Kreise vielfach dieser geistigen Anarchie ver-
fielen und daß die vorhandene Unzufriedenheit der Bauern in der Lehre
Tolstois einen praktischen Ausdruck und ein Ziel fand. Aber die Revolution
wurde, obwohl es manchmal so schien, nicht eine Agrarrevolution über
das ganze Land hin, weil dieses Bauerntum nicht reif genug dazu war
und des Klassenzusammenhangs entbehrte. Vielmehr ist die agrarische
Unzufriedenheit, die allerdings dann nach Lage der Bedürfnisse des Landes
in der Duma eine sehr große Rolle spielte, benutzt und vorgespannt worden
von einer anderen Bewegung, die die Dinge zum Ausbruch trieb.
Schon in den ersten Jahren Alexanders III. hatte ein begabter
Kopf des damaligen Nihilismus, selbst ein Mitglied der „Narodnaja
Wolja", eingesehen, daß man auf diesem Wege geistig so gut wie praktisch
zu nichts kam. Und er fand den Weg aus diesen im Kreise gehenden
*) Tolstoi hat darauf eine „Antwort an den Heiligen Synod" (vom 17. April
1901) veröffentlicht, die bei aller sie durchwehenden religiösen Kraft die hier auf-
gezeigte Kluft auch nicht zu überbrücken vermochte.
ü
Die Entstehung des modernen Rußlands. tzZ
Gedanken durch den vollständigen Anschluß an die Lehren des westeuro-
päischen Sozialismus. G. Plechanow schrieb 1883 „Der Sozialismus
und der politische Kampf" und 1885 „Unsere Meinungsverschiedenheiten"
(in der Partei der „Narodnaja Wolja" nämlich) und stellte damit die
Verknüpfuilg mit dem westeuropäischen, insonderheit dem deutschen Sozia-
lismus in der Fassung von Karl Marx erst endgültig her. Jetzt wurde aus
der einfachen Herübernahme sozialistischer Ideen ihre Anpassung an die
Forderungen des russischen Lebens: Rußland fängt an, ein kapitalistischer
Staat zu werden, erhält also ein Proletariat. Deshalb braucht die gegen
das Zarentun: gerichtete revolutionäre Bewegung nicht mehr auf die
Bauern zu hoffen, sondern kann sich auf die Industriearbeiter stützen. So
kam es darauf an, einmal die nihilistische Intelligenz in immer stärkerem
Maße mit den Gedanken des westlichen internationalen Sozialismus zu
erfüllen; Zusammenhänge, die längst bestandelt, erhielten eine neue Be-
deutung. Ferner mußte diese Plechanowsche Anschauung die soziale Schicht
finden, auf die sie sich stützen konnte, .und danach doch auch an die
für das Gelingen einer Revolution in Rußland unbedingt notwendige
Schicht, die Bauern, heranzukommen suchen. Das letztere ist in einer
Agitation angestrebt worden, die mit Geschick an die vorhandenen kommu-
nistischen Vorstellungen anknüpfte. Sie hätte trotzdem dasselbe Schicksal
gehabt, wie die Bewegung des „Jns-Volk-Gehens" in den 70er Jahren,
wenn ihr nicht die gewaltige, seitdem entstandene Unzufriedenheit der
Bauern entgegengekommen wäre, und wenn sie nicht eben die Ver-
stärkung gefunden hätte, die jener früheren geistigen Bewegung gefehlt
hatte, ein industrielles Proletariat, Zusammenballungen von Arbeitern
in den großen städtischen Zentren.
Der geistige Kampf um diese Fragen, zwischen den Vertretern der
letzten Phase des Nihilismus und des Marxismus, erfüllt die achtziger,
noch mehr die neunziger Jahre. Die Namen: Plechanow, Axelrod,
Struve, Tugan-Baranowski, Wera Sassulitsch, Lenin, Martow führen
schon in die Gegenwart herein. Sie zeigen zugleich auch die enge Ver-
bindung mit der deutschen marxistischen Sozialdemokratie, die namentlich
durch Plechanow und Axelrod hergestellt war. In ihnen belebte dieser
russische Marxismus der 90er Jahre die Intelligenz von neuem, indem
er sie aus den extremen Phantasien des letzten Nihilismus auf den festen
Boden der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse und des Klassen-
6*
84
11. Kapitel.
kampses stellte. Die Führer der Arbeiter übernehmen unter Nikolai II.
die Rolle der Dekabristen unter Alexander. I., und auf diese Weise
wurde, wie man es ausgedrückt hat, zunächst theoretisch der bisherige
bäuerlich-ethische Sozialismus zum Ausdruck des Klassenkampfes zwischen
Bourgeosie und industriellem Proletariat. Das Leben paßte freilich nicht
ganz zu dieser Theorie: die Ansätze des industriellen Proletariats hängen
noch fest mit dem Dorfe zusammen, und die Bourgeosie ist bis zur Gegen-
wart keine geschlossene soziale Klasse geworden, sondern zahlenmäßig schwach
und vom Staate abhängig geblieben. Gleichwohl veränderte sich der
Charakter der dem Staate feindlichen Schichten, die Voraussetzungen
einer revolutionären Umgestaltung wurden breiter und gefährlicher. Das
war in Streiks und in den Anfängen der politischen Arbeiterorganisation zu
erkennen. Nachdem die überhaupt ersten eigentlichen Streiks im Jahre
1885 vorgekommen waren, fallen die ersten wirklich bedeutungsvollen
Streiks in die Jahre 1894, 1895, vor allem 1896: der große Streik
der Textilarbeiter. Ebenfalls in die 80er Jahre reichen die Versuche der
Organisation zurück. Die Plechanowsche Gruppe der „Befreiung der
Arbeit" von 1883 ist, im Auslande organisiert, der Ausgang der russischen
Sozialdemokratie; die erste sozialdemokratische Organisation in Rußland
selbst ist 1895 entstanden. Erst in den 90er Jahren, unter der Wirkung
der Jndustriepolitik, ging die Organisation mehr in die Breite: 1895
entstand ein Verband zur „Befreiung der Arbeiterklasse", 1897 der
allgemeinjüdische Arbeiterbund von Rußland und Polen, der auch russisch
sog. „Bund", 1898 verwandeln sich die sog. „Kampfverbände" in den
Provinzen in „Komitees der russisch-sozialdemokratischen Partei". Seit-
dem war eine russische Sozialdemokratie und auch eine solche der Grenz-
marken vorhanden. Ebenso war die „Narodnaja Wolja" wieder aufgelebt
(1894), die 1902 zur Partei der Sozialrevolutionäre wurde, und bald
waren verschiedene einander befehdende Richtungen da, in denen sich der
Geist Bakunins und der von Karl Marx bekämpften. Die Bedeutung
dieser neuen sozialen Bewegung wurde noch offenbarer, als sie den An-
fang einer Sozialpolitik erzwang (1897 Fabrikinspektion und Gesetz
über den Maximalarbeitstag) und die Regierung seit 1899 eine Gegen-
propaganda durch Organisierung staatstreuer Arbeiter versuchte (durch
den Moskauer Polizeimeister Subatow, daher Subatowschtschina ge-
nannt).
Die Entstehung de» modernen Rußlands.
85
Der Ring all dieser Voraussetzungen zur Revolution wurde geschlossen,
als — im Jahre 1901 zum ersten Male — in den Studentenunruhen, die
damals die Universitäten bewegten, sich die Intelligenz mit dem Proletariat
verbündete und nun gemeinsam die Revolutionierung des Bauerntums in
die Hand nahm. Das vor allem gefährdete den Staat, da die geschilderte
geistige Entwicklung aus dem Studentenleben in das Beamtentum über-
tragen wurde, und das gleiche, aus den Ofsizierbildungsinstituten heraus,
in den Offizierkorps wenigstens der Spezialwaffen und der Flotte, zuin
Teil aber auch der Linieninfanterie, geschah. Nimmt man hinzu, daß sich
diese ganze Entwicklung in den nichtrussischen Teilen des Staates, wenn
auch mit Unterschieden, gleichfalls vollzog, daß in den Ostseeprovinzen, in
Polen und Finnland auch ein industrielles Proletariat entstanden war,
und daß in diesen drei Grenzmarken und in der Ukraine zu all dem
noch der nationale alte Gegensatz und neue Haß hinzukam, den die Russi-
fizierung geschaffen hatte, so sind die historischen Voraussetzungen für die
Revolution vollständig gegeben. Und es bedurfte nur eines verhältnis-
mäßig geringen Anstoßes von außen, um den so aufgehäuften Zündstoff in
hellen Flammen emporschlagen zu lassen.
Wie weit war, als die Revolution losbrach, die Europäisierung
Rußlands gediehen? Das Herrscherhaus ist ein Glied der europäischen
Kulturgemeinschaft geworden, aber dadurch, daß es die blutmäßige Ver-
bindung mit dem eigenen Volke aufgegeben hat. Ist doch seit Peter HL,
dessen Mutter, die Gemahlin eines Holstein-Gottorper Herzogs, noch eine
Romanow (die Tochter Peter des Großen) war, kein russisches Blut in
diese Herrscherfamilie gekommen*).
Vom Herrscherhause aus wird die innerliche Europäisierung immer
schwächer, je weiter die einzelnen Kreise von diesem Mittelpunkte entfern!
sind. Unfraglich ist in den Kreisen der Beamten und Offiziere ein sehr-
erheblicher Prozentsatz auch innerlich, geistig wie sittlich, europäisch Ge-
bildeter vorhanden. Aber keineswegs alle Glieder dieser Schicht und des
Adels überhaupt haben den Widerspruch in sich überwunden, den Peter,
Elisabeth und Katharina damit schufen, daß sie erst deutsch-holländische
und dann französische Kultur in das russische Wesen eingeführt haben.
9 Trotz aller dagegen sprechenden Atomente ist Paul als Sohn Peters 111.
und Katharinas, nicht Katharinas und Saltykows anzusehen.
86
II. Kapitel.
Die Französierung des russischen Adels, die im 18. Jahrhundert dadurch
erreicht war, ist freilich durch die bewußt national-russische Haltung
Alexander III. wieder rückgängig gemacht worden. Aber auch damit sind
in der Oberschicht die verschiedenen Elemente ihrer Kultur noch nicht aus-
geglichen worden, sondern lagert die fremde, oft nur äußerlich angenommene
Kultur noch unvermittelt neben dem Wesen des eigenen Volkes, mit dem
ein enger Zusammenhang für große Kreise des Adels auch heute noch
besteht. So ist wohl ein großer Abstand zwischen der dünnen Oberschicht
des Besitzes und der Zivilisation und der davon ausgeschlossenen großen
Masse entstanden, aber dieser Gegensatz erscheint für den flüchtigen
Blick stärker, als ihn die Abneigung des Volkes gegen Klassengeist und
-Vorurteile und der allen eigene demokratische Zug tatsächlich haben
werden lassen.
Auch die Intelligenz hat sich innerlich in vielen ihrer Glieder euro-
päisiert. Selbst die Führer des Nationalismus in der Gegenwart arbeiten,
wenn auch nicht immer bewußt, mit dem Kapital, das sie dem geistigen
Anschlüsse an Europa verdanken. Aber diese Intelligenz bedeutet bei der
Lage des Schulwesens und ihrer eigenen geringen Zahl auch heute noch
nicht allzuviel, besonders da die gesamte Intelligenz geistlichen Berufs
ganz ausfällt.
Dasselbe gilt für die zahlenmäßig gleichfalls nicht große Schicht der
Kaufmannschaft und Gewerbetreibenden, um so mehr, als in dieser sehr
viele nichtrussische Elemente tätig sind und andererseits sich gerade im
Kaufmannsstande das Altrussentum, oft in Verbindung mit dem „alt-
gläubigen" Wesen, noch sehr lebendig erhältst. Aus seiner früheren Ge-
schichte hat ja das russische Volk auch das als Erbteil in die neueste Zeit
hereingenommen, daß seiner sozialen Struktur ein dritter Stand im west-
europäischen Sinne fehlte. Auch heute noch ist es bis zu vier Fünftel
seiner Bevölkerung ein Bauernvolk. Und dieses Bauernvolk trägt das
geschilderte — autochthone — Erbteil der Vergangenheit mindestens geistig
noch in vollem Umfange mit sich. Das Zeitalter des Individualismus ist
bisher noch nicht erreicht, für diese Stufe der Europäisierung fehlt auch
heute noch die soziale Grundlage. Dagegen sind die im Volkscharakter
st Es sei an den heute noch sehr geläufigen Begriff des „Moskwitsch"
erinnert.
Die Entstehung des modernen Rußlands.
87
und in der geographischen Lage liegenden Bedingungen für eine Konser-
vierung mittelalterlichen Wesens und psychischer Gebundenheit durch die
politische Geschichte noch gewaltig gesteigert worden: in seiner wirtschaft-
lichen, sozialen und geistigen Entwicklung hat sich das russische Volk
jahrhundertelang sehr langsam vorwärts bewegt, während seine politische
Organisation mit ihren Bedürfnissen in großer Wucht und Schnelligkeit
wuchs.
III. Kapitel.
Der Krieg mit Japan und die Revolution bis zmn
Zusammentritt der ersten Duma.
i.
Die asiatische Kolonialpolitik hatte Rußland innmer tiefer in die
Probleme des fernen Ostens verstrickt, die mit dem Kriege zwischen
Japan und China (1894) ins Rollen gekommen waren. Getragen wurde
diese Politik von dem „Departement des fernen Ostens" in seinem
Ministerium des Äußeren, dann seit 1903 von dem selbständig daneben
gestellten „Komitee für den fernen Osten", das 1905 nach dem großen
Fehlschlage des Krieges wieder aufgehoben worden ist.
Das Korea-Abkommen 1897, das russische Geschwader in Port
Arthur Dezember 1897, der Pachtvertrag mit China über Port Arthur
März 1898, die Begründung der russisch-chinesischen Bank 1896, die
wieder die ostchinesische Eisenbahngesellschaft begründete, der Bau dieser
ostchinesischen Bahn seit 1898, die Befestigung von Port Arthur und die
Anlage eines „asiatischen San Franziskos" (Dalni) in demselben Jahre
schienen Etappen einer ebenso glücklichen Expansion im fernen Osten
zu sein, wie diese es im Kaukasus, in Turkestan und Westsibirien gewesen
war. Ihr Ziel war die Nordmandschurei und durch sie hindurch eine Ver-
bindung (Charbin—Port Arthur) der großen sibirischen Bahn mit dem
Stillen Ozean an einer günstigeren Stelle, als in dem zu weit nördlich ge-
legenen Wladiwostok, und an einer Stelle, die eine bessere Möglichkeit des
Einflusses auf die chinesische Frage bot. Manchen, als deren Führer der
Fürst Uchtomski galt, standen dahinter noch höhere Ziele der russischen
Herrschaft in Asien, für die Uchtomski sogar eine Verschmelzung von
Slawen und Mongolen propagierte. Seit seiner Reise im fernen Osten
stand auch der Zar im Banne dieser weit fliegenden Gedanken, die die
Der Krieg mit Japan und die Revolution. 89
russische Politik von Europa ablenkten und der Kulturmission Rußlands
so sehr zu entsprechen schienen, und ihn umgaben Diener, die zur Er-
reichung dieser Ziele vor nichts zurückschreckten. So ging wenigstens eine
bestimmte Richtung, die freilich die verantwortlichen Minister des Zaren
in auswärtigen Dingen (Graf Murawjew, Graf Lambsdorff), nur
ungern mitmachten, darauf aus, so viel wie möglich vom nördlichen
China unter russische Botmäßigkeit zu bringen. 1903 wurde schon
eine eigene Verwaltungsstelle eingerichtet, die Statthalterschaft „Dalni
Wostok", d. h. ferner Osten, in deren Bereich (Transbaikalien, Amur-
und Küstengebiet, Kwantung und Sachalin) auch das Gebiet an der
chinesischen Ostbahn und die „an die Statthalterschaft angrenzenden
jenseits der Grenze liegenden russischen Besitzungen", d. h. die Mand-
schurei einbezogen wurden. Jenes besondere selbständige Komitee für den
fernen Osten unter Leitung eines Staatssekretärs (Minister ohne Porte-
feuille) Besobrasow hatte in Petersburg diese Politik zu treiben und mit
ihm hatte, unabhängig von der verantwortlichen Führung der auswärtigen
Geschäfte, der Statthalter des fernen Ostens, F. G. Alexejew, zu arbeiten.
Diese Politik trug ohne Zweifel einen großen Zug. Sie war logisch,
indem sie eine seit Jahrhunderten nach dem Osten vordringende Expansion
abrunden und günstigere Verbindungen mit dem Stillen Ozean anstreben
wollte, als Rußland bisher hatte. Eher konnte auch das Werk des Grafeit
Murawjew-Amurski nicht als vollendet gelten. Diese Politik war Impe-
rialismus, der auch in Rußland jetzt bewußt als Programm aufgenommen
wurde, nicht nur das Werk einer egoistischen Klique von Holz- und
Minenspekulanten in Korea. Aber sie hatte in ihrem über ein Jahrzehnt
fast ungehindert vorangehendem Vorwärtsdrängen das Augenmaß für
das verloren, was sie gegen Japan durchsetzen konnte.
Hingewiesen worden ist die russische Politik auf dieses Hindernis
durch die aus Japan kommenden Proteste, durch die Berichte ihres
Vertreters in Tokio, des Barons Rosen, und schließlich durch den Besuch
des führenden japanischen Staatsmannes Jto im Dezember 1901 in
Petersburg. Weitblickender als Rußland, ließ Japan damals seinem
Nachbarn und Rivalen die friedliche Auseinandersetzung in Ostasien an-
bieten, zu der sich Rußland schließlich 1910 und endgültig erst im Welt-
kriege verstanden hat. Aber die damalige russische Staatsknnst glaubte,
dm Gegner verachten zu können, Jto wurde abgewiesen, und schon am
90
III. Kapitel.
30. Januar 1902 schloß England sein Bündnis mit Japan. Seitdem
war ein Krieg zwischen Rußland und Japan sicher.
Die Gefahren, die er Rußland bringen konnte, sah die Partei
am Hofe, die sich um Witte, den Grafen Lambsdorff und den Kriegs-
minister (seit 1898 Kuropatkin) gruppierte — auch der nächste Vertraute
des Zaren, der Hofminister Baron Fredericks, gehörte dazu — gar wohl.
Auf der anderen Seite stand die Gruppe, die Rußland in leichtsinniger
Unterschätzung des Gegners in den Krieg hereingetrieben hat: vornehmlich
Besobrasow und Alexejew; auch Plehwe, der Minister des Innern,
war auf ihrer Seite. Ter Zar war friedlich gesinnt, aber erfüllt von
jener großen Mission Rußlands in Asien und ließ sich daher immer
tiefer in den drohenden Konflikt hereinziehen, obwohl die öffentliche Mei-
nung von einer Angriffspolitik in Ostasien nichts wissen wollte. Denn
die asiatische Politik ist der russischen Gesellschaft immer unsympathisch oder
gleichgültig gewesen; für sie bleibt die orientalische Frage im alten Sinne
die Zentralsrage. Bon vornherein mußte daher ein Krieg mit Japan
damit rechnen, höchst unpopulär zu sein. Witte hat sich trotzdem den
Kriegstreibern nicht mit aller Kraft entgegengestellt und ist rühmlos ge-
wichen. Er wurde am 29. August 1903 entlassen, nachdem am 13. August
Alexejew ernannt worden war.
Gereizt durch die Verschleppung der Verhandlungen, brach Japan
diese am 5. Februar 1904 ab und begann den Krieg. Von vornherein
waren die Aussichten für Rußland ungünstiger. An Ort und Stelle
reichten die verfügbaren Truppen bei weitem nicht aus, langwierige
Transporte mußten sie erst verstärken. Der Krieg mußte ferner bei der
Lage Japans zu einem wichtigen Teile Seekrieg sein, in dem Rußlands
Stärke niemals gelegen hat und in dem es auch insofern die schwächere
Position hatte, als der Verschluß der Meerengen seiner Schwarzmeer-
flotte die Ausfahrt und Teilnahme am Kampf unmöglich machte. Tie
Lage seiner Finanzen schien auch nicht zu dem Kriege zu ermutigen, waren
doch schon seit einigen Jahren in Europa Zweifel an ihrer Solidität laut
geworden und drohten Fehlschlüge namentlich das französische Kapital ge-
fährlich mißtrauisch zu machen. Und die internationale Sicherung reichte
nicht aus, weil das Bündnis mit Frankreich, obwohl auf den fernen
Osten auch ausgedehnt, durch die Vorbereitung zur Entente Frankreichs
mit England in seiner Bedeutung geschwächt war und England, auch
91
1 Der Krieg mit Japan und die Revolution.
wenn es später militärisch nicht in den Krieg eintrat, so Frankreich
fesselte.
Für einen russischen Erfolg sprach nur die alte Ausdauer und
Tapferkeit der Landarmee, die sich dann auch glänzend bewährt hat, die
unerschöpfliche militärische Reserve uitd die Haltung Deutschlands, das
Rußland die europäische Flanke deckte. Aber alles in allem genommen,
begann irrt Februar 1904 ein Krieg unter so ungünstigen Umständen
wie noch niemals in der russischen Geschichte. Man hat die Gründe für
die Niederlage Rußlands ganz richtig so formuliert, daß mit Japan über
Rußland Moltke über Napoleon gesiegt habe. Diese Verschiedenheit der
Strategie mti> Taktik war aber in einem tiefeit Unterschied zwischen beiden
Völkern begründet, der bei rein militärischer Betrachtung nicht hervortritt.
Man kritisierte die russischen Heerführer, Stackelberg, Grippenberg, Kuro-
patkin besonders, der sich in Turkeslan seine Sporen verdient hatte, seit
Jahren als kommender Mann galt und nun versagte, und man Pries
die an Moltke erinnernden Züge der japanischen Heerführer Ojama und
Nogi. Aber noch wichtiger als diese Überlegenheit in der Truppensührung
war, daß die moderne Taktik im russischen Heere längst nicht so zur
Geltung kommen konnte wie im japanischen, einfach weil den russischen
Soldaten die Vorbildung, die persönliche, intellektuelle und moralische
Eignung dazu fehlte. Der Grundgedanke einer modernen Schlachtanlage,
die Auslösung in Schützenschwärme, die sich mit größer Selbständigkeit der
Unterführer und des einzelnen Mannes in individueller Feuertaktik und
der Arbeit mit dem Spaten an den Feind heranarbeiten, war in
einem Heere nicht denkbar, das noch ganz auf die alte Kolonnen- und
Stoßtaktik erzogen war und dessen Offiziere und Soldaten in ihrer seelischen
Struktur, in ihrer Erziehung und Bildung für die selbständige Tätigkeit
des Einzelnen in der modernen Riesenschlacht nichts mitbrachten. Daher
zwar die alt-russische Tapferkeit im geschlossenen Kampf, die das „graue
Tierchen" — nach Dragomirows Koseausdruck für den russischen Soldaten
— auch diesmal zeigte, daher aber auch der Mangel an Verständnis für das
moderne Feuergefecht, für Aufklärung und Sicherung, daher oft die völlige
Kopflosigkeit in unerwarteten Lagen. Dazu wirkten Einflüsse auch aus
Petersburg auf die Führung störend ein. Jeder Schwung fehlte und jede
moralische Unterstützung aus dem Patriotismus der Heimat, überall
stieß man auf Mißtrauen in der Armee, und diese litt unter den altert
92
III. Kapitel.
Organisationsfehlern, den Erfahrungen in Ausrüstung und Versorgung,
die Rußland in jedem modernen Kriege (mit Ausnahme des Weltkrieges)
gemacht hat und die bei den ungeheuren Entfernungen doppelt und drei-
fach wirkten. Bewunderswert war nur, wie es gelang, mit dem einen
Geleise der sibirischen Bahn den Nachschub zu bewältigen, besonders
da die Verbindung dieser Bahnlinie mit der Heimat über die Wolga
an einer einzigen Brücke hing, der Alexanderbrücke bei Batraki, un-
weit Sysran, deren Zerstörung durch die Revolutionäre fortwährend be-
fürchtet werden mußte.
Erst allmählich machte sich für Rußland geltend, daß der Gegner
in diesem Kriege ein strategisches Ziel nicht haben konnte. Zwar gewann
er die Herrschaft zur See durch den Sieg von Tsushima und eroberte-Korea
und Port Arthur. Da aber Rußland trotzdem stark genug blieb, den
Krieg fortzusetzen, stieß auch die höchste Feldherrnkunst und der todes-
mutigste Opfermut der Japaner ebenso ins Leere wie Napoleon 18t 2.
Zum Staunen Europas trat zudem die erwartete Erschütterung der
russischen Finanzen nicht ein, Rußland war nicht gezwungen, den Krieg
aus Geldmangel vorzeitig zu beenden, während gerade der Druck des
fremden Kapitals, das Japan weitere Mittel nicht zur Verfügung stellte,
dieses zu Friedensverhandlungen zwang.
Am 5. September 1905 wurde unter Vermittlung der Vereinigten
Staaten der Friede von Portsmouth geschlossen. Der russische Unter-
händler war Witte, der, nachdem die Gegenpartei gründlich Schiffbruch ge-
litten hatte, wieder aufgetaucht war. Mit dem Ruhme, seinem Vaterlande
den Frieden gebracht zu haben, obwohl sein tatsächliches Verdienst ziemlich
gering war, ist er in die Heimat zurückgekehrt, um dort wieder der
Retter des Vaterlandes zu werden. Rußland verlor Port Arthur und
Dalni, verzichtete auf Korea und den südlichen Teil der ostchinesischen
Bahn, sowie die Südhälfte von Sachalin. Dagegen vermochte es mit Erfolg
die Verpflichtung zu einer Kriegsentschädigung abzuwenden. Im ganzen
ist so seine Stellung in Ostasien durch den Krieg, so schwer er sein
Prestige geschädigt hat, nicht wesentlich erschüttert worden; aus größerer
Distanz gesehen war er ein ungeheuer kostspieliges Kolonialabenteuer, aber
nicht mehr.
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
93
II.
Freilich erschütterten die Niederlagen den Staat viel schwerer als je
ein srüherer Fehlschlag, und war daher ihre Wirkung auf die inner-
russische Entwicklung von größter Bedeutung. Der Krieg war nicht nur
höchst unpopulär, seine Niederlagen wurden sogar daheim von Liberalen
und Revolutionären mit Freuden begrüßt, weil man von ihnen eine
Schwächung der absoluten Gewalt erhoffte — so stark war damals
der Widerspruch zwischen der Weltpolitik des Staates und den Wünschen
des Volkes geworden. Als die Niederlagen nun erwiesen, daß der Staat
nicht einmal auf seinem eigensten Gebiet seine Aufgabe zu erfüllen ver-
mochte, brach die seit einem Menschenalter aufgesammelte Unzufriedenheit
mit elementarer Kraft gegen ihn los. Semstwokreise, Arbeiter und Bauern,
Studenten und Intelligenz gerieten in eine von Monat zu Monat wachsende
Unruhe.
Allerlei Reformen und Zugeständnisse, die schon seit dem Jahre 1902
gewährt worden waren, zeigten, daß den regierenden Schichten bereits vor
Ausbruch des Krieges schwül geworden war. Das war die Wirkung
des Zusammengehens von Proletariat und Intelligenz, das in den ersten
Jahren des 20. Jahrhunderts bemerkt wurde. Das Jahr 1901 kann
mit dem blutigen Streik in den Obuchowwerken, dem über 100 Streiks
im Reiche folgten, und seinen Studentenunruhen als Epoche dafür fest-
gehalten werden. Attentatsversuche gegen hohe Würdenträger zeigten dazu,
daß diese vereinigte Freiheitsbewegung das ihrem neuen Charakter ent-
sprechende Kampfmittel des Streiks und die alten Mittel des Nihilismus
wirksam verband.
Am 15. April 1902 war der Minister des Innern Sipjagin
ermordet worden. Sein Nachfolger wurde W. K. Plehwe (1846—1904),
einer der entschlossensten Anhänger des alten Systems und ein Mann von
stärkster Willenskraft. Gleichsam als Antwort auf seine Ernennung schufen
sich die Liberalen neue wirksame Organe für ihre Bewegung. Bei
der Krönung des Zaren in Moskau 1896 hatten die Semstwokreise erneut
Beziehungen unter sich hergestellt, die im Juni 1902 zur Begründung
der Zentrale für Semstwoangelegenheiten in Moskau führten. Damit be-
gründeten die Semstwos von sich aus eine Art Reichsvertretung, die die
Staatsgewalt ihnen nicht hatte gewähren wollen. Und vom Auslande her
arbeitete und minierte die Zeitung Oswoboschdenie (Die Befreiung), die
94
UL Kupilel.
Peter Struwe seit Juli 1902 herausgab, — ein Preßorgan, das an
Herzens „Kolokol" erinnernd, ihn weit übertraf und, obwohl selbstver-
ständlich verboten, in Rußland stark verbreitet und gelesen, ein Heerrufer
der revolutionären Bewegung wurde.
Alles das, die amtlichen Konzessionen, die Senistwozentrale und
Struwes Blatt, zeigten wie Fanale, daß jene geistigen und materiellen
Voraussetzungen der Revolution, die die neunziger Jahre gebracht hatten,
jetzt der Öffentlichkeit gu Bewußtsein gekommen waren. Auf diese wirkten
die Niederlage im Osten, die Blamage, die sich das bestehende System
dort holte, die furchtbaren Eindrücke dieses ersten modernen Krieges
rasch so sehr ein, daß die Opposition und revolutionäre Stimmung zur
Siedehitze stiegen.
Von heute auf morgen war der Absolutismus freilich nicht zu stürzen,
darum richtete sich die revolutionäre Bewegung zuerst gegen die zu allem
entschlossenen und zuverlässigen Träger des bisherigen Systems, die den
Zaren umgaben. In der Ermordung Plehwes, der am 28. Juli 1904
durch einen Bombenwurf getötet wurde, glaubte sie, dieses System ent-
scheidend zu treffen. Denn e r galt ihr als seine Verkörperung in all seiner
harten Willkür und Skrupellosigkeit, und ihn persönlich traf der un-
geheure Haß, den Intelligenz und Proletariat gegen ihren Staat an-
gesammelt hatten. Tatsächlich geht auch mit diesem Attentat das alte
absolutistische Rußland zu Ende und beginnt die Revolution. Wäre
Rußland nicht in einem unglücklichen Kriege gewesen, so wäre dieser
Mord einer der vielen gewesen, mit denen der Nihilismus die Bureau-
kratie erschreckte. Jetzt aber äußerte sich nach diesem Attentat allgemein
die Überzeugung auch in der Beamtenschaft und in den Kreisen des Hofes
mit unwiderstehlicher Kraft genau so wie am Ende des Krimkrieges, daß
es so wie bisher nicht weiter gehen könne. Diese Kraft war aber nicht
nur wie damals die Unzufriedenheit liberaler Führerschichten, sondern die
der gesamten Intelligenz, der Fabrikarbeiterschast und der Studentenschaft.
Sofort zu Beginn der Bewegung trat die Regierung so aus, wie
sie es bis zur Ernennung Stolypins in dieser Krisis tat: man sah die Not-
wendigkeit, Zugeständnisse zu machen, nicht ein und glaubte die Unruhe
durch halbe und Scheinkonzessionen zu beschwichtigen, die regelmäßig,
wenn als Gnade des Zaren gewährt, als ungenügende Abschlagszahlung
zurückgewiesen wurden, so daß sie immer über sich selbst hinausführend,
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
den Staat, ehe er es sich versah, in den Strudel der Wahltämpse und
der Verhandlungen in der ersten Duma hineinrissen. Da die Revolution
zu keiner Zeit, auch im Winter 1905/06 nicht, das ganze Land ergriff,
sondern bei Teilaufständen und lokalen Unruhen in den großen Zentren
blieb, so hätte die herrschende Gewalt, zumal sie nach dem Friedensschlüsse
im September 1905 auch die Armee wieder frei bekam, wenn sie die
Lage entschlossen ersaßt hätte, die Krisis viel ruhiger und ohne große De-
mütigungen bestehen können.
Freilich zeigte schort die erste Lockerung des bisherigen Druckes —
als diese wurde die Ernennung des Fürsten Swjatopolk-Mirski (8. Sept.
1904) zu Plehwes Nachfolger aufgefaßt, auf den im Herbst 1904 große
Hoffnungen gesetzt wurden —, wie vorbereitet in Programm und Or-
ganisation die Freiheitsbewegung schon war.
Zuerst traten die Semstwomänner auf den Plan. Rund 100
Semstwomitglieder hielten in Petersburg vom 19. bis 22. November 1904
den ersten der Semstwokongresse ab, die, später durch Städtevertreter er-
gänzt, in der ganzen Bewegung so wichtig wurden. Das war bereits
das Reichssemstwo, ein Vorparlament, das halb erlaubt und halb ver-
boten tagen konnte, obwohl die Semstwos damit zweifellos ihre Befugnisse
überschritten. Die „elf Forderungen" dieses Kongresses, in der Haupt-
sache die bekannten Grundrechte, stellten als Programm das Mindestmaß
dessen auf, was nach Meinung dieser Gesellschaftskreise vom Staat gewährt
werden mußte. Es war noch in keiner Weise revolutionär, es veränderte
zwar den bisherigen Staatsbau, weil alles eine Volksvertretung forderte,
aber das Parlamentsregime und die Souveränität des Volkes wollte man
keineswegs.
Die politisch reifsten Elemente der Freiheitsbewegung hatten damit
gesprochen. Aber dem Zaren und dem Teil seiner Umgebung, der unbedingt
am alten System festhielt, muteten sie doch den entscheidenden Verzicht auf
die Selbstherrschaft zu. Da in diesen November- und Dezemberwocherr
am Hofe kaum jemand ein Urteil über die Stärke der nach oben drängenden
unterirdischen Kräfte hatte, kämpften die verschiedenen Gruppen erbittert
um die Person des Zaren, während die verantwortliche Regierung der
Erregung ratlos gegenüberstand. Eine allbeherrschende Persönlichkeit fehlte
in der Regierung wie am Hofe, auch Witte war das nicht, wollte oder
konnte es nicht fein, und so entschloß man sich weder zur Repression noch
W
TU. Kapitel.
zu Konzessionen. Kern Wunder, daß die freiheitliche Bewegung rasch an-
schwoll und auf Banketten und Kongressen der verschiedenen Berufszweige,
in Stadtverwaltungen und Semstwoverhandlungen die elf Forderungen
leidenschaftlich diskutierte. Aber noch beschränkte sie sich auf die Gebildeteit
und Besitzenden, in den drei Richtungen der Semstwomänner, des Ver-
bandes der Verbände und des Bundes der Befreiung, dessen Organ das
Struwesche Blatt war.
Gewissermaßen als Antwort auf die Forderungen dieser Kreise ge-
währte der Zar die ersten realen Zugeständnisse, in einem Ukas vom
25. Dezember 1904: Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung der
Bauern und zur Erweiterung der Selbstverwaltung, Unabhängigkeit der
Gerichte, kirchliche Toleranz, Preßfreiheit und staatliche Versicherung. Aber
in diesem Ukas „zur Vervollkommnung der Staatsordnung" war der
Hauptwunsch, die Berufung eines Parlamentes, mit keinem Wort er-
wähnt. So wurden diese Zugeständnisse geradezu als Hohn der leitenden
Kreise auf die bitter ernst gemeinten Reformwünsche der Liberalen auf-
gefaßt. Und nun meldeten sich zu den liberalen Elementen die
direkt revolutionären ungestüm zum Wort. Auf Straßenunruhen und
Studentendemonstrationen, die schon vorgekommen waren, folgte der
rote Sonntag in Petersburg am 22. Januar 1905. Die Masse, die
der jugendliche und verkommene Priester Gapon an diesem Tage den
Newskiprospekt herauf nach dem Winterpalast führte, damit sie dem Zaren
die Wünsche des Volkes überbringe, war ebenso bunt zusammengesetzt,
wie ihre Anschauungen und Wünsche konfus waren. Arbeiter und
Studenten, Großstadtgesindel und Frauen, Neugierige, wie die zahllosen
Droschkenkutscher der russischen Großstadt, alles das hatte sich unter der
Führung dieses Priesters,' der mit dem Kreuz in der Hand dem Zug
voranging, vereinigt, um vom Zaren die Menschenrechte, die Konstitution
und den sofortigen Friedensschluß zu fordern. Zum ersten Male in der
russischen Geschichte stand die Masse gegen den Zaren selbst auf, wenn
auch ohne Waffen, und soweit sie überhaupt wußte, was sie wollte,
nicht in der Absicht, Gewalt anzuwenden. Aber sie war durch Ver-
schwörergruppen, die es über das ganze Reich hin gab, „Befreier", Sozial-
revolutionäre, Sozialdemokraten, zusammengehetzt, die Demonstration sollte
in der Erwartung, daß Blut fließen würde, die nicht revolutionsbereiten
Massen zu Gewalttaten hinreißen. Im blutigen Straßenkampf wurde sie
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
97
durch Militär auseinander gejagt, die Führer hatten sich rechtzeitig in
Sicherheit zu bringen gewußt.
So wenig dieser Straßenputsch den Staat über den Haufen werfen
konnte, so sehr hatte er eine Bereitschaft der revolutionären Elemente ge-
zeigt, die man nicht geahnt hatte. Deshalb machte er auch im Auslande
einen ungeheuren Eindruck. Daß aber diese Bewegung nicht nur auf
Petersburg beschränkt war, zeigten nun die Nachrichten von überall her:
aus Moskau, aus Polen, aus dem Kaukasus und so fort. Überall dasselbe
Bild: der Untergrund die Arbeiterbewegung, von stärkster revolutionärer
und sozialdemokratischer Agitation aufgehetzt, im Bunde mit der jugend-
lichen Intelligenz — schon Ende Januar hatten sämtliche Hochschulen des
Reiches geschlossen werden müssen. Die Intelligenz in Amt und Würden
aber sah der Bewegung mindestens billigend und zustimmend zu; sie nahm
den Effekt gern an, daß alles dies zu einer Erschütterung der Selbst-
herrschaft führen müsse. Gefährlicher noch war, daß der wirtschaftliche
Streik jetzt auch angewandt wurde, um die Verkehrsanstalten des Landes
lahm zu legen und dadurch die Träger der Regierung, ihres Zusammen-
hanges beraubt, zu isolieren und zu Zugeständnissen zu zwingen. Dazu
kam vollends der Ausbruch von Bauernrevolten, die im Februar 1905,
von den Gouvernements Orel und Kursk ausgehend, nach und nach
das ganze Reich ergriffen. Und daß auch die auf Beseitigung der maß-
gebenden Persönlichkeiten gerichteten Bemühungen rastlos weiter gingen,
zeigte sich am 17. Februar 1905, als der Großfürst Sergius, einer der
einflußreichsten Träger der Reaktion, der bis zum 15. Januar General-
gouverneur von Moskau gewesen war, aus der Fahrt durch den Kreml
durch ein Bombenattentat getötet wurde. In dieser Zeit, vom 22. Januar
bis zum Dezemberaufstand 1905 in Moskau, kann allein von einer
Revolution in Rußland gesprochen werden. Und unter den Eindrücken der
Februarwochen, während draußen die Riesenschlacht bei Mukden tobte,
überzeugte sich der Zar von der Notwendigkeit entscheidender Zugeständnisse.
Am 3. März 1905 gewährte ein Ukas an den Senat das allgemeine
Recht zu Petitionen um die Reform des Staates und ein Reskript an
den Minister des Innern (seit 1. Februar A. G. Bulygin) nun wirklich
eine Volksvertretung. Aber auch jetzt wollte der Zar dieser nur eine
beratende Stimme zugestehen, also einen semski SoborJ, nicht mehr
y S. oben S. 48.
Hoetzsch, Rußland.
7
98
HL Kapitel.
und nicht weniger. Darum kam auch dieses Zugeständnis zu spät. Am
4. März rief der Priester Gapon zur offenen Revolution auf und diese
nahm immer gefährlichere Formen an. Straßenkämpfe durchtobten War-
schau, Petersburg, Odessa, Nischni-Nowgorod, Riga, Lodz; ebenso waren
Finnland, die Krim und der Kaukasus in Bewegung. Die Nachricht von der
furchtbaren Niederlage bei Tsushima (27./28. Mai) beflügelte die Oppo-
sition weiter. Man verlachte die Zugeständnisse des Staates und rüstete
sich zur Volkserhebung in einer Organisation, die erstaunlich schnell alle
Kreise erfaßte. Der Bund russischer Männer bildete sich und (Mai 1905) der
„Verband der Verbände", ein Bauernkongreß trat in Moskau zusammen
und ein Bauernbund entstand. Vor allem aber traten die Semstwomänner
wieder in die Front: im Juli trat der zweite Semstwokongreß zusammen.
Die Überzeugung, daß nur eine wirklich demokratische Volksvertretung
Rußland aus der Revolution retten könne, ein Parlament als Constituante,
wurde allgemein und drängte die konservativ gerichtete Gruppe der Schipow,
Stachowitsch, Graf Heyden, d. h. der Semstwomänner alten Schlages,
zurück. Man wollte die Regierung des Volkes durch das Parlament
und fragte nicht, ob die Voraussetzungen dafür schon vorhanden wären,
ob sich diese Verfassungssorm mit den Bedürfnissen des Staates vereinen
ließe, und ob man damit nicht soziale Kräfte wie nationale Ansprüche
wachriefe, die den Staat auseinander reißen könnten. Dabei wurden in der
Provinz sehr rasch Programme laut, in denen sich äußerste demo-
kratische Forderungen mit weitgehenden wirtschaftlichen Ansprüchen und
nationalen Autonomiewünschen verbanden und mit denen die Freiheits-
bewegung über die Wünsche der Semstwovertreter weit hinausging.
Je näher indes die Beendigung des Krieges rückte, um so mehr
konnte die Regierung sich davon überzeugen, daß die revolutionäre Be-
wegung trotz allen Lärmes, aller Unordnung und Unsicherheit nirgends
auch nur vorübergehend das Heft in die Hand bekam. Der Zar konnte
es deshalb als ein erhebliches Zugeständnis betrachten, als er am
19. August die versprochene Verfassung tatsächlich gewährtes. Den Ent-
wurf hatte der Minister des Innern Bulhgin ausgearbeitet, ebenso das sehr
demokratische Wahlrecht. Aber immer noch hielt der Zar daran fest, daß
st Schon am 30. April war das sog. Toleranzedikt ergangen, das den Grund-
satz religiöser Duldung verkündete. S. Kap. VIII.
Der Krieg mit Japan und die Revolution. 99
das Parlament nur beratende Stimme haben sollte und darum trat das
Gegenteil dessen ein, was er von diesem Geschenk erwartete. Der nächste,
dritte, durch Städtevertreter erweiterte, Kongreß der Semstwomänner
(23.-28. September) verlangte denn auch unbedingt einen wirklich gesetz-
gebenden, beschließenden Reichstag. Was an Opposition hier noch einiger-
maßen gemäßigt zu Worte kam, vergröberte sich auf den allrussischen
Bauern- und Studentenkongressen, auf denen die extremste Demokratie das
Wort führte. Daran mußten Zar und Hof mitsamt den regierenden Kreisen
erkennen, daß die Unzufriedenheit viel tiefer saß, als man gedacht hatte.
Denn zu den Putschen und Straßenkämpfen in den Städten waren jetzt nn
ganzen Kerngebiete Bauernunruhen hinzugekommen. Die Intelligenz und
die Arbeiterschaft hatten die Verbindung mit den Bauernmassen gefunden,
die durch die Agrarnot zu einer Beteiligung an revolutionärer Unzu-
friedenheit vorbereitet war. Mit den Unruhen in den Städten und den
Bauernrevolten, die elementar und sinnlos zerstörend überall aufflammten,
verbanden sich im Herbst 1905 in immer größerem Maßstabe Streiks,
besonders der Verkehrsanstalten. Im Oktober war durch den wochen-
langen Streik der Eisenbahn- und Telegraphenbeamten der Verkehr fast
im ganzen Reiche lahm gelegt. Andere Streiks schlossen sich an: Fabrik-
arbeiter und Setzer, Apotheker und Anwälte, Lehrer und Gymnasiasten,
sogar die Ärzte, alles streikte — das öffentliche und wirtschaftliche Leben
stand einfach still.
Am gefährlichsten aber war, und erst das hat der Regierung den
Ernst ganz klar gemacht, daß die Revolution auch das Heer ergriffen hatte.
Schon im Juni hatte das eine Meuterei auf dem Kreuzer „Fürst Potemkin"
in Odessa bewiesen; überall, wo Matrosen und Marinetruppen lagen,
in Kronstadt wie in Reval, in Odessa wie in Sewastopol folgten einander
die Meutereien. Noch erschütternder war, daß gleiche Symptome jetzt auch
im Landheer hervorbrachen. Der Krieg hatte die Disziplin gelockert, und, als
der Friede geschlossen war, strömten die Reservisten in die Heimat zurück,
wo sie, weil das wirtschaftliche Leben daniederlag, überall die Unzufriedenheit
und die revolutionäre Bewegung verstärkten. Diese hatte es auch vermocht,
in die Kasernen einzudringen und durch eine ganz krause Verkoppelung mili-
tärischer, wirtschaftlicher und politischer Wünsche eine Unruhe hervorgerufen,
die im Herbst an zahlreichen Stellen in offener Meuterei ausbrach. Die
Offizierkorps aber standen dem bis in ihre höchsten Spitzen nicht geschlossen
7»
100
III. Kapitel.
gegenüber, zahlreiche unsichere Elemente waren in ihnen, und die schwierige
wirtschaftliche Lage, vor allem der Offizierkorps der Linien-Jnfanterie,
die nach dem Kriege besonders drückend wurde, vermehrte die Unzuver-
lässigkeit weiter. Erst dadurch wurde der Zar zur Einsicht gezwungen,
daß die Grundlagen seines Staates ins Wanken gekommen waren, daß
um die Sicherheit der Dynastie gesorgt werden mußte. Witte, dessen An-
sehen wieder gestiegen war, je mehr man sah, daß seine Ansicht über die
asiatische Politik richtig gewesen war, hat den Ausschlag für den ent-
scheidenden Schritt gegeben, für das Manifest vom 30. Oktober, das auf
Grundlage seiner Denkschrift vom 25. Oktober erlassen wurde. Das
Manifest lautete:
„Die Wirren und Aufregungen in den Hauptstädten und in vielen
Gegenden unseres Reiches erfüllen unser Herz außerordentlich mit großem
und schwerem Leid. Das Wohl des russischen Zaren ist untrennbar von
dem Wohle des Volkes und die Trauer des Volkes ist seine Trauer. Aus
den jetzt entstandenen Erregungen kann eine tiefe Unordnung im Volke und
eine Bedrohung der Einheit des Allrussischen Reiches hervorgehen.
Das große Gelübde des Zarenamtes gebietet uns, mit allen Kräften
des Verstandes und der Macht nach der schnellsten Beendigung dieser
für das Reich so gefährlichen Wirrsal zu streben. Nachdem wir den
kompetenten Behörden befohlen haben, Maßnahmen zur Beseitigung
direkter Erscheinungen der Unordnung, der Schlechtigkeiten und Gewalt-
tätigkeiten zu ergreifen zum Schutze der friedlichen Leute, die der ruhigen
Erfüllung der einem jeden obliegenden Pflicht nachstreben, haben wir
zur erfolgreicheren Ausführung der allgemeinen, von uns zur Befriedung
des Staatslebens beabsichtigten Maßnahmen für notwendig erachtet, die
Tätigkeit der obersten Regierung zu vereinheitlichen.
Der Regierung legen wir als Pflicht die Erfüllung unseres uner-
schütterlichen Willens auf:
1. der Bevölkerung unerschütterliche Grundlagen der bürgerlichen
Freiheit nach den Grundsätzen wirklicher Unantastbarkeit der Person, der
Freiheit des Gewissens, des Wortes, der Versammlungen und der Vereine
zu geben.
2. Ohne die angeordneten Wahlen zur Reichs-Duma aufzuhalten,
jetzt zur Teilnahme an der Duma, soweit das bei der Kürze der bis
zur Berufung der Duma bleibenden Zeit möglich ist, die Klassen der
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
101
Bevölkerung heranzuziehen, die jetzt völlig des Wahlrechts beraubt sind,
indem dabei die weitere Entwicklung des Grundsatzes des allgemeinen
Wahlrechts der neueingeführten gesetzgeberischett Ordnung anheimgestellt
bleibt, und
3. als unerschütterliche Regel festzustellen, daß kein Gesetz ohne Ge-
nehmigung der Reichsduma Geltung erhalten kann, und daß den von:
Volke Erwählten die Möglichkeit wirklicher Teilnahme an der Aufsicht
über die Gesetzmäßigkeit der Akte der von uns eingesetzten Behörden ge-
sichert ist.
Wir rufen alle treuen Söhne Rußlands auf, ihrer Pflicht gegen
das Vaterland eingedenk zu sein, zur Beendigung der unerhörten Wirrsal
zu helfen und mit uns alle Kräfte zur Wiederherstellung der Ruhe und
Ordnung und des Friedens auf dem Heimatboden anzuspannen."
Mit großem Jubel wurde dieses erlösende Wort begrüßt, erweiterte
es doch die Zusagen vom 19. August auf die Gewährung einer wirklichen
Konstitution, versprach es doch das allgemeine Wahlrecht und die Grund-
rechte. Es wurde auch gleich durch die Schaffung eines Ministerkabinetts
(1. November), durch die Aufhebung der Zensur (1. November), durch
einen Ukas über das Versammlungsrecht (25. Oktober) und einen
Amnestie-Erlaß (3. November) ergänzt. Alles das wurde zusammen am
4. November veröffentlicht und dem Volk als ein Bukett kaiserlicher
Gnaden dargebracht. Gleichzeitig traten Pobjedonoszew, Bulygin und
etwas später Trepow zurück. Minister des Innern wurde allerdings ein
harter Konservativer, Durnowo, aber an die Spitze des zum Staats-
ministerium umgestalteten Ministerrats trat als Ministerpräsident Witte.
Darin sah man das Versprechen, daß jetzt liberal regiert werden solle,
man erlebte zunächst eine kurze Zeit der Freude und froher Er-
wartung. Denn dieses Oktober-Manifest war nun wirklich eine ganze
Maßregel. Mit Recht wird es noch heute als die Magna Carta Ruß-
lands betrachtet und auf dieses Manifest hm haben sich aus den politischen
Strömungen geschlossene Parteien herauskristallisiert.
Aber es sollte noch geraume Zeit dauern, ehe Rußland zum Frieden
kam. Obwohl die bisherigen Konzessionen noch durch das Manifest vom
16. November, das den Bauern die Loskaufszahlungen erließ, ergänzt
wurden, brach im selben Monat in Petersburg ein zweiter Generalstreik,
im Dezember ein abermaliger Eisenbähnerstreik aus. überall im Reich
102
HI. Kapitel.
tobten Matrosenaufstände und Militärrevolten, Streiks und Pogroms
(die blutigen Erhebungen des Volkes gegen die Juden) und vor allem
die Agrarunruhen, die unter Führung des Bauernbundes jetzt in ein
Flammenmeer der Agrarrevolution zusammen zu fließen schienen. Am
Ende des Jahres herrschte in Moskau die offene Rebellion, überall war
das „Chaos" an der Arbeit, die Grenzmarken drohten abzufallen, Finn-
land mußten seine Rechte zurückgegeben werden, Polen war in Em-
pörung und in den Ostseeprovinzen befriedigte die Urbevölkerung der Letten
und Eschen ihren alten Haß gegen die deutsche Herrschaft in einer schreck-
lichen sozialistisch-demokratischen und nationalen Erhebung. Und überall
erhob der entschiedene Republikanismus sein Haupt gegen das Zarentum.
Wenn er sich dazu in den Ostseeprovinzen und in Litauen, in Polen,
Finnland und der Ukraine mit nationalen Autonomieforderungen verband,
enthüllte sich die ungeheure Gefahr ganz, die in dieser Revolution für den
Bestand des Reiches lag. Denn dann rief sie überall die zentrifugalen
Kräfte wach, deren Ideen mit dem bestehenden russischen Staate schlechthin
unvereinbar waren. Sah man von der unmittelbaren Umgebung des
Zaren ab und vom deutschen Elemente der Ostseeprovinzen, das sich auch
in der schwersten Zeit nicht in seiner Kaiser- und Staatstreue erschüttern
ließ, so hatte der Zar an der Wende 1905/06 niemanden, keine Klasse,
keine Schicht, kein Organ, auf das er sich unbedingt verlassen konnte.
Heer und Marine waren im Wanken, Arbeiterschaft und Bauerntum
in heller Empörung und die Intelligenz negierte theoretisch und praktisch
den Staat überhaupt. Und alle diese Bewegungen wurden durch das —
wiederum unter dem Druck der Revolution — abgepreßte Wahlgesetz vom
24. Dezember 1905 geradezu organisiert, ihre Wünsche auszudrücken, an
deren Ende nichts anderes stand, als die Beseitigung des Hauses Romanow
und die Auflösung des Staates Peters des Großen in einen losen Ver-
band nationaler und demokratischer Republiken. Denn dieses Wahlgesetz
dehnte das Wahlrecht auf alle Wohnungsmieter in den Städten aus, so
daß zu den Bauern und Jmmobilienbesitzern des Bulyginschen Ent-
wurfes nun auch die unbemittelte Intelligenz und die Arbeiterschaft als
wahlberechtigt hinzukamen. Damit war die kommende Dumast der
radikalen Opposition von vornherein preisgegeben. In den Wahlen vom
st Diese Bezeichnung für einen Reichstag wurde in Analogie von Bojaren-
duma, Stadtduma u. ä. gebildet und bürgerte sich sehr rasch ein.
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
103
Februar bis April 1906 wurden denn auch mindestens zur Hälfte Duma-
Abgeordnete gewählt, die in offener Feindschaft gegen ihren Staat standen.
Aber schon vor den Wochen, in denen durch die Wahlen die Bewegung
noch einmal zu hellen Flammen entfacht wurde, sah die Regierung, daß
sie stärker war, als sie selbst geglaubt hatte, daß die unabsehbare Zahl
von Revolten, Brandstiftungen, Mordtaten eine Revolution im eigent-
lichen Sinne des Wortes doch nicht war, daß hinter der Zügellosigkeit der
Presse nicht die reale Macht stand, die man fürchtete, und daß es sich nicht,
wie auch dem Auslande eine größtenteils tendenziöse und voreingenommene
Berichterstattung erzählt hatte, um eine einheitliche Revolutions-Bewegung
handelte. Ganz war das Heer durch die sozialistische Agitation nicht zu
zerwühlen und zwischen den Hoffnungen und Zielen der Intelligenz und
Arbeiterschaft einerseits und des Bauerntums andererseits blieb nach wie
vor ein klaffender Gegensatz. Nach dem Höhepunkte der Moskauer
Dezembertage erlahmte denn auch die Revolution und konnte eine Reaktion
sich anbahnen.
Schon die Ausführung des Oktobermanisestes zeigte, daß sich die
Regierung wieder sicherer fühlte. Am 4. März 1906 erging die Ver-
ordnung, die den Reichsrat entsprechend der Zusage des Zaren aus einer
rein beratenden Versammlung hoher Würdenträger zur ersten Kammer
umgestaltete (zur Hälfte vom Zaren ernannt, zur Hälfte von verschiedenen
Organisation des Volkes gewählt). Damit wurde ein Oberhaus neben
die Duma gestellt und ein Hort konservativer Tendenzen neben
den Reichstag eines höchst demokratischen Wahlrechts. Am 17. März
folgte ein temporäres Vereins- und Versammlungsgesetz, das die Zügel
wieder straffer zog, und die Einsetzung des „Komitees der Landorgani-
sation" beim Landwirtschaftsministerium, sowie der dazu gehörigen Gou-
vernements- und Kreiskommissionen, durch welche Maßnahme die
Regierung schon vor Zusammentritt der Duma die entschiedene Initiative
in der Hauptfrage, der Agrarreform, ergriff. Am 21. März erschienen die
„Regeln über den Modus der Prüfung des Reichsbudgets", durch die die
Regierung das neue Budgetrecht einseitig schuf, und schließlich am 6. Mai
die Reichsgrundgesetze, in denen unmittelbar vor Zusammentritt der Duma
die Verfassung oktroyiert wurde.
Im Verlauf der Kämpfe um diese Kundgebungen mußte Witte,
nachdem er noch eine Milliardenanleihe in Paris zustande gebracht hatte,
104
HI. Kapitel.
vom Schauplatz weichen. Je sicherer die bisherigen Gewalten wieder
wurden, um so stärker war seine Position ins Wanken gekommen, gegen
die die konservativen und agrarisch-großbesitzlichen Interessen kämpften.
Wenig feierlich und rühmlich erfolgte sein Rücktritt am 5. Mai 1906;
sein Nachfolger wurde sein entschiedener Gegner Goremykin, neben den
als Minister des Innern P. A. Stolhpin und als Finanzminister W. N.
Kokowzow, die beiden kommenden Männer, traten.
Witte hat in der großen Krisis, in der er über ein halbes Jahr
lang an der Spitze des Staates stand, nicht geleistet, was man von ihm
erwartete. Die Widerstände am Hofe und in der Bureaukratie waren
zu groß, man traute ihm weder auf der Rechten noch auf der Linken der
Parteien und Gruppen, die um den Staat kämpften, und in seiner Per-
sönlichkeit reichten Kraft und Willensstärke nicht aus. Aber dadurch,
daß er in dieser Zeit an der Spitze stand, hat er, der Vertrauensmann des
ausländischen Kapitals, seinem Vaterlande den großen Dienst geleistet,
daß es ohne finanzielle Erschütterung durch, diese Kämpfe hindurchgehen
konnte.
Einen Tag nach seiner Verabschiedung wurden die Reichsgrund-
gesetze publiziert, mit Absicht vier Tage vor dem Zusammentritt der Duma,
als Verordnung, als freier Willensakt des Zaren. Sie sind aus dem
Staatsrecht des absoluten Rußlands und dem neuen Staatsrecht des
Oktobermanifestes — sehr rasch — zusammengearbeitet, sie sind die Ver-
fassung, aus freiwilligem Entschluß des Zaren ergangen, oktroyiert wie die
Verfassung Preußens. Danach war rechtlich kein Zweifel, daß der
Reichstag, derMN zusammentrat, nicht eine konstituierende Versammlung
sein sollte, und damit eröffnete sich von vornherein die Aussicht schwerer
Konflikte mit dieser Duma, deren Mehrheit sich gerade in dieser Absicht
und mit festen Entschluß dazu hatte wählen lassen. Mit dem 10. Mai
1906, an dem der erste russische Reichstag zusammentraft, war die
Revolution, so sehr Unordnung und Unsicherheit noch herrschten, zu Ende.
Sie hat weder die Volkswirtschaft Rußlands noch den überkommenen Bau
des absoluten Staates zertrümmern können. Namentlich zu Anfang ist sie
ft Die Duma tagt im Taurischen Palais, das, weitab vom Zentrum der
Stadt gelegen, von Katharina II. ihrem Günstling Potemkin geschenkt worden war,
der Reichsrat im Marienpalast am Platze dieses Namens mitten in der Stadt.
Der Krieg mit Japan und die Revolution.
105
öfter mit der großen französischen Revolution verglichen worden. Heute
liegt das Unzutreffende dieses Vergleichs auf der Hand. Eher konnte man
an die deutsche Revolution von 1848 denken, erinnerten doch auch die
Kadetten in ihrer geistigen Verfassung und Stimmung ganz an den
deutschen Liberalismus jener Zeit. Der große Unterschied gegen 1789 ist,
daß hinter diesem ersten Gliede, dem Liberalismus, in Rußland nichts
weiter stand als das Proletariat der Städte. Der proletarische Charakter
der revolutionsähnlichen Erhebungen 1905/06 war nicht zu bestreiten, aber
zur Erschütterung des Reiches war er nicht stark genug. Denn die Hoff-
nung auf die Bauern wie auf die — aus Bauern bestehende Armee —
trog schließlich doch, so daß die Revolution eine, nicht einmal einheitlich
und sicher geleitete, unzusammenhängende Stadtrevolution bleiben mußte.
In Intelligenz und Arbeiterschaft stand der herrschenden Gewalt eine
uneinheitliche, zahlenmäßig schwache Gegnerschaft gegenüber, wenn es jener
gelang, das mit beiden zeitweilig zusammengehende Bauerntum von
ihnen los zu sprengen. In der Unvollständigkeit der sozialen Struktur liegt
also vor allem die Erklärung dafür, daß die russische Revolution der
Gegenwart nicht mit der von 1789 verglichen werden konnte: das zahl-
reiche, unabhängige und selbstbewußte Bürgertum fehlte.
Aber diese anderthalb wirrenreichen und gefährlichen Jahre hatten
doch ausgereicht, das Staatswesen organisch zu verändern, wenn auch das
Erkämpfte und Erreichte zunächst nur formale Bedeutung hatte. Was
1906 der Selbstherrschaft abgetrotzt war, bekam ja nur einen Sinn,
wenn es die Bahn zu durchgreifenden Reformen im Agrarwesen und in
der Volksbildung, in der Verwaltung und in der Volkswirtschaft er-
öffnete. Was ist davon im Jahrzehnt bis zum Weltkrieg erreicht worden?
n. Buch.
IV. Kapitel.
Jnuerpolitisches Leben, Parteien nnd Staatsmiinuer
von 1906-1914.
i.
Es war keine ungegliederte Masse, die am 10. Mai 1906 in der
Zahl von 150—500 Abgeordneten zur Eröffnung des ersten russischen
Reichstags zusammenströmte, und ihre politischen Anschauungen waren
schon weit stärker differenziert, als daß die Duma lediglich in radikale und
konservative, in staatsfeindliche und staatserhaltende Elemente zerfallen
wäre.
Am ersten waren im Kerngebiet wie in den Grenzmarken die revo-
lutionären Elemente mit ihren Programmen und Organisationen fertig.
Seit 18831) gab es eine russische Sozialdemokratie, die auf dem
System von Karl Marx fußte; 1898 hatte sie ihren ersten, 1903
ihren zweiten Parteitag abgehalten. Daneben waren (1897) der jüdische
„Bund" und die sozialdemokratischen Organisationen der Polen (P. P. S.)
und Letten getreten. Im theoretischen Kampfe mit dem revolutionären
Nihilismus letzter Phase hatte die marxistische Sozialdemokratie gesiegt.
Aber auch sie geriet in die Kämpfe zwischen der marxistischen Ortho-
doxie und einem Revisiomsmus, die sie 1903 in zwei große Gruppen aus-
einandertrieben: die „Bolschewiki" unter Lenin und die „Menschewiki" unter
Martow. Wollten und wollen — der Gegensatz besteht heute noch — die
ersteren das „mehr", wie der Name sagt, also die Revolution im stramm
sozialistischen Sinne, so begnügten sich die zweiten mit dem „weniger" der
Organisation und Agitation aus eine Umgestaltung hin, die ja doch kommen
st S. oben S. 84.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 107
müsse. Beider Programm ist ganz marxistisch, politisch für eine demo-
kratische Republik Rußland. Ihr Agrarprogramm war mangelhaft;
für die Expropriation des Großgrundbesitzes, die dann das Hauptschlag-
wort wurde, hat sich zuerst Plechanow ausgesprochen.
Geschieden von diesen Sozialdemokraten blieben die alte Richtung
der „Narodnaja Wolja", die seit 1901 wieder auflebte und die sog. sozial-
revolutionäre Partei begründete, und die „Kampforganisation" (Bojewaja
Organisazyja), von der die Attentate der Revolutionszeit ausgingen. Auch
sie zerfielen in zwei Gruppen, die Maximalisten und die Minimalisten,
die leicht mit den entsprechenden Flügeln der Sozialdemokratie verwechselt
werden, weil sie ihnen im Programm nahekommen. Doch bleibt der
Unterschied prinzipell bestehen: die Sozialdemokraten sind auf die In-
dustriearbeiter gerichtete Marxisten, die Sozialrevolutionäre halten die
Bauern für die gegebene Schicht und das Werkzeug der Revolution, erstere
sind die Modernen, letztere die Altmodischen.
Als besondere Strömung gab es daneben einen reinen Anarchismus,
der sich im Auslande namentlich um den alten Kropotkin sammelte und
den geistigen Anarchismus Tolstois auf sich wirken ließ, aber für Rußland
nicht mehr bedeutet als für irgend ein anderes Land Europas und keine
Partei von Einfluß darstellt.
Für den bürgerlichen Liberalismus hatte, nach den ersten Ansätzen
der siebziger Jahre um I. I. Petrunkjewitsch und den Vorbereitungen
von 1894, seit 1902 das Zentralbureau für die Semstwofragen, der Keim
des „Reichssemstwos" in Moskau, den ersten Kern für eine Partei ge-
bildet, der Kreis aus Schipow, Stachowitsch, Petrunkjewitsch, Golownin,
Kokoschkin.
Als Fürst Swjatopolk-Mirski Minister wurde, konnte ein lebhafterer
Meinungsaustausch politischer Gedanken und eine politische Organisation
beginnen. Radikalere Zeitungen konnten erscheinen; die schon vorhandene
juristisch-politische Wochenschrift „Prawo" (Das Recht), herausgegeben von
den Gebrüdern Hessen, konnte sich freier bewegen. Um sie hatte sich der
Kreis gesammelt, aus dem zusammen mit den eigentlichen „Oswobosch-
denzy" — den (int 1903 von Petrunkjewitsch gegründeten „Bund der Be-
freiung" vereinigten) Anhängern der Zeitschrift „Oswoboschdenie" —
und den sog. Semstwo-Konstitutionalisten im Spätherbst 1905 die Partei
108
IV. Kapitel.
der Kadetten^) hervorging — Männer wie Fürst Eugen Trubezkoi, die
Brüder Hessen und namentlich der spätere Führer der Kadetten, der
Historiker P. N. MiljukowJ, dem Stande nach überwiegend Prosessoren,
Anwälte, Ärzte, Journalisten, während die Semstwomänner dem Stande
nach mehr Gutsbesitzer, Adelsmarschälle uud dergleichen waren. Dieser
Kreis bezeichnete sich selbst als nationalliberal im deutschen Sinne. Doch
entsprechen die Kadetten nach ihrem Verhältnis zum Staatsgedanken und
ihrem Staatsbegrifs eher dem deutschen Freisinn: sie wollen eine liberale
Vermittlungspartei sein, oppositionell, aber nicht revolutionär.
So waren schon drei Hauptrichtungen vorhanden: die Umstürzler
verschiedener Nüancen — die Liberalen der Intelligenz, für die die große
politische Forderung (Verfassung und Wahlrecht) die Hauptsache war, —
die Semstwomänner, die mehr Gewicht auf die Reform und die organische
Fortbildung legten. Diese drei Richtungen verfügten bald über Organe
und Klubs, bekämpften sich gegenseitig und förderten so das politische
Denken, fortwährend gequält von der Polizei, da die für den politischen
Kampf nötigen Freiheiten noch nicht recht gewährt wurden.
Dagegen waren die Kräfte auf der Gegenseite noch nicht gesammelt.
Männer wie Fürst Meschtscherski, Fürst Schtscherbatow, der Oberst
Komarow (Herausgeber des panslawistischen „Swjet") konnten als die
Führer der aus der rechten Seite vorhandenen verschiedenen Richtungen
betrachtet werden, der „Graschdanin" des Fürsten Meschtscherski und
der „Swjet", auch die „Nowoze Wremja" SuworinsJ als ihre Organe.
Vor allem blieben die alten Katkowschen „Moskowskija Wjedomosti"
das Sprachrohr der streng konservativen Tendenzen im Sinne Ale-
xanders UI., seit 1895 redigiert von dem (von deutschen Eltern
stammenden) W. A. Gringmuth, der der erste entschiedene Führer einer
konterrevolutionären Bewegung und Organisation wurde.
0 Die Partei, gegründet am 31. Oktober 1905, nennt sich „Partei der
Volksfreiheit", konstitutionell-demokratische Partei; nach diesen beiden Anfangs-
buchstaben K und D kam der Spitzname Kadetten auf, der sich erhalten hat.
s) 1859 geboren, früher akademischer Lehrer, heute nur Politiker und
Publizist, der maßgebende Kopf der Kadetten und ihrer Zeitung Rjetsch.
') Alexej Suworin (1831 bis 1912) war der russische Scherl und Reclam
zugleich, nur politisch prononcierter als beide, ein glänzender Geschäftsmann, durch
den die (1876 von ihm gegründete) „Nowoje Wremja" zum weitaus ersten, freilich
nicht charaktervollsten Blatte Rußlands wurde. Seit seinem Tode gehört es einer
Aktiengesellschaft, die zum größten Teil in den Händen von Oktobristen ist.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 109
Diese politischen Strömungen und Kreise konnten sich sofort zu poli-
tischen Parteien umbilden, wenn sie Versammluügs- und Redefreiheit er-
hielten. Und mehr oder weniger kamen sie doch alle auf das eine hinaus,
daß zur Herbeiführung gesünderer Zustände die Krönung der Reformen
Alexanders II. durch eine Verfassung notwendig sei. Man betrachtete das
einfach als Axiom; lediglich die Kreise der „Moskowskija Wjedomosti"
lehnten die Erörterung überhaupt ab, ob Rußland eine Verfassung brauche
und welche — für sie war das absolute Rußland mit Zarentum und
Orthodoxie das einzig mögliche politische Programm.
Nun kommen diese Ansätze der Parteibildung, die sich bisher nur
unter dem Druck von Polizei und Zensur, nur im Geheimen und
Verbotenen oder iin Ausland hatten vorbereiten können, in rasche
Bewegung, als die Revolution begann. Die Überraschung war in Europa
nicht gering, als, nachdem einmal die Schranken gefallen waren, in
Rußland sofort eine große politische Presse und ein lveit vorgeschrittenes
politisches Parteiwesen erschienen. Man war mit Recht erstaunt, daß dieses
Volk gleich in seiner ersten Duma eine Fülle ausgezeichneter politischer
Redner aufwies und Diskussionen dort gehört wurden, die alles andere
waren, als das kindliche Stammeln eines eben zum politischen Leben er-
wachenden Volkes. Denn alles war fix und fertig da, was man zur
Technik eines parlamentarischen Lebens brauchte, und auch dessen äußere
Formen wurden überraschend schnell ausgebildet und gehandhabt.
Noch merkwürdiger war das plötzliche Entstehen einer großen poli-
tischen Presse. Neben die zwei, drei Zeitungen, die bis dahin überhaupt
etwas bedeuteten, traten zahlreiche neue Zeitungen und Journale von
denen freilich viele nur ein kurzes Leben gehabt Habens, und in ihnen
wurde mit großer Virtuosität und formaler Reife politisch diskutiert. Jetzt
zeigte sich, welche Wirkungen Polizei und Zensur für die russische Sprache
gehabt hatten. Die Notwendigkeit, alles darauf zu prüfen, ob es vor den
Augen der Zensur bestehen könne, und das Bestreben, trotzdem alles Ver-
botene auszusprechen und zwischen den Zeilen lesen zu lassen, hatte die
natürliche Biegsamkeit der russischen Sprache so gesteigert, daß sie sich,
als die politische Erörterung freigegeben wurde, sofort als ein im höchsten
Maße brauchbares Werkzeug erwies.
0 S. die Übersicht im Anhang.
110
IV. Kapitel.
Im Winter 1905/06 wurde das Ventil geöffnet, und nun brauste
die entfesselte Flut Politischer Wünsche und Hoffnungen über die öffentliche
Meinung hin. Zu den bisherigen Gruppen traten neue hinzu,
die Extremen, die entschlossen auf die Republik und die Beseitigung des
Zaren hinarbeiteten, und Gruppen, die sich im Verborgenen auch schon
vorbereitet hatten, jetzt aber zu allgemeiner Überraschung auf den Plan
traten, wie die Föderalisten und Autonomisten, d. h. die Führer der nicht-
großrussischen Untertanen des Reiches, die mit den demokratisch-freiheitlichen
Ideen die nationale Autonomie, die Auflösung des Reiches in seine national
selbständigen Teile und eines durch das andere erreichen wollten.
Die Wahlbewegung, aus der die erste Dunla hervorging, zeigte
folgende politische Parteien oder Ansätze dazu: 1. Liberale oder Demo-
kraten, in den drei, von 1 bis 3 zunehmend radikaler werdenden Kreisen:
1. Zentrum und linker Flügel der Semstwomänner. 2. „Verband der
Verbände" (Sojus Sojusow, 21. Mai 1905 begründet), eine von Miljukow
angeregte Zusammenfassung von Berufsorganisationen vornehmlich libe-
raler Berufe, die in der ersten Zeit der Unruhe unter Benutzung der
wenigstens tatsächlich zugestandenen Koalitionsfreiheit außerordentlich um
sich griff, aber nur im Sommer 1905 von Bedeutung war und bald
wieder verschwand. Und 3. jene „Befreier". Diesen Richtungen war das
Grundideal einer möglichst demokratischen Verfassung gemeinsam. Die
Stellung zum nationalen Problem, zur Föderationsidee, blieb noch unklar,
da man sich mit den demselben demokratischen Ideal zustrebenden nichtgroß-
russischen Untertanen des Reiches zunächst noch ganz eines Sinnes fühlte.
Erst als der den Staat direkt negierende Föderalismus deutlicher wurde,
wurde der großrussische Liberalismus zentralistisch, ja geradezu nationali-
stisch. Aus diesen Gruppen zusammen entstand die Partei der „Kadetten".
Links davon standen die Revolutionäre, die sich in 1. Sozialrevo-
lutionäre, 2. russische Sozialdemokraten, 3. Agrarkommunisten, 4. Anar-
chisten und Terroristen schieden. Gemeinsam war ihnen das rücksichtslos
ausgedrückte entschiedene Bekenntnis zum gewaltsamen Umsturz.
Rechts von den liberalen Gruppen begannen sich die konservativen
Elemente erst zusammenzufinden. Sie waren ebenso wie die Regiemng
von der Wirkung der Niederlagen des Krieges überrascht worden und
konnten sich daher erst im Laufe des Jahres 1905 sammeln. Durch
Gringmuth entstand im November 1905 der „Verband des allrussischen
Jnnerpolitischcs Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. m
Volkes", als erster der großen Verbände, in denen, ohne bestimmte Partei-
färbung und -organisation, Aristokraten, Geistliche, Beamte und Agitatoren
die Masse im konservativ-reaktionären Sinn organisierten.
Zwischen diesen Konservativen und den liberalen Parteien trat gleich-
zeitig eine Gruppe hervor, die in einer ehrlichen Versöhnung des russischen
Staatsgedankens mit der konstitutionellen Idee ihr Programm sah. Sie
kam aus den Semstwokreisen, die nicht in den Kadetten aufgingen, aus den
sog. Semstwo-Konstitutionalisten, denen die Partei der Volksfreiheit zu
radikal wurde, und fand ihr Programm im Manifest vom 30. Oktober
1905. So entstand — am 17. Dezember 1905 begründet — der „Verband
vom 17./30. Oktober", die Partei der Oktobristen. Ihr Programm war
ganz präzis: das Oktobermanifest des Zaren — nicht mehr und nicht
weniger. Nicht mehr — die monarchische Grundlage wollten die Oktobristen
unbedingt gewahrt wissen. Aber auch nicht weniger: man betrachtete die
Zusagen der Grundrechte und einer Konstitution als unabänderlich, hinter
die zurückzugehen die innere Lage Rußlands schlechterdings nicht erlaube.
Damit war auch nach rechts eine Grenze gegen die Elemente gezogen,
vie entweder bewußt aus die Zurücknahme der Zusagen des Zaren hin-
arbeiteten, oder die zwar äußerlich den Konstitutionalismus bestehen lassen,
ihn aber Schritt für Schritt auf dem Wege der Verwaltung unwirksam
machen wollten.
Die Oktobristen waren so von vornherein eine Mittelpartei, und
haben an sich die Schicksale einer solchen reichlich erfahren. An ihrer Spitze
standen damals die besten politischen Köpfe, die Rußland überhaupt hatte.
Vor allem Alexander Gutschkotw), ein hochbegabter Mann, der geborene
Führer einer Mittelpartei, ohne freilich, wie sich später herausstellte, die
seinen Geistesgaben entsprechende Energie und Konsequenz zu besitzen.
Neben ihm standen als Begründer des Verbandes noch der Adelsmarschall
von Orel, Stachowitsch (1861 geboren), Schipow (heute Mitglied
des Reichsrats) und Graf Heyden aus Pskow (1845 bis 1907). Dazu
trat später Baron Alexander Meyendorff, ein Livländerch, der, der
höchsten russischen und baltischen Aristokratie zugleich angehörend, durch
y 1862 geb.; sein Vater war ein altgläubiger Kaufmann, seine Mutter
Französin, er selbst ist deutsch gebildet.
2) Geb. 1869, Großneffe des russischen Vertreters am Berliner Hof von 1840
bis 1850, Barons Peter Meyendorff.
112
IV. Kapitel.
seinen Bildungsgang deutsches und russisches Wesen gleich gut kannte
und mit glänzender Rednergabe und parlamentarischer Sicherheit eine
in der Duma einzig dastehende, juristische Schulung und Kenntnis verband.
In der Wahlbewegung wurde nur um die extremen Schlagworte ge-
fochten, und da riß die demokratische Welle zunächst jeden Widerstand
nieder. In ihr tauchten noch jene Autonomisten aus, in zahlreichen
Gruppen: 1. Polen, als Allpolen — Versöhnler (Ugodowzy) — National-
demokraten — Sozialdemokraten (als P. P. S., d. h. Polnisch-sozial-
demokratische Partei), S. D. P. L. (d. h. Sozialdemokratie von Polen
und Litauen) und „Bund" d. h. Verband jüdischer Sozialdemokraten.
2. Kleinrussen oder Ukrainer. 3. die lettisch-estnischen Autonomisten.
4. die Kaukasier verschiedener Richtungen, Mohammedaner — Anfang
1906 hatte in Petersburg ein politischer Mohammedanerkongreß statt-
gefunden — usw. Die Deutschen der Ostseeprovinzen sammelten sich nicht
in einer besonderen, Autonomie fordernden, Gruppe, sondern schlossen sich
dem Oktoberverband an.
Am 10. Mai 1906 trat der erste Reichstag Rußlands zusammen,
vom Zaren selbst im Georgssaal des Winterpalais mit einer Ansprache')
eröffnet, bei deren schönen, aber allgemeinen Worten sich die Parteien das
Verschiedenste denken konnten. Die im ganzen 524 Abgeordneten, — die aber
niemals vollzählig wurden, da die aus den entferntesten Reichsteilen ge-
wählten erst in Petersburg eintrafen, als die Duma schon wieder aufgelöst
war, — gliederten sich in nicht weniger als 26 politische und 16 nationale
Gruppen. Die hauptsächlichsten waren Mitte Juni: die konstitutionellen
Demokraten, ungefähr 177. Nach links schloß sich an die 102 Mitglieder
zählende Linke, die sog. Arbeitsgruppe* 2), die Sozialdemokraten, Sozial-
revolutionäre, Anarchisten und Radikale sowie den 29 Mitglieder zählenden
(sozialrevolutionären und kommunistischen) Bauernbund umfassend. Nach
rechts folgten die Parteien der demokratischen Reform (4—8), der Ver-
band vom 30. Oktober (13) — die Handels- und Jndustriepartei (1)*)
') Die Eröffnungsreden sind bei Sawitsch, Nowy gossudarstw. stroj
Rossij (Petersburg 1907) S. 132 ff. abgedruckt.
2) Die „Trudowiki", eine radikale, aber nicht ausgesprochen sozialdemokratische
Arbeiter-Partei, die zwischen Sozialdemokraten und Kadetten steht.
b) Eine Vertretung der Bourgeoisie unter Leitung des Vorsitzenden des
Moskauer Börsenkomitees G. A. Krestownikow.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. \ 13
— die Partei der Rechtsordnung (4) — die Monarchisten. Daneben
standen „Gemäßigte", Parteilose (50—100) und — politisch zur Linken
gehörend — die verschiedenen Autonomistenklubs: die Parteien des König-
reichs Polen — die polnisch-litauische Partei — der ukrainische Klub
(30—40) — die Litauer, Letten usw. (über 60 im ganzen).
Nach nationalen Gruppen gegliedert zählte die Duma 265 Groß-
russen, 62 Kleinrussen, 12 Weißrussen, 51 Polen, je 6 Litauer und Letten,
je 4 Deutsche und Eschen, 8 Tataren, 4 Baschkiren, je 2 Mordwinen und
Wotjaken, je 1 Bulgaren, Kirgisen, Tschuwaschen, Tschetschenzen, Moldauer
und Kalmücken, und 13 Juden. Man hatte ja die Verfassung nicht
nur dem Kerngebiet, sondern auch dem kaukasischen und dem asiatischen
Reichsteile gewährt. Politisch waren diese „Fremdstämmigen" fast durch-
aus Sozialrevolutionäre.
339 waren griechisch-orthodox und 63 römisch-katholisch, je 14 Luthe-
raner und Mohammedaner, 13 Juden, 4 Altgläubige, je 1 Baptist, Budd-
hist und Freireligiöser. Dem Stande (im Rechtssinne) nach waren:
204 Bauern, 164 Adlige, 24 Kleinbürger, 14 Geistliche, 12 Kosaken, 11
Kaufleute, 9 erbliche Ehrenbürger. Dem Berufe nach gehörten: zur Land-
wirtschaft 276 (42 zum großen, 72 zum mittleren, 162 zum Kleinbesitz),
zu Industrie und Handel 61 (2 Industrielle, 24 Kaufleute, 25 Arbeiter).
Staats- und Kommunalbeamte waren 76 (davon 15 Staatsbeamte), zur
sog. Intelligenz zählten 105 (davon 14 Professoren und 38 Anwälte).
Eine höhere Bildung hatten genossen 189, die Mittelschule besucht
62, die Volksschule 111. Als Autodidakten bezeichneten sich 84, Anal-
phabeten sollten nur 2 unter den Abgeordneten sein.
II.
Die Wahlen waren über alle wahlpolitischen Berechnungen der Re-
gierung hinweggegangen und hatten eine rein oppositionelle Duma er-
geben. Diese beherrschten politisch die Kadetten und Sozialisten gemeinsam,
wirtschaftspolitisch die revolutionären Bauern, und die Welt erlebte das
Schauspiel, daß der Hort des Absolutismus, die konsequenteste Verkörpe-
rung der monarchischen Gewalt, die bis dahin der russische Staat dar-
gestellt hatte, ein Parlament sah, in dem der Radikalismus das Wort
führte und von Sieg zu Sieg zu schreiten schien.
Hoetzsch, Rußland.
8
114
IV. Kapitel.
Die Thronrede hatte ein Programm nicht geboten, auch kamen keine
Anträge und Vorlagen von der Regierung — so ging die Duma selbst vor.
Die Adresse, die sie an den Zaren richtete, war so unehrerbietig, selbstbewußt
und radikal, daß der Zar die Annahme verweigerte. Politisch gingen
ihre Forderungen auf das allgemeine Wahlrecht und die Ministerverant-
wortlichkeit, auf Beseitigung des Reichsrats und der Todesstrafe, auf die
Grundrechte, auf Agrar- und Sozialreform, vor allem aber auf eine un-
eingeschränkte politische Amnestie.
So begannen die Debatten sogleich in scharfer Gegensätzlichkeit. Von
einer ernsthaften Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament zu
positivem gesetzgeberischen Schaffen war von vornherein nicht die Rede. Wie
sollte auch eine Bureaukratie, die bis dahin hoch über dem Volke gethront
und, nur von ihresgleichen kontrolliert, ihres Amts gewaltet hatte, mit
einem Male sich der Kontrolle eines Parlaments unterwerfen, zumal die
Grenzen zwischen Legislative und Exekutive noch im Unklaren waren?
Und die Duma, die sich als Konstituante fühlte, sah in ihrem Sieges-
bewußtsein, als erstes russisches Parlament dem Selbstherrscher abgetrotzt,
überhaupt keine Grenzen ihrer Macht. Es war keine Situation, die
dauern konnte, um so mehr als die Agrardebatten und -Programme der
Duma revolutionär an den Grundlagen der Wirtschafts- und Gesellschafts-
ordnung rüttelten.
Das A und O war ja die Agrarfrage und die Agrarnot. Zwar war
die Politische Reife und Organisation der Bauern noch nicht entwickelt
genug, als daß sie eine eigene Agrarpartei hätte bilden können. Wie
die Namen der Parteien zeigen, hatten zumeist erst die allgemeinen Formeln
der politischen Doktrinen parteibildend und namengebend gewirkt. Aber
hinter diesen allgemeinen Debatten um die radikalen politischen Forderungen
trat immer mehr die materielle Frage der Agrarreform hervor, und diese
radikale und sogar sozialistische Dumamehrheit war auch in der Agrar-
frage sehr geneigt, sich die weitgehendsten Forderungen zu eigen zu machen.
Vor allem forderte sie die Krons-, Kabinetts-, Kloster- und Kirchen-
ländereien und die Zwangsenteignung des Großgrundbesitzes als Mittel
zur Befriedigung der Landnot, in der man allein das Wesen der Agrar-
krisis sah. Das war bei den Bauern begreiflich. Nicht gleich begreiflich
aber war, daß auch die Kadetten sich diese Forderung zu eigen machten.
Ihre Führer hatten jedoch in dem allgemeinen Wirrwarr kein Urteil mehr
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. H5
über die innere Kraft der revolutionären Bewegung und überschätzten sie
im Überschwang dieser Monate, die so rasch die zarische Gewalt gedemütigt
hatten. Um nun von der radikalen Welle nicht selbst verschlungen zu
werden und an der Spitze der Freiheitsbewegung zu bleiben, forderte die
Kadettenpartei, die grundsätzlich gerade den Individualismus vertrat, in
ihrem Agrarprogramm die Expropriation des gutsherrlichen und staat-
lichen Grund und Bodens für die Bauern.
Wie gefährlich das für sie selbst war, konnte sie gleich sehen, als
die ihr sonst verwandte liberale Bewegung Polens dabei nicht mit ihr ging.
Die Polen stimmten sonst natürlich allen liberalen Forderungen zu, von
denen- sie ja für ihre nationale Bewegungsfreiheit den größten Vorteil
hatten. Aber sie sahen, daß eine derartige Verbindung mit dem revolutio-
nären Agrarkommunismus für sie ein Wahnsinn war, und machten daher
den Sturm gegen den großen Besitz nicht mit.
An der Agrarfrage kam es zur Entscheidung. Die Regierung hatte
— nach anfänglichem eigenen Schwanken — wie der Zar die Unverletz-
lichkeit des Privateigentums ausdrücklich proklamiert. Trotzdem arbeitete
die Duma ein Gesetz auf der entgegengesetzten Grundlage aus und wendete
sich mit einer Erklärung an das Volk. Für die Regierung wurde es so, je
zügelloser die Debatten in ihren politischen und wirtschaftlichen Forderungen
wurden, klar, daß sie mit ihren Zugeständnissen zu weit gegangen war.
Dieses parlamentarische Leben löste den Staat einfach auf und drohte,
ihn mit seiner Begünstigung sozialistischer Massenwünsche und nationaler
Autonomieforderungenft in ein allgemeines Chaos zu reißen. Man sah
zudem, daß man des Heeres in der Hauptsache doch sicher geblieben war,
und wurde durch die vor allem im Großgrundbesitz vertretenen konser-
vativen Elemente gestützt, die sich immer mehr sammelten, weil sie sich
in ihrer Existenz bedroht sahen. Darum faßte die Regierung — Stolypin
ft Zu diesem Punkte hatte bereits die Adresse der Duma folgendes gesagt:
„Die Duma hält es für nötig, unter ihren unaufschiebbaren Aufgaben die Ent-
scheidung der Frage über die Befriedigung längst reifer Forderungen der einzelnen
Nationalitäten zu nennen. Rußland stellt einen von zahlreichen Stämmen und
Völkerschaften bewohnten Siaat dar. Die geistige Einheit aller dieser Stämme und
Völkerschaften ist nur möglich bei Beftiedigung der Bedürfnisse eines jeden von
ihnen, indem die Eigenart der einzelnen Seiten ihres Lebens dabei entwickelt wird.
Die Duma wird für weitgehende Beftiedigung dieser berechtigten Bedürfnisse sorgen."
8*
116
IV. Kapitel.
gab in Peterhof am 21. Juli den Ausschlag — den unter diesen Um-
ständen mutigen, aber notwendigen Entschluß, die erste Duma nach ihrer
38. Sitzung — sie hat 72 Tage gesessen — aufzulösen; die Berufung
der neuen Duma wurde auf den 5. Mai 1907 festgesetzt. Am 22. Juli
wurde der bisherige Minister des Innern, P. A. Stolypin, zum Minister-
präsidenten ernannt.
Die Kadetten begaben sich — am 23. Juli — in größter Erregung
nach Wiborg, auf finnischen Boden, der der russischen Polizei entzogen
war, und wandten sich von hier in einem flammenden Aufruf an das
Volk, die Regierungsmatznahme mit der Steuerverweigerung und der Ver-
weigerung des Militärdienstes zu beantworten. Die Intelligenz des
Landes proklamierte somit den Bürgerkrieg, und des Landes selbst be-
mächtigte sich die revolutionäre Erregung von neuem. Streiks und
Revolten flammten in der zweiten Hälfte des Jahres 1906 wieder auf,
Mordtaten, Plünderungen und Brandstiftungen nahmen überhand, oft
mit einer Frechheit ausgeführt, die ebenso in Erstaunen setzte wie die
Kopflosigkeit, die die lokalen Behörden und die Polizei dabei häufig be-
wiesen. Auch jetzt war es keine eigentliche Revolution, nur an wenigen
Stellen geriet die Staatsgewalt in die Hände der „Kramola", aber die
öffentliche Unsicherheit stieg auf das höchste, die Verwaltung funktionierte
an vielen Orten nicht mehr, die Steuern wurden nicht erhoben, die
Schulen nicht besucht, die Zensur wurde nicht ausgeübt, die Straßenpolizei
war wirkungslos, der Eisenbahnverkehr gestört. Und abermals schlug die
Erregung in das Heer und die Marine über. Im Juli fand eine Meuterei
in Sweaborg, im August eine solche in Kronstadt statt, und was von der
Unzufriedenheit im Heere bekannt wurde, die sich ganz naiv in großen
Ofsiziermeetings zu Wort meldete, war schlimm genug, um in diesen der
Dumaauflösung folgenden Monaten bis tief in den Herbst hinein die
Situation wiederum als höchst gefährlich erscheinen zu lassen.
Es ist das Verdienst des neuen Ministerpräsidenten Stolypin ge-
wesen, in diesem Wirrwarr zunächst einmal einen festen Standpunkt ein-
genommen zu haben und ihm dann mit Erfolg entgegengetreten zu sein').
') P. A. Stolypin, geb. 11. April 1862, aus wohlhabendem Landadel, Adels-
marschall in Kowno. Gouverneur in Grodno und (seit 1903) in Saratow,
10. Mai 1906 Minister des Innern, 22. Juli 1906 Minister-Präsident,
18. September 1911 in Kiew ermordet.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien nnd Staatsmänner von 1906—1914. 117
Die Geschichte wird Stolypin schwerlich zu den größten Staatsmännern
zählen; der Vergleich mit dem Freihcrrn von Stein, der gelegentlich laut
geworden ist, ist übertrieben. Denn zu einem wirklich großen Staatsmanne
fehlte ihm die Freiheit des Geistes, die Weite des staatsmännischen Blickes,
der Reichtum an neuen Gesichtspunkten. Dafür hatte er die in dieser
Lage noch wesentlichere Eigenschaft eines festen und sicheren Willens auf
einem dttrchaus schwankenden Boden. Umgeben von täglich sein Leben
bedrohenden Gefahren, — am 25. August 1906 wurden bei einem Atten-
tat in seinem Hause auf der Apothekerinsel nicht weniger als 27 Personen
getötet und seine Tochter schwer verletzt —, keineswegs gestützt von den
Fraktionen des Hofes, eigentlich nur getragen von dem Vertrauen seines
Kaisers, hat Stolypin zwei große Verdienste von dauernder Bedeutung.
Er hat der zügellosen Unordnung, in die sich alles Leben in Rußland auf-
löste, mit Erfolg gesteuert. Dieses negative Verdienst ergänzte er durch
ein positives, indem er der Vater der Agrarreform geworden ist. Der
Ukas vom 22. November 1906 über die Auflösung des Mir trägt den
Namen dieses Ministers, der ihn durchsetzte, dem es dadurch gelang, eine
Intelligenz und Bauerntum schließlich auseinandertreibende Spaltung
anzubahnen, und der so die wirkliche Gefahr der Revolution beseitigte.
Er regierte zunächst ohne Duma, auf Grund des berühmt gewordenen
Notverordnungsparagraphen 87 der Reichsgrundgesetze, der dem noch be-
rühmteren Paragraphen 14 der österreichischen Verfassung nachgebildet ist.
Rücksichtslos drängte er die Revolution mit Hilfe sog. Feldkriegsgerichte
zurück — es war eine Erweiterung und Verkürzung der Militärgerichts-
barkeit, der Kriegszustand gegen das eigene Volk. Als Stolypin auf diese
Weise fest zufaßte, erwies sich die bestehende Ordnung fester, als man
geglaubt hatte. Jener Aufruf der Kadetten verpuffte völlig; sobald die
Ordnung einigermaßen wiederhergestellt war, gingen die Steuern ein und
stellten sich die Rekruten.
Die Neuwahlen fanden erst zu Beginn der Jahres 1907 statt. Bis
dahin setzte sich auch im Streit der Parte: eine wesentliche Klärung
durch. Die Kadetten blieben nach wie vor auf dem Standpunkte, daß der
Staat nur durch entschiedene Reformarbeit die Revolution überwinden
und nur so die Mitarbeit der Liberalen gewinnen könne. Dieser Auf-
fassung, die praktisch auf ein Paktieren mit der Revolution hinauslief,
traten die Oktobristen unter Führung Gutschkows entgegen: erst sei Ruhe
118
IV. Kapitel.
und Ordnung herzustellen, ehe der Staat auf der Bahn der Reformen —
das war auch für die Oktobristen eine sehr wesentliche Forderung —
weiterginge. Auf ihren Kongressen im Noveniber und Dezember 1906
sagten die Oktobristen so nach rechts und links, den Kadetten wie den
Monarchisten ab. In Praxi bedeutete die Auffassung der Oktobristen die
Unterstützung der Stolypinschen Politik. Sie traten damit vom Boden
der großen prinzipiellen Auseinandersetzungen auf den der Kompromisse
und haben die Folgen davon in den nächsten Jahren an sich er-
fahren. Aber nur so war, während die Anschauungen der Kadetten und
Stolypins in unvereinbarem Widerspruch, den nur die stärkere Macht ent-
scheiden konnte, standen, eine Versöhnung zwischen Absolutismus und
konstitutionellem Programm wenigstens denkbar; das Land hat dem auch
die Ordnung und ein ruhiges Arbeiten der dritten Duma verdankt.
Inzwischen nahm nicht nur die Befriedigung des Landes durch die
Energie des Premierministers ihren Fortgang, sondern auch die positive
Arbeit des Staates. Am 22. November erwirkte Stolypin jenen Ukas
über die Auflösung des MirJ Den Altgläubigen wurden Rechte und
Freiheiten verliehen, in den nichtrussischen Grenzmarken ließ man die
durch die Revolution erkämpften Freiheiten vorläufig bestehen; so konnten
in den Ostseeprovinzen deutsche, im Zartum Polen polnische Schulen
entstehen usw. Die Preßfreiheit wurde nicht wesentlich eingeschränkt, wenn
auch eine so zügellose Freiheit des Wortes wie im Winter vorher nicht
mehr erlaubt ward. Stolypin war auch nicht gewillt, die konstitutionellen
Zugeständnisse rückgängig zu machen. Daß die revolutionäre Bewegung
zwar fortdauerte, zeigte ihm die Ermordung des Grafen Jgnatjew am
23. Dezember 1906, in dem die Revolution den nach Pobjedonoszew und
Plehwe bedeutendsten Träger der Reaktion tödlich traf. Aber trotzdem und
trotz der bösen Erfahrungen mit Wahlrecht und Duma fanden die Neu-
wahlen nach demselben Wahlrecht im Februar 1907 statt; am 5. März
1907 trat die zweite Duma zusammen.
Die Parteien zeigten dieselben Verhältnisse wie in der ersten Duma,
aber in schärferer Abgrenzung. Rechts standen die Gruppen des „Ver-
bandes des russischen Volkes" (unter Führung von Purischkjewitsch,
Dubrowin u. a.), der Monarchisten und der Rechtsordnung, unter der
,v 0 Darüber s. Kapitel V.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 119
Führung namentlich Gringmuths. Dann folgte der Verband vom
30. Oktober, von dem sich die Gruppen der „friedlichen Erneuerung" (die
späteren Progressisten) und der „demokratischen Reform" losgelöst hatten
(Schipow, Graf Heyden, Fürst Trubezkoi und Fürst Lwow.) Nach links
kamen weiter die Kadetten, Arbeitsparteiler, Sozialdemokraten, Sozialrevo-
lutionäre^) und Anarchisten. Mit dieser Linken, aber selbständig bleibend,
ging der allrussische Bauernbund zusammen, der keine Politische Partei, nur
eine soziale Einheit zu taktischen Zwecken war. Die Ukrainer, unter
ihrem Frührer Schräg aus Tschernigow, und die beiden polnischen
Gruppen, das „Kolo Polskie" aus dem Zartum und die polnisch-litauische
Partei, standen wie in der ersten Duma für sich. Im ganzen war die
zweite Duma genau so radikal und revolutionär wie die erste, da die
Linke an 400 Mitglieder (von 524) zählte.
Stolypin erklärte vor ihr am 19. März, daß sich Rußland in einen
Rechtsstaat verwandeln müsse, und entrollte ein großes Programm
seiner gesetzgeberischen Absichten, das auch die Grundlage für die Arbeit
der nächsten Jahre geworden ist2). Aber die Duma war für die Regierung
nicht arbeitsfähig. Sie hat nur vom 5. März bis zum 16. Juni getagt
und Spuren ihrer Tätigkeit nicht hinterlassen. Als die Regierung die Aus-
schließung von 55 sozialdemokratischen Mitgliedern, die der Verschwörung
gegen Staat und Zaren beschuldigt waren, forderte und die Duma ihr
nicht rasch genug zu Willen war, wurde auch sie aufgelöst; die neue Duma
sollte am 13. November zusammentreten.
Im Lande machte diese Auflösung gar keinen Eindruck. Inzwischen
aber war die Regierung wieder stark genug geworden, um noch einen Schritt
weiter wagen zu können. Am Tage der Dumaauflösung wurde ein neues
Wahlrecht oktroyiert, das sehr rasch vom Gehilfen Stolypins im Mini-
sterium des Innern, Kryschanowski, ausgearbeitet worden war.
Mit dieser Maßnahme, also im Juni 1906, beginnt die Kontre-
revolution, die bis zum Kriege immer stärker arbeitete, von 1911 ab durch
den Nationalismus eine besondere Note erhielt, wohl die Verfassung und
y Die Arbeiterschaft hatte 1906 eine sehr straffe revolutionäre Leitung in
einem „Arbeiterrat" unter G. Nossar-Chrustalew gehabt, der im Dezember 1906
verhaftet und dadurch beseitigt worden war.
*) Die sehr lange Rede ist abgedruckt bei Schlesinger, Rußland im
20. Jahrhundert (Berlin 1908) S. 311 ff.
120
IV. Kapitel.
die Dunrarechte beschnitt und verletzte, aber zu ihrer Beseitigung nicht stark
genug geworden ist. Schon die Oktroyierung des neuen Wahlrechts war ein
glatter Rechtsbruch, da die Gesetzgebung über das Wahlrecht ausdrücklich
vom § 87 der Reichsgrundgesetze ausgenommen ist. Daß sich Kadetten
und alles, was links von ihnen stand, dem in erbitterter Opposition ent-
gegenstellten, war selbstverständlich. Aber sie konrrten nichts daran ändern
und haben auch nicht die praktischen Konsequenzen daraus gezogen, nämlich
die Maßnahme sür ungesetzlich zu erklären und sich deshalb der Beteili-
gung an den Wahlen und an der neuen Duma zu enthalten. Bei aller
grundsätzlichen Gegnerschaft haben sie sich vielmehr auf den Boden des
neuen Staatsrechts gestellt und auch in einer unter ganz anderen Ver-
hältnissen gewählten Duma ihren Platz eingenommen. So blieb den
Oktobristen auch nichts anderes übrig, als, zum Teil mit schwerem Herzen,
den Staatsstreich zwar als solchen zu verurteilen, aber hinzunehmen und
auf der neuen Basis die neue Arbeit zu beginnen. Das ist geschehen,
aber von vornherein mit Mißtrauen gegen die Reichsregierung.
Das neue Wahlrecht war so angelegt, daß es die Besitzenden vor den
Nichtbesitzenden und innerhalb der Besitzenden das großrussische Element
vor den Nichtrussen begünstigte. Ersteres Motiv sprach der Mas nicht
aus, dagegen sagte er, schon den kommenden aggressiv-großrussischen Geist
der Regierung andeutend, über das Zweite sehr offen: „Die Reichsduma
die zur Festigung des russischen Reiches geschaffen ist, muß auch ihrem Geist
nach russisch sein. Die anderen Völkerschaften, die zu unserem Reich
gehören, sollen in der Reichsduma Vertreter ihrer Bedürfnisse haben,
aber sie sollen und werden nicht in einer Zahl erscheinen, die ihnen die
Möglichkeit gibt, in rein russischen Fragen ausschlaggebend zu sein. In
den Grenzmarken des Reiches aber, in denen die Bevölkerung noch nicht
die genügende staatsbürgerliche Entwicklung erlangt hat, müssen die Reichs-
dumawahlen zeitweilig sistiert werden."
Die Zahl der Abgeordneten wurde auf 442 heruntergesetzt, in der
Hauptsache auf Kosten der nichtrussischen Nationalitäten. Das Zartum
Polen kam von 36 auf 12*), der Kaukasus von 29 auf 9, Sibirien von
21 auf 14, Zentralasien von 23 auf 1 Vertreter herunter. Das war eine
Gesamtverminderung von 109 auf 36, durch die die Grenzmarken und
st Im ganzen 14, aber 2 müssen Russen sein.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 121
Fremdstämmigen eines wirklichen Einflusses in der Duma beraubt
wurden; so wurde sie wirklich ein russischer Reichstag.
Das Wahlrecht blieb indirekt, der Zensus wurde nicht erhöht. Auch
wurde nach wie vor in Kurien gewählt: für Grundbesitzer, Bauern,
Städter und Fabrikarbeiter. Aber die Verteilung der Wahlmäniter und
damit der Abgeordneten auf die Kurien wurde so geändert, daß rund
50 Bauernabgeordnete ausfielen und dafür Großgrundbesitzer eintraten.
Auf 100 Wahlmänner kamen:
auf
nach dem bis-
herigen Wahlrecht
1. Bauern................................... . 42
2. Arbeiter....................................4
3. Mietssteuerzahlende (also Städter --- Beamte
68
nach dem
neuen
und Intelligenz............................22
4. Großgrundbesitzer..............................32
5. Größere städtische Eigentümers
12
Von 6034 Wahlmännern (aus dem Reiche ohne Kaukasus, Zartum
Polen und Sibirien) für die erste und zweite Duma wählten die Bauern:
2529, die Städter 1386, die Gutsbesitzer 1963, die Arbeiter 208. Von
5163 Wahlmännern für die dritte Duma (desselben Gebiets) wählen die
Bauern 1168, die Städter 258, die Gutsbesitzer 2644, die Arbeiter 114.
Außerdem sind Wahlmännergruppen und Zensus so kompliziert — das
Wahlrecht kann bis 4-stufig sein, indem der Bauer Wolostvertreter wählt,
diese Bevollmächtigte, diese Wahlmänner und diese erst den Dumaab-
geordneten wählen —, daß die Wählen sehr stark beeinflußt werden können.
An sich haben in 28 Gouvernements Kernrußlands die Wahlmänner des
Großbesitzes schon die absolute Mehrheit, in den anderen, wenn sie mit
den „größeren städtischen Eigentümern" zusammengehen. Das Wahlrecht
ist also durchaus plutokratisch und hält die besitzlose Intelligenz in sehr
großem Maße, die Revolutionäre fast ganz von der Duma fern.
Der Erfolg sprach für die Regierung. Die Maßnahme erfuhr zwar
heftigsten Widerspruch, aber sie hat zu bewaffneter Erhebung nicht einmal
in den polnischen Gebieten geführt, geschweige denn im Kerngebiet, wo das
Bauerntum sich an der Agrarresormarbeit zu beruhigen und das Inter-
esse für die liberale Agitation und sozialistische Hetze zu verlieren begann.
0 Diese Kurie wurde IM neu eingeführt. Die 6 großen Städte wählen
16 Abgeordnete direkt, davon die Kurien Nr. 3 und 5 je die Hälfte.
122
IV. Kapitel.
Die Erstarkung der Staatsgewalt, die Tatsache, daß Wahlrecht und Zensus
an sich nicht verändert waren, die Wirkung der begonnenen Reformen und
schließlich auch der Volkscharakter, alles ermöglichte Stolypin einen vollen
Erfolg: diese auf Grund des neuen Wahlrechts gewählte Duma hat ihre
verfassungsmäßige Zeit (1907—1912) vollkommen erfüllt und Rußland
zum ersten Male ein ruhiges Parlamentsarbeiten gezeigt.
IH.
Die Parteien der dritten Duma waren fast dieselben, wie die bis-
herigen, aber zahlenmäßig war ihr Verhältnis ganz anders geworden.
Waren die beiden ersten Dumen kadettisch, so ist die dritte Duma bis 1911
oktobristisch gewesen; danach wurde der ausschlaggebende Einfluß der
Oktobristen durch das Hervortreten der nationalistischen Richtung ge-
schwächt.
In der 1. Session gab es 11 Fraktionen: 1. die Rechte 51, — die
Nationalisten 26, — die gemäßigten Rechten 70, im ganzen eine Rechte
von 127 Mitgliedern. Dann 2. die Oktobristen (164), einschließlich der
gemäßigten Reformer und Balten. 3. die Kadetten 54, mit 28 von ihnen
nicht wesentlich verschiedenen Progressisten — 82 Mitglieder. 4. die Linke:
Arbeitsgruppe 14 und 19 Sozialdemokraten — 33. Das waren 127
Rechte gegen 115 Linke und 154 Mittelparteiler. Dazu 5. die Autono-
misten, d. h. 11 Polen, 7 polnisch-litauisch-weißrussische Gruppe, 8 Mo-
hammedaner. Die Ukrainer waren als besondere Gruppe vollständig
verschwunden, die Gesamtzahl der Autonomisten so gering geworden, daß
sie in der Mehrheitsbildung keine Rolle mehr spielten. So standen sich in
der Duma 4 politische Anschauungen gegenüber: die äußerste Rechte und
die äußerste Linke, die die Verfassung nicht anerkennen, sondern sie ent-
weder zurück in den Absolutismus oder vorwärts in die Republik ver-
ändern wollten. Von ihnen war die äußerste Linke ohne Einfluß, während
die äußerste Rechte zunehmend wichtiger wurde. Aber in jenen Zahlen
geht eine Anzahl Duma-Mitglieder nicht auf: Parteilose, und zwar
parteilose Rechte, die zwischen der reaktionären und der reformerischen
Rechten standen. Aus ihnen und sich absplitternden Oktobristen bildete sich
im Verlaus der 5 Dumajahre eine immer stärker werdende nationalistische
Partei, die freilich zu einem vollständigen Parteiabschluß noch nicht kam,
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 123
aber mit der äußersten Rechten zusammen den beherrschenden Einfluß der
Oktobristen brach. Danach zeigte die letzte Session folgendes Bild: Rechte
52 — Nationalisten 93 — Rechts-Oktobristen 11, im ganzen 156;
Oktobristen 121; Kadetten 53 und Progressisten 37 — 90; Arbeitsgruppe
11 und Sozialdemokraten 13 — 24; Parteilose 23. Das ergab eine Rechte
von 179, eine Linke von 114 und eine Mittelpartei von 121 Mitgliedern^).
Der Sieg der Oktobristen über die Linke wird noch klarer, wenn man
die Berufsgliederung der Abgeordneten betrachtet. Im Gegensatz zu den
beiden ersten Dumm, die eine große Zahl proletarischer Existenzen auf-
wiesen, hatte die dritte Duma 230 akademisch Gebildete. 134 hatten
Mittelschul-, 86 Volksschulbildung genossen; als Autodidakten gingen 35.
Noch deutlicher redete die Standesgliederung: 220 erbliche Adlige,
94 Bauern und Arbeiter, 46 Priester (davon ein römisch-katholischer),
42 Kaufleute, 12 Kleinbürger, 15 Kosaken. Für die Intelligenz bleibt
allerdings nicht nur her Rest, sondern zahlreiche Glieder der Intelligenz ge-
hören zu den 220 Adligen, von denen nur 196 Gutsbesitzer (darunter
29 Adelsmarschälle) waren. 173 Mitglieder hatten aktiven Anteil an der
lokalen Selbstverwaltung^). Das war eine Duma, die für konservativ
gelten konnte, wenn, wie es der Fall war, die Bauern aus der rechten
Seite gehalten werden konnten. Trotz der erheblichen Verstärkung der
rechtsstehenden Elemente verfügten diese indes nicht über die Mehrheit.
Gelang es nicht, eine Arbeitsmehrheit zu schaffen, einen Block, dessen
Kern die Oktobristen darstellten, so war es auch jetzt der Regierung nicht
leicht gemacht.
Drei Momente wirkten nun auf die Umgestaltung der Parteiver-
hältnisse ein. Zunächst kamen die grundsätzlichen Erörterungen um die
Verfassung nicht zur Ruhe. Dabei traute ein Teil der Duma dem andern
nicht und traute sie im ganzen der Regierung nicht. Stolypin war zwar
fl Die Autonomistengruppen unverändert.
fl Der Nationalität nach waren in der 3. Duma 377 Großrussen, 28 Klein-
russen, 12 Weißrussen, 22 Polen, 13 Deutsche, 5 Litauer, je 4 Armenier, Baschkiren,
Juden, Letten und Tataren, je 2 Moldauer, Grusinier, Griechen und Eschen,
je 1 Lesghiner, Türke, Syrjane und Abchasier, — der Konfession nach 414 Recht-
gläubige, 27 römische Katholiken, 20 Lutheraner, 10 Mohammedaner, 6 Alt-
gläubige, je 2 Armeno-Gregorianer und Armeno-Katholiken usw. Danach war
eine überwältigende großrussisch-rechtgläubige Mehrheit vorhanden.
124
IV. Kapitel.
Von der Notwendigkeit der monarchisch-konstitutionellen Staatsform für
Rußland ehrlich überzeugt, aber der Zwang, die Staatsautorität wieder
herzustellen, führte ihn zuerst oft dazu, die verfassungsmäßigen Kompe-
tenzen mindestens zu berühren, wenn nicht zu überschreiten; er hatte dafür
auch eine unbedingte Stütze am Hofe und am Zaren. Darüber hinaus
legte der verhältnismäßig rasche Sieg über die Revolution den einfluß-
reichen Gruppen am Hose den Gedanken nahe, auch die gegebenen Zu-
geständnisse rückwärts zu revidieren, und mit der leidenschaftlichen Be-
tonung der „Samoderschawie", die trotz allem erhalten sei, wurden immer
wieder — unterstützt durch die zweideutigen Eingangsworte des 4. Ver-
fassungsartikels — Vorstöße in dieser Richtung gemacht. Der Einzel-
kampf zwischen Verwaltung und Parlament, der damit begann, erschwerte
den Oktobristen ihre Stellung als Mittelpartei immer mehr. War es
doch leichter, von rechts und links seinen Standpunkt in prinzipieller
Klarheit auszusprechen, als in der Mitte Kompromisse durchzuführen,
an deren Haltbarkeit häufig keineswegs die ganze Partei glaubte. Sie ist
darüber auch nicht zu einer wirklich festen und einigen Fraktion geworden.
Ferner wurden die politischen Parteigegensätze fortwährend durch
die agrarische Frage durchkreuzt. Zu einer eigentlichen Bauernpartei kam
es nicht, vielmehr fanden sich in den agrarischen Fragen die an ihnen
Interessierten aus allen Parteien zusammen und schoben so die politischen
Gegensätze zurück. Das aber hinderte wieder die Ausbildung scharf gegen-
einander abgegrenzter und geschlossener politischer Parteien.
Schließlich aber bildete der Nationalismus die Parteiverhältnisse um,
zu dem Stolypin im Frühjahr 1911 die volle Schwenkung vollzog, als er
in einem erneuten Staatsstreich die Verordnung über die Einführung der
Semstwos im Westgebiet mit dem Paragraphen 87 durchsetzte. Für seine
Politik, die für die Grenzmarken die Errungenschaften der Revolution
illusorisch machen wollte und immer mehr nationalistisch-aggressiv wurde,
suchte er daher seine Stütze in der gemäßigten und extremen Rechten, die
ihm eine Gruppe von fast 200 Mitgliedern in der Duma zur Verfügung
stellte. Die Legislaturperiode ging freilich zu Ende, ehe diese Entwicklung
zu einer vollständig neuen Parteigruppierung führte, zumal sich die
Oktobristen im Oktober 1911 mit den Nationalisten, wenigstens für die
Wahltaktik, zusammenschlossen. Sie haben dadurch ihre Stellung auch in
der vierten Duma in der Hauptsache behauptet, aber das Wesen ihrer
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 125
Partei insofern verändert, als die nationalistische Politik, der sie nun
mitdienen mußten und wollten, mit dem liberalen Inhalt ihres Pro-
gramms grundsätzlich nicht vereinbar ist.
Arbeitsfähig ist die Duma infolge des Staatsstreichs wenigstens ge-
worden; in den 5 Jahren ist auch außerordentlich viel in ihr gearbeitet
worden. Das fällt, abgesehen von jenen großen prinzipiellen Widerständen,
um so mehr ins Gewicht, als die Summe dessen, was zu tun war,
ungeheuer war. Denn eine Fülle von verwickelten Resormarbeiten forderte
nun Erledigung. Und dafür war die Zahl der zur Einzelarbeit geeigneten
und willigen Kräfte unter den Abgeordneten relativ geringer, als in irgend-
einem anderen Parlament. Aber — nach 5 Jahren lag diese Erfahrung
vor — Rußland hat derartige Kräfte in der Duma gehabt.
Bei ihrem Beginn stand die große Reformarbeit erst noch weniger
im Vordergrund als die Eingewöhnung in die Technik des parlamen-
tarischen Lebens überhaupt. Diese hat sich leichter und schneller bei den
Abgeordneten vollzogen als bei den Regierungsvertretern; jene haben sich
sehr rasch in die parlamentarische Routine nach dem europäischen Vorbild
gefunden. Das Präsidium und die zweite Vizepräsidentenstelle blieben
immer in den Händen der Oktobristen, während die Rechte die erste Vize-
präsidentenstelle besetzte; erst 1913 wurde auch diese mit einem Oktobristen
besetzt. Präsidenten waren N. A. Chomjakow (der Sohn des bekannten
Slawophilen) bis 1910, A. Gutschkow bis März 1911, seit dem M. W.
Rodsjanko, der auch Präsident der vierten Duma wurde^). Unter den
Vizepräsidenten sind Fürst W. M. Wolkonsk?) und namentlich Baron
A. Meyendorff zu nennen. Die Linke, auch die Kadettenpartei, blieb von
der Leitung der Dumageschäfte ausgeschlossen, was sich aus der Mehrheit
und dem Mißtrauen der konservativen Kreise gegen die Kadetten wegen
ihrer Haltung in der Revolution ergab. Die Kadetten haben das geschickt
ausgenutzt. Sie hatten dadurch den Vorteil geschlosseneren Auftretens in
der Duma, wobei sie durch ihre große Zahl bedeutender Köpfe unter-
stützt wurden; besonders trat unter ihnen Miljukow immer mehr
als der unbestrittene Führer hervor, der vorzüglichste Kenner der aus-
*) 1859 geboren, adliger Gutsbesitzer aus dem Gouvernement Jekaterinoslaw.
2) 1868 geboren, Gutsbesitzer und Adelsmarschall aus dem Gouvernement
Tambow, im Kriege Gehilfe im Ministerium des Innern geworden.
126
IV. Kapitel.
wärtigm, namentlich Balkanpolitik, der darin gelegentlich, wie in den Aus-
einandersetzungen mit Jswolski, geradezu Wortführer der gesamten Duma
war. Sonst hat infolge dieser Minoritätsstellung die positive Mitarbeit
der Kadetten an den großen Reformprojekten, vor allem der Agrarfrage,
gefehlt. Dafür nahm ihre Bedeutung im Lande immer mehr zu. Da
das Vertrauen zur Regierung, namentlich zur Ehrlichkeit ihrer konstitutio-
nellen Gesinnung sank, stieg der Kredit der Oppositionsparteien im Lande,
und je mehr die nationalistische Richtung der Regierungspolitik hervortrat
und je unsicherer die Stellung der Oktobristen dazu wurde, um so schärfer
und erfolgreicher konnte die Opposition der Kadetten werden.
Diese Dinge wurden aber erst im dritten und vierten Fünftel der
Legislaturperiode klarer. Zunächst ging man, während im Lande die
ordnungschaffende Politik des Premierministers nnmer erfolgreicher
voranschritt, mit voller Kraft und auch Lust an die Erledigung der Ge-
schäfte. Die Arbeit wurde dadurch erleichtert, daß die öffentliche Meinung
immer weniger in sie hereinredete; die Duma war eben keine vollkommene
Vertretung des Volkes, sondern nur eine solche der besitzenden Klassen, in
der die besitzlose Opposition ungenügend zu Wort kam. Andererseits
aber stand der Wille, zu arbeiten, vor großen Schwierigkeiten. Die
Verfassung enthielt Unklarheiten genug über die Kompetenzfragen. Deshalb
suchte man im ersten Übereifer so viel wie möglich an sich heranzuziehen
und die Regierung unterstützte in kluger Berechnung das: je mehr sich
das Parlament in Einzelheiten vergrub, um so mehr blieb die Staats-
gewalt in der Hand der Regierung.
Gleich die erste große Aufgabe der Budgetkritik zeigte alle diese
Klippen. Es drehte sich um ein Riesenbudget, das zwar seit Jahrzehnten,
seit 1863, veröffentlicht wurde, aber höchst unübersichtlich und vornehm-
lich unter dem Gesichtspunkt angelegt war, dem Auslande einen recht
günstigen Abschluß zu präsentieren. Die Spezialisierung der einzelnen
Titel war möglichst vermieden, zahlreiche Mißbräuche und Schiebungen
fanden sich in diesem Reichshaushalte. Technisch kam noch die Schwierig-
keit hinzu, daß das Budgetjahr unpraktischerweise mit dem 1. Januar
beginnt, so daß, weil die Duma nicht eher als im Oktober berufen werden
kann, die Zeit zur gründlichen Etatberatung regelmäßig sehr kurz war.
Die Duma hatte indes das Glück, vor allem in dem Oktobristen M. M.
Aleksjejenko einen ausgezeichneten Präsidenten ihrer Budgetkommission zu
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 127
finden, unter dessen Leitung die Behandlung und Kritik des Budgets rasch in
feste Bahnen gekommen ist; 1910 wurden nur 29, 1911 nur 17, 1912:
30 Sitzungstage gebraucht, um das Budget zum Abschluß zu bringen.
Die Regierung erleichterte diese Arbeit ganz und gar nicht. Ihr Stand-
punkt zum Budgetrecht der Duma war keineswegs klar und entgegen-
kommend. Das Budgetrecht an sich wurde ja nicht ernstlich bestritten,
aber seine Grenzen waren sehr unsicher. Zudem lag eine besondere Haupt-
schwierigkeit in der Stellung zum Zaren. Das absolute Rußland hat eine
Scheidung zwischen Schatulle und Staatssinanzen nicht ausreichend durch-
geführt; die Vorstellung blieb herrschend, daß der Staat mit seinen Ein-
nahmen und Gütern nichts als das Dominium des Zaren sei. Dann
aber richteten sich alle Erörterungen um das Budgetrecht gegen die
Person des Zaren selbst. Und dieses Verhältnis wurde noch peinlicher,
weil die Budgetkritik die Tätigkeit von Mitgliedern der Zarenfamilie direkt
berühren mußte. Eine ganze Anzahl höchster Staatsstellungen war in den
Händen von Großfürsten und unter der Leitung dieser großfürstlichen
Chefs waren die betreffenden Ressorts keineswegs Musteranstalten ge-
worden. Weil traditionell Mitglieder der Zarenfamilie an die Spitze
wichtiger Verwaltungszweige gestellt wurden, denen Sachkenntnis, Über-
sicht, oft auch guter Wille fehlte, war in wichtigen Ressorts Korruption
und Unordnung eingerissen, die sich im Kriege schwer gerächt hatten.
Schließlich hatten die Reichsgrundgesetze geradezu eine Mauer aufgerichtet,
über die die konstitutionelle Budgetkritik überhaupt nicht hinwegsteigen
konnte, in den sogen, gepanzerten Krediten, Teilen des Etats, die der Er-
örterung und Bewilligung der Duma von vornherein entzogen*) und
trotz des Bemühens der Duma, darauf Einfluß zu gewinnen, ein
unklares Gebiet geblieben sind. Das Problem, Budgetrecht und zarische
Prägorative in den Finanzen zu versöhnen und Reibungen auszuschalten,
ist noch nicht gelöst worden.
Bei Eröffnung der Duma wurde in der Presse folgendes Reform-
programm aufgestellt: neben den Budgetfragen die Ordnung und Dezen-
tralisation in der Verwaltung, die Agrarreform, die Verbesserung der
Lebenshaltung der Offiziere und Soldaten in der Landarmee, der Neubau
der Flotte, die Reform und der Ausbau des Eisenbahnsystems, die Volks-
y Siehe Kapitel VI.
128
IV. Kapitel.
bildung, die Reform der Lokalverwaltung, und des Lokalgerichts, dazu die
Folgerungen aus dem Toleranzedikt für das gesamte Kirchenrecht und
die Fragen der Unantastbarkeit der Person, der Preßfreiheit und Zensur,
die unmittelbar aus dem Wesen des Verfassungsstaates folgten, schließlich
Besserung allgemeiner Schäden des Staatslebens, wie der Lage der In-
dustriearbeiter oder der von mehrenen Abgeordneten leidenschaftlich be-
kämpften Trunksucht. Im ganzen ein Riesenprogramm, an das man häufig
in der glücklichen Naivität heranging, zu glauben, daß schon die gesetzliche
Maßnahme die Reform sei. Zu all den Aufgaben traten später die ver-
wickelten Gesetzentwürfe hinzu, die die Schwenkung der Regierung zum
Nationalismus mit sich brachte und die die Duma in große, zum Teil sehr
unfruchtbare Kämpfe Hereinrissen. Sie haben auch seit ihrer dritten Session
die Reformarbeit immer ergebnisloser gemacht.
Daß diese nicht so vorankam, wie es möglich und nötig war, hing
ferner mit der Stellung der Regierung zur Duma und mit der der ersten
zur zweiten Kammer zusammen. Je mehr sich die Staatsgewalt wieder
festigte, um so mehr verbreitete sich ja die Überzeugung, daß die Zugeständ-
nisse des Oktobermanifests zu weit gegangen seien. Sie offen zurück-
zunehmen, dazu fühlte sich die Staatsgewalt auch jetzt nicht stark genug.
Aber sie versuchte, die Kontrolle des Parlaments und die Beschränkung
der selbstherrlichen Gewalt in möglichst engen Grenzen zu halten. Und
wenn auch die Duma immer mehr ein organischer Faktor des Staats-
lebens wurde, so wußte Stolhpin, daß sie nach Zusammensetzung und
Wahlrecht eine grundsätzliche Opposition gegen die Regierung gar nicht
machen konnte, wenn sie nicht ihre eigene Existenz gefährden wollte. Die
Probe auf dieses Exempel machte er, als er vom beruhigenden, konstitu-
tionellen, reformierenden Staatsmann zum nationalistisch-konservativen
Minister wurde. Diese Entwicklung ging parallel, beeinflußte und wurde
ihrerseits beeinflußt durch die Erstarkung der nationalistischen Richtung in
der Duma, die sich vou 1909 an vollzog.
Als die dritte Duma zusammentrat, war vom Nationalismus noch
keine Rede. Die Adresse an den Zaren berührte nationale Fragen nicht,
sprach nur von der Konsolidierung der Größe und Macht des „unteil-
baren" Rußlands, und das Arbeitsprogramm, mit dem Stolypin am
29. November 1907 vor die Duma trat, erwähnte die nationalen Fragen
gleichfalls nicht. Aber daß sie von Bedeutung werden mußten, lag auf der
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 129
Hand; das große Problem, wie die konstitutionellen Forderungen mit dem
russischen Nationalitätenstaat zu vereinen seien, trat im Laufe des Jahres
1909 an Duma und Regierung heran. Dafür war nun sehr wesentlich,
daß nach der sozialen Struktur Rußlands die sich konsolidierende Rechte
der Duma nicht konservativ-aristokratisch*) sein konnte, sondern demo-
kratisch-agrarisch ist und sich als solche in einem großrussischen, chau-
vinistisch auftretenden Nationalismus fand, der geistig recht sehr aus Pob-
jedonoszews und Katkows Ideen schöpfte. Dagegen hatten in dieser Zentral-
frage weder die Oktobristen, noch ein großer Teil der Linken einen ent-
sprechend einheitlichen Standpunkt. Diese Veränderung in den Parieiver-
hältnissen wirkte auch auf den leitenden Staatsmann ein, der, je ruhiger das
Land wurde, immer mehr das Nationalitätenproblem aufnahm, so mit der
Gesetzgebung gegen Finnland, mit dem Gesetz über die Einführung der
Semstwos im Westgebiet und mit der Vorlage gegen die deutschen Kolo-
nisten. Im Kampf um die zweite Vorlage kam es im Frühjahr 1911
zur größten Krisis, die zu einem Staatsstreich Stolypins, zu erbitterter
Opposition in beiden Kammern und zu einem Rücktrittsgesuch Stolypins
führte. Sie endete aber mit seinem vollen Siege, weil der Zar, auch
wenn er Stolypin hätte preisgeben wollen, ihn schlechterdings nicht ent-
behren konnte.
Die Arbeit der Duma wurde sodann durch den Reichsrat erschwert.
Dieser stand, wenn nicht unbedingt auf der Seite Stolypins, so doch ent-
schieden auf der Seite der Regierung, des Bestehenden überhaupt. Er
war in eine erste Kammer verwandelt worden und besteh: nun halb aus
ernannten, halb aus gewählten Mitgliedern. Die ernannten Mitglieder
blieben derselben Art wie bisher: pensionierte Generale und Minister,
die aktiven Minister und andere hohe Würdenträger. Von den 98 zu
wählenden Mitgliedern sind 43 von den Semstwos, 18 von den Adels-
korporationen, 13 vom Großgrundbesitz in den Gouvernements ohne
Semstwos (namentlich im Westgebiet und den Ostseeprovinzen), davon
6 vom Großgrundbesitz des Königreichs Polen, 6 von der Geistlich-
keit, 6 von den Universitäten und von der Akademie der Wissenschaften
und 12 von Handel und Industrie zu wählen. Diese Zusammensetzung
9 Konservativ-aristokratische Elemente der Duma sind daher mit wenigen
persönlichen Ausnahmen merkwürdigerweise lediglich die Vertreter der Großindustrie
(der Börsenkomitees).
Hoetzsch, Rußland.
9
130
IV. Kapitel.
sichert den bureaukratisch-konservativen Elementen weitaus die Mehrheit;
die wenigen Liberalen, die die Universitäten oder Handel und Industrie
stellen können, spielen keine Rolle. Es waren daher nur verschiedene
Nüancen der konservativen Grundgesinnung, wenn sich auch im Reichs-
rat Parteien bildeten. Diese sind (ernannte und gewählte Mitglieder zu-
gleich umfassend) folgendes: die äußerste Rechte 70 Mitglieder, darunter
die meisten früheren Minister usw., geführt von P. N. Durnowo; das
— nationalistische — rechte Zentrum (19, geführt von Stolypins
Schwager Neidhardt), das für „ein Zusammenarbeiten des Reichsrats und
der Reichsduma" arbeitende Zentrum (60, dabei die Balten und Polen,
unter Führung A. A. Sabrurows), die Linke (12, unter Führung des
Professors Grimm, dabei die Vertreter der Universitäten) Parteilose (22).
Für sich steht die Gruppe der aktiven Minister (13). Die Führung und
mit der Neidhardt-Gruppe die absolute Mehrheit hatte die reaktionäre
Rechte unter Durnowo^).
Unter ihrem maßgebenden Einfluß sah der Reichsrat von Anfang an
seine Aufgabe geradezu darin, die gesetzgeberische Tätigkeit der Duma un-
möglich zu machen; es ist vor allem seine Schuld, wenn aus der Fülle von
Reformgesetzentwürfen, die die dritte Duma behandelt hat, verhältnis-
mäßig wenig Gesetz und Recht geworden ist.
Sicherlich hatte sich in den 5 Jahren der dritten Duma die kon-
stitutionelle Staatsreform noch nicht ganz eingelebt. Aber die Duma hatte
Lebens- und Arbeitsfähigkeit gezeigt, auch positive Arbeit reichlich ge-
leistet. Daß die Verfassung im Volke als notwendig empfunden wurde,
zeigte die Wahlbewegung für die vierte Duma. Trotz stärkster Beein-
flussung durch die Regierung und trotz der Unterstützung der Kirche, die
beide eine Dumamehrheit im Regierungssinne, d. h. eine nationalistisch-
konservative erstrebten, ging die gesamte Rechte eher geschwächt daraus
hervor.
Die Stärke der Parteien betrug im Dezember 1912, als die vierte
Duma ihre Arbeit begann: Rechte 64, Nationalisten 88, Gemäßigte Rechte
(oder Zentrum) 33 — 185; Oktobristen 99; Kadetten 58, Progressisten 47,
Arbeitsgruppe 10, Sozialdemokraten usw. 14 — im ganzen 129. Dazu
*) Die Zahlen nach dem Stande von Februar 1914.
s) 1844 bis 1916, Nov. 1905 bis Mai 1906 Minister des Innern.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 131
kamen 15 Polen, Litauer und Weißrussen, 6 Mohammedaner und 5
Parteilose. Daneben gibt es, die immer noch schwankenden Parteiunter-
schiede durchbrechend, unpolitische Gruppen: je eine Bauern-, Kosaken-,
städtische und Sentstwo-Gruppe.
Die großrussisch-orthodoxe Mehrheit wurde nicht verändert: über
380 Orthodoxe stehen rund 60 Andersgläubigen gegenüber. 366 sind
Großrussen, 19 Polen, je 9 Deutsche und Kleinrusscn, je 5 Litauer und
Tataren, je 4 Weißrussen und Armenier, je 3 Juden und Moldauer, je
2 Eschen, Letten, Griechen, Grusinier usw.
Hochschulbildung hatten 217, Mittelschulbildung 118, Volksschul-
bildung 75 und häusliche Bildung 29 Abgeordnete. Dem Berufe nach
gehörten 95 zur Intelligenz, 45 zur Geistlichkeit; 41 Adelsmarschälle
und 10 Arbeiter waren gewählt worden.
Nach diesen Parteizahlen hatte auch die vierte Duma kein festes
Arbeitszentrum. Für die Arbeitsmöglichkeit kam es darauf an, ob die
Rechte eine geschlossene Gruppe bildete und wie sich die Oktobristen stellen
und entwickeln würden.
Die Rechte ist überhaupt keine geschlossene Partei, auch nicht in den
nationalen Fragen, sondern umfaßt die eigentlichen Rechten, die auf
Grund der (groß-)russischen Staatsidee nationalistisch sind, und die Natio-
nalisten, die das auf Grund der slawischen Rassenidee, also Panslawisten
sind. Sie ist, wie erwähnt, demokratisch-agrarisch, — sind doch auch ihre
Führer vor allem Bureaukraten, Bauern und Geistliche. Immer deutlicher
ist das beim Werben der Parteien um das Volk geworden, d. h. um die
Bauernmassen, die in den großen monarchistischen Verbänden (Verband des
russischen Volkes, der russischen Leute, des Erzengels St. Michael) organi-
siert sind und das Rückgrat der Rechten bilden, aber auch der Agitation von
links zugänglich sind, jedenfalls nicht von Haus aus nationalistisch-
panslawistisch sind. Das gibt dem parlamentarischen Leben Rußlands
seinen besonderen Zug, daß ihm eine konservative Partei aus Adel und
Bürgertum fehlt, und daß sich vornehmlich nur (von der Geistlichkeit beein-
flußtes) Bauerntum und Intelligenz, deren Parteien (Kadetten und Pro-
gressisten) auch heute noch nicht „legalisiert" sind, sondern nur ungesetzlich
existieren, gegenüberstehen. Darin liegt eine Sicherung gegen alle wirklich
tief greifenden reaktionären, d. h. auf Beseitigung der Verfassung gerichteten
Tendenzen, jedoch eine geringe Sicherheit für ein ruhiges konstitutionelles
9*
132
IV. Kapitel.
Leben und eine noch geringere Sicherheit dafür, daß diese politische Ver-
tretung sich auch der Kulturaufgaben annimmt. Die Rechte hält die Ver-
fassung gegen die Linke und, wenn nötig, gegen die Regierung, nutzt sie
aber in ihrem engen, wesentlich von Bauerntum und Klerus bestimmten
Interesse aus.
Nun diente der Nationalismus und die nationalistische Bewegung vor
allem dazu, die verschiedenen Gruppen der Rechten immer mehr einander
näher zu führen, während sie sich an der reaktionären Politik der Regierung
viel weniger stießen als die Linke. Jnnerpolitisch war der Nationalismus
jetzt am besten in der großen Erklärung Kokowzows vor der Duma am
19. Dezember 1912 formuliert: „Auf diesem festen Boden (der bestehenden
Staatsordnung) sind die Regierungsinstitutionen zum unbeirrten Schutz
der von altersher zur Grundlage des russischen Staatslebens dienenden
und durch ihre Geschichte geheiligten Einheit und Unteilbarkeit des Reichs,
der Vorherrschaft der russischen Nationalität in ihm und des orthodoxen
Glaubens berufen, unter dessen wohltätigem Einfluß das russische Land
entstanden und gefestigt ist und lebt." Aus dem Boden dieses Programms,
das sie aktiver faßte als der Ministerpräsident, stand die Rechte ohne
Einschränkung. Seit 1908 aber — dem Jahre, in dem die Wendung
vom fernen zum nahen Osten bewußt erfaßt und aufgenommen wurde —
belebte sich der Nationalismus durch den Neopanslawismus, durch die
Krisen der Balkanhalbinsel und die mehrfachen Kriegsgefahren außer-
ordentlich. Das kam den Rechten vornehmlich zugute, und das nutzten sie
auch aus: sie blieben nationalistisch und sie wurden panslawistisch.
Letztere Strömung ergriff aber auch die Oktobristen, deren Führer
Gutschkow besonders sich immer leidenschaftlicher in sie hineinwarf.
Anderseits stellte die nationalistische Negierungspolitik namentlich in der
finnischen Frage und die steigende Reaktion diese Partei vor die Frage,
ob nicht ihr im Grund liberales Programm die Opposition gegen die
Regierung fordere. Auf Kongressen und im Hauptblatt der Oktobristen,
dem Golos Moskwy, machte sich Gutschkow zum Wortführer auch der
regierungsfeindlichen Richwng. Aber er brachte diese sonderbare Synthese
zwischen panslawistisch und oppositionell nicht zustande. Den schärfer
werdenden Parteigegensätzen fiel diese Mittelpartei zum Opfer; nach der
Parteikonferenz im November 1913 brach sie auseinander: eine Gruppe
von Linksoktobristen (Schidlowski, auch Mehendorff), eine zentrale der
Jmierpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 133
sog. Landschaftsoktobristm und eine der Rechtsoktobristen entstand. Gutsch-
kow, der seine Führerstellung darüber einbüßte, zog sich immer mehr vom
innerpolitischen Leben zurück und gab sich ausschließlich der immer fessel-
loser flutenden panslawistischen und deutschfeindlichen Welle hin. Seine
Partei verlor darüber bis zum Kriege an Bedeutung und gewann sie auch
im Kriege nicht zurück.
Durch dieses Heruntersinken der Oktobristen gewann der Liberalismus
aber nicht so viel, wie man annehmen mochte. Der reaktionären Politik
stand er freilich in scharfer Opposition gegenüber, in der Miljukow nach
wie vor führte. Aber es fehlte ihm schon das feste Programm und die soziale
Grundlage, um die Massen gewinnen zu können, und er fand auch keinen
festen Standpunkt zum Nationalismus. Außerpolitisch stand Miljukow,
der Vorkämpfer russischer Orientpolitik, gar nicht anders als Gutschkow,
ruhiger zwar, dafür orientierter und folgerichtiger. Und im Innern
wurde der Liberalismus immer großrussischer, besonders unter dem Ein-
fluß P. Struves, der die Einheit des russischen Staats und das Ideal des
„großen Rußlands" vertrat. Weder die finnische noch die polnische Frage,
weder die Klagen der Deutschen noch die der Kleinrussen haben in
diesen Jahren bei den Kadetten wesentlich Gehör gefunden. Sie sind
zentralistisch, großrussisch, ja chauvinistisch geworden und verfochten die
Angriffspolitik nach außen — als Oppositionspartei brauchte sie trotz
großer Reden keine Regierung zu fürchten.
Noch weniger hatte sie von Sozialdemokraten und Sozialrevolutio-
nären zu besorgen. Deren Parteien verfielen, hatten weder innere Kraft
noch Organisation. Auch die Streikbewegung, die in der ersten Hälfte
1914 sehr anschwoll — Juli 1914 zählte man 951 Streiks mit 322 000
Streikenden — schien nur politisch zu werden, sie machte die Arbeiterparteien
der Regierung nicht gefährlich.
Die Parteigruppierung war bei Ausbruch des Krieges diese: Rechte
59, Nationalisten 86, Zentrum 33, Rechtsoktobristen 23 — 201; Land-
schaftsoktobristen 64, Linksoktobristen 20; Kadetten 56, Progressisten 44,
Arbeitsgruppe 10, Sozialdemokraten 14 — im ganzen 123; 9 Parteilose
und 20 Nichtrussen. Eine feste Mehrheit war danach noch weniger als
zu Anfang vorhanden.
Am 14. September 1911 war Stolypin durch ein Attentat in Kiew
ermordet worden; sein Nachfolger wurde W. N. Kokowzow, der das
134
IV. Kapitel.
Portefeuille des Finanzministers beibehielt*). Kokowzow, der bedeutendste
Schüler Wittes, hat dessen Werk in den gleichen Bahnen und, unterstützt
durch die guten Ernten, mit gleichem Erfolge fortgeführt. Als Minister-
präsident wollte er2) auf der Grundlage des Oktobermanifestes in einem
monarchisch-konstitutionellen Staatswesen unter entschiedener Wahrung
seiner historischen und politischen Einheit eine gewaltige Summe von
Einzelreformen durchführen. Aber, selbst weder reaktionär noch extrem-
nationalistisch noch gar Kriegshetzer — von der Notwendigkeit friedlicher
Politik war er so tief überzeugt wie Witte —, hat er diesen drei Tendenzen
in der Leitung des Staates nicht erfolgreich Widerstand leisten können. Die
unaufhaltsam stärker werdende Strömung gegen die Verfassung und die
Duma, in seinem Kabinett durch die Minister des Innern Makarow und
Maklakow, den Justizminister Schtscheglowitow und den Oberprokuror
Sabler vertreten, hemmte die Reformarbeit immer mehr und zwang
Kokowzow zu Kompromiß und Nachgiebigkeit, die ihn trotz seiner großen
Gewandheit schließlich doch nicht hielten. Man konnte nicht zugleich Ver-
fassungsminister und Reaktionär, Nationalist und europäischer Reformer
sein — an der Unmöglichkeit, diese Gegensätze auszugleichen, da er nicht
entschlossen und stark in einer Richtung zu gehen vermochte, ist Kokow-
zow gescheitert. Am 13. Februar 1914, wurde er, mit dem Grafentitel,
unerwartet verabschiedet, sehr erfolgreich als Finanzminister und ohne
wesentlichen Ertrag seiner Arbeit als Ministerpräsident. Sein Nachfolger
als Finanzminister wurde P. Barkb), a(g Ministerpräsident I. W.
Goremykin').
Die Reskripte des Zaren an beide, vom 13. Februar an Bark und
vom 19. März an Goremykin, schienen durch den Herrscher selbst neue
Richtlinien für eine Politik anzugeben, die aus der Stagnation heraus-
st 1853 geb., 1890 Gehilfe des Staatssekretärs des Reichsrats, 1896 Adjunkt
Wittes, 10. Mai 1906 Finanzminister, 23. Sept. 1911 auch Ministerpräsident,
13. Februar 1914 verabschiedet.
9 Vgl. seine Erklärung vor der Duma am 19. Dezember 1912.
9 1869 geb., unter Whschnegradski ins Finanzministerium eingetreten,
Sekretär Wittes, in der Reichsbank und in der Wolga-Kama-Bank tätig, zuletzt
Gehilfe im Handelsministerium.
9 1839 geb., Vizegouverneur von Plock u. Kjelce, 1891 Gehilfe des Justiz-
ministers, 1895 bis 1899 Minister des Innern, 10. Mai bis 21. Juli 1906
Ministerpräsident.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 135
führen sollte. Bark wurden „radikale Reformen in der Verwaltung der
Staatsfinanzen und der wirtschaftlichen Aufgaben des Landes" aufge-
tragen; der Zar nahm dabei auf persönliche Eindrücke von den schlechten
wirtschaftlichen Zuständen im Lande bezug. Ausgeführt davon wurde bis
zum Ausbruche des Weltkrieges nichts. Erst dieser gab zu einer grund-
legenden finanz-politischen Änderung Veranlassung mit der Auf-
hebung des Branntweinmonopols, um dessen Reform sich die Debatte
vor und nach Kokowzows Rücktritt gedreht hatte. Das Reskript an
Goremykin klang zwar den Gedanken jenes Witteschen Berichts, der das
Oktobermanifest 1905 veranlaßt hattet, in manchem ähnlich, war aber
unklar und unbestimmt, positiv nur in seinem entschieden nationalistischen
Zuge. Die Weisung eines „Einvernehmens zwischen der Regierung und
den gesetzgebenden Institutionen" wurde zudem durch die Persönlichkeit
des Adressaten von vornherein hinfällig. Denn Goremykin, entschieden
konservativ und großrussisch-nationalistisch, legte vor allem Gewicht darauf,
daß die Bauernmasse im richtigen Verhältnis zu ihrem Staate stehe;
dem Liberalismus war er entschlossen feindlich, und er rührte, in dem
Bestreben, die Rechte der „Selbstherrschaft" unbedingt zu erhalten, in
der Praxis auch an unzweifelhafte Rechte der Verfassung. Damit wurde
der latente Konflikt zwischen Verfassungsparteien und Reaktion, der in
der Kontrerevolution seit 1908 immer mehr zugenommen hatte und den
Kokowzow nicht hatte lösen können, akut. Es kam in der Duma
zu Szenen, die an die stürnüschen Tage von 1906 erinnerten, zu leiden-
schaftlichen Angriffen auf die Minister, auf Rasputin^) u. a., zu Skan-
dalen und Obstruktion gegen den greisen Ministerpräsidenten. Auf Seiten
der Regierung, die vom Reichsrat unbedingt unterstützt wurde, war aber
nicht der geringste gute Wille zu erkennen, mit der Duma zu arbeiten. Die
Hoffnung, organische Reformen durchzubringen, schwand ganz, weder
y S. oben S. 100.
s) Gregor Rasputin, ein in den fünfziger Jahren stehender, ungebildeter,
aber begabter sibirischer Bauer, der, halb Charlatan, halb Gläubiger, als religiöser
Kurpfuscher und Gesundbeter auf den Zaren und seine Familie großen Einfluß
gewann. Am 11. Mai 1914 sagte Miljukow von ihm in der Duma, daß Rasputin
1913 über Krieg und Frieden entschieden habe: „So liegt die Kirche in den Händen
der Hierarchie, die Hierarchie ist Gefangene des Staates und der Staat ist
Gefangener eines — Landstreichers."
136
IV. Kapitel.
Regierung noch Reichsrat schienen solche auch nur zu wollen, und ihr
Programm schien die Auflösung dieser Duma, die von Haus aus gar nicht
oppositionell war, vielleicht noch mehr: die Suspension oder wenigstens die
Revision der Verfassung im reaktionären Sinne zu sein. Diese Politik
steigerte und verstärkte die Opposition in der Duma, der sich auch der
größte Teil der Oktobristen anschloß. Die Unzufriedenheit wurde so be-
drohlich, daß Menschikow, der bekannte Mitarbeiter der Nowoje Wremja,
schrieb, es „rieche nach 1905", und man fand, die Haltung der Bureau-
kratie erinnere an ihr Auftreten unter Plehwe. Aber der Zar, auf den
die trotz allem sehr patriotische Haltung der Duma in den Landesverteidi-
gungsfragen wirkte*), war nicht geneigt, den Bogen überspannen zu lassen.
Im Juli mehrten sich die Anzeichen eines Kurswechsels: der bedeutendste
Kopf im Kabinett, der Landwirtschaftsminister A. W. Kriwoscheinch
hatte dem Zaren ein großes Reformprogramm einreichen können und galt
als Goremykins Nachfolger im Sinne der Forderungen der Gesellschaft.
Der Kriegsausbruch durchschnitt das alles. In der ersten Kriegssitzung
der Duma am 8. August 1914 wurden die schweren Kämpfe der ersten
Jahreshälfte beiseite geschoben, die Duma trat fast geschlossen an die Seite
der Regierung.
Man hat vermutet, daß die Regierung den Krieg als Blitzableiter
für eine innere Krisis benutzt habe, deren sie nicht mehr Herr werden
konnte. Richtig ist wohl, daß dem Zaren die Vorstellung erweckt wurde,
das Land stehe vor einer Revolution. Die innere Lage wurde als hoff-
nungslos empfunden und dargestellt, Sensationsprozesse förderten die all-
gemeine Spannung und die innerpolitische Atmosphäre schien einer Ent-
ladung gegen die Reaktion und Willkür der Regierung und Verwaltung
zuzutreiben. Aber das galt nur für die großen Städte, die sog. Gesellschaft
und die Arbeiterschaft; „100 Werst im Umkreis von den Zentren, sagte
Kokowzow, gehe die Unzufriedenheit, nicht weiter." Die Provinz war still,
die Grenzmarken auch. Das Bauerntum stand der Politik wieder ganz
fern, war mit der Agrarreform, die in eiliger Arbeit einen individuell
wirtschaftenden Bauernstand schaffen wollte, beschäftigt, und in der Armee
rüstete man auf den Krieg. Ohne Bauern und ohne Armee aber war an
9 S. Kapitel IX.
2) 1859 geboren, 1908 bis 1915 (8. November) Landwirtschaftsminister.
Jnnerpolitisches Leben, Parteien und Staatsmänner von 1906—1914. 137
keine Revolution zu denken, verpuffte die Aufregung des politischen
Treibens in Petersburg und Moskau und konnte sich die Gärung der
Arbeiterschaft nicht über Streikdemonstrationen hinaus erheben. —
Die Jahre 1904 bis 1906 waren eine Zeit revolutionärer Hoch-
spannung, die zeitweilig den größten Teil des Volkes mitriß. Ihnen
folgte eine Depression etwa bis 1910 und die Gegenrevolution. Diese
verband sich von Jahr zu Jahr mehr mit der aggressiv-patriotischen
und nationalistischen Stimmung, die auch die gebildeten oppositionellen
Kreise ergriff und ihren Widerstand gegen die Reaktion schwächte. Aber
die Duma und Verfassung zu beseitigen hat diese nicht gewagt. Das
politische Leben des Jahrzehnts von 1904—1914 schloß damit ab, daß
Rußland als monarchisch-konstitutioneller Staat in den Weltkrieg herein-
ging.
V. Kapitel.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
I. Die volkswirtschaftliche Struktur des Kerngebietes und der Grenzmarken
bei Ausbruch des Weltkrieges.
Mit wenigen Strichen ist ein vorläufiges Bild von der Volkswirt-
schaft Rußlands zu entwerfen, damit sich auf diesem Hintergrund die
Agrarfrage, die Finanz- und Wirtschaftspolitik und der kapitalistische
Stand der Gegenwart richtig abhebe. Das Reich ist überwiegend Agrar-
land und steht in der Frühzeit des Kapitalismus, der nur in den Grenz-
marken schon zur Reife gekommen ist. Kernrußland ist noch in den
Anfängen einer Volkswirtschaft, aber durch die Bedürfnisse seines Staates,
die zu starkem Getreideexport zwingen, schon fest an die Weltwirtschaft
geknüpft. Der asiatische Reichsteil, einschließlich des Kaukasus, ist wirt-
schaftlich, außer einigen Ansätzen in der westsibirischen Landwirtschaft und
in der Baumwollkultur Turkestans, noch nicht organisch mit dem euro-
päischen verbunden*). So ist in diesem Wirtschaftsleben vieles rudimentär
und vieles Symptom einer Übergangszeit, in der der unfertige Charakter
der Volkswirtschaft und ihre trotzdem enge Verbindung mit der Welt-
wirtschaft für das Volk im ganzen noch recht unerfreuliche Folgen mit sich
bringen.
Die wirtschaftlichen Verhältnisse der, auch wirtschaftlich mit dem
Ganzen organisch zusammenhängenden, Grenzmarken, d. h. Finnlands,
der Ostseeprovinzen und Polens* 2), sind ausgeglichener und reifer als die
des Zentrums, und zwar in dieser Stufenfolge nach aufwärts: Ostsee-
provinzen, Finnland, Polen.
*) Die wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Gebiete als der Kolonien werden
daher in Kapitel IX behandelt.
2) Bessarabien unterscheidet sich wirtschaftlich kaum vom Kerngebiet.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
139
Die Ostseeprovinzen sind ein agrarisches Gebiet, in dem die Bauern-
befreiung so gut wie restlos durchgeführt ist. Dadurch hat sich ein selb-
ständiger und wohchabender (lettischer und esthnischer) Bauernstand ent-
wickelt, der zu dem vornehmlich in deutschen Händen befindlichen Groß-
grundbesitz nur noch in wirtschaftlicher Beziehung steht. Der Prozeß des
Übergangs des bäuerlich bestellten Landes in bäuerliches Eigentum ist
nahezu vollendet. Aber obwohl damit die Vorbedingungen für den
Kapitalismus auch in der baltischen Landwirtschaft gegeben waren und
diese in der Hauptsache auch kapitalistisch arbeitet, hat der Kapitalismus
nicht bauernlandvermindernd wirken können, weil durch den in Geltung
gebliebenen sog. „roten Strich" das eigentliche Bauernland für Legungs-
tendenzen unangreifbar blieb. Daher ist bei aller Kompliziertheit der
Besitzverhältnisse ein gesundes Verhältnis der Besitzverteilung zwischen
großem, mittlerem und kleinem Besitz entstanden. Und deshalb war für
die Revolution, die 1905/06 gerade diese Gebiete mit besonderer Heftigkeit
ergriff, ein wirtschaftlicher Grund nicht vorhanden. Die wirtschaftlichen
Verhältnisse waren im Gegenteil gesund und gut, von Ausbeutung und
Knechtung der Bauern durch die deutschen Barone schon deshalb keine
Rede, weil dazu alle wirtschaftlichen und rechtlichen Vorbedingungen
fehlten. Wirtschaftlich hatte die Revolution die Folge, daß sie einen großen
Teil des Wohlstandes im Großgrundbesitz vernichtete oder erschütterte,
und daß der Großgrundbesitz daraufhin zu einem Teile begann, die alten
wirtschaftlichen Beziehungen zur bäuerlichen Bevölkerung zu lösen. Er
bestrebte sich, an Stelle der lettischen und esthnischen Landarbeiter und
Pächter Deutsche als Arbeiterkolonisten anzusiedeln, russische Untertanen
aus den Wolgagegenden oder aus Wochynien, die durch den Nationalismus
oder andere Motive von ihrer Scholle gelockert wurden.
Neben diesen landwirtschaftlichen Verhältnissen steht ein alter, in
den deutschen Städten domizilierender Ostseehandel und eine erst in der
Gegenwart stärker entwickelte Industrie.
Der Handel zieht in denselben Bahnen, wie sie vor Jahrhunderten
von der Hansa zuerst befahren wurden, und hat auch an seinem Teile
unter der Zurückdrängung des gesamten Ostseehandels in der Weltwirtschaft
zu leiden gehabt. Dazu kam, daß die wirtschaftlichen Vorteile der baltischen
Häfen: Libau, Riga und Reval, nicht ausgenutzt wurden, weil das natur-
gegebene Hinterland des Reiches, das an dieser Stelle die jahrhundertelang
140
V. Kapitel.
umkämpfte Verbindung mit dem Meere gefunden hat, verkehrspolitisch
nicht fest genug an die baltische Grenzmark gekettet wurde; nationalistische
Abneigung gegen die im wesentlichen noch deutsch bestimmten Ostsee-
provinzen und die Rivalität der innerrussischen Handels- und Industrie-
kreise, namentlich Moskaus verhinderten ausreichende Eisenbahnver-
bindungen. Deshalb konnten die Ostseeprovinzen nicht die Stellung in der
Volkswirtschaft des Reiches, die ihnen nach ihrer geographischen Lage und
wirtschaftlichen Struktur zukam, gewinnen.
Erst in der neuesten Zeit, unter Witte, sind industrielle Unter-
nehmungen in größerem Maßstabe entstanden, in Libau, Reval und
namentlich in Riga, das ein Industriezentrum ersten Ranges geworden
ist. Diese Unternehmungen sind zumeist nicht in national-russischen,
sondern in deutschen Händen oder stehen unter dem Einfluß ausländischen
Kapitals. Sie haben eine breite kapitalistische Bourgeoisie noch nicht
schaffen können; wirtschaftlich und sozial ist vielmehr im ganzen Gebiete der
Großgrundbesitz der bestimmende Faktor geblieben. Aber sie haben in
diesen Städten eine Arbeiterbevölkerung und damit eine Sozialdemokratie
entstehen lassen.
Ein Stufe kapitalistischer ist Finnland, dessen Zusammenhang mit
der Volkswirtschaft des Reiches noch lockerer ist, als der der baltischen
Provinzen — es war ja auch ein selbständiges Wirtschafts- und Zollgebiet
innerhalb des Reiches. Das Land ist gleichfalls wesentlich agrarisch, aber
Waldwirtschaft und Viehzucht stehen dem Getreidebau an Bedeutung
voran. Daneben geht ein beträchtlicher Handel mit dem Reich, Deutschland,
England, Skandinavien einher. Die Industrie hat sich erst in der Gegen-
wart mehr ausgedehnt, vor allem in der Holzverarbeitung und in der
Ausbeutung der Mineralbodenschätze.
Die soziale Struktur ist demokratischer als in den baltischen Provinzen,
da der Adel zahlenmäßig und wirtschaftlich schwach ist. Das Land
hat einen gesunden und selbstbewußten Bauernstand und ein ebensolches
Bürgertum und Intelligenz — das sind die führenden und bestimmenden
Schichten.
Abermals eine Stufe höher steht das wirtschaftliche Leben im Zartum
Polen. Hier sind rechtliche und wirtschaftliche Vorbedingungen zusammen-
gekommen, um in einem Menschenalter (seit 1863) einen vollständig reifen
Kapitalismus und eine dementsprechende soziale Gliederung zu schaffen.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
141
Nachdem im Aufstande von 1863 die Hoffnungen auf die Wieder-
herstellung Polens zu Boden geschlagen waren, setzte eine friedliche Er-
neuerung ein. In der Bauernbefreiung, die nun, von 1864 an, nachdem 1807
der code Napoleon die persönliche Freiheit der Bauern ausgesprochen
hatte, vollständig durchgeführt wurde, begünstigte die russische Regierung
die Bauern sehr stark gegen den Adel, um sie sich ergeben zu machen.
So konnte sich, unterstützt durch den guten Boden, in Polen gleichfalls
ein kräftiger Bauernstand entwickeln, und damit sind auch hier gesunde
agrarische Verhältnisse entstanden. Der Großgrundbesitz ist zum Teil
durch die russische Politik zerrieben worden, zum Teil hat er sich in die neue
kapitalistische Betriebsweise gut gefunden und sich dadurch neu fundiert.
Mit der Bauernbefreiung wurden sodann Hände zur Ausbeutung der
großen industriellen Möglichkeiten in diesem Lande frei. Diese ist mit der
Arbeitskraft des polnischen Volkes und mit der Technik und dem Kapital
des Auslandes, d. h. Deutschlands und Frankreichs geschehen. Diese
Faktoren aus dem Auslande haben die Textilindustrie vor allem in Lodz
und 2yrardüw, die Maschinen- und Zuckerindustrie in und um Warschau
geschaffen und die Ausbeutung der Bodenschätze an Steinkohle, Eisen-
und Zinkerzen im Süden um Dombrowa, in der Fortsetzung des ober-
schlesischen Kohlenreviers, begonnen. Durch die Schutzzollpolitik wurden
diese günstigen Vorbedingungen weiter unterstützt. Dazu hatte sich seit
1851, mit der Aufhebung der Zollgrenze zwischen Polen und dem eigent-
lichen Rußland, für den polnischen Gewerbefleiß ein ungeheures Absatz-
gebiet neu aufgetan und kamen in den neunziger Jahren als weiteres
kapitalistisches Motiv die aus Deutschland fließenden Löhne der Saison-
arbeiterwanderung hinzu. Aus diesen Gründen erklärte sich die amerikanisch
rasche Entwicklung des Landes, die etwa im Steigen der Einwohnerzahl
von Lodz am augenfälligsten erschien.
Für die Gegenwart ergab das folgende Struktur. Zu dem starken
Bauernstand trat eine Großindustrie und damit eine Bourgeoisie hinzu,
in der das Polentum stark genug gewesen ist, die fremden (deutschen,
französischen und jüdischen) Elemente sich zu assimilieren. Die Ent-
wicklung hat so weit geführt, daß der Wert der Industrieproduktion^)
bei weitem den der landwirtschaftlichen übersteigt, und daß diese frühere
') 1880 erreichte er zuerst den der landwirtschaftlichen Produktion.
142
V. Kapitel.
Kornkammer Europas heute den eigenen Bedarf an Nahrungsmitteln nicht
mehr aus sich selbst deckt. Dadurch hat Polen zu seinem Bauern- und
Bürgertum und dem Teile des Adels, der der neuen Verhältnisse Herr
geworden ist, eine gewaltige Jndustriearbeiterschaft erhalten. Dieser ganz
reife polnische Kapitalismus, der eine eigene polnische Volkswirtschaft und
einen Aufbau der Gesellschaft, wie ihn das selbständige Polen niemals
gehabt hat, entstehen ließ, verknüpfte andererseits das Zartum viel enger
mit dem russischen Reiche, als es vor 1863 der Fall war. Es brauchte
die Nahrungsmittelzufuhr aus dem Reichsinnern und gab dafür seine
industriellen Produkte ab, insonderheit die der Textilindustrie, die in einem
lebhaften Konkurrenzkämpfe mit der Moskauer Textilindustrie steht. Als
Techniker, Ingenieure und ähnliche Pioniere eines modernen wirtschaftlichen
Lebens haben sich die Polen zudem überallhin über das weite Reich
verbreitet, während die Tätigkeit des polnischen Kapitals im Innern
eben erst begann.
Ganz anders sehen die wirtschaftlichen Verhältnisse in Kern-Rußland
aus. Dieses Gebiet, in der Hauptsache noch agrarisch, lebt mit einer reichen
Natur und einer armen Bevölkerung, in einer rückständigen, kapitalarmen
Technik und Organisation des landwirtschaftlichen Betriebes^), und mit
einer Organisation des Getreidehandels, die trotz der großen Bedeutung des
Getreideexports für Staat und Volkswirtschaft unvollkommen und un-
rationell geblieben ist.
In der Landwirtschaft drängt die außerordentlich kurze — je weiter
nach Osten, um so kürzere — Bestellungs- und Vegetationsperiode die
Arbeit sehr zusammen. Der Bauer hat also hier viel mehr unbeschäftigte
Zeit, als der polnische oder lettische oder gar der westeuropäische Bauer.
Diese freie Zeit wird heute noch zu einem großen Teile volkswirtschaftlich
nutzlos vertan, ist aber auch die Voraussetzung für zwei wichtige wirt-
schaftliche Erscheinungen.
An Ort und Stelle wird sie seit alter Zeit zum Hauswerk (Kustar)
genutzt, das infolgedessen und bei der großen manuellen Geschicklichkeit
i) Doch gibt es eine sehr bedeutende Zuckerrübenindustrie (mit dem Mittel-
punkte Kiew) und ein landwirtschaftliches Brennereigewerbe, das % des gesamten
Branntweinquantums liefert (mittlerer Schwarzerderayon, dann erst das Nordwest-
gebiet, das Weichselgebiet, auch die Ostseeprovinzen).
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
143
des Volkes entwickelt worden ist, wie an nur wenig Stellen außer-
halb Rußlands*). Dieses Hauswerk führt dem Bauerntum schätzungs-
weise über Yi Milliarde Rubel jährlichen Verdienstes zu und hat zudem
in seiner Weise die Verbindung mit der Weltwirtschaft gefunden, indem
seine Produkte über die Grenze gehen und im Auslande lebhaft gefragt
werden.
Auf das Hauswerk hat sich dann weiter eine Industrie aufgebaut,
indem sich das Hauswerk an manchen Stellen sehr differenzierte und
in weitgeführter Arbeitsteilung Produkte herstellt, die man sich sonst nur
in fabrikmäßiger Produktion hergestellt denken kann. Z. B. wurde bis
in die Gegenwart der gewaltige Bedarf an Samowaren durch diese Organi-
sation des Hauswerks gedeckt. So entsteht, indem zum Hausfleiß ein
Zwischenmeister- und Kleinunternehmertum hinzutritt, bereits eine be-
sondere Form der Industrie.
Die freie Zeit des Bauern wird weiter wirtschaftlich genutzt, indem der
Bauer aus seinem Dorf auswandert, sich anderswo Arbeit sucht und nur
zu der kurzen Bestellungs- und Erntezeit heimkehrt. Diese Binnen-
wanderungen schaffen zu einem Teil die Möglichkeit großindustrieller Pro-
duktion, aber sie sind auch eine gewaltige Verschwendung von Zeit und
Kraft und so ein Organisationsfehler in der Volkswirtschaft.
Von den Motiven der Entstehung einer Großindustrie, nämlich den
Bedürfnissen des Verkehrs und der Bauernbefreiung^), wurde schon ge-
sprochen. Sie schufen vornehmlich die Eisen- und Textilindustrie, jene im
südrussischen Montanbezirk (seit 1860), diese im Textilindustrierayon von
Moskau, Wladimir und Kostroma. Die natürlichen Voraussetzungen
waren in den Erzlagern des Südens (am Donez und um Kriwoi Rog
im Knie des Dnjepr zwischen Krementschug und Cherson) und des Süd-
Urals gegeben, während die Bodenschätze des Kaukasus, Turkestans und
Sibiriens dafür noch kaum erst herangezogen sind. Die Textilindustrie
deckt ihren Bedarf an Baumwolle schon zur Hälfte mit einheimischem Roh-
0 Kustar ist die russische Form des (nach der Terminologie Büchers) so-
genannten Hauswerks, der gewerblichen Bearbeitung selbsterzeugter Rohstoffe
zunächst für den Hausbedarf, dann für den Markt (2. Stufe), die auch in die
Hausindustrie (bei der ein Unternehmer Arbeiter in ihren Wohnungen beschäftigt)
übergeht.
-) S. oben S. 70.
144
V. Kapitel
material, aus Turkestan. Kohle ist namentlich in den Becken des Donez
und von Dombrowa vorhanden; beide zusammen deckten 1913: 95%
der ganzen 30,7 Millionen Tonnen betragenden Kohlenförderung'), das
von Dombrowa mit fast 6 Millionen Tonnen %—% der Gesamt-
förderung. Die Kohlenvorräte sind sehr ungleich verteilt und stehen nicht
im Verhältnis zur Ausdehnung des Reiches- Die Standorte der Industrie
sind außer im Donezbecken (und in Polen) nicht von der Natur gegeben;
am auffälligsten ist das bei der um Wladimir zusammengeballten Textil-
industrie, die gleichweit vom Meer und vom Heizmaterial entfernt ist.
Auch die Eisenindustrie ist durch die Entfernung zwischen den Erz- und
Kohlenlagern behindert. Die Wärmeversorgung sonst wird durch den
Holzvorrat erleichtert: der Norden heizt mit Holz, auch auf den Eisen-
bahnen, die sich im Süden neben Kohle auch mit Masut (dem Rück-
stände der Naphtha) behelfen.
Für das Kerngebiet ergibt sich somit im großen folgende wirtschaftliche
Gliederung. Zwischen dem nördlichen Waldgebiet und der südlichen
Schwarzerde liegen die gewerblichen Übergangsgouvernements in den
Becken der oberen Wolga und Oka und zwischen beiden Flüssen, während
das gewaltige Industriezentrum Petersburg für sich steht. Das West-
gebiet ist agrarisch und nur durch die landwirtschaftlichen Nebengewerbe
mit der Industrie verbunden. Die Steppe im Süden wird durch die süd-
russische Montan- und Kohlenindustrie zwischen Dnjepr einerseits und
Don und Donez andererseits unterbrochen; Jusowka, das den Namen
jenes Engländers Hughes^) festhält, liegt, nordwestlich von Taganrog,
ungefähr in der Mitte zwischen diesen beiden Linien. Im Osten, d. h.
im mittleren und Südteile des Südurals (südlich Jekaterinburgs) schließen
die Bergwerke und Hütten diese Gruppierung ab, in der der alte historische
Mittelpunkt Moskau auch das modern-wirtschaftliche Zentrum geblieben
ist und bleibt.
Zwei besondere Züge trägt diese Großindustrie noch heute an sich:
daß sie vornehmlich durch Willen und Interesse des Staates geschaffen ist
und von beiden abhängig bleibt, und daß sie in der Hauptsache mit
') Damit steht Rußland an siebenter Stelle unter den kohlenförderndm
Staaten, nur wenig höher als Belgien.
*) S. oben S. 144.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
145
fremdem Kapital entstand. Sie wurde unvermittelt auf die vorhandene
unfertige Wirtschaftsorganisation aufgesetzt und ist an der Entfaltung zu
ganz kapitalistischen Formen neben allem anderen durch die Sicherheit
der staatlichen Preise und durch die Schutzzollpolitik behindert. Aber im
letzten Jahrzehnt vor dem Kriege deckte der Staat doch durchschnittlich 94%
des jährlichen Eisenkonsums durch die heimische Produktion^).
Im Handel stehen uralter Messehandel und moderner Handel noch
nebeneinander. Die Bedeutung, namentlich der Messe von Nischni-Now-
gorod ist heute erschüttert, aber keineswegs erloschen: sie ist längst nicht
mehr so wichtig für den Fernhandel mit Asien — darin lag der Grund
ihrer Entstehung wie ihre frühere Bedeutung —, dafür aber immer
wichtiger für den Binnenhandel des Reiches geworden. Da kommen
immer noch alljährlich ungeheure Massen von Waren aus allen Teilen
des Reiches zusammen, und zwar in Natur. Denn es wird nicht noch
Proben gehandelt, sondern der Messecharakter ist heute noch völlig erhalten,
wie die Typen der Kaufleute, die in uralten Formen, mit dem Rechenbrett
und ohne moderne Buchführung, Millionengeschäfte machen. Daneben steht
der moderne Großhandel, am wichtigsten der Großgetreidehandel. Aber der
Umfang dieses Großhandels, in dem zudem das ausländische Element
besonders wichtig ist, hat bisher ebensowenig wie der der Industrie für den
sozialen Aufbau Kernrußlands ausgereicht, eine Bourgeoisie und einen
Mittelstand zu schaffen.
Die Eigenart der weltwirtschaftlichen Beziehungen, die sich so er-
geben hat, ist die, daß das russische Reich nach dem (europäischen) Westen
Getreide und nach dem (asiatischen) Osten industrielle Produkte exportiert,
und daß es aus jenem Westen industrielle Produkte und aus diesem Osten
solche der Urproduktion importiert. Schwierigkeiten schafft die Verbindung
über See, nach Nordwesten, wo nur der südlichste der Ostseehäfen, Libau,
das ganze Jahr eisfrei ist, Kronstadt 163, Helsingfors 139, Baltischport
33 Tage zugefroren sind, während im Südwesten der Verschluß der Meer-
engen nach dem Mittelländischen Meere auch im Frieden drohte, so in den
Balkankriegen, da die Türkei sie auch für den neutralen, also damals
auch den mssischen Handel schloß.
*) Der Eisenkonsum betrug auf den Kopf der Bevölkerung im gleichen Durch-
schnitt jährlich 1,13 Pud (in Deutschland 11,47 Pud).
Hoetzsch, Rußland.
10
146
V. Kapitel.
Vom Handwerk ist eigentlich nur im Zusammenhang mit der Land-
wirtschaft die Rede: der wichtigste Teil ist auch heute noch das Hauswerk
in seiner — quantitativ, wie nach der Differenzierung seiner Zweige —
gewaltigen Ausdehnung. Das selbständige Stadthandwerk ist größtenteils
nicht organisch entstanden, sondern durch fremden Import, in dem sich
Handwerk und Künstlertum oft eigenartig mischten. Spuren davon sind
in den Organisationen der Kaufleute und Handwerker heute noch erhalten,
neben denen die nationale Organisationsform des Artjels stehtft.
Alles das ergibt heute dieses Bild: eine agrarisch wirtschaftende und
lebende Masse, die noch tief in der Naturalwirtschaft steckt, aber durch den
Getreideexport bereits von den Schwankungen der Weltkonjunktur abhängig
ist — ein zahlenmäßig schwaches Unternehmer- und Bürgertum, dessen
in der Hauptsache nicht russische Entstehung noch zu erkennen ist und das
sich viel stärker, als diese soziale Gruppe es sonst tut und wünscht, an den
Staat anlehnt —, eine Arbeiterschaft, die, durch Not vom Lande in die
Fabrik getrieben, den Zusammenhang mit dem Lande eben erst zu ver-
lieren beginnt, wenn sie auch tatsächlich schon proletarisch ist. Kernrußland
ist so von einer Summe von Einzelwirtschaften besetzt, die erst zu einer
Volkswirtschaft zusammenzuwachsen anfangen.
II. Agrarfrage und Agrarreform.
1. Bis zur Revolution.
Neben dem politischen Ziele des Sturzes der Autokratie war die
Lösung des wirtschaftlich-sozialen Problems der Agrarnot die Hauptfrage,
um die sich die revolutionäre Bewegung und die gesetzgeberische Arbeit der
ersten ruhigen Jahre drehte. Alle anderen Reformen sind mehr oder
minder Konsequenzen des großen Agrarreformwerkes, dessen zweite Hälfte
die Jahre 1906 und 1910 gebracht haben.
Zwei einander widersprechende Tatsachen stehen an der Spitze jeder
Betrachtung des russischen Agrarproblems. Einmal nimmt Rußland in
der Welt-Getreideproduktion eine bedeutende Stellung ein und ist mit
seinem Getreideexport für die Nachbarschaft, besonders Deutschland, zeit-
weise gefährlich konkurrierend aufgetreten — es liefert bei wirklich guter
ft S. Kap. VII.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
147
Ernte beinahe ein Drittel der gesanlteit Quantität, die auf dem Welt-
getreidemarkte angeboten wird. Andererseits war in ihm die Hungers-
not chronisch geworden, hatte der russische Bauer nicht genug zu essen, —
zu welcher Feststellung man noch nicht einmal die Berechnung brauchte,
wieviel Pud Getreide auf den Kopf der Bevölkerung kommen und
wieviel auf ihn kommen müßten. Denn die Tatsache der mindestens
zeitweiligen, akuten Hungersnot stand fest, ist seit Jahren auch in West-
europa beleuchtet worden und hat zur Revolution wesentlich beigetragen.
Aber die Verhandlungen und Kämpfe um die Beseitigung der Not haben
auch gezeigt, daß mit dem vor und während der Revolution fortwährend
erhobenen Schlachtruf der „dopolnitelnoje Nadjelenie" (Ergänzung des
Landbesitzes), — daß der Bauer zu wenig Land habe und mehr Land
auf Kosten des Groß- und Kronbesitzes erhalten müsse, — eine Panacee
nicht gegeben war.
Eine Agrarfrage existierte so, wie sie Staat und Duma be-
schäftigte und Europa interessierte, nur im Kerngebiet. Weder in Finn-
land noch in den Ostseeprovinzen, weder in Polen noch auch in Litauen
und im Westgebiet konnte von ihr in diesem Sinne gesprochen werden.
Die bäuerliche Bevölkerung hatte dort auch ihre Nöte, ist aber zum größten
Teile, was besonders für die Ostseeprovinzen und Polen gilt, durch die
Bauernbefreiung in eine gute und geordnete Lage gekommen, so daß,
wenn sich das Bauerntum dieser Gebiete an der Revolution beteiligte,
seine eigene Lage nicht Anlaß dazu war und daher auch nicht die Be-
rechtigung dazu gab, die die großrussischen Bauern in ihrer Not finden
konnten. Da es sich aber mit dem großrussischen Element um die Mehr-
heit der Untertanen des Zaren handelt, so kann man von einem russischen
Agrarproblem schlechthin sprechen, ohne zu vergessen, daß damit so gut
wie ausschließlich Großrußland und die Gegenden gemeint sind, in die, wie
z. B. West-Sibirien, die großrussischen Verhältnisse mit hinübergenommen
worden sind.
Das großrussische Dorf ist es, dessen Organisation und Nöte hier zu
'.erörtern sind: mit seiner kurzen und breften Straße, die im Sommer
steinhart, im Frühjahr unpassierbar und im Winter eine herrliche Schlitten-
bahn ist, mit seinen beiden Reihen aneinandergedrängter Holzhütten, deren
innere Einrichtung etwa durch Tolstois „Macht der Finsternis" oder
Gorkis Schriften bekannt geworden ist, mit seiner Kirche, deren blaue und
10*
148
V. Kapitel.
goldene Kuppeln im Sonnenlicht glänzen, mit seiner Staats- oder (meist)
Semstwoschule und seiner Kronschnapsschänke, mit seinen Bauern und
Bäuerinnen, deren charakteristische, grellfarbige Tracht von den russischen
Malern gern dargestellt wird. Jni Durchschnitt leben etwa 220 Menschen
in einem Dorfe, 8 in einem Hofe, doch sind die Verhältnisse sehr
verschieden: im Zentrum 150—160, in Kleinrußland 3—400 Seelen*).
Dieses großrussische Dorf lebte in einer Organisation des landwirt-
schaftlichen Eigentums und der landwirtschaftlichen Technik, die, als sie
in Westeuropa zuerst genauer durch die Schriften des Freiherrn August
von Haxthausen bekannt wurdet, dort Überraschung erregte und seitdem
gern als etwas spezifisch Russisches angesehen wurde. Man sah, daß hier
das Eigentum an Ackerland, Wald und Weide Gemeindesache war, und
zwar so sehr, daß die Gemeinde, die als ein fast unbeschränkter rechtlicher
und sozialer Organismus, als eine autonome kleine Demokratie im Staate
für sich lebte, in periodisch wiederkehrenden Neu-Verteilungen ihres
Landes souverän dafür sorgte, daß der Anteil des einzelnen daran möglichst
gleich blieb, entsprechend den Verschiebungen, die in der Dorfgemeinde
durch die natürliche Bevölkerungsveränderung eintraten. Das schien eine
kommunistische Organisation zu sein, die z. B. von den Slawophilen als
eine Rußland ganz eigenartige Einrichtung gefeiert wurde, die durch sich
ein Proletariat und überhaupt eine soziale Frage unmöglich machen sollte,
weil den natürlichen Verschiebungen und der Vermehrung der Bevölkerung
automatisch eine entsprechende Neuverteilung des Landes folgte und so
landlose Existenzen nicht entstehen konnten. Die liberale Kritik dagegen griff
diese Gebundenheit an, die die bäuerliche Menschheit Rußlands auf einer
niedrigen, kollektivistischen Stufe zurückhielt, und forderte mit ihrer Auf-
lösung die Möglichkeit zur freien Betätigung des Individuums auch für
den Bauernstand.
Man muß sich diese Organisation ganz klar machen, um die eigen-
tümlichen Schwierigkeiten der Bauernbefreiung in Rußland und die Frage
zu verstehen, warum trotz dieser Bauernbefreiung nach westeuropäischen!
Vorbilde Rußland doch in eine Agrarnot geriet, für deren Erklärung die
0 Die großen Dörfer (über 450) finden sich in der Steppe und im Wolga-
und Uralgebiet, die kleinsten (bis zu 20) in den Ostseeprovinzen und Finnland.
s) S. das Literaturverzeichnis.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
149
rückständige landwirtschaftliche Technik und der große staatliche Steuerdruck
nicht völlig ausreichten.
Die Gebundenheit, in der der großrussische Bauer lebte, zerfiel in
mehrere Elemente. Zuerst die Abhängigkeit vom Herren, die Leibeigenschaft
oder das gutsherrlich-bäuerliche Abhängigkeitsverhältnis, — diese Ge-
bundenheit ist weder etwas der russischen Entwickluitg Eigentümliches,
noch hat sie seit alters im russischen Volke bestanden. Sie trug dieselben
Züge, die sich für das Gebiet der Gutsherrschaft überhaupt herausgebildet
hatten, und sie ist vollständig durch den Staat ausgebildet worden — vom
Ukas von 1597, der die Freizügigkeit völlig beseitigte, und vom Gesetzbuch
Alexeis von 1649, das die Leibeigenschaft abschloß, an bis zu den Maß-
nahmen Peters von 1718/22, die die Kopfsteuer und die sog. Revisionen
der pflichtigen Leute einführten, wozu noch die Praxis der solidarischen Haft-
barkeit der Gemeinde und des Gutsbesitzers für die staatlichen Leistungen
der Bauern trat. Katharina II. hat diese Rechtsnormen auch in Klein-
rußland eingeführt (1783) und so wenigstens für diese erste Gebundenheit
gleiche Verhältnisse in Groß- und Kleinrußland hergestellt, weshalb die
Bauernbefreiung Alexanders II. auch Kleinrußland mit einbegreifen mußte.
Das zweite Element ist jene Organisation der Feldgemeinschaft, des
MirH. Sie ist dem Prinzip nach viel älter als die gutherrlich-bäuerlichen
Abhängigkeitsverhältnisse, wenn sie auch ihre letzte Ausbildung erst durch
die Bedürfnisse des Staates im 17. und 18. Jahrhundert erhalten hat.
In dieser vollen Ausbildung herrschte sie nur in Großrußland, während
Kleinrußland Einzelbesitz hatte; die Grenzen beider Besitzformen decken sich
beinahe mit den alten Grenzen zwischen dem Moskauer und dem litauisch-
polnischen Staate, soweit er über Weiß- und Kleinrußland herrschte. Diese
kommunistische Organisation der Landgemeinde ist nun nicht etwas Ruß-
land eigentümliches, sondern ihre Hauptzüge finden sich im großen und
ganzen in der europäischen Agrargeschichte auch sonst wieder. Der ideelle
Anteil des einzelnen an der Ackerflur, der prinzipiell dem des anderen
gleich sein soll, die Umteilungen, der Flurzwang, die Dreifelderwirtschaft,
das Gemeineigen an Wald und Weide, die Autonomie der Landgemeinde
9 Mir bedeutet Gemeinde und Welt und ist die Versammlung der Stimm-
berechtigten des Dorfes. Für Feldgemeinschaft im oben geschilderten Sinne ist das
russische Wort Obschlschina; bei den Bauern ist indes nur das Wort Mir ge-
bräuchlich.
150
V. Kapitel.
mit ihren administrativen und rechtlichen Folgen, alles das sind Züge
ebenso der germanischen Markgenossenschaft wie des russischen Mir. Die
Auflösung dieser Gebundenheit ist auch in der preußischen Bauernbefreiung
ein integrierender Teil gewesen, der nur gegenüber den: anderen in der
öffentlichen Beachtung sehr zurückgetreten ist, weil er weniger politisches
Kampfobjekt war, der aber mit der Verkoppelung, der Gemeinheitsteilungs-
ordnung und der Arbeit der Generalkommissionen mindestens ebenso revo-
lutionierend gewirkt hat, wie die Erklärung der persönlichen Freiheit und
die Lösung der Abhängigkeit vom Herrn. Diese Gebundenheit ist aber
in Rußland, was fast immer übersehen wird, von der Bauernbefreiung
der 60er Jahre nicht beseitigt worden. Man erkannte damals gar nicht
an, daß in ihr Schäden liegen könnten. Im Gegenteil betrachtete eine
immer einflußreicher werdende Richtung gerade diese Organisation als
etwas wirtschaftlich Heilsames und sozial Gutes, und bis zur Aufhebung
der Kopfsteuer (1883—1889) und der Solidarhaft der Gemeinde für den
auf sie entfallenden Anteil der Steuern (1904) hat auch der Staat aus ihr
den Vorteil gezogen, um deswillen Peter der Große diese ohne Zutun des
Staates erwachsene soziale Organisation staatlich sanktioniert und zu
einem Grundstein der ganzen Staatsordnung gemacht hatte.
Noch schwieriger war die Behandlung des dritten Elements dieser
bäuerlichen Gebundenheit, das nun allerdings — nicht den Russen,
sondern den Slawen — eigentümliche Züge der agrarischen Urorganisation
zeigt. Auf deutschem Boden ist bei allem Festhalten an der Idee des
Gemeineigens der Gedanke des Privateigens für den einzelnen Bauern an
seiner Hufe tatsächlich durchgesetzt worden. Das war in der russischen
Organisation auch einigermaßen der Fall. Denn Neuumteilungen fanden
bei weitem nicht in dem Maße statt, wie man annahm. Auch hier ist
aus der Gemeinde aller persönlich Berechtigten immer mehr die Real-
gemeinde, die sich der natürlichen Vermehrung der Genossen nicht mehr
anpaßte, geworden, in die die Markgenossenschaft des Westens übergegangen
ist. Aber der tiefgreifende Unterschied zwischen germanischer und slawischer
Entwicklung war, daß dieser Prozeß in der deutschen Entwicklung dem
Individuum, dem einzelnen Bauern, zugute kam, der dann als Familien-
haupt über seinen Anteil immer mehr privatrechtlich frei verfügte, während
sich in Rußland zwischen dem Mir und dem Einzelnen der Begriff des
Familieneigens bis zur Gegenwart lebendig erhielt. Nicht nur bei den
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
151
Russen, sondern bei allen Slawen — mit Ausnahme der Polen — blieb
die Familie als Lebensgemeinschaft und primitive Arbeits- und Erwerbs-
genossenschaft ihrer Mitglieder, die diese für sich arbeiten läßt und sie aus
dem Gesamtertrag ernährt, die sogenannte Hauskommunion oder Groß-
familie, lebendig. Es war eine Genossenschaft von Verwandten bis zum
zweiten, dritten Grade, die auf demselben Hofe saßen und gemeinsam das
Eigentum an diesem Hofe hatten. Sie standen unter Leitung des
Geschlechtsältesten, des Hausvaters (Domochozjain); die Beziehungen
untereinander waren nur durch die Tradition geregelt, aber gerade darum
um so fester. Man muß also diese patriarchalische Grotzfamilie mit ihrem
besonderen Familienrecht, die auch durch die Bauernbefreiung nicht ver-
schwand, und den Mir auseinanderhalten, in dem jeder erwachsene — kopf-
steuer- und heerdienstpflichtige — Bauer seinen Anteil am „Seelen"-
landft oder das Anrecht darauf besaß und besitzt. Oder anders ausge-
drückt: es sind zu trennen der „Krestjanin" (Bauer) als Mitglied des
Mir und der „krestjanski Dwor" (Bauernhof) als die Einheit der dörflichen
Landwirtschaft, unter Leitung des Domochozjain eine Reihe physischer
Personen in einer auf Familien- und Arbeitsgemeinschaft begründeten
Gruppe umfassend, die durch den Domochozjain die ihnen zustehenden
Nadjelrechte wahrnehmen und genießen. Dieser Unterschied ist bis in die
Gegenwart von allen nichtrussischen Beobachtern des Agrarproblems so gut
wie völlig übersehen worden. Freilich existierten auch, da der Staat keine
Veranlassung hatte, diese Großfamilie rechtlich genauer zu fassen — woran
er sich hielt, das war der übergeordnete Mir —, diese familienrechtlichen
Beziehungen jahrhundertelang im Halbdunkel des Gewohnheitsrechts, oft
sehr wenig hervortretend, aber das Leben des Bauernvolks auf das tiefste
bestimmend. Das macht folgende Betrachtung noch klarer.
Der Mir hat die Entstehung eines Proletariats und die Abwanderung
nach der Stadt nicht aufhalten können. Gleichwohl blieben die Beziehungen
seiner nach der Stadt, in die Fabrik abgewanderten Glieder zu ihm be-
stehen; sie blieben ihrer Heimatgemeinde nach wie vor „angeschrieben".
ft Nadjel — Anteil innerhalb der Flur der Obschtschina. — Seele (Duscha)
oder Bauernseele ist der köpf- und heerdienstpslichtige Bauer; Revisionsseele ist
jeder männliche Leibeigene jedes Alters „vom Alten bis zum letzten Jungen"
(so im Ukas Peters über die erste Revision von 1718/19); man rechnete dieses
Alter von 14 bis 60 Jahren. ^
152
V. Kapitel.
Tatsächlich bedeutete das, abgesehen von den Paßscherereien, immer
weniger; was konnte die Solidarhaft seiner — oft tausende von Werst ent-
fernten — Gemeinde für ein Glied des Mir, das in der Stadt als prole-
tarische Existenz lebte, bedeuten? Dagegen der Zusammenhang mit seiner
Familie, die Vorstellung daß ihm als Glied der Familie auch noch ein
Teil am Nadjel, wenn auch nur ideell, zustünde, die blieb auf das stärkste
erhalten. Sie sitzt auch heute noch in diesen Tausenden von Dworniki
(Portiers mit polizeilichen Funktionen), Jswoschtschiki (Droschkenkutschern),
Dienstpersonen der großen Städte usw. ganz fest. Sie zu zerstören und so
ein tatsächliches Proletariat auch rechtlich zu einem solchen zu machen,
m. a. W. außer der Gebundenheit durch den Mir auch diesen urslawischen
Familieneigentumsbegriff zu beseitigen, das war die eigentliche große
Schwierigkeit in der Agrarreform.
Zu alledem ist noch eine Tatsache der russischen Agrargeschichte
hervorzuheben. Neben der bäuerlichen Siedlung stand seit Anfang die Grund-
herrschaft, dann die Gutsherrschaft in einer Organisation und mit einem
Charakter, die der westeuropäischen durchaus entsprachen*). Darin lag von
vornherein für den Mir die Unmöglichkeit, seine nach Ansicht der Slawo-
philen so großen Vorteile betätigen zu können. Denn trotz aller Kriege
wuchs doch die Bevölkerung des Moskauer Staates. Es hätte also auch
das Land wachsen müssen, das einem Mir für seine wachsende Familien-
zahl zur Verfügung stand. Diese Erwartung drückt sich auch darin aus,
daß in der Ackerflur, deren Einteilung bis in die Gegenwart erhalten ist,
eine feste Gewinneinteilung nicht festzustellen ist. Aber das zur Besiedlung
freibleibende Land verringerte sich sehr rasch. Das fürstliche Bodenregal
war scharf ausgebildet. Aus ihm folgte die Möglichkeit zu Verleihungen
von Land an die fürstlichen Diener und an die Kirche, die die Moskauer
Fürsten auch in großem Maßstabe vornahmen. Diesem Prozeß der Ein-
engung des freien Landes entzog sich das Bauerntum zuerst durch Ab-
wanderung in einer großen, immer weiter nach Osten vorschreitenden
Kolonisation „wüster" Gegenden. Aber diese fand ihre Grenzen in der
Hauptsache an der Wolga. Dann mußte sich die wachsende Bevölkerung
mehr und mehr auf derselben Landfläche einrichten, da der fürstliche,
*) S. die ganz durchgeführte Vergleichung von Pawlow-Silwanski,
Feodalism w udjelnoj Rossij. (Petersburg 1910.)
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
153
kirchliche und gutsherrliche Besitz alles andere in Beschlag genommen
hatten. Die Familienanteile in der einzelnen Gemeinde mußten also
bei neuen Teilungen immer kleiner werden. Der Unterschied gegen die
deutsche Entwicklung liegt dann darin, daß in Deutschland die einzelne Hufe
immer weiter geteilt, in Rußland aber das ganze, dem Mir gehörende
Land immer von neuem verteilt wurde. Praktisch kam dieser Atomisie-
rungsprozeß der Dorfflur auf dasselbe hinaus wie im Westen, aber der
Zusammenhang mit der Dorfgemeinde wurde durch den erhalten bleibenden
Begriff des Familieneigens hier viel stärker konserviert als dort.
Zu Beginn der Reform Alexanders II. war so der Mir die unterste
Zelle des sozialen Organismus, die nur durch ihren Gemeindevorsteher
(Starosta) mit dem Staate zusammenhing. Abgesehen von den wenigen,
wenn auch freilich tiefgreifenden staatlichen Verpflichtungen lebte dieser
Mir vollständig für sich, ein wahrer Mikrokosmos, autonom in Ver-
waltung, Gericht und Recht. Der Gutsherr, — der Edelmann war —,
war an den Gemeindeversammlungen ebensowenig beteiligt wie der Staat.
Die Hauptaufgabe dieser Gemeindeversammlung mit dem Ältesten an der
Spitze, deren stimmfähige Mitglieder alle in der Gemeinde berechtigten
Bauernseelen wärmst, war die in bestimmten Abständen neu vorzu-
nehmende Umteilung des Landes, die gemäß dem Wachstum der Be-
völkerung souverän vorging und ihren Willen den einzelnen Mitgliedern
gegenüber auf die barbarischste Weise zum Ausdruck bringen konnte. Auf
diese Weise zerfiel die Ackerflur — da nun auch wieder innerhalb der
Familie die weitgehendste Realteilung galt und stattfand — immer mehr in
eine Masse kleiner Parzellen. Natürlich mußten sie im Flurzwang be-
stellt werden, für den ein rohes, nicht durchaus festes Dreifeldersystem
galt: Wintergetreide — Sommergetreide — Brache. Die Technik der Acker-
bestellung war dabei so, wie sie seit Jahrhunderten gewesen war: kein
künstlicher Dünger, der altmodische Pflug, äußerste Extensität. Privat-
eigentum war nur am Hof (Usadba), Vieh, barem Geld und außerdem an
dem Land vorhanden, das außerhalb der Flur des Mir vom einzelnen
erworben war — was an sich möglich war. Das sog. Anteil-(Nadjel-)
Land gehörte dem Mir und war nur zu — allerdings oft sehr lange nicht
unterbrochener — Nutzung den einzelnen Bauernseelen in einer Größe
st Bei Abwesenheit des Bauern vertrat ihn in der Dorfversammlung die Frau.
154
Y. Kapitel.
zugeteilt, die jeweilig der von ihrer Familie umfaßten Kopfzahl wenigstens
theoretisch entsprechen sollte. Diese Summe von Familien im Mir haftete
solidarisch für den Anteil an Rekruten und Kopfsteuer, der auf das Dorf
fiel. Und diese Bauern dienten ihrem Gutsherrn durch Zahlung des
Obrok (Pachtrente) für ihr Land, dessen Obereigentümer der Gutsherr
ja kraft fürstlicher Verleihung war, und durch Leistung von Frondiensten
auf dem Teile des gutsherrlichen Landes, das im gutsherrschaftlichen Eigen-
betriebe genutzt wurde*). Etwa die Hälfte des Großgrundbesitzes hatte die
Leibeigenen nur auf Abgaben (in Natura und Geld) gestellt, d. h. auch das
eigentliche Gutsland ausgegeben, verpachtet. Dann nutzte die Bauern-
gemeinde zu ihrem Mir-Land auch das ganze Eigenland des Herrn samt
dem Walde. Für diesen Teil der Bauern war daher die Emanzipation be-
sonders empfindlich, weil sie ihnen nicht nur die gemeine Weide auf den
Feldern der Gutswirtschaft, sondern auch die landwirtschaftliche Nutzung
eines Teiles ihres, bisher von ihnen genutzten Gebietes entzog. Von den Ab-
gaben (Gesamtname dann Obrok) lebte der Gutsbesitzerstand im großen und
ganzen naturalwirtschaftlich, da von einem nennenswerten Getreideexport
noch nicht die Rede war. Er war dem Staate dafür haftbar, daß von seinen
Bauern Kopfsteuer und Rekrutenzahl eingingen, wie der Staat es ver-
langte, und genoß für diese Verpflichtung weitgehende staatliche
Rechte in Polizeigewalt und Gerichtsbarkeit gegenüber seinen Bauern. Die
vollständige Rechtlosigkeit des Bauern, die so entstand und ihn der Will-
kür des Gutsbesitzers preisgab, die Abhängigkeit des Bauern vom Willen
seines Herrn, die sogar das Recht zum Verkauf ohne Land, wie zur Ver-
schickung nach Sibirien und zur Abgabe zum Militär gab, das waren eben
die Erscheinungen der Leibeigenschaft, gegen die sich der Widerspruch schon
im 18. Jahrhundert richtete.
Diese Verhältnisse haben aber auch nicht einen gesunden Grundbesitzer-
stand geschaffen. Der Typus des Gutsbesitzers war vorwiegend der kleinere
Besitzer, der unter 100 Seelen hatte, — denn nach der Zahl der Seelen
bemaß sich der Wohlstand, nicht nach der Zahl der Dessjatinen, die wertlos
waren, wenn niemand sie bebaute — und als Obrok-Gutsbesitzer seine
Einnahmen gewöhnlich fern vom Gute verzehrte. Die Bequemlichkeit, zu
0 Die Einheit der dem Gutsherrn zu leistenden Fronden und Abgaben
hieß Tjaglo.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
185
der diese Organisation des Lebens verführte, verhinderte auch bei den
Gutsherren jede Ausbildung des wirtschaftlichen Sinnes und führte in
dieser guten alten Zeit oft zu einer Verlotterung der Adelsfamilien,
wie sie Saltykow-Schtschedrin in seinem düstersatirifchen Roman „Die
Herren Golowlew" so kraß und scharf gemalt hat. Dabei glaubte der
Menschenfreund — Puschkins Eugen Onjegin! — auf diese Obrok-
organisation noch stolz sein zu müssen.
Auf diese Verhältnisse wurde die Bauernbefreiung angewendet, die sich
nur auf Kern-Rußland bezieht. Für Polen datiert sie aus den Jahren
1807 und 1864, für die Ostseeprovinzcn aus den Jahren 1804, 16, 17,
19, 49, 56 63 und 68; von Finnland mit seinen den skandinavischen
verwandten Agrarverhältnissen ist vollends abzusehen.
Ihre Hauplgrundsätze waren: 1. die Person des Bauern wird frei —
damit war zunächst, allgemein und praktisch ebenso bedeutungslos, dieselbe
große Idee ausgesprochen, wie in Steins berühmtem Patent. 2. Das
Land blieb zunächst Eigentum des Gutsherrn. Der Bauer wurde nur
dauernder Nutznießer des Bauernlandes, dessen Größe von der Gesetz-
gebung bestimmt wurde: im Durchschnitt sollten 3/4 Dessjatinen (also 14
preußische Morgen) auf die Bauernseele kommen. 3. Die Ablösung des
gutsherrlichen Eigentumsrechts sollte für das Gehöftland überall erfolgen,
für das Ackerland nur mit Zustimmung des Gutsherrn. Die Regierung
bestimmte die Sätze, die von nun an als Entgelt des Bauern für die Lösung
der bisherigen Abhängigkeitsverhältnisse zu zahlen waren und durch eine
Kapitalzahlung ganz abgelöst wurden; für die Jahreszahlungen aus dieses
vorgeschossene Kapital wurde seitdem der alte Name Obrok in der Um-
gangssprache beibehalten. Es wurde berechnet, indem man den Jahres-
Satz mit 6% kapitalisierte. Da aber die Bauern zu einer solchen Geld-
zahlung nicht in der Lage waren und der Ablösungsprozeß, an dessen Ende
nach dem Willen der Regierung das freie Eigentum des Bauern am
Boden stehen sollte, auf diese Weise auf dem Papier stehen geblieben
wäre, folgte der Staat auch darin dem Vorbilde anderer Bauernbefreiungen,
daß die Regierung das Geld vorschoß und in 5% tragenden Bankbillets
(Loskausscheinen) den Gutsbesitzern auszahlte. Von den Bauern trieb der
Staat dafür 6% der Ablösungssumme ein, worin Zinsen, Kosten und die
Amortisation steckten, die in 49 Jahren, also 1920, beendet sein sollte. Das
sind die sog. Loskaufsgelder, die für die Bauern eine immer steigende Last
156
V. Kapitel.
Wurden und deren Rest im Jahre 1905 (Ukas vom 16. November) für
1906 zur Hälfte und vom 1. Januar 1907 vollständig erlassen
worden ist. Durch dieses Verfahren, das den Staat in eine große finan-
zielle Erschütterung hätte bringen können, ist die Ablösung sehr befördert
worden. Die Gutsherren aber, die schon vor der Bauernbefreiung vielfach
hoch verschuldet waren, weil der Ertrag ihrer Güter zur Befriedigung der
seit Katharina II. sehr gestiegenen Luxusbedürfnisse nicht ausgereicht hatte,
griffen gern nach dem baren Gelde, das ihnen in Gestalt der Pfandbriefe
in die Hände floß. Sie haben freilich diesen überstürzten Übergang aus
der Naturalwirtschaft mit Geldschulden in eine völlig geld- und kreditwirt-
schaftliche Gestaltung ihrer Lebensweise nicht so gut überstanden wie der
Staat.
Das Befreiungswerk betraf 10 Millionen gutsherrlicher Bauern
mit 33% Millionen Dessjatinen, 9,6 Millionen Kronsbauern mit 57
Millionen Dessjatinen, 900 000 Apanagebauern mit 4,3 Millionen
Dessjatinen und 1,8 Millionen HofleuteJ und andere Bauernkategorien
mit 21,6 Millionen Dessjatinen, im ganzen 22,3 Millionen Bauern und
116,8 Millionen Dessjatinen.
Damit wurde das Fundament eines modernen Aufbaues der
Staats- und Wirtschaftsordnung gelegt. Hat es das erstrebte Ziel erreicht:
die Sicherstellung des Bauernstandes, der zur Erfüllung seiner Verpflich-
tungen gegen Staat und Gutsbesitzer fähig war? Der erste Eindruck war
gewaltig: „Du hast gesiegt, Nazarener!", rief Alexander Herzen
Alexander II. zu. Rasch aber traten Ernüchterung und Enttäuschung ein.
Die Rückstände der Loskaufszahlungen wuchsen bald erschreckend an, und
trotz der pekuniären Vorteile hielten immer noch genug Gutsbesitzer den
Gang der Ablösung auf, so daß diese 1881 obligatorisch gemacht
werden mußte. Und beide Hindernisse, die Rückstände der Loskaufs-
zahlungen und die Rückständigkeit der Gutsbesitzer, stellten sich der Reform
des Steuersystems entgegen; die Aufhebung der Kopfsteuer war erst
möglich, wenn mit diesen gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnissen ganz
reiner Tisch gemacht war.
Jedenfalls sah man schon in den ersten Jahrzehnten nach der Be-
freiung, daß der Bauernstand wirtschaftlich nicht vorankam. Schon in den
0 Der Teil der leibeigenen Bevölkerung, der auf den Gütern im unmittel-
baren Dienste der Gutsherren lebte.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
167
70er Jahren wurde die Behauptung statistisch untersucht uud begründet,
daß die Landmasse, die in der Befreiung den Bauern zugewiesen war,
zu klein und die dafür zu zahlende Ablösung zu hoch berechnet gewesen
sei. „Der Bauer bekam weniger Land, als er brauchte, und mußte mehr
dafür bezahlen, als es wert war", so wurde dieses Urteil bald verall-
gemeinert und übertrieben. Fast wesentlicher noch war, daß tue Be-
freiung auf halbem Wege stehen blieb, indem sie nicht auch den Mir auf-
löste. Denn damit trat an Stelle des Gutsherrn nun die Gemeinde, die des
Mir und die durch die Verordnung über die Bauernbefreiung errichtete
Wolost, die, mehrere Mirgemeinden zusammenfassend, seitdem die politische
Landgemeinde als untersten staatlichen Bezirk darstellt, sozial aber schon eine
Samtgemeinde ist. Dadurch wuchs die Macht der Gemeinde über ihre
Glieder noch mehr: sie konnte die Prügelstrafe verhängen, sogar zur Zwangs-
ansiedlung nach Sibirien verschicken, sie verteilte wie bisher die Landanteile,
erhob die Steuern, trieb diese bei und hielt auch die Abgewanderten fest, da
sie die Pässe zu erteilen hatte. So hatte sich gegen den früheren Recbts-
stand nur soviel geändert, daß jetzt jedes ausgleichende und helfende Moment
aus der patriarchalischen Zeit weggefallen war, weil die Gemeinde eher
noch härter und drückender über ihren Gliedern waltete als vordem der
Herr.
Die Folgezeit aber suchte die agrarischen Verhältnisse eher nach
rückwärts als vorwärts zu organisieren. Zwar rührte sie nicht an die
Ablösungsgesetzgebung, Wohl aber hemmte sie mit Absicht und Erfolg den
weiteren Übergang des Landes in Privateigentum. Man suchte nur
(in Gesetzen von 1886 und 1893) die Dispositionsrechte der Gemeinde-
versammlung und auch des Einzelnen mehr unter die Staatskontrolle ;u
bringen, aber den Mir selbst konservierte man rechtlich wie tatsächlich.
Zwar fühlte man, daß in ihm die Hauptursache der wachsenden Schwierig-
keiten des Bauerntums lag, aber man hielt an ihm fest, weil man
meinte, er verhindere die Entwicklung eines Proletariats. So blieb
der Bauernstand, wenn auch persönlich frei, an Landgemeinde und
Großfamilie nach wie vor gebunden. Diese Gebundenheit wirkte um so
schlimmer, als sie in keiner Weise zu der kapitalistischen Wirtschaft, zu
der nun auch der Bauernstand gezwungen wurde, paßte; alles Überlebte
und Rückständige war konserviert und schützte doch nicht vor den Schäden
des eindringenden Kapitalismus. Mit der persönlichen Freiheit konnte
158
V. Kapitel.
*
der Bauer nichts anfangen, solange ihn der Flurzwang, das Gemeinde-
eigentum, die Umteilung, der Familienbesitz fesselten; sie bestand für ihn
lediglich in dem Rechte, Personalschulden zu machen, solange ihm der
Dorfwucherer (der Kulak) borgte. Denn er konnte von ihr nicht einmal
durch Abwanderung in die Stadt vollen Gebrauch machen, da ihn die
alten Fesseln der ständischen Gebundenheit ja auch dahin begleiteten. Was
bis zur Revolution an gesetzlichen Maßnahmen dazu erlassen wurde,
doktorte am Problem nur herum und verbaute sich selbst die Möglichkeit
zu durchgreifender Hilfe.
Aber auch den Gutsbesitzern bekam der Übergang in die neuen
Verhältnisse nicht. Sie wußten mit den gewaltigen Summen baren
Geldes, die ihnen zuströmten, nichts anzufangen und verjubelten es in
der Hauptsache. Diese fette Zeit dauerte bis Ausgang der 80er Jahre.
Dann kamen die Wirkung dieser Verschwendung und der Rückgang der
Weltgetreidepreise zusammen, um auch dem Adel die Unsicherheit des
Fundaments klar zu machen, das die Bauernbefreiung aus Schuld des
Staates und der beteiligten Schichten geschaffen hatte — wie das der
traurige Vers von Nekrassow so schlagend und richtig ausdrückt:
„Ja, ja, die starke Kette brach
Und sprang in Stücke ganz.
Das eine Stückchen traf den Herrn,
Die andern trafen uns."H
Diese Wirkungen traten für den Adel schon in den achtziger Jahren,
für den Bauernstand in vollem Umfange in den ersten neunziger Jahren
hervor. Seit 1890/91 wurde es von Jahr zu Jahr eindringlicher und
erschreckender klar, daß sich im Lande die Hungersnot chronisch festsetzte.
1897 gab das Finanzministerium ein großes statistisches Werk über bett
„Einfluß der Ernten und Getreidepreise auf einige Seiten der russischen
Volkswirtschaft" heraus. Da war berechnet, daß pro Kopf der russischen
Bevölkerung im Jahre 19 Pud Getreide zur Ernährung und 7lA Pud
zur Fütterung des Viehs notwendig seien, daß aber in nicht weniger als
40 Gouvernements des europäischen Teiles das bäuerliche Anteilsland
diesen Nahrungsbedarf nicht zu decken vermochte. 70% der ganzen
*) Aus dem realistisch echten und melancholisch reizvollen Werke: „Kram
na Rusi schit choroscho?" („Wer lebt glücklich in Rußland?") geschrieben
1873—76.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
159
bäuerlichen Bevölkerung konnten nach diesen Aufstellungen ihren eigenen
Nahrungsbedarf nicht mehr aufbringen. Das Land und die euro-
päische öffentliche Meinung standen vor der Tatsache, daß der gewaltige
Getreidexport Rußlands und seine großartige weltpolitische Betätigung
durch permanente Unterernährung seines Bauerntums erkauft wurden,
auf dessen Kraft dieser Staat noch in ganz anderem Maße ruhte als
Westeuropa.
Mißernten und Hungersnöte hatte es auch schon vorher seit der
Bauernbefreiung gegeben. Jetzt aber litt Kernrußland entweder im ganzen
oder zu seinem größeren Teile chronisch daran. Bis zur Revolution erlebte
es (ganz oder zu einem so großen Teile, daß es im ganzen empfindlich
zu merken war) Mißernten in den Jahren 1891, 1892, 1896, 1897,
1898, 1899, 1900, 1901, .1905, danach 1906, 1907 und 1911. Selbst
in den fruchtbarsten Gebieten, in den Strichen der schwarzen Erde, hörte
der Notstand nicht auf und mußten von Jahr zu Jahr größere Auf-
wendungen des Staates und besonders der Semstwos, die darin Außer-
ordentliches leisteten, versuchen, der Agrarnot zu steuern. Aus dem
Boden mußte, da die Bevölkerung sehr stark zugenommen hatte — 1861
waren es 45, 1900 85 Millionen Köpfe — immer mehr herausgeholt
werden, aus einem Boden, der im Süden zwar von unerschöpflicher
Fruchtbarkeit ist, sich aber jetzt für eine jahrhundertelang betriebene
Aussaugung seiner Kraft rächte. Denn die landwirtschaftliche Technik
hatte in dem Menschenalter seit Beginn der Befreiung nicht den
geringsten Fortschritt gemacht. Und trotzdem mußte der Staat, um seine
Währung und seinen ausländischen Kredit halten zu können, durch
Steuerdruck die Bauern zwingen, gleich nach der Ernte mehr zu ver-
kaufen, als sie zum Unterhalt entbehren konnten.
Diese unbestreitbare agrarische Not mochte ihre Gründe außerhalb des
Mir haben, zumal es den Gegenden des Hofsystems im Westen, Südwesten
und Süden, die übrigens auch regellose Gemengelage und Besitzzer-
splitterung haben, gleichfalls schlecht ging. Aber das wurde in diesem Jahr-
zehnt auch unwiderleglich bewiesen, daß der Mir weder die Entstehung
dieser Agrarnot noch die eines Proletariats hintangehalten hatte. Rußland
hatte nicht nur Ansätze eines städtischen Proletariats, sondern — was
schlimmer war — zweifellos ein ländliches, ein landloses Proletariat,
das nach der slawophilen Theorie wegen der Existenz des Mirs gar nicht
160
V. Kapitel.
möglich hätte sein dürfen. Wenn durch die Umteilungen für die wachsende
Bevölkerung gesorgt war — woher kamen dann die Arbeitermassen in den
großen Zentren für die Jndustriepolitik Wittes? Wenn der Mir richtig
funktioniert hätte, dann hätte es kein landloses Proletariat in dem Sinne
geben dürfen, daß Bauern, die früher (d. h. nach 1861) Land besessen
hatten, ein Menschenalter später keines mehr hatten, und ferner mußte bei
gleichgebliebenem Landvorrat und gestiegener Bevölkerung eine ungeheure
Zersplitterung, geradezu eine Pulverisierung der Bodenanteile eingetreten
sein. Beides traf aber nicht zu. Denn es gab 40 Jahre nach Beginn der
Bauernbefreiung Bauern, die ihren Landanteil eingebüßt hatten, und die
Zersplitterung des Besitzes war zwar außerordentlich groß, stellte sich
aber als nicht so groß heraus, wie sie nach den gegebenen Voraussetzungen
hätte sein müssen.
Wenn in einer Feldgemeinschaft das Umteilungssystem nach Revi-
sionsseelen galt, was wohl das typische war, so hatte Mer Bauernhof so
viel Anteile erhalten, als 1859, d. h. bei der 10. und letzten Revision,
Revisionsseelen zu ihm gehört hatten. In den achtziger Jahren begann
daher unter dem Druck der vielköpfigen Familien der Umteilungsmodus
nach „vorhandenen Seelen" oder nach „Essern" sich durchzusetzen. Dieser
Umschwung brachte eine Periode eifriger und häufiger Umteilungen mit
sich. Trotzdem zeigte die genaue Untersuchung^, daß, während sich die
Bevölkerung von 1848—1893 um 4534 % vermehrt hatte, die Zahl der
am Mir Anteilsberechtigten in dem Menschenalter seit Beginn der Be-
freiung stark zurückgegangen war. Aus den anderen war ein landloses
Proletariat geworden. Ebenso ergab sich, daß die Zahl der Höfe — 1858:
8,1905:12 Millionen — nicht entsprechend der Bevölkerungszunahme ge-
stiegen war, und auch die auf den Hof kommende Kopfzahl zeigte keine
wesentliche Veränderung. Ein erheblicher Teil der Bauern erhielt also —
das bewies diese Statistik unwiderleglich — trotz des Mir keinen Anteil
mehr am Land, diese vom Boden losgerissenen Elemente sind in die
Städte, in die Fabriken, nach Sibirien abgeflossen. Dementsprechend zeigte
die Volkszählung von 1897 einen Stillstand in der Bewegung der Be-
völkerung da, wo sie 20 Jahre vorher am stärksten gewesen war, im
Zentrum und im Gebiet der Schwarzerde, dafür eine Steigerung an der
y Besonders in der von Witte veranlaßten Arbeit von P. L o ch t i n,
Bessemelny Proletariat. (Moskau 1905.)
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
161
Peripherie. Fast durchgängig waren z. B. die Fabrikarbeiter des Mos-
kauer Gouvernements derartige „Bauern", die tatsächlich einen Anteil
an der Dorfslur nicht mehr hatten, gleichwohl aber von der Dorfgemeinde
noch festgehalten tvurden, in ihr weiter solidarisch für den Steueranteil
mit hafteten und in Paß- und Militärdienst-Angelegenheiten von ihr ab-
hängig blieben. Der Mir hatte seine Aufgabe, die natürliche Zunahme
der Bevölkerung in sich aufzunehmen und ihr in sich Nahrungsspielraum
zu gewähren, nicht erfüllt, oder anders ausgedrückt: die Umteilungen des
Bodens, die den Verschiebungen in der Dorfbevölkerung folgen sollten,
hatten tatsächlich im letzten Menschenalter überhaupt viel weniger statt-
gefunden, als man sich vorgestellt hatte, und zwar wurden sie von Süden
nach Norden zu immer seltener: im Norden, wo der Bauer düngen muß,
war sein Verhältnis zu der von ihm gerade bebauten Scholle enger und
fester als im Süden, wo das nicht nötig ist oder nicht für notwendig er-
achtet wurde. Ja, trotz aller rechtlichen Schranken war sogar eine große
Ungleichheit in der Besitzverteilung entstanden. Wie wenig kam doch diese
scheinbar alles regelnde und beherrschende Staatsgewalt an den Einzelnen
wirklich heran, wenn sich eine solche Umbildung ohne die Staatsgewalt,
ja eigentlich gegen sie, vollziehen konnte! Die Reform von 1861 batte Höfe
verschiedener Landgröße geschaffen, da die Familien zahlenmäßig ver-
schieden waren. Danach sammelten schon von vornherein einzelne Höfe
mehr Anteile auf sich. Diese haben dann im Laufe der Jahrzehnte diese
Anteile noch auf Kosten der Anteile erweitern können, die eingezogen
wurden, weil in der Familie arbeitsfähige Erwachsene fehlten oder weil
der Hausvater zum Militär einberufen war oder vor allem, weil Höfe
mit ihren Zahlungspflichten (Steuern, Loskaufsgeldern) bei der Ge-
meinde im Rückstände waren. So ist irregulär, vielfach durch Unrecht
und Gewalt, der Mir zur engeren Realgemeinde geworden wie die deutsche
Markgenossenschaft, und wenn Umteilungen noch stattfanden, so vollzogen
sie sich oft nur unter dieser stärkeren Minderheit. Von hier erklärt sich
auch die Figur des Dorfkulaks und die auf den ersten Blick ganz un-
verständliche Erscheinung, daß bei kollektivem Eigentum an der Dorfslur
und bei der Unmöglichkeit hypothekarischer Verschuldung ein landloses
Proletariat entstand und die zurückbleibende Dorfgemeinde ihrer Mehr-
heit nach in die Schuldknechtschaft eines einzelnen oder einer Minderheit
geraten konnte.
Hoetzsch, Rußland.
11
162
V. Kapitel.
So war dieses System, das einmal Vernunft gewesen war, jetzt
Unsinn, frühere Wohltat unerträgliche Plage geworden. Es konservierte
einen Rechts-Zustand wie zum Hohn, weil unter ihm und durch ihn die
Dorfbevölkerung hungerte. Es hielt, weil der „Peredjel", die Umteilung,
immer noch als Möglichkeit über der ganzen Organisation schwebte, das
Jndividualeigentum, allen technischen Fortschritt und alle kapitalistische
Aufwendung mit Gewalt fern. Und auch die wirtschaftlich Stärkeren in
der Gemeinde laborierten an der Erschlaffung des Bodens. Für den Staat
aber hatte diese Lage die unangenehme Folge, daß die Bauern mit den —
von ihm ja vorgeschossenen — Loskaufszahlungen in hoffnungslosen Rück-
stand kamen und daß auch die Steuererträge zurückgingen.
Das Bild ist nicht vollständig, wenn, wie es meist geschieht, diese
Agrarnot lediglich als Not der Bauern dargestellt wird. Die Bauern-
befreiung war hier, wie überall, der Beginn der Mobilisierung des Grund
und Bodens. Durch die Ablösungssumme, die der Staat den Bauern
vorschoß und den Gutsherrn einhändigte, kam in die bis dahin fast ganz
naturalwirtschaftliche Urproduktion Kapital herein. Die Kapitalisierung
der Urproduktion ist überall von Schmerzen und Schwierigkeiten begleitet
gewesen, in Rußland aber wurde dieser Übergang besonders ins Schlimme
verkehrt, weil man dem Kapitalismus den Weg nur halb frei machte und
weil man die bei jeder Lösung der gutsherrlich-bäuerlichen Abhängigkeits-
Verhältnisse rasch akut werdende Landarbeiterfrage nicht einmal angriff.
So von heute auf morgen gezwungen, sich in neue Verhältnisse zu finden,
hat sich der Adel Rußlands überhaupt nicht in sie hereingefunden. Die
Folge war: er hat das Land nicht in seiner Hand halten können.
Der Grundbesitz umfaßte vor der Revolution, im Jahre 1905, in
Kern-Rußland (47 Gouvernements, also ausschließlich der Ostseeprovinzen,
Polens und Finnlands) im ganzen 388 Millionen Dessjatinen. Davon be-
trug der Besitz der Krone, Kirche usw.: 154,7 Millionen Dessjatinen, und
zwar Kronsbesitz*) 137,4°), Schatull- und Apanagmland* 3 *) 7,8, Kirchen- und
y Staatsrechtlich heute — Domänen, verwaltet vom Landwirtschafts-
ministerium, Abteilung für die „gossudarstwennhja Jmuschtschestwa" (= Domänen).
s) Mit den Ostseeprovinzen hat Rußland 138 Mill. Dessj. Domänen (— halb
Frankreich), aber davon liegen 121 Mill. in den Nordgouvernements Archangelsk,
Wologda, Olonez, Wjatka und Perm.
3) Das der Dynastie gehörige Land (udjelnaja), verwaltet von der Kaiser-
lichen Apanagenvcrwaltung (Abteilung des Hosministeriums).
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
163
Klosterbesitz 2,5, Stadtbesitz und Besitz von Korporationen 2,5, Kosaken-
land 3,5. Nadjel- (in der Mirverfassung gebundenes) Land waren 136,3
Millionen, im Privatbesitz 97,7 Millionen Dessjatinen. Es gab 12,2
Millionen Höfe mit Nadjelland, dessen Durchschnittsgröße zwischen
65,1 (Gouv. Olonez) und 3,8 Dessjatinen (Gouv. Podolien) schwankte;
unter 6 Dessjatinen Durchschnittsgröße wies das Nadjelland in 3 Gouver-
nements (Kiew, Podolien, Poltawcch) auf, während es in 33 zwischen 6
und 15, und in 9 (Wologda, Olonez, Grodno, Wjatka, Perm, Ufa, Oren-
burg, Samara, Astrachan, Gebiet der Don-Kosaken)* 8) über 15 Dessjatinen
ausmachte. Vom ganzen Gebiet waren 35 % Nadjelland, 39% Krons-
usw. Besitz und 25,8% Privatbesitz.
Vom Privatbesitz betrug der der Bauern 13,2 Millionen, so daß der
Gesamtbesitz der Bauern in Kernrußland ausmachte: 149,5 Millionen8).
In geistlicher Privathand waren 0,3 Millionen, in der von Kaufleuten
und erblichen Ehrenbürgern 12,8 (einschl. des Besitzes von Gesellschaften
16,6) von Kleinbürgern 3,7, in anderer Hand 1,8, in der fremder Unter-
tanen 0,3 Millionen. Der Adel aber besaß 1905 — Rußland mag etwa
130 000 Großgrundbesitzer haben, unter denen die Fürsten Golizyn,
die Grafen Scheremetew, die Grafen Orlow-Dawhdow, die Balaschows
und Rukowischnikows, dann die Bobrinski, Wolkonski, Jgnatiew,
Stroganow die wichtigsten sind — 49,8 Millionen Dessjatinen.
In seiner Hand waren 1859 in 45 Gouvernements 105 Millionen
Dessjatinen gewesen (einschl. des bäuerlichen Grundbesitzes, über den er ja
das Obereigentum hatte). Durch die Bauernbefreiung verlor er davon
34 Millionen Dessjatinen, also ein Drittel. Die übrigbleibenden 71
Millionen Dessjatinen hat er aber auch nicht halten können, sondern er
hat im Laufe von rund 40 Jahren (von 1863—1905) 21,2 Millionen,
also beinahe ein Drittel seiner Fläche, eingebüßt; 1877 hatte er 70
Millionen, 1887: 65, 1900: 53,7, 1905: 49,8 Millionen Dessjatinen.
Am geringsten war dieser Verlust im Nordwestgebiet, am stärksten in den
Gebieten der industriellen Mitte; der Norden, wie z. B. die Gouvernements
Archangelsk, Olonez, Wologda, ferner auch Astrachan haben keinen Groß-
besitz. Nach der offiziellen Statistik über den Jmmobiliarbesitzwechsel in
*) Gebiete des Hofsystems, nicht der Mirorganisation.
) Alles Gebiete der Peripherie.
8) In 9883 Molchs mit 117 852 Landgemeinden.
11*
164
V. Kapitel.
Rußland für 1907 (erschienen 1914) betrug in 45 Gouvernements des
europäischen Rußlands (in Dessjatinen)
der Grundbesitz des Adels der bäuerliche Privatbesitz
1862 87 181000 1862 5 745 000
1867 83 994 000 1882 10 701 000
1877 77 046 000 1902 22 879 000
1897 58 459 000 1905 24 747 000
1907 47 925 000 1907 26 358 000
Der Adel hat in der Revolutionszeit
verkauft gekauft also Verlust
1905 1 137 167 Dessj. 571000 Dessj. 566 000 Dessj,
1906 1 802 409 „ 461000 „ 1 341 000 „
1907 2 505 060 „ 520 000 „ 1 985 000 „
Die absolute Abnahme der Besitzfläche des Adels ist also auch seit 1905
, nicht zum Stillstand gekommen. Letztere verringert sich alljährlich unauf-
haltsam um 2%, so daß der Adel heute auf einen Bestand von schätzungs-
weise 42—43 Millionen Dessjatinen, eher noch weniger angekommen ist.
Das ihm entglittene Land ist in der Hauptsache auf den bäuerlichen Besitz
übergegangen, der allein durch die Bauernagrarbank (ein 1882 gegründetes
Institut zur Kreditgewährung, Parzellierung und inneren Kolonisation)
über 14 Millionen Dessjaünen (1883—1911) an sich gezogen hat. Gegen
diesen Prozeß unaufhörlicher Verminderung des großgrundbesitzlichen
Landes hat der Staat nichts getan, weder in der Arbeiterfrage noch in den
Fragen der Technik. Die Bevorzugung und Hilfe in der Kreditgewährung
— besonders durch die Adelsagrarbank (1885 gegründet) — wurde durch
den Anreiz zum Verkauf aufgehoben, den die hohen Ankaufspreise der
Bauernagrarbank auf den verschuldeten und sinkenden großen Besitzer aus-
übten.
Dieser gefährliche Zusammenhang wird gewöhnlich über der bäuer-
lichen Not übersehen. Rußland hatte schon in seiner Vergangenheit keine
cutf sich selbst gestellte, selbstbewußte Landaristokratie entwickelt. Nun
kamen diese neuen wirtschaftlichen Motive hinzu, um diesen Mangel zum
Extrem zu treiben. Die großen wirtschaftlichen und politischen Schwierig-
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
165
leiten für eine Regeneration liegen aber auf der Hand, wenn diese ohne
eine fest fundierte, reife Großgrundbesitzerklasse begonnen werden mußte.
Die Agrarnot Rußlands kam in den neunziger Jahren im Lande
selbst, etwas später auch im Auslande zu allgemeinerem Bewußtsein. Die
periodisch wiederkehrenden Hungersnöte mit ihren Anforderungen an die
Wohltätigkeit und die da und dort schon ausbrechenden Bauernunruhen
lehrten, daß die Volkswirtschaft an dieser wichtigen Stelle krank war. Das
Nächstliegende Heilmittel ivar und wurde am ehesten gefordert: die Er-
gänzung des angeblich für die Existenz zu kleinen Landmaßes der Bauern
durch Zuweisung von Land. Der Übergang von Großbesitz auf den
mittleren und Kleinbesitz, den die Bauernagrarbank vermittelte, genügte
noch nicht. Man streckte die Hände nach den Millionen Dessjatinen aus,
die als Krons- oder Apanagenland nur einer geringen Zahl Vorberechtigter
vorbehalten waren, und wenn das nicht genügen sollte, scheute man bald
nicht vor der Forderung zurück, daß überhaupt der private Großbesitz auf-
geteilt werden müsse. Aber eine Austeilung des gesamten Großgrund-
und Kronsbesitzes an die Bauern hätte die Agrarnot noch nicht beseitigt.
Man mußte sich entschließen, auch den zweiten Schritt der Bauernbefreiung
zu tun, d. h. auch die Fessel des bäuerlichen Gemeinbesitzes zu lösen.
Mit der Überführung des bäuerlichen Bodens in Privateigentum und der
damit notwendig werdenden Flurbereinigung waren dann, wo Landmongel
herrschte, Staatsländereien zur Verfügung zu stellen. Reichte das nicht
aus, so standen die Siedlungsgebiete in Westsibirien zu Gebote. Diese
beiden Maßnahmen waren die Voraussetzungen für einen gesunden
Bauernstand, der dann landwirtschaftlich-technisch und durch Kapital
und Kredit weiter gefördert werden mußte. Dabei durste aber mit der
Auflösung des Mir nicht auch das Gemeineigentum an Wald und Weide,
die Allmende, völlig mit beseitigt werden, so gering sie auch sein mochte.
Schließlich war der nun entfesselten Mobilisierung und Zersplitterung des
Bodens ein geordnetes bäuerliches Erbrecht entgegenzustellen.
2. Während und nach der Revolution.
Die Regierung Halle bereits vor der Revolution versucht, der Agrarnot
zu steuern. Doch erst als der Krieg mit Japan schon tobte, entschloß sie sich
zu einem entscheidenden Schritte, indem sie die Solidarhaftung der Ge-
166
V. Kapitel.
meinde (25. März 1904) aufhob. Damit war eine wesentliche Fessel für
weitere Reformen weggefallen. Deren Ziel sprach dann der Ukas vom
25. Dezember 1904 entschieden aus: „Agrargesetze zur Gleichstellung der
Bauern mit der allgemeinen Gesetzgebung des Reiches zu schaffen", damit
diese nach den Worten des Befreiungsmanifests, auf die ausdrücklich Bezug
genommen wurde, „vollberechtigte freie Landbewohner" würden. Nach
40 Jahren wurde endlich der Faden wieder aufgenommen, wo er damals
fallen gelassen worden war. Bon da bis zum November-Ukas 1906 erging
nun eine ganze Reihe von Anordnungen, die, zwar unter dem Drucke der
revolutionären Bewegung, aber im einzelnen nicht von ihr beeinflußt, das
Werk Stolypins vorbereiteten.
Noch keine durchgreifende Maßregel, aber eine gewaltige Erleichterung
war der Erlaß von früheren Vorschüssen und (16. November 1905) des
gesamten Restes der Loskaufszahlungen, vom 1. Januar 1906 an zur
Hälfte, vom 1. Januar 1907 an vollständig. Rund 90 Millionen
Rubel jährlich wurden damit den Bauern geschenkt, wohl das größte Ge-
schenk, das je von einem Staate seinen Untertanen gemacht worden ist —
und das in einer Zeit der Geldknappheit und des Sinkens der Staats-
L Papiere. Danach aber, nach Aufhebung der Solidarhaft und Erlaß der
dadurch gedeckten Loskaufszahlungen, fehlte nun jeder Grund dafür, den
Bauern im Mir weiter festzuhalten.
Am 17. März 1906 folgte die Einsetzung der Landorganisations-
kommissionen und des Komitees für Landorganisation (Semle-ustroistwo
beim Landwirtschaftsministerium, die heute noch bestehend, die Agrar-
reform an der Lokalstelle, in Gouvernement und Kreis, durchzuführen
haben. Und, schon nach dem Ende der ersten Duma, (26. August, 9.
September, 2. Oktober 1906), wurden viele Hunderttausende von
Dessjatinen Apanagen-, Krons- und Kabinettsland, (d. h. das dem Zaren
in Sibirien gehörende Land), das Apanagen- und Kronsland im euro-
päischen Reichsteile, rund 9 Millionen Dessjatinen, der Bauernsiedelung zur
Verfügung gestellt.
Das waren zwar ungeheure Zugeständnisse, aber da ihre Wirkungen
sich nicht unmittelbar bemerkbar machen konnten, sind sie ohne Einfluß
auf die Revolution geblieben. Diese ging vielmehr auf das Ganze und
verlangte — Revolutionäre und Liberale — als einzig diskutables Heil-
mittel die Enteignung des großen Besitzes zugunsten des kleineren. Zeit-
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
167
weilig schlugen diese Wellen so heftig in die Regierung hinein, daß auch
der Landwirtschaftsminister (Kutler) den Gedanken der Enteig-
nung wenigstens für die in dauernder Nutzung der Bauern als
Pächter befindlichen Teile des Großgrundbesitzes in sein Reform-
projekt hereinnahm. Aber bald nahm die Regierung einen unbedingt
ablehnenden Standpunkt gegen diese Agrarprojekte der Duma ein.
Zwei Kardinalbehauptungen wurden in diesen Debatten als Axiom be-
trachtet und haben vor wie nach der Revolution auch das Urteil in Europa
bestimmt: daß der Bauer zu wenig Land habe, und daß er durch
den Steuerdruck gezwungen sei, rnehr zu verkaufen, als er nach seinen
Existenzbedürsnissen verkaufen dürfte. Der Landmangel war im all-
gemeinen, wenn er natürlich auch nicht in Bausch und Bogen durch das
ganze Land gleichmäßig galt, nicht zu bestreiten. Immerhin ist die Durch-
schnittsgröße allein des Nadjellandes (zu dem dann noch jene 13,2 Millionen
Dessjatinen Privatbesitz in bäuerlicher Hand und das von Bauern ge-
pachtete Land zuzurechnen sind) nach der Statistik von 1905, wie erwähnt,
nur in drei südlichen Gouvernements unter 6 Dessjatinen, dagegen in 33,
dem Hauptteil, zwischen 6 und 15 Dessjatinen — d. h. zwischen 24 und 60
preuß. Morgen. In jedem Falle war der Landmangel nicht der einzige
Grund der Agrarnot, erlöste seine mechanische Beseitigung nicht allein
davon. Der Steuerdruck auf den Bauern aber war an sich auch nicht über-
hoch. Der Bauer hatte zu zahlen: 1. die (aus der Kopfsteuer hervorgegangene,
übrigens von 1896—1906 nur zur Hälfte erhobene) Reichsgrundsteuer
(5 Kopeken auf die Dessjatine), 2. die Loskaufszahlungen, soweit er sie noch
schuldig war, 3. die Semstwoumlagen, 4. die Gemeindeumlagen. Außer-
dem trug er durch die Solidarhaftung Last und Ausfall der anderen Mir-
genossen mit. Die Belastung betrug 1904 auf die Dessjatine im Durch-
schnitt der 60 europäischen Gouvernements 145,4 Kopeken, 1906 (nach
dem Erlaß der Loskaufszählungen) nur noch 113,5 Kopeken, also wenig
über 1 Rubell). Die Höhe der indirekten Steuern ist im einzelnen nicht
zu fassen, aber durch die Wittesche Politik sicherlich gestiegen; von ihnen
*) Nach: Swod swjedjenij o postuplenii i wsimanii kasennych,
semskich i obschtschestwennych okladnych sborow sa 1904—1906 gg.
(Herausg. vom Finanzministerium. Petersburg 1910) S. II und die Einzel-
tabellen. Außerdem s. das Beispiel bei Borchardt, Die bäuerlichen Ver-
hältnisse im südwestlichen und zentralen Rußland. (Berlin 1902) S. 21.
168
V. Kapitel.
trafen den Bauern in erster Linie das Branntweinmonopol, die Zucker-,
Tabak- und Zündholzsteuer. Schwer, ja unerträglich wurde die an sich
geringe Last der direkten Steuern erst durch die Solidarhaftung und die
Steuerrückftände, weil der einzelne Steuerzahler nie vorher wußte, wieviel
er zu bezahlen habe, und durch die unpraktische und rücksichtslose Ein-
treibung der Steuern. Drei Viertel bis vier Fünftel der Steuern wurden
tatsächlich im Herbste erhoben, so daß der Bauer die Ernte sofort und zu
jedem Preis verkaufen mußte. Und Gemeinde, Jsprawnik, Landhaupt-
mann, Kameralhos und Steuerinspektor wirkten in möglichst rücksichts-
loser Eintreibung der Steuern und Rückstände zusammen. Der Getreide-
handel, Pacht- und Schuldzinsen, die überall sehr hoch waren, taten das
ihrige hinzu, um die Last unerträglich zu machen. Für diese Sonder-
beschwerden aber hatten spätere Reformen einzusetzen, für die durch die Be-
seitigung der Solidarhaft und den Erlaß der Loskaufszahlungen mit einem
Ruck schon freie Bahn geschaffen war; der Bauer nach 1905 war bereits
erleichtert.
Aber dafür hatte die aufgeregte Erörterung des Jahres 1906 keinen
Sinn. Die Duma scheiterte an ihrer radikalen Behandlung der Agrar-
frage. Dafür griff nach ihrer Auflösung die Regierung fest ein. Auf der
Basis eines klar durchdachten und umfassenden Programms*) hat Stolypin
mit fester Hand den Staat aus dem Wirrsal der Agrardebatten heraus-
gesteuert. Der Ukas vom 22. November 1906, dazu der vom 18. Oktober
über die rechtliche Gleichstellung der Bauern, und das auf dem Ukas vom
22. November 1906 beruhende Gesetz vom 27. Juni 1910 waren der
Anfang zu einem gewaltigen Agrarreformwerkst, dessen Notwendigkeit der
Ministerpräsident vor allem in dem politischen Interesse sah, der Revolution
in ihrem agrarischen Teile den Boden abzugraben. Er war sich der Konse-
quenzen für die schwächeren Schichten dieses Bauerntums, die bisher noch
mitgeschleppt worden waren, bewußt, und sprach mit brutaler Offenheit
aus, daß die Regierung den „Starken" helfen wolle. Dabei lag ihm die
Sorge für den Bauernstand viel mehr am Herzen als die für den Adel, so
sehr, daß Fürst E. Trubezkoi spottete, er sei der Geburtshelfer des kleinen
Grundbesitzes und der Totengräber des Großgrundbesitzes geworden.
st In seiner Erklärung vor der 2. Duma vom 19. März 1907.
st Es sei nochmals betont, daß diese Agrarreform nicht für die Grenzmarken
und auch nicht für Sibirien gilt.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
169
Von dieser grundsätzlichen Anschauung aus war die Reform in drei
Stufen durchzuführen: Möglichkeit des Ausscheidens aus dem Mir —
Flurbereinigung — und (wenn auch nicht ebenso wichtig) die Aussiedlung in
Einzelhöfe. Die Grundlage für alles das schuf der Ukas vom 22. November
1906, der, auf Grtlnd des Paragraphen 87 erlassen, nach langen Debatten
unter dem 27. Juni 1910 zum Gesetz erhoben wurde. Die beiden
wichtigsten Sätze daraus sind: „§ 1. Jeder Hauswirt, der Nadjelland
nach Mirrecht besitzt, kann jederzeit verlangen, daß die auf ihn kommenden
Teile dieses Landes ihm als Privateigentum zugewiesen (wörtlich: gefestigt
— ukrjeplenie) werden. § 12. Jeder Hauswirt, dem Teile des Nadjel-
landes in vorbezeichneter Ordnung zugewiesen sind, hat das Recht, jeder-
zeit zu fordern, daß die Gemeinde ihm in Austausch seiner Landanteile
einen entsprechenden Landanteil möglichst an einer Stelle aussondere."
Wer aber sollte nun aus dem Mir ausscheiden können, der einzelne
Nadjelberechtigte oder der Hausvater (Domochosjain)? Entschied man sich
für den ersteren, so hatte der Einzelne im Dorf nur soviel Recht, wie
hunderttausende schon in der Stadt Wohnende, in deren Vorstellungen
immer noch der Gedanke lebendig war, daß sie nur zeitweilig zur Stadt,
zum Proletariat gehörten, daß für sie weit draußen auf dem Lande noch
ein Anteil in ihrer Dorffamilie vorhanden sei, auf den sie sparen und sich
im Alter zurückziehen könnten. Von diesem Standpunkt, der in der Duma
Anhänger fand, war die Agrarfrage überhaupt nicht zu lösen. Sollte
aber nur der Hausvater die Austeilung aus der Gemeinde verlangen
können, so mußte diesem der gesamte Familienanteil nun als Jndividual-
eigentum zugeschrieben werden, wenn eine leistungsfähige Bauernwirtschaft
entstehen sollte. Dann aber mußten jene ideellen Berechtigungen —
unter den Tisch fallen. Es war nun das Verdienst vor allem des Okto-
bristenführers Baron Alexander Meyendorff, mit juristischer Schärfe
zwingend nachgewiesen zu haben, daß die Institution dieses Familienbesitzes
innerhalb des Mir rechtlich nicht zu fassen, die Bauernfamilie also als
Subjekt des Zivilrechts nicht zu konstruieren sei. Mit dieser Erkenntnis
drohten die Erörterungen in der Duma in eine Sackgasse zu geraten: auf
der einen Seite wollte man den Mir doch erhalten, auf der anderen
Seite die Berechtigung der Familienmitglieder daran, auf der dritten ging
man gegen Großgrundbesitz und Mir überhaupt an — solche Gegensätze
schienen unversöhnbar.
170
V. Kapitel
Aus dieser Schwierigkeit, an der die ganze Resornr zu scheitern
drohte, war nur durch einen Entschluß herauszukommen, der auch vor
vielleicht gefährlichen Konsequenzen nicht zurückschreckte. Er wurde unter
dem Drucke Stolypins von der Dumamehrheit gefaßt: sie stellte den
Hauswirt als den Bauern hin, der berechtigt sei, das Ausscheiden seines
Anteils aus dem Mir zu verlangen, um dann auf separierter eigener Flur
Alleineigentümer zu sein. Jene unbestimmten Berechtigungen der
Familienmitglieder wurden ohne Entschädigung einfach gestrichen. Mit
vollem Bewußtsein wurde darauf hingewiesen, daß damit jene Elemente
in den Städten, die nur tatsächlich städtisches Proletariat waren — nach
ungefährer Schätzung 4—5 Millionen Männer •—, nunmehr auch recht-
lich dazu wurden. Die damals befürchtete Gefahr einer neuen sozialen
Erschütterung ist bis zum Weltkrieg nicht eingetreten. Die Erwartung be-
stätigte sich vielmehr, daß durch die Reformarbeit ein Bauernstand ent-
stehen würde, der als konservative Macht mit dm anderen, an Ordnung
und Besitz interessierten Schichten des Volkes gegen jenes Proletariat
stehen konnte, und daß dann dieses allein auf seine eigenen Kräfte an-
gewiesen blieb. In dieser Absicht haben Stolypin und die Vertreter des
großen Besitzes in der Duma das Gesetz schließlich durchgebracht, um die
ihnen bisher feindlich gegenüberstehende Bauernmasse zu teilen und die
gemeinsamen Interessen von Großbesitz und bäuerlichem Besitz gegen das
Proletariat hervortreten zu lassen, und diese Rechnung hat auch nicht
getrogen.
Mit großen Unklarheiten und parlamentarischen Schwierigkeiten war
so zu kämpfen, ehe das Gesetz zustande kam. Die Linien für seine Aus-
führung zog auf Grund des Ukases über die Einrichtung der Landorgani-
sationskommissionen vom 17. März 1906 das Gesetz über die Land-
organisation vom 11. Juni 1911. Dieses und jenes vom 27. Juni 1910
wurden das einheitliche Fundament der neuen Agrargesetzgebung.
Danach wurden für jeden Kreis und jedes Gouvernement Kom-
missionen in Aussicht genommen, die von einer Abteilung des Land-
wirtschaftsministeriums, dem „Komitee für Landorganisationsangelegen-
heiten", ressortieren. 1913 gab es in 463 Kreisens und in allen 47 Gou-
vernements derartige Kommissionen; etwa ein Drittel davon arbeitete seit
0 Bon 490 in Betracht kommenden.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
171
1906. Die Kreiskommissionen bestehen aus je drei Vertretern des Kreis-
semstwos und der Bauern. Die drei Bauern werden von den Wolost-
versammlungen gewählt, die 3 Kreissemstwomitglieder werden stets Guts-
besitzer sein. Dazu -tritt ein Mitglied der Gemeinde, die gerade bearbeitet
wird, für die Dauer dieser Arbeit. Vertreter des Staates sind (als Vor-
sitzender) der Kreisadelsmarschall, der oder die Landhauptleute des Kreises
(mit beratender Stimme), ein Mitglied des Bezirksgerichts, der Chef des
Kreissemstwoamtes (stellvertretender Vorsitz), und das sog. ständige Mit-
glied (nepremjenny Tschlen), vom Landwirtschaftsminister ernannt, der
eigentliche Leiter der Geschäfte, im ganzen mindestens 12 Mitglieder, 9 ge-
wählte und 3 ernannte. Die Gouvernementskommission, die die zweite
Instanz der Kreiskommissionen ist, bilden der Gouverneur (Vorsitz), der
Gouvernementsadelsmarschall (Vizevorsitz), der Chef des Gouvernements-
Semstwoamtes, der Präsident und ein Mitglied des Bezirksgerichts, ein
Mitglied der Gouvernementsverwaltung, der Gouvernementsfeldmesser,
ebenfalls ein „ständiges" Mitglied und 2 von den Semstwos Gewählte,
von denen einer (Nadjelland besitzender) Bauer sein muß: im ganzen 10
Mitglieder, davon 7 Beamte, 3 Gewählte. Darüber steht das Ministerial-
komitee, das Vertreter aller beteiligten Ressorts bilden, von Anfang an ge-
leitet durch A. A. Ritticksi), der die Seele dieser ganzen, vom Landwirtschafts-
minister Kriwoschein sehr energisch geförderten, amtlichen Arbeit war. Diese
Gliederung ergibt Behörden, wie sie im russischen Verwaltungsrecht ziemlich
häufig sind, sog. gemischte Behörden, eine vortreffliche Kombination von
Staats- und Selbstverwaltung und Interessenten. Es sind Behörden in
Permanenz. Darunter steht das Unterpersonal an Agronomen und
namentlich Landmessern. Im ganzen ist das ein Stab von rund 8000
Beamten, deren Arbeit jährlich rund 12 Millionen Rubel (davon fast 70 %
für die Vermessungsarbeiten) kostete; für 1914 waren sogar 25)4 Million
Rubel dafür angefordert.
Die Voraussetzung zum Beginn der Arbeit ist der Wunsch des
Bauern: jeder einzelne Hauswirt kann den Austritt aus der Feldgemein-
schaft und Gemengelage fordern. Zwangsweise kann die Auflösung für den
einzelnen nur auf Beschluß der Gemeinde erfolgen, mit einfacher Mehrheit
da, wo schon Einzeleigentum vorhanden ist, mit zwei Drittel Mehrheit
st 28. November 1916 Landwirtschaftsminister geworden.
172
V. Kapitel
da, wo es sich um Gemeineigen handelt. Die Gemeinde ist leicht ein
Hindernis, weil in der Gemeindeversammlung oft Elemente entscheiden, die
am alten Zustand ein Interesse haben; außerdem spielen Trägheit und
ähnliche Motive mit. Die Korrektur dafür liegt in der Möglichkeit für
den einzelnen, auszuscheiden, der dann sehr oft die Gesamtheit veranlaßt
oder zwingt, seinem Beispiel zu folgen. Daher unterscheidet die Arbeit der
Kommissionen Landorganisation für Einzelpersonen hjedinolitschno) und
für Gesamtheiten (gruppowoje); das Verhältnis war bisher in den fertigen
Arbeiten etwa wie 5:3. Die Organisation für Einzelne überwog er-
klärlicherweise im Westen und Süden, die nach Gruppen im Nordosten.
Ist die rechtliche Voraussetzung gegeben, so beginnt die Arbeit der
Kreiskommission. Wenn seit 24 Jahren keine Umteilung in der Gemeinde
stattgefunden hat, gelten die bestehenden Eigentumsverhältnisse ohne
weiteres nunmehr als Recht. Sonst ist schon aus dieser Stufe der Arbeit
eine Bestimmung und Ausgleichung der einzelnen Berechtigungen nötig.
Darauf fängt die eigentliche Auseinandersetzung an: Entwurf des Wege-
netzes und — nicht überall — Bonitierung, danach Zumessung der
einzelnen geschlossenen Grundstücke nach Wertklassen an die Beteillgten,
berechnet nach ihrem bisherigen — ideellen^) — Anteil an der Gemarkung;
die Zuteilung erfolgt meist durch das Los. Natürlich wird mit dem Anteils-
lande stets auch gleich das Privatland verbunden, das der Bauer bereits
in seinem Besitz hatte. Auf diese Weise sucht man sofort leistungsfähige
Bauernwirtschaften zu schassen. Welche Schwierigkeiten sich dabei auf-
türmen, liegt auf der Hand; man braucht nur an die entsprechende Arbeit
der preußischen Generalkommissionen zu denken. Diese Schwierigkeiten
waren hier noch größer, weil es zu Beginn der Arbeit an jedem technischen
Apparat fehlte. Mußte man sich doch das nötige Personal an Land-
messern überhaupt erst schaffen — von 200 Beamten 1907 wuchs die
Zahl auf rund 6000 in 1912.
Mit dieser Verkoppelungsarbeit wird die innere Kolonisation entweder
durch Verpachtung oder Verkauf jener zur Verfügung gestellten Krons-
ländereien oder im Zusammenarbeiten mit der Bauernagrarbank oder
0 Tatsächlich wird der bisherige Besitzstand nicht vermessen und abgeschätzt,
weil das die Arbeit unendlich aufhalten würde. Da die Bauern selbst mitarbeiten,
wird das auch nicht als Ungerechtigkeit empfunden.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
173
durch Förderung der Übersiedlung nach Sibirien verbunden, ferner die
Aussiedlung in Einzelhöfe und die materielle Unterstützung der in neue
Verhältnisse gebrachten Bauern.
Da es sich bei allen diesen Maßnahmen sowieso um eine vollständige
Revolutionierung der Besitzanordnung handelte, warf man ferner die Frage
auf, ob die Gelegenheit nicht zum Übergang von der Dorssiedlung in die
Hossiedlung mit arrondiertem Ackerland (Chutor) günstig sei. Das hat in
Rußland eine besondere Bedeutung, weil nur auf diese Weise der ge-
waltigen Vernichtung von Eigentum durch Feuerschaden entgegengearbeitet
werden kann. Da das russische Dorf nur aus Holzhäusern besteht, die
eng aneinandergebaut sind, brennt bei einer der häufigen Feuersbrünste
das Dorf vollständig ab; das ist eine ganz regelmäßige, gleichsam periodisch
wiederkehrende Erscheinung im Leben des Muschik. Daher hatte die Ab-
sicht, die Bauern gleich in Einzelhöfe auseinanderzusiedeln, viel für sich; die
Kosten sind schon durch die Erwägung gedeckt, daß sie gewissermaßen eine
Versicherungsprämie gegen Feuerschaden darstellen. Andererseits wider-
strebt dem die gesellige Natur des großrussischen Bauern. Tatsächlich hat
auch die Einzelhofsiedlung bisher die weiteste Verbreitung in den klein-
russischen Gouvernements sowie in denen an der mittleren Wolga und im
Westgebiet (wo sie übrigens schon vor der Agrarreform bestand) gefunden,
dagegen sich im zentralrussischen und nordöstlichen Rayon viel weniger
durchgesetzt. An vielen Stellen des Südens ist sie nach den Wasserver-
hältnissen überhaupt unmöglich.
Die Unterstützung an die „landorganisierten" Bauern erstreckt sich
weiter auf direkte Meliorationsarbeiten, namentlich in hydrotechnischer Be-
ziehung, auf zinsfreie Darlehen u. dgl. Ende 1911 waren über 1000
Brunnen und über 1200 Werst Entwässerungskanäle angelegt, 10 472
Musterwirtschaften und Versuchsfelder, 787 Beschälanstalten, 503 Korn-
reinigungsstationen, 99 Molkereien, 1014 Leihstellen für Maschinen usw.
und 361 Agronomen vorhanden; rund 14,4 Millionen Rubel waren in
verschiedener Form der Unterstützung ausgegeben.
Die Resultate der Arbeit waren bis zum Kriege gewaltig. In Frage
für sie kamen vor allem die 55% des gesamten Landbesitzes, die sich 1905
im Kollektiv-Eigentum des Bauerntums befanden. Bis zum 1. Januar
1912 waren von 2,65 Millionen Höfen des Nadjellandes die Anträge auf
Durchführung der Reform eingegangen und war davon die Arbeit für fast
174
V. Kapitel.
900 000 mit 8 Millionen Dessjatinen vollständig fertig; für im ganzen
12,4 Millionen waren die Pläne und für im ganzen 10,7 Millionen die
Vermessungsarbeiten fertig. In 5 Gouvernements hatte die Zahl der an-
tragstellenden Höfe 100 000 überschritten. In Arrende hatten die Kom-
missionen A.Vi Millionen Dessjatinen ausgegeben, verkauft vom Kronsland
329 000 Dessjatinen (im Wert von 32 % Milk. Rubel) an 57 000 Käufer;
davon waren 305 000 Dessjatinen in Form des Einzelhofs besiedelt
worden. Mit der Bauernagrarbank zusammen wurden über 7 Millionen
Dessjatinen zum Verkauf kommenden Landes bearbeitet, davon 5 Millionen
für preiswert und zum Ankauf geeignet erklärt.
Ende 1912 hatten die Landorganisationsarbeiten in allen 47 Gou-
vernements 20 Millionen Dessjatinen erfaßt, d. h. 5,3 % der gesamten
Landfläche dieser Gouvernements. Am weitesten voran war das Gouver-
nement Charkow, wo schon über 140 000 Höfe erfaßt waren. Dann
folgen der Reihe nach Kasan, Woronesch, Jekaterinoslaw, Moskau, Wol-
hynien, Cherson, Saratow, Perm, Jaroslaw, Samara und Wladimir.
Am weitesten zurück sind Wjatka und Olonez (2000 Höfe). Am weitesten
voran in den völlig fertigen Arbeiten waren Samara (über 1 Million
Dessjatinen), Jekaterinoslaw (722 000), Charkow (516 000), Moskau, am
weitesten darin zurück Archangelsk, Wjatka und Podolien (36 500 Dess-
jatinen), wo die Durchschnittsgröße des bäuerlichen Besitzes am geringsten
im ganzen Reiche ist. Das Areal, das bereits erfaßt war, war beinahe so
groß wie zwei Fünftel von Deutschland (39% der Fläche des Deutschen
Reiches). Bis Ende 1913 waren die Arbeiten für 2 Millionen Höfe mit
17,1 Millionen Dessjatinen fertiggestellt, die Pläne ausgearbeitet für 21L
Millionen Höfe mit 23 Millionen Dessjatinen^). An der Spitze marschierte
das Gouvernement Jekaterinoslaw, dann folgten Cherson, Charkow,
Samara, Poltawa. M. a. W. die Agrarreform hatte vor allem die
Schwarzerde erfaßt; der Norden stand noch zurück, am weitesten dort die
Gouvernements Archangelsk und Olonez. Man berechnete das unter die
Reform fallende Land auf 140 Millionen Dessjatinen, so daß bei Ausbruch
des Krieges rund 12 % der Ausgabe erfüllt waren und das Riesenwerk in
40—45 Jahren vollendet gewesen wäre.
0 Nach dem amtlichen Bericht: „Ergebnisse der Arbeiten der Haupt-
verwaltung der Landorganisation und des Ackerbaues für die letzten 5 Jahre (1909
bis 1913)", veröffentlicht im Februar 1914.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
175
Die Landkommissionen arbeiten mit der Bauern- und Adelsagrar-
bank zusammen, so daß im ganzen eine Verbindung etwa von preußischer
Generalkommission und Parzellierungsbank herauskoynnt. Diese gemein-
same Arbeit führt zu einer starken Mobilisierung des Grundbesitzes, indem
sie nun auch den bisher gebundenen bäuerlichen Besitz hereinzieht. Die
Komissionen haben bisher auch der Tätigkeit der Bauernagrarbank,
soweit sie volkswirtschaftlich schädlich wirkt, entgegenzuarbeiten weder ver-
mocht noch gewollt. Von 1905—1909 hat die Bauernagrarbank nicht
weniger als 3,17 Millionen Dessjatinen gekauft und 1,9 Millionen Dess-
jatinen an Bauern verkauft. Die Bank übernimmt dabei die auf den
Gütern haftenden Privatschulden, zahlt in Pfandbriefen und hat das
Recht, dafür die an Bauern zu verkaufenden Liegenschaften bis 90 % und
darüber zu beleihen. Mit ihr wetteifern in diesen Grundsätzen der Arbeit
10 private Agrarbanken und mit ihr geht die Adelsagrarbank zusammen.
Dem Landwirtschaftsminister Kriwoschein war aber von vornherein
kein Zweifel, daß diese Arbeit erst die Voraussetzungen gesunder bäuer-
licher Entwicklung schuf: einen klaren Eigentumsbegriff und ein klares
Rechtsverhältnis des Bauern zu seiner Scholle, die er jetzt als Privat-
eigentümer privatwirtschaftlich, nur für sich selbst und seine Familie be-
stellen konnte. Nun konnte und mußte die Hebung der Technik folgen. Es
ist darin auch durch das Landwirtschaftsministerium in den letzten 5 Jahren
vieles geschehen: landwirtschaftliche Schulen niederer und höherer Art
entstanden, landwirtschaftliche Ausstellungen und Vereine, landwirtschaft-
liche Maschinen- und Versuchtsstationen (1912 waren es über 110, von
denen 70 in der Zeit von 1900—1912 entstanden sind) sind geschaffen,
Agronomen usw. bestellt worden. Nur auf diesem Wege war es ja möglich,
die Erschöpfung des Bodens wieder gutzumachen und den Ernteertrag, der
jetzt, auf die Dessjatine berechnet, der niedrigste in ganz Europa ist, zu
steigern. Damit hing weiter zusammen, daß Kriwoschein auch den Kustar
in den Bereich seiner Fürsorge einbezog und die innere Kolonisation im
größten Maßstabe in sie einordnete. Jahrelang vor seiner Ernennung
zum Minister in der sog. Übersiedlungsverwaltung nach Sibirien tätig
gewesen, rückte er diese Bewegung, unterstützt durch seinen bedeutenden
Mitarbeiter Glinka, jetzt an die richtige Stelle. Ferner nahm er die Kulti-
vierung des auf 30 Millionen Dessjatinen geschätzten Ödlandes, der Sumpf-
und Sandgegenden besonders der Polesje im Westgebiet und des Südost-
176
Y. Kapitel.
gebiets in Aussicht. Wie er damit auch die Kolonialpolitik für Turkestan,
Sibirien und Transkaukasien organisch verband, wird später zu zeigen
seiw). Da ihm auch die Sorge für das daniederliegende Forstwesen und
die Fischerei sowie die Reichsdomänen oblag, wurde sein Ressort zu einer
Zentrallandeskulturbehörde ersten Ranges, die von 1909 bis 1913 über
eine halbe Milliarde Rubel für ihre Zwecke ausgab, ebensoviel aber auch
einnahm.
Uber Kriwoscheins Ressort hinaus gingen weitere drängende Re-
formen, die sich aus dem großen Werk ergaben. Das landwirtschaftliche
Kreditwesen mußte geregelt werden. Soweit es möglich war, hatte sich
dessen auch der starke genossenschaftliche Sinn des russischen Bauern schon
stark bemächtigt. Gegen 3500 landwirtschaftliche Genossenschaften 1906
gab es 22 000 im Jahre 1912, von denen 7000 Kreditgenossenschaften,
4000 Sparkasseuvereine, 6500 Konsumgenossenschaften, 1500 Molkerei-
und 3500 sonstige (Bezugs- und andere) Genossenschaften waren"). Einer
weiteren Entwicklung stand bisher die ständische Abgeschlossenheit des
Bauern entgegen. Ferner machte die Auflösung des Mirs einen Hhpo-
thekarkredit erst möglich, einen gesunden, aber ebensosehr und zunächst noch
viel mehr einen ungesunden. Und wie sollte verhindert werden, daß der
Kreditgeber im Falle der Zahlungsunfähigkeit des bäuerlichen Schuldners
in die Bauerngemeinde selbst als Eigentümer eindringt? Die darin liegende
Gefahr ist auch ins Auge gefaßt worden. Aber wenn der Bauer den anderen
Staatsbürgern gleichgestellt wurde, dann war das Bauerntum als Stand
rechtlich nicht mehr zu fassen und sein Land vor dem Übergang an nicht-
bäuerliche Hypothekargläubiger nicht zu sichern. Diese Schwierigkeit ist noch
nicht gelöst worden und hängt auf das innigste mit der ganzen Neuordnung
der Rechtsverhältnisse für die Bauern zusammen.
Schließlich gehörten zu diesen Reformen noch die Fragen der Allmende
und des bäuerlichen Erbrechts. Die Bauernbefreiung hatte an sich derr
Bauern sehr wenig Wiesenland zugeteilt, das unter dem Drucke des
Landmangels weiter verringert wurde, indem man immer mehr davon
unter den Pflug nahm. Die Reform der Gegenwart aber steht unter der
y Kapitel IX.
2) In diesen Zahlen ist das hochentwickelte landwirtschaftliche Genossenschafts-
wesen Weststbiriens einbegriffen.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
177
Parole der unbedingten Gemeinheitsteilung und führt zur absoluten Auf-
teilung des Gemeindelandes, also auch der Gemeindeweiden, was zu großen
wirtschaftlichen und sozialen Schäden führt. Geschehen ist dagegen nichts.
Ebenso kam die Frage des bäuerlichen Erbrechts nicht aus dem
Stadium der Erwägungen heraus. Die Konsequenz der Agrarreform war
theoretisch die Einführung eines Aneröenrechts. Denn die Gefahr, daß die
tiefgewurzelte Gewohnheit der Realteilung unter allen Söhnen zu gleichen
Teilen die Agrarreform wieder illusorisch machte, war besonders groß.
Gerade mit Hilfe der Agrarreform und des doch immer noch lebendigen
Familienbegrisfs konnte dann der neugeschaffene Einzelhof wie ein Mir im
kleinen betrachtet und von den Nachkommen des ersten arrondierten Bauern
in der alten Weise weiter realiter geteilt werden, und dann war die alte
Zersplitterung und das alte Elend wieder da. Der Entwurf Kriwoscheines
ruhte im wesentlichen auf dem Anerbenrecht nach hannoverschem Vorbild,
ist aber nicht Gesetz geworden.
Während so für die bäuerliche Seite die ersten notwendigen Arbeiten
in Gang kamen, wurde das Problem für den Adel kaum erst erkannt.
Ans den Adelskongressen wurde immer lebhafter die Notwendigkeit betont,
den Landverlust des Adels aufzuhalten, und auf den schlimmen Gegensatz
hingewiesen, daß der polnische Adel sich konsolidiere und der baltische seinen
Betrieb außerordentlich intensiviert habe, während die Wirtschaft auf den
russischen Adelsgütern meist ganz rückständig sei und der Adel als Stand
immer mehr zusammenschmelze. Aber trotz des Einflusses des großen
Besitzes in der Duma ist es nicht einmal zu brauchbaren Reformvorschlägen
gekommen.
Desgleichen ist in der Landarbeiterfrage nichts geschehen, obwohl in der
Duma öfter, besonders aus dem Zentralrayon, über einen empfindlichen
Mangel an Landarbeitern geklagt wurde und dieser immer größer werden
mußte, je mehr die Agrareform und die innere Kolonisation in dem dünn
bevölkerten Lande Bauern im modernen Sinne schuf.
Das Urteil über die Agrarreform schwankt stark nach der Partei-
ansicht. Das jedenfalls steht heute fest, daß es nur mit dem Befreiungs-
werke der 60er Jahre zu vergleichen ist und daß auch seine Durchführung
bei allem gewaltsamen und überhasteten, das sie an sich trug, vor-
trefflich war. Es ist richtig, daß sie erst endgültig ein landloses Proletariat
schuf und daß sie nicht durch eine ausreichende Kolonisation im Jnnem
Hoetzsch, Rußland. 12
178
V. Kapitel.
des Kerngebiets ergänzt wurde, wozu man allerdings Gutsland, mindestens
das auf 20 Millionen Dessjatinen veranschlagte Gutsland, das in bäuerlicher
Pachtnutznng war, hätte heranziehen müssen. Diese Frage hat man versanden
lassen, so daß der Landhunger der Bauern, vorhanden und dazu agitorisch
geweckt, immer noch nach dem Gutslande verlangt. Im Kriege hat man
ihn dann auf die Ländereien der enteigneten deutschen Kolonisten abgelenkt.
Aber trotz dieses Mangels bleibt die Agrarreform ein gewaltiges Werk.
Der Staat gab seinen Bauern etwas und löste sic so von den Schichten der
Unzufriedenheit und Revolution; der Krieg bewies, wie richtig Stolypin
gerechnet hatte.
Die treibende Kraft war vornehmlich der Landwirtschaftsminister
A. W. Kriwoschein, der, Stolypins Gedanken der Auflösung des Mir
aufnehmend, ihn, selbständig und führend, zu jenem großen Agrar-
programm erweiterte. Der Geist, der es durchweht, ist ganz merkan-
tilistisch, die Idee, die Bodenschätze des Landes so zu entwickeln, daß Ruß-
land wirtschaftlich unabhängig werde, ja noch mehr, daß es „eine Korn-
kammer der Welt" werde*). Diesem Ziel strebte er mit einem in Rußland
nicht häufigen Drange nach organischer und systematischer Geschlossenheit
zu und*) „Hand in Hand gehend mit den landschaftlichen und gesell-
schaftlichen Organisationen". Konservativ und, wie seine kolonialpolitischen
Gedanken zeigen, nationalistisch, stand Kriwoschein doch auf dem
Standpunkte, daß der Staat mit den Kräften der Gesellschaft, der Selbst-
verwaltung wie der Duma, zusammen arbeiten müsse, und war deshalb
der bedeutendste Gegner Goremykins. Als einer der positivsten Staats-
männer, die Rußland je gehabt hat, war er auch ein Gegner der Pansla-
wisten und des Krieges. Nach beiden Richtungen hat er seinen Standpunkt
nicht durchsetzen können; am 8. November 1915 hat er weichen müssen
und trat vom Amte zurück.
Als Rußland am 3. März 1911 den 50. Gedenktag der Bauern-
befreiung beging, wies das Manifest Nikolais II. an Stolypin darauf hin,
daß die alexandrinischen Reformen nun entscheidend weiter geführt würden.
Die Bauernmasse war nach langer Stagnation wieder in einen Um-
bildungsprozeß gestürzt, dessen Tragweite noch gar nicht abzusehen war.
Schnell ging allein die Umbildung der Rechtsformen. Diese aber mit
*) So im Schlüsse jenes Berichts von 1914.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
179
gesundem Leben zu erfüllen, so, daß alle Schäden der Agrarverfassung, des
Landmangels, der Kapitalnot, der technischen Rückständigkeit, der Un-
bildung beseitigt wurden, dazu brauchte das Land längere Zeit. Hätte es
diesen Prozeß auch nur annähernd im Frieden zu Ende führen können,
so wären seine sozialen Verhältnisse zum größten Teile gesundet. Zugleich
hätte sich damit auch seine Stellung in der Weltwirtschaft wesentlich ver-
ändert: es wurde nicht noch stärker Getreideausfuhrland, sondern hätte
seine Getreideproduktion zunehmend im eigenen Lande konsumiert, weil
von der Agrarreform aus ein gesünderes, kapitalistischeres Wirtschaftsleben
entwickelt und von ihr Industrie und Handel belebt worden wären. Die
Folge wäre dann gewesen, daß der Zwang zur Getreideausfuhr und der
Druck auf die Ausfuhrwege, insonderheit die Dardanellen, geringer und
daß Rußland dafür zur Aufnahme der industriellen Produktion Europas
fähiger wurde. Diese Aussichten haben seine Machthaber, die es in den
Krieg stürzten, ihrem Lande mit eigener Hand zerstört.
III. Finanzen, Finanz- und Berkchrspolitik
1906 vis 1914.
Die drei Kriegs- und Nevolutionsjahre hatten zwar die Staats-
sinanzen nicht, wie man im Auslande prophezeit hatte, zum Bankrott
gebracht, aber das Wort Moratorium war doch gefallen und schwankend
genug waren die Kurse der russischen Werte, in denen die Lage trotz aller
Jnterventionskäufe am unbarmherzigsten zuni Ausdruck kam. Ja, sie er-
reichten ihren Tiefftand erst 1907. Erst vom Oktober 1908 an ging cs
wieder entschieden aufwärts und das Jahr 1909 brachte die Wendung zunr
Besseren, die bis zum Kriege angehalten hat.
Der Umschwung zeigte sich am besten im Reichsbudget. Nehmen wir
diejenigen von 1905,1906*), 1909 und 1913, so waren die Schlußbilanzen
die: 1,99, 2,51, 2,59 und 3,25 Milliarden Rubel — ein ununterbrochenes
Steigen, das aber ebensowenig wie die allerdings seit 1893 ununterbrochene
Zunahme der Einnahmen an sich schon eine Vermehrung der wirtschaft-
lichen Kraft bedeutete. Die ersten drei Budgets schlossen noch mit
*) In dem die Wirkungen und Kosten des Krieges zum Ausdrucke kommen,
der im ganzen rund 2% Milliarden Rubel gekostet hat.
12»
180
V. Kapitel.
Defizits von 15,481 und 131 Millionen Rubel, dagegen hörten die Defizits
feit 1910 auf. Wenn die Überschüsse auch gering waren, so balanzierte
doch seitdem das Budget in Einnahmen und Ausgaben. Goldbestand
der Reichsbank und freier Barbestand der Reichsrentei stiegen. Der Gold-
bestand der Reichsbank betrug mit Einschluß der Auslandsguthaben Ende
1909: 1415, Ende 1913: 1684 Millionen Rubel, der freie Barbestand:
1909: 1,86 nrtb 1913: 450 Millionen. Das sind ja die beiden Grund-
lagen des Witteschen Systems: auf der Ansammlung eines Goldvorrates
ruhte Kredit und Währung, und der freie Barbestand der Reichsrentei, d. h.
der am 1. Januar dem Fiskus verbleibende Uberschuß der Einnahmen über
die Ausgaben, der nicht in das neue Budget übergeführt wird, sondern
seit Witte aufgesammelt wurde, sollte als weiterer Rückhalt dienen, wie
ja auch die Zahlungen aus ihm als außerordentliche Einnahme zum
Ausgleich des Budgets erscheinen, das durch diesen Posten namentlich auch
wegen seines Verhältnisses zum Goldvorrat keineswegs an Durchsichtigkeit
gewann. Andererseits war die Notenausgabe von 1174 Millionen Rubel
Ende 1909 auf 1712 Ende 1913 gestiegen — nicht anormal, da die
Deckung durch Gold reichlich genügte: die Reichsbank muß mindestens
300 Millionen Rubel plus dem halben Betrag der über 600 Millionen
Rubel ausgegebenen Noten in Gold bereit halten. Die Verschuldung
ferner war nicht im alten Tempo weitergegangen, sie betmg 1902: 6,4,
1907: 8,6,1909: 8,8 Milliarden Rubel. Seitdem brauchte nicht zu einer
neuen staatlichen Ausländsanleihe gegriffen zu werden, ja, es konnten
sogar in unbedeutendem Betrag Anleihen zurückgezahlt werden. Immerhin
betrug die Verschuldung vor dem Kriege rund 9 Milliarden Rubel; das
Budget für 1914 stellte 402,1 Millionen für den Reichsschuldendienst ein.
Diese Zahlen zeigten eine Aufwärtsbewegung, die 1912 durch eine
dem Budget erstmalig beigegebene Denkschrift des Finanzministers ebenso
eindringlich wie nachdenklich gemacht wurde. Von den ordentlichen Aus-
gaben des Budgets — wir legen das von 1914 (3,6 Milliarden Rubel)
zugrunde — fielen nämlich auf: Ministerium des kaiserlichen Hofes 16,3,
höchste Staatsinstitutionen 8,3, Außeres 7,7, Militärressort 746,9, Marine
246,1, Reichskontrolle 12,9, Zinsendienst 402,1, kaiserlicher Dispositions-
fonds 10 —1329 Millionen Rubel, also zwei Fünftel; auf das Ministerium
des Innern (206,5, worin die Kosten für die Polizei stecken) und der
Finanzen (498,1) — 704,6 Millionen Rubel (ein Fünftel des ganzen
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
181
Budgets); die Ministerien des Ackerbaues (157,5), Handels (70,8), Gestüt-
wesen (4,5) — 232,8 Millionen Rubel; Verkehrsministerium (mit Eisen-
bahnbauten und Häfen) 869,1 Millionen Rubel; Allerheil. Synod (53)
uitd Unterrichtsministerium (169,5) — 222,5 Millionen Rubel. Auf die
Aufgaben der materiellen Kultur kamen also 1102 Millionen und auf die
der geistigen 222,5 Millionen, zusaminen über ein Drittel des gesamten
Budgets.
Ebenso wichtig ist die Gliederung der ordentlichen Einnahmen: 3,5
Milliarden; davon flössen aus Staatsbesitz und Kapitalien (d. h. aus
Staatsunternehmungen) 1,1 und aus Staatsregalien 1 Milliarde, aus
indirekten Steuern 731 Millionen, aus direkten Steuern 276 und aus
Gebühren 237 Millionen Rubel. Die übrigen Beträge interessieren hier
nicht. Unter den Staatsregalien ist das Branntweinmonopol. Wenn auch
dessen Prozentanteil an den Einnahmen zurückgeht (er ist von 1907 bis
1912 um etwa 4% gesunken), so zog der Staat immerhin ein Viertel,
mindestens ein Fünftel seiner Einnahmen ans dem Konsum von Brannt-
wein, überhaupt aus der indirekten Besteuerung mindestens die Hälfte, aus
direkten Steuern und Gebühren ein Siebentel. Aus eigenem Besitz und
eigenen Unternehmungen aber bezog der Staat fast ein volles Drittel seines
Rieseneinnahmebudgets.
Diese Zahlen zeigen, daß die steuerliche Belastung der Bevölkerung
in Rußland nicht so hoch ist, wie man gemeinhin glaubt. Rechnen wir,
um eine allgemeine Vorstellung zu gewinnen, selbst direkte und indirekte
Steuern, Gebühren und Regalien ohne jeden Abzug zusammen, und nur
auf die Bevölkerung des europäischen Reichsteiles, so ergibt sich ein Satz
von rund 14 Rubel, der bestimmt zu hoch ist, aber sicherlich hinter dem
der westeuropäischen Staaten zurückbleibt. Und bei der Beurteilung des
Verhältnisses von Politik und Finanzen ist niemals zu vergessen, daß dieser
Staat rund ein Drittel seiner Ausgaben aus eigenem Betrieb und Besitz
bestreitet. Aber allerdings ist das durchschnittliche Jahreseinkommen der
Bevölkerung — eine zuverlässige Statistik existiert darüber nicht — viel
geringer als in Westeuropa, und allerdings ist innerhalb des Steuer-
systems das Verhältnis der Steucrarten für die Masse ungünstig und
drückend.
Dieses Mißverhältnis ist auch längst eingesehen worden. Die große
Erklärung Stolypins vor der 2. Duma vom 19. März 1907 nahm
182
Y. Kapitel.
eine umfassende und soziale Steuerreform ebenso in Aussicht, wie sie
später Kokowzow für notwendig erklärte. Vor allem wurde eine Ein-
kommensteuer angestrebt, für die freilich — bei der wirtschaftlichen Struktur
des Landes nicht verwunderlich — ein Steuersoll von nicht mehr als etwa
60 Millionen Rubel berechnet wurde. Zustandegekommen ist bis zum
Kriege keine dieser Reformen; erst in diesem ist (April 1916) ein Gesetz
über eine Progressive Einkommensteuer (ab 850 Rubel) mit Deklarations-
pflicht wirklich beschlossen worden.
Wesentlicher für Reformen war auch der große Posten der Einnahmen
aus Staatsbesitz und Staatsbetrieb, also zunächst das Branntwein-
monopols, durch das der Branntweinkonsum mit den Staatsfinanzen in
fast unlösbaren Zusammenhang gebracht warst. Der Anreiz zum über-
mäßigen Branntweingenuß, der im Monopol lag und an dem der Staat
das größte fiskalische Interesse hatte, war hier besonders gefährlich. Die
Statistik ergibt zwar, daß der Russe weniger Alkohol konsumiert als andere
Europäer'). Ein dauernder Alkoholkonsum, wie ihn sich die landläufige
Vorstellung Westeuropas gern als für Rußland typisch vorstellt, ist der
Masse des Volkes schon deshalb unmöglich, weil sie dazu das Geld nicht hat.
Aber die Trunksucht wirkt in Rußland schädlicher, als irgendwo anders, weil
sich der Russe oft lange des Alkohols enthalten kann, um dann auf einmal
eine große Quantität bis zur sinnlosen Betrunkenheit zu sich zu nehmen
und weil dieser Konsum in einen unterernährten Körper erfolgt. Dieses
Laster wurde durch das Monopol direkt befördert,- mindestens unausrottbar
konserviert, und daher war es der Volksgesundheit schädlich, wie es auch die
Massenbelastung durch indirekte Steuern weiter und dariernd steigerte. Vorn
fiskalischen Standpunkt aus war Wittes Verdienst erheblich, weil er eine
gleichmäßig und immer stärker fließende Einnahmequelle erschloß, die der
st S. darüber oben S. 73.
st Bruttoeinnahme aus dem Monopol 1912 : 824, Reineinnahme:
626 Millionen Rubel.
st In Deutschland kamen im Durchschnitt 1900/1908 auf den Kopf 4,10 I
reinen Alkohols, in Rußland 2,47 I; unter Rußland bleiben nur Großbritannien
und Norwegen. Die Norm der polnischen und baltischen Gouvernements ist dabei
niedriger als die der kernrussischen. Bei dieser Statistik wird aber der russische
Kopfsatz heruntergedrückt, da die Millionen ganz oder fast ganz abstinenter
Mohammedaner, Anhänger bestimmter Sekten und Juden eingerechnet sind. —
Der Gesamtkonsum an Monopolschnaps betrug 1912: 96,5 Mill. Wedro (k 12,29 1).
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
183
Staat bei dem unentwickelten Steuersystem, mit dem er arbeitete, wohl
brauchen konnte. Aber die Bekämpfung der Trunksucht war dadurch
unendlich erschwert, daß Witte diese Einnahmequelle so virtuos ausgenutzt
hatte und sich ihr vollwertiger Ersatz durch eine andere Steuer als un-
möglich erwies. Der Kampf gegen Monopol und Trunksucht wurde in
der Duma ununterbrochen, doch ohne Erfolg geführt. Gleich zu Beginn
des Weltkrieges ist das Monopol dann aufgehoben und so die Frage radikal
gelöst, der Staat aber einer gewaltigen Einnahmequelle beraubt worden.
Von den übrigen Staatsbetriebseiunahmen scheiden die aus den Do-
mänen insofern aus, als sie zum Teil in das Agrarreformwerk einbezogen
sind. Die riesigen staatlichen Waldungen, sowie die Berg- und Hütten-
werke leisten dem Staate längst nicht das, was sie leisten könnten. Am
wichtigsten in diesem Posten aber sind die Eisenbahnen.
Am Eisenbahnwesen wurde in der Duma eine sehr lebhafte Kritik
geübt. Es befriedigte weder in der Organisation noch in der Integrität
seines Beamtenkörpers, weder in seinen Leistungen für die Volkswirtschaft,
noch in denen für die Staatsfinanzen. Die Duma setzte deshalb unter
dem Eindruck des gewaltigen Defizits im Eisenbahnbudget ein, die unter
Leitung des Generals Petrow das Eisenbahnwesen aufs gründlichste studiert
und alljährlich ihre Berichte und Forderungen zu den Budgetverhandlungen
beigesteuert hat; im Juni 1913 hat sie ihre Arbeit abgeschlossen. Die
Bruttoeinnahmen aus den Eisenbahnen sind danach von 510 Millionen
1907 auf 782 Millionen Rubel in 1913 gewachsen, ihr Anteil an den
Gesamteinnahmen des Staates von 21,8% auf 24,7%. Darin kommt
das lebhaftere Tempo des wirtschaftlichen Lebens zum Ausdruck, auf das
die Bahnen nach Wittes Programm auch durch niedrige Tarife wirken
sollten; diese sind nach dem Kriege wesentlich erhöht und danach wieder
herabgesetzt worden, indes nicht wieder auf die außerordentlich niedrigen
Sätze der Witteschen Zeit heruntergegangen. Die Frage nach der Renta-
bilität aber und dem Reinertrag wurde so beantwortet, daß die Bahnen
wieder einen Reinertrag abwarfen und daß, wenn man die sibirische, die
Transbaikal- und die mittelasiatische Bahn ausschaltet, von einem Defizit
nicht gesprochen werden kann. In den Mängeln der Organisation ist nichts
gebessert worden, namentlich nicht in dem oftbeklagten Wagenmangel
— alles Exportgetreide wird unmittelbar nach der Ernte aus den Markt
geworfen — und auch nicht in den ebenso oft beklagten moralischen
184
V. Kapitel.
Defekten (Diebstähle, Unterschleife u. dgl.). Dagegen ist man am Aus-
bau des Netzes sehr tätig gewesen, namentlich mit der Amurbahn und
dem Baubeginn für das zweite Gleis der sibirischen Bahn. Es entsprach
ferner einem längst anerkannten Prinzip, daß man in der Verstaatlichung
weiterging; am wichtigsten war die Verstaatlichung der Warschau-Wiener
Bahn. Daneben förderte aber Kokowzow eifrig den Privatbahnbau, iveil
er (wie auch Sasonow und Kriwoschein) im Eisenbahnbau noch mehr als
einer seiner Vorgänger eitles der wesentlichsten Mittel der Wirtschafts-
politik sah. Kokowzow griff dabei zu dem eigenartigen Mittel, für den
Privateisenbahnbau in Frankreich eine Anleihe (900 Millionen Rubel)
aufzunehmen, um diesem ohne eine Staatsanleihe Geld zuzuführen und
die Schäden einer Konkurrenz der Privatbahngesellschaften auf dem Geld-
markt auszuschalten.
Das Staatsbahnnetz betrug 1914: 66 518 Werst; im Bau waren
12 229 Werst. Es war trotzdem noch viel zu weitmaschig — 1,7 Kilometer
Eisenbahn kommen auf den Kopf im europäischen Rußland gegen 10,7 in
Deutschland. Noch empfindlicher macht sich wirtschaftlich geltend, daß es
fast rein nach strategisch-politischen Gesichtspunkten gebaut ist1) und deshalb
nicht mit dem einzigen sonst vergleichbaren System, dem nordamerikanischen,
in Parallele gestellt werden kann. Die wirtschaftlichen Folgen traten
mehr nebenbei ein, der Mangel ausreichender und leistungsfähiger Linien
erschwert den Verkehr mit Getreide noch zu sehr, und weder die Kohlen-
felder und Naphtaquellen, noch die Erzlager und Hochöfen haben aus-
reichende Verbindungen mit den Absatzgebieten. Besonders trat der mili-
tärische Gesichtspunkt nach Westen hervor: von allen Militärbezirken der
europäischen Reichsteile führten die Linien auf Warschau zu. In dieser
Richtung wurde auch der Ausbau, durch Querverbindungen unterstützt,
besonders lebhaft betrieben: das Eisenbahnnetz lehrte, daß man für den
Kriegsfall soviel wie möglich an Kräften auf diesen Punkt konzentrieren
wollte, während westlich von Warschau für die Verbindung nach Deutsch-
land und Österreich absichtlich nichts geschah. Aber trotz aller Mängel
hat Rußland in seinem Eisenbahnwesen eine Fähigkeit zur Organisation
auf großen z. T. technisch sehr schwierigen Strecken erwiesen, die das
Ausland so nicht erwartete, die aber für die reinen Wirtschaftsinteressen
st Daher auch die besondere Spurweite von 1524 om.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
185
nicht genügend ausgenutzt wurde. Auch die Verbindung mit Schweden
über Finnland (Karungibahn) und nach der Murmanküste erzwang erst
der Krieg.
Während sich mit dieser Verkehrspolitik die Sorge für die Häfen
verband, blieben Land- und Wasserstraßen vernachlässigt. Das Straßen-
wesen ist, abgesehen von den Poststraßen, noch heute in vollem Urzustände,
und das Land, dessen hydrographischer Charakter nach einem umfassenden
und engen Kanalsystem geradezu schreit, — was bereits Peter der Große
und Katharina II. gesehen haben, — ermangelt dessen heute noch, trotz
der verschiedenen Kanalsysteme, die es durchziehen, und obwohl der
Balkankrieg, der den Export der Schwarzmeerhäfen verschloß, auf die Not-
wendigkeit von Kanälen sehr eindringlich hinwies^).
Betrachtete man die schwindelnd hohen Zahlen des Budgets und dieser
Finanz- und Verkehrspolitik, so zeigten sie ein Wachsen der Einnahmen,
das nicht nur auf fiskalischen Steuerdruck, sondern auch auf eine tat-
sächliche Steigerung des Volkswohlstandes, eine Zunahme der Kapitalkraft
des Landes zurückging. Der wirtschaftliche Optimismus nahm darum
in der letzten Amtszeit Kokowzows, von ihm bewußt gefördert, ungemein
zu. Aber die Unsicherheit und das Bedenkliche deutete er selber in der
Denkschrift zum Budgetentwurf für 1914 an, die so zwischen den Zeilen
ein Motiv (neben anderen) für seinen plötzlichen Sturz zu erkennen gab,
der knapp vor dem zehnjährigen Gedenktag seiner Ernennung auf diesen
Posten erfolgte2). Kokowzow wies auch auf die befriedigende wirtschaftliche
Entwicklung, aber noch stärker darauf hm, daß in den beiden letzten Etat-
jahren 1913 und 1914 die Ausgaben im Vergleich zu früheren Budget-
perioden sehr stark angewachsen waren. Von 1908 bis 1912 waren sie
im Durchschnitt jährlich um 83^ Millionen Rubel gestiegen, 1913 und
1914 aber betrug die Zunahme der ordentlichen Ausgaben im ganzen 581
Millionen; tatsächlich waren, wie in allen Vorjahren, die Ausgaben auch
1914 noch höher. Die Denkschrift gab zwar zu, daß diese Ausgabenzunahme
gegenüber der Steigerung der Einnahmen wohl zulässig sei, betonte
aber noch stärker, daß sie sowohl bei der Regierung als bei den gesetz-
*) S. über das bestehende Kanalnetz bei Hettner, Rußland, S. 161 ff.
s) Zu diesem Gedenktag war gerade ein lehrreiches Prachtwerk über diese
„10 Jahre russischer Finanzen" fertig geworden.
186
V. Kapitel.
gebenden Körperschaften Besorgnis hervorgerufen habe. Nun fiel sie aber
zum größten Teile auf das Kriegs- und Marine-Ressort. Im Budget 1914
schloß der Etat des Kriegsministeriums mit 621,5 Millionen Rubel ab,
wozu noch 125,4 Millionen Wirtschaftsausgaben und eigentlich auch die
107,9 Millionen für Eisenbahnbauten kamen. Das Marinercssort kostete
246,1 Millionen, dazu die 18 Millionen für die Anlage neuer und den
Ausbau bestehender Häfen. Das waren — ohne Eisenbahnen und Häfen
— im ganzen 993 Millionen Rubel für Zwecke der Landesverteidigung bei
einem Gesamtcusgabeetat von 3,6 Milliarden. Die Mehrsorderunaen
gegen 1913 haben nicht weniger als 105)4 Millionen Rubel betragen.
Mit dieser Anstrengung und in diesem Maßstabe arbeitete das Kriegs-
ministerium an der Vervollkommnung und Verschiebung der ungeheuren
Truppenmassen, die Rußland stellen konnte. Die Äußerungen des Finanz-
ministers dazu, so sehr sie die Notwendigkeit der Rüstungen betonten,
ließen aber erkennen, daß er ein Gegner dieser außerordentlichen Steigerung
der Rüstungsausgaben war. Daher war unter den Hebeln, die zu seinem
Sturze angesetzt wurden, vor allem die Opposition des Kriegsministeriums
und der Kriegspartei. Aber auch andere Kreise hatten das Gefühl, daß
diese Finanzpolitik die Hebung der Volkswirtschaft allzusehr vernachlässige;
der Zar sprach das im Reskript an Kokowzows Nachfolger Bark direkt aus.
In seiner Programmrede vor der Duma (6. Mai 1914) eröffnete denn
auch Bark die Aussicht auf einen neuen Kurs der Wirtschaftspolitik: Spar-
samkeit, Bekämpfung der Trunksucht, die Frage der Goldreserve und der
Ausländsguthaben, Ablehnung neuer Steuern, Förderung der Hilfs-
quellen des Landes und der produktiven Kräfte. Machte schon die Ver-
schlechterung der Handelsbilanz Sorge, so wußten Kokowzow und seine
Anhänger erst recht, was ein Krieg für dieses in seinen Grundlagen noch
ungefestigte Wirtschaftsgebäude bedeuten konnte. Die Grundfrage war auch
für die Wirtschaftspolitik, ob der Staat im Frieden bleiben oder auf den
Krieg zusteuern werde. Die Kriegspartei blieb siegreich, Barks Anregungen
verpufften völlig im Wind; mit einem Goldvorrat von 1603,7 Millionen
im Lande und 140,7 im Ausland und einer Notenzirkulation von 1633,3
Millionen Rubel (am 29. Juli 1914) begann Rußland den Weltkrieg,
des einen jedenfalls sicher, daß er seine Finanzwirtschaft völlig zerrütten
werde.
187
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
IV. Handel, Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Auch die Handelsbilanz zeigte ein ununterbrochenes Wachsen der ab-
soluten Zahlen wie einen Ausfuhrüberschuß, der das Hauptaktivum ist, da
Anlagen im Auslande nicht existieren. Die Zahlen (die den Reichshandel
über alle Grenzen — Europa, Asien, Finnland — umfassen) waren in
Millionen Rubel:
Ausfuhr Einfuhr Überschuß der Ausfuhr
1897 726,6 560 166,6
1906 ...... 1095 801 294
1808 998 912 85
1909 1427 906 521
1911 ........ 1591 1161 429
1912 1427 1034,5 392,5
1913 1420,9 1220,5 200,4
Unzweifechaft hatte sich also auch in dieser Beziehung die Lage von
dem Tiefstand der Jahre 1907 und 1908 erholt. Gesichert war sie aber
keineswegs. Rußland blieb ein agrarisches Land, seine Währung, sein
Kredit, sein Finanzsystem ruhten auf seiner Landwirtschaft. Noch waren
die Lebensmittel der allergrößte Teil der russischen Ausfuhr, und damit
hing die aktive Handelsbilanz nach wie vor von der Ernte ab und er-
klärte sich der Aufschwung der letzten 4 Jahre in erster Linie durch den
Ausfall der Ernten. Das Land hatte 1909 und 1910 eine ausgezeichnete
Ernte, 1911 blieb sie unter dem Durchschnitt der letzten 5 Jahre, 1912
aber war sie wieder überall befriedigend, zum Teil gut. Daher konnten
exportiert werden (die erste Zahl bedeutet Millionen PudH, die zweite
Millionen Rubel:
Alle Getreidearten usw. zusammen Weizen Gerste
1907 . . . 467 428,1 141,3 155,4 132,6 111,3
1908 . . . 899.6 375,6 89,6 112,9 161,3 132,6
1909 . . . 760,7 748,3 314,3 384,2 219,2 165,9
1910 . . . 847,1 746,1 374,6 405,2 244,6 158,4
1911 . . . 821,1 735,2 240,5 258,7 262,2 214,4
188
V. Kapitel.
Die Zahlen lassen bereits sowohl die Bedeutung der guten Jahre für die
Ausfuhr erkennen, wie den großen Anteil der Getreideausfuhr an
deren Gesamtbetrag. Genauer geben das folgende Zahlen wieder.
1910 betrugen von der Gesamtausfuhr: Lebensmittels 64??, Roh-
stoffe und Halbfabrikate 30,2??, Tiere 2,1?? Fertigfabrikate 3,7??.
Rechnet man von der zweiten Gruppe noch die Posten Holz, Flachs,
~ Hanf, Sämereien und das dazugehörige hinzu, so steigt der Anteil der Ur-
produktion auf 84,1??. Im fünfjährigen Mittel exportierte das Land
in diesen vier Gruppen, die den gesamten Ausfuhrhandel des ganzen Reiches
umfassen, in Millionen Rubel:
I. II. III. IV.
1897—1901 .... 897,8 253,8 15,9 19,6
1902—1906 .... 607,3 302,0 16,8 24,0
1907-1911 .... 777,5 415,1 21,3 25,2
So roh diese Tabellen sein mögen, so lassen sie doch erkennen, wie wenig
Rußland noch ein kapitalistisches Land ist, wie wenig weit noch die Ver-
schiebung auch nur zum „Manufaktur-Agrarstaat" gediehen ist, und wie
sehr es noch von der Lebensmittel- und Rohstoffausfuhr abhängt. Aber
auch das lehren diese Zahlen, daß allein durch den Steuerdruck eine
Zunahme, wie sie die beiden ersten Spalten darstellen, nicht erreicht werden
konnte, sondern darin kommt doch eine allmähliche Steigerung der wirt-
schaftlichen Kraft des Volkes zum Ausdruck — wieviel auf das eine, wie-
viel auf das andere kommt, wird man nicht berechnen können.
Mit der Handelspolitik war die dritte Duma so gut wie nicht befaßt
worden. Das Ende des russisch-amerikanischen Handelsvertrages (1912)
berührte sie nicht, und die handelspolitischen Beziehungen zu dem wichtigsten
Abnehmer, mit Deutschland, waren durch den Vertrag vom 28. Juli 1904
schon vor ihrer Geburt geregelt. Da dieser bis 1917 laufen sollte, haben
die außerhalb der Duma betriebenen Vorbereitungen diese selbst noch nicht
beschäftigt. Ihr lagen auch nach ihrer sozialen Zusammensetzung die
Fragen der Industrie und des Handels nicht, so daß die im „Conseil für
Industrie und Handel"* 2) sehr fest organisierte Industrie über die Ver-
0 Die Namen der vier Gruppen sind aus der russischen Statistik übernommen.
2) Sowjet sjesdow predstawitelej promyschlennosti i torgowli.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
189
ständnislosigkeit der Duma gegenüber der Industrie klagte — die allerdings
durch die Politik des Staates bisher außerordentlich verwöhnt war. An
dieser wurde auch in der neuen Zeit nicht gerüttelt. Kokowzow war Fort-
setzer Wittes; der Gedanke des Schutzzolls und des fiskalischen Interesses
blieb lebendig. Infolge des inneren Aufschwungs aber und noch mehr der
nationalistischen Strömung wurde diese Idee immer aggressiver gefaßt,
und zwar vor allem gegen Deutschland und seinen Handel mit Rußland.
Die Einfuhr^) Rußlands nach Deutschland betrug 1912: 1527 (mit
Finnland 1563) Millionen Mark, die Ausfuhr Deutschlands nach Ruß-
land 1912: 629 (mit Finnland 762) Millionen Mark; oder die Zahlen
der russischen Statistik genommen: die Einfuhr nach Rußland aus Deutsch-
land 1912: 521,1 Millionen Rubel, die Ausfuhr Rußlands nach Deutsch-
land 1912: 153,8 Millionen Rübe?). Im Jahre 1912 betrug der
Einfuhr- und Ausfuhrhandel Deutschlands mit Rußland 2,2 Milliarden
Mark, Rußlands mit Deutschland 2,1 Milliarden; das war V« vom
Gesamthandel Deutschlands und fast die Hälfte von dem Rußlands.
1912 nahm Deutschland 31,7?? der russischen Gesamtausfuhr auf und
lieferte 50?? des russischen Imports, während Rußland über 7?? der
deutschen Ausfuhr aufnahm und 14?? unseres Imports lieferte. So
stand Deutschland im russischen Außenhandel in Einfuhr und Ausfuhr
an erster Stelle, Rußland in der deutschen Einfuhr bei weitem an erster,
in der deutschen Ausfuhr an fünfter Stelle. Diese Beziehungen waren
auf eine erste feste Basis mit dem Handelsvertrag von 1894 gestellt worden,
in dem Rußland zuerst, auf seine bisherige Tarifautonomie verzichtend, in
einem langfristigen Vertrage seine Zollpolitik band. 1904 wurde ein
neuer Vertrag') mit Geltung bis zum 1. Januar 1917 durch Witte
abgeschlossen: Rußland gab darin die deutschen Minimalzölle zu, Deutsch-
land ließ darauf Anleihen Rußlands auf seinem Markte zu. Gegen die
Art der Beziehungen, die sich auf Grund dieses Vertrages entwickelt hatten,
wurde in Rußland im Laufe des Jahres 1913 immer stärker Sturm ge-
laufen. Die Landwirtschaft forderte die Beseitigung der ihr, wie sie be-
hauptete, gefährlichen deutschen Getreideeinfuhr durch einen Einfuhrzoll auf
0 S. auch Zuckermann, Der Warenaustausch zwischen Rußland und
Deutschland in 12 Tafeln. (Berlin 1915.)
-) 1913: Einfuhr 642,8, Ausfuhr 452,6 Will. Rubel.
') Vom 15./28. Juli 1904.
190
V. Kapitel
Getreide und agitierte gegen das deutsche Einfuhrscheinsystem, das vor-
nehmlich die sehr gestiegene deutsche Roggeneinfuhr nach Rußland und
deren Konkurrenz auf dem finnischen und skandinavischen Markte er-
möglichte. Der Landwirtschaftsminister vertrat den Standpunkt, daß sich
die wirtschaftliche Stellung Rußlands zu Deutschland durch die Agrar-
reform verschiebe und daher die Grundlagen des Vertrages von 1904
nicht mehr zutreffend seien. Die Industrie forderte noch höheren Zollschutz
als bisher. Das Finanzministerium betrachtete mit Sorge den Rückgang
der Aktivität in der Handelsbilanz, der vor allem daher kam, daß im Lande
der Bedarf viel größer war als die Möglichkeit seiner Befriedigung durch
die einheimische rückständige Industrie. Alle diese Gründe führten zur
Einführung eines Zolles auf ausländisches Getreide im Juni 1914, der
sogar Finnland trotz seiner Tarifautonomie mit einbegriff. Formell war
Rußland dazu berechtigt, tatsächlich störte es dadurch die Ruhe der Handels-
beziehungen schwer. Die Maßnahme war an sich nur wirtschaftspolitisch,
aber sie entsprang ebenso dem Deutschenhaß der Nationalisten wie dem
Streben nach weiterer Russifizierung Finnlands. Die Hetze vollends, die
unter dem Zeichen: Rußland eine deutsche Kolonie! geführt wurde, war
viel weniger Ausfluß wirtschaftlicher Interessengegensätze, die bei näherer
Betrachtung viel von ihrer Schärfe verloren, als des Nationalismus, der,
auch die Wirtschaftspolitik benutzend, damit weite dem aggressiven Pan-
siawismus ferner stehende Kreise einfing. —
Alle Gegensätzlichkeit hatte aber Rußland nicht gehindert, das deutsche
Vorbild auf anderem Gebiete, mit einer Versicherungsgesetzgebung nachzu-
ahmen, nachdem auch dafür jene fruchtbare Erklärung Stolhpins die
Linien schon 1907 gezogen hatte. Nach den Fabrikgesetzen von 1886 und
1897 und dem Haftpflichtgesetz von 1903 wurden unter dem 6. Juli 1912
vier Versicherungsgesetze über die Unfallversicherung, die Krankenver-
sicherung, die Errichtung eines „Rats in Angelegenheiten der Arbeiter-
versicherung" und von „Behörden in Sachen der Arbeiterversicherung"
erlassen1). Wenn auch die ganze Maßnahme nur einen sekundären Wert
hat, weil sie einen sehr viel geringeren Prozentsatz des Volkes erfaßt,
y Eine knappe Übersicht darüber s. im Jahrbuch der Rjetsch 1913 und im
Kalender der St. Petersburger Zeitung 1913, sowie in Lifschitz, Rußland,
(Zürich 1916) S. 84 bis 105.
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
191
als die deutsche Versicherung, so haben doch Regierung und Duma — in
der die Arbeitervertreter keinen Einfluß haben — ihre sozialpolitische
Pflicht gegenüber den städtischen Proletariern damit getan.
V. Entwicklung und Stand des Kapitalismus 1904 bis 1914.
Die populären Klagen in den letzten Jahren vor dem Kriege, die
Ausfuhr lasse nach, die Einfuhr nehme zu, hatten ihren Grund gewiß
in gespannten, ungesunden, ja kritisch werdenden wirtschaftlichen Verhält-
nissen. Zugleich aber zeigten sie, daß Rußland kapitalistischer wurde, daß
z. B. im Verhältnis zu Deutschland das alte Schema: hier Agraraus-
fuhrstaat, dort Jndustrieeinfuhrstaat nicht mehr passen wollte. Soweit
dies nicht schon aus dem bisherigen hervorging, sei es durch Daten noch
beleuchtet.
Das Verhältnis der Werte der Gesamtproduktion von Landwirtschaft
und Industrie — daß diese Zahlen nur den Wert einer ungefähr eine
Vorstellung gebenden Schätzung haben, braucht nicht besonders hervor-
gehoben zu werden — nahm man vor dem Kriege wie 9 zu 5 Milliarden
Rubel an, während man für 1901 ein Verhältnis von 3,3 zu 3,9 schätzte.
Die Produktivität der Landwirtschaft stieg also erheblich stärker als die
der Industrie, wie auch die Vertvendung landwirtschaftlicher Maschinen im
Werte von 12 (1900) auf 61 Millionen Rubel wuchs. So nahm auch
die Ausfuhr von Lebensmitteln, vor allem von Weizen unablässig zu.
Dagegen ist in diesem Jahrzehnt die Ausfuhr von Fertigfabrikaten
beinahe unverändert auf demselben niedrigen Niveau stehen geblieben —
kaum 27 Millionen Rubel —, trotz starker, ja sprunghafter Entwicklung
der Großindustrie in der zweiten Hälfte dieser Periode. Die Nachfrage, die
sie hervorrief, kam vor allem aus den ungeheuren Staatsbestellungen
und gefährdete die Handelsbilanz, weil das Angebot im Lande nicht aus-
reichte und die Industrie, gewöhnt an Schutzzoll, hohe Preise, staatliche Be-
vormundung und gehemmt durch bureaukratische oder feindliche Regierungs-
Politik^), ihre Kräfte nicht zu höchster Entfaltung brachte.
9 So in der Steuerpolitik, Judenftage, Zulassung ausländischen Kapitals,
Stellung der Aktiengesellschaften usw.
192
V. Kapitel.
Der Wert der Industrieproduktion stieg von 4307 Millionen Rubel
in 1908 auf 5134 in 1912. Der Steinkohlenbergbau förderte 1912:
1887 Millionen Pud, davon 1299,4 im Donezbassin und 394,5 im Becken
von Dombrowa. Die Kohlenförderung im Donezbassin blieb dabei aus
Arbeitermangel schon hinter der Nachfrage zurück. Die Naphthaindustrie
produzierte 565,3 Millionen Pud. Die Roheiseuproduktion erreichte
256.3 Millionen Pud — sie ist von 1908 bis 1912 fast um 50% ge-
stiegen; der Ural lieferte davon K, Südrußland 69%, das Weichselgebiet
9,4%. Die südrussische Eisenindustrie, geschaffen durch die Wirtschastspoliük
eines Eisen brauchenden Agrarstaates, arbeitet in modernem Großbetrieb,
in höchster Technik, mit 50—60 000 Arbeitern, in Form der unter starkem
Bankeinsluß stehenden Aktiengesellschaft und fest monopolistisch; das nach
1901 entstandene Syndikat „Prodameta" umfaßt 90% der ganzen Eisen-
und Stahlproduktion. Sie vor allem wurde durch die Regierungsaufträge
der letzten Jahre (für Eisenbahnen und Kriegsmaterial) fieberhaft voran-
getrieben.
In der Baumwollindustrie arbeiteten 1912: 8,9 Millionen Spindeln
(6,4% der Weltzahl), sie verbrauchte 25 Millionen Pud Rohbaumwolle
(davon nur 43% aus dem Auslande) und produzierte rund 19 Millionen
Pud an Geweben. Die ganze Textilindustrie — % davon sind im
Moskauer Bezirk lokalisiert — beschäftigte etwa % Millionen Arbeiter.
An Aktienkapital waren 1904: 119,2 (davon in russischen Gesell-
schaften 92,5, in ausländischen 26,7) Millionen Rubel tätig, 1908:
112.4 (103,3 und 9) und 1912: 401,4 Millionen Rubel (371,1 und
30,3) in 322 russischen und 20 ausländischen Unternehmungen. Das
Kapital der Aktienbanken stieg von 312 Millionen Rubel 1909 auf 777
in 1913, die Depositen von 976 auf 2480 Millionen Rubel. Dieses Bank-
wesen, seit 1909 in starker, zum Teil ungesunder, ja fauler Zunahme,
verstärkte sich durch fremdes, französisches und deutsches Kapital und
brachte namentlich in der Eisenindustrie den größten Teil unter ihre Kon-
trolle. So nahm die Syndizierung auch von hier aus ungemein rasch zu:
auch die Kohlenindustrie (im Syndikat Produgol), die Zucker- und Naphtha-
industrie sind vollständig syndiziert. Handel und Industrie sind in jenem
„Conseil für Handel und Industrie" fest organisiert. Nimmt man noch
die gewaltigen Staatsbetriebe hinzu, so gewinnt man das Bild einer Groß-
industrie, die auf das straffste syndiziert ist, aber „captains of industry"
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
193
wenig freie Hand läßt: die Syndikate, übrigens auch heute noch nicht ge-
setzlich anerkannt, sind fast alle nichts als industrielle Zentralorgane des
Staates, dessen Macht dadurch abermals ungeheuer gesteigert worden ist.
Für die Betriebsgröße — unter der Fabrikinspektion standen 1912:
17 356 Betriebe — gilt, daß große und kleine Betriebe durchaus über-
wiegen, mittlere fast ganz fehlen. Am stärksten ist die Entwicklung zum
Großbetrieb in der Textilindustrie, weniger in der Metallverarbeitung.
Dieser Entwicklung entsprachen die sozialen Folgen. Unter der Auf-
sicht der Fabrikinspektion (die freilich den gesamten Bergbau nicht um-
faßt) standen 1909: 1,8 Millionen Arbeiter, 1912: 2,15. Die Gesamtzahl
der Arbeiter, wenn man die der Bergwerke, Eisenbahnen und sonstigen
staatlichen Betrieben hinzurechnet, wird auch heute erst 3 Millionen be-
tragerO). Die Organisation in sog. professionellen Verbänden und Konsum-
Vereinen nimmt zu, ist aber noch nicht von Bedeutung. Die Einführung
der Krankenkassen (Gesetz vom 6. Juli 1912) rührte die Arbeitermassen
sehr auf, doch unterbrach der Krieg diese Anfänge stärkerer Organisation,
die sich ja unter denkbar ungünstigsten Umständen vollzieht. Dafür spiegelte
sich die wirtschaftliche und politische Entwicklung besonders in der
Streikbewegung wieder: in den der Fabrikinspektion unterstehenden Be-
trieben^) wurden gezählt 1905: 13 995 Streiks (in 93,2% aller Betriebe)
mit 2,8 Millionen Streikenden, 1906: 6114 (42,2%) mit 1,1 Millionen,
1908: 892 (5,9) mit 176 000; 1910: 222 (1,4%) mit 46 000; 1911:
466 (2,8) mit 105 000 und 1912 : 2032 mit 725 000 Streikenden.
Die Jubiläumsschrift des Finanzministeriums über das Jahrzehnt
1904 bis 1914 berechnete einen Zuwachs des Volksvermögens 1908 bis
1912 von fast 5 Milliarden Rubel. Es war auch alles in mächtigeni
Aufschwung, wie die Börsentätigkeit vornehmlich zeigte. Aktiengesellschaften,
Kapital, Arbeiterzahl nahmen zu, man spürte den stärkeren Zusammen-
hang mit dem westlichen Kapitalismus. Aber schon seit 1909 wurde eine
Krisis erwartet, die 1913 freilich noch nicht zu erkennen war, sich aber, wie
die Verhandlungen des Handels- und Jndustriekongresses zeigten, in großer
0 Die Zahl der im Kustar (Hauswerk) Tätigen wird gegenwärtig auf
10 bis 12 Millionen geschätzt; genaue Ziffern liegen nicht vor.
2) Diese Streikstatistik erfaßt nicht die Streiks in Betrieben mit weniger
als 10 bis 15 Arbeitern und die in Sibirien, Zentralasien und z. T. im Kaukasus.
Hoetzsch, Rußland. 13
194
V. Kapitel.
Unbehaglichkeit äußerte. Die Entwicklung war zu sprunghaft gegangen,
man fühlte sich in einem Übergangsstadium, in dem die produktiven Kräfte
des Landes noch nicht ausbalanziert sind, organisch ging diese Indu-
strialisierung nicht vor sich, für die der gesunde Boden in der Agrarreform
ja eben erst vorbereitet wurde. Und die Regierung tat zu wenig, um den
Übergang zu erleichtern, sie legte die materiellen Kräfte zu sehr im politisch-
militärischen Interesse fest.
Dem naheliegenden Gedanken aber, die Steigerung der produktiven
Kräfte durch verstärkte Einfuhr ausländischen Kapitals zu beschleunigen,
stand das Prinzip entgegen, das in der Handelspolitik wie in der ge-
samten inneren Politik immer mehr zum Durchbruch kam: der Natio-
nalismus. Wirtschaftspolitisch hieß das: die Aufrechterhaltung des Schutz-
zolls in dem Streben nach dem Ideal, Rußland von der Wareneinfuhr
des Auslandes unabhängig zu machen, und die Ablehnung oder mindestens
Erschwerung fremder Kapitaltätigkeit, die, wie man meinte, das Land nur
zum Nutzen Fremder erschließen und die Herrschaftsstellung des groß-
russischen Elements gefährden würde. Das letztere Gefühl nahm in der
letzten Zeit vor dem Kriege immer mehr zu; man behauptete, von fremdem
Kapital ausgeräubert zu werden. Beim Sturz Kokowzows, dem zu
große Vorliebe für das Auslandskapital vorgeworfen wurde, spielte
dies Motiv auch mit. Dabei war die Rolle des fremden Kapitals zwar
groß, doch nicht übermäßig^); die deutschen Anlagen z. B. berechnete das
russische Handelsministerium auf 268 Millionen Rubel in vom Staate
garantierten Eisenbahnanleihen, 146 in elektrischen, chemischen, Montan-
und Maschinenbaubetrieben und 586 in den Großbanken, also über
1 Milliarde Rubel. Das Wort vom „deutschen Wirtschaftsjoch", das im
Kriege eine so große Rolle spielte, war also nichts als eine Hetzphrase.
Die Verteilung der Auslandsanlagen war dabei nach einer Charakteristik
des Direktors der Kreditkanzlei Dawydow die, daß der Franzose der
Geldgeber war, der sich nicht an Unternehmungen beteiligte, der Engländer
an sich nahm, was unter der Erde liegt: Erze, Gold, Platina, Naphtha,
der Belgier elektrische Bahnen, Wasserleitungen baute, elektrische Be-
leuchtung anlegte usw., der Deutsche aber Kapital und Arbeitskraft
*) S. zur ganzen Ausländerfrage: Jschchanian, Die ausländischen
Elemente in der russischen Volkswirtschaft. (Berlin 1913.)
Volkswirtschaft und Wirtschaftspolitik.
196
namentlich in der Textilindustrie einsetzte und besondere Vorliebe für
Eisenbahnprioritäten, Bahnbau und ähnliches zeigte.
Unfertig, lückenhaft, unselbständig, altmodisches und hochmodernes
noch unorganisch zusammenbringend — so war der russische Kapitalismus
vor dem Kriege, und so war es kein Wunder, daß er auf das Volk noch
nicht tiefer hat einwirken können. Bon der geistigen Organisierung, die er
bringt, sind erst geringe Ansätze vorhanden; stärker als sie sind die Zeichen,
daß sich noch vieles im Russen gegen ihn sträubt. Er ist, namentlich der
Großrusse, sehr zu genossenschaftlicher Arbeit und gemeinsamem Wirtschaften
angelegt — das Wort „kooperativ" hat Zauberkraft auch im modernen
Rußland behalten, ja noch mehr gewonnen. Aber Lohnerhöhungen reizen
den russischen Arbeiter noch nicht zu sehr, und kapitalistischem Denken wider-
strebt die eingewurzelte Anschauung, daß man seines gleichen nicht, ohne
Schaden an seiner Seele zu nehmen, übergeordnet sein dürfe. Denkt man
ferner an die natürlichen Bedingungen: den langen Winter, die weiten
Entfernungen im Lande, die Entfernungen vom Meere, und den Abschluß
gegen fremde Unternehmung und fremdes Kapital, während der gewaltige
Besitz der Kirche und der Dynastie kapitalistisch fast ungenutzt ist, sowie
an die Riesenkosten der Reformen und der Kolonialpolitik, so erweisen sich
der Optimismus im Lande und die Besorgnis im Auslande in bezug
auf die Wirtschaftsmöglichkeiten Rußlands als übertrieben. Mit denen
der Vereinigten Staaten durften sie nicht in Parallele gestellt werden.
Nun wirft sie der Krieg dazu noch ungeheuer zurück. Er ist für Rußland
kein kapüalistischer Krieg im Marxistischen Sinne, aber seine Groß-
bourgeoisie folgte der Regierung in ihn hinein, weil er ihre kapitalistischen
Interessen allerdings in jeder Richtung fördert.
13*
VI. Kapitel.
Verfassung, Verwaltung nnd Gericht.
I. Die Verfassung.
Im Übergang des bis dahin stärksten autokratisch regierten Staates
zur Verfassung, den die Revolution erzwang, sah Europa ihren Haupt-
erfolg. Gleichwohl gestaltet die Agrarreform in ihrer gesetzlichen Weiter-
führung und ihren Folgen Rußland innerlich viel stärker um, als der
Wandel in seinem Staatsrecht, der in den Reichsgrundgesetzen zum Aus-
druck kommt. Sieht man ein Lehrbuch des russischen Staatsrechtes durch,
das versucht, den durch Revolution und Duma bisher neugeschaffenen
Rechtsstoff dogmatisch und systematisch darzustellen und organisch mit dem
bisherigen System zu verbinden*), so erkennt man auch, daß große Gebiete
des Staatsrechts von der Umwandlung bisher überhaupt noch nicht oder
erst unwesentlich ergriffen worden sind. Die großen Lücken des alten
Staats- und Verwaltungsrechts, wie namentlich der Mangel einer Lokal-
verwaltungsstelle, einer Verwaltungsgerichtsbarkeit und des Rechtsschutzes,
sind bisher noch nicht ausgefüllt. In der Hauptsache haben nur die staats-
rechtliche Natur des Reiches und die Staatsgewalt erhebliche Veränderungen
ihres Rechtszustandes erfahren.
Die staatsrechtliche Umwandlung begann mit dem Oktobermanifest
von 19052). Auf diesem kaiserlichen Versprechen bauten die Reichsgrund-
gesetze vom 6. Mai 1906 weiter'). In ihnen sind die alten Reichsgrund-
0 Z. B. Gribowski (in deutscher Sprache) oder die Vorlesungen
Lasarewskis; s. den Literatur-Anhang.
s) S. seinen Wortlaut oben S. 100 f.
3) Abgedruckt in jeder neuen Ausgabe des Sswod Sakonow (dort jetzt
Teil I, 1), deutsch im Jahrb. des öffentl. Rechts II (1908) und mit Kommentar
bei Palme, Die rnss. Verfassung. (Berlin 1910.)
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
197
gesetze, wie sie seit 1832 im ersten Teil des ersten Bandes des „Sswod
Sakonow"*) enthalten waren, und die neuen Rechtsbestimmungen, die
während der Revolutiott vom Zaren zugestanden wurden, ineinandcr-
gearbeitet. Sie sind im Bcrordnungswege publiziert worden, bevor die
erste Duma zusammentrat. Rußland hat also seine Verfassung nicht durch
Vereinbarung zwischen bisher absoluter Krone und einer konstituierenden
Versammlung erhalten. So sehr der Zar tatsächlich gezwungen worden
war, das Zugeständnis der Konstitution auszusprechen, rechtlich erfloß
sie aus seinem freien Willen. Deshalb sind auch die alten Reichsgrund-
gesetze nur insoweit geändert, als die zarischen Zugeständnisse hereingearbeitct
wurden. Sie betreffen in der Hauptsache die Rechte der Krone (Art. 4
bis 24) und die Rechte und Pflichten der Untertanen (Art. 69 bis 83).
Im Kapitel 9 (über die Gesetze) mußte der Wortlaut überall insoweit
umgearbeitet werden, als die zarische Gewalt von nun an durch einen
Reichstag ergänzt werden sollte. Und schließlich mußten die Bestimmungen
über die neuen gesetzgeberischen Faktoren im einzelnen und die Stellung
des Staatsmsnisteriunls und der Minister zur Verfassung (Art. 98 bis
124) hinzugefügt werden. Artikel 25 bis 68 (= Kapitel 2 bis 7 der Ver-
fassung) über die Thronsolgeordnung, Volljährigkeit des Kaisers, Regent-
schaft und Vormundschaft, Thronbesteigung und Untertaneneid, Krönung
und Salbung, Titel des Kaisers und Reichswappen und über den Glauben
sind im Wortlaut aus den alten Grundgesetzen übernommen. Für die
Fassung der veränderten Artikel hat die preußische Verfassungsurkunde
als Vorbild gedient; das ergibt sich aus dem Vergleich und ist außerdem
genügend sicher bezeugt.
Diese Anlehnung an die preußische Verfassung erfolgte deshalb,
weil die aus der Revolution emporsteigende Staatsform des russischen
Reiches denselben monarchisch-konstitutionellen Charakter wie die preußische
erhielt. Beide Staaten sind stark genug geblieben, ihre alten Grundlagen zu
erhalten, und hatten sie nur durch die konstitutionelle Idee zu ergänzen.
Wie der preußische, will sich auch der russische Staat diese assimilieren, er
ist bisher nicht durch sie innerlich völlig umgebildet worden. Nur ein Grad-
unterschied ist es, wenn in der russischen Verfassung die Rechte der Krone
noch stärker betont sind, als in der preußischen. Im Wesen sind sich
9 Über diese Kodifikation s. unten Wschnitt III.
198
VI. Kapitel.
beide Staatsformen darin gleich, daß die Krone nach wie vor die Quelle
des Rechts bleibt und von der Volksvertretung nur auf den Gebieten und
durch die Grenzen beschränkt wird, die ausdrücklich in der Verfassungs-
urkunde bezeichnet sind und nicht ohne eine Erschütterung des Reiches über-
schritten werden können.
Man hat diesen Charakter der Verfassung als Scheinkonstitutio-
nalismus diskreditieren lvollen. Die unbefangene Betrachtung ergibt
aber nur, daß in den Machtkämpfen der Jahre 1905 und 1906
das liberale Ideal einer Verfassung nach englischem Vorbild nicht
erreicht wurde, und daß als Kompromiß diese Form des konstitutionellen
Lebens unter starker Betonung der Monarchie herauskam, die hier ebenso
dem geschichtlich gewordenen Charakter und den Zukunftsaufgaben des
Staates entsprach, wie in Preußen. Ob mit diesem Kompromiß in
Rußland eine dauernde Machtverteilung gegeben ist, hat die Zukunft zu
lehren. Daß sich die Verwaltung an die Verfassung nur schwer gewöhnen
konnte, daß aus ihr Versuche und Vorstöße gemacht wurden, die neuen
verfassungsmäßigen Rechte des Volkes unwirksam zu machen, und daß ihr,
auch wenn diese verfassungsmäßigen Rechte von ihr anerkannt werden,
immer noch ein sehr weiter Spielraum bleibt, steht fest. Wer ebenso, daß
während des parlamentarischen Lebens bis zum Weltkriege ein ernstlicher
Versuch, diesen Kompromiß zu verändern, von der Krone und ihren
Dienern nicht gemacht worden ist.
Den Glauben daran, daß es die alten Gewalten mit der neuen Ord-
nung ehrlich meinten, hat immer sehr gedämpft, daß in der Verfassung
(Art. 4) der Ausdruck „oberste selbstherrschende Gewalt" beibehalten worden
ist. Das mußte zu Mißverständnissen führen. Denn unter selbst-
herrschender Gewalt verstand man im Volke und außerhalb Rußlands
den Absolutismus. Wenn damit nur gesagt sein sollte, daß die Stellung
der Krone in der Verfassung die eben charakterisierte sei, so war die Bei-
behaltung des alten staatsrechtlichen Begriffs doppelt unglücklich.
Zwei Rechtsgebiete vor allem sind also umgebildet worden: die Rechte
der Krone und die Rechte und Pflichten der Untertanen.
Die Veränderung in der Stellung der zarischen Gewalt ist trotz allen
Redens von der „Selbstherrschaft" klar: der alte Absolutismus ist tot. Nur
den Angehörigen des Kaiserhauses gegenüber ist der Zar auch nach 1906
unbeschränkter Selbstherrscher geblieben. Sonst übt er seine „gesetzgebende
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
199
Gewalt" vereint (w edinenii) mit dem Reichsrat und der Duma aus
(Art. 7). Gesetz ist danach heute in Rußland eine Anordnung, die in
Übereinstimmung der drei Faktoren: des Kaisers, des Reichsrats und der
Duma, ergeht. Die Deduktion, (die versucht wurde), daß Gesetze lediglich
die Normen für die Geldbewilligungen der Duma seien, ist in der Ver-
fassung nicht begründet. Dagegen werden durch diesen Artikel die sonstigen
Prärogative der Krone nicht berührt, die sehr umfassend geblieben sind.
Nur daß eine Ordnung dieser Dinge durch kaiserlichen Willen dann im
Rechtssinne nicht mehr Gesetz genannt werden kann, sondern nur in dem
älteren Sinne, in dem der Begriff „Sakon" (Gesetz) vom Absolutismus
gebraucht wurde. Für die Schaffung eines Gesetzes ist die zarische Gewalt
an die Mitwirkung von Reichsrat und Reichsduma gebunden, während
bestimmte große Rechtsgebiete der Krone ausdrücklich reserviert sind. Da-
gegen ist dem Wortlaute nach nicht ebenso klar, ob die Gebiete, auf denen
allein das Gesetz herrschen soll, nur die ausdrücklich bezeichneten sind,
außerhalb deren dann auch jetzt noch freies Feld für den Absolutismus
bliebe, oder ob die Verfassung ihrem Geiste nach will, daß, wie überall
sonst bei diesem Übergange, das Staatsleben von nun an im ganzen aus
die Grundlage des Gesetzes gestellt sein soll. Artikel 84 der Verfassung:
„Das russische Reich wird auf den festen (twerdyja) Grundlagen von
Gesetzen regiert, die in der festgesetzten Ordnung erlassen sind", sagt jeden-
falls nicht bestimmt genug, daß alle nicht von der Gesetzgebung zu
regelnden Rechtsgebiete ausdrücklich bezeichnet sein müßten. Dieser Mangel
an Klarheit des Ausdruckes kann in Verbindung damit, daß zweifellos die
Absicht beim Erlaß der Reichsgrundgesetze war, den Absolutismus möglichst
zu konservieren, zu Konflikten führen.
Dem Zaren gehört die Initiative in allen Gegenständen der Gesetz-
gebung (Art. 8), ohne daß die gesetzgeberische Jniative des Parlaments
ausgeschlossen ist; nur eine Revision der Reichsgrundgesetze ist ausschließlich
der kaiserlichen Initiative vorbehalten (Art. 107).
Die Vorrechte der Krone sind in folgenden Beziehungen unberührt:
die Vertretung des Staates nach außen und das Recht über Krieg und
Frieden, die oberste Kommandogewalt über Armee und Flotte, die
Regierungsgewalt und das Verordnungsrecht (das aber — Art. 11 —
„den Gesetzen entsprechend" [v sootvetstvii s Zakonami] ausgeübt
werden soll), die Erklärung des Kriegs- oder Ausnahmezustandes, das
200
VI. Kapitel.
Recht der Münzprägung, der Ordnung des Staatsdienstes und der Ver-
leihung von Titeln usw., die Verfügung über die Apanagengüter, die
Gerichtsgewalt, die Begnadigung und Gewährung von Gnadenbeweisen.
Die Verordnungen und Befehle des Zaren (Ukase und Poweljenija) in
Ausübung aller dieser Rechte müssen vom Ministerpräsidenten oder dem
zuständigen Minister gegengezeichnet und von: „dirigierenden" Senat ver-
öffentlicht werden. Diese Gegenzeichnung ist indes sachlich wertlos, weil
nichts für den Fall, daß die Gegenzeichnung nicht erfolgt, bestimmt ist
und weil der Begriff der Ministerverantwortlichkeit entsprechend dem
Charakter der Verfassung genau so ungreifbar und daher praktisch wertlos
ist wie in Preußen.
Dieses große Gebiet der kaiserlichen Vorrechte ist der Mitwirkung
der Parlamente entzogen, freilich nicht unbedingt, und daher ist es doch
häufig zum Gegenstände parlamentarischer Erörterungen geworden. Eine
Beschränkung liegt schon darin, daß die gesamte Verordnungsgewalt nur
„den Gesetzen entsprechend" ausgeübt werden soll, daß also gesetzlich
ausgesprochene Anordnungen nicht im Wege der Verordnung aufgehoben
oder abgeändert werden können. Ferner aber ist das Verordnungsrecht
des Kaisers selbstverständlich durch das Budgetrecht des Parlaments be-
schränkt. Auch die Verwaltung ist natürlich an das Bewilligungsrecht der
Duma gebunden, ebenso die Repräsentation des Staates nach außen,
wobei aber finanzielle Verpflichtungen aus Verträgen mit auswärtigen
Mächten der Zustimmung des Parlaments nicht bedürfen. Ebenso ist die
Kommandogewalt vom Bewilligungsrecht der Duma abhängig, freilich
nur in geringem Maße, da die Möglichkeiten für sie, dieses zu umgehen,
sehr groß sind (Art. 14, 96, 97, 117, 119). Hier ist die Stellung des
Zaren am stärksten geblieben, und auf diesem Gebiete wurde besonders
jener Kampf um die „gepanzerten" Kredite geführt. Darunter sind ver-
standen 1. Kredite, die überhaupt der „Beurteilung" in der Duma ent-
zogen sind, d. h. die für das Ministerium des Kaiserlichen Hofes, die
Kaiserliche Kanzlei und die Kaiserliche Bittschristenkanzlei (Art. 116),
ferner der Kaiserliche Dispositionsfonds für unvorhergesehene Staats-
bedürfnisse von jährlich 10 Millionen Rubel — diese alle aber nur in der
1906 bestimmten Höhe. Jede Erhöhung unterliegt der Budgetberatung.
2. Kredite, die zwar beraten, aber nicht gekürzt werden dürfen, also Zinsen
der Reichsanleihen und Einnahmen und Ausgaben, die laut dem Budget-
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
201
reglement vom 21. März 1906 „nicht abgelehnt werden können, da sie in
das Budget auf Grund bestehender Gesetze .... und Allerhöchster Be-
fehle aufgenommen worden sind". Diese schon ziemlich weiten Grenzen
werden noch durch das Recht des Ministerkabinetts erweitert, „unauf-
schiebbare" Ausgaben ohne das Parlament zu machen, die nachträglich
bewilligt werden müssen, — ein Recht, das gelegentlich sonderbar weit
ausgenutzt worden ist. „Außerordentliche" Kredite in Kriegszeiten und
ähnlichen Fällen kann der Zar immer ohne die Volksvertretung anweisen.
Das Budgetrecht der Duma ist somit in mancher wichtigen Beziehung
eingeschränkt. Ebenso hat sie bisher einen vergeblichen Kampf gegen die
Erklärung des Krieges oder namentlich der Ausnahmezustände allein durch
den Zaren geführt.
Das Recht des Zaren zur Ernennung und Entlassung der Beamten
ist in bezug auf die Richter durch deren Unabsetzbarkeit beschränkt, die im
Prinzip bereits 1864 eingeführt worden ist.
Die Gerichtsorganisation ist vom Gesetz geregelt. Die Rechtsprechung
geschieht im Namen des Zaren, aber unabhängig von ihm. Dabei sind
dem Zaren allerdings mehrere Vorrechte geblieben, vor allem das aus-
schließliche Recht, Minister und ihnen gleichstehende Staatsbeamte sowie
die Mitglieder des Reichsrats und der Duma für Amtsvergehen vor
Gericht zu ziehen — ein Recht, das den Grundsätzen der Verwaltungs-
aerichtsbarkeit und des modernen Rechtsschutzes widerspricht.
Die Verfügung des Kaisers über die Apanagengüter (Udsely) ist nicht
durch die Verfassung berührt (Art. 21). Da Rußland unter dem Absolu-
tismus eine begriffliche Trennung zwischen Schatulle und Staatseigentum
noch nicht vollzogen hatte, war vor 1906 kein Unterschied zwischen dem
Kronsgut, d. h. den — dem Zaren (= dem Staate) gehörenden — Do-
mänen und den — der Dynastie gehörenden — Schatull- oder Apanagen-
gütern1); über alles, Kronsland, Apanagengut und Kabinettsland, verfügte
der Zar unumschränkt. Heute ist dieser Unterschied klar. Die Domänen
sind Reichseigentum und erscheinen als solche im Budget. Dagegen ist eine
Zivilliste nicht eingeführt worden, sondern dem Zaren blieb das Udjelland
und der sogenannte Kabinettsbesitz (im Ural, Altai, Sibirien, namentlich
Bergwerke) zur persönlichen Verfügung. Obwohl vom Udjelland in der
si Die Unterscheidung ist 1796 von Paul I. geschaffen worden.
202
VI. Kapitel.
Revolution ein beträchtlicher Teil zur Besiedlung freigegeben wurde —
dessen Wert in den Kaufpreisen oder Pachtzinsen aber wieder in die
Schatulle zurückfließt —, ist dem Zaren heute noch ein Bestand an Land
unterstellt, der mit einem modernen Staatsrecht nicht vereinbar ist.
Dementsprechend steht die Apanagenverwaltung, ein sehr umfangreiches
Ressorll), vollständig außerhalb der Staatsverwaltung, erscheint mit ihren
Einnahmen und Ausgaben nicht im Reichshaushalt und wird nicht von
der Reichskontrolle (der Oberrechenkammer) erfaßt. Daher ist auch die
Höhe der Einnahmen des Zaren und der Dynastie genau gar nicht zu
berechnen; sie sind außerordentlich hoch. Diese Unabhängigkeit vom
Budgetrecht der Duma wird noch dadurch verstärkt, daß, wie erwähnt, die
Kredite für das Ministerium des kaiserlichen Hofes bis zu der Höhe,
die sie im Jahre 1906 erreichten, nicht dem Budgetrecht des Parlaments
unterliegen.
Wenn auch die Grundlinien für das Verhältnis zwischen Krone
und Parlament gezogen sind, sind also genügend ungeklärte Probleme
auf dem Gebiete der Stellung des Zaren in der Verfassung geblieben,
und hat die zarische Gewalt eine Stellung behalten, die wegen der Un-
vollständigkeit und Unklarheit der Grundbestimmungen 1)och noch größer
ist, als die Stellung auch des stärksten konstitutionellen Monarchen m
Europa. Das machte es weiter der Duma, auch wenn sie sich unbedingt
auf den mit den Reichsgrundgesetzen gegebenen Rechtsboden stellte, sehr
schwer, sich auf ihm zu bewegen ohne überall an tatsächliche oder ver-
meintliche Prärogative des Zaren anzustoßen. Die dritte Duma hat auch
in verhältnismäßig wenigen Fällen dieses Gebiet berührt.
Die Kapitel 2 bis 7 der Verfassung stimmen mit den alten Reichs-
grundgesetzen völlig überein. Die Thronfolgeordnung und alles, was damit
zusammenhängt, ist nicht geändert, sondern im konstitutionellen Rußland
gilt das Gesetz Kaiser Pauls vom 17. April 1797 weiter: die erbliche
Thronfolge in der gegenwärtig herrschenden Dynastie, das Thronfolgerecht
nach der Erstgeburt erst für die männliche, dann für die weibliche Linie
mit den genauen Sonderbestimmungen (Art. 29 bis 35). Nach wie vor
muß auch (Art. 63) der regierende Zar dem orthodoxen Glauben an-
0 Sie ist der größte Weingutsbesitzer und Weinproduzent des Reiches (in
der Krim und im Kaukasus).
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
203
gehören. Anzumerken ist, daß auch die Verfassung den alten Untertaneneid
beibehält (Art. 66), der heute keine Bedeutung mehr hat.
Das zweite große Rechtsgebiet, das durch die Verfassung verändert
ist, ist das von den Rechten und Pflichten der Untertanen. Die allgemeine
Wehrpflicht ist nicht berührt, ebenso nicht die Steuerpflicht. Dagegen ent-
hält dieses Kapitel (8) die Grundrechte: Unantastbarkeit der Person, der
Wohnung und des Eigentums, sowie die Freizügigkeit. Diese Artikel (72
bis 76) sind aber in noch höherem Maße Postulate, als das diese Grund-
rechte in anderen Verfassungen sind, geblieben, der Entwurf eines Gesetzes
über die Unantastbarkeit der Person ist nicht Gesetz geworden. Ebenso
bestehen nach wie vor die drei Ausnahmezustände — der verstärkte Schutz,
der außerordentliche Schutz, der Kriegszustand — auf Grund der alten
„temporären" Regeln vom 26. August 1881 fort1) und versetzen, all-
jährlich jeweils vom 17. September an um ein Jahr durch kaiserlichen
Erlaß verlängert, immer noch einen sehr großen Teil des Reiches in
einen mehr oder minder gesetzlosen Zustand. Durch sie wird die diskre-
tionäre Befugnis und Strafgewalr der Verwaltungsbehörden außer-
ordentlich erweitert, und die Duma ist ohne jeden Einfluß auf Ver-
hängung oder Dauer dieser Zustände. Das Gefährliche in diesem der
Verwaltung sehr bequemen System liegt weniger in den Einzel-
beschränkungen des täglichen Lebens, — im Frieden merkt der Reisende oft
davon gar nichts und weiß der Eingeborene über den Grad des in seiner
Stadt herrschenden Ausnahmezustandes oft keine Auskunft zu geben, —
sondern darin, daß so ein Sinn für Gesetzlichkeit weder in der Bureau-
kratie noch im Volke aufkommen konnte und die Verwandlung Rußlands
in einen Rechtsstaat auf diesem elementaren Gebiete noch ganz in den
Anfängen stecken blieb.
Es folgt in den Reichsgrundgesetzen die Versammlungs- und Vereins-
freiheit, sowie die Freiheit der Meinungsäußerung und der Presse (Art.
78 bis 80). Tatsächlich freilich lebt man unter einem „temporären"
Vereins- und Versammlungsrecht (aus den Jahren 1905 und 1906)
und einem ebenso temporären Preßrecht aus derselben Zeit; das Ver-
sammlungs- und Vereinsrecht wie die Freiheit der Meinungsäußerung
blieben infolge der Ausnahmezustände von den Verwaltungsbehörden ab-
0 Do furo ungültig; s. Artikel 83 der Reichsgrundgesetze.
204
VI. Kapitel.
hängig. Aber wenigstens die Präventivzensur blieb aufgehoben oder wurde
nur an der Grenze geltend gemacht, Preßvergehen sind unter das Gericht
gestellt und an Stelle der früheren Zensoren sind die Inspektoren für Preß-
angelegenheiten getreten. Jedoch sind die Möglichkeiten der Repressiv-
zensur, der Unterdrückung von Druckschriften nach dem Erscheinen noch
sehr groß. Die politische Presse wird empfindlich durch die großen Straf-
befugnisse der Verwaltungsbehörden getroffen; charakteristischerweise haben
die Preßstrafen an Zahl und Höhe um so mehr zugenommen, je weiter
man sich von der Revolution entfernte. Ein klarer Rechtszustand ist auf
diesem Gebiete noch nicht und eine dementsprechende Verwaltungspraxis
noch weniger erreicht worden.
Über die Glaubensfreiheit wird in Kapitel VIII gesprochen. Die
Freizügigkeit trägt noch die Fessel eines besonders umständlichen Paß-
wesens an sich.
Das dritte Rechtsgebiet ist die konstitutionelle Wirksamkeit. Artikel
96 hebt schon das militärische Gebiet in gewissem Umfange aus der Gesetz-
gebung heraus, viel bedenklicher aber wurde, nicht seiner Existenz, sondern
seiner Anwendung nach, der Artikel 87 desselben Kapitels, der den Erlaß
von Gesetzen allein durch den Zaren möglich macht, wenn die Duma
nicht in der Lage ist, mitzuwirken. Denn dieses Notverordnungsrecht des
Zaren ist zunehmend von der Regierung schwer mißbraucht worden.
Rußland hat ein Zweikammersystem erhalten. Die erste Kammer
ist der Reichsrat, der aus der altert beratenden Zentralbehörde zu einem
Oberhaus umgebildet wurde*). Die Gesamtzahl seiner ernannten Mit-
glieder darf die Gesamtzahl der gewählten nicht überschreiten. Die Vor-
stellung, daß, bei der gleichen Zahl Ernannter und Gewählter und dem
ernannten Präsidenten, die Regierung den Reichsrat beherrsche, ist
falsch, weil niemals alle Mitglieder anwesend sind und die Fraktions-
bildung die Grenze zwischen ernannten und gewählten Mitgliedern nicht
beachtet hat. Der alte Reichsrat ist insofern bestehen geblieben, als nach
wie vor in ihn Mitglieder versetzt lverden, die nicht auch Mitglieder des
Reichsrats als erster Kammer werden. Auch die 4 (beratenden) Departe-
ments des alten Reichsrats existieren noch weiter, gehen diesen als Parla-
inent aber nichts an. Nur ein Teil der ernannten Mitglieder gehört zur
*) S. jene Zusammensetzung oben S. 129. — Völlig unvertreten sind in ihm
die Städte.
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
205
ersten Kammer; ihre Namen werden alljährlich am 1. Januar neu ver-
öffentlicht. Die Ernennung zum Mitgliede des Reichsrats als erster
Kammer gilt immer nur auf ein Jahr (Art. 11 des Reglements über
den Reichsrat), während die Berufung in den Reichsrat im allgemeinen
bisher lebenslänglich war und ist. Begreiflich ist daher die Forderung,
daß die ernannten Mitglieder analog anderen ersten Kammern auf Lebens-
zeit ernannt und nur auf eigenen Wunsch verabschiedet werden möchten.
Der Präsident und Vizepräsident des Reichsrates werden vom Kaiser er-
nannt; die Kanzlei des gesamten Reichsrats untersteht dem Reichssekretär.
Die gewählten Mitglieder der ersten Kammer werden auf 9 Jahre ge-
wählt und scheiden im Turnus von je 3 Jahren zu einem Drittel aus.
Sämtliche Mitglieder erhalten Tagegelder (25 Rubel pro Tag) und die
Reisegelder wie die Dumaabgeordneten.
Die Duma wird auf 5 Jahre gewählt; sie zählt 442 Abgeordnete,
die ein Jahresgehalt von 4200 Rubel und Reisekostenentschädigung er-
halten. Sie werden von der Bevölkerung des russischen Kaiserreiches
gewählt, worunter das Großfürstentum Finnland ursprünglich nicht
einbegriffen war; die seit dem Gesetz von 1910 von Finnland in die
Duma zu wählenden zwei Abgeordneten sind nicht in ihr erschienen.
Die Mitglieder der Reichsduma haben Redefreiheit, während die
Immunität der Mitglieder nicht ausreichend geregelt ist, indem für die
Abgeordneten dieselbe Bestimmung gilt wie für die obersten Rangklassen
der Verwaltung: das Amt eines Abgeordneten gilt einem Amte dieser
Klassen insofern gleich, als seine Vergehen als Amtsvergehen betrachtet,
also der Entscheidung des Kaisers anheimgestellt sind, durch die ein Ge-
richtsverfahren herbeigeführt wird. Dadurch ist der Dumaabgeordnete nicht
in dem üblichen Maße gesichert. Doch kann ein Abgeordneter wegen einer
Äußerung in der Duma nicht belangt werden.
Beide Parlamente werden alljährlich durch den Zaren einberufen.
Die Dauer der Arbeiten im Laufe des Jahres wird durch kaiserliche
Verordnung bestimmt. Sowohl die durch Wahlen gebildete Reichsrats-
hälfte wie die Duma können vor Ablauf der Legislaturperiode aufgelöst
werden; der Zar bestimmt den Termin der Neuwahlen und des ersten
Zusammentretens.
Das Wahlrecht zur Duma ist in der Verordnung vom 16. Juni
1907 geregelt. Es ist indirekt und teilt die Wahlmänner in Kurien:
206
VI. Kapitel.
Grundbesitzer, Bauern, Städter (die in 2 Kurien getrennt sind) und Ar-
beiter. Die Verteilung der Wahlrnänner ist jetzt so, daß der Grundbesitz
wenig über die Hälfte der Wahlmänner des ganzen Reiches hat, die
Städter mit ihren beiden Kurien nicht ganz ein Viertel, die Bauern noch
etwas weniger als ein Viertel, während sie zur ersten und zweiten Duma
doppelt so viel Wahlmänner entsandten. Auf die Arbeiter entfallen etwas
über 2% der Gesamtheit aller Wahlmänner. Das Wahlrecht ist also pluto-
kratisch, und zwar in der Form, daß der ländliche Großgrundbesitz den stärksten
Einfluß hat, zumal wenn er mit der 1. Kurie der Städte zusammengeht.
Am Vermögenszensus ist im geltenden Wahlrecht nichts geändert. Die
Zahl der Dessjatinen, die in den einzelnen Kreisen zur Wahl berechtigen,
ist verschieden und schwankt zwischen 800 (ein Kreis im Gouv. Wologda)
und 100 (ein Kreis in Wolhynien und der Kreis Jalta), hält sich aber
in der Hauptsache zwischen 100 und 400 Dessjatinen. Diese Verschieden-
heiten geben, genauer betrachtet, einen lehrreichen Einblick in die Tendenzen,
die bei Ausarbeitung schon des zuerst verliehenen Wahlrechts maßgebend
waren. Der Zensus für den mobilen Besitz genügt, um den Einfluß der
großstädtischen Massen auf die Duma auszuschließen.
Das Wahlverfahren ist sehr verwickelt und absichtlich unübersichtlich.
Die Ordnung der Zahlen der Wahlmänner in den einzelnen Kurien er-
schwert die Wahl der bäuerlichen Abgeordneten dadurch noch mehr
und unterwirst sie dem Einfluß der Großgrundbesitzer. Ferner sichert das
Wahlrecht das Überwiegen des großrussischen Elementes. Und schließlich
macht die Kompliziertheit des Wahlverfahrens eine Beeinflussung durch
die Verwaltung in hohem Maße möglich.
Zum Abgeordneten der Duma darf nicht gewählt werden, wer im
Staatsdienst steht und Gehalt aus der Staatskasse erhält; Ausnahmen
gelten nur für die Minister. Das passive Wahlrecht für den Reichsrat
hat diese Bestimmung nicht, die das große Heer der Staatsbeamten vom
parlamentarischen Leben ausschließt und so die Kluft zwischen Parlament
und Bureaukratie noch weiter zieht.
Beide Kammern haben das Recht der gesetzgeberischen Initiative
und der Interpellation, können indes die Minister nur in bezug auf die
dem „dirigierenden" Senat unterstehenden Behörden interpellieren (Ar-
tikel 108). Behörden, wie das Ministerium des kaiserlichen Hofes, das
Ministerkabinett, die kaiserlichen Kanzleien u. bergt., sind davon befreit,
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
207
dagegen natürlich nicht die einzelnen Minister und deren Verwaltung.
Eine parlamentarische Ministerverantwortlichkeit existiert nicht, die
Minister sind nur Diener der Krone und können im Emst von der Duma
nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Die Kompetenz des Parlaments ist im einzelnen durch die Organi-
sationsreglements für Reichsrat und Duma geregelt. Die gesetzgeberischen
Vorlagen werden, wie überall, erst in der zweiten Kammer beraten und
kommen dann in den Reichsrat, von da an den Zaren.
Die Grundlage des Budgetsrechts geben die Reichsgrundgesetze (Ar-
tikel 114 bis 117) und die Budgetregeln vom 21. März 1906. Der
Reichsetat wird alljährlich am 1. Oktober gleichzeitig in beiden Kammem
vorgelegt. Wenn der Etat nicht bis zu Beginn des Budgetjahres bestätigt
ist, wird mit Zwölfteln weitergewirtschaftet. Wenn das alljährliche Gesetz
über das neu einzustellende Rekrutenkontingent nicht bis zum 1./14. Mai
zustande kommt, wird durch kaiserliche Verordnung die erforderliche An-
zahl von Mannschaften zum Militärdienst einberufen, die aber die Zahl
des Jahres vorher nicht übersteigen darf. • Die Staatsanleihen müssen
ebenso genehmigt werden wie der Etat. Aber die Ausgaben für Staats-
schulden und andere übernommene Verpflichtungen des Staates dürfen
weder gestrichen noch gekürzt werden und gehören zu den gepanzerten
Krediten. Nach diesem Artikel (118) über die Reichsanleihen ist klar, daß
Rußland seit Geltung der Reichsgrundgesetze keine Anleihe anders als
mit Zustimmung seiner Parlamente aufnehmen darf, aber die Verwaltung
hat insofern freie Hand, als nach demselben Artikel Zeit und Bedingungen
für die Durchführung der Reichsanleihen „gemäß der Ordnung der obersten
Verwaltung" bestimmt werden, d. h. ausschließlich durch die Regierung.
Schließlich kommt noch die Beeinträchtigung des Budgetsrechts gegenüber
dem sonst üblichen Bewilligungsrechte durch die „gepanzerten" Kredite
hinzu, die jetzt noch über 400 Millionen Rubel ausmachen.
Andererseits kann die Regierung mit dem Etat viel unbehinderter
umspringen, als das Etatrecht das sonst erlaubt. Der Etat ist bisher
keineswegs genügend spezialisiert; innerhalb der oft sehr große Gesamt-
summen unpassenden Titel aber hat die Regierung ein unbeschränktes
Recht der Übertragung. So ist auch heute noch die Macht der Regierung
in der Finanzgebarung durch diese Beschränkungen des Budgetrechts, durch
die Reservierung einer immerhin hohen Summe (10 Millionen Rubel)
208
VI. Kapitel.
zur alleinigen Disposition des Zaren und durch die Undurchsichtigkeit des
Etats und der Verrechnung unverhältnismäßig groß, und deshalb ist auch
die Bedeutung des parlamentarischen Budgetsrechts sür die Reform der
Verwaltung und für die Beseitigung der Korruption in ihr noch gering
geblieben.
In diesen Bahnen geht heute das Versassungsleben Rußlands vor
sich. Die alten Einrichtungen ringen noch mit den neuen und finden
dabei ihre Stütze in der Tradition, irr der historischen Gewalt. Noch
steht die Regierung zum Parlament nicht im Verhältnis offener Aner-
kennung des gleichberechtigten Faktors, noch haben die erste und zweite
Kammer nicht das rechte Verhältnis zueinander gesunden, noch sind
Parlament und Selbstverwaltung zu einander, sind beide zusammen zur
Regierung nicht in ein unbestritten klares Verhältnis gekommen.
II. Die Verwaltung bis 1905.
Die Zentralverwaltung besteht aus den Jnstiüüionen, die zum Teil
Peter der Große und zum größeren Teile Alexander I. geschaffen haben.
Man scheidet sie noch heute in „oberste" Verwaltung (werchownose
Uprawlenie), in der „die zarische Gewalt unmittelbar wirkt", und „unter-
geordnete" (podtschinnoje), in der „ein bestimmter Grad der Gewalt vom
Zaren gemäß dem Gesetz den zuständigen, in seinem Namen und nach
seinen Willensäußerungen handelnden Stellen und Personen delegiert
isll"). Die Organe der ersten Ordnung, die nicht der Aufsicht des Senats
unterstehen, waren bis 1905 der Reichsrat, Ministerkomitee und Minister-
rat, das Hofministerium, die Kaiserlichen Kanzleien, die Hauptverwaltung
der Institute der Kaiserin Maria Feodorownaa) und einige andere In-
stitutionen. Die Organe der Zentralverwaltung im ganzen aber waren
der „dirigierende Senat" vom Jahre 1711, der „Allerheiligste dirigierende
Synod" vom Jahre 1721") und die 1802 geschaffenen Ressorts des
Reichsrats, des Ministerkomitees und der einzelnen Ministerien. Der
1) Reichsgrundgesetze Art. 10.
a) Große Wohltätigkeitsanstalten.
3) ttber den Synod, die Zcntralvcrwaltungsbchörde der Kirche s. Kap. VIII.
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
209
Senat war, von Peter begründet, ursprünglich als Organ der gesamten
Zentralverwaltung wie der geheime Rat sonst — er ersetzte ja auch den
Bojarenrat — gedacht. Neben ihn stellte Alexander 1.1802 den Reichsrat,
eine Körperschaft, in der „alle Zweige der Verwaltung in ihren Haupt-
beziehungen zur Gesetzgebung erwogen werden, und durch die sie zur kaiser-
lichen Gewalt gelangen", und neben beide 1810 das Ministerkomitee, als
Einheit der auch 1802 geschaffenen Ministerien, eine Art Staats-
ministerium.
Trotz aller Distinktionen des Staatsrechts und einer Flut von Ver-
ordnungen hat aber die Arbeit dieser drei Zentralorgane mit einander
nicht recht sunktionieren können, weil ihre Kompetenzen gegeneinander
nicht schars genug abgegrenzt waren. Das Verwaltungsrecht hat dieses
Problem scharfer Abgrenzung der Ressorts nirgends einwandfrei gelöst,
am wenigsten aber hier, obwohl sich hier eine klare Einteilung von
selbst ergab: der Senat als das oberste Reichsgericht, das Ministerkomitee
als das oberste Organ der Zentralverwaltung und, wenn die Versassungs-
pläne Alexanders, etwa das Schema Speranskis, verwirklicht worden
wären, der Reichsrat als Zentralorgan der Selbstverwaltung und der
Volkswünsche. Zunächst aber ist das Ministerkomitee niemals etwas
einem westeuropäischen Ministerkabinett Ähnliches gewesen. Die einzelnen
Ministerien wurden vielmehr die ausschlaggebenden Zentralstellen, und
innerhalb ihres Kreises waren die Minister des Innern und der Finanzen
die beiden Wichtigsten, wobei der einflußreichere immer der Minister
des Innern gewesen ist, trotz der großen Stellung, die sich Finanzminister
wie Cancrin oder Witte geschaffen haben. Daneben stand noch der Einfluß
der den Kaiser unmittelbar umgebenden Organe auf das Staatsleben,
also der „Allerhöchsten Kanzlei", des Ministers des kaiserlichen Hofes,
des Chefs der berühmten dritten Abteilung unter Nikolai I?) und schließlich
vor allem der Generaladjutanten, die im Verwaltungsaufbau überhaupt
keine Stellung hatten. So bedeutete das Ministerkomitee nur sehr aus-
nahmsweise etwas, es hatte keinen festen Geschäftskreis und war keine
kollegiale Behörde.
st Dritte Abteilung, der eigenen Kanzlei des Kaisers nämlich, die das stühere
Polizeiministerium darstellte und als solches 1880 im Ministerium des Innern
aufgegangen ist.
Hoetzsch, Nußtcnid.
14
210
VI. Kapitel.
Das Verhältnis der Minister weiter zum Senat verschob die Stellung
dieser ursprünglich als oberste Staatsbehörde überhaupt gedachten In-
stitution. An sich wurde aus dem Senate einmal die höchste Kontroll-
und Revisionsbehörde des Reiches, der darin alle Behörden mit bestimmten
Ausnahmen untergeordnet waren, und dann die höchste Revisionsstelle
sür Gerichtssachen. In erster Beziehung drang sein Einfluß gegenüber
den Ministern selten durch, da diese das Recht direkten Vortrags (Doklad)
beim Kaiser hatten. Aber sonst übt der Senat (in seinem 1. Departement)
die Kontrolle der gesamten Verwaltung aus, ist das höchste Disziplinar-
gericht und stellt so das dar, was Rußland an Verwaltungsrechtspflege
überhaupt hat. Viel bedeutender aber ist seine Rolle als oberstes
Apellationsgericht in Straf- und Zivilsachen, die, 1864 geschaffen, in seinen
beiden Kassationsdepartements ausgeübt wird. Seitdem besteht der Senat
aus zwei ganz verschiedenen Hälften unter gemeinsamem Namen und
gemeinsamem Dach, die organisch nicht zusammengehören.
Wichtig ist ferner das Recht des Senats zur Gesetzesinterpretaion,
das er in der Befugnis, neue Gesetze auf die Übereinstimmung mit den
bisherigen zu prüfen, ausübt. Erst durch die Publikation eines Gesetzes
seitens des Senats erhält ein solches Gesetzeskraft. Daran hat auch die
Verfassung nichts geändert (Art. 90, 91, 92 der Reichsgrundgesetze): auch
nach 1906 behielt der Senat die Aufgabe der Aufbewahrung der Gesetze und
der Publikation. Er hat das Recht zu prüfen, ob ein Gesetz ver-
fassungsmäßig zustande gekommen ist, ist aber dieser Pflicht bis 1914 nur
einmal im ablehnenden Sinne nachgekommen; das neue Wahlgesetz von
1907 hat er ohne weiteres publiziert. Daher sichert es auch den Charakter
Rußlands als Rechtsstaat nicht, wenn die Verfassung (Art. 92) sagt:
„Gesetzgeberische Bestimmungen unterliegen nicht der Veröffentlichung,
wenn die Ordnung ihres Zustandekommens nicht den Bestimmungen
dieser Gmndgesetze entspricht." Denn praktisch ist das Prüfungsrecht des
Senats lediglich das einer registrierenden Behörde.
Der Reichsrat war bis 1905 eine beratende Behörde der höchsten
Würdenträger des Staates und hätte eine große Bedeutung gewinnen
können. Aber in ihm saßen fast nur alte und ausgediente Männer; die Ver-
setzung in den Reichsrat, die, und zwar mit vollem Gehalt der bisherigen
Stellung als Pension, auch heute noch wie früher erfolgt, ist das Zeichen
einer ehrenvollen, aber dauernden Kaltstellung.
211
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
S
So lag also in den Ministerien in der vorkonstitutionellen Zeit der
Schwerpunkt der Verwaltung. Sie sind im allgemeinen so, wie sie heute
organisiert sind, 1802 von Alexander I. geschaffen worden. In ihrer Reihe
waren stets die wichtigsten neben dem des Innern die Ministerien der
Finanzen, der auswärtigen Angelegenheiten, des Krieges und der Marine.
Für sich stand (naturgemäß von großem Einfluß) stets das Ministerium
des kaiserlichen Hofes. Es gibt heute die folgenden Ministerien: Inneres
(dabei die Polizei, das „semski Otdjel" als Oberaufsichtsbehörde der bäuer-
lichen Selbstverwaltung, geistliche Angelegenheiten fremder Konfessionen,
Post und Telegraphie, Angelegenheiten der Presse und der „lokalen Wirt-
schaft'"), Medizinalkolleg, statistisches Komitee), Finanzen, Handel und In-
dustrie (früher mit dem Finanzministerium verbunden, als selbständiges
Ressort 1905 errichtet) Volksausklärung, Wegebauten, Justiz, Auswärtiges,
des Kaiserlichen Hofes und der Apanagen, Krieg (diesem ein- und unter-
geordnet das Kaiserliche Hauptquartier, das Reichsmilitärgericht, der
Hauptstab, der Generalstab, die Hauptverwaltungen der Artillerie, In-
genieure, Intendantur, die Militärlehranstalten, Kosakenverwaltung,
Militärmedizin), Marine, ferner die ihnen in der Bedeutung und im Range
gleichstehende „Hauptverwaltung^ für Landorganisation und Ackerbau",
sowie die Reichskontrolle und der Synod. Diese dreizehn bilden seit 1905
den „Ministerrat" (Sowjet Ministrow). Daneben stehen noch in einer den
Ministerien ähnlicher Stellung die Hauptverwaltungen der Institute der
Kaiserin Marie, der Kaiserlichen Kanzleien und der Statthalter des Kau-
kasus.
Die Organisation ist rein bureaukratisch. Neben dem Minister steht
sein (oder seine) Gehilfe (Towarischtsch oder Pomoschtschnik — Unterstaats-
sekretär), darunter regelmäßig ein „Conseil" (Sowjet) aus den Ressort-
chefs und ähnlichen Persönlichkeiten, lediglich von konsultativer Be-
deutung, und die Kanzlei. Dann folgen die Departements oder „Haupt-
verwaltungen", die Abteilungen und die sogenannten „Tische" als unterste
Teile.
Bis 1905 existierte kein Gesamtministerium, sondern völlig unab-
hängige Fachminister standen nebeneinander, jeder einzelne direkt dem
*) D. h. der Städte und Semstwos, Volksgesundheits-, Verpflegungs-, Ver-
sicherungs- und Wegesachen.
Sonst sind die Hauptverwaltungen Ressorts in einem Ministerium.
14*
212
VI. Kapitel.
Kaiser unterstellt. Einen Premierminister gab es nicht; der Titel Reichs-
kanzler, den das Staatsrecht bis zum Tode des Fürsten Alexander
Gortschakow hatte, war nrir ein den Minister des Auswärtigen aus-
zeichnender Titel und ist seitdem nicht wieder verliehen worden.
Dieses System führte zu denselben Unzuträglichkeiten wie überall
in absolut regierten Staaten. Zu einer klaren Abgrenzung der Ressorts
war man nicht fähig, wollte sie auch nicht; die Folge war ein unausgesetzter
Krieg der Ressorts. Und da die Verwaltung auf das äußerste zentralisiert
war, spielte sich dieser Krieg in vollem Umfange in Petersburg ab und
führte zu einer Schwerfälligkeit der Geschäftsführung, die schon darum,
auch wenn sie sonst ordentlich und ehrlich gewesen wäre, ihre Aufgaben
in dem ungeheueren Reiche gar nicht hätte erfüllen können. Dieser Ver-
waltungsthpns im 18. und 19. Jahrhundert ist oft genug von russischen
Dichtern beschrieben und verspottet worden, aber durch lange Übung
dem Beamtenkörper wie dem Volke in Fleisch und Blut übergegangen
— ein ungeheurer Beamtenapparat, der gewaltig klapperte und
im Aktenschreiben Märchenhaftes leistete, ein Übermaß der Kontroll-
einrichtungen, die doch für Ordnung und Integrität keine Gewähr boten,
eine mechanische Ordnung, ans der für die positive Förderung der Auf-
gaben, soweit sie nicht unmittelbar Bedürfnisse des Staates betrafen,
wenig genug herauskam.
Noch verwickelter wurde das System dadurch, daß neben den
Ministern die Generalgouverneure standen, und daß erst sehr allmählich
das wichtigste Amt der Lokalverwaltung, der Gouverneur, in eine klare
Stellung zu den Zentralinstanzen kam.
Die nächste Stelle nach dein Ministerium war und ist das Gouver-
nement. Denn die Generalgouverneure als Statthalter und Provinzial-
minister zugleich sind kein organisches Glied in dem Aufbau des Ganzen.
Es gab bis zum Weltkriege sieben Generalgouvernements: Warschau,
WilnaZ, Kiew (aus den Gouvernements Kiew, Wolhynien und Podolien),
Irkutsk (Gouv. Irkutsk, Jenisseisk, Transbaikalien und Jakutsk), das
Amurgebiet aus den „Gebieten" sOblastis: Amur, Kamtschatka, Küsten-
gebiet und Sachalin), Steppengouvernements (Gouv. Akmolinsk, Uralsk,
y Aus den Gouvernements Wilna, Kowno und Grodno; 1912 wurde seine
Auflösung beschlossen.
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
213
Semipalatinsk, Turgaisk), Turkestan und Finnland, dazu die Statthalter-
schaft Kaukasus und das Generalgouvernement Moskau (ttur Stadt und
Gouvernement umfassend). Schon aus diesen Namen sieht man, daß es sich
dabei (außer bei Moskau) um Gebiete handelt, die nicht von vornherein
mit Rußland zusammenhingen und deren Sonderzusammenfassung in:
Generalgouvernement sich aus Rücksichten auf die Grenzmarken oder
kolonialen Verhältnisse rechtfertigte. Aber die Einheit der Verwaltung wird
durch die Existenz dieser sehr hohen und selbständigen Beamten gestört.
Da sie zumeist zugleich Kommandierende der betreffenden Militär-
bezirke sind, stehen sie sowohl unter dem Minister des Innern wie dem
Kriegsminister, aber schon dem Gesetze nach den Ministern fast gleich und
haben vor allem das Recht des direkten Berichts an den Kaiser. Be-
sonders wo die Ausnahmezustände herrschen, regieren sie nahezu unum-
schränkt; es ist ein Amt, das bedeutenden Männern einen ungewöhn-
lich großen Spielraum ließ, aber auch die ganze Opposition und den Haß
(besonders in den Grenzmarken Finnland und Polen) auf sie per-
sönlich zog.
Der eigentliche Träger der Lokalverwaltung ist, da auch die General-
gouvernements nur eine Summe mehrerer Gouvernements darstellen,
im ganzen Reiche der Gouverneur. Die Einteilung Rußlands in diese
Bezirke geht in der Hauptsache auf Peter den Großen (seit 1702; Ukas
von 1708 über die Einteilung des Reichs in acht Gouvernements) zurück.
Elisabeth erhöhte die Zahl auf 16, Katharina II. auf 40; durch die pol-
nischen Teilungen und die asiatischen Erwerbungen wuchs sie weiter. Die
Einteilung wurde künstlich und mechanisch vorgenommen, weshalb die
Gouvernements auch fast keine historischen Namen tragen. Ihre Organi-
sation stammt in der Hauptsache von Katharina (1764).
Kernrußland zerfällt in 47 Gouvernements. Dazu kommen
3 Gouvernements der Ostseeprovinzen, 10 für Polen, 8 für Finnland,
14 im Kaukasus; Sibirien zählt 10, Zentralasien im ganzen 9 Gou-
vernements. Das ergibt — Gouvernements und die ihnen gleich-
stehenden Gebiete zusammengerechnet — 101 solcher Lokalverwaltungs-
bezirke. Von den 47 Gouvernements des europäischen Rußlands
sind die beiden kleinsten: Tula und Kaluga, mit je 31000 Quadrat-
kilometer etwas größer als Pommern, das größte Archangelsk, mit
846 000 Quadratkilometer so groß wie Deutschland und Österreich (Zis-
214
VI. Kapitel.
leithanien) zusammen, das nächstgrößte, Wologda, mit 402 000 Quadrat-
kilometer so groß wie Preußen, Sachsen, Württemberg und Baden zu-
sammen^).
Die Einrichtung der Fachministerien durch Alexander I. führte dazu,
daß jeder Fachminister auch auf die Lokalstelle Einfluß zu gewinnen
suchte, und daß sich dadurch die Verwaltungskollegien der Gouvernements
immer mehr m voneinander unabhängige Vertretungen der einzelnen Fach-
ministerien auflösen. So spielte sich an der Lokalstelle derselbe Kampf
wie in der Zentrale ab. In diesem Kampf ist aber der Gouverneur,
der direkt vom Kaiser ernannt wird, immer ausschließlicher das Organ des
Ministers des Innern geworden.
Die — unmittelbar dem Senat unterstellte — Gouvernements-
regierung besteht unter Vorsitz des Gouverneurs und unter Geschäfts-
leitung des Vizegouverneurs aus wenigstens zwei Räten, dem Medi-
zinalbeamten, dem Ingenieur und dem Architekten des Gouvernements.
Der Geschäftsgang ist teils bureaukratisch, teils kollegial. Neben dieser
Regierung, die die Aufgaben des Ministers des Innern an ihrer Stelle
erfüllt, stehen der Kameralhof (kasennaja Palata), die Domänenverwaltung,
die Akziseverwaltung und der Kontrollhof des Gouvernements, — eine
Reihe von Behörden, die die Aufgaben der anderen Ministerien an der
Lokalstelle wahrnehmen, aber der Aufsicht des Gouverneuers unterstellt
sind. Das Kuratorium des Lehrbezirks, die lokalen Stellen der Kirchen-
verwaltungm, die Zoll- und Postbezirke, die Bezirksverwaltungen für
Wegebau und die Militärbezirke sind selbständige provinzielle Staats-
behörden, deren Bezirke sich aber nicht mit denen der Gouvernements
decken. < ° • >. PSeÜi
Der Kameralhof ist die Gouvernements-Finanzverwaltung, unter
der die Staatskassen (Kasnatscheistwo) als Gouvernements-, Kreis- und
Lokalrenteien und die Steuerinspektoren stehen. Die Aufgabe der Domänen-
verwaltung ergibt sich aus dem Namen, ebenso die der Akziseverwaltung.
Der Kontrollhof ist die Lokalstelle der Reichskontrolle. Der Gouverneur ist
sodann Chef der Kreis- und Stadtpolizei, neben der noch eine (militärische)
st Bei diesen Vergleichen wie bei den folgenden in den Kreisgrößen ist
natürlich die viel geringere Bevölkerungsdichtigkeit Rußlands (Zahlen oben S. 14)
nicht zu übersehen.
Verfassung, Verwaltung und Gericht. 215
Gendarmerie steht, die z. B. bett Polizeidienst auf den Eisenbahnstationen
versieht.
Eine ideale und vollständige Verbindung dieser verschiedenen Ver-
waltungen ist trotz aller Aufsichtsbefugnisse des Gouverneurs nicht erreicht
worden. Vielmehr wird die Einheit der Verwaltung nur tatsächlich
durch die überragende Stellung des Gouverneurs als Vertreters des
Ministers des Innern garantiert. Er ist, wie es im Ukas Katharinas
von 1764 heißt, „das Haupt und der Wirt des ganzen seiner Obhut an-
vertrauten Gouvernements". Unzweifelhaft ist der Kreis seiner Pflichten,
vor allem im Verhältnis zu der großen Ausdehnung seines Amtsbezirkes,
zu weit, um immer ganz ausgefüllt werden zu können. Seine Stellung
wird erhöht, wenn, wie es in vielen Gegenden ständig der Fall ist, die
Ausnahmezustände herrschen, die seine Strafgewalt erweitern. Die
Stellung zur Zentrale ist in der Theorie sehr abhängig, das wird aber durch
die große Entfernung von Petersburg korrigiert, und dadurch, daß eine
ganze Reihe von Gouverneur- und Generalgouverneurstellen mit Militärs
besetzt werden.
Ist schon danach die Konzentration und Wirkungskraft der Lokal-
verwaltung längst nicht so groß wie man annehmen sollte, da doch bis
1906 Schranken durch Verfassung und Parlament nicht existierten, so sind
außerdem diese Gouvernementsbezirke außerordentlich groß und fehlt
eine weitere Lokalverwaltungsstelle darunter im Reiche völlig. Das
Gouvernement ist im allgemeinen erheblich größer als eine preußische
Provinz, während der Gouverneur im Aufbau der Verwaltung dem
preußischen Regierungspräsidenten entspricht. Und diesem Gouvernement
fehlt die wirksame Kreisverwaltung, die den preußischen Regierungs-
bezirk nach unten erfüllt. Denn das Gouvernement zerfällt zwar in
Kreise (Ujesdh), 8 bis 15, meist älter und natürlicher abgegrenzt als die
Gouvernements — diese Einteilung hat Katharina II. geschaffen —, sie
stellen aber keine staatliche Verwaltungseinheit dar, sondern sind lediglich
Polizeibezirke.
Von den 479 Kreisen jener 47 Gouvernements sind groß:
unter 1000 QuadratwerstZ: keiner, bis 2000: 19 (der kleinste
preußische Regierungsbezirk Aurich ist 3107 Quadratkilometer groß), bis
0 1 Quadrcüwcrst — 1,138 qkm.
216
VI. Kapitel.
5000: 262 (also bis zur Größe des Regierungsbezirks Hildesheim —
5352 Quadratkilometer), bis 10 000: 110 (Regierungsbezirk Danzig —
7954 Quadratkilometer), bis 15 000 (in der Größe der Regierungsbezirke
Bromberg, Breslau, Stettin) 34, über 15 000 (also größer als die
Regierungsbezirke Posen oder Marienwerder: 54. Der kleinste Kreis ist der
Kreis Taruß (Gouv. Kaluga) mit 1639 Quadratkilometern, der größte
der Kreis Petschora (Gouv. Archangelsk) mit 413 000 Quadratkilometern,
demnächst der Kreis Ustysol (Gouv. Wologda) mit 170000 Quadrat-
kilometern (halb so groß wie Preußen). Von sämtlichen Kreisen sind nur
101 kleiner als der preußische Regierungsbezirk Aurich. Im asiatischen
Teile sind die Kreise naturgemäß noch größer als im europäischen.
An die Spitze des Kreises steht der Kreischef (Jsprawnik) mit seiner
Kanzlei; er ist reiner Polizeibeamter. Auch Kreisärzte, Kreisrenteien und
mancherlei Komitees machen diese Stelle noch nicht zu einer staatlichen
Kreisverwaltung, die eben Rußland noch durchaus fehlt. Der Kreis zer-
fällt für Polizeizwecke in Bezirke (Stan oder Utschastok) unter dem Bezirks-
chef (stanovoi Pristaw), dem die Landpolizisten (Urjadniki) und die Land-
wächter (Straschniki) in ihren Bezirken unterstellt sind.
Auch durch das Institut der Landhauptleute (semskie Natschalniki)
entstand keine Kreisverwaltung. Denn diese — 1889 an die Stelle der
Friedensrichter und Kreis-Bauernbehörden getretenen — Organe sind nur
zur Aufsicht über die Landgemeinden und Wolostgerichte da. Sie stehen
ganz ohne Zusammenhang neben der Kreisverwaltnng und schaffen mit
ihren Disziplinarstraf- und gerichtlichen Kompetenzen gegenüber den
Bauern eine durchaus unerwünschte Vermischung von Justiz und Polizei-
verwaltung an der Lokalstelle. Es gibt in jedem Kreise mehrere, meist
fünf, solcher Landhauptleute, die zusammen die „Kreisversammlung
der Landhauptleute" als zweite Instanz bilden und mit dem Gouverneur
unmittelbar durch die Gouvernementsbehörde in Bauernsachen verbunden
sind. In den 47 Gouvernements des europäischen Reichsteiles gibt es
im ganzen 2682 Landhauptlente; das Amt ist nicht in Wolhynien, Podo-
lien und Kiew eingeführt worden. Es wird von adligen Grundbesitzern
bekleidet und gibt dem Adel auch heute noch eine weitgehende gerichtlich-
administrative Macht über die Bauern.
Die Städte sind entweder dem Gouvernement oder dem Kreis
inkorporiert oder stehen außerhalb dieser Verwallungseinteilung: so
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
217
Petersburg, Moskau, Odessa, Sewastopol, Kertsch-Jenikale, Nikolajew,
Rostow am Don, Baku, die besondere Stadthauptmaunschaften bilden;
der Stadthauptmann steht dein Gouverneur gleich. Die Polizei in den
Städten ist durchgängig staatlich und wird von Polizeimeistern wahr-
genommen, denen die Stadtteilspristawe, die Stadtviertelsaufseher und die
eigentlichen Schutzleute (Gorodowoi) unterstehen.
Die politische Landgemeinde ist die in dieser Form im Statut über die
Bauernbefreiung von 1861 als administrative Einheit eingeführte Wolost,
die als Samtgemeinde und zweite Instanz mehrere Dorfgemeinden (Ob-
schtschina) umfaßt; Älteste (Starosten) und „Starschinh", Mirversamm-
lungen und Wolostversammlungen aus Mir-Bevollmächtigten sind die
Organe.
In dieser Skizze tritt die formale Schwäche dieser Verwaltung genug-
sam hervor. Die Unklarheit in der Abgrenzung der Ressorts und die
Unfähigkeit zu einer wirklichen Teilung der Gewalten kommen mit weit-
gehendster Zentralisation in der Residenz zusammen, — ein System, das
alle Entscheidungen in die Zentrale verlegt, während diese wegen der großen
Entfernungen und infolge der Ausnahmezustände gar nicht so weit wirken
kann und will. Dadurch ist der Gouverneur ein unabhängiger König in
seinem Bezirk geworden, der nur seinerseits wieder an die einzelnen Unter-
tanen nicht genügend herankommt, weil ihm an der Kreisstelle die ge-
eigneten Organe fehlen. In diesem Bilde sind noch nicht einmal die
Störungen eingezeichnet, die durch die Einteilung der Militärbezirke (unter
dem Kriegsministerium) und der Lehrbezirke (unter dem Ministerium der
Volksaufklärung) entstehen, aber schon so ergibt der Schematismus des
Verwaltungsrechts eine relativ sehr große Zahl von Behörden und Be-
amten, die sich vielfach gegenseitig hemmen und in ihrer Tätigkeit auf-
heben.
III. Gericht, Recht und Staatsdienst bis 1905.
Die Rechtsprechung ruht auf der Gerichtsordnung Alexanders II.,
die aber unter Alexander III. erhebliche Einschränkungen erfahren hat.
Die oberste Gerichtsstelle sind die Kassationsdepartements des Senats,
die nächste Stelle die Appellhöfe (sudebnaja Palata — 10 im europäischen
218
VI. Kapitel.
Rußland und 4 im Kaukasus, Turkestan und Sibirien), unter denen
stehen die Bezirksgerichte (okruschnh Sud), meist für ein Gouvernement
(nicht in den Ostseeprovinzen und Polen) für Zivil- und Kriminalsachen,
mit Staatsanwälten (Prokuroren), Geschworenen (seit 1878 in Wirkungs-
kreis und Öffentlichkeit ihrer Verhandlungen sehr eingeschränkt) und
Rechtsanwälten nach westeuropäischem Vorbild. Den Bezirksgerichten
koordiniert sind — für Bagatellsachen — die Friedensrichter, über denen
als eigene Apellationsinstanz, den Appellhöfen entsprechend, die Friedens-
richterversammlungen stehen. Jeder Kreis zerfällt in eine Anzahl von
solchen Friedensrichterdistrikten. Im europäischen Rußland kamen auf
jeden Friedensrichterdistrikt durchschnittlich 38000 Einwohner und 1242
Quadratwerst. Diese Friedensrichter wurden bis 1889 von den Semst-
wos gewählt; seidem werden sie — und nur da, wo keine Landhauptleute
und Stadtrichter vorhanden sind, — ernannt. Wahlfriedensrichter gibt cs
nur noch in einzelnen Städten, aber der selbständige gewählte Friedens-
richter ist bis heute das Ideal des liberalen Rußlands geblieben.
Neben dieser Gerichtsorganisation stehen die 1889 neu geschaffenen
gerichtlichen Behörden: das Gericht des Landhauptmanns und der Stadt-
richter (für eine einzelne Stadt); beider richterliche Kompetenz deckt sich
beinahe mit der friedensrichterlichen und ergänzt diese gewissermaßen nach
unten. Von ihnen beiden geht der Rechtszug an die „Kreisversammlung"
(aus Friedensrichtern, Stadtrichtern, Landhauptleuten und dem Kreis-
mitglied des Bezirksgerichts) und von da an die „Gouvernementsbehörde in
ländlichen und städtischen Angelegenheiten", die für diese Zwecke noch durch
ein Mitglied des Bezirksgerichts ergänzt wird.
Schließlich sind neben dieser regulären und an sich nicht sehr über-
sichtlichen Organisation noch die Spezialgerichte, wie die Militärgerichte,
die geistlichen und Handelsgerichte und ganz besonders die schon erwähnten
Bauern-Wolostgerichte vorhanden. Die Gebiete, in denen die Gerichts-
formen Alexanders II. und ihre Konsequenzen noch nicht eingeführt sind,
sind Archangelsk, Astrachan, Orenburg, Sibirien, die Steppengouverne-
ments, Turkestan und die Ostseeprovinzen.
Die Gesetze, nach denen verwaltet und Recht gesprochen wird, sind
die zarischen Gesetze, die in der „Vollen Sammlung der Gesetze" (polnoje
Sobranie Sakonow) (in 3 Sammlungen, bis 1825: 45 Bände, bis 1881:
57 Teile und seitdem: bis jetzt 29 Teile) chronologisch zusammengestellt
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
219
und int „Sswod Sakonow" (durch Speranski) systematisch kodifiziert sind.
Diese Kodifikation gilt seit 1835 und umfaßt das gesamte Staats- und
Zivilrecht. Der erste Teil des 10. Bandes dieser Sammlung ist das
russische Zivilgesetzbuch, Band 15 enthält das Strafgesetzbuch. Die letzte
Gesamtausgabe dieses sehr umfangreichen Kodex stammt aus dem Jahre
1857. Seitdem sind immer nur Einzelbände neu herausgegeben worden,
und außerdem seit 1906 Fortsetzungen. Es ist also eine etwas verwickelte
Operation, das für einen Einzelfall gesuchte geltende Recht im authentischen
Wortlaut festzustellen. Systematische Verarbeitungen des gesamten
geltenden Rechtsstoffes, die dem abhelfen, gibt es, sie tragen aber nur den
Charakter von Privatarbeiten.
Das Geltungsgebiet des Sswod Sakonow ist durch Partikularrechte,
besonders in Finnland, Polen und den Ostseeprovinzen, eingeschränkt.
Ferner galt es infolge der ständischen und rechtlichen Trennung des Bauern-
standes bisher nicht für die agrarische Masse des Volkes. Eine Kommission
zur Umarbeitung des Sswod tagte seit 1882, und ihr Entwurf lag
1905 vor, als er durch die Agrarreform und ihre Konsequenzen wieder
überflüssig gemacht wurde. Die Arbeit ist auch nicht wieder aufgenommen
worden, obwohl die Umarbeitung mindestens des 1. Teils des 10. Bandes
des Sswod seit Auflösung des Mir für die bäuerlichen Verhältnisse, die
das bisherige Bürgerliche Gesetzbuch Rußlands gar nicht zu berücksichtigen
brauchte, dringend notwendig ist. Das Strafgesetzbuch, das für alle
Untertanen des Reiches gilt, ist 1903, umgearbeitet, neu veröffentlicht
worden.
Nur wenige Bemerkungen über den Staatsdienst im allgemeinen
haben das früher Gesagtes zu ergänzen. Die Rangtabelle Peters des
Großen von 1714 für die Beamtenschaft gilt nach wie vor, ebenso wie
die durch diese Rangtabelle abgeschlossene Absonderung der Beamten-
hierarchie vom Volksleben erhalten geblieben ist. Jedoch wird die Tabelle
nicht mehr mechanisch eingehalten, so daß heute Rang und Amt keines-
wegs einander mehr so unbedingt entsprechen wie früher. Mer die alte
Tradition, die in dieser Rangordnung ruht, lebt in alter Kraft weiter.
Wichtiger als diese ist die Wirkung der Schwäche des Verwaltungs-
systems überhaupt. Obwohl Rußland nach der Volkszählung von 1897
fl S. S. 32 ff.
220
VI. Kapitel.
(einschl. Finnlands) 435 818 -Beamte hattet — je einen auf 150 Ein-
wohner im europäischen Reichsteile (in den Städten auf 55, auf dem Lande
erst auf 664) —, wird von dieser gewaltigen Masse von Behörden und
Beamten oben zuviel regiert und unten zu wenig verwaltet. Die Zentrali-
sation schwächt das Verantwortlichkeitsgefühl und schließt doch, da es trotz
des enormen und übermäßigen Kontrollapparates eine durchgreifende
Kontrolle nicht gibt, Unordnung und Unredlichkeit nicht aus, zumal die
Gehälter nur für eine kleine Minderheit gut oder glänzend, für die große
Mehrzahl aber durchgängig zu niedrig sind. Von jenen 435 818 erhielten
Gehalt:
Rubel Personen
bis 1000 344 614
1 000— 2 000 65 775
2 000- 5 000 23116
5 000—10 000 3 981
10 000—20 000 282
20 000-50 000 40
über 50 000 10
Dieser Grund, die große Machtvollkommenheit des einzelnen Be-
amten und die Entfernung von der Zentrale, die Schäden im Erziehungs-
und Bildungswesen, die Tradition, alles dies ist Schuld daran, daß die
sittliche Qualifikation der Beamten unter der steht, die ein moderner
Staat braucht. Das gilt für die verschiedenen Beamtenkategorien ver-
schieden: weniger für den Richterstand, der sich in 40 Jahren den be-
rechtigten Ruf der Unbestechlichkeit erworben und erhalten hat und auch
an der Revolution nicht beteiligt war, als für die Verwaltung, weniger
für die Zentralstellen als für die lokale Verwaltung. Selbstverständlich
hat die Erhöhung der Gehälter in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts und die Hebung des moralischen Niveaus, die trotz aller
Schwierigkeiten und Hemmnisse eingetreten ist, bessernd eingewirkt,
insonderheit auch die zunehmende Zahl unbestechlicher Chefs und das Bei-
spiel, das die Ehrenhaftigkeit der Herrscher gegeben hat. Aber im ganzen
trägt dieser Beamtenkörper die Folgen seiner Geschichte noch sehr
an sich, sind Laßheit in der Auffassung des Berufes und moralische
st Davon 104 575 höhere und niedere Polizeibeamte.
Verfassung, Verwaltung und Gericht. 221
Defektheit im ganzen größer, als in einem anderen europäischen Staate,
jedenfalls größer, als sich mit dem Begriff des Rechtsstaates und den
moralischen Anforderungen der Gegenwart verträgt. Dem Zaren selbst
legt das die Anschauung des Volkes nicht zur Last. Es dehnt aber seine
Zarenverehrung ganz und gar nicht auf die Vertreter der zarischen Gewalt
aus; Väterchen Zar verehrt der Muschik, gegen den Tschinownik hat er
nur Mißtrauen.
IV. Veränderungen seit 1905 in Verwaltung und Gericht.
In der Zentrale brachte die Verordnung vom 1. November 1905
eine organisatorische Neuänderung, indem das bisherige Ministerkomitee
zu einem Staatsministerium (Ministerrat) umgestaltet und ein Minister-
präsidium geschaffen wurde. Die näheren Bestimmungen dazu, soweit sie
in eine Verfassung gehören, geben die Artikel 120 bis 124 der Reichs-
grundgesetze. Danach erhielt das neue Rußland ein Staatsministerium, das
nach dem Vorbilde des preußischen Staatsministeriums organisiert ist.
Die Grundsätze der aus den Fragen des Rücktritts Bismarcks besonders
bekannten preußischen Kabinettsorder vom 8. September 1852 umreißen
in der Hadptsache auch die Stellung des russischen Ministerpräsidenten.
Ebenso ist dieses Staatsministerium nicht in dem Sinne Kabinett wie in
England, daß es kollegialisch seine Beschlüsse faßt, sondern steht auf der-
selben Stufe unabgeschlossener Organisation wie das preußische. Diese
nicht fertige Organisation entspricht auch hier der Stellung der Krone,
die auch heute noch in Rußland die Einheit der gesamten Regierung
und Verwaltung verkörpert. Aber die neue Organisatwn ist gegen
die bisherigen Verhältnisse ein wesentlicher Fortschritt und gibt be-
deutenden Männern die Möglichkeit einer einheitlichen Leitung der
Staatsgeschäfte. Doch haben der Hof-, Kriegs- und Marineminister wie
der des Auswärtigen das Recht selbständigen, vom Ministerrat unab-
hängigen Vortrags beim Kaiser behalten und unterliegt die Revisions-
tätigkeit des Reichskontrolleurs nicht der Kompetenz des Ministerrats.
Besonders selbständig blieb der Kriegsminister, vor allem durch seine Ver-
bindung mit der Leitung des großen Generalstabes. Und vollends der
Minister des kaiserlichen Hofes steht, der Leitung des Präsidenten ent-
222
VI. Kapitel.
zogen, wie vordem für sich selbständig da, zumal dieses Ministerium
das einzige ist, das in unserem Zeitraum seinen Chef nicht gewechselt hat,
sondern nach wie vor von dem sehr klugen und energischen, dem
Zaren engverbundenen und seines Vertrauens sich erfreuenden Barons
(seit 1912 Grafen) Fredericks geleitet wird.
Für die Reformen der dem Ministerium Nachgeordneten Verwaltungs-
stellen brachte Stolypin in seiner oft genannten Deklaration vom 19. März
1907 drei unter sich zusammenhängende Vorlagen über die Gouverne-
ments-, die Kreis- und die Wolostverwaltung ein. Am dringlichsten
war davon die Reform der Lokalverwaltung an der Gemeindestelle, zu
der die Agrarreform schon logisch zwang und die integrierend mit der
Frage des lokalen Gerichts zusammenhing.
Die Auflösung des Mir beendete im Prinzip auch die bisherige
ständische Absonderung der Bauern vom übrigen Volke und machte
ihre Verwaltungs- und Gerichtsautonomie obsolet. An deren Stelle
mußten neue Formen gesetzt werden, und dafür entwickelte Stolypin
1907 vor der Duma sein Programm: die alle Stände umfassende,
sich selbst verwaltende Wolost als „kleinste landschaftliche Einheit" (melkaja
semskaja Jediniza). Ihre polizeilichen Obliegenheiten sollten sich auf
die einfachsten Funktionen der örtlichen Kommunalpolizei beschränken,
während ihre administrativen Funktionen die Angelegenheiten der all-
gemeinen Wehrpflicht, die Führung der Zivilstandsregister, das Steuer-
wesen usw. umfassen sollten.
Im Zusammenhang mit dieser Umgestaltrmg wurde auch die
Reorganisation des Gerichtswesens geplant: nach Aufhebung des Instituts
der Landhauptleute und der Wolostgerichte sollte ein neues, billiges, rasch
funktionierendes und der Bevölkerung nahestehendes Lokalgericht entstehen.
Der Justizminister brachte daher eine Vorlage ein, nach der die Lokal-
justiz in den Händen von Friedensrichtern konzentriert wurde, die aus
der Mitte der Bevölkerung gewählt werden sollten und zu deren Kom-
petenz der größte Teil der Prozesse gehören sollte, die nunmehr, nach
Beseitigung des Mir, unter die Jurisdiktion der allgemeinen Gerichts-
institutionen fielen. Der Zusammenhang mit diesen sollte durch die
Bildung einer Berufungsinstanz als Kreisabteilung des Bezirksgerichts
und einer Revisionsinstanz im Dirigierenden Senat hergestellt werden.
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
223
Nach Stolypins Meinung sollte ferner über der mit diesen Reformen
entstehenden Landgemeinde eine staatliche Verwaltung im Kreise neben der
bis dahin allein vorhandenen Selbstverwaltung geschaffen werden. Der
Ministerpräsident hatte wohl erkannt, daß an der Kreisstelle die Regie-
rungsgewalt fehlte, deren Aufgaben weder die staatliche Polizei noch das
Kreissemstwo, noch die Landhauptleute erfüllen konnten, und daß die
Staatsgewalt wirksam erst in der Person des Gouverneurs begann. Wurde
doch eine Kreisverwaltung nur durch kollegiale Behörden dargestellt, deren
Vorsitzender der Kreisadelsmarschall und in denen der staatliche Jsprawnik
nur Mitglied war^). Darum wollte Stolypin unter Beseitigung der Land-
hauptleute ein Institut ähnlich dem des preußischen Landrats schaffen,
unter dem Unterchefs der Kreisteile nach Art der Distriktskommissare
in der Provinz Posen gedacht waren.
Auch diese Reformen waren sehr notwendig. Denn das bisherige
Verwaltungssystem hatte, abgesehen von seinen allgemeinen Mängeln,
merkwürdigerweise im absoluten Rußland zu einem übermäßigen Einfluß
der Selbstverwaltung, d. h. des Adels und Großgrundbesitzes, geführt.
Begreiflicherweise opponierte daher der Adel gegen dieses Projekt ebenso
scharf, wie gegen die Gedanken einer Gouvernementsreform. Eine stärkere
Abhängigkeit des Gouverneurs vom Ministerpräsidenten brach die zu
große Selbständigkeit des ersteren, machte ihn aber auch von Semstwo
und Adelsorganisation unabhängiger, mit denen er zu arbeiten
hatte. Und an der Lokalstelle wollte der Staat mit einem staatlichen
Organ den bisherigen Einfluß der (adligen) Selbstverwaltung ebenfalls
bewußt zurückdrängen. Diese Zusammenhänge müssen so sehr betont
werden, weil sie regelmäßig ganz übersehen worden sind. Dem russischm
Staate war es nicht möglich, in allen Einzelheiten den einzelnen
Untertanen so zu fassen, wie etwa dem benachbarten Preußen, und war
es noch weniger möglich, den Egoismus der Standesinteressen an der
lokalen Stelle in den richtigen Schranken zu halten, wie in Preußen durch
das Organ des Landrats. Eine Lösung ist nicht gefunden, weder die
Gouvernements- noch die Kreisreform ist Gesetz geworden.
Auch die Schaffung einer politischen Landgemeinde (poselskoje
Obschtschestwo) ist nicht geglückt. Die Schwierigkeit war, die richtige Ver-
*) S. unten.
224
VI. Kapitel.
bindung zwischen den staatlichen und den Selbstverwaltungsfunktionen
dieser letzten Zelle des Verwaltungsbaues zu finden. Der Regierung lag
mehr an der ersten Hälfte, sie wollte eine politische Wolostgemeinde; die
Duma strebte danach, an der Woloststelle eben die „kleinste landschaftliche
Einheit" zu schaffen, also unter dem Kreissemstwo ein Wolostsemstwo.
Man wollte und mußte zunächst eine Gemeinschaft haben, in der die alte
Markgenossenschaft fortlebte, die das Rechtssubjekt für eine Allmende sein
sollte, die die mit dem Erbrecht am bisherigen Anteilland und seiner Un-
veräußerlichkeit zusammenhängenden Angelegenheiten regulieren, die da-
durch dessen übermäßige Konzentration oder Zerstückelung verhindern
sollte. Kurz, aus der alten Obschtschina sollte auch rechtlich die Real-
gemeinde werden, die sie tatsächlich bis dahin schon an vielen Stellen ge-
wesen war. Die politische Landgemeinde wurde dann das „wolostnoje
Obschtschestwo", das nach dem Regierungsentwurf höchstens 5000 und
mindestens 500 Personen männlichen Geschlechts umfassen sollte. Die
Duma änderte das nur insoweit, daß, wo die Bevölkerungsdichtigkeit im
Durchschnitt 4 Menschen auf die Quadratwerst erreicht, mindestens 3000
Seelen beiderlei Geschlechts zur Wolostbildung notwendig sein sollten. Sie
tat dies, um wirklich leistungsfähige Landgemeinden zu schaffen. Als
Maximalgröße war ein Raum von 800 Quadratkilometern gedacht.
Diese Wolost deckte sich natürlich nicht mit dem eigentlichen Dorfe, sondern
umfaßte zumeist mehrere Dörfer.
Die weiteren Grundzüge der Reform waren sodann: zur Wolost-
gemeinde gehören sämtliche physischen und juristischen Personen, die
innerhalb der Wolostgrenzen unbewegliches Eigentum besitzen. Sie hat
das Steuerrecht über den Jmmobilienbesitz der Gemeindeglieder, inner-
halb der vom „Kreisrat" festgesetzten Grenzen. Die Wolostversammlung
besteht aus 30 bis 60 Wolostdeputierten, je nach der Zahl der Bevölkerung,
sowie aus Vertretern der Kirchen-, Kloster- und der Krons- und
Apanagenländereien. Die Wolostdeputierten werden auf drei Jahre ge-
wählt. Juden haben keinen Zutritt zu den Wahlversammlungen der
Wolost und können nicht zu Wolostdeputierten gewählt werden. Den
Vorsitz in der Wolostversammlung führt der von ihr zu wählende Älteste.
Das Wesentliche dieser Reform war: die bisher einständische Wolost
wird jetzt allständisch; zu ihr gehören alle, die in ihrem Bereiche wohnen.
Das grundsätzliche Neue dieses Schrittes, der die ganze Basis der Lokal-
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
225
Verwaltung umgestaltete, wurde überall auch so empfunden und bewußt
gefordert. Am wichtigsten war dabei die Folge, daß die Gutsbezirke in diese
Gemeinden einbezogen werden sollten und dann als selbständige Bezirke
wegfielen. Die in dieser Maßnahme für den Großgrundbesitz liegende
Gefahr, — die besonders in den Ostseeprovinzen sehr groß gewesen
wäre —, daß der zum Gemeindegenossen gewordene Gutsbesitzer mit
Steuern überlastet würde, ist entsprechend der demokratischen Tendenz der
Dumamehrheit nicht beseitigt worden. Die Duma lehnte sogar das Recht
der Großgrundbesitzer, ipso jure Mitglied der Wolostversammlung zu sein,
ebenso ab, wie eine Maximalgrenze für die Besteuerung einzelner. Beides
hatte die Regierung gewünscht. Aber der demokratisch-bäuerliche Charakter
der Rechten siegte, die sich allein nach den (klein-)bäuerlichen Interessen
und Wünschen richtete. Auch die Frauen sollten aktives und passives
Stimmrecht in der Wolostgemeinde erhalten.
Demokratisch genug wäre diese politische Landgemeinde so geworden
und auch proletarische Elemente hätte sie sich nicht ferngehalten. Aber das
ganze Projekt wurde vom Reichsrat im Mai 1914 abgelehnt. Der grund-
besitzende Adel, der 1911 auf dem Kongreß des vereinigten Adels den
Kampf gegen das Dumaprojekt aufgenommen hatte, war wieder einfluß-
reich genug geworden, um diese große Reform zu Fall zu bringen, und die
Regierung wieder zu reaktionär geworden, als daß sie etwas dafür getan
hätte: sie gab stillschweigend das ganze Projekt preis. Damit war eine ge-
waltige Arbeit nutzlos vertan, weder das Interesse der Staatsverwaltung
wie der Selbstverwaltung war an der untersten Stelle gewahrt.
Etwas besser war das Schicksal der Reform des lokalen Gerichts.
Mit der ständischen Absonderung der Bauern, die rechtlich durch die Ukase
vom 25. Dezember 1904 und 18. Oktober 1906 beseitigt war, fiel die
mit dem Rechtsstaat nicht verträgliche wildwachsene Rechtssprechung der
Bauerngemeinde auch weg. Was war an deren Stelle zu setzen? Das
versuchte man mit dem lange und lebhaft umstrittenen Gesetz über das
lokale Gericht. Wie große Kreise diese Reform berührte, geht daraus
hervor, daß nicht weniger als 9622 Wolostversammluugen und -Gerichte
in Frage kamen. In die Kommission kam dieses Gesetz über die Reform
des lokalen Gerichts im Dezember 1907, vor das Plenum im März 1909.
Es ist aber erst im Februar 1912 im Reichsrat beraten worden, als sich
im Dezember 1911 sämtliche bäuerlichen Dumaabgeordneten zum
Hoetzsch, Rußland. 15
226
VI. Kapitel.
Ministerpräsidenten, zum Minister des Innern (Makarow) und zum
Reichsratspräsidenten (Akimow) begeben hatten, um gegen diese unge-
heuerliche Verschleppung zu protestieren und um Erledigung der höchst
dringlichen Reform zu bitten. Erst im Mai 1912 brachte man nach langen
Kämpfen das größte und tiefgreifendste Gesetz unter Dach, das die dritte
Duma — denn bei der Agrarreform handelte es sich für sie im wesentlichen
nur um Ausführungsbestimmungen — ihrem Volke gebracht hat, das
Gesetz vom 26. Juni 1912 über das lokale Gericht.
Seine Grundlinien sind diese. Die richterlichen Funktionen der
Landhauptleute wurden beseitigt und damit die unglückselige Vermischung
von Justiz und Verwaltung an dieser Stelle. Dafür kehrte man zu den ge-
wählten Friedensrichtern des Jahres 1864 zurück. Diese Richter werden
auf drei Jahre von den Semstwos gewählt. • Ein bescheidener Vermögens-
zensus und ein Bildungszensus sind Bedingungen der Wählbarkeit; bei
juristischer Hochschulbildung ist der Besitzzensus auf die Hälfte reduziert,
während bei einer vorhergehenden dreimonatlichen Gerichtspraxis jeder
Besitzzensus wegfällt. Damit wird das Amt den Juristen gesichert und
das bedenkliche Prinzip der Richierwahl einigermaßen korrigiert. Die
Friedensrichter erhalten Gehalt (2800 Rubel) vom Staat, Wohnungs-
und Kanzleizuschüsse von den Semstwos. Ihre Wirksamkeit wird durch
die Verkleinerung der bisherigen Friedensrichterbezirke gegen früher er-
heblich intensiviert: die neuen sollen höchstens drei Wolosts oder (Kosaken-)
Stanizen umfassen, die Sachen in einer Wolost möglichst in ihr ent-
schieden werden, wozu die Richter periodisch die Gerichtsbezirke zu bereisen
und wechselnde Gerichtstage zu halten haben. Die Kompetenz der Friedens-
richter betrifft Sachen bis zum Streitwert von 1000 Rubeln. Der Zu-
sammenhang mit der allgemeinen Gerichtsorganisation, der bisher emp-
findlich fehlte, wird jetzt dadurch hergestellt, daß der Präsident des Friedens-
richterplenums, das nach wie vor als Appellationsinstanz waltet, von der
Regierung ernannt wird. Kassationsinstanz ist der Senat.
Darunter aber behielt das Land — das setzte der Reichsrat durch —
sein Wolostgericht; der Gedanke, die ständischen Gemeindegerichte, die, mit
der Befreiung 1861 eingeführt, die niedere Zivil- und Strafgerichtsbarkeit
über die Bauern ausübten, ganz zu beseitigen und auch durch das Friedens-
gericht zu ersetzen, wurde doch wieder aufgegeben. Indes wurde das Wolost-
gericht wenigstens beschränkt und reformiert und außerdem einer be-
Verfassung, Verwaltung und Gericht.
227
sonderen neuen Appellationsinstanz, einem Oberdorfgericht, unterstellt.
Dieses tritt unter dem Vorsitz des örtlichen Friedensrichters und der Vor-
sitzenden der Wolostgerichte seines Gebietes der Reihenfolge nach zusammen.
Auf diese Weise wurde die Verbindung zwischen der Dorfgerichtsbarkeit und
der der Friedensrichter hergestellt: die Bauerngerichte sind unter ununter-
brochene Kontrolle der Friedensrichter gestellt. Die Kompetenz der Wolost-
gerichte ist in Zivilsachen beschränkt worden; uneingeschränkt sind ihr nur
alle Prozeßsachen wegen Anteillandes und alle Erbschaftssachen in bezug
auf Land geblieben, alle übrigen Zivilklagen kommen nur bis zur Höchst-
summe von 100 Rubel vor sie. Die Kriminalkompetenz der Wolost-
gerichte ist dagegen erweitert; sie können Geldstrafen bis zu 300 Rubel
und Arrest bis zu drei Monaten verhängen.
In der Sprachenfrage hatte die Duma einige Zugeständnisse an den
Gebrauch der lokalen Sprachen gemacht, diese wurden aber vom Reichsrat
wieder beseitigt. Das Gesetz enthält fast keine den national gemischten
Charakter der Bevölkerung berücksichtigende Bestimmung.
Es wurde zunächst nur in 10 Gouvernements Südrußlands
eingeführt, aus Mangel an GeldZ und geeigneten Beamten, und ist dort
vom 14. Januar 1914 in Kraft. Tiefere Wirkungen konnte es noch
nicht haben. Zwar ist dadurch die feste Rechtsbasis für ein neues Ge-
richtswesen an der untersten und beinahe wichtigsten Stelle geschaffen, im
ganzen aber war der nach der Befreiung der Bauern notwendige zweite
Schritt ihrer rechtlichen Gleichstellung mit der anderen Bevölkerung noch
nicht getan. Als die Duma 1916, mitten im Kriege, die Arbeit dafür
wieder aufnahm, stellte der Berichterstatter fest, daß die reformatorische
Kraft Stolypins zu früh erlahmt sei und daß das Chaos im bäuerlichen
Verwaltungs- und Rechtsleben geblieben sei.
Auch sonst ist in Verwaltung und Justiz organisatorisch Neues nicht
geschehen. Die allgemeinen Angriffe der Duma gegen die Handhabung der
Justiz oder die Debatten über Korruption in der Verwaltung, die Aus-
nahmezustände, die sich an die neuen Gesetze nicht kehrende Haltung vieler
Gouverneure u. dgl. haben einen realen Erfolg nur insofern gehabt, als
st Die sofortige Ausführung des ganzen Plans hätte jährlich 30 Mill.
Rubel erfordert. — 970 Friedensrichter und 120 Präsidenten des Friedensrichter-
plena waren zunächst zu ernennen.
15*.
228 VI. Kapitel.
die öffentliche Erörterung in der Duma an sich ein Mittel der Kontrolle
und dadurch einer langsamen Reform ist. Reformerisch vorgegangen ist
dagegen die Regierung durch das außerordentliche Mittel der Senatoren-
revision, indem die Senatoren Garin nach Moskau, Graf Pahlen nach
Turkestan und Neidhardt nach Warschau mit außerordentlichen Vollmachten
zur Revision der dortigen Verwaltung entsandt wurden. Diese an sich
sehr heilsame Maßnahme ist nicht überall zum vollen Erfolg gediehen,
weil sich die von der Revision bloßgestellten hohen Beamten durch ihre
Beziehungen häufig doch zu halten vermochten.
VII. Kapitel.
Die ständische Gliederung, die Selbstverwaltung und
die gesellschaftlichen Kräfte.
Die ständische Gliederung unter dem Absolutismus war die bekannte:
Adel, Bürger und Bauer. Die Organisation der Bauern im Mir ist
besprochen worden, ebenso die Veränderungen in ihm seit der Revolution.
Die Organisation des Bürgertums unterschied seit Katharina II.: 1. die
erblichen Ehrenbürger, 2. die Kaufleute erster und zweiter Gilde, 3. die
Handwerker in ihren Zünften (Zechy), 4. die Kleinbürger. Diese Unter-
scheidung war schon vor der Revolution rechtlich ohne Bedeutung, da die
Handels- und Gewerbeordnung von 1863 den Betrieb von Handwerk
und Gewerbe von der Zugehörigkeit zu einem Stande entband und nur die
Lösung eines Gewerbescheins verlangte. Die Unterschiede dieser 4 Klassen
sind daher nur noch sozialer Natur.
Die erblichen Ehrenbürger verkörpern das Patriziat, die Kaufleute
erster Gilde den Großhandel und das Großgewerbe und die Kaufleute
zweiter Gilde Kleinhandel und Kleingewerbe. Die Kleinbürger umfassen
alle die, die nicht zu einer der anderen Klassen gehören. Die Einteilung
ist ein Werk des Absolutismus gewesen und war künstlich. Ihre Vor-
bilder entnahm sie dem deutschen Städtewesen, was in den Namen „Gilde"
und „Zech" (= dem deutschen Zeche oder Zunft) noch nachklingt. Sie
hat deshalb auch im Volke nicht Wurzel geschlagen, in dem der alte ge-
nossenschaftliche Geist in eigenen Formen weiter wirkt.
Was der Mir für die bäuerliche Bevölkerung war, das war und ist
das Artjel für die städtische Bevölkerung: eine demokratische Lohn-Erwerbs-
Genossenschaft, die, ursprünglich von in die Stadt gezogenen Kleinbauern
gebildet, für Handwerk, Industrie, Handel, persönliche Dienste, sogar für
das Bankwesen von Bedeutung ist. Wandernde Mauerer und ähnliche Ge-
230
VII. Kapitel.
Werbe schließen sich in Artjels zusammen, Droschkenkutscher, Kellner,
Schneider, Schuhmacher, Packträger — um nur die wichtigsten Berufe
zu nennen —, sind in den Städten in Artjels vereinigt. Diese aus dem
Volke selbst erwachsene demokratische Genossenschaftssorm ist sogar stark
genug, um als eigene Unternehmung aufzutreten, wie das besonders die von
Kellnerartjels geleiteten großen Restaurants und Hotels zeigen. Die
Regierung hat, wie sie die besondere nationale Form des Handwerks, das
Hauswerk (Kustar), nicht entsprechend benutzt hat, auch an diese Organi-
sationsansätze, die ihr entgegenkamen, nicht angeknüpft.
Der Adel hat vom Staate eine Organisation erhalten, die Katha-
rina II. im Jahre 1785 geschaffen hat. Die erblichen Edelleute, die diesen
Charakter dadurch nachweisen, daß sie in die örtliche Matrikel (rodoslow-
naja Kniga) eingetragen sind, bilden eine Korporation im Kreis und darüber
im Gouvernement, an deren Spitze die Kreis- und Gouvernements-
marschälle stehen. Materiell hat sie nicht mehr viel zu bedeuten. Ihr
wesentlichstes Recht unter dem Absolutismus, an den Kaiser direkt, ohne
Vermittlung des Ministers des Innern, Immediateingaben richten zu
können, hat seit der Gewährung des Petitionsrechts im Jahre 1905 keinen
Wert mehr. Die Hauptaufgabe der Adelsversammlungen im Kreise und im
Gouvernement ist nur noch die Wahl ihrer eigenen Beamten, da die Wahl
in zahlreiche andere Verwaltungsstellen, die früher durch die Adels-
organisationen erfolgte, seit den Reformen Alexanders II. durch andere
Körperschaften vollzogen wird. Es existieren noch besondere Adels-
korporationskassen, eine Besteuerung durch freiwillige Beiträge, auch adlige
Vormundschaftsbehörden — aber alles das hat heute keine erhebliche Be-
deutung mehr. Überhaupt hat die vom Absolutismus geschaffene ständische
Gliederung heute, seit der Einführung der Semstwos, der Abschaffung
der Kopfsteuer und der Prügelstrafe, der Auflösung des Mir usw., über-
haupt der Umwandlung des absoluten Staates mit seiner starren stän-
dischen Gliederung in modernere Formen keinen inneren Sinn. Den Ab-
schluß hat der Ukas vom 18. Oktober 1906 gebracht, für die Bauern im
besonderen und für die Untertanen im allgemeinen mit seinem § 1,
der „allen russischen Untertanen, unabhängig von ihrer Herkunft, mit
Ausnahme der Fremdstämmigen, in bezug auf den Staatsdienst gleiche
Rechte wie den Personen adligen Standers gewährt, mit Beseitigung
aller besonderen Vorrechte für einige Ämter aus der Standesabstammung".
Die ständische Gliederung, die Selbstverwaltung u. die gesellschaftl. Kräfte. 231
Neben dieser ständischen Gliederung und zum Teil direkt mit ihr
verbunden steht die Selbstverwaltung. Die der Bauern ist geschildert
worden. Als die Revolution ausbrach, war sie so, daß sie alle Mißbräuche,
zu denen die Selbstverwaltung fuhren kann, aufs gründlichste entwickelt
hatte, ihre guten Seiten aber nicht kannte. In den Versuchen, sie zu
reformieren, wünschte die Regierung möglichst staatliche Organe, einen
staatlichen Gemeindeältesten, wie sie eine Stufe höher den staatlichen
Kreischef anstrebte. Umgekehrt legte die Duma den Nachdruck auf die
Selbstverwaltung: wie sie an der Kreisstelle Kreisadelsmarschall und
Kreischef mit vorwiegendem Einfluß des ersteren kombinieren wollte, so
wollte sie an der Lokalstelle, in der Landgemeinde eine einfache Wieder-
holung des Semstwogedankens. Man behauptete, daß der Kreis für die Be-
dürfnisse der Selbstverwaltung zu groß sei, und verlangte daher für das
bestehende Gebäude der Kreis- und Gouvernementssemstwos noch die uniere
Etage — eine Wolostlandschaft. Das Scheitern dieser Pläne, die mit
denen auf Schaffung einer Landgemeinde verbunden waren, ist schon
in Kapitel VI dargestellt.
Für die Städte hatte bereits der Absolutismus eine weitgehende
Selbstverwaltung in den Städteordnungen von 1775, 1870 und 1892
gewährt. Danach existiert kein eigentlicher Bürgerbegriff, sondern
nur eine steuerzahlende Einwohnerschaft, die ihre Geschicke selbst leiten
soll; es wird nicht definiert, wer Einwohner ist, sondern lediglich be-
stimmt, wer das Recht hat, an'den Wahlen zur Stadtverwaltung teil-
zunehmen. Dieses Wahlrecht ist an einen Zensus gebunden, für den der
Immobiliarbesitz oder die Handels- und Gewerbesteuer maßgebend sind.
Damit ist die Intelligenz vom Einfluß auf die Stadtverwaltung aus-
geschlossen, während jeder Hausbesitzer wahlberechtigt ist. Auf Grund
dieses Wahlrechts werden Stadtverordnete gewählt. Die Verwaltung der
Stadt wird von dem Stadthaupt (gorodskaja Golowa) und dem Stadtamt
(gorodskaja Uprawa) wahrgenommen. Das Stadthaupt ist zugleich
Bürgermeister und Stadtverordnetenvorsteher, wird mit seinen Gehilfen
und Stadträten gewählt, vom Gouverneur oder Minister bestätigt, in den
Residenzen vom Kaiser ernannt. (Für Petersburg gilt eine besondere
Ordnung der Stadtverwaltung).
Die Aufsicht über die städtische Verwaltung führt der Gouverneur,
dem alle Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung mitzuteilen und
232
VII. Kapitel.
zur Bestätigung zu unterbreiten sind. Er bedient sich dabei einer Gou-
vernementsbehörde „für ländliche und städtische Angelegenheiten", in der
ein Vertreter der Stadt sitzt. In den Städten, für die es einen staatlichen
Stadthauptmann gibt, übt dieser einen noch weitergehenden Einfluß aus.
Diese Stadtverwaltung ist im Prinzip selbständig und lediglich unter
die 'Gesetze und die Aufsicht der kontrollierenden Staatsorgane gestellt;
sonst ist sie grundsätzlich in der Leitung ihrer Geschicke ganz frei, namentlich
auch in der Gestaltung ihrer Finanzen. Andererseits aber führt die
Polizei ihre Beschlüsse, weil das Stadtamt nicht Inhaber einer Obrigkeit
ist, aus, und sie geht dabei nach ihrer Auffassung der Gesetze und nach den
Vorschriften ihrer Vorgesetzten vor. So ist das Problem, eine wirkliche
Stadtselbstverwaltung als organisches Glied im Staate zu schaffen, nicht
gelöst worden.
Diese eigenartige Gestaltung der städtischen Rechtsverhältnisse hat
daher, wie in den bäuerlichen Verhältnissen, zu allen Ausartungen der
Selbstverwaltung ohne ihre guten Folgen geführt, die Stadtverwaltung
in Rußland ist Wohl der am schlechtesten entwickelte Zweig der Verwaltung
geblieben. Das liegt nur zum Teil am überwuchern egoistischer Interessen
oder an der Korruption. Ihr ganzes Organisationsprinzip vielmehr läßt
eine kommunale Selbsttätigkeit und Verantwortung nicht aufkommen.
Das Wahlrecht sorgt dafür, daß weitblickende Elemente nicht herein-
kommenZ, die staatliche Aussicht und Ausführung der städtischen Beschlüsse
beschränkt sich auf die Kontrolle und verzichtet, obwohl die Städteordnung
dazu das Recht gibt, im allgemeinen auf eigene Anregung. So ist es
einer Stadtverwaltung durchaus leicht und möglich, die städtischen
Finanzen miserabel zu verwalten, über deren Lage daher die Klagen all-
gemein und berechtigt sind.
Freilich kommt hier besonders die geringe Reife des Kapitalismus:
im Lande erschwerend hinzu; es ist noch längst kein Land der Städte und.
der Stadtwirtschaft. Ganz Rußland — einschließlich Polens — hat 1117
Städte mit einer Bevölkerung von mehr als 10 000 Seelen. Davon haben
922 ein Budget unter 100 000 Rubel, ein Budget über 200 000 Rubel
nur 110. Auf die beiden Hauptstädte zusammen fallen davon allein 64
t) In Petersburg haben 23 000 Personen das Wahlrecht für die Stadt-
vertretung (für die Duma 73 000).
Die ständische Gliederung, die Selbstverwaltung u. die gescllschaftl. Kräfte. 233
Millionen, während die — nach Abzug der polnischen Städte — ver-
bleibenden 824 nur 116 Millionen Rubel im ganzen haben. 2 bis 10
Millionen haben nur 7 Städte, 1 bis 2 Millionen 12 und bis 1
Million Rubel 25 Städte. Das Gesamtbudget aller russischen Städte be-
trug 1914: 292 Millionen Rubel. Entsprechend gering ist der Kredit
der Städte entwickelt: Petersburg hat 93,4, Moskau 90, Warschau 40,7
Millionen Rubel Schulden; Städte wie Kiew, Odessa, Tiflis bewegen sich
zwischen 2 und 3 Millionen Rubel Schulden. Dabei haben die Städte,
wie auf dem Lande die Semstwos, dem Staate Aufgaben abnehmen
müssen wie Straßen-, Schul-, Krankenhausbauten u. dgl., und manche
Städte haben darin auch Bedeutendes geleistet, vor allem Moskau. Aber
daneben sind zahlreiche Beispiele einer sträflichen Vernachlässigung vor-
handen, das schlagendste Wohl, daß die Stadtverwaltung von Petersburg
es nicht fertig gebracht hat, seitdem die Cholera dort wieder — seit 1908
— aufgetreten ist, diese zu beseitigen und eine Kanalisation zu schaffen.
Neben der städtischen steht die landschaftliche Selbstverwaltung, das
Semstwo.
Die Bauernbefreiung machte für bestimmte Verwaltungsausgaben,
die die Staatsverwaltung nicht übernehmen konnte, neue Organe not-
wendig. Der Umkreis der Aufgaben, für deren Erfüllung am 1. Januar
1864 diese Semstwos in 34 Gouvernements^) eingeführt wurden, zeigt
am besten, wozu sie dienen sollten. Ihnen wurde zugewiesen die Sorge
für Wegebau, Armenpflege, Gesundheitspflege, Schulwesen, öffentliche
Wohlfahrtspflege, Volksverpflegung, Jahrmärkte und Ausstellungen,
Wahl und Unterhalt der Friedensrichter, Einrichmng und Unterhalt von
Häfen, Unterhalt der sogenannten Bauernbehörden, Errichtung und Er-
haltung eines Teils der Gefängnisse, Leistungen für Zivilverwoltung,
Polizei und Militär, Teilnahme an der Führung der Geschworenenlisten,
Verteilung der Steuern. Das war ein so großer Kreis von Ausgaben, daß
von der materiellen Verwaltung für die Staatsbehörden nicht viel übrig
blieb. Freilich wurde diese ganze Summe von Aufgaben in zwei Teile
zerlegt, in obligatorische, wie die Sorge für Wegebau, Einquartierung, die
Friedensrichter, die Bauernbehörden, die Gefängnisse und die Leistungen
fl 22 großrussische, 3 kleinrussische, 4 neurussische und 6 östliche, also nicht
alle 47 Gouvernements Kernrußlands.
234
VII. Kapitel.
für Verwaltung und Polizei; alles andere, also so wichtige Gebiete wie die
Armen- und Krankenpflege und das Schulwesen, galten nur als fakultativ.
Für diese Zwecke wurde eine große Organisation aufgebaut. Jeder
Kreis erhielt eine Landschaft und ein Landschaftsamt (Uprawa). Die Land-
schaft, die etwa dem preußischen Kreistag entspricht, wird aus dem Kreise
gewählt, von drei Wählerkurien: Gutsbesitzer, Städter und Wolostälteste
plus Älteste der Dorfgemeinden. Für jede Kurie ist eine Anzahl von
Deputierten zu wählen, die für jeden Kreis und jede Kurie gesetzlich fest-
gesetzt ist. Die Zahlen der Vertreter der einzelnen Kurien sind dabei sowohl
innerhalb des Kreises als innerhalb der Gouvernements durchaus ver-
schieden; nur darf die Zahl einer Gruppe die der beiden anderen zusammen
nicht übersteigen. Im ganzen betrug aber die Zahl der bäuerlichen Ab-
geordneten damals fast die Hälfte (48%) der Gesamtzahl aller Kreis-
semstwomitglieder.
Das Wahlrecht für die Kreissemstwoabgeordneten ist recht kompliziert.
Für die Grundbesitzer gilt der Zensus für das Wahlrecht in der Adels-
organisation, ebenso gilt für die Städter ein Vermögenszensus. Für die
Bauern ist indirekte Wahl vorgeschrieben, indem die Wolostversammlung
Wahlmänner wählt und diese erst die Delegierten. Die Ähnlichkeit mit
dem Dumawahlverfahren liegt auf der Hand; das Semstwowahlrechi
hat auch für dieses als Vorbild gedient.
Der Vorsitz im Kreissemstwo liegt heute in der Hand des Kreis-
adelsmarschalls; die Kreis-Uprawa hat einen Präsidenten und mehrere
Beisitzer.
Entsprechend der Organisation des Adels steht über den Kreis-
semstwos das Gouverne.mentssemstwo. Dieses wird aus Delegierteu
zusammengesetzt, zwischen 50 und 100, die ohne Rücksicht auf die Zu-
gehörigkeit zu einem bestimmten Stande von den Kreissemstwos gewählt
werden. Das Präsidium führt der Gouvernementsadelsmarschall, neben
dem die Gouvernements-Uprawa steht.
Beide Versammlungen, die Semstwos der Kreise, wie die der Gou-
vernements, treten jährlich einmal zusammen, das Kreissemstwo spätestens
im Oktober auf 10 Tage, das Gouvernementssemstwo im Dezember
auf 20 Tage.
Die Maßnahme wurde zunächst nur in den 34 Gouvernements ein-
geführt, die besonders für die Bauernbefreiung in Frage kamen. Keine
Die ständische Gliederung, die Selbstverwaltung u. die gesellschaftl. Kräfte. 235
derartige Landschaftsorganisation erhielten Finnland, die Ostseeprovinzen,
das Zartum Polen und die 9 Westgouvernements. Ferner blieb aus-
geschlossen das Gebiet der Donschen, wie überhaupt aller Kosaken, die
eine andere Organisation haben, und die Gouvernements Archangelsk,
Astrachan und Orenburg, in denen entweder die Kräfte für eine Selbst-
verwaltung fehlten oder die zu starke nationale Mischung der Bevölkerung
die Einführung widerriet. Nicht in die Sentstwoorganisation fielen in
Inner-Rußland sodann die Städte Petersburg, Moskau und Odessa, deren
Stadtverordnetenversammlungen einem Semstwo gleichstehen. Alle
anderen Städte sind in diese Organisation einbezogen.
Der Gedanke bei der Schaffung dieser Organe war, eine wirkliche
Selbstverwaltung zu begründen. Aber die Stellung der Semstwos war
von Anfang an unklar. Es fehlte an einer klaren Abgrenzung der Arbeits-
gebiete zwischen Kreis- und Gouvernementssemstwo. Ferner zeigt die Auf-
zählung der Aufgaben, wie stark die Tätigkeit der Semstwos in die der
Staatsverwaltung überfließt und umgekehrt. Der Kreis der Kompetenzen
war weiter als irgendwo sonst für Selbstverwaltungsorgane, aber er war
vielfach derselbe wie der der Regierungsbehörden. Das mußte zu Reibungen
zwischen Staats- und Selbstverwaltung führen, wobei letztere von vorn-
herein die schwächere war. Wenn sich aber die Staatsverwaltung über
den Begriff, den sie mit dem Worte Semstwo Verbitiden wollte, klar war,
so geschah das erst recht in einem der Selbstverwaltung ungünstigen
Sinne. Der staatlichen Bureaukratie war die Idee einer Selbstverwaltung
fremd, ja widerwärtig. Sie sah in den Semstwos nicht Staatsorgane,
denen der Staat Aufgaben im Sinne einer Dezentralisation der Ver-
waltung und der Heranziehung des Volkes zur Mitarbeit daran delegierte,
also im Rahmen des Verwaltungsrechts sich koordinierte Organe, sondern
lediglich „obschtschestwennhjw) Wlasti", Organe der Gesellschaft, einer
staatlichen Organisation der Gesellschaft, die deren Wünsche an die Staats-
verwaltung zu bringen hätte, gegebenenfalls auch, soweit es der Staats-
verwaltung nicht unbequem war, zu Leistungen für den Staat und seine
Aufgaben heranzuziehen war, aber keinesfalls der Staatsverwaltung und
ihren Trägern gleichgeordnet sein sollte. Mit dieser Auffassung wurde
9 Heißt wörtlich „gesellschaftlich" und gibt erst im weiteren den Begriff
„kommunal" wieder.
VII. Kapitel.
den Semstwos jede Exekutivgewalt, überhaupt jede obrigkeitliche Gewalt
bestritten, obwohl sie rm Gesetz von 1864 ein Verordnungs-, Besteuerungs-
und Anleiherecht und das Petitionsrecht erhalten hatten, mit ihr konnten
die Semstwos nicht die richtige Stelle im Staatsorganismus erhalten
und eine gesunde Selbstverwaltung nicht entstehen.
Und diese Ausfassung wurde, in dem neuen Semstwostatut von
1890 festgelegt, das eine grundsätzliche Zurückdrängung der Selbstver-
waltung brachte. Dieses Gesetz beschränktes die Zahl der Abgeordneten
und garantierte durch eine andere Verteilung der Delegierten der drei
Kurien fast durchgängig dem Adel die absolute Mehrheit; der Anteil der
bäuerlichen Abgeordneten sank auf unter ein Drittel der Gesamtzahl.
Außerdem sind seitdem sämtliche Kreisadelsmarschälle von selbst stimm-
berechtigte Mitglieder des Gouvernementssemstwos, was fast ein Viertel
aller gewählten Abgeordneten ausmacht. Ferner wurde die Vertretung
nach Ständen noch schärfer durchgeführt. Die Kandidaten der Bauern
werden direkt von den Wolostversammlungen gewählt, je einer auf jede
Wolost; aus den Gewählten bestimmt dann der Gouverneur so viele zu
Abgeordneten, als der Bauernkurie Abgeordnete zugewiesen sind. Das
Wahlrecht wurde nur an den unbeweglichen Besitz geknüpft, wodurch
die Vertretung von Handel und Industrie an sich in den Semstwos
unmöglich ist; sie ist nur dadurch einigermaßen gewährleistet, daß die
Stadthäupter der Kreisstädte ipso jure Mitglieder des Kreissemstwos
sind. Dagegen wurde der Landzensus herabgesetzt. Die Prüfung der
Wahlen wurde den Semstwos entzogen und den beim Gouvernement
neu begründeten „Behörden für die Bauernangelegenheiten" übertragen.
Mit dieser Verschlechterung der Selbstverwaltung verband sich eine
Erweiterung der staatlichen Aufsicht. Immer weiter wurde der Kreis
der Angelegenheiten gezogen, die der Aufsicht und Bestätigung des Gou-
verneurs unterstellt sind. Der Gouverneur hat die Wahlen der Semstwo-
beamten zu bestätigen, eröffnet und schließt das Gouvernementssemstwo,
er kann Revisionen vornehmen, Beschlüsse beanstanden usw.
Diese mißtrauisch einengende Bevormundung und Fesselung der
Semstwos wurde auch später fortgesetzt, obwohl das Gesetz von 1890
0 Die Organisation blieb im übrigen wie bisher, so daß das oben Gesagte
auch für die Gegenwart gilt.
Die ständische Gliederung, die Selbstverwaltung m. die gesellschaftl. Kräfte. 237
selbst ihre Tätigkeit als „in vielem der Bevölkerung nützlich" anerkannt
hatte. 1900 wurde ihr Besteuerungsrecht eingeschränkt; ihr Budget durfte
seitdem jährlich nicht um mehr als 3% steigen. Und die Beziehungen
zwischen Regierung und Selbstverwaltung wurden im allgemeinen so
aufgefaßt, daß die letztere völlig unter der Kontrolle der ersteren zu
stehen habe.
Die Organisation des ganzen Landschaftsbaues nach oben wurde nicht
abgeschlossen, obwohl die Krönung des Werkes durch ein Reichssemstwo
im Gange der Reformen Alexanders II. hätte liegen müssen. Dagegen
wurde trotz jener allgemeinen Anschauung und Abneigung gegen das
Semstwo ein Zusammenarbeiten von Staat und Gesellschaft in den
sogenannten gemischten Behörden namentlich bei den Gouvernements
hergestellt. Das sind z. B. die Behörden für die Durchführung der Wehr-
pflicht, für die ländlichen und städtischen Angelegenheiten, für Gefängnis-
wesen, für die Getränkesteuerangelegenheiten, die Führung der Ge-
schworenenlisten, Schulangelegenheiten usw. Sie sind aus Staats- und
Selbstverwaltungsbeamten zusammengesetzt. Die Leitung dieser gemischten
Behörden ist an der Gouvernementsstelle rein staatlich, indem der Gouver-
neur den Vorsitz führt. Dagegen führt den Vorsitz an der Kreisstelle der
Kreisadelsmarschall, dessen Stellung dadurch noch einflußreicher wird. Er
ist so Vorsitzender der Kreisadelsorganisation, des Kreissemstwos und der
gemischten Behörden — das sind schon sehr zahlreiche Funktionen des
preußischen Landrats.
Die Semstwos sind trotz der Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen
haben, dem Staate sehr nützlich geworden. Die Vorwürfe mögen be-
rechtigt sein, daß, weil der Staat die Selbstverwaltung niemals ernsthaft
anerkannt hat, die Gesellschaft geneigt war, die Leistungen der Semstwos
sehr zu überschätzen, sowie daß sie zum Teil in den Dienst der Adcls-
und Großgrundbesitzinteressen gestellt worden sind. Auch ist die Finanz-
wirlschaft vieler Semstivos keineswegs mustergültig und die Verschuldung
bei vielen außerordentlich hoch. Und das sogen, „dritte Element", die
zahlreichen Angestellten der Semstwos, — das erste Element ist der Adel,
das zweite der Bauernstand — sind oft bereitwillige Träger der Vor-
bereitung der Revolution gewesen. Aber was Rußland an politischen
Köpfen außerhalb der Staatsverivalllmg hatte, ist aus der Schule der
Semstwos hervorgegangen. Und was auf den großen Gebieten vor allem
238
VII. Kapitel.
der Armen-, Kranken- und Wohlfahrtspflege überhaupt geleistet worden
ist, ist wesentlich von den Semstwos geleistet worden. Die Leistungen
der Semstwos gerade in den Jahren der Hungersnöte seit 1891, die auf-
opfernde Hingabe vieler Semstwobeamten, Semstwoärzte usw., ebenso
wie die Sorge für die Hebung der Volksbildung im allgemeinen und den
Hausfleiß im besonderen, für Volksbibliotheken, Kustarausstellungen,
Museen usw., stehen in der Geschichte Rußlands fest.
Im Jahre 1912 betrugen die Budgets der 34 Gouvernements- und
359 Kreissemstwos 220 Millionen Rubel gegen 71 Millionen in 1897,
trotz der schweren Zeiten der Hungersnöte und Revolution. Für das Er-
ziehungswesen wurden 1912 ausgegeben 66 Millionen Rubel, für das
Armenwesen 41» Millionen Rubel, für Straßenbau 19 Millionen. Im
Sanitätswesen (Budget 1912: 57 Millionen Rubel) waren 3500 Ärzte
u. dgl., 2000 Krankenhäuser, 45 Irrenanstalten vorhanden. Für Förde-
rung der landwirtschaftlichen Technik und des Kustar wurden 1912 fast
14 Millionen Rubel ausgegeben. Ferner gab es 1912 in 19 Semstwos
kleine Kreditbanken, die 32 Millionen Ruhe! Depositen und 9 Millionen
Rubel von den Semstwos vorgeschossenes Kapital hatten usw. Das
sind Zahlen, die zwar mit dem Reichsbudget verglichen nicht hoch sind,
aber Aufgaben erfüllen, die sonst nicht erfüllt würden.
Auch die Semstwoeinrichtung sollte in die Reformen der neuesten
Zeit einbezogen werden. Stolypins Programm von 1907 stellte ebenso
wie Kokowzows Erklärung vom 18. Dezember 1912 eine Erweiterung
des Wahlrechts zur Semstwoverwaltung in Aussicht. Diese ist nicht zu-
stande gekommen. Die Duma hatte sich viel mehr mit der unzureichenden
Finanzlage der Selbstverwaltungskörper zu beschäftigen, drängte aber
noch mehr auf ihre Ausdehnung auf weitere Gebiete des Reichs. In
nationalistischer Tendenz geschah dies für die 6 Westgouvernements durch
Notverordnung vom 27. März 1911, um derentwillen Stolypin auch eine
große Regierungskrisis nicht scheute*).
In den Gouvernements ohne Semstwo — dazu gehörten die neun
des sogenannten Westgebiets — wurden nämlich die Vertreter im Reichsrat
nicht, wie in den anderen, von den Semstwos gewählt, sondern von eigens
dazu gebildetem Versammlungen des Großgrundbesitzes. Infolge des
0 S. oben S. 129.
Die ständische Gliederung, die Selbstverwaltung u. die gesellschaftl. Kräfte. 239
nationalen und sozialen Charakters der neun Westgouvernements waren
die dann gewählten Mitglieder sämtlich Polen. Dagegen wurde immer
stärker agitiert, und Stolypin entschloß sich, dem nachgebend, zu dem
Vorschlage, in sechs dieser Gouvernements die russische Semstwoorgani-
sation einzuführen, aber — mit besonderen national getrennten Wahl-
kurien (ähnlich wie sie in einzelnen Gouvernements für die Dumawahlcn
bestehen): einer russischen, einer polnischen, einer gemischten, die so der
russischen Minderheit eine Vertretung garantieren sollten. Da im Nord-
westgebiet (Grodno, Wilna, Kowno) die Präponderanz der Polen auch
dadurch nicht zu brechen war, wurden diese drei Gouvernements von der
Reform ausgeschlossen, die durch Ukas aus Grund des Paragraphen 67
eingeführt wurde. Die Duma hatte dabei übrigens die Notwendigkeit des
Schutzes der russischen Minderheiten auch anerkannt und die Bildung
nationaler Kurien akzeptiert.
Auf ihren Antrag wurden ferner Projekte über die Einführung
der Semstwos in den Gouvernements Astrachan, Orenburg und Stawro-
pol ausgearbeitet, obwohl diese weit entfernten Gouvernements einen sehr
geringen adligen Besitz und überhaupt wenige kulturell höherstehende
Besitzer aufweisen. Der Entwurf ist auch Gesetz geworden (22. Juni 1912).
Dagegen lehnte der Reichsrat die von der Duma gleichfalls beantragte
Einführung in Archangelsk, Sibirien und Transbaikalien, sowie im
Amur- und Küstengebiet ab, weil die örtlichen Verhältnisse dazu nicht
reif erschienen. Für das Gebiet der Donschen Kosaken ist der Versuch im
Reichsrat stecken geblieben. Rußland hat also heute die Semstwoorgani-
sation in 43 Gouvernements.
Die Duma wünschte die Übertragung der Semstwos möglichst bald
aus alle Reichsteile, wo es überhaupt nach den lokalen Verhältnissen
möglich ist, und zwar so demokratisch wie möglich, — daß in der Land-
gemeinde und der Landschaft die Masse den Ausschlag gebe, darüber besteht
in der Dumamehrheit Einigkeit, ebenso darüber, daß diese Organisation
in den Grenzmarken das russische Element sichern und zu Einfluß bringen
muß. Unter diesem Gesichtspunkt wurde besonders die Errichtung von
Semstwos in den Ostseeprovinzen gefordert. Der Reichsrat aber stellte
sich einer Ausdehnung der Semstwos entgegen: ihm liegt nichts an Ver-
tretungen, die von Bauern beherrscht werden, weil der Adel fehlt, und
er meinte, daß die Selbstverwaltung in so ungeheuer großen Gebieten wie
240
VII. Kapitel.
Orenburg oder Archangelsk, mit ihren Riesenentfernungen und ihrer
Wegelosigkeit, sehr problematisch sei.
Das Drängen nach der Ausdehnung dieser Selbstverwaltung kam
aus dem Streben, das, was man in Rußland die „gesellschaftlichen Kräfte"
(obschtschestwennhja Sily) nennt, immer mehr am staatlichen Leben zu be-
teiligen. So entfernt das Land noch vom Geiste eines wahren Sels Govern-
ment ist, so haben sich doch in ihm, gegen die Bureaukratie, gesellschaftliche
Organisationen und Fähigkeiten dazu durchgesetzt, z. T. neuen Datums,
z. T. tief im Volksleben wurzelnd. Freilich ist für alles Haxthausens
Wort noch zutreffend, daß der Russe zwar einen Hang zur Assoziation
besitze, aber nicht zur Korporation. Mir und Artjel sind Formen primi-
tiver Assoziation, die zeigen, daß der Russe geneigt und fähig ist, sich mit
seinesgleichen zu bestimmten Zwecken zu vereinigen. Die Adelsorganisation
und die Städteordnung hatten für andere Schichten vom Staate gewährte
Mittel zu gleicher Betätigung gegeben. Aber zu eigentlicher Organisation ist
man erst in der Gegenwart gekommen. Der Adel hat über ein Jahr-
hundert lang die Möglichkeit dazu besessen, aber sie nicht ausgenutzt. Erst
die Einsicht, daß er rettungslos dem Verfall und der Auslösung entgegen-
gehe, hat ihn in der Gegenwart zu einer wirklichen Organisation ge-
zwungen. Er hat sich in der Revolution Adelskongresse und eine Genossen-
schaft der vereinigten Adelskörperschaften, einen Adelsverband geschaffen,
der unter Führung des Moskauer Adelsmarschalls Samarin (Sohn des
Slawophilen) und des Adelmarschalls von Jekaterinoslaw, Strukow,
einen wachsenden konservativen und reaktionären Einfluß ausgeübt hat.
Die aktiven Kräfte der Semstwos und der Städte haben sich in der
Revolution zu eigenen allrussischen Semstwo- und Städtebünden zusammen-
geschlossen. Diese Bünde bestanden illegal und wurden bei Ausbruch des
Weltkrieges, allerdings ausschließlich zu Zwecken der Krankenpflege,
legalisiert. Sie sind aber, unter Führung des Fürsten Lwow an der
Spitze des Semstwobundes und des Moskauer Stadthauptes Tschelnokow
an der Spitze des Städtebundes, prononziert politische Organisationen.
Für die Bauern schließlich fügte dem Mir und Artjel der Genossen-
schaftsgedanke, der erst seit 1905 lebendig wirksam werden konnte, ein
modernes Organisationsprinzip hinzu. Die Angestellten der Semstwos,
die Semstwo-Ärzte, -Agronomen, -Lehrer waren die treibenden Faktoren,
die, mit Grundkapital von der Bauernagrarbank Genossenschaften
Die ständische Gliederung, die Selbstverwaltung u. die gesellschaftl. Kräfte. 241
gründeten und oft in einem „Volkshaus" (narodni Dom) Zentren gesell-
schaftlichen Lebens schufen. Ein Genossenschaftsgesetz gibt es noch nicht,
Genossenschaftsverbänden stellen sich noch Schwierigkeiten entgegen, doch
sah der zweite allrussische Genossenschaftskongreß in Kiew 1913 schon
1300 Vertreter dieser neuen Idee zusammen und berechnete man in dem-
selben Jahre die Zahl aller Genossenschaften zusammen aus über 30 000.
Allrussisch, d. h. das ganze Reich umfassend — das Wort hat keine
aggressiv-nationale Bedeutung — sind auch zahlreiche andere Verbände
und Kongresse der verschiedensten Berufe, unter denen die Arbeiter-
organisation immer noch am schwächsten ist. Das russische Volk stellt also
keine Masse von nebeneinander liegenden Atomen dar, sondern ist von
zahlreichen alten Assoziationen und neuen Organisationen durchzogen.
Sie haben aber noch nicht ausgereicht, die Hindernisse der dünnen Be-
siedlung und der großen Entfernungen zu überwinden, und noch weniger,
der Bureaukratie Anerkennung und Möglichkeit der Mitarbeit für die
„gesellschaftlichen Kräfte" abzutrotzen, und in ihrer Ablehnung werden
Regierung und Bureaukratie durch die Kirche und namentlich den Adel
unterstützt. Im Polizeistaat, der Rußland trotz Semstwo und Duma
geblieben ist, hat sich bisher weder die Selbstverwaltung noch die freie
Organisation ihren rechten Platz erobern können.
Hoetzsch, Rußland.
16
VIII. Kapitel.
Die geistige Welt
Die maßgebenden Denker und Dichter Rußlands bezeichnen als das
Wesen der „russischen Seele" ihren Zug zur Religion. Aber diese
russische Seele wird von einer Kirche beherrscht, deren Kraft zwar aus-
reichte, die Einheit ihres Volkstums zu erhalten, jedoch nicht, es sittlich
zu erziehen, die, von Haus aus starr und unlebendig, niemals eine Er-
neuerung erfahren hat, wie die Kirchen des Westens. Deshalb vermochte
auch die Bildungsschicht nicht, die ihr seit dem 17. Jahrhundert auf-
gepflanzte europäische Bildung mit der Kirche und dem Christentum,
in denen sie aufgewachsen war, zu verbinden. Sie will daher so un-
kirchlich und atheistisch wie möglich sein, kann aber den Zusammenhang
mit der offiziellen Kirche nicht lösen und will den mit der russischen
Religiösität nicht aufgeben. Weil sich so die kirchlichen Verhältnisse Ruß-
lands dem Reisenden nur schwer erschließen, sieht das Urteil Europas gern
überhaupt von ihr und der Religion ab. Aber sehr zu Unrecht wird dann
bei der russischen Literatur über den rein literarischen Maßstäben der
religiöse Untergrund übersehen, der zu ihr (wie auch zum expansiven Pan-
slawismus) so gehört, wie das Gold zum schwarzen Heiligenbilde der
byzantinisch-orthodoxen Kirchenmalerei. Zum Verstehen der russischen
Geisteswelt führt der Weg nur über Religion und Kirche, so fremdartig
und äußerlich diese dem Westeuropäer auch erscheinen.
I. Die orthodoxe Kirche.
Die Staatskirche — offiziell: die christliche, rechtgläubige, katholische
Kirche orientalischer Konfession — herrscht nicht über alle Untertanen des
Die geistige Welt.
243
Zaren: ihre Gläubigen machten nach der Zählung von 1897*), im ganzen
Reiche nur 69,9% aus, denen 10,8% Mohammedaner, 8,9% römische
Katholiken, 4,85% Protestanten, 4,05% Juden, 0,96% Bekenner anderer
christlicher Kulte und 0,5% solche nichtchristlicher Kulte gegenüberstehen.
Als Staatskirche genießt die orthodoxe Kirche aber eine unbedingte Vor-
zugsstellung. Ihr Recht betrachtete bis 1905 die anderen Kirchen, die
evangelische in den Ostseeprovinzen, die römische in Polen, die unierte in
Polen und im Westgebiet, auch die armenische Kirche im Prinzip nur als
Sekten, nicht anders als die zahlreichen Sekten, die auf ihrem eigenen
Boden entstanden waren. Die darinliegende Herabwürdigung dieser großen
Kirchen wurde um so verletzender empfunden, als die Propaganda der
griechischen Kirche unter ihnen mit allen Mitteln der Überredung und Ge-
walt betrieben wurde. Darunter hatte die Bevölkerung des Zartunis
Polen wenig gelitten, die so geschlossen römisch-katholisch zusammengesetzt
und mit ihrer Geistlichkeit so fest in religiös-nationaler Überzeugung ver-
bunden ist, daß alle Versuche gewaltsamer Propaganda fast erfolglos
blieben. Dagegen hat diese erfolreich unter der lettischen und esthnischen
(evangelischen) Bevölkerung der Ostseeprovinzen und unter der unierten
litauischen, polnischen und kleinrussischen Bevölkerung des Westgebiets ge-
wirkt. Wegen dieses Zusammenhanges gehört die nähere Erörterung in die
Nationalitätenfrage, desgleichen die Judenfrage, in der Staat und Kirche
nur ein zu bekämpfendes „Fremdstämmigenproblem" sehen. Den Islam
aber hatten sie ernstlich nicht gestört. In merkwürdigem Widerspruch, der
aber in sich begründet ist — wo der russische Staat eine Nationalität duldet,
erweist er sich auch ihrer Religion gegenüber als tolerant —, ließ derselbe
Staat, der die römische, evangelische, unierte und armenische Kirche auf
das schwerste bedrückte, den Islam ungestört, soweit, daß bis 1905 seine Be-
kenner und die Buddhisten und Heiden am freiesten von allen fremden
Konfessionen waren* 2).
Unter den 15 selbständigen nichtuniert-orientalischen Kirchen — die
unierten unterstehen dem Papst, die nichtunierten halten das Schisma
zwischen Ost- und Westrom schroff fest — nimmt die russische Staats-
kirche die erste Stelle ein. Sie hat mit den anderen Dogma, Ritus,
0 S. oben S. 17.
2) Über den Islam s. Kap. XI.
16»
244
VIII. Kapitel.
Kirchenrecht (den Nomokanon) und den scharfen Gegensatz zur römischen
Kirche und mit den slawischen Kirchen unter ihnen die kirchenslawische
Liturgiesprache gemein. Überall in den nichtnnierten orientalischen
Kirchen ist auch die äußere Anlage der Kirche mit ihren Kuppeln und ihrer
Zweiteilung des Kirchenschiffs^) dieselbe, wie auch der Gang des Gottes-
dienstes und seine Äußerlichkeiten. Diese Gleichheit legt um die Bekenner
dieser Kirchen ein gemeinsames und festes Band, das der Panslawismus
immer enger zu ziehen bemüht war, so weit die Orthodoxen Slawen sind.
Aber diese Gemeinsamkeit geht, wie für die meisten dieser Kirchen,
so auch für die russische nicht soweit, und für sie, die von den 153 Millionen
Anhängern der orthodoxen Kirchen über 120 Millionen umfaßt, erst
recht nicht, daß sie noch die Suprematie des ökumenischen Patriarchats
in Konstantinopel anerkenne. Erst stand freilich das Haupt der russischen
Kirche, der Metropolit von Kiew, in voller Abhängigkeit von Byzanz.
Auch waren er und die unter ihm stehenden Eparchialbischöfe noch lange
Zeit zumeist Griechen. Als aber der Kicwer Staat zusammen-
gebrochen war, wurde der Sitz dieses Metropoliten erst nach Wladimir
und 1328 nach Moskau verlegt. Damit löste sich die Abhängigkeit vom
Patriarchen, gegen die das eigene nationale Empfinden der Russen schon
reagiert hatte. Es gehörte zum Programm des das alte Rus wieder
einigenden Moskau, einen von Byzanz unabhängigen Metropoliten 51t
erhalten. Der Fall von Konstantinopel* 2) gab den letzten Anstoß dazu,
indem er den Moskauer Staat gewissermaßen zum Schutzherrn der grie-
chischen Kirche machte; seit 1461 gibt es eine autokephale russische Kirche,
von der freilich seit 1458 die Metropolie Kiew getrennt war2). Diese
blieb unter dem Patriarchen und hat damit jahrhundertelang die kulturelle
Verbindung nach Westen viel stärker als die Moskauer Kirche und zugleich
die Einheit des alten (kleinrussischen) Südwest-Rus gegen das neue (groß-
russische) Nordost-Rus erhalten und dargestellt, bis die Angliederung der
Ukraine an Moskau diese tiefgehende Trennung auch kirchenpolitisch über-
wand. Für die Moskauer Kirche war es dann der gegebene Abschluß, daß
ihr Metropolit 1589 (und zwar unter Zustimmung des Patriarchen von
Konstantinopel) selbst zum Patriarchen erhoben wurde; die russische Kirche
0 Durch den dreitürigen Ikonostas.
2) S. dazu oben S. 28.
') Der Sitz dieses Metropoliten war aber nur selten Kiew, öfter Wilna u. a.
Die geistige Welt.
245
war zu einer eigenen orientalischen Weltkirche geworden. Diese hat dann
umgekehrt ihre Ansprüche auf das Patriarchat von Konstantinopel gerichtet.
Denn in den Gedankenkreis des religiösen Panslawismus gehört heute
auch ein slawisches, d. h. ein russisches Patriarchat, das von Konstantinopel
aus den ganzen kirchlichen Orient beherrschen solle.
Bestrebungen, das Schisma durch Wiederherstellung einer Union
zwischen der römischen und der griechischen Kirche rückgängig zu machen,
sind öfter im Gange gewesen. Gelungen ist das nur für die Teile, die
im litauisch-polnischen Staate außerhalb des Moskauer Machtbereiches
blieben. Für sie ist schließlich 1596 die Kirchenunion von Brest zustande
gekommen, eine unierte Kirche, die in Ritus, Gottesdienst und allem
Äußeren der orthodoxen Kirche gleicht, aber das Dogma der römischen
Kirche und den Supremat des Papstes anerkennt* *). Gegen diese Uniaten
richtete sich nach den Teilungen Polens die russische Kirchenpolitik; mit
äußerster Brutalität suchte sie sie in ihren Schoß zurückzuführen^). Daraus
geht schon hervor, daß die Stellung der russischen Kirche zum Vatikan im
Prinzip nur feindlich sein kann. Sie hat die Unionsversuche des Mittel-
alters schroff abgelehnt, und seit Peter der Große den Sieg der weltlichen
Macht im Cäsaropapismus abgeschlossen hat, war der Gegensatz zwischen
diesem Zarentum und dem Vatikan unversöhnbar, zumal die Russifizierung
in Litauen und besonders in Polen die Interessen des Papsttums unmittel-
bar verletzte. 1864 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen Peters-
burg und Rom auch formell abgebrochen. Leo XIII. hat sich um ihre
Wiederaufnahme bemüht, ohne dauernden Erfolg. Im Weltkriege hat es
Rußland dann für richtig befunden, am heiligen Stuhle wieder einen Ver-
treter zu bestellen. Aber trotzdem bleiben der russische Nationalismus, der ja
auch kirchlich-aggressiv ist, und die grundsätzliche Intoleranz der russischen
Staatskirche der römischen Kirche und ihrem Haupte dem Wesen nach feind.
Auch die Errungenschaften der Revolution auf dem Gebiete des Glaubens
haben daran noch nichts geändert.
Die Unabhängigkeit vom Patriarchen hat der russischen Kirche aber
nicht die eigene Unabhängigkeit gebracht. Im System des Cäsaropapis-
mus, das die Annahme des Christentums in seiner griechischen Fassung
*) Im ganzen zählt man heute nur 7 Millionen linierter gegen 153 Millionen
Orthodoxe.
*) S. Kap. XI.
246
VIII. Kapitel.
nach Rus übertrug, war die Kirche nicht stark genug, ihre Selbständigkeit
zu behaupten. Noch im 16. und 17. Jahrhundert hielten sich Zar und
Patriarch noch gelegentlich die Wage, wenn auch die wurzelhafte Gewalt
des ersteren der fremden, jedes anderen Rückhalts entbehrenden des zweiten
von vornherein überlegen war. Peter der Große hat das Patriarchat be-
seitigt und 1721 den „Allerheiligsten dirigierenden Synod" als oberste
Kirchenbehörde geschaffen, Katharina II. 1764 die Kirchengüter — be-
zeichnenderweise ohne wesentlichen Widerstand der Kirche — säkularisiert
und die Geistlichen völlig zu Staatsdienern gemacht. Im Synod, der aus
den drei Metropoliten und sieben Bischöfen besteht und in dem der
Oberprokuror, ein Laie, den Staat vertritt, haben geistliche und weltliche
Gewalt auch noch mit einander gerungen. Unter Alexander I. neigt sich
der Sieg schon auf die Seite des Staates, unter Pobjedonoszew ist er
entschieden*). Die Kirche ist, was schon Peters ausgesprochene Tendenz
war, zum Werkzeug der Politik geworden, staatliche und kirchliche Autorität
sind eins und stützen sich gegenseitig, aber die des Staates ist die größere
und mächtigere. Wie auf sozialem Gebiet der Adel, so ist auf religiösem
die kirchliche Organisation fast ganz im Staate aufgegangen, jedenfalls
völlig in seinen Dienst gezwungen worden.
Die Kirche wird vom Synod regiert, der nominell vom Petersburger
Metropoliten, tatsächlich vom Oberprokuror geleitet wird. Die Einheit der
kirchlichen Verwaltung darunter ist die Eparchie, deren es heute 66 gibt,
unter einem Erzbischof oder Bischof mit seinem Konsistorium; die Eparchen
von Petersburg, Moskau und Kiew heißen Metropoliten Die kleinste
Verwaltungseinheit ist die Probstei (Blagotschinie), die in Gemeinden
(Prichody mit ihren Kirchen, Chramy^)) zerfällt.
Auch diese Kirche kennt ein Mönchtum, hier schwarze Geistlichkeit
(nach der Farbe ihrer Tracht) genannt, dem der Weltklerus als weiße
Geistlichkeit (obwohl ihre Trachtfarbe nicht weiß ist) in schroffer Scheidung
gegenübersteht. Weltgeistliche (Priester und Diakonen) gibt es rund
60 000, Klöster gab es 1913: 467 Männer- und 467 Frauen-Klöster
mit 11 332 Mönchen, 16 286 Nonnen, 9603 dienenden Brüdern und
54 903 dienenden Schwestern. Das Gesamteinkommen dieser Klöster
9 S. oben S. 64.
9 Die Statistik des Shnods von 1905 zählte im ganzen (einschl. der Kloster-
kirchen) rund 60000 Kirchen.
Die geistige Welt.
247
betrug 91 % Million Rubel, ihr Reichtum an Kirchenkostbarkeiten u dgl.
wird auf Hunderte von Millionen berechnet. Die Zahl der religiösen
Institute und der Geistlichen hat in den letzten zwei Menschenaltern mit
dem Wachstum der Bevölkerung nicht Schritt gehalten, Bistümer und
Pfarrsprengel sind zu groß, an Weltgeistlichen ist direkt Mangel, während
die Klostergeistlichkeit ziemlich stationär geblieben ist.
Zwischen schwarzer und weißer Geistlichkeit besteht ein Gegensatz, der
säst so alt ist, wie die russische Kirche selbst. Die erstere ist zum Zölibat
verpflichtet, auf den geistlichen Akademien gebildet, ihr sind die höheren
Stellen ausschließlich vorbehalten. Der weiße Geistliche muß verheiratet
sein, kann höchstens bis zum Protoierej aufsteigen und ist, wenigstens die
Landgeistlichkeit, nicht ausreichend bezahlt. In der Oberschicht der Mönchs-
geistlichkeit konzentrierte sich die griechische Bildung und das byzantinische
Kirchenwesen, während über die Unwissenheit, Armseligkeit und Barbarei
der anderen, der sog. Popen, seit Jahrhunderten geklagt wird. Der ganze
Stand bildet eine feste Kaste; weil die Sitte besteht, die Frau immer aus
Popenfamilien zu wählen, ist ein Weltgeistlicher fast stets Sohn und
Schwiegervater eines Popen. So steht das russische Pfarrhaus nicht in
festem Zusammenhang mit seinem Volkstum. Zwar hat es auch be-
deutende Männer hervorgebracht: Speranski, Whschnegradski, Pobjedonos-
zew u. a. sind aus ihm hervorgegangen, aber im allgemeinen hat das
Wort „Popowitsch" (Sohn eines Popen) keinen besonders guten Klang;
die Popowitschi standen auffällig zahlreich in den Reihen der Revolutionäre,
so gegen eine jahrhundertelange Absperrung, Bedrückung und Kümmer-
lichkeit des Daseins mit Gewalt revoltierend^. Auch die Mönchsgeistlichkeit
rekrutiert sich zumeist aus Söhnen von Geistlichen oder verwitweten
Geistlichen, die gewöhnlich ins Kloster gehen. Selbst in den höchsten
Stellen der Hierarchie ist ein Adliger eine große Ausnahme. Genießt die
hohe Geistlichkeit wenigstens äußerlich große Achtung, so lehnen die ge-
bildeten Klassen und der Adel dagegen den niederen Klerus ganz ab; nirgends
ist eine so tiefe Kluft zwischen Bildungsschicht und Klerus wie in Rußland.
Kann der unwissende, verachtete und armselige Pope keinen erziehenden
und bildenden Einfluß auf das Volk ausüben, so hat auch das Mönchtum
st Einen ausgezeichneten Einblick in diese Verhältnisse geben die „Er-
innerungen eines Dorfgeistlichen". Aus dem Russischen übertragen von M. von
Dettingen. Bibl. russ. Denkwürdigkeiten Band 5. (Stuttgart 1894.)
248
VIII. Kapitel.
entfernt nicht die kulturelle Bedeutung gewonnen wie im Westen. Die
alten Mönchsregeln des 4. Jahrhunderts gelten heute noch, die Lösung
von der Welt, nicht die Arbeit in und an der Welt ist hier wie im
östlichen Mönchtum überhaupt das eigentliche Ziel. Keine Neuerung
hat die russischen Klöster berührt, für Wissenschaft und Kunst leisten sie
sehr wenig, nicht einmal für die ganz antiquierte Theologie, aus ihren:
Vermögen werden ganze 700 000 Rubel zu Unterrichtszwecken verwendet,
produktiv leistet dieses Klosterwesen seinem Staate und Volke fast nichts.
Dieser Charakter des Klerus ist natürlich nur der Reflex des Wesens
seiner Kirche selbst. Das ganze byzantinische Kirchenwesen wurde von den
Russen übernommen: die weltvcrachtende Staatskirche, die das Entscheidende
im Dogma und den Mysterien des Kultus, nicht in der religiösen Sitt-
lichkeit sah, mit dem religiösen Charakter des Herrschers, mit ihrer Orthodoxie
als Politischen Faktors; Reichseinheit und Glaubenseinheit erscheinen als
gleich wesentlich und gehören integrierend zueinander. Die Annahme
dieses Kirchenwesens durch Wladimir war vornehmlich ein politischer Akt,
dem ein wesentlicher aktiver Widerstand vom Volke nicht entgegengestellt
wurde. Und was der Kiewer Staat übernahm, war nur der eigene
Besitz einer starr gewordenen Kirche, der von den Russen kaum fortgebildet
worden ist, während diese Rezeption die hellenistische Kultur und die
antike Ethik, über die die Kirche in Byzanz doch auch verfügte, gar nichl
mit übertragen konntest. Daher erklärt es sich, daß diese Kirche dem rus-
sischen Volke so wenig an Kulturelementen und fast nichts an sittlicher Kraft
brachte, und warum sie so völlig zum Instrument der Staatsgewalt
werden konnte. Wie sie dadurch diese steigerte und erhöhte, wurde schon ge-
schildert^). Auf diesem Wege hat sie eine ungeheure Macht über die Geister
gewonnen und diese sehr fest zu binden vermocht. Der Geistliche ist der Ver-
walter der kultischen Geheimnisse, nicht der Seelenhirt; Predigt und Seel-
sorge fehlen fast ganz und der religiöse Unterricht wie die sittliche Beein-
flussung des Volkes werden von dieser Kirche, die zur Erfassung des
Lebens weder anhalten will noch kann, eigentlich aus Grundsatz vernach-
lässigt. Daß der niedere Geistliche nach Bildung und Erziehung dazu auch
gar nicht fähig ist und in jeder Frage der Volkssittlichkeit, z. B. in der
0 Nach einem Worte des Slawophilen Chomjakow hat das alte Rußland
nur die äußere Form, nicht Geist und Wesen der christlichen Religion empfangen.
st S. 28 und 38.
Die geistige Welt.
249
Bekämpfung der Trunksucht, völlig versagt, ist daneben fast erst ein
Moment zweiter Ordnung. Die Wucht des Einflusses der Kirche ruht
in Kultus und Liturgie, die aus die einfachen Seelen geheimnisvoll-mächtig
wirken, besonders weil fast jede aktive Beteiligung des Gläubigen davon
ferngehalten ist. Nur durch Bekreuzigen, Niederknien, Küssen der Heiligen»
bilder und des Kreuzes gibt er diese kund, wenn er den mystischen Zauber
des Sakraments und des Gottesdienstes in sich erlebt. Daher auch die Be-
tonung alles Äußerlichen im Kirchenwesen und das pedantische Festhalten
daran.
Kirchliche und staatliche Interessen sind völlig ineinander aufgegangen,
ein Widerstand gegen die Kirche ist Rebellion gegen den Staat und eine
Erhebung gegen den Zaren ist Frevel am Glauben. Die Kirche wurde so
Mitgarantin der Reichseinheit und des zarischen Absolutismus. Sie mußte
grundsätzlich unduldsam und nationalistisch auch im modern-russischen Be-
griffe des Wortes werden. So kämpfte sie mit den Mitteln des Staates
und grausam gegen die „Altgläubigen"*) oder Raskolniki, gegen die zahl-
losen Sekten, gegen Lutheraner und römische Katholiken. Und so treibt sie
keine lebenskräftige Mission, wozu sie auch nicht fähig ist, sondern nur eine
wenig fruchtbare religiös-politische Propaganda, früher in Polen, Litauen,
den Ostseeprovinzen, heute in Sibirien, auch in Amerika, Japan, China,
Persien, besonders aber in Palästina und Syriens. Ganz unverhüllt trat
daun dieser nationalpolitische Untergrund bei der kirchlichen Propaganda-
arbeit unter • den Balkanslawen oder bei der ersten Einrichtung in dem
im Weltkrieg vorübergehend eroberten Galizien hervor.
Als die Revolution ausbrach, mußte sich zeigen, inwieweit diese
Staatskirche noch lebendige Kraft besaß. So starr sie auch war, so weit
*) So nennen sie sich selbst (Starowjerh oder Staroobrjadzy, nach altem
Ritus lebend). Die Raskolniki sind die Anhänger des im 17. Jahrhundert ent-
standenen Schismas (Raskol), denen die damals vorgenommene Reform der
heiligen Bücher, obwohl sie nur Äußerlichkeiten betraf, als Abfall und Frevel galt.
Sie sind also nicht als Sektierer oder Ketzer aufzufassen, sondern als „Altgläubige",
wurden aber von der offiziellen Kirche und vom Staate wie Ketzer verfolgt. Die
Statistik von 1897 berechnete sie auf 2 Millionen; doch gehen Schätzungen bis zu
20 Millionen.
2) Näheres in dem vortrefflichen Werke von P a l m i e r i, La chiesa Russa,
le sue odierne condizioni e il suo riformismo dottrinale. Florenz 1908.
250
VIII. Kapitel.
entfernt vom Leben stand sie doch nicht, daß nicht auch sie auf das stärkste
von der Unruhe berührt worden wäre, in die das Staatsleben seit 1905
geriet.
Einmal richtete sich die freiheitliche Bewegung wie gegen jeden Druck
so auch gegen den von der Kirche im Bunde mit dem Staate ausgeübten
Druck auf die Gewissen. Dieser spielte zwar im eigentlichen Rußland
(von der Bedrückung der Sekten abgesehen) eine geringere Rolle, da die
Kirche ketzerischen Gedanken — etwa durch die Beichte — nicht nachspürt
und die geistige Entwicklung der gebildeten Schichten diese der Kirche
innerlich ganz entfremdet hatte. Dagegen hatte sie überall da einen un-
geheuren Haß gegen sich wachgerufen, wo ihre Herrschaft gewaltsam
durchgesetzt worden war, wie bei den Altgläubigen und den zahlreichen
Sekten, und wo die Russifizierung auch das kirchliche Gebiet ergriffen hatte,
also in den Ostseeprovinzen, in Litauen und in Polen.
Als das Staatsgebäude ins Wanken kam, richtete sich daher die Be-
wegung in den Grenzmarken vor allem gegen die Kirche, und um die
dadurch Nahrung erhaltenden separatistischen Tendenzen dieser Gebiete
zu bekämpfen, stand am Anfang der Zugeständnisse des Zaren das
Toleranzedikt vom 30. April 1905, das als religiöse Magna Carta
im Hauptteil hier mitzuteilen ist: „Es ist 1. anzuerkennen, daß der
Abfall vom orthodoxen Glauben zu einem anderen christlichen Glaubens-
bekenntnis oder Glaubenslehre nicht der Verfolgung unterliegt und keinerlei
nachteilige Folgen in bezug auf persönliche oder bürgerliche Rechte nach
sich ziehen darf, wobei ein nach Erreichung der Volljährigkeit Abgefallener
als dem Bekenntnis oder der Glaubenslehre zugehörig gerechnet wird,
die er für sich gewählt hat.
2. anzuerkennen, daß bei Übertritt eines von zwei demselben christ-
lichen Glauben angehörenden Gatten zu einem anderen Glaubens-
bekenntnisse alle noch nicht mündigen Kinder im früheren vom anderen
Gatten bekannten Glauben bleiben. Beim Übertritt beider Gatten folgen
die Kinder bis 14 Jahren dem Glauben der Eltern, die Kinder aber,
die dies Alter erreicht haben, verbleiben in ihrem früheren Glauben.
3. zur Ergänzung festzustellen, daß die Personen, die als rechtgläubig
gelten, aber tatsächlich denjenigen nichtchristlichen Glauben bekennen, zu
dem sie oder ihre Voreltern vor der Aufnahme in die Rechtgläubigkeit
gehörten, aus ihren Wunsch aus der Zahl der Rechtgläubigen ausgeschlossen
Die geistige Welt.
251
werden können." Dann folgen befreiende Einzelbestimmungen über Alt-
gläubige und Sektierer, über die anderen christlichen und nichtchristlichen
Bekenntnisse.
Dieses Programm wurde durch das Oktobermanifest und dann vor der
zweiten Duma bekräftigt und auch wieder eingeschränkt*): „Die Regierung
hat, um die Aufgabe zu erfüllen, die Grundsätze religiöser Duldung zu
verwirklichen, es sich vor allen Dingen zur Pflicht gemacht, die ganze
Reichsgesetzgebung einer Durchsicht zu unterziehen und die Veränderungen
klarzustellen, durch welche diese mit den Erlassen vom 30. April und
30. Oktober 1905 in Einklang gebracht werden kann.
Doch mußte die Regierung zuerst ihre Beziehungen zur rechtgläubigen
Kirche klären und festlegen, daß die vielhundertjährige Verbindung des
russischen Reiches mit der christlichen Kirche sie verpflichtet, als Grund-
lage aller Gesetze über die Gewissensfreiheit die Prinzipien des christlichen
Staates anzunehmen, in dem die rechtgläubige Kirche, als die herrschende,
sich besonderer Beachtung und des besonderen Schutzes des Staates erfreut.
Indem die Staatsgewalt die Rechte und Privilegien der rechtgläubigen
Kirche behütet, ist sie berufen, die volle Freiheit ihrer inneren Verwaltung
und Organisation zu schützen und allen ihren Schritten entgegenzukommen,
die mit den Gesetzen des Reiches im Einklang stehen. Der Staat kann
auch im Rahmen der neuen Gestaltung nicht von dem Vermächtnis der
Geschichte abgehen, die uns daran erinnert, daß zu allen Zeiten und in
allen Dingen das russische Volk seine Kraft aus der rechtgläubigen Kirche
zog, mit der der Ruhm und die Macht des Vaterlandes untrennbar ver-
bunden sind.
Gleichzeitig dürfen aber die Rechte und Privilegien der orthodoxen
Kirche nicht die Rechte anderer Konfessionen und Glaubenslehren ver-
letzen. Daher bringt das Ministerium zur Verwirklichung der Allerhöchst
verliehenen Gesetze über die Grundsätze der religiösen Duldung und Ge-
wissensfreiheit in der Reichsduma und dem Reichsrat eine Reihe von
Gesetzvorlagen ein, die den Übertritt aus einer Konfession zur andern,
den unbehinderten Gottesdienst, den Bau von Bethäusern, die Bildung
von Religionsgemeinschaften, die Abschaffung von Beschränkungen, die
nur mit der Konfession zusammenhingen, regeln sollen."
0 Deklaration Stolvpins.
252
VIII. Kapitel.
Der im mittleren Abschnitt ausgesprochene Grundsatz entspricht jener
Definition, die Kokowzow vom Nationalisums gegeben hattet — auch
im nachrevolutionären Rußland sollen mindestens die Grundsteine der
„Prawoslawie" und der „Narodnost" und ihr unlöslicher historischer
Bund erhalten bleiben, von ihnen beiden nur die äußersten Zugeständnisse
gemacht werden. Das überkommene Staatskirchenrecht wird durch das
Toleranzedikt nicht allzusehr berührt, um so mehr als dieses in der Verfassung
keinen Niederschlag gesunden hat. Die Reichsgrundgesetze regeln in Ab-
schnitt 7 (über den Glauben) diese Dinge. Da wird in Artikel 62 der
„christliche, rechtgläubige katholische Glaube orientalischer Konfession" als
„der im russischen Reiche erste und herrschende Glaube" bestimmt, den
(Art. 63) der Zar bekennen muß, und dessen Dogmen er (Art. 64) als
christlicher Herrscher verteidigt und schützt, wobei (Art. 65) die selbst-
herrschende Gewalt in der Kirchenverwaltung vermittels des Synods
herrscht, den sie eingesetzt hat. Artikel 66 und 68 legen die Stellung
der nicht zur herrschenden Kirche gehörenden Konfessionen fest: deren
Bekenner genießen, jeder überall, die freie Ausübung ihres Glaubens
und Gottesdienstes nach ihren Riten. Diese Glaubensfreiheit (Art. 67)
wird nicht nur den Christen, sondern auch den Juden, Mohammedanern
und Heiden eingeräumt). Die Reichsgrundgesetze enthalten danach die Zu-
geständnisse der Revolutionszeit noch nicht; das Kapitel lautet völlig mit
dem entsprechenden Kapitel der alten Grundgesetze gleich. So waren die Zu-
geständnisse des Toleranzedikts unsicherer als andere, die schon in den
Reichsgrundgesetzen verankert waren.
Die Duma und die Regierung haben sich mit diesen Fragen befaßt,
sowohl weil die Verhältnisse der Grenzmarken das erforderten, als auch,
weil die Prinzipien des modernen Rechtsstaates auch in dies Gebiet ein-
geführt werden sollten. Daher wurden aus dem Toleranzedikt die von
Stolypin angekündigten Konsequenzen mit Vorlagen über Glaubens- und
Gewissensfreiheit, über die Regelung des Übertritts zu einer anderen
Konfession, die eine wirkliche Freiheit des Konfessionswechsels anstrebte,
st S. oben S. 133.
st Die kirchlichen Angelegenheiten der Christen „fremder Konfessionen" und
der Andersgläubigen werden von ihren eigenen geistlichen Behörden und dem
„Departement der stemden Konfessionen" im Ministerium des Innern verwaltet.
Die geistige Welt.
253
über Mischehen, zunächst über die Altgläubigen, über die Propaganda,
Gemeindebildung usw. gezogen.
Die Hauptsache war dabei, eine feste Grundlage der Glaubens- und
Gewissensfreiheit überhaupt zu schaffen, die trotz der Artikel 66 und 67
noch nicht vorhanden ist. Denn danach war jede nicht rechtgläubige Kon-
fession immer nur geduldet und blieb vor allem jede Propaganda verboten.
Um diese Fragen erhob sich ein lebhafter Kampf zwischen Duma und
Reichsrat und Regierung, und auch hier war das Bild dasselbe: je mehr
die Staatsgewalt wieder erstarkte, um so lebhafter wurde das Streben,
die Konzessionen der Revolutionsjahre zurückzunehmen, und hier um so
leichter, weil die Dringlichkeit der religiösen Konzessionen vom Russentum
selbst nicht so sehr empfunden wurde. So ist auf dem ganzen Gebiete
bis zum Kriege nichts in feste Form gekommen.
Das in beiden Kammern angenommene Gesetz über die Rechtslage
Geistlicher, die die geistliche Würde ablegen, wurde vom Zaren nicht
bestätigt. Das Gesetz über den Glaubenswechsel, in das die Duma die
Freiheit des Übertritts auch in jede nichtchristliche Konfession hereinbrachte,
blieb unerledigt, ebenso die Vorlage über die Altgläubigen, denen die Duma
volle Freiheit gewähren wollte. Ihre Rechtslage und auch die der Sekten
ist nur durch eine Notverordnung vom 30. Oktober 1906 auf Grund des
Artikels 87 so geregelt, daß praktisch heute die Altgläubigen und Sektierer
Glaubensfreiheit und das Recht der Gemeindebildung haben. Fertig ge-
worden ist nur das bedeutungslose Gesetz zugunsten der neuen polnischen
Sekte der Mariawiteill) aus nationalistischen, antipolnischen Motiven.
Sonst blieb die Arbeit der Duma erfolglos und die Rechtslage in Sachen
der Glaubensfreiheit unsicher und unbestimmt. Aber trotz des kirchlichen
Einflusses und aller Agitation dagegen, die im Kreise der Gräfin Jgnatiew
ihren Mittelpunkt hatte, ist praktisch am Toleranzedikt nicht gerüttelt
worden. Es ist eine der wertvollsten Errungenschaften der Revolution ge-
blieben, es ist in Geltung, und von ihm wurde lebhaft Gebrauch gemacht.
Der Konfessionswechsel, der nun nicht mehr strafrechtlich verfolgt
werden kann, ist sehr umfangreich geworden; der Verlust der herrschenden
Kirche an Seelen, namentlich in Litauen, aber auch in Polen und den
Ostseeprovinzen, die in der Mehrzahl zu ihrer alten Konfession, dem
0 S. unten Kap. X.
254
VIII. Kapitel.
Luthertum oder der römischen oder unierten Kirche, zurückgekehrt sind,
berechnet mau auf 2 Millionen.
Die große politische Bewegung des Jahres 1905 ergriff aber auch den
russischen Klerus selbst. Wenn man einen Priester wie Gapon an der
Spitze der Volksmassen gegen den Zaren angehen sah oder wenn man die
Beteiligung der „Popensöhne" an der Revolution verfolgte oder die Zu-
stände in den geistlichen Seminaren betrachtete, in denen eine völlig ver-
altete und erstarrte Lehrmethode mit einem barbarischen Disziplinarrecht
und wüsten Ausschreitungen Hand in Hand ging oder wenn man schließlich
von der Hungersnot und der schwierigen Finanzlage des Staates auf
den Reichtum der Klöster und das Drohnenleben des Mönchstums sah,
war es kein Wunder, daß die Kritik auch auf dieses Gebiet übergriff.
Dazu kam die — nicht immer freundliche — Berührung mit der Kirche,
die sich etwa bei den Erörterungen um das Schulgesetz und die Toleranz-
fragen ergab, und dazu kam die Bewegung in der Geistlichkeit selbst.
Die Verfassung gewährt den Geistlichen auch das passive Wahlrecht.
So sieht die Duma unter ihren Mitgliedem auch eine ganze Reihe Geist-
licher, deren Erscheinungen neben den Kosakenunisormen und den Bauern-
trachten die besondere Nüance in das Bild dieses Parlaments bringen*).
Fast sämtliche Geistliche der ersten Duma gehörten zur Linken, auch
in der zweiten waren die Oppositionellen in der Mehrheit. Dagegen stehen
die Geistlichen der dritten und vierten Duma auf der äußersten Rechten.
Das bedeutet, daß die politische Freiheitsbewegung des niederen Klerus,
der im Bund mit der Linken auch für die Kirche Freiheit erkämpfen
wollte, durch einen von den Bischöfen geführten Klerikalismus verdrängt
worden ist, der sich auf die Rechte stützt und diese fördert, der die Regierungs-
reaktion entschlossen vorantrieb und mit seinem Streben nach einer
„Popenduma" der Regierung selber sehr unbequem wurde.
Die Freiheitsbewegung der niederen Geistlichkeit war eine Ver-
sassungsbewegung. Der niedergehaltene und zurückgesetzte Weiße Klerus
revoltierte gegen die bevorzugte schwarze Geistlichkeit, und in der gesamten
Geistlichkeit wurde die Frage wieder wach, ob das Verhältnis von Staat
und Kirche, das die Kirche zur dienenden Magd des Staates, zur, wie
W. Solowjew sagt, „Funktion des staatlichen Organismus" erniedrigte,
l) Die Zahlen s. oben S. 113, 123, 131.
Die geistige Welt,
255
dauernd so bleiben müsse. Organisierte sich sonst alles, so konnte auch die
Geistlichkeit daran denken, und strebte die Laienwelt, zu einem Parlament
zu kommen, so erörterte die Geistlichkeit die Berufung eines Reichskonzils,
das dem niederen Klerus und dem Laienelement eine Vertretung sichern
sollte, und die Wiederherstellung des Patriarchats, das dem Oberprokuror
die Beherrschung der Kirche streitig machen sollte. Denn die Einsicht
war auch in der orthodoxen Kirche weit verbreitet, daß der Bund zwischen
Staat und Kirche der Kirche wenig genützt hatte, da man sah, daß die
gewonnene Herrschaftsstellung lediglich äußerlich war. Dazu kamen
Forderungen der Reform der geistlichen Bildung, der moralischen und
materiellen Hebung des Klerus, der Verkleinerung und Reform der
Kirchengemeinde, die ohne jedes Leben war, im Sinne der Heranziehung
der Laien und der Wahl der Geistlichen durch sie.
So wurde gewaltig Sturm gegen das überkommene Kirchenrecht ge-
laufen, der dieses vom Staate losreißen wollte, als Voraussetzung auch einer
inneren Umgestaltung und Neubelebung der Staatskirche. Mit aller Kraft
kämpfte Pobjedonoszew dagegen an. Aber nach seinem Rücktritt wurde
die Leitung des Shnods durch den weltlichen Oberprokuror unsicherer. Auf
Pobjedonoszew folgten rasch verschiedene andere, Obolenski, Jswolski
(Bruder des Ministers), Sabler, alle traten das Amt in der Überzeugung
an, daß das Regime Pobjedonoszews kaum mehr zu halten sei, wußten
aber nicht, wo und wie es zu ändern sei. Sie standen so den hohen geist-
lichen Würdenträgern, die im Synod den Ton angaben, wie den Metro-
politen Wladimir von Moskau, Flawian von Kiew und Antonius von
Wolhynien, unsicher gegenüber, wenn sie da etwa das Toleranzedikt und
seine Konsequenzen verteidigen sollten; der Synod verlor an Autorität.
Sodann prägte sich, wie immer in unruhigen und unklaren Zeiten der
russischen Geschichte, die Unruhe auch in religiöser Erregung und Agitation
aus. Seltsame und beunruhigende Erscheinungen traten auf, wie der
Bischof Hermogen, der Mönch Jliodor, der sibirische Bauer Rasputin
u. a., deren die amtliche Kirchengewalt kaum mehr Herr zu werden ver-
mochte, zumal solche religiöse sektiererische Erregung und Schwärmerei
nicht nur die unteren, sondern auch die höchsten Schichten des Volkes
ergriff.
Aber die Verfassungsbewegring der Kirche verlief sehr rasch im
Sande; weder ist das Reichskonzil zustande gekommen, noch das Patri-
256
VIII. Kapitel.
archat wieder hergestellt worden. Das Verhältnis von Staat und Kirche
ist schließlich nicht geändert worden. Die geistliche Führung der Kirche sah
ihre Aufgabe vielmehr darin, mit dem Staate zusammen gegen die Um-
bildung Rußlands zu kämpfen, als eine selbständige Kirche begründen
zu Helsen. Der niedere Klerus allein war viel zu schwach, als daß er
solche Reformen hätte durchsetzen können, für die ihm aller Zusammen-
hang mit der Bildungswelt und der weltlichen Freiheitsbewegung und der
Rückhalt an ihr fehlte. Denn diese hatte für die Verfassungsfragen der
Kirche kein Interesse. Erreichte sie doch nicht einmal da etwas,
wo sie Interesse hatte. Sie forderte Rechenschaftslegung über die vom
Synod ausgegebenen Gelder, ohne das zu erreichen. Sie hat auch nicht,
wie sie erstrebte, das neue Statut über das geistliche Unterrichtswesen
prüfen können, das der Synod in reaktionärem Sinne ausgearbeitet hatte.
Von Sonderfragen ganz zu schweigen, wie der Reform des Kirchenstraf-
rechts, das auch gegen Laien wirksam werden kann (Klosterhast u. dgl.),
des Eherechts — es gibt kein Standesamt, und da die Ehe nur eine
kirchliche Handlung ist, wirkt die Verschiedenheit der einzelnen Konfessionen
im Eherecht aus dieses im allgemeinen — oder der Fruktifizierung des
Reichtums der Klöster oder einer Herabsetzung der volkswirtschaftlich
schädlichen Zahl der Feiertage — alle diese Wünsche blieben unerfüllt*).
In der dritten und vierten Duma war das Interesse an der Reform
der Gemeinde freilich stärker, aber auch hier hat der Synod und die
schwarze Geistlichkeit bis zum Weltkriege jedes Resultat dieser volkstümlichen
Bewegung zu verhindern gewußt. In der Hauptsache blieb das Laien-
element von der Gemeindeverwaltung, der Verfügung über das Kirchen-
gut und der Auswahl seiner Geistlichen ausgeschlossen. Die schlimmen
Folgen hat im Kriege einer der höchsten geistlichen Würdenträger, der
Petersburger Metropolit Pitirim, in einem Aufsehen erregenden veröffent-'
lichten Schreiben offen beklagt, und der unruhige Reformeifer der Kriegs-
duma hat dann, wie er das Wolostsemstwo leidenschaftlich behandelte,
auch die Schaffung einer kirchlichen „Obschtschina" erörtert. Die Kirche
Rußlands ging in den Krieg im wesentlichen als die herrschende Bischofs-
kirche staatlich-politischen Charakters herein. Neues hatte sie im Jahrzehnt
*) Die rechtgläubige Kirche hat 45 allgemeine, II größere und 61 geringere
— 117 Feiertage; das ist ein volles Drittel des Jahres.
Die geistige Welt. 257
von 1904 bis 1914 höchstens in Ansätzen eines organisierten Klerikalis-
mus erhalten.
In Rußland ist es heute allgemeine Anschauung, daß von einem
wohltuenden Einfluß der Kirche auf die Nation keine Rede sein kann.
Zwischen religiösem und sittlichem Leben ist daher hier ein Abstand wie
kaum in einer anderen christlichen Kirche. Vom Höchsten bis zum Niedersten
macht alles die religiösen Zeremonien auf das eifrigste mit, küßt das
Kreuz, opfert das Wachslicht, aber das sittliche Leben wird nach den
Normen und der Erziehung der Kirche ganz und gar nicht eingerichtet.
Die Bildungsschicht hat den Widerspruch zwischen der kulturell hohlen und
toten Kirche und den WeltanschauungsProblemen durch einen schranken-
losen Atheismus gelöst, der aber den äußeren Zusammenhang mit der
Kirche aufrecht erhält. Der Weltanschauungskampf vollzieht sich nicht
in der Kirche, aber er führt auch nicht zur Emanzipation von ihr. Nur
die Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre fordern die Lösung der Kirche
vom Staate. Den Liberalen ist das Programm der Gewissensfreiheit
genug, für sie ist das Wort des großen Pädagogen Pirogow ganz
typisch: „Wenn ich den Schoß der Staatskirche nicht zu verlassen strebe,
wenn ich nicht gegen sie auftrete, wenn ich ihr alle Ehren erweise, mit
einem Worte, wenn ich an die National- und Staatsreligion, zu der ich
mich mit meiner Familie bekenne, nicht rühre, was geht die Leute mein
individueller Glaube an, über den ich hier nicht Rechenschaft ablegen
werde?"
Das Volk aber hat sich auch heute noch nicht sein Innerstes durch
die Kirche vom Heidentum loslösen lassen. Der alte heidnische Volks-
glaube lebt fort, im Wunderglauben, im Seelen- und Geisterglauben.
Noch heute bedeutet dem russischen Bauern die Russalka, die Wassernixe
etwas; vom Heiligenbild, vor dem er sich so oft bekreuzigt, sagt das Volks-
wort: „Paßt es, so betet man davor, paßt es nicht, so deckt man die
Kochtöpfe damit zu", und den Popen betrachtet das Volk fast nur mit
gutmütigem Spott.
Und doch ist es durch und durch religiös und hängt es an seiner Kirche.
Sie hat ihm Stamm und Staat zusammengehalten, wie den Begriff des
„heiligen Rußlands" geschaffen, der die Identität von Volksgefühl und
religiösem Gefühle zeigt. Sie spendet ihm das erschütternde Erlebnis der
„Tränengnade", sie fördert seine Fähigkeit zur Intuition, seine Neigung
Hoetzsch, Rußland. 17
258
VIII. Kapitel.
zum Mystizismus, seine Passivität, Geduld und Menschenliebe. Freilich be-
friedigt sie seine religiöse Sehnsucht nicht in vollem Maße. Darum suchte sich
diese in den zahllosen Sekten — die Zahl der Sektierer soll 20 Millionen
betragen — ihre Betätigung, die den religiösen Wahnsinn oft zu entsetzlicher
sittlicher Entartung und Barbarei steigern, oft aber auch vom Staate grau-
sam verfolgte und nicht verstandene Stätten tief religiösen Lebens sind.
Die wandernden Mönche und Pilger und die „Narren in Christo"
(Jurodiwyje) sind ebenfalls Erscheinungsformen dieses religiösen Bedürf-
nisses: Vagabunden, manchmal Schwindler, manchmal an den Schamanen
der heidnischen Zeit erinnernd und doch ehrliche, tiefe, mystische Christen —
Tolstoi und Dostojewski haben diese dem russischen Volksleben charakte-
ristischen Gestalten so eindrucksvoll gezeichnet, daß sich der Glaube an die
innere Ehrlichkeit dieser Bolksreligiösität von selbst daraus ergibt.
Für die Intelligenz aber zeigt jeder Blick in die schöne Literatur,
was ihr die Religion ist; die meisten der zahllosen Gespräche darin drehen
sich entweder um die Politik oder die Religion. Dieser Intelligenz mußte
sich nun die Frage aufdrängen, ob sie einer Kirche länger Einfluß auf die
Erziehung des Volkes einräumen will, die innere Kraft dazu nicht hat, und
ob diese Kirche eine innere Erneuerung finden kann. Die ganze Schwere
dieses Problems trat schon vor der Revolution erschreckend hervor, als
Leo Tolstoi von der Kirche exkommuniziert wurde. Der offene Brief
Tolstois vom 28. Februar 1901 an den Zaren wurde der Anlaß zu einem
Verfahren vor dem Synod gegen ihn. Die Forderungen dieses Briefes
waren keineswegs grunderschütternd: die Beseitigung der Landhauptleute,
die Befreiung der Bauernschaft von ihren Lasten, von der Solidarhaft und
der körperlichen Züchtigung, die Beseitigung der Ausnahmezustände, alles
das waren Forderungen, die seitdem zum Teil schon durchgesetzt sind, zum
Teil lebhaft uud unangefochten vertreten wurden. Die Hauptsache aber
war die Opposition Tolstois gegen die Bedrückung der religiösen Freiheit
und die Forderung der Freiheit des Gewissens. Das gerade veranlaßte
Pobjedonoszew zum Einschreiten. In einer außerordentlichen Sitzung
des Synods beschloß dieser einstimmig Tolstois Exkommunikation, die
überall in den Kirchen verkündigt wurde; der Zar nahm den Beschluß auch
an. Tolstoi und seine Frau protestierten aufs schärfste gegen diesen Vorwurf
der Kirchenfeindlichkeit. An sich war der Synod zu seinem Urteil berechtigt,
weil die prinzipielle Stellung und die praktische Agitation Tolstois die
Die geistige Welt.
259
offizielle Kirche negierten. Damit war aber das Problem nicht gelöst,
daß die offizielle Kirche diesen großen, wenn auch schwarmgeistigen, religi-
ösen Genius nicht hatte ertragen können, und daß sie ihn innerlich, mit
eigener religiöser Wärme und sittlicher Kraft nicht überwinden konnte.
Schon Iwan Aksakow hat gesagt, daß „weder die russische noch die
slawische Welt neues Leben gewinnen wird, solange die Kirche in dieser
Leblosigkeit (Mertwennost) bleibt, die nicht zufällig, sondern die unver-
meidliche Folge eines organischen Fehlers ist". Kräfte zu solcher Neu-
belebung sind wohl vorhanden, in dem religiösen Zuge zahlreicher Dichter,
wie vor allem Dostojewskis, Tolstois, in der Gegenwart Mereschkowskis,
und in der Philosophie von Kirjejewski, Tschitscherin, Wladimir Solowjew,
Leo Lopatin. Sie schöpfen sämtlich aus den religiösen Urkräften der
russischen Volksseele und bemühen sich, mit einem Wort, die tiefe
Kluft zwischen Kirche und Kultur, Religion und Leben zu überbrücken,
die im russischen geistigen Leben besteht. Und der Priester Petrow
versuchte in seinen Predigten und seinem Buche „Das Evangelium
als Grund des Lebens" praktisch im Sinn einer Erneuerung zu wirken,
einer Evangelisierung, von der freilich die Orthodoxie wie von diesen
ganzen geistigen Strömungen fürchtet, sie werde damit vom deutschen
Protestantismus zersetzt. Wesentlich verändernd hatte noch keiner dieser
Ansätze bis zum Kriege auf die offizielle Kirche eingewirkt. Aber gute
Beobachter versicherten, daß sich des Volks allmählich eine starke religiöse
Ergriffenheit und Erregung bemächtigt hatte, die die Kriegspartei im
Anfange des Krieges für den Angrifsswillen zu nutzen sich bemühte: „Wir
kämpfen auch für unsere slawischen Brüder, unsere Glaubens genossen
und Blutsverwandten" hieß es in einer Anrede des Zaren an das
Parlament am 8. August 1914. In den Gestalten von Pitirim und
Warnawa, von Heliodor und Rasputin verkörperte sich konkret das
Wirrsal, das das religiöse Leben Rußlands darstellte, von dem so gut wie
keine Brücken nach den Weltanschauungen und dem religiösen Denken
Westeuropas herübergehen.
II. Die Schule.
Die Erörterungen um die Agrarreform als den Ausgangspunkt für
alles weitere drängten immer wieder darauf hin, daß diese ganze Reform
17*
260
Vin. Kapitel.
ein toter Buchstabe bleiben müsse, wenn sie nicht von einer geistigen und
sittlichen Hebung des Volkes überhaupt begleitet würde. Blickte man dann
auf das Gebiet des geistigen Lebens, so war das Bild, das sich bot, trostlos
genug. Die Reglementierung der Hoch- und Mittelschulen hatte die
akademische Welt zu einer Opposition getrieben, die seit Anfang des Jahr-
hunderts direkt revolutionäre Formen angenommen hatte. Und die Jahre
der Unruhe und Erregung seit 1905 hatten die Hochschulen dermaßen
in ihren Strudel hereingezogen, daß semesterlang das Universitätsleben
vollständig stillstand. Der extreme Individualismus und die damit ver-
bundene geistige Zersetzung hatten auch die Mittelschulen, sowohl die Knaben-
wie die Mädchengymnäsien, aus das stärkste ergriffen. Auf dem Gebiete des
Volksschulwesens endlich sah man nur ein ungeordnetes Durcheinander,
in den: höchstens das eine feststand, daß der Bestand an Schulen und
Lehrern nicht entfernt genügte.
Rußland hatte 1914 zehn Universitäten: Petersburg, Moskau, Kiew,
Charkow, Odessa, Dorpat, Kasan, Warschau, Tomsk (das nur eine
juristische und eine medizinische Fakultät hat) und (1909 begründet)
Saratow, nur aus einer medizinischen Fakultät bestehend^. Dazu kommen
die Spezialhochschulen, z. B. das Adelslyzeum und die Rechtsschule in
Petersburg (Vorbereitungsanstalten des Adels für den Verwaltungsdienst),
die militär-medizinische Akademie, die Beterinärinstitute u. dgl. m., vor
allem die sogenannten höheren Frauenkurse, die in den Universitätsstädten
Frauenuniversitäten neben den Staatsuniversitäten darstellen'). Das Bild
des russischen Studententums und die Darstellung seines Verhältnisses
zur Revolution würde höchst unvollständig sein, wenn darin die „Kursistka"
(rund 12 000 an Zahl) fehlte. Ferner sind die drei technischen Hoch-
schulen und ähnliche Institute hinzuzurechnen, so daß das Land kurz
vor dem Weltkrieg iin ganzen rund 60 000 Studierende aller Disziplinen
und beiderlei Geschlechts zählen mochte'). Nicht mit eingerechnet dürfen
*) Die Zahl der ordentlichen Professuren betrug am 1. Januar 1911: 463
(davon waren über 100 unbesetzt), der außerordentlichen 164, der Privat-
dozenten 681.
2) Die ersten Frauenkurse dieser Art sind 1878 begründet.
*) Die Zahl der jüdischen Studenten, nach dem Gesetz eigentlich unbeschränkt,
ist durch kaiserliche Verordnungen auf nicht mehr als 10 % der Gesamtzahl der
Immatrikulierten festgesetzt.
Die geistige Welt.
261
die vier geistlichen Akademien (Petersburg, Moskau, Kiew und Kasan)
und 58 geistlichen Seminare werden, die streng von der akademischen Welt
getrennt sind; außer ihnen hat jede Universität eine theologische Fakultät,
die eigentlich keine Daseinsberechtigung hat. Das geistliche Bildungswesen,
besonders der Seminare, ist in sehr schlechtem Zustande.
Rußland hat die Organisation der deutschen Universität auch bis in die
Einzelheiten übernommen, aber das Wesen der freien deutschen Forschungs-
und Lehruniversität mit seiner alten Staatsordnung nicht zu ver-
einigen vermocht. Versuche dazu sind im Laufe des 19. Jahrhunderts
gemacht worden, mit Anläufen, denen regelmäßig der Rückschlag folgte.
Das mit den Reformen Alexanders II. im Zusammenhang stehende
Unitersitätsstatut von 1863 gewährte, was nicht etwas durchaus Neues
war, die korporative Verfassung der Universitäten mit gewählten Rektoren
und Dekanen. Aber die Reaktion unter Alexander III. gestaltete auch
dieses Gebiet um, so daß die Hochschulen bis zum September 1909 nach
dem Deljanowschen Universitätsreglement von 1884 lebten, das die Re-
formen Golownins zerstörte und ausschließlich den polizeilichen Gesichts-
punkt betonte: streng geregelter Studiengang, Abhängigkeit des Universi-
tätslebens vom Ministerium für Volksaufklärung, wie Rußland sein
1802 gegründetes Kultusministerium nennt, Absperrung gegen Wissen-
schaftsemflüsse von außen, Verständnislosigkeit für die Freiheit der For-
schung, des Lehrens und Lernens, das waren seine Hauptzüge. Die
Disziplinargewalt über die Studentenschaft lag hauptsächlich in der Hand
eines staatlichen Inspektors, der Polizeifunktionen ausübte und dessen
Überwachung des ganzen studentischen Lebens ihn zur gehaßtesten Per-
sönlichkeit machte.
Diesem Regime gelang es seit 1884, die Hochschulen, die an sich zu
einer anderen Entwicklung fähig gewesen wären, vollständig zu des-
organisieren. Die ängstliche Sorge vor einer Erschütterung der Staats-
ordnung, die, wie man aus mancherlei Erfahrungen Westeuropas hörte,
von den Universitäten und ihren Bewegungen herkommen konnte, legte
das Universitätsleben in seinen eigentlichen Wirkungen vollständig lahm.
Von einem Einfluß der Professoren auf die Jugend war keine Rede, wenn
diese Professoren auf das schärfste überwacht und mißtrauisch kontrolliert
wurden. Von freier Bewegung der Forschung war keine Rede bei einer
Zensur, die nur zum Teil über ihrem Amte wirklich gewachsene Beanite
262
VIII. Kapitel.
Verfügte, und von den erzieherischen Wirkungen des Universitätslebens
nach westeuropäischen Vorstellungen konnte schon darum keine Rede sein,
auch wenn nicht polizeiliche Überwachung und Bevormundung regiert
hätten, weil die mechanische Betonung des Klassizismus und die Über-
schätzung des Wissens, das in vielen Prüfungen nachgewiesen werden
mußte, ein wissenschaftliches Lernen und Arbeiten unmöglich machten.
Daß so die Hochschulen weniger Anstalten wissenschaftlicher Arbeit als
Brutstätten eines oft zügellosen Nihilismus auf allen Gebieten wurden,
weiß jeder, der Dostojewskis Raskolnikow oder die großen Turgenjewschen
Romane kennt.
Dabei vermochte die Polizei ebensowenig wie früher die Berührung
mit dem Geistesleben des Auslandes zu verhindern. Trotz aller Absperrung
strömten westeuropäische Bildungselemente namentlich philosophischer und
nationalökonomischer Art ein, auch wurden vielfach außerrussische
Hochschulen aufgesucht. Und daher rief der Gegensatz zwischen drinnen
und draußen wie in der Intelligenz überhaupt, so in der Studenten-
schaft besonders Negation, Verzweiflung und jenen Drang nach gewalt-
samer Befreiung und Besserung hervor, den man gemeinhin, aber unklar,
im Auslande als Nihilismus bezeichnete.
Ihn durchzusetzen, bildeten sich im Studentenleben Organisationen,
wie alles dergleichen natürlich illegal. Ein Korporationswesen in deutscher
Art, wie es sich die — immer mehr russifizierte — Universität Dorpat er-
halten konnte, war auf den anderen Universitäten unbedingt verboten und
liegt auch dem slawischen Studenten nicht. Aber der genossenschaftliche
Sinn, der dem russischen Volke eigen ist, führte die Studenten doch zu-
sammen, schon deshalb, weil sie ihre schlechte materielle Lage dazu zwang.
Der Student kommt zumeist aus den weniger bemittelten Schichten her.
Die Söhne reicher Eltern gehen, wenn es irgend möglich ist, in jene vor-
nehmen hochschulähnlichen Institute in Petersburg. Einen wohlhabenden
Mittelstand hat Rußland erst in Anfängen. Daher stammt die Masse
seines Studententums aus ärmeren Volkskreisen, womit sich durchaus
verträgt, daß zahlreiche Studierende Söhne von (Personal-) Adligen
oder Beamten sind'). Jedenfalls müssen zahlreiche Studenten sofort nach
st 1911 waren von 38000 Studierenden Söhne von Kaufleuten 8819, von
Priestern 1641, von Bauern 3778, Söhne erblicher Edelleute 3371; der Rest,
also nicht ganz die Hälfte, waren Beamtensöhne.
Die geistige Welt,
263
dem Eintritt in die Universität selbst für ihre Existenz sorgen. Dazu,
zur gegenseitigen Unterstützung, fanden sich Vereinigungen auf lands-
mannschaftlicher Grundlage zusammen, in denen der dem Russen eigen-
tümlichen Zug, dem Nächsten gern und möglichst zu helfen, oft rührend
zum Ausdruck kam und die um des guten Zweckes willen nicht verboten
werden konnten. Selbstverständlich wurden diese landsmannschaftlichen
Unterstützungsvereine sofort illegale Diskussions- und Oppositions-
gesellschaften. Bald fanden sich alle diese Landsmannschaften in einem
Bund in Moskau zusammen; die Bestrebungen, eine solche Zentrale zu
schaffen, gehen bis ins Jahr 1884 zurück. Zu Beginn der Regierung
Nikolais II. war diese Organisation schon zu öffentlichem Hervortreten
stark genug. Seitdem mußte die Staatsgewalt immer mehr mit einer
geschlossen auftretenden Studentenschaft rechnen, die zunächst die Professoren
und Universitätsbehörden terrorisierte und allmählich auch jene wichtige
Verbindung mit der eigentlichen sozialen Bewegung fand.
Schon 1894 fühlte sich die Studentenschaft kräftig genug, um, wie
man sagte, „die Initiative zur sozialen Bewegung zu ergreifen". Ihre
Organisation wurde immer politischer. Von Moskau aus wurden all-
gemeine Kongresse der Studenten berufen. Zuerst brachen 1896 auf 97
in Moskau, Petersburg und Kiew Studentenunruhen aus, die schon eine
erstaunliche Solidarität zeigten, und 1899 wurde bereits der Streik an den
hohen Lehranstalten Rußlands zum ersten Male als ein auch dort taug-
liches Mittel verwendet, den Gesamtwillen durchzusetzen.
Seit 1899 — genau seit dem 16. Februar —- beginnt eine offene
studentisch-oppositionelle Bewegung; Demonstrationen, Unruhen und
Putsche kehren periodisch immer wieder. Der Kampf trägt in der ersten
Periode noch rein akademischen Charakter, gegen den Kultusminister
gerichtet. Dieser konnte wohl die Professorenkorporationen brechen, die
studentischen Geheimorganisationen blieben mächtiger als er. In Ver-
sammlungen — S'chodka ist der technische Name dafür — und Orgäni-
sationskomitees, die jene Unterstützungskassen ablösten, brach die auf-
gesammelte Unzufriedenheit offen und als Massenerscheinung elementar
hervor. Noch blieb die Bewegung akademisch, unpolitisch, berührte höchstens
mit der Forderung der Unantastbarkeit der Person u. dgl. das politische
Gebiet. Die Regierung antwortete mit „temporären Regeln" der Re-
pression, unter denen die strafweise Einstellung für schuldig befundener
264
Yin. Kapitel.
Studenten in die Armee die größte Erbitterung erregte. Rasch geht darauf
die Bewegung in den nächsten zwei Jahren in den Radikalismus über,
an dessen Ende schon die Ermordung des Kultusministers (1901) stand.
Und am 17. März explodierte der vorhandene Zündstoff in einer großen
Demonstration vor der Kasanschen Kathedrale in Petersburg. Die An-
sammlung der Studenten und Studentinnen wurde durch einen rücksichts-
losen Kosakenangriff zersprengt, der einer Reihe von Beteiligten das Leben
kostete und Tausende ins Gefängnis führte. Die Regierung glaubte zunächst
mit Säbel und Nagajka der Bewegung Herr werden zu können. Aber diese
nahm eine unerwartete Ausdehnung an. Nicht nur fand der Petersburger
Krawall seine Nachahmung in Riga und Odessa, in Moskau, Charkow,
Dorpat, Tomsk, Kiew usw., nicht nur beteiligten sich überall die Studenten
einmütig daran, sondern auch Glieder anderer Schichten nahmen daran teil:
die Offiziere sympathisierten offen mit den Studenten, aus den Schrift-
steller-, Gelehrten- und Professorenkreisen drangen die Sympathie-
erklärungen für die revoltierende Jugend sogar bis zum Thron.
Außerdem aber stellte sich jetzt überall die industrielle Arbeiterschaft
neben die Studenten, und zwar waren nicht die Studenten zu den Arbeitern
gekommen, sondern die viel zielbewußter geführten Arbeiter erkannten den
politischen Wert der Studentenbewegung uitb stützten sie. Damit wurde
diese, alle Universitäten aufwühlend, nun direkt revolutionär; sie wurde
in der Einsicht von der Nutzlosigkeit des rein akademischen Kampfes politisch
und gegen das absolutistische Regime unbedingt und entschlossen oppo-
sitionell. Von 1902 an gab es eine bewußte studentisch-politische Be-
wegung, die in Streiks und Obstruktion den allgemein-revolutionären
Zielen zu dienen strebte. Sie fließt mit der des Proletariats und mit der
Bourgeoisie zusammen*). In Massen strömten die Studenten den libe-
ralen, radikalen, revolutionären Parteibildungen zu, um im politischen
Kampfe für die Freiheit zugleich den Kampf für die freie Uni-
versität zu führen. In der Verbindung mit der politischen Welt drangen
aber auch deren Parteiunterschiede in die Studentenschaft trennend ein.
Als geschlossene Einheit gab es daher eine radikale Studentenschaft schon
Anfang 1903 nicht mehr. Aber für den Staat blieb die Gefahr dieselbe.
Der russische Student liebt sein Vaterland bis zum Fanatismus, aber von
9 1802 ist das Jahr der Entstehung der Semstwozentrale (s. oben S. 93
und 107).
Die geistige Welt.
265
den bestehenden Gewalten, die über ihm thronten, von den bestehenden
Formen des politischen Lebens trennt ihn eine Welt. Und Streiks wie all-
gemeine Studentenkongresse steigerten das revolutionäre Wollen immer
mehr, bis mit dem Winter 1904/05 auch diese revolutionäre Welle in den
großen Strom, der gegen den Absolutismus anbrandete, einfloß.
Die Staatsgewalt hatte gegen das alles nur mit drakonischen Unter-
drückungsmaßnahmen vorzugehen gewußt. Die Minister für Volksauf-
klärung wechselten rasch, aber keiner war der immer mächtiger um sich
greifenden Bewegung Herr geworden. Weder mit maßloser Härte
noch mit Zugeständnissen an die Autonomie der Universitätsverwaltung
war etwas zu erreichen. Nach dem „roten Sonntag" (22. Januar 1905)
mußten alle Hochschulen geschlossen werden, und es erwies sich als
richtig, was ein Politiker, der es als Professor wissen mußte, Fürst
Eugen Trubezkoi in Kiew, gesagt hatte: „Die Hochschulen sind bei uns
immer die Zentralstelle der revolutionären Propaganda." In Demon-
strationen und wilden Studentenversammlungen, in Teilnahme an
Straßenkämpfen und Putschen wirkte sich diese Propaganda mit größter
Leidenschaft aus. Daran nahm jedoch die Universität Dorpat nur mit ihren
russischen, jüdischen und lettischen Schülern teil, und die polnischen Stu-
denten, die zum Teil in Warschau und zum größten Teil in Kiew studierten,
blieben der russischen revolutionären Bewegung fremd.
Für das russische Volk ist in diesen Kämpfen der nicht wieder gut-
zumachende Schaden entstanden, daß die junge Generation, die in den Re-
volutionsjahren die Universität besucht hat, in der Hauptsache für die
Zukunft ihres Volkes verdorben worden ist. Semesterlang sind die Univer-
sitäten geschlossen gewesen, und die Möglichkeit, zu einem geordneten Lehr-
und Arbeitsbetrieb zurückzukehren, ist bis in die Gegenwart hinein noch oft
genug gestört worden. Noch 1911 klagte eine die Dinge übersehende Per-
sönlichkeit, wie die Gräfin Uwarow, die Präsidentin der archäologischen
Kongresse, die akademische Jugend habe immer mehr das Arbeiten ver-
lernt.
In dem oft genannten Programm hatte Stolypin auch die Hoch-
schulfrage gestreift. Er hatte sich im allgemeinen zu Reformen auf
diesem Gebiete bekannt: „Die Regierung ist sich darüber völlig klar,
daß ihre Anstrengungen solange fruchtlos sein werden, bis die Volks-
266
VIII. Kapitel.
bildung auf das ihr gebührende Niveau gehoben ist und die Er-
scheinungen nicht beseitigt sind, durch die beständig der normale Verlaus
des Schullebens in den letzten Jahren gestört wird, Erscheinungen, die
davon zeugen, daß unsere Lehranstalten ohne grundlegende Reformen einer
vollständigen Zersetzung entgegengehen. Die Reform des Schulwesens aller
Stufen wird vom Unterrichtsministerium auf der Basis eines untrenn-
baren Zusammenhanges der niederen, mittleren und höheren Schulen in
Angriff genommen und zwar so, daß jede dieser Kategorien ein ab-
geschlossenes Wissen bieten soll." Zu wesentlichen Universitätsreformen
ist es indes nur mit einem Senats-Ukas vom 22. September 1909 ge-
kommen, der die Rektor- und Dekanwahl durch die Universitäten festsetzte
und die Disziplinarinspektoren ihnen subordinierte. Das vom Minister
Schwartz in der Duma eingebrachte allgemeine Universitätsstatut wurde
von seinem Nachfolger Kasso wieder zurückgezogen und erst im Weltkrieg
von Kassos Nachfolger, Grafen Jgnatiew, wieder hervorgeholt.
L. A. Kasso, Herbst 1910 zum Minister ernannt, hielt die Versuche
für mißlungen, die Universitätsbewegung durch freiheitliche Zugeständnisse
zum Stillstand zu bringen, und hat daher die im Jahre 1905 gemachten
Konzessionen wieder zurückgenommen. Er hat die äußere Ordnung wieder-
hergestellt und auch energisch versucht, die gefährlichste Lücke auszufüllen,
die den Universitätsunterricht lahmzulegen-drohte. Denn die studentische
Bewegung konnte nicht immer andauern; allmählich kamen die Elemente
in ihr doch wieder hoch, die eine Versorgung wollten und nach dem
Examen strebten. Aber der Zwiespalt zwischen dem Staate und seinen
Universitäten hatte zu einer schreckenerregendcn Verwaisung der Universi-
tätskatheder geführt, indem die Professoren in zahlreichen Konflikten mit
der Regierung aus ihren Stellungen ausgeschieden waren. Kasso hat
versucht, diese Lücken mit Stipendiaten, die er zur Ausbildung ins Aus-
land sandte, auszufüllen, die freilich dann von ihren Kollegen als
Regierungskreaturen betrachtet wurden.
Die Duma hat sich mit dem Hochschulwesen zwar vielfach beschäftigt,
aber zu grundlegenden Maßnahmen haben ihre Klagen an keiner Stelle
geführt. Unbefriedigend ist die Lage des Hochschulwesens in jeder
Beziehung geblieben; die auf Grund des Oktobermanifestes erhobenen
liberalen Forderungen: Reorganisation des Volksausklärungsministeriums,
Wiederherstellung und Erweiterung der Autonomie der höheren Lehran-
Die geistige Welt.
267
stalten, Unterstützung der studentischen Genossenschaftsbewegung waren
nicht einmal in Ansätzen erfüllt.
Das gleiche galt von der Mittelschulbildung. Rußland zählte am
1. Januar 1910:
Gymnasien n. dal. Schüler *) Real- schulen Schüler
In den 50 europ. Gouvernements. 957 289 694 178 46 642
In Polen 53 17 307 4 1049
In Finnland 66 14 371 35 3 343
Im gesamten Reich 1218 366 164*) 248 58 454
Das ganze Reich hatte also bei einer Bevölkerung von rund 165
Millionen rund 1500 höhere Schulen mit 424 000 Schülern, von denen
drei Fünftel dem weiblichen Geschlecht angehörten. Dazu müssen von den
zahlreichen Spezialschulen mindestens noch gerechnet werden, — wobei
leider mittlere und Elementarschulen zusammengenommen sind, — die
Schulen für Militär und Marine (69 mit 13 432 Schülern), die acht-
klassigen sogenannten Kommerzschulen (178; 40165) und die Privat-
und Kirchenschulen der Kirchen „fremder Konfessionen" (d. h. in erster
Linie der deutsch-evangelischen): 2987 mit 169 229 Schülern.
Das Verhältnis von Gymnasien und Realschulen zeigt, daß in der
Mittelschulbildung der klassizistische Lehrbetrieb noch vorherrscht. Zwar
ist das System des Grafen D. Tolstoi, das 1871 in der Hauptsache das
preußische humanistische Gymnasium übernahm, daneben aber viel mehr in
Mathematik und Naturwissenschaften forderte, so daß Schüler und Lehrer
überbürdet wurden, nicht mehr ganz aufrechterhalten. Denn man hat seit
Anfang der 90er Jahre die klassischen Sprachen eingeschränkt, und heute
ist bereits das Griechische fakultativ. Sonst ist aber am alten System
des Mittelschulwesens nicht viel geändert worden. Auch in ihm hat die
polizeiliche Überwachung und die Reglementiersucht, die im Lehrer vor
y Männliche und weibliche zusammen. In den Realschulen des europäischen
Rußlands gab es keine weiblichen Schüler, dagegen standen den
81954 Gymnasiasten nicht weniger als 204610 Gymnasiastinnen, die die zahl-
reichen besonderen Mädchenghmnasien besuchen, gegenüber. — 1913 gab es
301 Knabenghmnasien, 14 Progymnasien, 194 Realschulen, 788 Mädchengymnasien
und -Progymnasien.
s) Davon 118930 männlich, 246795 weiblich.
268
Vin. Kapitel.
allem den Staatsbeamten und im Schüler den heranzubildenden Staats-
beamten sah, verderblich auf den Geist der Gymnasien eingewirkt. Diese
Auffassung vom Mittelschulwesen hat natürlich auch auf Art und Auf-
fassung der Lehrer von ihrem Berufe ihre Wirkung gehabt, so daß die
erziehliche Leistung der höheren Schulen erschreckend gering ist. Sie hat
unglaublich erscheinende Ausschreitungen und Symptome einer furcht-
baren Verwilderung an vielen Stellen nicht verhindern können.
Die neue Zeit hat am höheren Schulwesen wenig zu bessern
vermocht. Das Gesetz vom 23. Mai 1912 hat eine großzügige Reform
der Gehälter für das Lehrpersonal an den Knabenmittelschulen ge-
bracht, und in der Gleichstellung von männlichen und weiblichen Lehr-
kräften auch in diesem besonderen Punkte die allgemeine charakteristische
und eigenartig radikale Auffassung der Frauenfrage in Rußland durch-
gesetzt. Sonst sind die Arbeiten ohne Ergebnis geblieben. In diesen Erörte-
rungen klang übrigens auch die Schulreform nach dem preußischen Vorbild
an. Man diskutierte, in den Berechtigungen die Schüler verschiedener Lehr-
anstalten den Gymnasiasten gleichzustellen, man erörterte vor allem den
Wert und die weitere Pflege der klassischen Bildung, und da zeigte sich,
daß im ganzen die Stimmung der Gesellschaft realistisch, antiklassisch ist.
Diese Abneigung der Gesellschaft hat ihren Grund m den Nachteilen des
alten mechan'sch-bureaukratischen Tolstoischen Regimes, noch mehr in einer
realistischen Anschauungsweise überhaupt und darin, daß das humanistische
Gymnasium hier nicht aus der russischen Kultur erwachsen ist, wie aus
der westeuropäischen.
Dringlicher als alles dieses aber war die Reform des Volksschul-
wesens. Die Ergänzung der Reformen Alexanders II. auf dem Gebiete
der Schule war nicht vollständig geglückt: Rußland erhielt die allgemeine
Schulpflicht nicht und hat bis heute noch keinen Schulzwang. Daher ist
auch der Prozentsatz der Analphabeten ungeheuer groß geblieben, statistisch
wohl nicht exakt zu fassen, aber aus das ganze Reich berechnet, sicher er-
heblich über 80 %, im europäischen Teile 77 %1).
Das moderne russische Volksschulwesen ist in der Reformzeit ent-
standen. Vorher gab es nur rund 4000 Elementarschulen im ganzen
Reich, beim Tode Alexanders II. waren es schon fast 23 000 mit 1140 000
y Am niedrigsten ist dieser Satz in den Ostseeprovinzen und in Finnland.
Die geistige Welt.
269
Schülern geworden. Ihr Grundstatut stammt auch vom Grafen D. Tolstoi
(1874) und gilt heute noch. Das Anwachsen der Zahlen war besonders
ein Werk der Semstwos, die selbst zahlreiche Schulen gründeten. Aus
Mißtrauen gegen sie schuf Pobjedonoszew die besonderen Kirchengemeinde-
schulen, die nicht unter dem Ministerium der Volksaufklärung, sondern
unter dem Allerheiligsten Synod stehen (Statut von 1884 und Nachtrag
von 1891). Am Ende der Regierung Alexanders III. gab es so 34 000
Schulen mit 2 970 000 Schülern, wobei die in den 80er Jahren
entstandenen technischen Schulen, die von den Ministerien der Landwirt-
schaft und Industrie ressortieren, eingerechnet sind. Am 1. Januar 1910
gab es im europäischen Rußland (47 Gouvernements): 75 365 Schulen
mit 4 873 843 Schülern, in den Ostseeprovinzen 3090 (170 282), in
Polen 3415 (284 363), in Finnland 4485 (203 365), im gesamten euro-
päischen Rußland (ohne den Kaukasus) 88 852 (5 707 428), im ganzen
Reich 97 838 Schulen mit 6 159 376 Schülern beiderlei Geschlechts und
154117 Lehrern und Lehrerinnen. In den 50 europäischen Gouverne-
ments (ohne die Städte Petersburg und Kronstadt) kamen 51,3 Schüler
auf 1000 Einwohner, im ganzen Reich (ohne Petersburg, Kronstadt, das
Gouv. Warschau, Stadt Baku, Gouv. Tiflis und Kamtschatka, — 159
Millionen) 47,6 Schüler. Im Petersburger Lehrbezirk (Gouv. Peters-
burg, Archangelsk, Wologda, Pskow, Nowgorod und Olonez) — dem
einzigen, für den das Material der 1911 vom Ministerium der Volks-
aufklärung veranstalteten eintägigen Schulzählung schon verarbeitet vor-
liegt — betrug das Schulnetz*) im Jahre:
1880: Schulen 1598 mit 1628 Lehrern und 62 000 Zöglingen
1894: „ 2717 „ 3175 „ „ 122 000
1911: „ 7041 „ 8961 „ „ 306 000
Im Durchschnitt sind jährlich Schulen eröffnet worden: von
1890—95: 194, 1896—1900: 276, 1901—06: 228, und 1906—10:
397 Schulen. In den letzten fünf Jahren hat also die Arbeit an der Volks-
schulbildung einen merklichen Aufschwung genommen. Dabei ist charakte-
ristisch, daß relativ immer mehr Semstwoschulen gegründet wurden. An
Kirchengemeindeschulen sind eröffnet worden: 128, 128, 61, 30; an
Semstwoschulen ab?-: 51, 135, 252, 346. Immerhin sind Ministerium
*) Es handelt sich um ein Gebiet von 1A Mill. qkm, das Dreifache des
Deutschen Reiches. — Das ganze Reich zerfällt in 16 Lehrbezirke.
270
VIII. Kapitel.
der Volksaufklärung, unter dessen Aufsicht auch die Semstwoschulen stehen,
und Allerheiligster Synod am Schulwesen ungefähr gleich beteiligt, letzterer
ersterem an Zahl der Schulen, ersteres letzterem an Zahl der Schüler
— und zwar beinahe um das Doppelte — überlegen; die Staats- und
Semstwoschulen sind also größer als die Kirchenschulen.
Dem Schulwesen hat sich die Duma mit großer Energie und Liebe
zugewendet. Das Ziel war gestellt: „durch gemeinsame Arbeit von
Regierung und Gesellschaft einen jedermann zugänglichen, in Zukunft
auch obligatorischen Elementarunterricht für die gesamte Bevölkerung des
Reiches zu schassen". (Programm Stolypins.) Aber diesem gewaltigen
Ziele ist man nicht nahe gekommen. Soweit es mit Geld zu machen war,
hat man freilich nicht gekargt: von 1802 bis 1905 sind die Ausgaben für
die Schulen, Budget des Volksaufklärungsministeriums, auf jährlich 85
Millionen Rubel, von 1907—1914 auf 169/4 Million Rubel gestiegen.
Aber die Arbeit um ein Schulgesetz ist nicht von Erfolg gekrönt gewesen.
Zwar hat die Duma zwei große Volksschulgesetze zustande gebracht,
ein Finanz- und ein Organisationsgesetz. Die Fragen, die da umstritten
wurden, zeigten abermals die gewaltigen Schwierigkeiten jeder tiefer-
greifenden Reform. Zunächst das Prinzip. Gegen den Schulzwang war die
äußerste Rechte. Er wurde aber angenommen und sollte durch die Semstwos
oder die Städte ausgesprochen werden. Das hieß, dem Geiste der Duma
gemäß, die Weiterführung der Schulreform auf die Selbstverwaltungs-
organe übertragen, die dafür auch die Opfer bringen sollten, ohne diese
Last allein tragen zu können. Die Duma wollte auch die Synodschulen
grundsätzlich unter das Gesetz stellen, also sie ihres konfessionellen Charakters
entkleiden, und im ganzen das Schulwesen vereinheitlichen. Ihr Ideal
war die konfessionslose einheitliche Selbstverwaltungsschule. Wenn die
Selbstverwaltung in der Hauptsache die Reform durchführen sollte, so
mußte ihr auch ein Einfluß auf die Leitung eingeräumt sein: der Minister
wollte, daß der Adelsmarschall Vorsitzender des Schulrats würde, während
die Duma beschloß, daß die Direktoren und Inspektoren den Vorsitz führen
sollten. Da aber die Selbstverwaltung nicht die Kosten tragen konnte,
hing das Gelingen des Ganzen von der Frage ab, wie die Mittel bereit-
zustellen wären. Dafür beschloß man nun einen großzügigen Plan.
Auch die begeistertsten Anhänger einer obligatorischen Volksschule
waren sich darüber klar, daß die Durchführung Zeit beanspruchen würde.
Die geistige Welt.
271
Deshalb nahm man die Einführung des obligatorischen Elementar-Schul-
unterrichts binnen eines Jahrzehnts in Aussicht und bewilligte auf diese
Zeit dem Ministerium für Volksaufklärung einen 100-Millionensonds
im voraus in der Weise, daß jährlich innerhalb der nächsten 10 Jahre
10 lA Millionen Rubel mehr als das Jahr vorher für den Volksschul-
etat aufgewendet werden sollten.
Am allerschwierigsten aber war die Frage der Unterrichtssprache.
Das Problem der national gemischten Zusammensetzung der Reichs-
bevölkerung, das bei so vielen Reformen Rußlands auftritt, verlangte
hier unbedingt eine Lösung. Und an diesem Punkte stießen die grund-
sätzlichen Anschauungen ans das schärfste aufeinander. Die liberale Ansicht
wies darauf hin, daß der Staat nicht einmal für seine eigenen, von
russischen Kindern besetzten Volksschulen genügend Lehrkräfte habe,
wenigstens nicht Lehrer, auf die er sich verlassen könne. Die Revolution
hatte ja gerade eine starke Beteiligung der Lehrer an den Unruhen gezeigt,
ganz besonders in den nichtrussischen Gegenden, in die die Russisizierung
russische Lehrer hereingebracht hatte. Besonderen Eindruck machte es, daß
die bis dahin ganz ruhig gebliebenen Millionen Mohammedaner einhellig
gegen die russische Unterrichtssprache petitionierten. Andererseits wollte
der Minister die russische Sprache im Prinzip unbedingt als Unterrichts-
sprache haben. Je mehr sich die Verhandlungen darum in die Länge zogen,
um so mehr machte sich auch hier geltend, wie die Oktrobisten dem Natio-
nalismus der Rechten näher kamen. Man einigte sich schließlich aus ein
Kompromiß: die Muttersprache in den unteren, das Russische in den oberen
Klassen Unterrichtssprache, aber das Russische Gegenstand des Sprach-
unterrichts von Anfang an. Im ganzen kam so das Gesetz in der Duma
zustande, — auch mit der Bestimmung, daß Unterricht und Lehrmittel un-
entgeltlich sein sollten, eine Bestimmung, die notwendig war und für die
die bisherige Praxis der Semstwoschulen vorlag.
Der Reichsrat nahm die Vorlage auch im Februar 1912 an, aber
mit einer grundlegenden Änderung. Er lehnte ein einheitliches Volksschul-
gesetz ab und ließ, beeinflußt vom Oberprokuror des Synods, Sabler,
die Synodschulen bestehen: von den jährlich auszugebenden 10 A Millionen
Rubel sollten VA Millionen den Synodschulen zugewiesen werden.
Daran scheiterte das ganze Gesetz. Da die Duma bei ihrem Standpunkt
blieb, lehnte der Reichsrat das Finanzgesetz ab, weshalb auch das Organi-
272
VHI Kapitel.
sationsgesetz, in dem der Reichsrat die russische Unterrichtssprache noch
erheblicher stärker festgelegt hatte, als die Duma, unerledigt blieb. Damit
war das großartige Reformprojekt auf unabsehbare Zeit vertagt.
III. Presse und Literatur.
Das russische Leben steht zwischen 1904 und 1914 so ausschließlich
unter dem Zeichen wirtschaftlicher und politischer Probleme, daß die geistige
Kultur nur skizziert zu werden braucht.
Der äußere Fortschritt des geistigen Lebens ist rasch bezeichnet: seit
1908 kann es freier atmen. Obwohl Presse, Forschung und Literatur von
der Willkür der Verwaltung und Polizei noch sehr abhängig blieben und
unter den Beschränkungen der Ausnahmezustände leiden, so sind sie doch
heute unvergleichlich freier als vorher. Denn im großen und ganzen ist
die Zensur beseitigt, wenn auch die Meinungsäußerung in politischen
Dingen nicht so frei blieb wie 1905 und 1906. Wenn trotzdem viele
von den damals rasch emporgeschossenen Zeitungen und Zeitschriften wieder
verschwunden sind, so hatte das weniger seinen Grund in dem Drücke der
Zensur, als in der Unfertigkeit des politischen Lebens, das eine so große
Anzahl von Zeitungen materiell nicht zu tragen vermochte. Die Zeitungeil,
die sich halten konnten (1912 erschienen 1139 Zeitungen im ganzen Reiche),
führen trotz aller Beschränkungen eine Sprache, über deren Freiheit man
oft staunt.
Von der Breite der literarischen Produktion geben folgende Zahlen
eine Vorstellung. 1908 erschienen 23 852, 1912: 34 630 gedruckte
Bücher, davon in russischer Sprache 27 399, in kleinrussischer 244,
die übrigen in nicht weniger als 43 anderen Sprachen des Reiches. Dazu
kommt der wenig behinderte Buchimport aus dem Auslande, der Gutes
und Schlechtes, vor allem das letztere, in breitestem Strom nach Rußland
hereinführt.
Diese Freiheit kam der schönen Literatur zugute, hat sie zugleich aber
auch zurückgedrängt. Die Rolle eines politischen und sozialen Führers, die
der russische Dichter im 19. Jahrhundert spielte, kann und braucht er im
20. Jahrhundert nicht weiter zu spielen, weil die Freiheit politischer
Meinungsäußerung erkämpft ist und andere Organe und Arenen dafür
da sind als das Theater oder der Roman. Darum aber hat die schöne
Die geistige Welt.
273
Literatur dieses Jahrzehnts keineswegs den alten Charakter abgestreift:
mit geringen Ausnahmen ist sie auch heute noch nicht Selbstzweck ge-
worden, sondern mittelbar oder unmittelbar Tendenzliteratur geblieben*).
Dostojewski und Tolstoi klingen in die Revolution, die sie so stark vor-
bereitet hatten, noch herein. Unmittelbar an ihrer Schwelle steht dann,
die alten Zustände noch einmal voll beleuchtend, Anton Tschechow (1860
bis 1904). In seinen Skizzen und Theaterstücken tritt mit wunderbarer
Anschaulichkeit das Rußland vor 1904 vor den Leser: grau in grau,
trostlos traurig und eintönig, ein Leben, das vor allem den Intellektuellen
— dessen Welt namentlich schildert Tschechow — mit einer schrecklichen
Sicherheit und todbringenden Langeweile in den Sumpf herabzieht. Der
aus der Literatur des früheren 19. Jahrhunderts bekannte, alles zer-
setzende Pessimismus erscheint hier noch einmal, unüberbietbar gesteigert
und verfeinert, eine Verzweiflung, die nicht den Mut der Verzweiflung hat,
eine Willensschwäche, die weiß, daß sie schwach ist, der Hinweis auf eine
schöne Zukunft, über die viel geredet wird und für die niemand den Finger
rührt. Denn „Menschen tun nichts als essen, trinken und sterben", heißt
es bei ihm. Aber auch er, der „Poet des Zwielichts", der Trostlosigkeit
und Müdigkeit und Schwäche, glaubt: „Unser Rußland ist reich mit
aller Verschiedenheit des Lebens; wir sind sicher am Vorabend von etwas
Großem."
Von hier aus charakterisieren drei Richtungen das geistige Leben seit
1905. Zuerst die, die über Tschechow hinausging, weil ihre Träger
willenskräftiger waren, und die vor allem durch Maxim Gorki verkörpert
wird. In Gorki (1868 geboren), der sich mit Absicht der „Bittere"
nannte — denn sein richtiger Name ist Pjeschkow —, kommt weniger der
Poet als der Revolutionär zu Wort, die Stimmung, daß sich so nicht
weiterleben lasse, der Protest gegen das Bestehende. Gorki hat sich
schließlich zur Revolution bekannt und wurde so für die Politik wichtiger
als für die Dichtkunst. In ihm tritt jener Zug der Revolution ganz
besonders hervor, daß sie nur durch die Verbindung von Intelligenz und
Arbeiterschaft möglich wurde. Es ist kein Zufall, daß einer seiner wichtigsten
Romane („Die Mutter") ein ausgesprochener Arbeiterroman ist, der das
st Von ihr ist soviel in Deutschland übersetzt und bekannt geworden, daß
Angaben einzelner Werke hier überflüssig sind.
Hoetzsch, Rußland.
19
274
VIII. Kapitel.
Ringen der Arbeiterschaft nach Oben und um Einfluß auf das Staats-
leben darstellt. Dagegen ist es belanglos, wenn sich der Revolutionär
Gorki mit besonderer Vorliebe den außerhalb der Gesellschaft Stehenden
zuwandte, wenn er, der sich lange selbst als solcher herumgetrieben hatte,
den Landstreicher schildert oder (wie im „Nachtasyl") eine wüste Gesellschaft
von Verkommenen darstellt. Das sind Schilderungen des fünften Standes,
wie sie manche Dosto;ewsktschen Romane schon gaben, die dem Dichter
zwar eine große Popularität eingebracht haben, aber für die Erkenntnis
des russischen Lebens von heute wertlos sind.
Der Verlauf der Revolution zeigte, daß sie zu ihrem letzten ersehnten
Ende nicht kommen würde, und in zwei weiteren Richtungen der Literatur
spiegelt sich dieser Rückschlag wieder. Einmal in der Dekadenz, die durch
Namen wie Sollogub, Arzybaschew, Andrejew vornehmlich bezeichnet ist.
Bei ihnen entlud sich die ungeheure Spannung der Revolutionsbewegung,
da diese den bestehenden Staat doch nicht, wie sie geträumt hatte, stürzen
konnte, in der Abwendung von Staat und Politik, Arbeit und Kamps und
in der Betonung des Sinnenlebens. Das Gefühl, daß gegen die bestehenden
Gewalten doch nicht anzukämpfen und daß es darum besser sei, sich den
Kopf mit all diesen Problemen nicht zu zerbrechen, sondern im Sinnen-
genuß einen, wenn auch kurzen, Glückstraum zu finden, gewinnt hier
wieder die Oberhand. Die Zügellosigkeit der unruhigen Jahre kam noch
dazu, so daß diese Richtung, die die alte Fähigkeit psychologischer Analyse bis
zur äußersten Virtuosität gesteigert hat, außerordentlich korrumpierend
wirkte.
Noch begreiflicher aber war, daß die Spannung der Revolutionsjahre
wieder in Ermattung und Lethargie umschlug, in eine Müdigkeit, die zwar
davon redete, wie es Tschechows Helden tun, daß man arbeiten und vor-
ankommen müsse, aber stets wie diese, wenn es zu spät ist. Und so lenkte
die schöne Literatur leicht wieder in die Bahn der reinen Belletristik ein, die
sich von allen ernsten Problemen fernhält.
In dieser ganzen Literatur fehlt es an großen Werken und zentralen
Figuren, wie an Ideen und an ethischer Kraft. Sie bietet nicht viel mehr
als ein Trümmerfeld von einer niederdrückenden Trostlosigkeit dar. Es
scheint auch, als habe sich der Realismus in ihr völlig ausgegeben, und
niemand vermag zu sagen, ob die Anfänge eines Symbolismus stark reli-
giösen Charakters, den Bugajew (geb. 1880) vertritt — er schreibt
Die geistige Welt.
275
unter dem Namen Andrej Bjely (der Weiße); sein wichtigstes Werk ist der
Roman: „Die silberne Taube" — mehr als Ansätze zu sein vermögen.
Sie gehen aber in derselben Richtung wie jene Ansätze zu einer Erneuerung
der Kirche und sühren tief herein in das Innerste der russischen Seele.
IV. Die russische Seele.
In einfaches Volk, oppositionelle Intelligenz und offizielles Rußland
zerfallen auch heute noch die Untertanen des Zaren. Wer sie rasch über-
blickt, glaubt drei grundverschiedene Welten zu sehen, die durch Abgründe
des Nichtverstehens voneinander getrennt sind. So scharf aber der alte
Unterschied zwischen früherem Seelenbesitzer und Tschinownik einer-
seits und dem frühereren Leibeigenen andererseits noch ist, oder der neue
zwischen europäisch gebildeter Intelligenz und geistig von ihr nicht
beeinflußter ungebildeter Masse, die seelische Distanz ist trotz alledem durch
das ganze russische Volk hindurch (natürlich mit Ausnahme der Grenz-
markenbewohner und der Fremdstämmigen) gar nicht so groß. Dem
geistigen Wesen der Gebildeten fehlt die Antikes, Aristoteles sowohl wie das
eorpus juris und die Renaissance, fehlen die Reformation und Kant.
Darum blieb auch für die Gebildeten zumeist stärker als alle Europäi-
sierung das sie mit dem ungebildeten und niedrigsten Einende: „ich bin ein
russischer Mensch" und die „breite russische Natur".
Nochmals sei an das Erbteil erinnert, das aus Natur und Geschichte
auf der russischen Seele lastet und sie bindet. Trotzdem hat sie sich eine
große innere Freiheit gewahrt und gerade im einfachen Menschen, im
Bauern, den deshalb die großen Dichter idealisierten, ja vergötterten und
dem sich deshalb auch das europäisch gebildete Mitglied der Intelligenz
heute noch innerlich verwandter fühlt, als irgend einem westlichen Euro-
päer. Das Wesen aber dieser russischen Seele ist Gefühl, Phantasie, In-
tuition, Reizbarkeit, Erlebnis, Religion. Bändigung und Lenkung durch
Willen und Maß fehlt ihr, Schranken vermag sie sich nicht zu setzen. Das
seelische Leben zerfließt, ermüdet leicht, ist widerstandslos und sorglos,
schwankt zwischen den Extremen, ja Exzessen. Es verfügt über die passiven
st Die Kirche hat ja mit der byzantinischen Theologie nur die spätantike
Erlösungsmystik hereingebracht.
18*
276
vm. Kapitel.
Tugenden in hohem Maße, über eine schier unbegrenzte Fähigkeit, zu leiden,
die den Tod nicht als Schrecken betrachtet. Wie selbstverständlich stirbt der
Bauer, ohne jede Pose und Klage, in einem Seelenzustand, in dem Stumpf-
heit und erhabene Ergebung still ineinander übergehen. Auch Sklaverei und
Leibeigenschaft haben seine Menschenliebe nicht erdrücken können. Jeder
Mensch gilt von Haus aus für gut, und über seinesgleichen zu herrschen,
wird darum als Sünde empfunden. Eine naturwüchsige sittliche Anlage hat
sich dies Volk trotz seiner Geschichte gewahrt, aber zu aktivem sittlichen
Willen wird sie nicht. Mit erstaunlichem Wirklichkeitssinn wird die Um-
welt betrachtet, freilich nicht gemeistert, aber hinter ihr wird immer das
transzendentale gesehen und empfunden. Der religiöse Mystizismus ist in
diesem Seelenleben schließlich doch das wichtigste, alles überwuchernde Ele-
ment, dessen Tiefe wie Zügellosigkeit, Passivität wie Unklarheit wohl im
letzten Grunde das ist, was der germanische Geist am russischen Wesen als
fremd empfindet.
Mit diesen Elementen des Seelenlebens eine Weltanschauung und eine
klare Anschauung vom eigenen Kulturberuf und Kulturwert aufzubauen
hat die geistige Kraft des Russentums bisher noch nicht vermocht. Bei
allem Reichtum und allem Ringen, die sein bewußtes, geistiges Leben
seit Beginn des 19. Jahrhunderts erfüllen^), ist auch dieses mehr Glaube
als Denken geblieben, unhistorisch, doktrinär, unkritisch, abstrakt moralisch,
praktisch-ethisch und doch ethisch erschlaffend. Religion, Philosophie, Politik,
Naturwissenschaft gehen durcheinander, die Schule der Erkenntnistheorie
und des Kritizismus fehlt. Auch Wladimir Solowjew (1853—1900),
der Sohn des Historikers und bis heute Rußlands größter Philosoph,
hat ihm das mit seinem Versuche, Kant und den Mystizismus zu ver-
binden, nicht zu geben vermocht. Er hat ehrlich versucht, eine eigene Welt-
anschauung zu finden, und wirkt darin auf das stärkste auf die Gesellschaft,
die er auf die Weltanschauungsfragen in der Gegenwart wie kaum ein
anderer außer Dostojewski und Tolstoi hingewiesen hat. Einen neuen
Beitrag zum Kulturgut der Menschheit hat er aber schwerlich damit ge-
leistet, und auch die bescheidenere Aufgabe, seinem Volk eine Philosophie
zu geben, doch erst in Anfängen gelöst. Diese tragen aber, wie — höchstens
mit Ausnahme Tolstois — eigentlich alle Versuche dieser Art in Rußland
M 2)ag davon Masarhks Buch dcm nicht russisch verstehenden eine greifbare
Vorstellung gibt, darin liegt sein wesentlichstes Verdienst.
Die geistige Welt.
277
bisher die Bedingtheit ihrer Umwelt sehr stark an sich. Sie wollen doch
zumeist, wenn sie die Synthese von Menschheit und Gottheit anstreben, be-
wußt oder unbewußt die der russischen Menschheit. M. a. W. sie alle stecken
noch zu tief in der Slawophilie oder in der Frage, wozu das russische
Volk da sei und worin seine Kulturidee liege. Im Umsehen sind sie bei
der Antithese des ungläubigen Europas und des gläubigen Rußlands an-
gelangt. Das vollzieht sich in der Form des älteren religiös-ethischen
Slawophilismus Kirjejewskis und Chomjakows, oder in der messianischen
Theorie Dostojewskis von den drei Weltreichen (nach Rom und den Ger-
manen nun das heilige Rußland) oder in N. I. Danilewskis rassenver-
klärendem slawischen Kulturtypus oder in Solowjews Rechtfertigung der
Theokratie und Warnung vor dem Pan-Mongolismus. Der Druck des
Expansionsstaats, der Rußland heute noch ist, ist so stark, das Gefühl der
geistigen Selbständigkeit gegen Europa noch so unsicher, daß sich auch die
höchste Spekulation nicht von einer Mischung von überirdischem Gott-
suchen und sehr irdischem russischen Weltmachtdünkel frei zu machen im-
stande ist. So ist fast immer im Durchschnittsrussen der Bildungsschicht
von heute, der sich um eine Weltanschaung bemüht, doch mehr vom Geistes-
gehalte N. I. Danilewskis als Wl. Solowjews.
Danilewskis (1885 f) Buch „Rußland und Europa" — zuerst er-
schienen 18691) — enthält eine Geschichts- und Kulturph losophie Rußlands,
die nicht nur für den Panslawismus wichtig ist. Vielleicht ist dieses gar
nicht sehr originelle Buch der beste Ausdruck der russischen Empfindung
auch heute: Westeuropa gleich und ebenso reif sein zu wollen und zu ihm
zu gehören, ihm aber doch nicht gleich und nicht ebenso kulturell reif zu
sein und deshalb irgendwie einen grundsätzlichen Unterschied gegen es auf-
stellen zu müssen. Erst in diesen Anschauungen ist das Werk Peters des
Großen zum vollen Bewußtsein der Bildungsschicht gekommen und der
Widerspruch, den es auslöste und begründete. Daher ist es kein Wunder,
daß diese Zentralfrage die Denkkraft immer noch in Atem hält, auch in
Geistern, wie der Kadettenpartei, die glauben, schon weit über sie hinaus
zu sein.
So konstruiert Danilewski neben den ägyptischen, chinesischen,
assyrischen, germanisch-iranischen u. a. Kulturtypen auf nationaler
*) 4. Anst. Petersburg 1889.
278
VIII. Kapitel.
Grundlage, durch die allein die Entwicklung der Menschheit gehe, einen
slawischen Kulturtypus: „Für jeden Slawen muß nach Gott und seiner
heiligen Kirche die Idee des Slawentums höher als die höchste Idee, höher
als die Freiheit, die Wissenschaft, die Bildung, als jedes irdische Glück
stehen"^). „Der Hauptstrom der Weltgeschichte beginnt mit zwei Quellen
an den Ufern des Nils. Die eine, die himmlische, göttliche, über Jerusalem
und Konstantinopel erreicht in ungetrübter Reinheit Kiew und Moskau.
Die andere, die irdische, menschliche teilt sich wieder in zwei Arme, die
Kultur und die Politik und geht vorbei an Athen, Alexandria, Rom und von
da in die Länder Europas, manchmal vertrocknend, aber wieder sich mit
neuem Wasser füllend. Aus den breiten Ebenen des Slawentums müssen
sich alle diese Ströme in ein breites Bett ergießen^)." Diese Gedanken sind
nicht nur anmaßender historisch-politischer Hochmut, durch sie schimmert
auch der urwüchsige religiöse Mystizismus der naiven russischen Seele, die
im „heiligen Rußland" Vaterland und Religion identifiziert, wie die
Reflexion, daß Rußland zu Europa gehöre, aber zu ihm das rechte Ver-
hältnis ebensowenig schon gewonnen habe, wie dieses zu ihm, und das
heiße Verlangen, eine Kulturmission zu erfüllen, die man doch noch nicht
präzisieren kann. Die einen ziehen daraus den Schluß, ihr Land müsse
sich politisch und materiell, geistig und ethisch Westeuropa angleichen, die
anderen nehmen daraus die gedanklichen Waffen für den innerpolitischen
Nationalismus, den offensiven Panslawismus und die schrankenlose poli-
tische Expansion, die dritten fundieren darauf das Programm der inner-
politischen Reaktion, die vierten die Forderung der religiösen Vertiefung,
der Ausgestaltung des russischen Glaubensideals usf. Für alle aber bilden
diese Gedanken oder Gefühle einen Teil ihrer Weltanschauung, der in den
unfertigen und aufgewühlten Verhältnissen zwischen 1904 und 1914 und
mit der zunehmenden Spannung der Weltlage immer bedeutungsvoller
wurde. Er erklärt zu einem ganzen Teile, warum im Weltkriege auch
die Schichten zu ihrem Staate standen, die sich 1904 über seine Nieder-
lagen freuten und ihn 1905 zerschlagen wollten. Das Ringen um eine
selbständige Weltansicht ist in Rußland viel stärker und tiefer, als in den
sonst zum Vergleich mit ihm auffordernden Vereinigten Staaten. Aber die
9 S. 133.
9 Schluß.
Die geistige Welt.
279
seelische Anlage des Volkes, seine Geschichte und seine Gegenwartsaufgaben
haben diese geistigen Kämpfe bisher in voller Abhängigkeit von den kon-
kreten Bedingungen der Umwelt gehalten. Sie haben noch nicht einmal
diese überwunden und daher auch, so hoch sich der Flügelschlag des Denkens
in manchem russischen Geiste erhob, weder die eigene Kulturidee festgestellt,
noch der Menschheit einen wirklichen Beitrag zum Kamps um die
Weltanschauung geliefert. Sie bleiben noch zu sehr an dem irdischen Boden
des russischen Machtstaates haften.
IX. Kapitel.
Der Machtstaat.
I. Wesen, Richtungen und Träger der Machtpolitik.
Das Wesen der russischen Machtpolitik wurde, indem zunächst alle
ideologische Verkleidung abgestreift und der Hintergrund großer, die Real-
politik beeinflußender Jdeew) ignoriert wird, schon bezeichnet^). Der im
Herzen eines Kontinents neu entstehende Staat suchte Landgrenzen und
Häfen. Die erstere Tendenz formulierte die berühmte Zirkulardepcsche
Gortschakows vom 16. November 1864 am besten, deren Sinn auf die
ganze russische Expansion, auch die in der Vergangenheit und gegen
Europa, angewandt werden kann: „Der Prozeß der Eroberung muß hier
(gegen Asien) fortgehen, bis die siegreiche Macht ihre Grenzen vorge-
schoben hat bis zu denen eines Staates, der Bürgschaften für die Auf-
rechterhaltung der Ordnung in sich bieten kann." Diese Sätze begründen,
ohne es zu wollen, gleich gut den geographischen Zwang dieser binnen-
ländischen Expansion wie ihre unberechtigte Überspannung. Eine Grenze
setzt ihr danach nur ein geordneter Staat, d. h. die sich ihr entgegenstellende,
mit allen modernen Mitteln gewappnete Macht, die sie unüberwindlich
aufhält. Objektiv urteilen zu wollen, wo sonst die Grenze zu ziehen sei,
an der die berechtigten Ansprüche aufhören und diese Politik abenteuerlich,
uferlos und sinnlos wird, ist kaum möglich. Witte hat gesagt, daß „dieses
unermeßliche Rußland vor allem jetzt an seinem Umfange krankt" und
Fürst Gregor Trubezkoi schreibt: „Der ungeheure territoriale Umfang
Rußlands schließt den Wunsch nach jedem weiteren Landzuwachs aus, der
den ohnehin ungefügen Staatsapparat nur noch komplizierter gestalten
würde." Diese Ausdehnung hat ja auch zu einem Umfang geführt, den
^ Darüber s. Kap. 12.
*) S. oben 5. 13. 24. 26 f.
Der Machtstaol.
281
längere Zeit zusammenzuhalten in der Vergangenheit nur kriegerischen
Barbarenstaaten gelungen ist und der für zentrifugale Tendenzen gefährlich
groß ist. Andererseits aber spricht Dostojewski von dem „großen Schiss,
das ein tiefes Fahrwasser braucht" und ermöglichen die modernen Mittel
der Technik und des Verkehrs, Staatenkomplexe von großer Ausdehnung
und Heterogenität ihrer Teile zusammenzuhalten, ja zu verschmelzen.
Dem Expansionsdrang des fremden Staates kann daher der objektive Be-
schauer das Urteil nur mit dem Machtinteresse seines eigenen Staates
sprechen und die Grenze ziehen.
Mit der Expansion an sich stand für Rußland von Anbeginn an
in untrennbarer Verbindung der Drang nach dem Meere, nach der Ver-
längerung seiner allzuschmalen oder nicht brauchbaren Küsten, nach eisfrei
bleibenden Häfen. Beides scheint in Widerspruch mit einander zu
stehen in einem Staate von dieser Ausdehnung und diesen Hilfsquellen,
der so, wenn einer, nach der wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit streben
könnte und deshalb auf Häsen und Weltverkehrsmöglichkeiten weniger
Wert zu legen brauchte. Vielleicht kann man sagen, daß eine vier-
gleisige Bahn durch Sibirien für Rußland wichtiger sei, als der
Besitz der Dardanellen: „die Hauptaufgabe der sibirischen Bahn liegt
darin, Rußland zum sich selbstgenügcnden Staat zu machen, für den
weder die Dardanellen noch Suez mehr eine Rolle spielen werden, und
ihm wirtschaftliche Selbständigkeit zu geben*)." Aber in der Vergangenheit
kam dieser Gesichtspunkt nicht in Frage, wohl aber der stark empfundene
Zwang, durch die Herrschaft über Küste und Häsen den Zusammen-
hang mit Europa zu finden und dafür nicht von vorgelagerten anderen
Staaten nach deren Willen abhängig zu sein; das Wort von dem
Fenster nach Europa, das Peter der Große mit Gewalt geöffnet habe,
gibt diese Tendenz in populärer Fassung auch für die Gegenwart
noch wieder. Dazu kam in der Neuzeit für den Agrarstaat, der moderne
Machtpolitik trieb und zu diesem Zwecke Geld brauchte, der Zwang des
unbehinderten Exports vor allem seines Getreides, der ihm die Mittel
zu dieser Politik lieferte. Von einer Selbstgenügsamkeit, in der sich Land-
wirtschaft und Industrie gegenseitig ergänzend die heimische Volkswirtschaft
*) So schrieb 1891 der englische Publizist Archibald Colquhoun beim Beginn
f>es Baues der sibirischen Bahn.
IX. Kapitel.
Von der Weltwirtschaft unabhängig machten und die deshalb die Not-
wendigkeit eisfreier Häfen verringerte, ist Rußland heute noch weit ent-
fernt. In jedem Falle sind ihm heute Häfen und Küsten elementare Be-
dürfnisse seines Lebens, das dadurch von der Möglichkeit der Ab- und Ein-
sperrung frei sein, dadurch der Verbindung mit den großen Straßen des
Weltverkehrs dauernd sicher sein will. Vulgär, aber richtig gab die Nowoje
Wremja dieses Empfinden und Wollen wieder: „Will Rußland seine
historischen Aufgaben lösen, so braucht es den seiner Größe entsprechenden
Zugang zum Meere, man darf nicht einem Volke von soviel Millionen
den Rock zu eng zuschneiden und die Ärmel zunähen" — das ist eine
Muschik-mäßige Formulierung des ersten Postulats russischer auswärtiger
Politik.
Diese ist Neumerkantilismus und Imperialismus, in gradliniger,
niemals unterbrochener Entwicklung dieser Ideen seit der Moskauer
Zeit. Sie ist auch in dem modernsten Sinne Weltpolitik, in dem diese
alle Mittel physischer und wirtschaftlicher, staatlicher und militärischer
Kraft für das Ringen ihres Staates um seinen Anteil an der Verteilung
der Erde über ihren ganzen bewohnten und unbewohnten Raum hin ein-
setzt. Aber sie dankt es der Lage ihres Staates und der Geschlossenheit
ihres Interessengebietes, daß sie nicht in dem Maße in der Gesamtheit der
weltpolitischen Fragen engagiert zu sein braucht, wie etwa die englische
oder deutsche Politik.
Die Jagd nach der Grenze und der Drang nach den Meeren hoben
zur gewaltsamen Angliederung von fremdartig gebliebenen Grenzmarken
geführt, deren Stellung zum Kerngebiet große innerpolitische Probleme
stellt. Die geographische Lage aber gab beiden Tendenzen sehr bestimmte
Richtungen und ganz bestimmte Einzelobjekte. Nach Norden trat bis zum
Eismeer niemand der Expansion in den Weg, aber sie stieß dorthin auch
bisher ins Leere. Erst der Weltkrieg hat die Verbindung über Archangelsk
und dann die Murmanküste zu einiger Bedeutung kommen lassen. Zur
Ostseeküste war das erstrebte Verhältnis seit den Ereignissen, die die Ostsee-
provinzen und Finnland (das Glacis für Petersburg) für Rußland ge-
wonnen hatten, erreicht: „im 19. Jahrhundert war unsere Aufgabe, einen
Zugang zur Ostsee zu gewinnen, beendet" (Kuropatkin). Aber darüber
hinaus blieb der Blick nach Narwik, also über Skandinavien nach dem Welt-
meer, gerichtet, weil die Ostsee mit dem Schwarzen Meere das Schicksal teilt,
Der Machtstaat.
283
ein dem Weltverkehr fernliegendes Binnenmeer ohne eigene weltwirtschaftliche
Bedeutung zu sein. Das ergibt ein gespanntes Verhältnis auch der realen
russischen Machtpolitik zu Skandinavien, besonders zu Schweden, gegen das
sowohl Finnland wie die Alandsinselrll) als erste Etappen betrachtet wurden.
Viel stärker aber ist die Richtung nach Südwesten, der Druck auf
Bosporus und Dardanellen. Das alte, mit ganz anderen Motiven be-
gründete und festgehaltene Verlangen nach Konstantinopel erhielt durch
die wirtschaftliche Bedeutung und Entwicklung Südrußlands einen neuen
Hintergrund; man sah das so an, als kehre die russische Entwicklung
wieder in die alten Bahnen südwärts, die sie mit dem Zusammenbruch
des Kiewer Staates verlassen mußte, zürück. Daher ist der freie Ausweg
nach dem Mittelmeer zum Axiom auch der amtlichen Politik geworden.
Man will weder im Frieden von Zufälligkeiten, die den Schluß der Meer-
engen für den russischen Export herbeiführen können, abhängig noch im
Kriege in der Verwendung seiner Schwarzmeerflotte beschränkt sein.
Dabei läßt sich dieses Streben am besten in der Formel: „Schluß der
eigenen Haustür" — man will selbst frei heraus können, andern aber den
freien Eintritt verwehren können — wiedergeben. Aus alledem ergibt sich
von selbst die Stellung zur Türkei.
Schon in denselben Rahmen gehört das Streben nach Armenien
herein, seitdem die russische Expansion den Kaukasus eroberte und in den
Türkenkriegen auch den asiatischen Teil der Türkei zum Kriegsschauplatz
machte. Die Richtung aus Persien und zum Persischen Golf verbindet
sich damit, wie sie sich zugleich aus der Stellung in Zentralasien und dem
alten, wenn auch in der Gegenwart realpolitisch zurückgeschobenen, gleich-
wohl aber lebendig gebliebenen Streben nach Indien ergab. Diese Mo-
mente bestimmten früher zusammen mit der Stellung zur Türkei ent-
scheidend die Stellung zu England; im Jahrzehnt zwischen Revolution
und Weltkrieg gelang es diesem, sie weniger wirksam zu machen, ja, sie
zu lähmen.
Die Richtung nach dem fernen Osten wurde schon charakterisiert* 3),
weil sie zum Zusammenstoß mit Japan und damit letzten Endes zum
*) Deren militärische Besetzung und Befestigung im Pariser Frieden von
1856 verboten, aber 1906 und im Weltkrieg durchgeführt wurde.
3) S. oben S. 88 ff.
284
IX. Kapitel.
Ausbruch der Revolution führte. Im Zentrum Asiens hat sie die chine-
sischen Grenzgebiete ja erreicht, geht aber im Streben auch darüber hinaus:
auf Chinesisch-Turkestan und die Mongolei. Im Kampf um die Mand-
schurei mußte Rußland Japan weithin nachgeben. Dieser „fernöstliche
Ehrgeiz" bringt den Zwang zu einer Orientiemng gegenüber Japan,
China, schließlich auch den Vereinigten Staaten mit sich.
Weder der Wunsch auf Ostgalizien und die Idee einer Auflösung
Österreichs noch etwa die Missions- und Schulpolitik Rußlands in Palä-
stinas u. ä. gehörten an sich zur Machtpolitik Rußlands, soweit
sie von amtlichen Kreisen getragen wurde. Diese aber ist bereits mit jenen
Strebungen in einer eigentümlichen Lage. Nach allen Richtungen kann
sie sich nicht zugleich betätigen; das verbietet schon die Geographie. Daher
pendelt sie zwischen ihnen hin und her; der Wechsel bestimmt sich nach
Sieg und Niederlage, nach den Stellen des geringenen Widerstandes. Die
Planmäßigkeit und Folgerichtigkeit, die die auswärtige Politik gleichwohl
auszeichnen, ergibt sich nicht so sehr aus der besonderen Qualität der
Diplomaten, obwohl die russische Diplomatenschule seit Peter dem Großen
viele hervorragende Diplomaten hervorgebracht hat, sondern aus der Wucht
der Erfahrung und Tradition, die die im Grunde einfachen und wenigen
Linien der Auslandspolitik hier mindestens seit zwei Jahrhunderten mit
sich brachten und die mit einem gewaltigen Druck auf die Träger der
großen Politik wirken.
Getragen wird sie von dem Ministerium des Auswärtigen, dessen
Leiter im Jahrzehnt von 1904—1914 Graf Lambsdorff, A. P. Jswolskist
und S. D. Sasonowst waren. Das Ministerium zerfällt in drei Departe-
ments, deren erstes aus einer zentralasiatischen, nahöstlichen und fernöst-
lichen Abteilung besteht; ein wissenschaftlicher Beirat zur Erforschung des
mittleren und östlichen Asiens ist ihm beigegeben. In dieser zweckmäßigen
Einteilung, die die überwältigende Wichtigkeit der orientalischen Angelegen-
heiten zeigt, können sich Spezialisten ausbilden, die manchmal unabhängig
st Kaiserlich russische orthodoxe Palästinagesellschaft, gegründet 1882 von
Pobjedonoszew, unter dem Protektorat des ermordeten Großfürsten Sergius,
st 1906 bis 28. Sept. 1910. Geb. 1865. Seit 1910 Botschafter in Paris,
st 28. Sept. 1910 bis 20. Juli 1916. Geboren 1860, am Vatikan und an
London tätig gewesen, Schwager Stolypins.
Der Machtstaat/
285
vom Minister ihre Politik machen. So sind geschulte Instrumente für
jede Richtung der Politik vorhanden, und für letztere bestimmt sich im
Grunde alles nach der Frage: sollen die Interessen im nahen Orient maß-
gebend sein oder die in Zentralasien und im fernen Osten? Alles andere
ist mehr oder weniger Nebensache.
Das Nebeneinander der beiden Hauptrichtungen der Auslandspolitik,
nach Europa und nach Asien, erschwert eine ausgeglichene und ein-
heitliche Führung, und die in dieser ganzen Politik erhobenen Ansprüche
stellen für die unfertige, im Übergang befindliche Volkswirtschaft und für
den Prozeß der Umbildung seit 1904 eine zu große und unnatürliche
Belastung dar. Das tritt zu wenig hervor, weil die öffentliche Meinung
wenig oder gar nicht dagegen reagiert, entweder der großen Politik gleich-
gültig gegenübersteht oder sie sogar noch vorwärts treibt. Das erste ist der
Fall mit der Well- und Kolonialpolitik des Reichs. Die ganze große
Arbeit, die darin vor sich geht, rollt für sich ab, in der Wirksamkeit der
Diplomaten und Militärs und der Zentralstellen, die öffentliche Er-
örterung redet in sie kaum jemals herein, auch dann nicht, wenn sie zu
kriegerischen Verwicklungen zu führen droht. Die Art z. B., wie sich die
russische Politik an allen Stellen still und fast unbemerkt auf den Abfall
der chinesischen Grenzmarken vorbereitete, war ebenso konsequent wie die
Gleichgültigkeit und Passivität der russischen Gesellschaft dagegen merk-
würdig war. Dies Verhältnis schwächt heute, bei der großen, immer noch
trotz Duma und Reformen erhaltenen Überlegenheit der staatlichen Orga-
nisation gegenüber der Gesellschaft, die Aktionskraft des Staates in keiner
Weise, aber es gibt der politischen Haltung des Staates ihre besondere Art.
In dem Verhältnis von Slaat und Gesellschaft zur Weltpolitik liegt stets
die Gefahr, daß die Politik das Augenmaß für ihre Expansion überhaupt
verliert. Andererseits erzieht der Staat die öffentliche Meinung zu wenig
zu seiner Auffassung der großen Politik, und darum finden die Lebens-
interessen des Staates nach Osten und Süden viel weniger Widerhall
in der öffentlichen Meinung als die traditionellen Stimmungen aus
früherer Zeit, die von Lebensinteressen Rußlands nach Westen und Süd-
westen sprechen und dämm populär sind. Denn die Gesellschaft faßt die
Fragen der großen Politik nach typisch russischer Weise zuerst mit
dem Gefühl an. Auch die amtliche Politik ist nicht ganz ohne solchen ge-
fühlsmäßigen Hintergrund. In manchen publizistischen, militärischen, Be-
286
IX. Kapitel.
amtenkreisen sitzen die seltsam phantastischen, oft mit der Religion ver-
quickten Gedanken von der Mission Rußlands in Asien und einer Ver-
einigung von Russen und Asiaten fest, wie sie etwa in der älteren Schrift
(von 1885) von Sergius Juschakow: „Der englisch-russische Konflikt" oder
in neueren Manifestationen des Fürsten Uchtomski: „Zu den Ereignissen
in China. Über die Verhältnisse des Westens und Rußlands zum Osten"
(1900) und in seinen „Briefen aus China" (1901) laut geworden sind.
Wenigstens eine Probe dieser wunderlichen, aber wichtigen Gedanken-
gänge sei aus der ersten Broschüre Uchtomskis gegeben: „Der Westen hat
unseren Geist gebildet, und doch, wie blaß und schwach spiegelt er sich auf
der Oberfläche unseres Lebens ab; unter ihr, im Innern des nationalen
Lebens ist alles durchdrungen von den tiefen Anschauungen und Über-
zeugungen des Ostens...............In dem Augenblick, da den Asiaten die
Grundlagen unserer höchsten Gewalt klar werden, vereinigen sie sich mit
uns geistig .... Der Osten glaubt ebenso fest wie wir an die über-
natürlichen Eigenschaften des russischen Nationalgeistes, aber er beurteilt
und begreift sie nur insofern, als sie mit dem höchsten Gut, das wir haben,
dem Testament unserer vaterländischen Vergangenheit, dem Absolutismus,
im Zusammenhang stehen; andernfalls kann Asien uns weder aufrichtig
zugetan werden, noch ohne Widerstand mit uns in eins zusammen-
fließen ..........Also sollten wir doch endlich begreifen, daß der einzige
rechtliche Herr des Ostens jener ist, auf dessen Haupte in märchenhaftem
Glanze die großfürstlichen Kronen von Perm, Igor und der Wolga-
bulgaren und die Kaiserkrone von Kasan, Astrachan und Sibirien, in eine
Krone verschmolzen, erstrahlen." Diese „asiatische" Ideologie, die z. B.
auch bei Solowjew eine Stelle findet, wird in der politischen Gesell-
schaft kaum irgendwo in weiteren Kreisen geteilt. Diese gründet ihr
politisches Gefühl vielmehr auf die Slawophilie, den Panslawismus und
den Nationalismus, und wird so der leidenschaftliche Feind der Türkei
und Österreichs. Für sie liegen die Hauptinteressen Rußlands im nahen
Orient, daneben für eine besondere nationalistisch-kirchliche Richtung auch
im östlichen Galizien, dem Gebiet der Kleinrussen. Und bei unsicher
gewordener Leitung des Staates ist sie stark genug, auch die Selbständig-
keit seiner traditionellen Machtpolitik aus der Bahn zu bringen und in ihre
gefühlsmäßig-aggressive Richtung zu zwingen, so unter Alexander II.
1878, so unter Nikolai II. 1914.
Der Machtstaat.
287
Diese Stimmung der Gesellschaft spiegelt natürlich die Duma wieder.
Für die Entwicklung des Konstitutionalismus ist es zweifellos von Vorteil
gewesen, daß an Fragen der auswärtigen Politik oder der damit zu-
sammenhängenden Verstärkung von Heer und Flotte keine Konflikte gesucht
und durchgeführt worden sind. Auch wo man hart zusammenstieß, wie im
Vorstoß Gutschkows gegen die Militär- und Marineverwaltung oder iin
Angriff Miljukows gegen die Balkanpolitik Jswolskis, blieb immer der
Boden gemeinsam und der Wille, die Machtstellung Rußlands zu fördern.
Äußerungen und Forderungen, die das leugneten, sind in der Revolution
zwar auch laut geworden, aber ohne für den Staat bedrohlichen Widerhall
geblieben. Im Gegenteil haben sich die Meinung der Dumamehrheit und
die nationalistisch-aggressive Politik bis 1914 mehr und mehr auch in der
Richtung nach arißen gefunden. Daß diese immer aufgeregter und chauvini-
stischer werdende Stimmung aber auch von dem ganzen Bürgertum geteilt,
wurde, davon ist keine Rede. Was diese Machtideen des Nationalismus
förderte und trug, war in der Hauptsache die Intelligenz in den Parteien
der Liberalen wie der Rechten. Die bäuerliche Masse vollends war von dieser
Stimmung schwerlich erfaßt, die man im Weltkriege als russischen „Volks-
imperialismus" bezeichnen wollte. Diesen Massen mögen die Zusammen-
hänge von Politik und Religion, wie sie in der orientalischen Frage und
dem Panslawismus liegen können, wohl einmal durch besonders eifrige
und leidenschaftliche Geistliche nahegebracht werden. Aber viele Geistliche
der Art kann es schon nach dem Wesen des Landklerus nicht geben, und andere
mögliche Vermittler fehlen ganz. Daß für die Vorstellungen der Massen
Konstantinopel oder der Deutschenhaß etwas lebendiges bedeuten, dafür liegen
keine überzeugenden Beweise vor, während die Beobachtungen der Reisenden
dagegen sprechen. Große Politik ist hier so völlig Werk des Staates
und so gar nicht Werk des Volkes gewesen, daß sie für letzteres überhaupt
nicht Gegenstand des Interesses ist. Das einzige Motiv, das auf die
in den Krieg getriebene Bauernarmee wirken konnte, war das primitive, in
ihr geweckte Verlangen nach Land. Im übrigen genügte ihr für diese
Betätigung in der großen Politik einfach, daß „Väterchen Zar" sie wollte,
obwohl sie, mit der Landorganisation beschäftigt und in der Erinnerung
an den Krieg mit Japan 1914, sicherlich dasselbe dachte, was Fürst
G. Trubezkoi so ausdrückte: „Den Ausgaben der inneren Ordnung muß
sich unvermeidlich das Tempo unserer äußeren Politik unterordnen. Wir
288
IX. Kapitel.
brauchen einen langen ungestörten Frieden, um den Prozeß der inneren
Verjüngung Rußlands zu vollenden."
II. Die Machtmittel: Heer und Flotte.
Der Weltkrieg hat gezeigt, daß die Erfahrungen des japanischen
Krieges zu einer durchgreifenden Reorganisation zum mindestens der
Armee benutzt worden sind. Der Krieg mit Japan hatte der mili-
tärischen Rüstung schwere Schäden zugefügt, und große Mängel in der
Organisation des Heeres und der Marine gezeigt. Auf diesem Gebiete hat
die Duma mit den verantwortlichen Instanzen entschieden und patriotisch
zusammengearbeitet, nachdem mancherlei Reibungen und Schwierigkeiten
überwunden waren. Gleich in der Art, wie man diese Aufgabe angriff,
trat die nationale Stimmung hervor, die die Duma bis weit in die Reihen
der Liberalen hinein beherrscht. Jedes Bild des neuen Rußlands ist un-
vollständig, das dieses die maßgebenden Schichten beherrschende Gefühl
nicht beachtet. Wer die Geschichte der -freiheitlichen Bewegung kennt,
weiß, daß damit nur die alte Tradition der Volks- und Vaterlandsliebe
bei oft schärfster Opposition gegen den Staat fortgesetzt wird.
Die Aufgabe war, die militärischen Fragen im Lichte der neuen
konstitutionellen Lage zu studieren. Das war nicht leicht gegenüber der
zarischen Kommandogewalt, den gepanzerten Krediten, dem Zusammen-
hang zwischen Großfürsten und hohen Stellen der Militärverwaltung, der
bisherigen Zusammenhanglosigkeit zwischen den Ministern und in der
Heeresorganisation, der Abneigung der hohen Offiziere gegen alles parla-
mentarische Wesen und schließlich bei dem Wust von Unordnung und
Korruption, der während des Krieges und der Revolution zutage getreten
war. Aber diese schwierige Aufgabe ist gelöst worden. Man verletzte die
Prärogative des Zaren nirgends, aber Gutschkow wandte sich mutig gegen
die vorhandenen Mißstände, vor allem gegen die unverantwortlichen Per-
sonen an verantwortlichen Stellen; er scheute sich auch nicht, die gemeinten
Großfürsten mit Namen zu nennen.') Seine Reden wurden als Taten
empfunden; dem Willen der Duma, die notwendige Heeresreform
') Rede zum Militäretat 9. Juni 1908 und Rede zum Marinectat 6. Juni
1908, gleich bei der überhaupt ersten Budgetberatung der dritten Duma.
Der Machtstaat.
289
durchzuführen und alles zu bewilligen, aber im Rahmen ihrer Prärogative
und unter der Bedingung wirklicher Verbesserung, fügte sich auch die
Militärverwaltung. Durch das Geschick des neuen Kriegsministers W. A.
Suchomlinow') stellte sich sogar rasch ein enges Zusammenarbeiten her.
Zuerst kam es aus die Ordnung in den höchsten Stellen der Armee-
verwaltung an. Der 1905 geschaffene Reichsverteidigungsrat, der aus
Generalen und Admiralen usw. bestehend, unter dem Großfürsten
Nikolai Nikolajewitsch die bisher vermißte Einheit hatte Herstellen sollen,
aber nichts geleistet hatte, wurde 1908 wieder beseitigt und die gesamte
Exekutivgewalt der Heeresverwaltung in eine Hand, die des Kriegs-
ministers, gelegt. Es gelang, in die Heeresführung und Heeresverwaltung
eine Einheitlichkeit zu bringen, die formal sogar größer ist, als in irgend-
einem anderen Heere. Dadurch wurde die Macht des Kriegsministers
außerordentlich erhöht: er hatte nunmehr nicht nur die Leitung der Heeres-
verwaltung, sondern auch der Führung unter sich, ihm waren die Chefs
des Generalstabs und des Hauptstabs untergeordnet, so daß er in seiner
Person die Einheit des Heeres darstellte.
Der Krieg forderte ferner eine rücksichtlose Verjüngung des Offizier-
korps. Auch in diesem hatte er ja außerordentliche Mängel gezeigt, deren
Gründe man vor allem in der mangelhaften wirtschaftlichen Ausstattung
der Offizier suchte. Die Duma nahm eine umfassende Erhöhung der
Osfiziergehälter und eine Neuordnung des Pensionswesens (Gesetz vom
6. Juli 1912) vor.
Unmittelbar aus den Lehren des Krieges heraus ergaben sich ein-
schneidende organisatorische Reformen. Er hatte Mängel in der Mobil-
machung und im Aufmarsch erwiesen, die katastrophale Folgen gehabt
hatten. Der Mobilmachungsplan war überhaupt nicht auf einen Krieg, im
fernen Osten orientiert gewesen, da diese Politik als Sache des Auswärtigen
Amtes angesehen wurde, um die sich die Heeresverwaltung nicht kümmerte.
Ferner hatte die Dislokation der Kaders — indem fast alle Armeekorps
an den Grenzen standen und es im Innern des Reiches fast völlig an
Kaders für die mobilgemachten Reservisten fehlte — die Mobilmachung
*) Geboren 1848, Kommandierender des Kiewer Militärbezirks, 1908 Chef
des Generalstabs, März 1909 Kriegsminister, 27. Juni 1915 als solcher ver-
abschiedet.
Hoetzsch, Rußland.
IS
290
IX. Kapitel.
sehr erschwert. Die Reservisten hatten endlose Reisen zum Bestimmungsort
unternehmen müssen, fanden oder erreichten die Verbände nicht, die sie
kompletieren sollten, kurz, die Mobilmachung hatte eine Zusammenhang-
losigkeit und Anarchie offenbar gemacht, die zu einem großen Teile die
Niederlage mitverschuldet hatte. Jetzt wurde eine Neugliederung des Heeres
vollzogen. Man löste die bisherigen Reserveformationen — eine ältere, von
Wannowski geschaffene Spezialität des russischen Heeres —, die sich im
Krieg nicht bewährt hatten, auf und bildete aus ihnen neue Linien-
regimenter mit den entsprechenden höheren Verbänden. Das ergab eine
Vermehrung der Korps-Verbände um sechs neue Armeekorps (3 im euro-
päischen Reichsteil, 1 im Kaukasus und 2 in Sibirien), so daß das Heer
nun im ganzen 37 Armeekorps zählte (27 in Europa, 3 im Kaukasus,
2 in Turkestan und 5 in Sibirien), für die das ganze Reich in 12 Militär-
bezirke eingeteilt ist. Außerdem wurde eine große Truppenmasse vom
Westen nach dem Zentrum des Reiches, nach dem Wolgagebiet, verlegt
in die Garnisonen, in denen bisher die Reservebrigaden standen. Damit
wurde zugleich die Mobilmachung auf rationellere Grundlage gestellt. Die
Truppen im Innern konnten infolge der Vermehrung der Aufmarschlinien
beliebig und rasch nach Westen, Süden und auch nach dem fernen Osten
verwandt werden; Kaders und Reserven wurden einander methodisch und
geographisch näher gebracht, indem so ein Regionalsystem der Mobil-
machung geschaffen wurde. Außerdem blieben nicht mehr ausgedehnte
Teile, wie bisher das Wolgagebiet, von Truppen entblößt. Dieser Neu-
organisation, die die Schlagfertigkeit wesentlich erhöhte, entsprach eine
Neuordnung der Festungsverteidigung.
Auch die Verwaltung des Kosakenheeres wurde reformiert und dem
Kriegsminister unterstellt. Diese irreguläre oder halbreguläre Kavallerie
findet sich heute als aktive Truppe überall im Reiche. Ihr Gebiet, d. h.
das von den inaktiven Kosakenmitgliedern in ihren „Stanizen" besiedelte
Territorium, erstreckt sich von den Ufern des Don bis zum Stillen Ozean,
in elf Gebieten, nach denen die „Heere" heißen (Don, Kuban, Terek,
Transbaikalien, Orenburg, Ural, Sibirien, Astrachan, Semirjetschje,
Amur, Ussuri) und von denen das der Donkosaken das wichtigste, ein
selbständiger Verwaltungsbezirk (165 000 Quadratkilometer groß) mit
eigenartiger Sonderverfassung ist. In ihm besonders lebt die alte Kosaken-
tradition weiter, daß das Heer eine Gemeinde und das Gebiet Eigentum
Der Machtstaat.
291
des Heeres sei; diese Kosakenverfassung stellt eine interessante militärisch-
wirtschaftlich-politische Organisation mit kommunistischem Anstrich dar.
Der militärische Wert der Truppe ist nicht mehr sehr groß, aber ihre Be-
deutung als Grenzer und ihre Zuverlässigkeit ist ungemindert. Sie stellen
im ganzen etwa 330 000 Mann, deren oberster Ataman traditionell der
Großfürst-Thronfolger ist, und besaßen nach der Aufnahme von 1905 im
europäischen Reichsteile 31- Millionen Dessjatinen Land (in den Gou-
vernements Orenburg, Astrachan und dem „Gebiet" der Donkosaken).
Das Hauptwerk der Duma aber war das neue Wehrgesetz, vom
6. Juli 1912, das das alte Gesetz von 1874, ohne dessen Grundlinien zu
verändern, ergänzte. Die Hauptfragen waren die Dauer der Wehrpflicht
bei der Fahne, die bessere Verteilung der Aushebung auf das ganze
Reich und die Reform der Privilegien, die von der allgemeinen
Wehrpflicht befreien. Die Verkürzung der Dienstzeit), die nach dem Gesetz
von 1874 5 Jahre betrug, auf 3 Jahre für die Infanterie und Fuß-
artillerie, auf 4 Jahre für die übrigen Waffen, war bereits 1906
(22. März) angeordnet worden und wurde, schon im Ukas mit der Er-
leichterung der Bevölkerung begründet, allgemein als notwendig
empfunden. Ein Land von dieser Ausdehnung und mit so dünner Be-
völkerung entbehrte die jungen Leute, die unter der Fahne stehen, noch
viel mehr, als ein starkbevölkertes Land fortgeschrittener wirtschaftlicher
Kultur. Das Gesetz hat daher die Dienstpflicht bei der Fahne dem Ukas
entsprechend festgesetzt; eine weitere Verkürzung erlaubte der Bildungsstand
des russischen Rekruten nicht.
Zu Erörterungen führte die Frage des Eintrittsalters. Aus Gründen
der physischen Beschaffenheit und Entwicklungsreife der Rekruten hatte
man 1874 das Eintrittsalter auf das 21. Lebensjahr festgesetzt. Aber diese
Praxis hatte den großen Nachteil, daß ein erheblicher Prozentsatz der ein-
zustellenden Rekruten bereits verheiratet war, da der russische Bauer
außerordentlich früh heiratet. Und diese Kombination ergab die größten
wirtschaftlichen und sittlichen Mißstände. Der mit 21 Jahren eingestellte
Rekrut wurde bei der fünfjährigen Dienstzeit ein halbes Jahrzehnt der
Verpflichtung entzogen, seine Familie zu ernähren, die darunter besonders
st Die Dienstpflicht dauert vom vollendeten 21. bis zum vollendeten
43. Jahre. Das Heer zerfällt in Feldtruppen, Reserve und Reichswehr (in zwei
Aufgeboten).
19*
292
IX. Kapitel.
litt, wenn sie bei Neuumteilungen des Landes zu kurz kam, weil
der Familienvater unter der Fahne stand und die Interessen seiner Familie
im Mir nicht wahrnehmen konnte. In sittlicher Beziehung aber führte
das Dasein einer solchen Soldatenstrohwitwe, einer „Soldatka", deren
Mann jahrelang von ihr fern war, oft zur völligen Verwilderung. Das
neue Gesetz bestimmt den Beginn der aktiven Dienstpflicht auf den
1. Januar des Jahres, in dem das 21. Jahr vollendet wird.
Ferner ist die Aushebung gleichmäßiger als bisher auf alle Reichs-
teile verteilt und sind die Privilegien für die Befreiung vom Heeres-
dienst sehr beschnitten worden. Insonderheit ist das der Einjährigsrei-
willigen in der Hauptsache beseitigt, ihre Dienstzeit auf 1 Jahr 8 Monate
herausgesetzt worden. Man glaubte, darüber hinwegsehen zu können, daß
ein längeres Festhalten der gebildeten jungen Leute bei der Fahne die an
sich schon nicht starke Intelligenz des Volkes — das Wort im Standessinne
genommen — schwächen mußte, und suchte aus der Beseitigung des
Privilegs für den Reserveoffizierstand Vorteil zu ziehen, indem ge-
bildete junge Leute schon nach 8 Monaten zum Offizier aufrücken und in
dieser Charge noch ein Jahr dienen sollen. Von der Wehrpflicht völlig be-
freit sind die Finnländer und die sog. Fremdstämmigen im europäischen
und asiatischen Reichsteil.
Das Rekrutenkontingent (1908—1910 je 456 535, 1911 und 1912
je 455 000 Mann) wird durch den Zaren als Inhaber der höchsten
Kommandogewalt bestimmt und ist der Diskussion der Duma nur insoweit
zugänglich, als notwendig werdende Geldmehrforderungen an ihr Budget-
recht gebunden sind. Eine Verminderung durchzusetzen, ist sie nicht im-
stande. Das ordentliche Militärbudget stieg von 445 Mill. in 1908 auf
493 Mill. Rubel in 1912, die außerordentlichen Kredite (für technische
Fortschritte, Auffüllung der Kriegsvorräte und überhaupt durch den Krieg
notwendig gewordene Reformen) von 52 Btill. 1908 auf 70 Mill. Rubel
1912. Im Budget für 1914 betrug der Etat des Kriegsministeriums
621,5 Mill., wozu noch die 125,4 Mill. Wirtschaftsausgaben und eigentlich
auch die 107,9 Mill. für Eisenbahnen zu rechnen waren').
Rußland hatte nach alledem 1913 eine Gesamtfriedensstärke von 1)4
Million, was einer Gesamtzahl von verfügbaren Ausgebildeten im Kriegs-
') S. oben S. 186.
Der Machtstaat.
293
falle von 7 668 000 — 4,2% der Bevölkerung entsprach. Diese Zahlen
immer noch höher zu treiben, war man in der letzten Zeit vor dem
Kriege auf alle Weise bemüht: durch Erhöhung der Präsenzziffer von 1913
um jährlich 20 000 Mann, durch Zurückhaltung der Ausgedienten um
ein halbes Jahr länger, durch Aufstellung neuer Formationen, durch
Vermehrung der Übungen des Beurlaubtenstandes und durch sog. Probe-
mobilmachungen. Der Signalartikel Suchomlinows an Frankreichs)
rechnete dem Bundesgenossen eine Friedensstärke von 2 320 000 Mann vor.
Weniger leicht ging die Arbeit mit der Marine, nicht durch Säumigkeit
der Duma, sondern weil es fast 3 Jahre dauerte, ehe sich die Admiralität
in die neue Lage fand. Sie war schließlich dazu gezwungen. Die Schlacht
bei Tsuschima hatte die Hauptstreitkrast der Hochseeflotte vernichtet. Was
im Schwarzen Meer untätig und durch den Verschluß der Dardanellen
behindert übrig geblieben war, war wenig. Rußland schied damit zunächst
aus der Reihe der Seemächte völlig aus. Es dauerte auch längere Zeit,
ehe mit dem Wiederaufbau begonnen wurde, weil die Untersuchung ergab,
daß in der Marine die größten Mißstände geherrscht hatten; die Admiralität
erwies sich vielleicht als die Behörde, die am allerwenigsten im ganzen
Staate Ordnung, Schlagfertigkeit und Redlichkeit gezeigt hatte. Die Duma
verlangte deshalb eine bessere Organisation und ein Schiffbauprogramm,
und blieb so energisch auf ihren Resolutionen stehen, daß ein zweimaliger
Wechsel im Marineministerium notwendig wurde. Trotzdem sind die
Wünsche des Marineressorts nicht nur erfüllt worden, sondern haben
sogar einen entscheidenden Sieg über die Duma davongetragen. 1907
stellte man ein „großes" Flottenbauprogramm auf, das, wenn möglich,
die nicht weniger als 73 im Kriege mit Japan verlorenen Schiffe ersetzen
sollte. Die Duma bewilligte dazu 221,7 Mill. Rubel, außerdem zur Er-
gänzung von Vorräten usw. 51,3 Mill. Rubel. Dann aber legte 1912
die Admiralität ein sogenanntes kleines Flottenprogramm (als Quin-
quennat 1912—1916) vor und forderte dafür 502 Mill. Rubel. Das
Programm enthielt: vier Panzerkreuzer, acht leichte Kreuzer, davon vier
für das Baltische, zwei für das Schwarze Meer und zwei für den Stillen
Ozean; 36 Geschwadertorpedoboote für das Baltische Meer und 18 Unter-
seeboote; Hilfsschiffe und Hafenbauten: die Häfen von Reval, Kron-
*) 12. Juni 1914 in den Birschewyjci Wjedomosti.
294
IX. Kapitel.
stadt, Sweaborg, Sewastopol, Nikolajewsk und Wladiwostok sollten aus-
gebaut werden. Gegen diesen Plan erhob sich gerade aus den patriotischen
Kreisen eine Opposition, die von Gutschkotv geführt wurde. Dieser wies
darauf hin, daß Rußland, die größte europäische Landmacht, mit solchem
Flottenplan auch eine Seemacht werde, da, wie auch der Marineminister
Grigorowitsch ankündigte, dieses nur der erste Schritt zu weiteren großen
Rüstungen und Opfern sein würde, zu denen nach der Lage des Reiches
keine Veranlassung sei. Trotzdem wurde die Vorlage mit 430 Mill. Rubel
angenommen (2. Juli 1912). Eine weitere Hundertmillionenvorlage, be-
sonders für die Schwarzmeerflotte, wurde noch im Juni 1914 von der
Budgetkommission angenommen. Der Marineetat belief sich 1914 auf
246,1 Mill. und 18 Mill. für Hafenbauten.
Mit dieser fieberhaften Rüstungstätigkeit, die 1913 und 1914
im Gange war, war eine einflußreiche Kriegspartei am Werke.
Denn die Rüstungen überschritten weit das für defensive Zwecke not-
wendige. Der Termin, zu dem das Rüstungsprogramm fertig sein sollte
und auf den sich die Kriegstreiber also einrichteten, war das Jahr 1917.
Ihr Ziel war gleichfalls erkennbar, da das Schwergewicht dieser Rüstungen
an der Westgrenze Rußlands lag. Der Krieg ist dann für die Vollendung
des Rüstungsprogramms, besonders der von Frankreich geforderten strate-
gischen Bahnen in Polen, zu früh ansgebrochen. Aber die Kriegspartei
hielt sich schon im Frühjahr 1914 für stark genug, so daß sie dies sogar
in Zeitungsartikeln der Welt mitteilte: „In vollem Einverständnis mit dem
obersten Kriegsherrn wünscht Rußland den Frieden. Es ist aber fertig1)."
Der Ausbruch des Krieges hat auch eine Kriegsbereitschaft Rußlands ge-
zeigt, wie nie ein Feldzug seiner Geschichte. Ihr Organisator war als
Werkzeug der vom Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch und den Pansla-
wisten geführten Kriegspartei der Kriegsminister Suchomliuow gewesen.
Seine Laufbahn im Weltkriege nahm freilich ein sehr unrühmliches Ende,
aber trotzdem war er der Schöpfer der neuen Armee, mit der Rußland
den Krieg wagte.
0 Birschewhja Wjedomosti 13. März 1911. Der Artikel vom 12. Juni
(S. 294) schloß: „Frankreich und Rußland wollen den Krieg nicht, aber Rußland
ist bereit und es hofft, daß Frankreich es gleichfalls sein wird."
295
Der Machtstaat.
HL Kolomalpolitik.
1. Inhalt und Ziel.
Seit 1907, 1908 richtete sich die russische Politik wieder entschlossener
nach Westen und starke Strömungen in ihr trieben aus einen neuen Wasfen-
gang in der orientalischen Frage hin. Aber von allen diesen Veränderungen
seit der Revolution wurde die koloniale Politik so gut wie nicht berührt.
Denn als Kolonialpolitik muß man die riesige Ausdehnung Rußlands über
sein europäisches Kerngebiet hinaus bezeichnen. Ist auch die oft genanrtte
„Jagd nach der Grenze" nicht direkt ein Motiv der Kolonisation, so hat die
dazu notwendige Erwerbung ungeheurer Länderstrecken in Asien doch
kolonialpolitische Bedeutung. Denn sie hat Rußland Gebiete erworben,
wo Edelmetalle und wertvolle Erze gewonnen werden können, sie hat
ihm weiter Länder gebracht, die seine Volkswirtschaft mit tropischen und
halbtropischen Produkten versorgen können, und sie hat ihm auch Gebiete
angefügt, die als Siedlungsland den Überschuß der Bevölkerung auf-
nehmen können, wenn dieser in der Heimat nicht mehr Land genug finden
sollte.
Auf dieser Bahn zu einem Abschluß zu kommen, der dauernd sein
konnte, war Rußland bis zum Beginn des Krieges mit Japan auf
dem Wege. Dessen Ausgang schuf eine neue Situation, indem Ruß-
land von einer mit großen Opfern erworbenen Stellung am Stillen
Ozean wieder zurückgeworfen wurde und seine Ziele hier vertagen, oder,
wie sich später zeigte, anders orientieren mußte.
Die dem unglücklichen Kriege folgende Revolution ergriff auch das
Kolonialgebiet. Sibirien wurde davon in Mitleidenschaft gezogen, weil
seine Hauptverkehrsader, die sibirische Bahn, lange in den Händen der in die
Heimat zurückflutenden unzufriedenen Reservisten war. Turkestan sah
revolutionäre Erhebungen. Am schlimmsten aber entbrannte die Revo-
lution im Kaukasus, wo vor allem in den Hafenstädten am Kaspischen und
am Schwarzen Meer die nationale Abneigung gegen die Fremdherrschaft,
der Haß der bunt durcheinandergewürfelten Rassen gegeneinander und
eine unruhe und wilde Hafenarbeiterbevölkerung zusammen kamen. Zu
einer bedrohlichen Gefährdung der Kolonialstellung haben indes diese Er-
scheinungen nicht geführt. Die wesentlichste dauernde Veränderung war
nur, daß auch Sibirien und dem Kaukasus das Wahlrecht für die Duma
zugestanden wurde, während die Vertretung Turkestans in der Duma
in der Hauptsache wieder zurückgenommen wurde.
Der russischen Kolonialpolitik kommt es nicht darauf an, ihr großes
Kolonialland für die Weltwirtschaft zu erschließen und zu entwickeln.
Durch sie geht ein großer Zug: schon in den Raumverhältnissen, mit
denen sie arbeitet, aber auch in den Problemen, die sie stellt und anfaßt.
Was sie aber vor allem charakterisiert, ist, daß diese Expansion Kolonial-
p o l i t i k ist, bewußtes staatlich-militärisches Wollen. Der Staat und sehte
Zwecke sind überall das erste Interesse, der Staat und seine Organe der
erste Faktor in den Kolonien. Darum ist zuerst die Hauptsache die bessere
militärisch-politische Verbindung mit dem Mutterlande, erst in zweiter Linie
sucht man die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Kolonialbesitzes für das
Mutterland dienstbar zu machen. Seit dem Ende des Krieges mit Japan
aber rückte die stärkere, auch wirtschaftliche Verbindung der Kolonien mit der
Heimat, das Ziel der wirtschaftlichen Autarkie, wie es der Handelspolitik
immer vorschwebte, in eine neue Beleuchtung. Es wurde aus einem Ideal,
dem man konsequent nachstrebte, das aber, solange lediglich der Verkehr mit
Europa in Frage kam, immer unerreichbares Ideal bleiben mußte, mehr
und mehr ein realpolitisches Programm, dessen Verwirklichung in der
Hauptsache Rußland so gut möglich sein könnte, wie den Vereinigten
Staaten von Amerika, — aber freilich nicht einem Rußland, wie es sich
die Slawophilen vorstellen, mit Europa zugewandtem Gesicht, das seine
Lebensinteressen auf der Balkanhalbinsel sieht, sondern einem Rußland,
das entschlossen sein Gesicht nach Süden, Südosten und Osten wendet
und bewußt eine geschlossene wirtschaftliche Einheit seines Weltstaatsgebietes
Herstellen will.
Daß die Kolonialpolitik an den verantwortlichen Stellen in biefem
Sinne aufgefaßt wird, ist ebenso klar, wie daß sie in der öffentlichen Mei-
nung eine Unterstützung nicht findet. Diese geht zwar auf den Wegen,
die die amtliche Politik einschlägt, mit und bewilligt die Mittel, die sie
dazu braucht. Aber es ist erstaunlich, wie wenig Boden die so aufgefaßte
Kolonialpolitik im Volke, auch in den Kreisen der Gebildeten, hat. Wer
als Fremder im Kaukasus oder in Turkestan oder in Sibirien reiste,
spürte das sehr deutlich, wenn er dann mit gebildeten Russen zusammen-
kam, denen diese Gebiete zumeist nicht nur terra incognita, sondern
Der Machtstaat.
297
geradezu gleichgültig sind, von Offizieren und Diplomaten abgesehen,
den Hauptträgern dieser Politik.
Jener große Zusammenhang wurde durch die Reise, die 1910 der
Ministerpräsident Stolypin und der Landwirtschaftsminister Kriwoschein
nach Sibirien unternahmen, und die Reisen, die Kriwoschein allein im
Frühjahr 1912 nach Turkestan und im Frühjahr 1913 nach Trans-
kaukasien machte, besonders offenbar, über sie wurden Denkschriften der
Minister an den Zaren veröffentlicht, die der russischen und später auch der
westeuropäischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Schon
damit, daß man das tat, war gesagt, daß ein besonderes kolonial-
politisches Wollen an den verantwortlichen Stellen lebendig geworden sei,
um deswillen sich auch die beiden Minister die Länder selbst angesehen
hatten, ein Wollen, das, wie der Wortlaut ihrer Äußerungen ergibt, gegen-
über der bisherigen Expansion in Zentralasien und Sibirien etwas Arideres
und Neues sein sollte. Nicht als Ergebnis dieser Ministerreisen, aber durch
sie ganz klar formuliert, tritt diese Idee der Kolonialpolitik aus den
Kämpfen und Strebungen der letzten Jahre heraus: im Sinne des sie be-
herrschenden merkantilistischen Ideals die einzelnen Kolonien, Sibirien,
Turkestan, Kaukasus, in einen organischen Zusammenhang zu bringen
und sie auf diesen hin zum Dienst für die in Moskau kulminierende Volks-
wirtschaft zu entwickeln. Darum mußte der Verkehrspolitik die erste
Sorgfalt gelten, und darin wurden auch mit Unterstützung der Duma er-
hebliche Fortschritte gemacht.
2. Verkehrspolitik.
Am wenigsten ist das der Fall im Kaukasus, wo in dieser Zeit nur
die kleine Strecke Eriwan—Dschulfa (zur persischen Grenze, 192 Werst)
gebaut worden ist. Damit fällt, gerade wenn man das kaukasische Gebiet
im Zusammenhang der Kolonialpvlitik betrachtet, seine mangelhafte Ver-
bindung mit dem Reich besonders auf. Noch heute kann Tiflis, wenn nicht
der gewaltige Umweg über Baku genommen wird, nur über das Gebirge,
die bekannte grusinische Heerstraße, erreicht werden, obwohl es nach Votum
wie nach Baku—Krasnowodsk wie vor allem nach Kars und nach
Eriwan—Dschulfa der gegebene Mittelpunkt der Statthalterschaft ist. Die
Notwendigkeit rascherer strategischer Verbindung ist längst erkannt worden.
298
IX. Kapitel.
aber das große Projekt, die grusinische Straße zu untertunneln, ist Projekt
geblieben, von den phantastischen Plänen, die Wasserkraft des Terek für eine
elektrische Bahn Tiflis—Wladikawkas neben der Heerstraße zu benutzen,
ganz zu schweigen.
Eine wichtige Verbindung, die hierher gehört, wenn sie auch nicht
Eisenbahnlinie ist, ist die eigenartige Eisenröhrenleitung, die zwischen
Baku und Batum im Jahre 1898 begonnen wurde und die 902 Kilometer
lang das Petroleum vom Kaspischen Meer nach dem Schwarzen Meer
direkt neben den Bahnschienen laufend hinführt. Die Leitung kann im
Jahre 60 Millionen Pud Petroleum befördern. Ihre verkehrspolitische
Bedeutung steigt noch, auch wenn, was abzusehen ist, die Erschöpfung
der Petroleumquellen von Baku eintreten wird. Denn dann werden die
Quellen auf der Insel Tscheleken vor der Bucht von Krasnowodsk und im
Innern Turkestans von größerer Bedeutung, deren Produktion auf dem-
selben Wege weitergeleitet werden kann, wie das Petroleum von Baku.
Eine Förderung der Verbindung des Reiches mit dem zweiten
Kolonialgebiet, mit Turkestan, ist während des japanischen Krieges fertig-
gestellt worden: die Bahn von Orenburg nach Taschkent, die im Juli 1905
in einer Länge von 1736 Werst eröffnet wurde und diese Kolonie mit
dem Mutterlande ganz anders verbindet, als es die ältere mittel-
asiatische Magistrale Andischan—Krasnowodsk tun konnte, die den An-
schluß erst über Baku fand. Deren Ausbau — eine Linie Chiwa—
Tschardshui—Termes, die die bisherige Bahn kreuzt, und eine Linie
Chiwa—Urals! — ist gleichfalls in Vorbereitung und schließt das Netz
ab, während die weiteren Pläne des Anschlusses an und durch Persien
bis nach Buschir am Persischen Golf zwar nicht aufgegeben, aber wegen
der neuen Stellung zu England vertagt worden sind.
Dagegen ist die Verbindung nach Nordosten nur eine Frage der Zeit.
Dazu ist der bereits lange debattierte Nordostanschluß an die sibirische
Bahn über Wjerny—Sergiopol—Semipalatinsk nötig. Außerdem aber
soll die Strecke, mindestens die von der Orenburger Bahn (Station Arys)
über Aulie-Ata und Pischpek nach Wjerny geplante, Semirjetsche d. h.
seinen Ackerbau und Viehzucht in engere Verbindung mit Turkestan
bringen, damit das letztere sich immer ausschließlicher auf den Baumwoll-
bau konzentrieren kann. Der Bau dieser Linie ist beschlossen, in zwei Ab-
schnitten Arys—Pischpek und Pischpek—Wjerny. An die Möglichkeit einer
Der Machtstaat.
299
Verbindung mit China auch an dieser Stelle muß noch erinnert werden:
Andischan—Narynskoje ist seit 1903 Poststraße, Narhnskoje wird die Ver-
bindung mit der neuen Bahn finden, das kürzt den Transport nach
Kaschgar erheblich ab und erleichtert die Verbindung mit dieser chinesischen
Grenzmark, Ostturkestan, wie die Amurbahn und die sibirische Linie die
mit den Grenzmarken Chinas im Osten, der Nordmandschurei und einem
Teile der Mongolei.
Im dritten Kolonialgebiet schließlich, in Sibirien, ist ein ge-
waltiges Werk in Angriff genommen worden, indem der Bau eines
zweiten Gleises der großen Bahn und die Amurbahn beschlossen wurden.
Die Bahn hatte sich im Kriege bewährt, aber daß man nur aus ein Gleis
angewiesen war, hatte sich sehr empfindlich geltend gemacht. Nun aber
nahm der Ausgang des Krieges Rußland die Bahn aus der Hand, die
zwar privatim gebaut, doch eine politisch russische Bahn sein sollte: die
Linie durch die Mandschurei (von der Station Mandschurija über Charbin
nach Port Arthur). Damit blieb nur die schwache Verbindung mit Wladi-
wostok übrig, die zwischen Srjetensk und Charbarowsk (2141 Werst)
nur den Flußlauf der Schilka und des Amur benutzte. Die Wucht der
strategischen, politischen, wirtschaftspolitischen und nationalen*) Gründe
und der Wille zur Kolonialmacht im fernen Osten trotz allem war denn
auch so stark, daß beschlossen wurde, für die sibirische Bahn von Omsk
nach Karymskaja (die Station, wo die mandschurische Bahn nach
Südosten abgeht) ein zweites Gleis zu bauen (Beschlüsse und Gesetze für
die fünf Unterstrecken 1908, 9,10,11,12; Bewilligungen im ganzen dafür
159,3 Mill. Rubel). Sowohl von Omsk wie von Karymskaja an besteht
dieses zweite Gleis in einer besonderen, nicht parallel gehenden, neuen
Bahn, und zwar von Omsk, das mit dem Reich bisher nur über
Tscheljabinsk verbunden ist, in einer Nordwestlinie, die in Tjumen an
die Linie Iekaterinburg—Perm anschließt (sieben verschiedene Bewilli-
gungen von 1908 bis 1912 in der Höhe von 47,8 Mill. Rubel). Die
Gabelung von Karymskaja aus aber lief zusammen mit dem Projekt
der sogenannten Amurbahn, das bereits die zweite Duma beschäftigt hat.
In der Erkenntnis der strategischen Notwendigkeit hatte die Regierung
den Bau bereits auf Grund des Paragraphen 87 der Reichsgrundgcsetze
begonnen. Die Duma bestätigte das und bewilligte von 1908 bis 1912
0 Wegen der chinesischen Einwanderung nach Ostsibirien.
300
IX. Kapitel.
in 12 Gesetzen dafür 248,2 Mill. Rubel. Der Bau sollte 1915, spätestens
1916 vollendet sein, 1915 sicher schon der Verkehr bis Blagoweschtschcnsk
eröffnet werden. Die Linie (1884 Werst) geht aus von Kuenga (nicht
von Nertschinsk, wie die Regierung wollte, — dahin geht eine Zweigbahn)
über Urjum—Kerak—Suraschewka zum Flusse Dij (mit Zweigbahn nach
Blagoweschtschensk) und von da über Tschernoberesowaja nach Chabarowsk;
dazu kommt ein zweiter Strang von Karymskaja zur chinesischen Grenze
(Mandschurija). Die technischen Schwierigkeiten sind zum Teil außer-
ordentlich groß: ewiges Eis, ungünstige Wasserverhältnisse, große Brückcn-
bauten (bei Chabarowsk über den Amur, bei Blagoweschtschensk und bei
der neuen Stadt Alexejewsk), Tunnelbauten usw. Deshalb und bei der
großen Schwierigkeit der Kontrolle kostete der Bau viel mehr, als man er-
wartete. Der Staat beseitigte darum auch das Systeni der Privatentreprise,
das bis 1910 angewendet wurde, für den mittleren und östlichen Teil
und baute gleich in eigener Regie.
Die Bahn war sodann, um Sibirien und den südlich davon gelegenen
Kolonialbesitz enger zu verbinden, durch eine Linie Urals!—Orenburg—
Akmolinsk—Semipalatinsk, die sogenannte südsibirische Magistrale, zu
ergänzen. Von Semipalatinsk sollte sie nach Nordosten, durch den wichtigen
Auswanderungsbezirk des Altaigebietes nach Barnaul und zur sibirischen
Bahn in Nowo-Nikolajewsk (im ganzen über 2200 Werst lang) gehen;
dieses Stück von Semipalatinsk nach Nowo-Nikolajewsk ist als Altai-
bahn im Weltkrieg fertiggestellt worden.
Um Sibirien, vor allem seine westlichen Stromsysteme, besser und
rascher mit Häfen in Verbindung zu bringen, ist eine Linie vom Ob über
den Ural zur Petschoramündung oder nach Archangelsk erörtert worden,
die zugleich den waldreichen Nordostgouvernements des europäischen Reichs-
teiles zugute kommen sollte. Der Weltkrieg hat aber zum Bau der sog.
Murmanbahn von Petersburg nach Norden, westlich von Archangelsk ge-
führt. Mit dieser Linie, die am Westufer des Weißen Meeres entlang geht,
könnte Sibirien von Kotlas, bis wohin eine Seitenlinie von Wjatka aus
geht, über Piesezkaja (Schnittpunkt der Linie Wologda—Archangelsk) in
Soroka die gegebene direkte Verbindung unter Beiseitelassung von
Archangelsk finden.
Um die Möglichkeit einer dauernden Verbindung zwischen Inner-
Sibirien und Westeuropa durch die Mündung des Jenissei und das Karische
Der Machtstaat.
301
Meer erneut festzustellen, unternahm Nansen 1913 eine besondere Reises.
Er glaubt an die Möglichkeit, die Eishindernisse zu überwinden und so
eine entwicklungsfähige Schiffsverbindung nach der Ob- und Jenissei-
mündung herzustellen. Bisher sind indes diese Gedanken, hier eine Ver-
bindung mit der Welt herzustellen, unfruchtbar geblieben.
Faßt man das ganze Gebiet russischer Kolonisation so ins Auge, so
fehlte für die Verkehrspolitik durch Eisenbahnlinien nicht mehr allzuviel,
bis sich Rußland für sein ungeheures, territorial zusammenhängendes
Kolonialreich ein ausreichendes Verkehrssystem geschaffen hat, das den
Stillen Ozean und die Häfen des Weißen und Baltischen Meeres und des
Kaspisees verbindet und bis an die zentralasiatischen Bergketten heran-
drängt. Seine Bedeutung läßt sich mit Sicherheit dahin charakterisieren,
daß es weltwirtschaftlich in absehbarer Zeit nicht von Bedeutung werden
kann. Es stützt und erweitert die weltwirtschaftliche Stellung Rußlands,
aber es wird auf die Weltverkehrsbeziehungen nicht revolutionierend wirken,
weder die Bahn nach Zentralasien, noch die großen sibirischen Linien.
Zwar gewinnt der sibirische Teil dieser Kolonialbahnen für den Personen-
und Postverkehr eine wachsende Bedeutung, während für den kaukasischen
und zentralasiatischen nicht einmal das der Fall ist, da diese sich welt-
wirtschaftlich totlaufen, aber in der Güterbeförderung bleibt der Fracht-
satz des Wasserweges für Massengüter dem Eisenbahnweg weltwirtschaftlich
zunächst noch durchaus überlegen. Durch diese Berechnungen wird indes der
Wert des Kolonialverkehrssystems für Rußland selbst nicht vermindert.
3. Sibirien.
Sibirien ist in Rußland selbst erst durch den Krieg mit Japan
bekannter geworden. Der Krieg führte Hunderttausende durch das Land
hin und zurück; manche von ihnen blieben im Lande hängen. So wurde
seitdem die Kolonie mit anderen Augen betrachtet, als vordem, da sie,
noch mehr allerdings im Ausland, nur als das Land des ewigen Schnees
und Eises und der Aufenthalt der zu schrecklicher Zwangsarbeit Verschickten
galt. Neben dem Kriege war es dann immer mehr die libersiedlungs-
bewegung, die eine völlige Verschiebung im Charakter des Landes und in
seinem Werte für das Reich herbeiführt.
S. darüber sein: Sibirien. Ein Zukunftsland. Leipzig, 1914.
302
IX. Kapitel.
Zuerst standen in der Expansion durch Sibirien hin die bekannten
alten Motive im Vordergrund; sein selbständiger Wert wurde (außer den
Goldfunden) wenig beachtet. Nach 1905 aber mußte Rußland in seiner
Ostasienpolitik zur Defensive übergehen und war gezwungen, sich mehr
der Förderung dessen zu widmen, was ihm geblieben war und in dem
die 1891 begonnene Bahn und die Bauerneinwanderung aus dem Mutter-
lande eine große Umwälzung schon vorher angebahnt hatten. Jswolski be-
kräftigte in einer Dumarede am 11. März 1908, daß Rußland im Frieden
von Portsmouth von seinem geschichtlichen Erbe nichts eingebüßt habe,
an diesem aber unerschütterlich festhalte und an seine Erhaltung und Ent-
wicklung alles zu setzen habe. Damit war freilich ein kolonialpolitisches
Programm für Sibirien noch nicht ausgesprochen.
Strenggenommen kann Russisch-Asien ja nicht als Kolonie bezeichnet
werden. Denn es setzt den europäischen Reichsteil nur fort, von dem es kein
schwieriges Hindernis der Natur mehr trennt. Es ist „keine Kolonie, sondern
ein vergrößertes Vaterlands", und indem Rußland es eroberte und durch
Verkehrsmittel und Kolonisation an sich heranzieht, hat es das Gebiet
Europas auf Kosten Asiens gewaltig erweitert. Aber wenn auch räumlich
ihm verbunden, ist es seinem sachlichen Werte nach tatsächlich für das
Kerngebiet eine Kolonie, Zentralasien halbtropischer Art, Sibirien vor-
nehmlich als Siedlungsland.
Sibiren umfaßt die Gouvernements Tobolsk und Tomsk als West-
sibirien, ferner das Generalgouvernement Irkutsk (aus den Gouvernements
Irkutsk, Jenisseisk, Jakutsk und Transbaikalien bestehend) als Ostsibirien,
und das Generalgouvernement Amurgebiet, das sich aus diesem, dem soge-
nannten Küstengebiet, Kamtschatka und der Nordhälfte von Sachalin zu-
sammensetzt. Das sind 12,4 Mill. Quadratkilometer (das 23fache des
Deutschen Reiches), bewohnt von 8,7 Mill. Einwohnern (0,8 auf
1 Quadratwerst), von denen in Westsibirien 88,7% und in Ostsibirien
53,9% Russen sind. Dazu wird noch das Steppengeneralgouvernement
(aus den Gouvernements Akmolinsk, Semipalatinsk, Turgajsk, Uralsk)
mit 1,8 Mill. Quadratkilometern und 3,2 Mill. Einwohnern gerechnet,
das nach Nordturkestan überleitet. Von diesen rund 12 Mill. Einwohnern
wohnen rund 2 Mill. in Städten.
9 Ausdruck Nansens.
Der Machtstaat.
303
Die natürlichen Reichtümer der Gebiete haben schon früher den
Eroberer auch gelockt: Pelze, Silber, Gold, später die anderen Mineral-
schätze, darunter auch Steinkohle. Alles das ist heute noch von großer
Bedeutung, wird aber, ebenso wie der große Waldreichtum, noch nicht in
einer die Volkswirtschaft wirklich fördernden Weise genutzt. Für diese ist
dagegen — und zwar seit Vollendung der sibirischen Bahn, dem russisch-
japanischen Kriege und der Agrarbewegung — der landwirtschaftlich
wertvolle Teil immer wichtiger geworden, der Raum für eine großartige
Kolonisation bietet. Das ist Westsibirien und zwar südlich der Linie
Tobolsk—Baikalsee, bis weit in das turkestansche Gebiet hinein, physikalisch-
geographisch das Gebiet des Überganges von der Taiga (dem Sumpf-
Urwalds) zur Schwarzerde-Steppe und diese selbst. Dieses Gebiet wird
also von der großen Bahnlinie in glücklicher Weise gerade durchschnitten,
was auch die Absicht bei ihrer Anlage war. Und es ist das Land-
Reservoir für eine gewaltige Wanderungsbewegung aus dem Mutterland
in die Kolonie geworden, deren Gründe auf der Hand liegen. Von 1896
bis 1909 sind 3)4 Millionen über den Ural gewandert, während aus den
drei Jahrhunderten, die Sibirien schon zu Rußland gehörte, sich nur 4'A
Millionen russischer Bevölkerung darin zusammengefunden hatten. Die
Verschickten und die Kosaken haben in Sibirien Ackerbau und Viehzucht
geschaffen, die nachwandernden Bauern beginnen daraus eine bereits auf
dem Weltmarkt auftretende Bauernkolonie zu machen.
Der Anteil der Strafverschickung an der Besiedlung Sibiriens wird
meist überschätzt. Im 19. Jahrhundert sind 900 000 Menschen strafweise
nach Sibirien verschickt worden, um die sich die Verwaltung wenig
kümmerte und die oft völlig verschollen sind. Die Verschickung war entweder
Strafe für Staatsverbrechen oder Folge der Verurteilung zur Zwangs-
arbeit (Katorga). 1900 wurde sie sehr eingeschränkt, und kann als selb-
ständige Strafe nur noch für einige Religions- und Staatsverbrechen und
von der Mir-Versammlung gegen Gemeindemitglieder verhängt werden.
Die Entwicklung Sibiriens läßt heute die Verschickung infolge Verurteilung
zur Katorga nur noch für den Osten, für die Arbeit in den Bergwerken,
y Diese beginnt etwa beim 58. Breitengrad und wird im Norden durch die
Tundra, die Sumpfsteppe, abgelöst; beide Gebiete sind außer Mineralvorkommen
wirtschaftlich wertlos.
304
IX. Kapitel.
besonders im Lenagebiet und am' Amur, als zweckmäßig und berechtigt
erscheinen. Besiedelt worden ist es in der Hauptsache von freien Kolonisten.
In der Behandlung der Siedlungsbewegung hat die Regierung ge-
schwankt. Im Interesse der Gutsbesitzer hat sie sogar zeitweise die Aus-
wanderung nach Sibirien geradezu gehemmt. Der Bau der großen Bahn
und die Agrarunruhen von 1905 und 1906 haben darin aber eine Änderung
herbeigeführt. Es ist eine kräftige sibirische Siedlungspolitik für die Ele-
mente begonnen worden, die aus den agrarischen Verhältnissen der Heimat
herauswollen. Die Auswanderung wurde geregelt und gefördert,
eine besondere Ubersiedlungsverwaltung entstand, die 1905 dem Land-
wirtschaftsministerium angegliedert wurde, deren Budget von 1905 bis
1910 von 5 auf 25 Mill. Rubel und deren Beamte an Ort und
Stelle in derselben Zeit von 800 auf 3000 stiegen. Die Übersiedlungs-
verwaltung war alljährlich darauf eingerichtet, daß 700 000 Ubersiedler
beiderlei Geschlechts befördert und untergebracht werden konnten. Für diese
Auswanderung, der regelmäßig „Kundschafter" (Chodoki) zur Auswahl
des Landes vorausgehen, liegt über die Jahre 1896—1909 eine genaue
Statistik vor. Danach sind nach Sibirien genau 2 841 602 Köpfe ausge-
wandert und 301046 wieder zurückgegangen; fast 90 % bleiben also im
Lande und finden da ihr Fortkommen. 1906 zogen 216600, 1907:577000,
1908: 759 000, 1909: 707 500, 1910: 352 900, 1911: 226 000, 1912:
259 600 und 1913: 327 000 Menschen nach diesem „kur west" Ruß-
lands; rund 10% davon kehrten wieder zurück. Diese Auswanderungs-
bewcgung, die vornehmlich aus dem Schwarzerdegebiet und dem Westen
kommt und doch nur einen relativ geringen Teil des natürlichen Be-
völkerungszuwachses ausmacht, ist, wie die Zahlen zeigen, nach 1909 zurück-
gegangen. Die Gründe dafür liegen in der Agrareform daheim und in
der Erschöpfung des in Sibirien zur Ansiedlung nahe der Bahn zur Ver-
fügung stehenden Landfonds.
Das Land, das ausgetan wird — nur russische Untertanen erhalten
Land —, ist entweder Staatsland oder gehört den „Kosaken-Heeren" oder
dem Kabinett des Zaren. Den besten Teil bilden die Kabinettsländereien
im Altaigebiet, deren Besiedlung 1906 freigegeben worden ist. Das Land
wird nur zur Nutznießung ausgegeben, doch sollen die sibirischen Bauern
nach dem Vorbild der innerrussischen Agrarreform auch Eigentümer ihrer
Landanteile werden. In bezug auf das Kronsland war das schon seit
Der Machtstaat.
305
den Gesetzen von 1896 und 1898 möglich und ist auch in zahlreichen
Fällen durchgeführt worden. Das staatliche Grundeigentum wird ebenso
beseitigt, wie die Ansätze ztim Mir, die sich unter den einwandernden
Bauern auch auf dem Kolonialboden gebildet haben. Außerdem mußten
die Jäger- und Nomadenstämme in'klare Eigentumsverhältnisse gebracht,
am besten auch zur Seßhaftigkeit übergeleitet werden. Bisher ist die
Arbeitsteilung noch die, daß der Getreidebau ganz russisch ist, die Vieh-
wirtschaft von den Eingeborenen betrieben wird — doch treiben auch die
Russen eine bedeutende Milchwirtschaft.
Die Entwicklung dieser Siedlungskolonie, die freilich von dem ganzen
Riesengebiet nur den Westen einnimmt und dort ihren Mittelpunkt im
Altaigebiet und in der Steppe von Semipalatinsk hat, ist günstig gewesen.
Die Jahresgetreideernte stellte sich bei 6 Millionen Dessjatinen Saatfläche
im Mittel auf 300 Millionen Pud und. ist jedenfalls imstande, die ein-
gesessene Bevölkerung völlig zu ernähren, d. h. Westsibirien — der Osten
und das Küstengebiet haben Getreideeinfuhr nötig, die ihnen aus der Mand-
schurei oder aus Amerika geliefert wird. Schon heute bleiben im Westen
erhebliche Getreideüberschüsse frei, die vorläufig noch nicht zu den gegebenen
Absatzgebieten kommen können. Nach Süden, nach Turkestan, das eine
Getreideeinfuhr brauchen könnte, um immer mehr zum Baumwollbau
übergehen zu können, fehlt noch die Verbindung, im Osten ist die Kon-
kurrenz der Mandschurei und Amerikas nicht zu überwinden, im Norden
liegt das Eismeer, und nach Westen hemmen es Eisenbahntarifschwierig-
keiten. Daher hat das sibirische Getreide bisher noch nicht einmal seine volle
nationalwirtschaftliche, geschweige denn weltwirtschaftliche Bedeutung ge-
winnen können. Hierfür hängt alles von besseren Transportverhält-
nissen ab.
Dagegen ist der sibirischen Butter bereits der Zutritt zum Weltmarkt
gelungen. Die Ausfuhr ist von 100 Pud 1894 auf 4 533 362 Pud in
1912 gestiegen. 1913 führte Deutschland für 63 Will. Mark sibirische
Butter ein. Daneben ist England Absatzgebiet. Mit englischem Kapital
ist in London ein „Verband sibirischer Genossenschaften" (1912) be-
gründet worden. Denn Produktion und Absatz erfolgen auf genossenschaft-
lichem Wege: es gibt einen sibirischen Meiereiverband (Sitz Kurgan) mit
(1912) 760 Artjelmeiereien, die 120000 Bauernhöfe vereinigten; der
Verband setzte 1912: 477 000 Pud Butter im Werte von 6,2 Will. Rubel
Hoetzsch, Rußland. 20
306
IX. Kapitel.
ab. Dieser Erfolg war nicht leicht, ebenso nicht der Kampf mit dem
Zwischenhandel, aber dafür ist diese Entwicklung auch erstaunlich und vor
allem gesund und für das Reichsinnere vorbildlich. Die Butterproduktiou
Sibiriens warf bereits das doppelte mehr in Gold ab als seine gesamte
Goldproduktion — darin kam die Verschiebung der letzten anderthalb
Jahrzehnte ernt augenfälligsten zum Ausdruck.
Abgesehen von den technischen Fragen der Produktionssteigerung —
die Wirtschaft ist sehr extensiv, allerdings bei den Kosaken mehr als bei
den Bauern — sind die beiden Lebensbedingungen der sibirischen Volks-
wirtschaft die Erweiterung des Siedlungslandes und die Verkehrsver-
bindungJ. Man wird noch mehr in die nördlichen Waldgebiete, die Taiga,
und die Kirgisensteppe zwischen der Bahn und dem Aralsee gehen müssen;
auch an Turkestan denkt die amtliche Siedlungspolitik. Ebenso wichtig sind
die Verkehrsfragen. Von den Bahnplänen war die Rede. Aber auch die
gewaltigen sibirischen Flüsse könnten als natürliche Absatzwege dienen. Der
nächste wäre der Weg die Flüsse Ob und Jenissei hinab und durch das
Karische Meer zum Weltmarkt. Aber die natürlichen Schwierigkeiten
in der Passage des Eismeers haben sich bisher ebenso wie die der Organi-
sation noch als zu groß erwiesen. Die Hauptarbeit, Westsibirien, auch
die große, fruchtbare Kirgisensteppe, die von den Wasserstraßen zu
entfernt ist, für die Volkswirtschaft des Reiches ganz nutzbar zu machen,
werden voraussichtlich immer die Bahnlinien zu leisten haben.
So wächst diese Kolonie in ihrem Westteile heran und anders als
ihre Eroberer es sich gedacht hatten. In die Gebiete, die man bisher eben
nur durchfahren mußte, weil sie ztvischen dem Reich und dem eigentlichen
Ziel, dem fernen Osten, lagen, rückte immer mehr der Wert Sibiriens für
das Weltreich. Es begann ein besonderer sibirischer Partikularismus zu
entstehen, ein ausgesprochener demokratischer Kolonialtypus, individueller
und selbstbewußter als der Bauer daheim, besonders wertvoll für den Staat
auch als Soldatenmaterial. Und diese „Sibirjakm", wie sich heute die
Alteingesessenen und die Ubersiedler zusammen nennen, verlangen, ihre An-
gelegenheiten schon freier und selbständiger zu ordnen. In den Städten,
0 Der Handelsmittelpunkt des westlichen Sibiriens ist seit Jahrhunderten
die Messe von Jrbit (nördlich der Bahn Jekaterinburg —Tjumen gelegen), die,
jährlich im Februar stattfindend, nach der von Nischni-Nowgorod die bedeutendste
des ganzen Reiches ist.
Der Machtstaat.
307
besonders dem wirtschaftlichen Mittelpunkte Omsk und dem geistigen
Zentrum Tomsk pulsiert ein reges Leben, und die Einführung der Semst-
woverfassung ist seit Jahren schon diskutiert worden, für die gewissermaßen
die Kosakenoffiziere den fehlenden Großbesitz und Adel vertreten könnten.
Eine große Kulturarbeit hat namentlich das Landwirtschaftsministerium
schon geleistet, von 1909—1913: 9500 Werst Landwege, 8000 Brunnen,
18 Millionen Dessjatinen siedlungsbereit gemacht, 565 neue Kirchen-
gemeinden, über 200 Kirchen und Bethäuser, 500 Schulen, 400 „Medizin-
punkte" mit 100 Ärzten und 370 Feldscheren. Unendlich viel größer ist
aber die Fülle der ungelösten Aufgaben in diesem Gebiete, in dem recht
eigentlich Rußlands Zukunft liegt.
Die Überschätzung, die sich leicht einstellte — schon zur Zeit
Alexanders I. ist Sibirien als das „russische Peru und Mexiko" bezeichnet
worden —, wird durch die Natur korrigiert. Das besiedlungsfähige Land
ist nicht unerschöpflich, sondern wird nach Osten immer schmäler; jenseits
des Baikalsees ist es nur ein schmaler, längs der chinesischen Grenze hin-
laufender Streifen. Und wenn die Metereologie recht hat, indem sie einen
periodischen Wechsel von Jahrzehnten der Trockenheit und Feuchtigkeit
feststellt, droht den Siedlungen in der Steppe, die während der feuchten
Zeit angelegt sind, später wieder das Gespenst der Trockenheit.
Für sich steht — darum wird er auch verwaltungsrechtlich anders
behandelt — der Osten, das Generalgouvernement Amur- und Küsten-
gebiet. Hier dominiert der Russe nur politisch, nicht wirtschaftlich, und hier
tritt ihm der schärfste Wettbewerb der Asiaten entgegen, deren Ein-
wanderung in das russische Gebiet man sich nicht zu erwehren vermag.
Im Jahre 1910 betrugen die Einnahmen der Reichsrentei vom Küsten-
gebiet 10,7 Mill. Rubel, vom Amurgebiet 3,2 Mill. Rubel und von der
Insel Sachalin 0,09 Mill. Rubel, die Ausgaben aber für das Küstengebiet
54,7 Mill. Rubel, für das Amurgebiet 14,5 Mill. Rubel, und für Sacha-
lin 0,4 Mill. Rubel. Diese Zahlen lehren, daß der Wert dieser Kolonie
vorläufig nur strategisch-politisch ist. Der wirtschaftliche Ertrag liegt noch
ganz in der Zukunft, aber wertvoll ist auch dieser Ostteil mit seinen
Schätzen an Gold, Eisen, Kohle, Naphtha, Holz, Fischen. Hier kann nur
nicht, wie in Westsibiren, von einer elementaren Volksbewegung eine große
Förderung erwartet werden, hier hat der Staat alles — für den Bergbau,
die Fluß- und Küstenschiffahrt usw., wie für die Verkehrsmöglichkeiten —
20'
308
IX. Kapitel.
zu tun. Die Amurbahn wird zwar vieles leisten, aber erst Zweiglinien
können das Gebiet wirklich erschließen. Über allem jedoch steht die Frage,
ob die Hegemonie des russischen Bolkselements gegenüber der asiatischen
Einwanderung durchzusetzen ist.
Die wirtschaftliche Bedeutung Sibiriens im ganzen steht heute schon
fest: es bleibt Lieferant seiner großen Mineralschätze, es behält seine Be-
deutung als Jagdgebiet und Pelzlieferont, es wird immer mehr zum
Bauernland, das zur Lösung der Agrarfrage im Innern des Reiches
beiträgt, indem es aus dem Innern überschüssige Elemente abnimmt.
Allerdings muß gerade diese Bewegung mit dem Fortgang der Agrar-
reform und inneren Kolonisation im europäischen Reichsteile selbst
schwächer werden, weil das an sich dünn bevölkerte Mutterland bei ratio-
neller Besitzverteilung für alle seine dort bäuerlich siedelnden Söhne Platz
genug hat. Das wird Westsibirieu die weitere Aufgabe erschweren, die ihm
besonders zugewiesen wurde, nämlich als Getreidelieferant für Russisch-
Zentralasien aufzutreten, damit sich dieses, soweit irgend möglich, aus-
schließlich der Baumwollproduktion widmen kann.
Sibiriens weltwirtschaftliche Bedeutung dagegen ist nicht sehr groß
und wird auch in absehbarer Zeit nicht allzu hoch steigen: Tee, Gold, Pelze
waren früher die Weltartikel, jetzt sind Butter und Häute mehr an ihre
Stelle getreten, Getreide wird schwerlich Weltartikel werden. Für eine
Stellung in der Weltwirtschaft, wie sie das sonst vergleichbare Kanada
gewonnen hat, ist vorläufig die verkehrsgeographische Lage zu ungünstig,
auch wenn die großen Stromsysteme noch ganz anders als bisher dem
Verkehr dienstbar gemacht würden.
Dagegen ist diese Lage kein Grund dafür, daß mit fortschreitender
Entwicklung Sibiriens ein politischer Separatismus entstünde, sie wirkt
dem vielmehr gerade entgegen. Sibirien hängt kontinental mit dem
Mutterlande zusammen, seine maßgebenden Bewohner sind und bleiben
Russen, sie sind der Wall im Kampf mit den Asiaten, und einen sibirischen
Partikularismus haben der Krieg mit Japan und der Weltkrieg, die beide
die Verbindung beider Reichsteile besonders eng anzogen, im ersten Keime
erstickt.
Der Machtstaat.
309
4. Türke st an.
An der Baumwolle stellt sich weiter jener große kolonialpolitische
Zusammenhang für Turkestan her. Diese tropische oder wenigstens halb-
tropische Kolonie rückte in ein anderes Licht als bisher, seitdem sie durch
die Bahnlinie Orenburg—Taschkent enger an das Mutterland geknüpft
und seitdem ihr mit immer größerer Bestimmtheit die Aufgabe im Wirt-
schaftsleben Rußlands zugewiesen wurde, den Bedarf an Rohbaumwolle
für die heimische Textilindustrie zu decken. Diese beiden Gesichtspunkte
sind das Neue, das in der Gegenwart in dieses Gebiet russischer Kolonial-
politik hereingekommen ist.
Das Generalgouvernement Turkestan (aus den Gouvernements
Transkaspien, Samarkand, Syr-Darynskaja, Fergana und Semirjetschje
bestehend) ist 1,6 Will. Quadratkilometer groß, dreimal so groß wie das
Deutsche Reich, mit 6,9 Will. Einwohnern. Dazu sind gleich, noch nicht
politisch, aber wirtschaftlich, zu rechnen die beiden Vasallenstaaten, das
Emirat Buchara (248 000 Quadratkilometer mit 1,5 Millionen Be-
völkerung)'), und das Chanat Chiwa (62 000 Quadratkilometer mit
800 000 Einwohnern)* 9). Von jenen 6,9 Mill. Menschen sind 8,9%
Russen, und von jenen 1,9 Millionen Quadratkilometern sind im Amu-
Darja-Bezirk (d. h. Chiwa) 0,5, in Syr-Darynskaja 0,8, in Semirjetschje
2,2, in Transkaspien 3,6, in Samarkandskaja und Buchara (d. h. nur
in dem vom Serawschan bewässerten Gebiet) 8 und in Fergana 9%
Kulturland; der Rest teilt sich zwischen Weideland und Wüste, die im
Bezirk des Amn Darja über 84% des Bodens einnimmt. Auf sehr engen
Räumen, auf nicht großen Oasen spielt sich ein buntes, im Osten sehr
hoch entwickeltes Leben einer halbtropischen Kolonie ab, auf Räumen, die
sich, wenn nicht starke menschliche Arbeit die Möglichkeit der Befruchtung
durch künstliche Bewässerung weiter trägt, unter dem Drucke der klima-
tischen Verhältnisse vielleicht immer mehr verengen, weil vertrocknen
müssen.
Dies Gebiet, vor allem in dieser riesigen und zum großen Teil wert-
losen Ausdehnung, ist Rußland ganz besonders in der „Jagd nach der
Grenze" hinzugefügt worden. Halb gegen den Willen der Zaren haben
') Davon 10 000 Russen.
9) Davon nur 400 Russen.
310
IX. Kapitel.
große Generale und Organisatoren, Kaufinann vor allem, demnächst
Tschernajew, Skobelew und Annenkow, das Land erobert auf Wegen, die
bereits Peter der Große gewiesen hatte, mit dem Ziel eines Zusammenstoßes
mit England und des Zusammenhangs mit dem Meere nach Süden vor
Augen. Dementsprechend gilt hier noch mehr als für die sibirische Kolonie,
daß vor allem die Interessen der kolonialen Politik im Vordergrund standen.
Aus ihnen heraus mußte das näherliegende, aber zum großen Teil wirt-
schaftliche nutzlose Gebiet des „trockenen Westens" zwischen Amu Darja und
dem Kaspischen Meer miterobert werden, damit eine genügende Front
gegen Afghanistan und ein möglichst leichter Zugang zu den Stellen ge-
wonnen wurde, an denen nach militärischer Berechnung voraussichtlich
der Zusammenstoß zwischen „Walfisch" und „Bären", wie man in den
80er Jahren den welthistorischen Gegensatz zu England gern ausdrückte,
erfolgen würde. Deshalb vor allem wurde die große transkaspische Bahn
gebaut, vom Kaspischen Meer durch Wüste und Steppe bis in das Herz
des eigentlich wertvollen Teiles der Kolonie hinein, nach Fergana und
an die Vorberge des Pamir. So gewann Rußland eine zentralasiatische
Stellung, die durch das Pamirabkommenst bis nahe an die nordwest-
indische Grenze herangeschoben wurde, die wenigstens in der Verbindung
Merw—Kuschka der Hauptstadt Afghanistans sehr nahe kam und die auf
die Nordostgrenze Persiens immer stärker drückte. Das waren die Gesichts-
punkte, nach denen Wert und Bedeutung der Kolonie Turkestan in Ruß-
land selbst und noch mehr im Auslande in den 80er und 90er Jahren des
19. Jahrhunderts in erster Linie abgemessen wurden.
In der Gegenwart hat sich das sehr wesentlich gewandelt. Der
politische Gegensatz zwischen Rußland und England um diese Gebiete ist
nicht erloschen, aber vertagt. Zu dem Pamirabkommen, das nun über
20 Jahre die Rivalität beider Mächte auf dem „Dach der Welt" zum
Stillstand gebracht hat, ist das Abkommen vom 31. August 1907 über
Persien getreten, das dem russischen Vordringen nach dem Persischen Golfe
durch die Teilung der Interessensphären in Persien selbst einen Riegel vor-
schob. Nach der Beruhigung des militärischen Gegensatzes an dieser Stelle
st Dieses, vom 11. März 1895, legte die heutige Grenze von Oberbuchara
und damit die russische und englische Zone fest und ließ nur einen schmalen
neutralen Streifen afghanischen Bodens zwischen Rußlands Gebiet und dem
Hindukusch.
Der Machtstaat. 311
konnte daher die kolonialwirtschaftliche Arbeit immer stärker betont
werden.
Rußland hat in dieser Kolonie vor allem gezeigt, daß es eine
kolonisatorische Macht ersten Ranges ist. Es hat dem Lande, dessen
Geschichte eine ununterbrochene Anarchie und Kriegszeit gewesen ist, einen
dauernden Frieden gebracht, so daß die öffentliche Sicherheit im General-
gouvernement überall heute mindestens ebenso groß ist, wie in den anderen
Teilen des Reiches. Es hat ferner das schwierige Verhältnis zu einer
Mehrheit andersrassiger und andersgläubiger Untertanen (Jslambekenner)
zu einer herrschenden Minderheit mit großem Geschick zu behandeln ver-
standen. Es greift in die religiösen und privaten Angelegenheiten der Ein-
geborenen so wenig wie möglich ein, indem es die nationalen Gegensätze
überhaupt ignoriert, indem es dem Islam völlige Freiheit läßt, indem es
nur zwischen ansässiger und nichtansässiger Bevölkerung unterscheidet und
indem es die einheimische Bevölkerung so gut wie völlig von der Wehr-
pflicht ausschließt. Es hat weiter die kolonialwirtschaftliche Aufgabe, die
nichtansässige Bevölkerung ansässig zu machen, bezüglich der Turkmenen
in der Westhälfte dieses Gebietes gelöst und ist, besonders seit dem Gesetz
vom 1. Januar 1911, mit Energie dabei, diese Aufgabe auch mit den
Kirgisen im Norden und Nordosten der Kolonie zu erfüllen^). Nicht ganz
so vollständig und so glücklich sind die kolonialwirtschaftlichen Aufgaben
gegenüber der ansässigen Bevölkerung, den Sorten, auf denen die wirt-
schaftliche Zukunft der Kolonie ruht, und die der wirtschaftlichen Er-
schließung des Landes überhaupt gelöst worden.
Zwei große Probleme sind darin beschlossen: die Sorten für ihre
Hauptaufgabe, den Baumwollbau, so leistungsfähig wie möglich zu machen,
und die anderen wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes vollständig aus-
zubeuten.
Der für die erste Aufgabe bestimmende kolonialwirtschaftliche Ge-
sichtspunkt ist, Rußland von der Einfuhr fremder Rohbaumwolle möglichst
unabhängig zu machen. Das ist kein neues Ziel. Bereits 1894 hatte der
damalige Landwirtschaftsminister Jermolow darauf hingewiesen, daß es
möglich sei, die fremde Baumwolle mit turkestanscher aus Rußland ganz
herauszudrängen, und der Zar hatte das auch als sehr wünschenswert be-
9 Das Gesetz wendet die schon länger geltenden Bestimmungen über die
Kirgisen der anstoßenden Steppcngouvernements auf Turkestan an.
312
IX. Kapitel
zeichnet. Aber in der Gegenwart wurde diese Frage durch die Verschärfung
der handelspolitischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten in ein
anderes Licht gerückt. Die Maßnahmen hatten sich bis dahin darauf be-
schränkt, durch Einführung amerikanischer Baumwollsorlen den Anbau
zu heben, so daß heute — außer in den beiden Vasallenstaaten Chiwa
und Buchara — in der ganzen Kolonie fast ausschließlich amerikanische
Sorten gebaut werden. Im übrigen aber sind weder die immer schwieriger
werdenden Wasserrechts-, noch die Landeigentumsverhältnisse vollständig
geordnet worden. Und infolge dieser Vernachlässigung ist die einheimische
Sarten-Wirtschaft in eine schwierige Lage gekommen, da die ansässige Be-
völkerung zwar noch vorwiegend naturalwrrtschaftlich lebt, aber durch
den Anbau von Baumwolle bereits an alle Schwankungen der Welt-
konjunktur in diesem Artikel geknüpft ist. Diese Lage hat sich seit 1906
immer mehr verschärft, da die Bahn nach dem Mutterlande eine engere
Verbindung hergestellt und ein regerer Warenaustausch zwischen Kolonie
und Mutterland begonnen hat. An diesen Fäden ist Moskauer Kapital
in großem Umfange hereingekomnien und hat in diese baumwollbauende
Wirtschaft von Kleinbauern mit ungeordneten Eigentums- und Wasser-
rechtsverhältnissen kapitalistischen Schwung gebracht. Dadurch ist aller-
dings die Baumwollproduktion in der Gegenwart von Jahr zu Jahr ge-
steigert worden, so daß die Kolonie heute den Bedarf des Mutterlandes an
Rohbaumwolle bereits etwa zur Hälfte deckt. Rußland verbraucht jährlich
rund 21—23 Millionen Pud Rohbaumwolle im Wert von im ganzen
250—300 Millionen Rubel. Davon produziert es selbst — d. h. sein
zentralasiatischer Kolonialbesitz einschließlich Chiwas und Bucharas —
rund 11 Millionen Pud (im Werte von über 100 Millionen Rubel). Der
Rest wird zum ganz überwiegenden Teile aus den Vereinigten Staaten
— etwas exportiert auch Ägypten nach Rußland — bezogen und stellt nicht
weniger als neun Zehntel der gesamten amerikanischen Einfuhr nach
Rußland dar. Aber diese Verbindung mit der Volkswirtschaft des Mutter-
landes hat auf die einheimische Bevölkerung Turkestans nicht nur günstig
eingewirkt, sie hat zwar einem kleineren Teile Reichtum gebracht, für
den größereren aber Verschuldung und beginnende Proletarisierung.
Bei der Fülle von Reformarbeiten, die auf Regierung und Duma
einstürmten, blieb die Kolonie, nachdem die revolutionäre Unruhe der
Jahre 1905/06 auch in ihr überwunden war, zunächst sich selbst über-
Der Machtstaat.
313
lassen. Frischeres Leben kam erst herein, als die Senatoren revision, durch
die Stolypin eine vorläufige Verwaltungsreform an den großen Pro-
vinzialstcllen durchführen wollte, auch auf Turkestan angewendet wurde.
Der Senator Gras Konstantin von der Pahlen wurde 1908 dahin ent-
sandt; er stellte erhebliche Mißstände fest. Demnächst drängte die Ver-
schärfung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten dazu, Turkestan
genauer ins Auge zu fassen. An der Frage der Behandlung nach Amerika
auswandernder und von dort zurückkehrender russischer Juden entstand ein
Konflikt zwischen beiden, einander an sich immer freundlich gesinnt ge-
wesenen Staaten, der zur Kündigung des zwischen ihnen bestehenden
Handelsvertrages führte. Wenn aus dieser Verschärfung ein direkter Zoll-
krieg entstand, so wurde die russische Textilindustrie durch die dann ein-
tretende Sperrung der amerikanischen Baumwolleinfuhr auf das schwerste
bedroht, da ein vollständiger Ersatz dafür anderswoher unmöglich war.
Daraufhin faßte Kriwoschein die Kolonialwirtschaft Turkestans ent-
schieden an.
Zur Erreichung der Unabhängigkeit von der amerikanischen Einfuhr
mußte in Ordnung kommen: die immer wieder verschobene Regelung des
Eigentumsrechts am Land und der damit zusammenhängenden Wasser-
berechtigungen — letzteres, weil Land in dieser regenlosen Kolonie nur Wert
hat, wenn es durch künstliche Bewässerung ständig befruchtet werden kann
— die Ordnung der Kreditverhältnisse — die bessere Verbindung zwischen
Turkestan und Sibirien. Denn wenn die Baumwollproduktion so weit aus-
gedehnt werden sollte, daß möglichst alles für ihren Anbau fähige Land dazu
herangezogen und der Weizenanbau auf dieser Fläche aufgegeben wird,
so mußte für die Versorgung der Kolonie mit Nahrungsmitteln aus den
anderen Reichsteilen Sorge getragen werden.
Aber für eine Kolonialpolitik, die den Baumwollertrag auf das
äußerst Mögliche steigern wollte, reichte aus klimatischen Gründen das
vorhandene Land auch dann nicht aus, sondern es mußte bisher unbebaut
liegendes benutzt werden, das durch künstliche Bewässerung dazu fähig
gemacht wird. Daß das für den Baumwollanbau fähige Land noch
außerordentlich erweitert werden kann, trotz des Pessimismus, zu dem die
fortschreitende Versandung des abflußlosen Kessels Turkestan leicht ver-
führt, ist unzweifelhaft und läßt sich durch die uralten Bewässerungs-
arbeiten erhärten, die nur durch die jahrhundertelangen Kämpfe zerstört
314
IX. Kapitel.
worden sind, und die es galt, zu neuem Leben zu erwecken. In Angriff
genommen sind an sich schon ziemlich große, dem verfügbaren Vorrat
gegenüber aber geringfügige Gebiete. Im Osten vor allem, zwischen
Taschkent und der Haupteisenbahnlinie in der sogenannten Hungersteppe
ein Gebiet von 45 000 Dessjatinen, das durch (ihr Wasser aus dem
Syr Darja erhaltende) Kanäle bewässert wird — diese Arbeit sollte 1914
zum Abschluß kommen. Ferner im Westen das 104 000 Dessjatinen große
Schatullgut Bairam Ali beim alten Merw, wo alte zerstörte Bewässerungs-
werke wiederhergestellt worden sind und dadurch eine fast tropische Frucht-
barkeit erweckt wurde. Darüber hinaus ist die praktische Arbeit noch nicht
gediehen. Sie könnte mindestens noch eine, vielleicht drei Millionen Dess-
jatinen für den Baumwollbau gewinnen, namentlich wenn sie auch
in Chiwa und Buchara lebhafter als bisher in Angriff genommen würde.
Bereits 400 000 Dessjatinen (— der jetzigen Baumwollanbaufläche)
würden 8 Millionen Pud Faser zu der bisherigen Produktionsmenge
hinzu liefern, was mit den technischen Verbesserungen auf der bisherigen
Anbaufläche schon beinahe den Bedarf deckte. Jedoch erst die volle Ge-
winnung des Neulands könnte die amerikanische Einfuhr ganz verdrängen.
Die beinahe ausschließliche Beschäftigung mit Turkestan als Baum-
wollland führte leicht zur Unterschätzung der außerordentlichen Reichtümer,
die die Kolonie außerdem noch birgt. Sie sind freilich nur erst zum Teil
erschlossen. Die Urproduktion ist neben dem Baumwollbau bedeutsam im
Obstbau und der Seidenzucht, welch letztere erst von Rußland eingeführt
worden ist; dazu kommt die Viehzucht, besonders in Schafen, Kamelen und
namentlich Pferden. Der Reichtum aber an Bodenschätzen, der im Lande
schlummert, ist heute noch so wenig nutzbar gemacht, daß er für die volks-
wirtschaftliche Beurteilung der Kolonie kaum in Frage kommt. Vor allem
von dem Werte des sog. Oberbuchara (dem gebirgigen Südteile zwischen
Turkestan und Afghanistan, der durch das Pamirabkommen Buchara zu-
gewiesen worden ist) sind noch nicht einmal klare Vorstellungen vor-
handen. Man findet im Lande vornehmlich Steinsalz, Naphtha, Stein-
kohle, Anthrazit, Graphit, Gold, Silber, Blei, Kupfer, Zink, Eisenerz,
Quecksilber, Manganerz usw. Auch der Bergbau ist sehr alt, wird aber
heute noch in denkbar primitivster Weise betrieben.
Der Grund, warum hier schon längst erkannte, wirtschaftliche Mög-
lichkeiten noch nicht ausgenutzt sind, ist der geringe Kapitalreichtum in der
Der Machtstaat.
315
Kolonie und im Mutterlande selbst, demnächst aber, daß man mit der
wirtschaftlichen Erschließung des Landes heute noch keine Eile hat und
vor allem nicht wünscht, diese fremdem Kapital zu überlassen. Man
besorgt, daß das fremde Kapital und der Einfluß des Auslandes die
Kolonie bei dem Mangel an einheimischem (russischen) Kapital, Unter-
nehmerstand und Unternehmungsgeist in die Hand bekommen würden,
und dann würde der militär-politische Wert der Kolonie, um dessent-
willen die Opfer der ersten Expansion gebracht wurden, wieder aufs
Spiel gesetzt werden. Hier brauchte der Nationalismus nicht erst besonders
eingeführt zu werden, hier erwuchs er ganz selbstverständlich aus dem
Begriff, den man sich überhaupt von der Kolonie und ihrer Bedeutung für
Rußland machte, und darin hat es seinen Grund, wenn die wirtschaftliche
Ausbeutung Turkestans bei weitem noch nicht das der Volkswirtschaft
geliefert hat, wozu sie an sich imstande wäre.
Der Nationalismus, der in dieser Turkestanpolitik zum Ausdruck
kommt, nimmt eine besondere Form an, indem auch diese Kolonie
für die Ubersiedlungsbewegung in Frage kommen soll. Bisher wurde sie
als beinahe tropische Kolonie vom Militär verwaltet, das eine geringe
Minderheit der Gesamtbevölkerung darstellte. Daneben zog die beginnende
wirtschaftliche Entwicklung immer mehr Russen ins Land, deren Gesamt-
zahl indes dieses Verhältnis auch noch nicht wesentlich verschob. Doch
hatte jene automatische Ubersiedlungsbewegung ebenso wie Sibirien auch
Turkestan ergriffen. Auch hier siedelten sich Kosaken und Bauern nament-
lich im Nordostgebiet (Semirjetschje, nach Semipalatinsk zu) an, regellos,
unter unklaren Eigentumsverhältnissen gegenüber der Kirgisenbcvölkerung.
Das neue Programm aber wollte das durch staatliche Bewässerung
gewonnene Land geradezu und ausschließlich einer heranzuziehenden
russischen Bevölkerung Vorbehalten, um die Grenzen und das Land selbst
für russisches Wesen zu sichern und den Anschluß an die sibirischen Sied-
lungen zu gewinnen. Was freilich für Sibirien möglich war und ist, ist
hier eine Utopie. In Sibirien steht anbaufähiges Land unter möglichen
klimatischen Verhältnissen zur Verfügung, auf dem der russische Bauer
sich gut entwickeln und für die tieferstehende einheimische Jägerbevölkerung
ein Muster werden kann. In Turkestan ist das heute verfügbare Land bis
,aufs äußerste aufgeteilt, zersplittert und von einer hochstehenden, nicht zu
.assimilierenden Kleinbauerttbevölkerung in Spezialkultur bestellt. Hier
316
IX. Kapitel.
russische Bauern einschieben, auch wenn es klimatisch möglich wäre, stellt
das Gelingen gerade der großen kolonialwirtschaftlichen (Baumwoll-) Pläne
in Frage. Russische Bauern finden sich in größerer Anzahl in diese Ver-
hältnisse hier nicht und können vor allem unter klimatischen Verhältnissen
nicht leben, die für Reis und Baumwollkultur notwendig sind und die sogar
die einheimische Bevölkerung kaum ertragen kann. Politisch aber ist
die ganze Maßnahme überhaupt unnötig, da im Lande selbst die russische
Herrschaft fest genug verankert ist und da sowohl die Abschließungspolitik
Afghanistans, wie die hohen Bergketten im Süden und Osten einen natür-
lichen Schutz bieten.
Ist so die Stellung Turkestans in der Volkswirtschaft klar, so ist
sie es auch im weiteren Rahmen der Kolonial- und Weltpolitik. Es
steht neben Sibirien in deren Mittelpunkte, bedarf nicht der Abrundung
nach Ostens und auch nicht nach Süden, wo die heute erreichte
Stellung wirtschaftlich und politisch in sich selbst ruht. Dagegen liegt ein
großer Druck auf der Grenze gegen Südwesten, gegen Nordpersien, wo
kommendem politischen Einfluß die Wege durch russische Bauernsiedlung in
Astrabad geebnet werden.
5. Der Kaukasus.
In diesem großen kolonialpolitischen Zusammenhange rückt der
Kaukasus in eine dienende Stellung ein. Die Statthalterschaft^) Kaukasus
ist (aus 12 Gouvernements und Gebieten bestehend) 469000 Quadrat-
kilometer - etwa vier Fünftel von Deutschland groß und hat 12Millionen
Einwohner (29,8 auf die Quadratwerst). Diese stellen eine außerordentlich
gemischte Bevölkerung dar. In ihr sind 34 % Russen, besonders in den
Kosakensiedlungen des Terek- und Kubangebietes, überhaupt im Norden;
in Transkaukasien') gibt es nur 4% Russen. Die zweite Stelle nehmen
die Tataren ein (19,352) im Osten und Südosten, die dritte (14,552) die
9 Doch werden Wühler in Chinesisch-Turkestan mit Lcmderwerb und Baum-
wollplantagen ausgestreckt.
*) Der Statthalter (Vizekönig) steht unmittelbar unter dem Zaren und ist
Mitglied des Ministerrats und des Reichsrats.
9 Das übrigens von Rußland zu seinem asiatischen Besitze, von Deutsch-
land zu Europa gerechnet wird. Praktische Bedeutung hat das z. B. in der Ab-
grenzung des Konsulatsbezirks Tiflis oder für die Geltung der Haager Konvention,
Der Machtstaat.
817
Karthwelier (Grusinier, Jmeretier, Mingrelier usw.), die vierte die Ar-
menier (12%) besonders in Südtranskaukasien, usw?).
Auch die Unterwerfung des Kaukasus — in der Hauptsache 1859
nach der Unterwerfung Schamyls beendet — erfolgte zuerst aus militär-
politischen Gründen. Sie hatte nach Süden zu einer bedrohlichen Stellung
gegenüber der Türkei geführt, in der Rußland Nachbar zugleich der Türkei
und Persiens geworden ist. Vom Bahnbau nach Süden wurde schon
gesprochen, ebenso von der noch mangelhaften Verbindung mit dem übrigen
Reiche; durch die Häfen der westkaukasischen Küste ist die Kolonie mit der
Krim, der Donaumündung und Konstantinopel in Zusammenhang
gebracht.
Der Kaukasus ist die vielleicht reichste und die am dichtesten bevölkerte
der russischen Kolonien, aber die Kolonialpolitik wirkte auf ihn bei weitem
nicht so energisch ein wie auf jene beiden anderen Gebiete. Die Ver-
waltung hat dem Lande Ruhe gebracht und manche Kulturarbeit geleistet,
aber sie ist nicht so straff wie dort, hat allerdings auch zu kämpfen mit
der außerordentlichen Vielfältigkeit der Nationen und Sprachen im ganzen
Gebiet und den natürlichen Schwierigkeiten, die die hohen Berge und Verg-
täler der Verwaltung entgegenstellen. Dafür ist sie von der Zentrale
erheblich unabhängiger als die Sibiriens und Turkestans. Aber diese ver-
waltungsrechtliche Sonderstellung hat den Kaukasus seit der Revolution
nicht vorangebracht. Aus der Reform der agrischen Verhältnisse ist nichts
geworden, und auch die Überwindung früherer rauher und ungeordneter
Zustände ist nicht voll gelungen. Und in industrieller Beziehung ist der
Kaukasus weniger entwickelt worden als der Ural.
Dagegen ist ein Kolonialwirtschaftsprogramm vom Landwirtschafts-
ministerium in Angriff genommen worden. Der wirtschaftliche Wert des
Kaukasus liegt zunächst in der durch ihn erreichten Verbindung mit Nord-
persien, wohin die das Kaspische Meer beherrschende russische Dampferlinie
„Kawkas i Merkurie" auch schon ihre Dampfer laufen läßt. Da diese Linie
zugleich die wichtigste Dampferlinie auf der Wolga ist, schließt sie gleich
das Gebiet von Astrachan bis Nischni-Nowgorod hinauf auch an Kau-
kasus und Turkcstan an. Dagegen hat die Verbindung des Kaukasus mit
der asiatischen Türkei noch keine wesentliche wirtschaftliche Bedeutung.
st S. dazu Kap. X.
318
IX. Kapitel.
Rußlands Verkehrsbestrebungen werden hier durchaus durch die
strategisch-politischen Rücksichten bestimmt, die im Hinblick auf die asiatische
Seite der orientalischen Frage in erster Linie stehen. Diese brauchten jedoch
nicht die Entwicklung der natürlichen Reichtümer zu hindern. Von diesen^)
— Erzvorräten und Petroleums, Wein, Tabak, Seide, Reis und Baum-
wolle — ist die Baumwolle aus denselben Gründen wie die turkestansche
immer wichtiger geworden; ihr Anbau soll Turkestan in der Baumwoll-
produktion unterstützen. Sie hat in der heißen Araxesebene (der Mugan-
steppe) ihre Stätte, im eigentlichen Armenien mit der Hauptstadt Eriwau,
das, ein trockenes Gebiet, in unendlicher Mühe der armenischen Bauern
durch Bewässerung dazu gebracht ist, Getreide und Wein, Reis und Baum-
wolle hervorzubringen. Die Arbeitsbedingungen sind hier etwas andere
als in Turkestan. Die Produktion ist noch sehr ausdehnungsfähig, da
hier erst 7—10% des anbaufähigen Bodens benutzt wird — % Million
Dessjatinen ist noch anbaufähig. Die Ernte ergab 1906: 2% Millionen
Pud; die Produktion beträgt heute von 83 000 Dessjatinen jährlich etwas
über 1 Million Pud Baumwollfaser. Sie leidet aber sehr an Arbeits-
kräften Mangel, die aus dem benachbarten Persien herangezogen werden
müssen, wie ja auch die Kulturgebiete Rußlands und der anstoßenden per-
sischen Provinz Aserbeidschan ineinander übergehen. —
Ganz anders als die kolonialwirtschaftliche Betätigung Englands steht
die russische Kolonialpolitik von heute da. Sie ist ein notwendiger Bestand-
teil der russischen auswärtigen Politik überhaupt geworden, und sie hat die
Vorteile, daß das Zusammenfließen von kolonialwirtschaftlicher und
kolonialpolitischer Betätigung, wie es sich seit zwei Jahrzehnten allen Welt-
mächten immer mehr aufgedrängt hat, für sie viel einfacher ist, weil seine
koloniale Expansion vor allem ein solche des Staates ist, und daß sie über
ungeheure Gebiete von großem, noch unerschlossenem Reichtum verfügt.
Mit ihr wird ein gewaltiger Zusammenhang umrissen und bedeutende wirt-
schaftliche Möglichkeiten sind darin angedeutet. Viel Wesentliches ist dabei
0 Nebenbei sei hier auch die kaiserliche Plantage Tschakwa bei Batum genannt,
ein Schaiullgut wie Bairam Ali, auf dem in der wundervollen klimatischen Lage
am Schwarzen Meer Tee gebaut wird. Die Plantage steht, seit 16 Jahren in
Betrieb, unter Leitung eines Chinesen und versendet jährlich 6000 Pud Tee ins
Reich.
2) Ausbeute im ganzen Kaukasus 1912: 518,2 Mill. Pud.
Der Machtstaat.
319
in dm Anfängen und vieles noch erst lediglich Wollen. Aber vorhanden ist
dieser Zusammenhang, durch den erst in den Jahren nach der Beendigung
der sibirischen Bahn mehr Inhalt in diese koloniale Expansion gekommen
ist. Sie ruht auf einer großen politisch- und wirtschaftsgeographischen
Vorstellung: um das Zentrum Moskau, das in Gegenwart und Zukunft
noch in ganz anderem Sinne Mittelpunkt des Weltreiches ist, als im
Mittelalter, das Viereck, bezeichnet etwa durch die Punkte Riga—War-
schau—Odessa—Astrachan—Orenburg—Archangelsk, mit seinen immer
enger mit ihm in Verbindung tretenden Depeudenzen: Krim—Kaukasus—
Turkestan—Sibirien —, eine Vorstellung, die die eigentümlichen Schwierig-
keiten dieser Weltentwicklung ebenso erkennen läßt, wie die Linien, auf
denen sie weitergehen will und auf denen sie ihre Lebensinteressen
sieht.
IV. Die auswärtige Polittk vom Frieden von Portsmouth bis zum
Ausbruch des Weltkrieges.
Wir gehen von folgenden Daten aus: 1. Juli 1900 Eröffnung des
letzten Stückes der sibirischen Bahn. — 2. Oktober 1903 Abkommen
mit Österreich zu Mürzsteg, durch das, aus Betreiben Rußlands, die
mazedonische und damit die ganze orientalische Frage, soweit sie Europa
anging, zum Stehen kcmü), — 28. Juli 1904 die Unterzeichnung des
deutsch-russischen Handelsvertrages — 24. Juli 1905 die Zusammenkunft
des Deutschen Kaisers und Nikolais II. auf der Höhe von Björkö. —
5. September 1905 die Unterzeichnung des Friedens von Portsmouth.
0 Am 26. Februar 1903 erschien eine amtliche „Mitteilung in Sachen
Mazedoniens" im russischen „Regierungsanzciger", in der es zum Schluß hieß:
„Um den Preis unzähliger Opfer Rußlands zu einem selbständigen Leben berufen,
können die Balkanstaaten auf die ständige Fürsorge der kaiserlichen Regierung für
ihre tatsächlichen Bedürfnisse und auf ihre kräftige Verteidigung der geistlichen
und Lebensinteressen der christlichen Bevölkerung der Türkei rechnen. Gleichzeitig
hiermit aber müssen sie indessen nicht aus dem Auge verlieren, daß Rußland
weder einen einzigen Blutstropfen seiner Söhne, noch den allerkleinsten Besihteil
des russischen Volkes opfern wird, falls die flawischen Staaten den ihnen zeitig
gegebenen einsichtsvollen Ratschlägen zuwider den Entschluß fassen, durch
revolutionäre und Gewaltmittel eine Veränderung des gegenwärtigen Regimes
der Balkanhalbinsel anzustreben."
320
IX. Kapitel.
Die Situation der großen Politik Rußlands war danach die, daß
der Vorstoß auf die Mandschurei, der im Zusammenhang mit der sibirischen
Bahn und der Anlage von Dalni das ostasiatische Kolonialgebiet
vorteilhafter abrunden sollte, zurückgeworfen war. An seinem Lebens-
nerv war Rußland damit nicht getroffen, ihm blieb die Ausdehnung der
früheren Perioden bis Wladiwostok und die Möglichkeit, sich mit Japan
über die Mandschurei zu einigen, sowie sich zu rüsten, wenn der Zer-
setzungsprozeß Chinas weitergehen würde. Der Krieg war mit freund-
schaftlicher Neutralität Deutschlands durchgefochten worden, das Rußland
während der unglücklichen Kämpfe und während der daraus folgenden
inneren Erschütterungen eine Flankendeckung gewesen war. Durch das
Zusammentreffen der beiden Monarchen in den finnischen Gewässern war
das auch nach außen dokumentiert worden.
Andererseits hatte die Hoffnung auf das Bündnis mit Frankreich,
das Nikolai II. als eine Hauptgrundlage der russischen Politik von seinem
Vater übernommen und durch sein Wort (August 1897) von den „nations
amie8 et alliees" seinerseits der Welt kundgetan hatte, getrogen. Frank-
reich hatte seine Bündnispflicht nur zum sehr geringen Teile erfüllt in-
sofern, als es die Ausfahrt Roschdestwenskis unterstützte, der lange in den
Gewässern bei Madagaskar bleiben durfte. Im Oktober 1904 hatte die
Doggerbankaffäre, als derselbe ausführende russische Admiral englische
Fischerkutter beschoß, die Beziehungen zwischen England und Rußland
schließlich sehr verschärft.
Von dieser Situation im Jahre 1905 aus vollzieht sich nun eine
fast totale Umkehrung. Zunächst waren die Friedensbedingungen durch-
zuführen. Rußland verlor Port Arthur und Dalni; die Jalukonzession
in Korea unglückseligen Angedenkens war selbstverständlich schon erledigt.
Im Laufe des Jahres 1906 drohte es zwischen Rußland und Japan um
die Ausführung der Friedensbedingungen noch einmal zum Kriege zu
kommen. Erst im Januar 1907 begann Rußland die Mandschurei zu
räumen, während Japan entschieden in Korea und Süd-Sachalin vorging
und ebenso die Bahn in der Süd-Mandschurei für sich in Anspruch nahm.
So war die Spannung zwischen den beiden großen Mächten noch lange
nicht gelöst. Im Gegenteil schien sie im Herbst 1909 nochmals in einen
Krieg auszugehen. Aber die Balkankrisis, die Rußland abzog, die arg-
wöhnische Aufmerksanikeit der englischen Presse auf Japan, die amerika-
Der Machtstaat.
321
nischen (Knoxschen) Mandschureipläne und besonders Japans Geldmangel
bewirkten, daß statt dessen vielmehr ein Abkommen zwischen beiden Mächten
über die Mandschurei zustande kam (4. Juli 1910). Darin verpflichteten
sie sich, einander in der Verbesserung ihrer beiderseitigen Eisenbahnlinien
freundschaftlich zu unterstützen und sonst den Status quo — d. h. still-
schweigend den Norden als russische, den Süden als japanische Interessen-
sphäre — aufrechtzuerhalten und zu achten.
Damit endete vorläufig die asiatische Expansion Rußlands. Die
öffentliche Meinung war durch sie nicht von dem abgelenkt worden, was
sie für das wesentlichste hielt, sie blieb nach der alten orientalischen Frage
orientiert, für die das sog. Testament Peters des Großen die Schlag-
worte für eine Bestimmung der russischen Interessen ausschließlich
in dieser Richtung gab. Realen Hintergrund hatte davon nur noch
die Forderung der freien Durchfahrt durch Bosporus und Dardanellen,
deren Verschluß der Schwarzmeerflotte das Auslaufen unmöglich gemacht
und so nach allgemeiner Vorstellung wesentlich zu der Niederlage von
Tsuschima beigetragen halle. Sonst hatte das Interesse an der orien-
talischen Frage ja keine Bedeutung mehr, weder die immer gern betonte
Gemeinsamkeit der Rasse und Sprache mit den Balkanslawen, noch der
ebenso gern ausgesprochene Hinweis, daß es die Mission Rußlands sei, auf
der Hagia Sophia in Konstantinopel den Halbmond durch das griechische
Kreuz zu ersetzen. Die Erfahrungen des ganzen 19. Jahrhunderts zeigten
vielmehr, daß auf diesem Wege für Rußland nichts herausgekommen
war, als mit der zunehmenden Befreiung der Balkanslawen von
der Türkei ebenso auch die Emanzipation der Balkanstaaten von ihm,
die es gerade durch seine verschiedenen Kriege gegen die Türkei selbst ge-
fördert hat. Aber diese auf historischen Erfahrungen begründete politische
Einsicht war nicht Gemeingut der öffentlichen Meinung, in oer bürgerlichen
Intelligenz und im Militär herrschten durch Geschichtsunterricht, Tradition
und unausgesetzte Wiederholung, etwa in der Moskauer und Petersburger
„Slawischen Wohltätigkeitsgescllschaft" Jgnatiewschen Angedenkens, immer
noch jene Vorstellungen von der orientalischen Frage, und zwar der im euro-
päischen Sinne. Die größeren Interessen auf der asiatischen Seite, gegen
Türkisch-Armenien und Kleinasien, fanden erst in zweiter Linie Beachtung,
wie auch der asiatische Kriegsschauplatz in den Kriegen von 1827/28,
1855/56, 1877/78 immer nur als sekundär betrachtet worden war.
Hoetzsch, Rußland. 21
322
IX. Kapitel.
Es war begreiflich, daß, nachdem der Krieg mit Japan unglücklich
ausgegangen war und die Betätigung nach dem fernen Osten als schlimmes
Abenteuer gebrandmarkt schien, die öffentliche Meinung in ihrer Richtung
auf die alte orientalische Frage nun auch auf die Führung der auswärtigen
Politik drückte, in der sowieso immer Anhänger einer aktiven Politik
Rußlands und Gegner jener Friedenspolitik, wie sie 1903 Österreich
gegenüber betrieben worden war, gesessen hatten. In dem am 12. Mai
1906 zum Minister des Auswärtigen ernannten Jswolski kam diese anti-
österreichische und Balkanrichtung zur Herrschaft in der Leitung der großen
Politik.
Parallel mit dieser Entwicklung, in der Rußland sein Gesicht Europa
wieder zuwendete, ging die völlige Umwandlung der Stellung zu England,
die sich im Laufe von nicht 3 Jahren vollzog. Die Niederlage von
Tsuschima war für die englische Politik nicht unerwünscht gewesen. Solange
die alten Vorstellungen der 80er und 90er Jahre von einem drohenden
Zusammenstoß zwischen England und Rußland in Zentralasien noch
galten, lag in der imttlichen Kriegsmarine, über die Rußland bis
1905 verfügte, eine für England unerfreuliche Stärke des wahrschein-
lichen Gegners. Diese Seemacht wurde nun im Kriege mit Japan soweit
vernichtet, daß Rußland auf absehbare Zeit als Seemacht überhaupt aus-
fiel. Außerdem aber erschien ein Angriff Rußlands auf Indien, je mehr
Zeit seit dem Pamirabkommen von 1895 verstrich, als immer unwahr-
scheinlicher: „ich glaube nicht", sagte der als größte Autorität in zentral-
asiatischen Dingen geltende Lord Curzon, „daß ein einziger in Rußland,
mit Ausnahme weniger spekulativer Theoretiker oder hier und da eines
unverständigen Subalternen, ernsthaft an die Eroberung von Indien denkt".
Damit veränderte sich Rußlands Bedeutung für die englische
Politik, die nun daran denken konnte, diese Kontinentalmacht für ihre
Zwecke zu verwenden. England warf darum die bisherige Politik herum
und begann gleich nach dem Kriege auf eine Verständigung mit Rußland
und auf eine friedliche Erledigung der Streitfragen auf asiatischem Gebiet
hinzuarbeiten. Ferner konnte es, seit die russische Seemacht vernichtet
war und die Entente mit Frankreich festere Form 'annahm, Rußland ein
größeres Entgegenkommen beweisen und sich zugleich ernsthaft darum be-
mühen, daß die kühlere Stimmung zwischen Frankreich und Rußland, die
aus Frankreichs Haltung im japanischen Kriege entstanden war, sich
Der Machtstaat.
323
nicht weiter verschärfte, sondern im Gegenteil nunmehr ein Verhältnis zu
Drei entstünde, das die englische Politik in den Dienst ihrer deutsch-
feindlichen Richtung stellen konnte.
Dem kam der Wunsch der öffentlichen Meinung Rußlands entgegen,
die Gegensätze auf asiatischem Gebiet, also was hier besonders in Frage
kam, in Persien, überhaupt mehr und mehr zu beseitigen. Dem kam
ferner entgegen die anglophile Stimmung großer Kreise der russischen ge-
bildeten Gesellschaft. Die vielfach vorhandene, aus panslawistischer und
slawophiler Quelle stammende Deutschfeindlichkeit setzte sich in direkte
Anglvphilie in Kreisen um, die für die englichen Verfassungseinrichtungen
schwärmten und die Zeit gekommen glaubten, sie auch in ihr Vaterland
einführen zu können. So ist die englandfreundliche Stimmung bei den
Kadetten, auch bei vielen Oktobristcn zu verstehen, die bei Reisen der Poli-
tischen Führer nach London laut wurde, während dann die Deutschfeindlich-
keit einen Grund mehr in der Vorstellung fand, das von Preußen geführte
Deutschland sei der Hort der Reaktion. Sogar die Kirche wurde hereingezogen
mit der Erwartung, die N. Chomjakow (der frühere Dumapräsident) aus-
sprach, daß „wenn die Welt einst den glücklichen Tag der Vereinigung der
Christen erlebe, bestimmt der sicherste Weg dazu durch England gehen
würde".
All das fand wieder in England gute Aufnahme. Der namentlich bei
den liberalen englischen Staatsmännern*) sehr große Einfluß der Madame
Olga Nowikow hatte schon lange für eine Entente beider Länder gearbeitet.
Diese merkwürdige Frau hat recht eigentlich in England den Boden
dafür bereitet und ist von Publizisten wie W. T. Stead u. a. laut unterstützt
worden. Überhaupt ist die ganze Schwenkung von einer sehr geschickten
Presse vorbereitet und ihr von dieser lebhaft sekundiert worden. Schon
1901 hatte Fürst Uchtomski, der ehemalige Reisebegleiter und Freund des
Zaren, in seinen „Petersburger Nachrichten" den Gedanken verfochten,
daß eigentliche Interessengegensätze zwischen England und Rußland gar
nicht vorhanden seien. Die „National Review" war dem entgegen-
gekommen, und der Vertreter der größten und einflußreichsten russischen
Zeitung, der „Nowoje Wremja", in London, Wessclizki-Boschidarowitsch,
stieß jahrelang in seinen „Argus" unterzeichneten Artikeln in dasselbe Horn
’) Die am 4. Dezember 1905 zur Regierung kamen.
21*
324
IX. Kapitel.
und forderte laut eine englisch-russische Verständigung über Nord-China,
über Persien, über die orientalische Frage.
Diese Äußerungen der öffentlichen Meinung waren um so wirkungs-
voller, als sie darauf hinweisen konnten, daß die asiatische Politik als den
russischen Interessen widersprechend durch ihren Fehlschlag gewissermaßen
bestraft sei, und als sie in Jahren laut wurden, in denen die Staatsgewalt
durch die revolutionäre Bewegung geschwächt und geneigt war, in
der öffentlichen Meinung eine Stütze zu suchen, statt diese selbst zu be-
stimmen. Dazu kamen schließlich die verwandtschaftlichen Beziehungen
zwischen dem englischen Könige und dem Zaren, die der erstere für sein poli-
tisches System ausnutzte, und die bewußt England und Frankreich freund-
liche Haltung des Ministers Jswolski. 1907 und 1908 wird die Wendung
Rußlands zurück gegen den nahen Orient und Österreich voll-
ständig vollzogen, der Besuch König Eduards (9./10. Juni 1908) bei
seinem Neffen in Reval gab der Welt die englisch-russische Entente mit
ihrer antitürkischen und antideutschen Spitze öffentlich kund.
Die beiden positiven Ergebnisse waren zunächst das Abkommen
zwischen Rußland und England vom 31. August 1907 über Persien
und das gemeinsame antitürkische Balkanprogramm und Auftreten beider
Mächte in der mazedonischen Frage im Sommer 1908.
Gleich nach Abschluß des zweiten Bündnisses mit -Japan ließ Lord
Lansdowne erklären, daß darin keine Drohung gegen Rußland liege; der
Wink wurde von diesem verstanden. Auf der Konferenz von Algeciras
trafen sich dann, indem die französischen Vertreter vermittelten, Sir
Arthur Nicholson und Graf Cassinis; auch Donald Mackenzie Wallace,
der alte ausgezeichnete Kenner Rußlands, nahm an diesen Besprechungen
teil. Aus ihnen ging das Abkommen vom 31. August 1907 hervor
— ein weltgeschichtlicher Markstein. Denn in ihm — es umfaßt
drei Konventionen: über Persien, Afghanistan und Tibet — wurde der
gesamte zentralasiatische Gegensatz zwar nicht gelöst, aber vertagt. Die
beiden Mächte teilten Persien unter sich in drei Interessensphären, von
denen die nördliche Rußland, die südliche England vorbehalten wurde,
während die Mitte neutral bleiben sollte. Damit war die bedrohliche
0 Damals Botschafter Rußlands in Washington.
Der Machtstaat.
325
Rivalität vorerst aus der Welt geschafft und damit auch der Gegensatz
in Zentralasien überhaupt beruhigt, indem das Pamirabkommen damit
eine Stütze erhielt. Beide Mächte wollten ihren Besitz in Zentralasien
nicht ändern und ordneten ihre Interessen an Persien friedlich mitein-
ander. Afghanistan gilt als außerhalb der russischen Interessensphäre
liegend; Rußland bedient sich in seinem politischen Verkehr mit Afgha-
nistan sogar der Vermittlung Englands, das dafür den politischen Status
Afghanistans nicht verändern will. Für Tibet wurde der bestehende Zu-
stand der chinesischen Oberhoheit bestätigt, auch da aber Englands bevor-
zugte Interessen anerkannt. In bezug aus Persien hatte Rußland den
besten Anteil erhalten: der größte Teil des wertvollen Landes liegt im
Norden, im Nordwesten Aserbeidschan mit Täbris, demnächst Hamadan
(mit Jsfahan), im Nordosten Chorassan (mit der, dem russisch-turke-
stanschen Aschabad so gut wie benachbarten, Hauptstadt Meschhed), an
dessen Grenze die mittelasiatische Bahn so nahe hinführt, daß man die
Grenzhügel vom Kupeefenster aus sieht. Aber trotzdem trug England in
diesem Abkommen den größeren Vorteil davon. Denn mit ihm war das
alte Streben Rußlands nach dem persischen Golf und einem Hafen dort,
den man etwa in Bender-Abbas suchte, zunächst aufgegeben. Und darin
lag die Schwäche dieses Abkommens, das nur solange von Dauer sein
kann, als die beiden vertragschließenden Mächte die Beschäftigung mit
Persien und Zentralasien zurückstellen. Das wollten sie aber vorerst, weil
sie in der orientalischen Frage gemeinsam vorgehen wollten.
Zum Erstaunen der Welt erschienen die beiden alten Gegner im
Sommer 1908 vereint in einem Programm zur Lösung der mazedonischen
Frage, das die beiden Minister Sir Edward Grey und Jswolski vorlegten.
Das gemeinsame Interesse beider Staaten bestand dabei in der gemein-
samen Gegnerschaft gegen die Türkei. England war dazu erst in der
Gegenwart gekommen um seines Zieles einer Sicherung von Ägypten
und Indien zugleich willen, auf das hin auch das Abkommen über
Persien mit Rußland und mit seinem Vorbehalt über Südpersien zu-
gunsten Englands geschlossen war. Die russische Politik aber nahm, von
ihrer öffentlichen Meinung unterstützt, mit diesem Vorgehen wieder eine
aktivere Haltung in der orientalischen Frage ein, getrieben durch die
Neubelebung des Panslawismus, den sogen. Neopanslawismus, der sogar
die Polen für seine Idee zu gewinnen schien und eine große, demokratische
326 IX. Kapitel.
Gesamtbewegung des Slawentums zur endlichen Lösung der orientalischen
Frage darstellen wollte.
Damit wurde aber die alte geschichtliche Spannung zwischen Rußland
und Österreich, die nur geruht hatte, wieder in vollem Maße akut. Im
Januar 1908 hatte letzteres mit den Erklärungen Aehrenthals über die
Bahnlinie durch Novipazar den ersten Protest gegen die englisch-russische
Kooperation in der Orientfrage erhoben, im Oktober 1908 vollzog es
auch formell die Annexion von Bosnien und Herzegowina. Da in der
damit entstehenden Krise, die sich bis zum April 1909 hinzog, Deutschland
entschieden an der Seite Österreichs stand, verschärfte sich die Feindschaft
Rußlands auch gegen Deutschland mehr und mehr. Rußlands Beziehungen
zu Frankreich waren wieder freundschaftlich geworden und wurden cs
immer mehr, die Beziehungen zu England waren so eng wie möglich.
Und im ersten Vierteljahr des Jahres 1909 schien es, als wenn Rußland
nicht nur um der orientalischen Frage willen mit Österreich in Krieg
geraten würde, sondern daß sich infolge der engen Bündnisbeziehungen
auf beiden Seiten dieser Krieg sofort zu einem russisch-französisch-englischen
Kampf mit Deutschland-Österreich und Italien erweitern würde.
Rußland hat diese Politik, zu deren Träger sich Jswolski immer
unbedingter gemacht hatte und zu der seine öffentliche Meinung bereit war
und trieb, nicht gleich bis zu ihrem Ende getrieben. Sowohl im Zaren
wie in Stolypin war die Auffassung stärker, daß ihr Staat zu einem
Kriege überhaupt und vor allem zu einem Kriege von solchen Dimensionen
noch nicht wieder gerüstet sei, daß vielmehr ein derartiger Krieg leicht
zu einer abermaligen revolutionären Bewegung führen würde, und daß
ihr Land unbedingt noch Jahre des Friedens brauche. Demnächst war
beider Überzeugung, daß der mögliche Gewinn dieses Krieges nicht im
Verhältnis zu dem Einsatz stünde, während andererseits die Unruhen
in China der russischen Politik wieder neue Aufgaben stellten.
Infolgedessen trat Jswolski am 28. Sepetmber 1910 zurück und
wurde durch seinen bisherigen „Gehilfen" Sasonow ersetzt, der bereit war,
die großen Gefahren eines Weltkrieges, soweit es mit Ehren anging, zu
beschwören. Als Stolypin ermordet wurde, folgte diesem in Kokowzow
ein Staatsmann der gleichen Anschauung.
Aus ihrer gemeinsamen Haltung ergab sich eine Entspannung der Be-
ziehungen zu Deutschland, die nur durch eine lange Krankheit Sasonows
Der Machtstaat.
327
aufgehalten wurde. Der Zar selbst hatte übrigens die persönlichen Be-
ziehungen zu Deutschland niemals völlig unterbrochen; er war 1907 m
Swinemünde und 1909 wieder in Björkö niit dem deutschen Kaiser
zusammengetroffen. Und aus der gemeinsamen Arbeit der Staats-
männer ging das Abkommen von Potsdam vom 4./5. November 1910
hervor, das wegen der Erkrankung des russischen Staatsmannes erst am
19. Mai 1911 in Petersburg perfekt wurde. Deutschland sicherte
darin Rußland freie Hand in Nord-Persien zu, und indem die
Zweigbahn der Bagdadbahn nach Chanekm an der persischen
Grenze in dieses Abkommen mit ausgenommen wurde, erhielt Rußland
den Anschluß an die Bagdadbahn, der seinen Interessen genau so
entsprach, wie den deutschen. Die Eifersucht der englischen Presse sah
darum in dem Abkommen und den Kommentaren des deutschen Reichs-
kanzlers dazu schon eine Erneuerung des deutsch-russischen Rückver-
sicherungsvertrages.
Rußland schien auch Miene zu machen, sich dem fernen Osten
wieder stärker zuzwenden. Während dieses selben Jahres 1911
waren nämlich seine Beziehungen zu China immer unfreundlicher
geworden. Daß diesem gegenüber ein endgültiger Zustand noch nicht
erreicht sei, darüber ist sich die russische Politik längst klar gewesen, die
darum auf Tibet, Chinesisch-Turkestan, die Mongolei und die Nord-
Mandschurei immer fest das Auge gerichtet hielt. Und im Bewußtsein
der inneren Schwäche Chinas, zu dem die russische Politik durch eine viel
genauere Kenntnis des Terrains als die anderen Mächte sie hatten, be-
rechtigt war — hat sie doch diese Schwäche oft selbst gefördert —, trat
sie China gegenüber immer sehr entschieden, ja rücksichtslos auf. Im
März 1911 antwortete China noch befriedigend auf ein brüskes russisches
Ultimatum. Die Kriegsgefahr schien vorüber, bis die überraschende Revo-
lution in China im Dezember 1911 zur Selbständigkeitserklärung der
Mongolei führte und so das Problem von neuem aufrollte.
Wenn auch die asiatischen Interessen über dem Lärm der all-
slaw'schen Begeisterung verschwunden zu sein schienen, tot waren sie des-
halb nicht. Dazu waren ja sowohl die Wucht der politischen Tradition
wie auch die realen Interessen zu groß. Rußland hat mit China eine
Grenze gemeinsam, die 7000 Kilometer lang ist, und über diese Grenze
dringt, wenigstens im Osten, die chinesische Einwanderung ein, die diesen
328
IX. Kapitel.
Teil des sibirischen Kolonialbesitzes ernstlich bedroht. Sodann: mit der
Mandschurei hatte nicht nur ein günstigerer Zugang zum Meere gewonnen
werden sollen, sondern auch eine Stellung in der Nähe des eigentlichen
Chinas und damit die Teilnahme an seiner Erschließung und vor allem
ein Land (von der Größe Österreich-Ungarns) mit großen Werten der
Urproduktion und des Bergbaus, vor allem an Gold. Mit seiner Sicherung
wäre die russische Expansion zu einem Abschlüsse gekommen; es wäre samt
Korea, für das das gleiche gilt, ein letzter und sehr wertvoller Stein in
ihrem Bau gewesen. Gerade diese Steine aber hatte Japan aus dem
gewaltigen Gebäude herausgeschlagen. Darum wandte man, je unsicherer
im Innern des chinesischen Reiches die Verhältnisse wieder wurden,
immermehr den Blick auf die gleichfalls wertvolle, dem japanischen Ein-
fluß entrückte und möglicherweise auch abbröckelnde Mongolei, in der ein
Handelsvertrag (von 1881) der russischen Expansion unangenehme Fesseln
auferlegte. Den Einfluß auf sie sah man vornehmlich deshalb für not-
wenig an, damit nicht in diesem Gebiet unabhängig von Rußland ent-
stehende Verkehrslinien die sibirischen Straßen und Interessen schädigten.
Deshalb sprach der Nationalökonom Mingulin vielen aus dem Herzen,
wenn er als natürliche Südostgrenze die hohen Gebirge bezeichnete, die das
eigentliche China von seinen Vasallenstaaten trennen, die Altyn-tag-, die
Kuenlun- und die Karakorumkette. Die Einbeziehung dieser Gebiete
bereiteten Studienexpeditionen in die Mongolei und die umsichtige und
zähe Arbeit des russischen Generalkonsuls in Urga, Korostowez, vor, die
wieder einmal typisch war für die von persönlichem Ehrgeiz ge-
tragene, oft gefährliche Verwicklungen verschuldene, aber immer der
Expansion des Reiches dienende Tätigkeit solcher diplomatischen Pioniere,
deren Rußland im fernen Osten wie in Persien oder auf der Balkanhalb-
insel häufig gehabt hat. Als sich dann im Dezember 1911 die Mongolei
autonom erklärte, kamen die Dmge rasch zur Reife. Am 3. November
1912 wurde mit dem geistlichen Oberhaupt der Mongolei, dem
Chutuchtu, ein Abkommen geschlossen, das die Mongolei schon wie
ein selbständiges, mit Rußland m Freundschaftsverbindung stehendes
Gebiet behandelte. Und danach erhielten die russischen Untertanen im
Lande alle Rechte, die sie zu haben wünschten, vor allem überall das
Recht freien Handels und Eigentumserwerbs, und eine Stellung des
russischen Konsulatswesens, die sich leicht zur vollen Verfügung über das
Der Machtstaat.
329
Land entwickeln ließ*). Der Möglichkeit eines Krieges mit China, zu dem
eine solche Politik führen konnte, wurde ohne Scheu entgegengesehen, ebenso
wie der anderen Möglichkeit, die durch russische Truppensendungen sogar
unterstützt wurde, daß in Kaschgar und überhaupt in Chinesisch-Turkestan
ebenfalls neue Verwicklungen begännen.
So suchte die amtliche Politik auch die andere große Richtung
festzuhalten. Aber die Verhältnisse der äußeren und inneren Politik waren
stärker als sie. In der gleichen Zeit wurde die kaum beschworene orien-
talische Gefahr wieder durch den von Italien um Tripolis begonnenen
Krieg gegen die Türkei wachgerufen und trieb in einem Jahre zu einer
abermaligen, außerordentlich schweren Krisis, in die Rußland nun ein-
trat, nachdem es drei weitere Jahre innerer Rüstung verbracht
hatte. Jetzt kam aber mit der Begründung des Balkanbundes
eine neue politische Idee in die orientalische Frage herein, die der
bisherigen russischen Auffassung dieses Problems keineswegs entsprach.
Soweit die religiöse und stammliche Gemeinschaft des russischen Slawen-
tums mit den Balkanslawcn in der Vergangenheit festere Formen an-
genommen hat, bewegten sich diese jedenfalls nicht in den Bahnen der
Organisierung selbständiger Staaten oder gar eines Staatenbundes, der
nicht nur seine Unabhängigkeit gegenüber der Türkei und dem übrigen
Europa, sondern auch Rußland gegenüber vertreten wollte. Trotzdem hat
der Panslawismus auch in dieser Krisis von 1912/13 und für die Balkau-
slawen eine große Agitation entfaltet.
Es vollzogen sich Dinge, die lebhaft an die Vorbereitungen des
Krieges von 1877/78 erinnerten. Auf Banketten wurde in begeisterten
Reden, die immer deutlicher wurden, die Gemeinsamkeit mit den Balkan-
slawen betont, insonderheit mit den Serben, die als ein Vorposten einer
Ost-Westbewegung des Slawentums um den Zugang zum Adriatischen
Meere kämpften gegen eine von Nordwesten nach Südosten gehende
Expansion des Germanentums, von der man in den panslawistischm
Kreisen wie von einer die deutsch-österreichische Politik absolut be-
*) Am 5. November 1913 erkannte Rußland in einem Vertrage mit China
dagegen wieder an, daß die äußere Mongolei unter der Suzeränität Chinas stehe
und chinesisches Territorium sei, und verpflichtete sich, sich nicht in die Verwaltung
der Mongolei einzumischen, seine Kolonisation dort aufzugeben und keine Truppen
in ihr zu unterhalten,
330
IX. Kapitel.
herrschenden politischen Idee sprach. Das Bemerkenswerteste an dieser
unruhigen Bewegung, die die russische Gesellschaft erfaßt hatte und
immer stärker wurde, je unsicherer die entgegenstehende österreichische
Politik erschien, war, daß auch besonnene Männer sich in ihren Dienst
stellten, wie Gutschkow. Dabei sprach neben der realpolitisch wenig fun-
dierten allslawischen Stimmung vor allem die Sorge um die Meerengen
mit. Nur wenige Tage waren die Meerengen während des türkisch-
italienischen Krieges geschlossen gewesen, und schon hatten das die russischen
kommerziellen Interessen sehr empfindlich gespürt. Jetzt schien die Liquida-
tion der Türkei gekommen und fielen vielleicht auch die Würfel über die
Meerengenfrage. So wandte sich die öffentliche Meinung immer aufgeregter
den Balkandingen und den wahren oder vermeintlichen Interessen Ruß-
lands daran zu.
Ihr gegenüber hielt die amtliche Politik noch an einer fried-
lichen Lösung fest. Sowohl Kokowzow wie Sasonow betonten, daß Ruß-
land trotz seiner großen Fortschritte noch weiterhin Frieden brauche, gegen-
über einer politischen Anschauung, die durch die Großfürsten Nikolai Niko-
lajewitsch (verheiratet mit Anastasia von Montenegro) und Peter Niko-
lajewitsch (verheiratet mit Miliza von Montenegro), den nunmehrigen
Botschafter in Paris Jswolski, den früheren Botschafter in Konstantinopel
Tscharykow, den Gesandten von Hartwig in Belgrad und andere vertreten
wurde.
In der Verschärfung der Weltpolitik, die damals eintrat, ist so das
amtliche Rußland nicht der treibende Faktor gewesen, wie aus der be-
deutsamen, sogar im Wortlaut an die oben zitierte von 1903 anklingenden
amtlichen Kundgebung vom 10. April 1913 hervorgeht, in der es hieß:
„Die Regierung darf in erster Linie nicht ihre Verantwortung
dem russischen Volke gegenüber vergessen. Sie muß ihre Beschlüsse
vorsichtigt abwägen, damit kein Tropfen russischen Blut anders, als
wenn es die Interessen des Vaterlandes erheischen, vergossen werde.
Rußland ist ein großes slawisches, orthodoxes Reich und hat als solches
nie mit Hilfe und Opfern für seine Brüder gespart. Aber die Beziehungen
Rußlands zu den glaubens- und stammverwandten Staaten können nicht
die Verpflichtung, immer und in allem deren Wünsche und Forderungen
zu erfüllen, in sich schließen. Unsere jüngeren Brüder haben auch Pflichten,
an die sie zu erinnern unsere Presse nicht immer versteht. Sie haben mit
Der Machtstaat.
331
Achtung den Ratschlägen Rußlands zu begegnen und dürfen nicht ver-
gessen, daß, wenn wir uns ihrer Erfolge freuen, diese nicht ohne Beistand
Rußlands erzielt wurden, das sie zum Leben berufen hat und. an ihrem
Leid und Freud teilnimmt. Insbesondere haben sie die Pflicht gegen-
seitiger Aussöhnung, ohne die weder die Kraft noch die Macht dieser
Völker erstarken kann. Dieses Verhalten Rußlands zu den slawischen und
orthodoxen Völkern schließt ein feindseliges Verhalten anderen Staaten
und Völkern gegenüber aus. Die Verschiedenheit der Rassen braucht
durchaus nicht zu einem Gegensatz unter den Rassen zu führen, und
schwerlich wird die Sache des Friedens dadurch gewinnen, daß eine Rasse
der anderen gegenübergestellt wird. Im Bewußtsein seines Rechts und
seiner Kraft hat Rußland nicht nötig, von Aufregungen zu Drohungen
überzugehen, was nicht ein Ausdruck seiner Volkskraft sein würde."
So trat doch noch eine kurze Zeit der Entspannung namentlich in
den deutsch-russischen Beziehungen wieder ein. Der Zar nahm am
24. Mai 1913 an der Hochzeit der deutschen Kaisertochter teil und die
russische Politik schien sich, indem sie nichts ernstliches für eine Revision
des Bukarester Friedens tat, mit der neuen Gestaltung der Lage auf
der Balkanhalbinsel abzufinden. Aber in demselben Jahre erhielt es die
Bestätigung, daß es auch nicht über Armenien, wo es zu Beginn 1913
einzugreifen bereit war, zu seinem Ziele, dem Zugang zum Mittelmeer,
kommen werde. Der Schriftwechsel zwischen Deutschland und Rußland,
in dem ersteres der Zirkulardepesche Sasonows vom 6. Juni 1913 über
die Reformen in Armenien entgegentrat, und die deutsche Militär-
mission in Konstantinopel, über die die Verhandlungen am 28. Oktober
1913 zum Abschluß kamen, zeigten Rußland, daß Deutschland unbedingt
für die Integrität der Türkei eintrat, und daß daher nach einem älteren,
nun umgebildeten Ausdruck nach dem Willen der deutschen Politik Ruß-
lands Weg nach Konstantinopel nur über Berlin gehen könne.
Führte also der immer klarer werdende Gegensatz zur Türkei und
Österreich-Ungarn, wenn er ernsthaft wurde, unweigerlich auch zum Kriege
mit Deutschland, so hatte sich Rußland Frankreich schon noch weiter
gesichert. Dieses hatte auf Rußlands Druck die dreijährige Dienstzeit
angenommen und stellte im November 1913 Rußland eine Milliarden-
anleihe zum Bau strategischer Bahnen zur Verfügung. Zugleich
kamen sich die englische und russische Politik in Erörterungen über eine
332 IL. Kapitel.
Marinekonvention mit ihren gemeinsamen Angriffsabsichten gegen Deutsch-
land immer näher.
Am Attentat von Serajewo vom 28. Juni 1914 kam der ungeheure
Konsliktsstoff zur Entzündung. Weil es der englischen Mitwirkung sicher
sein konnte, brachte Rußland den Stein ins Rollen, indem es die Mobili-
sierung seiner Streitkräfte sofort nach Bekanntwerden des Abbruchs der
serbisch-österreichischen Beziehungen anordnete. Es war schließlich eine Lage
geworden, wie die von 1877, in der der Krieg gegen die Türken dem Zaren
abgerungen wurde: ein im Grunde den Krieg nicht wünschender Herrscher,
der aber gegen die Kriegspartei unter Führung seines Oheimes zu schwach
war, eine Regierung, die zum Teil auch friedlich war, aber weder die
aggressive Diplomatie noch das kriegsentschlossene Militär bändigen konnte,
eine vom Panslawismus und dem Drang nach der Hagia Sophia und den
Meerengen aufgepeitschte öffentliche Meinung und Gesellschaft, die stärker
war als Zar und friedliche Regierungskreise, eine verfahrene innere Lage,
große Gereiztheit und Spannung in der inneren Politik, Rüstungs-
fieber und nationalistische Begehrlichkeit, alte Gefühlsabneigung gegen
Deutschland und neue handelspolnische Eifersucht, alles das gab in den
aufgeregten letzten Juli-Tagen einer kleinen, aber entschlossen zum Krieg
drängenden Clique das Heft entscheidend in die Hand. Die Masse stand
stumpf daneben, von Kriegsstimniung des Volkes war ebensowenig die
Rede, wie von einem Hasse des Volkes gegen Deutschland und die Deutschen.
Nur darin lag ein großer Unterschied, daß Rußland 1914 den Krieg
mit einer ganz anderen militärischen Vorbereitung und in größerer innerer
Ordnung und wirtschaftlicher Kraft begann als 1877. —
III. Buch.
Die Natimmlitiitenfnige, Panslawismus
und Nationalismus.
X. Kapitel.
Die Grenzmarken.
1. Die nationale Zusammensetzung des Reiches.
Die russische Staatsbildung hat zur Unterwerfung und Angliederung
fremder, nach dem russischen Kunstausdruck „nichtstaatlicher" Nationa-
litäten in einem Maße geführt, daß Rußland darüber fast zum Natio-
nalitätenstaat geworden ist. Wenigstens ist seine Völkerkarte bunt genug.
Ihre Probleme sind wissenschaftlich noch längst nicht genügend durch-
gearbeitet, aber sie zwingen zur Stellungnahme, weil davon die Frage nach
dem dauernden Zusammenhalt des Riesenreichs zu einem wesentlichen
Teile abhängt. Und dafür ist die Haupttatsache der nationalen Zu-
sammensetzung, daß in den Grenzmarken nichtrussische Bevölkerungsteile
zumeist geschlossen mit schwachen russischen Prozentsätzen unter ihnen
sitzen. Auf sie richtete sich daher vor allem die Russisizierung oder, wie
man in der Gegenwart dafür sagte, der Nationalismus, die Politik, die
das Nationalitätenproblem mit der brutalen Unterdrückung durch das
Großrussentum lösen wollte.
Die einzige exakte statistische Grundlage ist auch heute noch die Volks-
zählung von 1897, die eine Zählung nach der Muttersprache enthielt und
deren Ergebnisse 1905 veröffentlicht wurden. Alle späteren Zahlen be-
ruhen nicht auf Zählung, sondern auf einfacher Fortschreibnng. Die
amtliche Unterscheidung in geborene russische Untertanen, Fremdstämmige
(worunter auch Nomaden und Juden fallen), Ausländer, Finnländer und
Kosaken genügt für ein einigermaßen brauchbares Bild nicht. Dazu muß
man eben aus die Zählung von 1897 zurückgehen, trotz ihres Alters und
334
X. Kapitel.
obwohl sie für das Großrussische aus naheliegenden Gründen etwas zu
günstig ist. Das Großfürstentum Finnland wurde von ihr nicht erfaßt.
Damals wurden gezählt:
1. Groß-Russen.................... 55 667 469 = 44,3%
Klein-Russen.................... 22 380 551 = 17,8%
Weiß-Russen................ 5 885 547= 4,7%
83933 567 = 66,8%
2. Polen..................... 7 931307= 6,3%
Andere Slawen....................... 224 859= 0,2%
3. Litauer............................1210 510= 1,0%
Schmuden............................ 448 022 = 0,4%
Letten............................. 1435 937= 1,1%
4. Deutsche....................... 1 790 489 = 1,4%
Andere Germanen................. 23 228
5. Rumänen.................... 1121669= 0,9%
Andere Romanen.................. 21331
6. Juden.......................... 5 063156= 4,0%
7. Georgier....................... 823 968= 0,6%
Andere Karthwelier.................. 528 567 = 0,4%
8. Armenier.................. 1173 096= 0,9%
9. Andere indo-europäische Stämme . 1017 501 = 0,8%
10. Kaukasische Bergvölker .... 1091782= 0,9%
11. Eschen.................... 1002 738 = 0,8%
Mordwinen.................. 1023 841 = 0,8%
Andere ugro-finnische Stämme. . 1475 568 = 1,2%
12. Tataren ....................... 3 737 627= 3,0%
Baschkiren............................. 1321363= 1,1%
Tschuwaschen........................ 843 755= 0,7%
Kirgisen........................ 4 084 139 = 3,2%
Sorten.............................. 968 655 = 0,8%
Andere turko-tatarische Stämme . 2 645 712= 2,1%
Andere mongolisch-burjät. Stämme 480129 = 0,4%
13. Andere Völker des Nordens . . . 119143 = 0,1 %
14. Zivilisierte Völker des fernen
Ostens....................... 86113= 0,1%
Die Grenzmarken.
335
15. Andere Sprachen und Dialekte. .
16. Die Mutter-Sprache hatten nicht
7123
angegeben
5127
125 640 021
Die Russen stellen danach zwei Drittel der gesamten Reichsbevölke-
rung, im europäischen Reichsteile (ohne Polen, Finnland und den Kau-
kasus), wo drei Viertel aller Untertanen wohnen, vier Fünftel; dann
folgen hier 4,9 % Turko-Tataren, 4% Juden, 3,6% Finnen, 3°/o Litauer,
ferner Deutsche und Polen.
In der Gruppierung, die oben') vorgenommen wurde, wobei freilich
die russische Bevölkerung Sibiriens (5% Mill.) und des Kaukasus
(4 Mill.) an die falsche Stelle kommen muß, zählten 1897 in Millionen:
I. Asiatisches Rußland (Sibirien und Zentralasien): altaische Völker
als: Mongolen (Kalmücken u. dgl.) und Turkstämme (Tataren, Kirgisen
usw., die auch z. T. im europäischen Reichsteile sitzen: 9—10 Millionen.
II. Europäisches Rußland:
1. Grenzmarken:
Finnen (in Finnland).............................3 Mill.
Eschen..........................
Letten..........................
Polen (einseht, des Westgebiets)
Griechen, Moldauer und Rumänen.......................1,3 „
Kaukasische Völkerschaften verschiedener Rassen 3,7 „
(einschl. Armenier)
2. Kerngebiet:
a) Äußerer Kreis: Litauer.........................
Weißrussen.....................................
Juden (int Ansiedlungsrayon)...................
Kleinrussen ................................ .
Uralaltaische Völker im Nordost- und Wolga
gebiet (Finnen, Karelier, Wolga- u. Kama-
finnen, Tataren, Baschkiren, Tschuwaschen
Kirgisen u. dgl.).........................
6,6 „
55,6 „
b) Innerer Kreis: Großrussen
0 S. 6 f.
336
X. Kapitel.
Außerdem Deutsche (in den Ostseeprovinzen und im ganzen Reich) 1,7,
Tschechen 0,05, Bulgaren 0,17 Mill. usw.
2. Die Nationalitätenfrage während der
Revolution.
Gleich im Herbst 1904 haben sich die Führer der nicht-großrussischen
Volksstämme gesammelt. Es war kein Wunder, daß in ihnen das revo-
lutionäre Element überwog — hat doch die Fühlung zwischen ihnen von
Finnland bis zum Südkaukasus die sozialistisch-revolutionäre Propaganda
hergestellt. Was man wollte, war klarer, als bei den ungeheuren Unter-
schieden wirtschaftlicher und politischer Art zwischen den verschiedenen
Gruppen zu vermuten war. Man strebte die Beseitigung des Absolutismus
mit Gewalt an und mindestens die Föderalisierung des Reiches nach dem
Vorbild Österreichs, im Extrem eine lockere Vereinigung nationaler
Republiken. Damit knüpfte man an ältere Ideen an, wie sie von Drago-
manow') und noch früher in den Dekrabristenkreisen gedacht worden waren,
wo schon Murawjew das Ideal nationaler und politischer Freiheit in einer
Föderation Rußland nach nordamerikanischem Vorbild gesehen hatte. So
war bald das allgemeine Schlagwort: nationale Autonomie, die man sich
in den verschiedenen Volksstämmen sehr verschieden weit dachte.
Nun kamen die politischen Zugeständnisse, zu denen sich die Regierung
gedrängt sah, den nichtrussischen Nationalitäten doppelt zugute, weil sie
stets zugleich eine Befreiung der unterdrückten Sprachen brachten. Der
Ukas vom 25. Dezember 1904 ordnete Glaubensduldung und Durchsicht
der die Rechte anderer Nationen beschränkenden Bestimmungen an. Das
Toleranzedikt löste in der Befreiung der nichtorthodoxen Kirchen auch einen
schwerempfundenen nationalen Druck. Der Ukas vom 14. Mai 1905
gestattete den Unterricht des Polnischen und Litauischen und er-
laubte den Landerwerb durch Polen im Westgebiet. Der Ukas vom
4. November 1905 hob in Finnland die Gesetze von 1899 wieder auf.
Die Bestimmung vom 2. Mai 1906 gestattete in den Ostsceprovinzen
wieder die Gründung deutscher Privatschulen. Ebenso nützten die Klein-
russen die allgemeinen Zugeständnisse aus, riefen Zeitungen und Vereine
0 Dragomanow, Opyt ukrainskoi politiko-socialnoi prögrammy 1884,
(Ges. pol. Werke I, 273 ff. Paris 1905).
Die Grenzmarken.
337
ins Leben und erörterten frei ihre Hoffnungen auf eine Selbständigkeit
der Ukraine. Alle diese Zugeständnisse ergingen zusammenhangslos und
unter dem Drucke der augenblicklichen Not, die zeitweise Finnland, die Ost-
seeprovinzen und Polen vom Gesamtstaate loszureißen schien.
In die erste und zweite Duma tonnten auf Grund des liberalen
Wahlrechts Vertreter aller nicht-großrussischen Nationalitäten eintreten.
Finnland zwar blieb noch für sich und war so an der Duma nicht be-
teiligt, und in den Oslseeprovinzcn verhinderte das demokratische Wahl-
recht, daß Deutsche gewählt wurden. Aber Litauer, Polen, Kleinrussen,
Tataren, Armenier usw. entsandten in das Parlament ihre Vertreter, die
sich in eigenen Parteien und Klubs ztisammenschlossen, daneben häufig
zugleich auch anderen politischen Parteien angehörten. Die erste Duma hat.
nicht weniger als 16 nationale Gruppen gezählt, von denen die Polen
aus dem Zartum und der ukrainische Klub die wichtigsten tvaren.
Die Gefahr dieser so entfesselten nationalen Bewegung für den
Staat lag nicht nur darin, daß diese anderen Nationalitäten, mit Aus-
nahme der deutschen Balten, ohne Unterschied demokratisch waren und
die revolutionäre Bewegung direkt verstärkten, sondern vor allem darin,
daß ein solcher Nationalismus den Staat, wie er dastand, zu sprengen
drohte. Die Wünsche der einzelnen Nationalitäten auf Selbständigkeit
in Schule und Kirche, in Verwaltung und Gericht gingen so weit,
daß sich Rußland als Staat hätte vollständig umwandeln müssen:
aus dem geschlossenen, großrussisch geführten Einheitsstaat zu einer lockeren
Union von Völkerautonomien. Der Gedanke an Abfall ist in den Revo-
lutionsjahren nur sporadisch laut geworden; so stark blieb der Staat, daß
das als abenteuerlich erschien. Das Gefährliche war vielmehr — und dieser
Vorteil wurde von den anderen Nationalitäten auch durchaus er-
kannt —, daß jede liberale Konzession von selbst ein Zugeständnis an die
anderen Nationalitäten war. Die allgemeinen Zugeständnisse in
Preß- und Glaubensfreiheit, in Sprache und Verfassung erkannten die
fremden Nationalitäten eben dadurch schon an; für diese war jede weitere
freiheitliche Betätigung in erster Linie eine freiere Betätigung als Nation.
In der Erkenntnis dieser Gefahr hat denn auch die Regierung,
sobald sie wieder mehr Festigkeit gewann, die nationalen Zugeständnisse
rückgängig zu machen gesucht. Das ist ihr, da sie die Macht dazu
wieder erlangte, auch gelungen. Aber damit waren die nationalen
Hoetzsch, Rußland. 22
338
X. Kapitel.
Fragen nicht gelöst. Eine zusammenhängende und umfassende Nationa-
litätenpolitik hat die Regierung bis 1911 nicht gefunden, so daß es
schwer, ja unmöglich ist, das geltende Nationalitätenrecht zu bezeichnen.
Die allgemeinen Sätze sind freilich rasch wiedergegeben. Artikel 3 der
Reichsgrundgesetze will die Sprachenfrage regeln; darin wird die russische
Sprache zur „allgelneinstaatlichen", zur Reichssprache erklärt und als
obligatorisch für Armee, Flotte und alle Reichs- und „gesellschaftlichen"
(kommunalen) Behörden. Ter Gebrauch von Lokalsprachen und -Dialekten
an diesen Stellen, — der also möglich sein soll —, sollte durch besondere
Gesetze geregelt werden. Diese Sätze konnten zugunsten und zuungunsten
der nichtrussischen Sprachen im Reiche gedeutet werden. Der Nationalis-
mus seit 1911 hat alle Bestimmungen zu ihren Ungunsten getroffen;
weder ist ein einheitliches Sprachengesetz geschaffen worden, noch sind die
nationalen Besonderheiten in anderen Gesetzen anerkannt oder in der Ver-
waltungspraxis geduldet worden.
3. Das Zartum Polen.
Die am weitesten nach Westen vorgeschobene Grenzmark des Reichs,
das Zartum Polen oder nach amtlichem Ausdruck das Weichselgebiet, ist
127 000 Quadratkilometer groß, also dem Flächenraum von Bayern,
Sachsen, Württemberg und Baden gleich, und hatte am 1. Januar 1912:
12,77 Millionen Einwohner (114,5 auf die Quadratwerst). Es bildete
ein Generalgouvernement, von August 1905 bis Februar 1914 unter dem
General G. A. Skalon stehend, und bestand aus 10 Gouvernements:
Kalisch, Kjelze, Lomscha, Lublin, Petrikau, Plozk, Radom, Sjedlez,
Suwalki und Warschau. 1912 ist aus Lublin und Sjedlez ein besonderes
Gouvernement Cholm ausgeteilt und unter das Generalgouvernement Kiew
gestellt worden. Die Gouvernements zerfielen, wie in Zentralrußland in
Kreise, nur daß hier die Kreischefs, mit größeren Machtbefugnissen als die
„Jsprawniks" im Reichsinnern, auch die Kreisverwaltung wahrnahmen,
so daß Polen die geschilderte Lücke im Berwaltungsaufbau Rußlands nicht
hatte.
1897 wies die Volkszählung an Nationalitäten auf 6,75 Millionen
Polen, 1,26 Millionen Juden, 407 000 Deutsche, 335 000 Kleinrusscn,
310 000 Litauer (im Gouv. Suwalki), und 267 000 Russen, d. h. das
Die Grenzmarken.
339
großrussische Beamtentum und Militär. Schätzungsweise stellten sich diese
Zahlen bei Beginn des Weltkrieges: 9,2 Millionen Polen, 1,7 Millionen
Indens, % Million Deutsche, 400 000 Litauer, 900 000 Russen (wenn
Cholm zugerechnet wird). Nach Prozenten gab es 1897: 71,8% Polen,
13,4% Juden, 4,3% Deutsche, 3,5% Klein- und 2,8% Großrussen und
3,3% Litauer. Das polnische Element zählt also im Weichselgebiet noch
nicht % der Gesamtbevölkerung. Doch bedeuten Litauer und Kleinrussen nur
in einigen östlichen Kreisen etwas, während allerdings die Juden und teil-
weise auch die Deutschen in allen Teilen ansehnliche Minderheiten sind2).
Außerhalb des Weichselgebiets zählte man 1897: 985 000 Polen in
den neun Westgouvernements und 300 000 im übrigen Reiche. Diese
Zahlen waren sicher zu niedrig. 1914 gab es im Westgebiet 3%—4
Millionen Polen. Doch bilden sie nur in Grodno, Kowno und Wilna
einen nennenswerten Prozentsatz: 10% und darunter.
Der wirtschaftliche und soziale Charakter des russischen Polentums
wurde schon skizziert2). 24% der Bevölkerung leben in den Städten, 76%
auf dem Lande. Auf dem Lande überwiegt der Kleinbesitz; nach der
Statistik von 1904 verfügte er, d. h. das Bauerntum und die ihm nahe-
stehende kleine Schlachta, über 6,4 Millionen Dessjatinen, der private
Großgrundbesitz über 4,6 Millionen, das Kronsland machte 0,6 Millionen
aus. Gewerbe und Industrie zählten 1910: 10 953 Unternehmungen
mit einem Produküonswert von 860 Millionen Rubeln und 400 000
Arbeitern. Die erste Stelle nahm nach dem Produktionswert die Textil-
industrie mit 341 Millionen Rubel ein, dann folgte die Nahrungsmittel-
industrie mit 154, die Metallverarbeitung mit 110 und die Bergwerks- und
Hüttenindustrie mit 60 Millionen Rubeln Produktionswert.
Die wirtschaftliche Umgestaltung, die das Weichselgebiet seit 1863
durchgemacht hat, wurde durch die russische Wirtschaftspolitik und die Ver-
bindung mit dem Kerngebiet ungemein gefördert und hat einen sehr engen
Zusammenhang mit letzterem geschaffen. Aus diesen Beziehungen ruht
die industrielle Arbeit des Landes, von ihnen ist es in vitaler Weise ab-
*) Die Stadtbevölkerung Warschaus ist zu % jüdisch.
2) Das nähere s. Zechlin, Die Bevölkerungs- und Grundbesitzverteilung
im Zartum Polen. (Berlin 1916.) S. 23 ff.
3) S. 140 ff.
22*
340
X. Kapitel.
hängig, ohne die Märkte des Weltreiches ist es nicht lebensfähig, zum unge-
schützten selbständigen Wettbewerb mit den Industrien Westeuropas ist cs
nicht in der Lage.
Sozial sind die Bourgeoisie und das Bauerntum die maßgebenden
Schichten geworden, beide bewußt und unbewußt nationalpolnisch in der
Ausscheidung und,Assimilierüng nichtpolnischer Elemente, was praktisch
namentlich in einem das ganze Polentum des Weichselgebiets durch-
ziehenden Antisemitismus (Boykott in Kleinhandel, Handwerk und Manu-
faktur) zum Ausdruck kommt. Das Judentum hat sich in den oberen
Schichten polonisiert und russifiziert. In seiner proletarischen Masse
namentlich in Lodz und Warschau ist es isoliert, ohne Zusammenhang
mit einem polnischen „Gemeinwesen", gleichsam ein Staat im Staate.
Die Deutschen (Bauern, Industriearbeiter und -Vorarbeiter, Fabrikanten,
Kaufleute) — ein Viertel von ihnen wohnt in den Städten — haben
keinen sozialen Einfluß.
Diese ganze wirtschaftliche und eine dementsprechend geistige Entwicklung
hat sich unter politischer Rechtlosigkeit für die Polen vollzogen. Das Weichsel-
gebiet wurde nur russisch regiert und verwaltet. Beamtentum, Gericht und
Militär waren, wenigstens in den mittleren und oberen Stellen, aus-
schließlich russisch. An Verwaltung und Gericht nahmen Polen nur in der
Bauerngemeinde (Gromada — Mir') und Gmina — Wolost) teil; die
städtische Selbstverwaltung war gleich Null. Semstwos, Adelsorgani-
sationen und Schwurgerichte existierten nicht. Die Gerichtsbarkeit der
Friedensrichter war von geringer Kompetenz. Die Kirchen, die römische
und die evangelische, waren nur geduldete Sekten.
So lastete auf dem Polentum ein schwerer Druck, der besonders
unter dem Generalgouverneur Gurko (1883—1894) und dem Kurator
des Warschauer Lehrbezirks Apuchtin unerträglich wurde, weil er geradezu
auf die Ausrottung der polnischen Sprache ausging. Aber dieser Druck
hat die Polen erzogen. Da sie dem öffentlichen Leben ganz fern gehaltert
waren, konnten sich ihre besten Kräfte ausschließlich der geistigen und
wirtschaftlichen Renaissance ihres Volkes widmen und haben darin das
vorzüglichste geleistet. Sie begründeten dadurch eine Überlegenheit über
das Russentum, die sich selbst unter den gedrückten Verhältnissen zwischen
*) Aber ohne Gemeineigentum.
Die Grenzmarken.
341
1908 und 1914 auch im Innern des Reiches sehr bemerkbar machte.
Dabei war im Ernst von einer Verdrängung der polnischen Bevölkerung
oder Sprache aus dem Zartum keine Rede. Die russische Herrschaft im
Lande dokumentierte sich im Beamtentum und Militär, eine nennens-
werte städtische oder gar bäuerliche russische Bevölkerung gab es im Zartum
nur in den Gebieten des späteren Gouvernements Cholm, und das sind
zum größten Teil Kleinrussen. Sonst sitzen die Polen im Weichselgebiet
in kompakter Masse; der Besitz größerer Güter in den Händen — meist
gar nicht im Lande lebender — Russen bedeutete nichts. Umgekehrt hatten
die Polen den Vorteil der Zweisprachigkeit überall da, wo diese doch nicht
umgangen werden konnte, so daß sie die unteren Stellen z. B. der Post
und ähnlicher Anstalten vollkommen besetzten. Das Eisenbahnsystem war
überhaupt in ihrer Hand, da die Hauptlinie, die Warschau—Wiener
Bahn mit ihren Verbindungsstrecken nach Deutschland, Österreich und
Jnnenrußland, bis 1913 eine Privatgesellschaft in polnischem Betrieb
war, sogar durch die europäische Spurweite vom russischen Bahnsystem
unterschieden. Wie gestaltete sich infolge dieser Entwicklung das politische
Denken der Polen im Zartum?
Bis in die Mitte der 80er Jahre hielt sich alles der Politik fern.
Das Bürgertum war von der Arbeit des Tages in Anspruch genommen,
und auf geistigem Gebiete ging der Kampf noch zwischen den Roman-
tikern und den Warschauer „Positivisten" (der sich bewußt von der
romantisch betrauerten Vergangenheit ab- und dem Realismus zu-
wendenden literarischen Richtung hin und her. Gegen Ende der 70er Jahre
war zwar schon eine sozialistische Bewegung im Zartum entstanden, deren
Führer vom liberalen Bürgertum herkamen, sich aber auch der Politik
noch fernhielten.
Das für die weitere politische Entwicklung Entscheidende ist, daß die
polnischen Bauern durch die Russisizierung aufgerüttelt wurden. Der
Bauer fühlte sich zunächst national nicht im Gegensatz zu Rußland, war
im Gegenteil wegen der Durchführung der Agrarreform, die sehr zu
seinen Gunsten geschehen war, von Dankbarkeit erfüllt. Stutzig wurde er
aber durch die Bedrückung der polnischen Sprache und durch die Miß-
handlung der katholischen Kirche, an der er hing. Dazu kamen die häufig
schlechte russische Verwaltung und die Erfahrungen, die man aus der
Wanderarbeit in Deutschland mitbrachte. Alles dies wirkte auf das Bauern-
342
X. Kapitel.
tum so Weit ein, daß es seit Ende der 80er Jahre in der Hauptsache aus-
hörte, „der einzige Schutz der russischen Herrschast zu sein". (So war der
landläufige offizielle Ausdruck.) Damit war der Boden hier für eine
politische Einwirkung vorbereitet. Im Handwerkertum und der Arbeiter-
schaft lebte die Erinnerung an den Aufstand von 1863 noch fort, an dem
diese Klassen in Warschau den tätigsten Anteil genommen hatten. Hier
brauchte nur an die vorhandene Tradition angeknüpft zu werden.
Schließlich ließ das harte Regiment Gurkos seit der zweiten Hälfte der
80er Jahre die politische Gleichgültigkeit allmählich verschwinden und erzog
geradezu eine polnisch-nationale Bewegung mit bestimmten politischen
Zielen.
Der Glaube an die Zukunft war inzwischen durch die Gründung der
„Liga Narodowa"H wieder belebt worden, einer geheimen patriotischen
Organisation, in der das Zentralkomitee von 1862 wieder auflebte und
die die Wiederherstellung Polens in den alten Grenzen anstrebte. Damit
erwachte der alte revolutionäre Patriotismus von neuem. Anfang der
90er Jahre erfaßte er einen beträchtlichen Teil der Intelligenz.
Aus Gärung und Unklarheit kam das Parteiwesen auf gebahntere
Wege zuerst in der Arbeiterschaft. Man kann sagen, daß die erste Feier des
1. Mai (1890) in Warschau der Geburtstag des politischen Lebens im Zar-
tum nach dem Aufstande überhaupt ist. Diese Maifeier war der Beweis
dafür, daß die Arbeiterbewegung, die schon vorher Streiks und dergleichen
gezeitigt hatte, in vollen Fluß gekommen war; die Arbeiterschaft wird
allgemein von der Notwendigkeit der Begründung einer eigenen Partei er-
griffen. Ein in Paris abgehaltener Kongreß der Arbeiter rief die sog.
P. P. S. (Pol8ka Partya Socialystöw) ins Leben: 1893 ist diese erste
der großen polnischen Parteien im Zartum entstanden. Sie wollte den
Kampf gegen den Kapitalismus führen, wie jede Arbeiterpartei, zugleich
aber auch für die Befreiung vom russischen politischen Joch kämpfen. Aus-
gang des Kampfes und sein Mittel sollte sein, wie nicht anders zu erwarten
war, die Revolution. Die „Liga Narodowa" hat das zunächst mit Freude
begrüßt, aber dieses Gefühl hot sich sehr bald in offene Feindschaft ver-
wandelt, und feindlich sind die Beziehungen zwischen Liga und P. P. S.
auch geblieben, weil dieses neue Vordringen der Jugend das Prestige der
ft Die noch heute bestehende bekannte Organisation.
z
Die Grenzmarken. 343
Liga, in der nur die alte Aufstandsbewegung der Schlachta wieder neu
aufgelebt war, zurückdrängte.
Unter dem Einflüsse der Liga schlossen sich dagegen die bewußt natio-
nalen Kreise in der Nationaldemokratie zusammen. Ihr Programm ist
1886 erschienen; es spricht sich für eine Unabhängigkeit von den augen-
blicklichen politischen Bedingungen, die Schritt für Schritt erkämpft
werden sollte, aus.
Soweit gedieh die Parteientwicklung unter Alexander III. Die
Arbeiter, ein Teil der Intelligenz, der große Teil der fortschrittlichen
Jugend gehörten zur P. P. S., der Hauptteil der Intelligenz, das kleine
Bürgertum und der geringe Prozentsatz an Bauern, der überhaupt schon
gewonnen war, zur Nationaldemokratie. Für sich standen noch das Groß-
bürgertum und die Großgrundbesitzer; beide Gruppen sind fast bis zur
zweiten Hälfte der 90er Jahre gegen jede politische Tätigkeit gleichgültig
gewesen. Ihre politische Organisation beginnt erst mit der Thronbesteigung
Nikolais II. und den Hoffnungen, die sich an ihn knüpften. Da entsteht
die dritte Gruppe der „Ugodowzy".
Der Ansatz zur Entstehung dieser „Versöhnler" — der Name kommt
von Ugoda: die Versöhnung — oder „Realpolitiker" liegt schon in der
zweiten Hälfte der 70er Jahre. Das Programm der „Aussöhnung mit
dem Geschick" ging zunächst aus dem Kreise jener Positivisten hervor; dazu
kam die kapitalistische Entwicklung und die Aussicht auf d'e Märkte in
Zentralrußland und im fernen Osten. Seit 1881 gab es als Organ des
Großgrundbesitzes dafür das von Erasmus Piltz geleitete „Slowo", seit
1882 die von demselben Piltz begründete und herausgegebene Wochenschrift
„Kraj" (eingegangen 1909). Piltz und vor allem der 1906 verstorbene
W. D. Spassowitsch waren die Hauptköpfe dieser Richtung. Ihr Blatt war
das Sprachrohr des Teiles des polnischen Adels, der sich der russischen Regie-
rung nähern wollte, nach dem Vorbild der galizischen Aristokratie, die
sich mit dem Geschick ausgesöhnt hatte und dafür eine bevorrechtigte
Stellung im Staate eingetauscht hatte. Aus dem Bürgertum traten die
vielen fremden Elemente dazu, die mit dem polnischen Nationalismus
nichts gemein hatten, auch wenn sie polonisiert wurden, die unter dem
Schutze der russischen Regierung und ihrer Zollpolitik standen und die durch
die Besorgnis vor der anschwellenden Arbeiterbewegung erst recht auf die
Seite der Regierung getrieben wurden.
344
X. Kapitel.
So entstand im Adel und im Großbürgertum eine Richtung, die sich
mit den bestehenden Zuständen abzufinden bereit war, und von größerer
Bedeutung beim Thronwechsel wurde. Man agitierte für Loyalität und
Aufgabe alles Separatismus; das führte für kurze Zeit alle Elemente in
dieses Lager zusammen und drängte die Nationaldemokratie zurück. Aber
der Besuch Nikolais in Warschau brachte eine Enttäuschung, das bestehende
Regime wurde nicht geändert. Daher kam am Ende der 90er Jahre die
Nationaldemokratie wieder in die Höhe, und diese richtete jetzt ihre Agitation
entschieden cruf die Bauern. Das Eintreten vieler neuer Elemente ver-
änderte sie aber auch in sich. Man gab den früheren politischen und
sozialen Radikalismus immer mehr auf, man näherte sich der katholischen
Geistlichkeit, der Hauptkampf, den man führte, war gegen die P. P. S.
gerichtet, die das Land überschwemmte und überall die Nationaldemokratie
bekämpfte.
Als nun in Rußland die freiheitliche Bewegung stärker wurde, wurde
diese zunächst von den „Versöhnlichen" aufgenommen, die Anknüpfung
mit ihr suchten. Damit fand nach einem Menschenalter zuerst
wieder eine Berührung der russischen und polnischen Gesellschaft statt. Aber
dabei zeigte sich, daß die russischen Konservativen in der polnischen Frage
bei der alten Feindseligkeit gegen die Polen verharrten. Dadurch wurden'
die „Versöhnlichen" zu den Liberalen getrieben und kamen so in eine zwie-
spältige Stellung zum russischen Staate. Die Nationaldemokratie dagegen
betrachtete die russische Oppositionsbewegung als ganz erwünscht, hielt sich
jedoch noch von ihr fern.
Da brach der Krieg mit Japan aus. Zuerst schien es, als würden die
Polen die"Gelegenhcit zum bewaffneten Aufstande benutzen. Aber bereits
18 Tage nach Ausbruch des Krieges veröffentlichte die Nationalliga einen
Aufruf, der vor einer solchen Schilderhebung warnte. Ihren Grund hatte
diese auffällige Haltung darin, daß die militärische Besetzung des Landes
unverändert weiterbestand und die revolutionären polnischen Hoffnungen
alten Stils längst nicht so verbreitet waren, wie die Liga annahm. Die
wirtschaftliche Entwicklung hatte eben zu viele Elemente geschaffen, denen
aus materiellen Interessen die ungestörte Verbindung mit Rußland
wichtiger war, als die imaginäre Hoffnung auf ein selbständiges
Polen: eben die Strömung der „Versöhnler" und „Realisten". Mit
der Industrialisierung des Landes war auch eine revolutionäre Sozial-
Die Grenzmarken.
345
demokratie entstanden; wer Revolution machen wollte, fand hier mehr
Vorbereitung und Unterstützung als in den dünnen Kreisen der Allpolen.
Obwohl zeitweise die Lage bedrohlich genug aussah, behielt indes selbst
im Winter 1905 und 1906 die russische Regierung das Heft in der Hand.
Außerdem aber kehrte sich die erwachende nationale Bewegung der Klein-
russen und Litauer zuerst gegen die Polen. So war, nachdem die Unruhe
das ganze Weichsel- und Westgebiet ergriffen hatte, die Lage für die
national-polnischen Hoffnungen verwickelt genug, mdem sich mit der
Revolution gegen polnischen Adel und Unternehmerstand nationale und
soziale Gegensätze gegen das Polentum im ganzen richteten. Die Folge
davon war, daß die polnische Bewegung für den russischen Staat in diesen
Jahren nicht bedrohlich geworden ist.
Die P. P. S. benutzte zwar die Gelegenheit, revolutionär aufzutreten,
und neben ihr ebenso eine zweite Organisation der Arbeiter (für das Zar-
tum und Litauen gemeinsam) und vor allem der „Bund", der die jüdisch-
polnische Arbeiterschaft zusammenfaßte. Dadurch aber wurde die Intelli-
genz, die sich noch zur P. P. S. gezählt hatte, von ihr wieder gelöst. Die
beiden anderen Richtungen verhielten sich zunächst noch passiv; sie waren
gegen einen Aufstand und richteten sich nur auf die großen Veränderungen
ein, die der Krieg bringen konnte. Aber die Nationaldemokratie sprach sich
auch nicht für den Krieg aus, während sich die „Versöhnler".mit dem
Metropoliten an der Spitze sogar durch die Errichtung eines polnischen
Lazaretts hervortaten. Als dann die russischen Niederlagen nicht ab-
rissen, änderte die Nationaldemokratie ihre Taktik. Sie nahm an der
Parteikonferenz der Revolutionäre und Oppositionsparteien in Paris teil
und begann, tvie man es nannte, einen Kampf ums Recht. So haben am
13. November 1904 Demonstrationen stattgefunden, ferner 1905 große
politische Streiks, entsprechend den Petersburger Bewegungen; der ganze
Winter 1905 auf 1906 ist von Unruhen, Putschen und Judenpogroms
erfüllt gewesen. Aus dem ganzen Wirrwar war aber von vornherein
klar, daß man auf eine Loßreißung von Rußland auch in den extremsten
Kreisen nur ganz ausnahmsweise hinstrebte. Man wollte eine möglichst
weitgehende Selbständigkeit, aber innerhalb Rußlands. Eine ganze Reihe
von Programmen sind dafür ausgearbeitet worden, sie lassen sich alle in
dem Schlagworte der Autonomie zusammenfassen und gingen in diese
Ziele aus: ein organisches Statut mit einem Landtag und einem all-
346
X. Kapitel.
gemeinen Wahlrecht, mit Herrschaft des Polnischen und der Polen in
Schule, Gericht und Verwaltung, — an mehr ist auch in den schlimmsten
Zeiten von 1905/06 nur selten gedacht worden.
Diesen Ideen kam nun der groß-russische Liberalismus entgegen.
Am 10. April 1904 erschien in der vom jüngeren, als liberal geltenden
Suworin, dem Sohne des Besitzers und Leiters der „Nowoje Wremja",
gegründeten Zeitung „Rus" ein Osterfestartikel mit dem bekannten
russischen Ostergruß: „Christ ist erstanden" als Überschrift. Dieser Artikel
wendete sich an die ganze slawische Welt, für die dieser Ostergruß gelte,
vor allem aber an die Polen. Er lobte diese, daß sie alle, auch
die sogenannten Allpolen, eine Bewegung gegen Rußland für ein Ver-
brechen erklärten, — der Hauptfeind sei Deutschland — und schloß mit dem
Rufe: „Christ ist erstanden, Ihr rechtgläubigen und andersgläubigen
Brüder, Christ ist erstanden, Ihr polnischen Brüder." Dieser Aufruf
betonte eine Gemeinsamkeit, die dem russischen Liberalismus, als dessen
Organ die „Rus" sprach, bisher fremd war. Denn dieser erwiderte bis
dahin die Abneigung der Polen mit dem gleichen Gefühl, in der Empfin-
dung, daß auch gemeinsamer Liberalismus die beiden Teile nicht darüber
verständigen könne, daß ihre Ideale eines nationalen Staates verschieden,
jo unversöhnlich seien. Wenn jetzt ein anderer Ton angeschlagen wurde,
so bewirkte das nicht nur die gemeinsame Feindschaft gegen Deutschland,
sondern das deutete einen Unischwung von größerer Bedeutung an. Be-
stätigt wurde das durch die Aufnahme, die dieser Artikel fand. Er erregte
eine lebhafte Diskussion und rief viele Zuschriften aus polnischen Kreisen
hervor*). Diese zeigten nun die fundamentale Veränderung an, die im
polnischen Leben vor sich gegangen war. Das Polentum war, je kapitali-
stischer es geworden war, um so stärker mit dem russischen Wirtschaftsleben
verwachsen, und ohne daß man es selbst zugestehen wollte, waren damit
die Hoffnungen auf die Wiederherstellung eines selbständigen Staates
immer mehr vor der Gegenwartsarbeit zurückgetreten, durch die man
im materiellen Leben doch immer näher mit dem russischen Volke zu-
sammenkam. So vorteichaft das dem Polentum war, so sehr verstärkte
das zugleich die Einsicht, zu der man sich aber im polnischen Lager nur
allmählich und widerwillig entschloß, daß man diesen Zusammenhang
0 Gesammelt in „kolsk! voxros w gasetje Bus".
Die Grenzmarken.
347
um der eigenen Existenz willen immer nötiger brauchte. Am kürzesten
drückte dieses Verhältnis in der Diskussion der „Rus" ein drastisches
Wort eines Polen an die Russen aus: „Wir sind für Euch das Fenster
nach Europa, aber Ihr seid für uns — der Magen."
Demgemäß spielte die polnische Frage eine Rolle auf den Semstwo-
kongressen. Auf dem dritten (September 1905) fand eine große Polen-
debatte statt, die sich in einer Resolution für die polnische Autonomie in
weitem Ausmaße niederschlug. Aber bereits da, wo die allgemeine Frei-
heitsbegeisterung noch alle anderen Rücksichten verschlang, wurde Wider-
spruch laut. Gutschkow sprach gegen eine Autonomie Polens, mit der
Begründung, daß ein autonomes Polen der erste Schritt zu einer födera-
tiven Gestaltung Rußlands sein würde. Und als auf dem nächsten Kongreß
(November 1905) die Frage wieder zur Sprache kam, machten diesen die
sehr weitgehenden Forderungen der Polen noch stutziger. Man einigte sich
nur darauf, die Entscheidung darüber der Duma zu überlassen.
In diese traten 51 polnische Abgeordnete ein; in der zweiten Duma
waren es 47. Sie vereinigten sich zwar mit den Kadetten, in denen sie
ihre gegebenen Bundesgenossen sahen, aber sie bildeten ein besonderes
„Kolo" (Klub), wahrten sich ihre Selbständigkeit und haben sich in allen
vier Dumen ausschließlich vom politischen Opportunismus leiten lassen,
um möglichst viel für ihre Sonderwünsche herauszuschlagen. Sie ließen
sich nicht, wie die Führer der Letten, Litauer und Kleinrussen, zu Forde-
rungen verleiten, die an den Bestand des russischen Staates gefährlich
rührten; wenigstens wurde dergleichen nicht laut ausgesprochen. Und in
der wirtschaftlichen Hauptfrage, in der Agrarfrage, standen sie auch nicht
Schulter an Schulter mit der russischen Agrarbewegung; sie haben gegen
das Agrarprogramm der Kadetten und für die Agrarreform Stolypins
gestimmt. In dieser Haltung der Polen in der dritten Duma, die infolge
des veränderten Wahlrechts den oberen Ständen angehörten, drückte sich
die Abneigung gegen eine das Privateigentum bedrohende Agrarbewegung
aus, für die in Polen keine Voraussetzungen da warenst und die sich im
Westgebiet ausschließlich gegen die Polen richtete. Ferner sprach
daraus die politische Stimmung jener Richtung, die man halb spöttisch
„Versöhnler" genannt hatte, die scheinbar realpolitische Hoffnung,
st Die Unruhen in Polen im Jahre 1905/06 haben an keiner Stelle
agrarischen Charakter getragen.
348
X. Kapitel.
daß zum Lohne für das entschiedene Bekenntnis zum russischen Staate
und für die Betonung konservativer Tendenzen seitens der Reichsregierung
nationale Zugeständnisse gemacht werden würden, als welche neben
der Sicherung des polnischen Schulwesens zunächst die Einführung
der Semstwos und einer Städteordnung im polnischen Sinne angestrebt
wurde. Der Gedankengang dabei, der am besten in den politischen
Schriften Dmowskis ausgesprochen ist1), war der: ohne die Hoffnungen
auf ein neues selbständiges Polen aufzugeben, könne und wolle man nicht
hindern, daß diese doch allmählich verblassen, weil man durch die wirtschaft-
lichen Verhältnisse immer mehr in das russische Leben hineinwachse und
die Gemeinsamkeit des Gegensatzes gegen die Deutschen wichtiger und stärker
sei als der russisch-polnische Haß. Von russischer Seite kamen dem der
Liberalismus, der mit seinem Gegensatz gegen die Autokratie unmittelbar
für das Polentum arbeitete, und der sog. Neopanslawismus entgegen.
Im Hintergrund stand dann eine für die Zukunft als möglich erhoffte
Vereinigung aller Polen unter dem Zepter der Romanows, in Fortführung
der Gedanken Adam Czartoryskis und namentlich Wjelopolskis, die Idee,
daß nach einer Liquidation Österreichs der Druck eines dann von Rußland
geführten Polentums auf die preußischen Brüder stark genug werden
würde, um bei einer großen Krisis auch die Polen des preußischen Anteils
unter der Herrschaft des Zaren zu vereinen. Voraussetzung für diese
polnisch-politische Ideenwelt, die übrigens ihren Ausgang in Lemberg ge-
nommen hatte, war nur, daß der bisherige Druck der russischen Herrschaft
aufhöre. Dafür eröffnete sich aber jetzt die Aussicht, und von vornherein
spielte in den Kalkulationen der polnischen Politiker dabei die Sicherheit
mit, daß dann, unter so gegebenen gleichen Chancen, der Pole dem
Russen überlegen sei. Das hatte man wirtschaftlich und technisch zur
Genüge erprobt, das erhoffte man auch politisch auf dem Boden des
Wahlrechts und des Parlaments.
In dieser Hoffnung hat sich aber diese polnische Richtung völlig
getäuscht. Die Liberalen Rußlands lehnten sie immer mehr ab, und der
Regierung war die Schwäche dieser Partei, die nur die Bourgeoisie und den
Adel hinter sich hatte, sehr wohl bekannt. Sie sah, daß weder im Weichsel-
*) Roman Dmowski (Führer der Nationaldemokratie), Myäli nowoczesnego
Polaka (Warschau 1903) und: Germania, Rossia i polski wopros (auch
polnisch und französisch; Petersburg 1909).
Die Grenzmarken.
349
noch gar im Westgebiet von einer geschlossenen national-polnischen Be-
wegung die Rede war, und daß ein Zusammenarbeiten dieser polnischen
Politik mit dem russischen Liberalismus, das gefährlich hätte werden
können, trotz alles Neopanslawismus nicht zustande kam. Die Polen
nahmen zwar an den panslawischen Tagen in Prag und Petersburg,
aber bereits am dritten in Sofia nicht mehr teil.
Die erste Probe auf die Kraft der national-polnischen Bewegung
wurde bereits 1907 mit der Oktroierung des neuen Wahlrechts gemacht,
das zwar den Realisten recht sein konnte, weil es den Besitz vor der Masse
stark bevorzugte, das aber die parlamentarische Bedeutung der Polen un-
gemein herunterdrückte. Denn die Zahl der Abgeordneten, die das Zartum
Polen nach der bisherigen Verteilung zu wählen hatte (36), wurde auf 14
herabgesetzt. Da davon zwei Abgeordnete Russen sein mußten und das
Gouvernement Suwalki einen Litauer wählt, drehte sich von nun an der
Kampf im Zartum Polen um ganze 11 Mandate, wozu aus dem West-
gebiet noch höchstens 4 kamen. Diese gewaltige Verminderung eines
bereits zugestandenen politischen Einflusses hat sich das Polentum ohne
Widerspruch gefallen lassen, weil es zum Widerstand zu schwach und auch
dazu nicht willens war. Der Regierung aber zeigte diese Erfahrung, daß sie
mit einer revolutionären Energie im Zartum nicht zu rechnen brauche,
und sie ging nun wieder schroffer gegen die Polen vor, die, je stärker der
russische Nationalismus wurde, um so weniger Rückhalt auch an der
Duma fanden.
Nicht einmal die Aufhebung des Kriegszustandes wurde erreicht. Auf
dem Gebiete der Schule wurden bald die Zugeständnisse der Revolution
im Wege der Verwaltung rückgängig gemacht. Viel war das über-
haupt nicht gewesen. Unter dem 19. Juni 1905 war das Polnische als
Unterrichtssprache des katholischen Religions- und des polnischen Sprach-
unterrichts erlaubt, ferner waren überhaupt Erleichterungen für den Ge-
brauch des Polnischen, sowie die Einführung der Semstwoordnung, einer
Städteordnung im Weichselgebiet und der Wahlfriedensrichter zugesagt
worden. Außerdem war die Begründung von Privatschulen mit polnischer
Unterrichtssprache erlaubt worden. Davon wurde auch energisch Gebrauch
gemacht. Zahlreiche solche Schulen entstanden seit 1906, hervorgerufen
durch einen besonderen Schulverein, die „Macierz Szkolna Polska", der
im August 1906 gegründet wurde. Aber schon im Dezember 1907 wurde
er wieder geschlossen, weil er angeblich politische Ziele verfolgt hatte. An
die Polnische Neubelebung der Universität Warschau ist überhaupt niemals
gedacht worden; sie blieb nach wie vor durch die polnische Jugend boy-
kottiert.
Ferner kehrte sich die Freiheit, die das Toleranzedikt den Sekten
gewährte, im Zartum Polen in bemerkenswerter Weise gegen die römische
Kirche und damit auch gegen die herrschenden polnischen Schichten. Seit
1903 war hier eine Bewegung der „Mariawiten" entstanden, die zwar
das katholische Dogma festhielt, aber den Primat des Papstes verwarf, eine
dem Altkatholizismus verwandte Bewegung, die die unbedingte Herrschaft
der römischen Kirche im Zartum erschütterte. Von einer Frau namens
Maria Koslowska gestiftet, hatte die Bewegung erst etwas Ungesundes
und Fanatisches, setzte sich aber allmählich und entwickelte sich im Anschluß
an den westeuropäischen Altkatholizismus klarer. Sie gab sich einen
Bischof, Kowalski, der von dem altkatholischen Bischof die Weihen nahm,
und machte erhebliche Fortschritte. Während sie von Rom aus mit dem
Bann belegt wurde, wurde sie von der russischen Regierung begünstigt,
weil diese von ihr eine Schwächung und Zersetzung der römisch-katholischen
Kirche im Zartum erhoffte — deren anscheinend unauflöslicher Bund mit
dem Polentum übrigens schon dadurch Risse bekommen hatte, daß die
national-demokratische Bewegung der Städte sich hier, wie im preußischen
Anteil, von der Kirche losmachte und die immer noch recht russenfreundlichc
Stimmung des Bauerntums sich von der fanatisch russenfeindlichen
niederen Geistlichkeit keineswegs unbedingt leiten ließ. Doch ist die Maria-
witenbewegung über ein halbes Hunderttausend Bekenner dauernd nicht
hinausgekommen.
So erwuchs dem Polentum aus der russischen Freiheitsbewegung
längst nicht das, was es erhofft hatte. Der Zustand des Landes war
schon 1907/08 so unklar und unerfreulich wie möglich: das wirtschaftliche
Leben durch die Unruhen geschädigt, das polnische Privatschulwesen bereits
wieder in raschem Verfall, Boykott der Universität Warschau durch die
polnischen Studenten, Disharmonie und Gegensätzlichkeit unter den Par-
teien. Schon im Frühjahr 1909, als die internationale Krise die Polen
zwingen wollte, Farbe zu bekennen, und eine Deputation der Serben an
sie herantrat, um Stimmung für sich zu machen, vermochte es Dmowski
niit seinem versöhnlich-realistischen und neopanslawistischen Programm
Dic Grenzmarken.
351
niemand mehr recht zu machen und verlor seinen Einfluß. Er ist in die
vierte Duma überhaupt nicht gewählt worden. So nahmen auf der pol-
nischen Seite politische Zerfahrenheit, Lauheit und Gleichgültigkeit über-
hand, während auf der anderen Seite der russische Staat wieder zum An-
griff überging.
Gegen die Polen richtete sich die beginnende nationalistische Politik
seit etwa 1910 zuerst. Sie wurde darin immer mehr von der Duma
unterstützt, namentlich von der slawophilen Richtung unter Führung des
Grafen Wladimir Bobrinski, der sich besonders das gemischt-nationale
Gebiet vornahm, der die auf Anschluß an die Großrussen hinarbeitende
kleinrussische, sogenannte altruthenische (moskalophile) Bewegung m
Galizien förderte, der fortwährend gegen die deutschen Enklaven im Zar-
tum Polen und im Westgebiet wetterte und alles beförderte, was auf
Stärkung des russischen Elements in den Grenzmarken, besonders gegen
die Polen, ausging. Und Stolypin betonte, als die Vorlage über die
Einführung der Semstwoverwaltung im Westgebiet von ihm eingebracht
wurde, die russische Staatsidee und die Ablehnung jeglicher nationalen
Autonomie mit größter Schärfe: „Die Regierung ist nicht berechtigt, die
verstreuten schwachen Stützpunkte russischen Staatsbewußtseins im
Kampfe gegen die festgefügte Zitadelle der Polenkultur sich selbst zu über-
lassen. Sie kann nicht in der Rolle eines ruhigen Zuschauers verharren
und den Wettkampf zweier wirtschaftlicher und politischer Faktoren zulassen.
Die Regierung hat von der Einführung der Semstwos in den Gouverne-
ments des Wilnaer Generalgouvernements nur deshalb Abstand genommen,
weil dort kein Raum für eine freie landschaftliche Selbständigkeit unter
Wahrung der Interessen der russischen Staatsidee ist. Die Bevölkerung
wird, wenn üuch nicht mit einem Male, so doch schnell gewahr werden,
daß das Gebiet im Westen ansängt, dem Königreiche Polen zuzuneigen,
wenn es die russische Regierung nicht versteht, aus materieller Schwäche
oder wegen des Fehlens des Staatsgedankens, es in ihren Händen zu be-
halten." Er wies an Beispielen aus der Geschichte nach, daß das Bestreben
der russischen Herrscher, die Polen der russischen Staatsidee zu gewinnen,
zum Gegenteil geführt hätte. „Zweck der Vorlage ist nicht, die Rechte
der Polen in den westlichen Gebieten einzuschränken, sondern den Schutz
der Rechte der dortigen Russen zu wahren. Die Bestätigung dieses
Prinzips durch die Duma wird vielleicht alle Illusionen und Hoffnungen
352
X. Kapitel.
zerstören, andererseits aber einem nicht geringen Unglück vorbeugen, indem
sie offen und ohne Heuchelei festlegt, daß Russisch-Polen jetzt und immer
russisches Gebiet ist'"). Dementsprechend sind dann auch die lange um-
kämpften Borlagen behandelt worden.
Von der Einführung der Semstwos im Zartum war bald über-
haupt keine Rede mehr. Dagegen sind sie im Westgebiet eingeführt
worden, und zwar in nationalistischer Form. Durch den Staats-
streich wurde 1911 die Landschaft für 6 Gouvernements des Westgebiets
geschaffen, die durch ihr System nationaler Kurien ganz im russisch-
staatlichen Sinne wirkt. Damit und mit dem Dumawahlrecht ging dieser
große Teil des „historischen" Polens den Polen verloren. Es war
für sie nur ein geringer Trost, daß die soziale Vormachtstellung des pol-
nischen Großgrundbesitzes zunächst nicht erschüttert werden konnte.
Auch die Städteordnung für das Zartum wurde nicht Gesetz. Sie
wollte verschiedene Kurien, eine russische, eine polnische, eine jüdische. Darin
lag allerdings eine gewisse Konzession an das Polentum. Denn
die Kurieneinteilung wirkte nur für die Juden nachteilig. Der Haupt-
punkt der Kontroverse aber war die Verhandlungssprache in den Stadt-
verordnetenversammlungen. Die Duma hatte das Russische nur für den
Vorsitzenden der Stadtverordnetenversammlung vindiziert, der Reichsrat
entschied sich aber, trotz des Widerspruches des Ministerpräsidenten, für das
Russische als Verhandlungssprache überhaupt. Darauf wünschten die
Polen offiziell das Gesetz nicht mehr. Die Vorlage, die übrigens Vor-
bild der Reform der Städteordnung für das ganze Reich werden sollte,
war an der reaktionär-nationalistischen Richtung des Reichsrats gescheitert.
Im Kriege, im April 1915, wurde dann die Städteordnung für die
Städte des „Königreichs Polen" — diese Bezeichnung wurde auch wieder
hervorgeholt — gewährt; sie sollte am 1. Januar 1916 in Kraft treten.
Unbedingt gegen die polnischen Interessen gerichtete und schmerzlich
empfundene Schläge waren die Bildung eines besonderen Gouvernements
Cholm und die Verstaatlichung der Warschau-Wiener Bahn. Um die
Cholmfrage ist unendlich lange und erbittert gestritten worden. Die Polen
erhoben den Anspruch, daß dieses Gebiet — Teile der Gouvernements
Sjedlez und Lublin — ebenso polnisch sei wie das übrige Zartum, während
L) Rede vom 20. Mai 1910.
Die Grenzmarken,
353
aus Rußland immer lebhafter auf das starke russische Element dort hin-
gewiesen wurde. Viel historische Gelehrsamkeit wurde auf beiden Seiten
beigebracht, wobei es der Regierung nichts verschlug, daß die dort sitzenden
Russen zweifellos orthodoxe Kleinrussen sind, und wobei kleinrussische
Verterter, wie z. B. das Reichsratsmitglied Bagalej (Professor in Char-
kow, einer der wissenschaftlichen Führer des Kleinrussentums), mit der
Regierung zusammengingen, um nur das Gebiet vom Zartum loszu-
reißen. Tatsächlich entsprach die Erbitterung und Entschiedenheit, mit der
das Projekt verfochten oder angegriffen wurde, seiner Wichtigkeit nicht.
Schließlich ist ein besonderes Gouvernement Cholm gebildet worden, das
dem Generalgouvernement Kiew unterstellt wurde (Gesetz vom 6. Juli
1912). Diese Schwächung des polnischen Gebiets durch die Ablösung
einer von ihm in Anspruch genommenen orthodox-russischen Enklave
beleuchtete an einem Punkte die größte natürliche Schwäche des Polen-
tums überhaupt, insofern als sich, wie das schon Bismarck ausgeführt und
auf russischer Seite Dragomanow am entschiedensten ausgesprochen hat,
das sogenannte historische oder jagellonische Polen mit dem ethnographischen
nicht deckt, sondern letzteres viel kleiner ist.
Die Verstaatlichung der Haupteisenbahnlinie des Landes, vom
1. Januar 1913 ab wirksam, wurde zwar mit finanziellen und anderen
Gründen motiviert, erfolgte aber nur im nationalistischen Interesse. Denn
diese Bahnlinie war mit ihren tausenden von polnischen Beamten und Ar-
beitern im Besitz einer polnischen Gesellschaft ein wertvolles Mittel der
polnischen Volkswirtschaft und erschien darum für die strategischen und
politischen Interessen des russischen Staates nicht sicher genug.
Im ganzen war so der Vorteil der Umgestaltung für die polnischen
Bewohner ungemein gering. Staat und Gesellschaft Rußlands sind ihnen
in zunehmender Feindschaft entgegengetreten, die Autonomiegedanken
sind mit immer einheitlicherer Schärfe abgewiesen worden. Die Polen
mußten erkennen, daß auch das „konstitutionelle" Rußland gegen sie war.
Aber wie ihre ganze politische Bewegung die Gelegenheiten des japanischen
Krieges und der Revolution zu einer revolutionären Erhebung nicht
genutzt hat, haben sie sich auch die Verminderung ihres Einflusses von der
ersten zur dritten Duma und die nationalistische Politik ohne Widerstand
gefallen lassen. Das kapitalistische Interesse der neuen Schichten schob
die alte polnische nationale Idee zurück und begnügte sich mit dem ge-
Hoetzsch, Rußland, 23
ringen Maß von Freiheit, das die Revolution gebracht hatte, mit der
Tatsache, daß man in der polnischen Duma-Fraktion wenigstens ein
Mundstück für seine Wünsche hatte, und schließlich mit der allgemeinen
Überlegenheit und dem Einflüsse, den der polnische Adel in Petersburg
ja noch behielt. Als der Weltkrieg ausbrach, wußte das Polentum des
Weichselgebiets, daß es im Kampf der beiden Großstaaten nur Objekt sein
konnte. Seine Hoffnungen auf einen selbständigen Staat flammten wieder
auf, — gerichtet auch auf die Gebiete des alten historischen Polens in
Litauen, Weiß- und Kleinrußland, des jagellonischen Polens „von Meer
zu Meer" und durchkreuzt durch die Ergebnisse und Erfahrungen eines
halben Jahrhunderts, in denen das Polentum nachgeholt hatte, wozu
andere Völker der Neuzeit das doppelte und mehr gebraucht hatten.
4. Die OstseeProvinzen (Deutsche, Letten und Esten);
die Deutschen im ganzen Reiche.
Die nächste Grenzmark nach Norden, von Polen durch das litauische
Gebiet getrennt, sind die Ostseeprovinzen Kurland, Livland und Estland.
Kurland ist 23 747 Quadratwerstst groß und zählte 1912: 758 000 Ein-
wohner (32 auf die Quadratwerst), Livland: 39 995*) Quadratwerst mit
1479 000 Einwohnern (37) und Estland 17 306 Quadratwerst*) mit
479 000 Einwohnern (27). Es ist also ein Gebiet von einer Größe wie
Ostpreußen, Westpreußen und Pommern zusammen, mit einer Ein-
wohnerzahl bei Beginn des Weltkrieges von etwa 23A Millionen.
Der Nystädter Friede von 1721 hat Estland und das schwedische Liv-
land dem Reiche Peters des Großen gebracht, 1795 folgte Kurland und das
sog. polnische Livland. In den gewaltigen Kämpfen zwischen dem Orden,
Polen, Schweden und Moskau um die baltische Küste hatte das Gebiet seine
politische Selbständigkeit nicht zu erhalten vermocht. Aber es erhielt sich
mit aller Zähigkeit seinen nationalen und kirchlichen Charakter und erhielt
ihn beim Übergang in den Moskau-Petersburger Staat auch feierlich durch
den Zaren garantiert. In der Gegenwart bildete es keine administrative
Einheit, sondern zerfiel in die 3 Gouvernements: Kurland mit 10 Kreisen,
st 26266 qkm.
st 45 524 qkm.
st 19695 qkm.
Die Grenzmarken.
855
Livland mit 9 (einschl. der Insel Osel) und Estland mit 4 Kreisen. Die
deutsche Verwaltung und das Selbstbestimmungsrecht, mit denen sie dem
russischen Staat angegliedert worden waren, waren durch die Russifizierung
freilich stark eingeengt. Die 3 Gouvernements wurden russisch verwaltet
und regiert: in Form der Gouvernementsverfassung und der Städte-
ordnung, durch Kreispolizeichefs und Bauernkommissare zur Kontrolle
der bäuerlichen Selbstverwaltung, durch Gerichtsorganisation und Rechts-
sprechung, wie das alles sonst im Reiche galt. Doch standen daneben noch
eine etwas verwickelte ritterschaftliche, städtische und bäuerliche Selbst-
verwaltung, einige Besonderheiten in der Polizei und das baltische Privat-
recht, das noch zu Recht bestand, nach dem aber russische Richter in
russischer Sprache Recht sprachen. Daneben standen weiter die drei Land-
tage, die keineswegs nur Vertretungen des Adels waren, als die Ver-
tretungen der Provinzen mit dem Rechte der Besteuerung. Die
Amtssprache war im Verkehr mit den staatlichen Behörden russisch,
innerhalb der landschaftlichen Verfassung deutsch. Die evangelische
Kirche hatte den Charakter einer Landeskirche durch ihre mit der Provm-
zialverfassung verbundene Organisation, wie auch die Steuern für die
Kirche und das Kirchspiel, das die kirchliche Selbstverwaltungseinheit dar-
stellte, öffentliche Lasten waren.
Der wirtschaftliche und soziale Charakter des Gebiets wurde schon
bezeichnet*). Die Volkszählung von 1897 zählte Deutsche in Kurland
51017 (7,6%), in Livland: 98 573 (7,6%) und in Estland 16 037
(3,9%), im ganzen 165 627 oder 6,9% der Gesamtbevölkerung. Davon
wohnten 132 000 in den Städten. Bei Ausbruch des Weltkrieges konnte
die deutsche Bevölkerung der Ostseeprovinzen auf 200 000 geschätzt werden,
neben 1% Million Letten und 1 Million Esten. Jene sind gleichen indo-
germanischen Stammes, wie die benachbarten Litauer — % Million Letten
saß auch in den Gouvernements Witebsk und Kowno — und bewohnen
Kurland und die 4 südlichen Kreise Livlands (Riga, Walk, Wenden und
Wolmar). Die Esten sind finnischen Stammes und bewohnen die 5
nördlichen Kreise Livlands (Dorpat, Fellin, Osel, Pernau und Werro) und
die 4 Kreise Estlands. Die Sprachgrenze scheidet so Livland ziemlich in der
Mitte in zwei national scharf unterschiedene Teile. Die Zählung von 1897
r) S. ©. 139 f.
23»
356
X. Kapitel,
stellte in den 3 Provinzen 44,8% Letten, 37% Esten, 5,3% Russen,
2,6% Juden fest, die kirchliche Zählung 81,8% Evangelische, 9,1% grie-
chische und 4,6% römische Katholiken.
Das deutsche Element in Adel, Bürgertum und „Literaten" stellt
in den drei Provinzen eine zahlenmäßig sehr dünne Oberschicht dar,
die aber durch das Übergewicht von Bildung und Besitz das Land
entschieden deutsch bestimmte und sich durch die Jahrhunderte in der es
umflutenden nichtdeutschen Masse seinen Nationalcharakter rein und stark
zu erhalten vermochte. Es hat den Jndigenen die evangelische Kirche und
die deutsche Kultur gebracht. Germanisieren hätte es sie gar nicht gekonnt,
selbst wenn es das gewollt hätte. So hat das niedere Volk sich seine
Nationalität bewahrt. Auch versteht doch nur ein relativ geringer Teil
davon das deutsche, den Kenner auf nicht mehr als 800 000 schätzten,
so daß von der Gesamtbevölkerung 1914 etwa ein Fünftel deutsch sprach
oder verstand.
Durch die Bauernbefreiung*) hat der deutsche Adel selbst den Jndigenen
die Pforte zum Aufstieg zu eigenem Selbstbewußtsein geöffnet, durch Schule
und Kirche gab er ihnen auch selbst die Mittel, sich eine eigene Intelligenz
zu schaffen. Schon in den fünfziger Jahren entstand mindestens ein „Jung-
lettentum", das das eigene nationale Recht betonte, seine Kritik an den
Agrarverhältnissen übte und sich mit seinem demokratischen Bewußtsein an
dem aristokratischen Charakter der deutschen Herrschaft stießt). Auf eigene
Kulturleistungen konnte diese lettische und estnische Bewegung nur sehr
bescheiden hinweisen. Um so lieber nahm sie die Unterstützung an, die
ihr Staat und orthodoxe Kirche mit der Politik der Russifizierung boten.
Die Begründung und der Antrieb zur Russifizierungspolitik gegen die
Ostseeprovinzen ist am umfassendsten durch den Slawophilen Juri
Samarin in seiner Schrift: „Das russische baltische Küstengebiet in der
gegenwärtigen Minute'") dargestellt worden. Daraus hat Carl Schirren
seine wuchtige und hinreißende „Livländische Antwort an Herrn Juri
0 S. besonders A. T o b i e n, Die Agrargesetzgebung Livlands im 19. Jahrh.
2. Bde. Berlin 1899. Riga 1911.
2) Darüber s. Die lettische Revolution. 2 Teile. Berlin 1906. 1907.
°) In seinen „Okrainy Rossii" (Die Grenzmarken Rußlands), 1. Serie
1. Heft, (Prag 1868). In Übersetzung und kommentiert herausgegeben von
I. v. Eckardt unter dem Titel: „I. Samarins Anklage gegen die Ostsee-
provinzen Rußlands." (Leipzig 1869.)
Die Grenzmarken.
357
©cmtaritt"1) gegeben, die das historische und nationale Recht der Deutschen
vertrat. Das Ziel dieser Politik aber war am knappsten in einem Be-
richte des Generalgouvernements Albedinski 1869 an Alexander II.
gestellt: „Die baltischen Provinzen müssen bedingungslos und unzer-
reißbar mit dem russischen Reiche verschmolzen werden." Das wollte man,
diese Grenzmark nicht nur äußerlich russisch zu halten, sondern auch
innerlich russisch zu machen. Und da man das mit einer überlegenen
Kultur, in friedlicher Assimilierung gar nicht versuchen konnte, versuchte
man es mit Gewalt staatlichen Zwanges und kirchlicher Propaganda,
mit Brutalität und Rechtsbruch.
Auf dem Gebiete der Kirche setzte diese Politik schon unter Nikolai I.
ein. Aber stärker arbeitete sie erst unter Alexander II. Sie strebte
danach, die bis dahin im Lande herrschende evangelische Kirche, die auch
das Bekenntnis der indigenen Bevölkerung war, zur geduldeten Sekte
herunterzudrücken, über der die — im Lande gar nicht bodenständige —
orthodoxe Kirche Staatskirche sein sollte. Seit 1885 wurde sie mit einer
außerordentlichen Propaganda in das Volk eingeführt, während die evan-
gelischen Pastoren, die dem gegenüber ihrer Pflicht nachkamen, schwer ge-
straft wurden.
Sodann ergriff die Russifizierung seit 1887 die Schule und suchte
das hochentwickelte deutsche Schulwesen zurückzudrängen, das hier den
Prozentsatz der Analphabeten zu dem niedrigsten im Reiche überhaupt ge-
macht hatte. Tie Wirkung dieser Politik, die nur zerstörte, war darum so
schädlich, weil die neue russische Volksschule in dem lettisch oder estnisch
sprechenden Volke keine Wurzel hatte und schlug.
Und gleichfalls in den 80er Jahren waren auf Grund der Revision
des Senators Manassein (1883) Justizorganisation und Rechtsprechung
(seit 1889) russisch geworden. Hier war die Wirkung am ungünstigsten,
weil das Volk an deutsche Formen und Normen gewöhnt war und die
Rechtsprechung in russischem Geiste wie die Verhandlung in russischer
Sprache auf Grund des deutschen Provinzialrechts nur eine große Ver-
wirrung herbeiführten.
Die Russifizierung hat hier anders gewirkt, als etwa im Zartum
Polen, wo sie auch beabsichtigt war, aber an der Geschlossenheit des pol-
*1 Leipzig 1869.
358
X. Kapitel.
nischen Volkskörpers fast ohne Wirkung abprallte. In den Ostsee-
provinzen drang sie viel tiefer ein als jemals in die polnischen
Gebiete und nutzte sie überall die Gegensätze aus, die sie vorfand: den
nationalen des Letten und Esten gegen den Deutschen und den sozialen
des Bauern und Arbeiters gegen den Großgrundbesitzer und Städter. Auf
diese Weise zerstörte sie Beziehungen und Lebensformen, die an sich in
manchen Punkten veraltet sein mochten, aber erträglich waren, ohne an
deren Statt positives neues zu setzen. Dabei handelte es sich hier um eine
Nationalität, die nicht nur zahlenmäßig viel zu schwach war, um je dem
Reiche gefährlich werden zu können, sondern die im Gegenteil in zwei
Jahrhunderten ihre Treue gegen Dynastie und Staat vorbildlich erwiesen
hatte. Man brauchte nur die langen Reihen deutsch-baltischer Namen in
der Verwaltung und in den Offizierkorps und zwar ganz besonders in
den höchsten und eigentlichen Vertrauensstellen anzusehen.
Die Verwirrung, die durch die Russifizierung der 80er und 90er
Jahre im Lande hervorgerufen war, wurde durch die Jndustriepolitik
Wittes vermehrt, durch die in Reval, Riga und Libau Zentren einer
großen Arbeiterbevölkerung entstanden. Hier hat allerdings die territoriale
Verbindung mit dem Teutschen Reiche in einer dem russischen Staate
schädlichen Weise gewirkt, aber anders als man früher in bezug auf
das deutsche Element unberechtigterweise fürchtete und behauptete. Deun
diese Verbindung führte in die durchgängig lettische oder estnische Arbeiter-
schaft die deutsche sozialdemokratische Agitation und Literatur ein, die m
wenigen Jahren die vorhandene Gärung zur Fieberhitze steigerten.
Als 1905 überall die Aufregung begann, loderte hier der Zündstoff
in schrecklicher Weise empor. Im November 1905 begann diese Revolution
— sinnlos, weil der soziale Haß der einheimischen Bevölkerung gegen die
Deutschen in den agrarischen Verhältnissen und Beziehungen keinen zu-
reichenden Grund fand, und sinnlos, weil die hier zutage tretenden separa-
tistischen Hoffnungen auf eine selbständige „Republik Lettland" — das
war die offen ausgesprochene Programmforderung, — sich schon durch
diesen Namen als utopisch erwiesen. Einen Winter hindurch tobte die
Revolution durch die baltischen Provinzen und vernichtete viele Leben
und Werte, bis sie mit Gewalt durch russisches Militär niedergeschlagen
wurde. Geführt wurde diese demokratisch-nationale und soziale Erhebung
von Schullehrern, Studenten, Arbeitern, Söhnen der Großbauern und
Die Grenzmarken.
359
Landarbeitern, möglich wurde sie in diesem Umfange nur durch die Teil-
nahme weitester Kreise der Landbevölkerung. Eine Verbindung mit den
Unruhen in Litauen und Polen ist kaum, höchstens durch die Juden vor-
handen gewesen, mit der russischen Revolution hat sie überhaupt nicht
bestanden.
Die politischen Zugeständnisse der Regierung führten dazu, daß das
deutsche Element in den beiden ersten Dumm gar nicht vertreten war,
während lettische Abgeordnete erschienen, die die anderen gleichartigen
Gruppen der beiden Parlamente in revolutionärem Auftreten noch über-
boten. Daß sie diesen auch im Agrarprogramm beilraten, war ebenso-
wenig verwunderlich wie begründet, denn die agrarischen Verhältnisse der
baltischen Provinzen hatten mit denen im Innern des Reiches nichts
gemein.
Die dritte Duma verminderte die Bedeutung der Letten gleichfalls.
Doch haben die Wahlen auch in sie lettische und estnische Abgeordnete
hereingebracht, je 2 an der Zahl, neben 7 deutschen Baronen und Bürgern.
Im Reichsrat sitzen 4 Vertreter der Ritterschaften und einer des Rigaer
Börsenkomitees (der Kaufmannschaft). Diese deutschen Abgeordneten haben
trotz mancher Gegensätze unter sich auf das energischste im Parlament
mitgearbeitet.
Die Zugeständnisse in Sachen der Sprache und Kirche haben hier
zum Teil viel bedeutet — für Sprache und Schule besonders
der Ukas vom 1. Juli 1905, der die Errichtung von Privatschulen
mit deutscher Unterrichtssprache gestattete. Es entstanden in allen drei
Provinzen „deutsche Vereine", die das Schulwesen neu belebten. Die
alten Hochburgen deutscher Schulbildung, die unter dem Druck der Russi-
fizierung geschlossen worden waren, die livländischen Gymnasien in Birkenruh
und in Fellin, die Domschule in Reval und das Ritterschaftsgymnasium in
Mitau, erstanden wieder, und in der Albertschule zu Riga erwuchs ein
neues städtisches Gymnasium. Zur Belebung der alteinheimischen
Universität (Dorpat) aber kam man nicht. Da an der unbedingten Staats-
treue der Deutschen in den Ostseeprovinzen kein Zweifel war, hat sich
ihr neu entstandenes Schulwesen in der Hauptsache halten können, obwohl
die Schwierigkeiten wieder größer wurden, je mehr die Staatsgewalt
erstarkte und der Nationalismus zum Regierungsprogramm wurde.
360
X. Kapitel.
Dieser Nationalismus richtete sich ja auch gegen die lettische und
estnische Nationalität, vor allem aber gegen die Deutschen. Gegen sie
war der Haß am stärksten, weil die Furcht vor ihnen, das Gefühl der
Unterlegenheit ihnen gegenüber am größten war, und weil die baltischen
Deutschen an einer der wichtigsten Stellen des Reiches saßen. Auf dieses
Moskau und Petersburg vorgelagerte Stück der baltischen Küste hatte sich
die russische Politik seit Jahrhunderten mit aller Macht gerichtet. Es
bildet für sie das gegebene Küstenland mit seinen wertvollen Häfen von
Reval bis Libau, das im Reiche das ebenso gegebene Hinterland gefunden
hatte. Deshalb wurde diese als lebensnotwendig betrachtete Grenzmark
mit solcher Eifersucht betrachtet und versuchte man sie mit allen Mitteln
an das Reich zu ketten, die freilich gerade das Gegenteil erreichten.
Als der Weltkrieg ausbrach, standen die Teutschen der Ostseeprovinzen
einem immer bedrohlicheren Ansteigen der nationalistischen Welle gegen-
über, während sich zugleich die indigene Masse der Letten und Esten in
einen bewußten und entschiedenen Gegensatz nationaler Feindschaft gegen
die Deutschen gestellt hatte. —
Die Zählung von 1897 hatte im ganzen Reiche 1 790 000 Deutsche
aufgewiesen. Davon saßen im Innern des Reiches 755 000, im sog. Neu-
rußland 378 000 und an der Wolga 391 000. 1 Million oder 57,7 %
davon waren in der Land- und Forstwirtschaft tätig, auf dem Lande
wohnten 1 371 956. Woher war diese erhebliche deutsche Bauernbevölkerung
außerhalb der Ostseeprovinzen gekommen?
Im Zartum Polen saß das Deutschtum zum Teil schon seit dem
13. Jahrhundert und ist im 17. Jahrhundert noch ergänzt worden. Es
lebte immer ohne eigene politische Ambitionen still dahin und wurde
sogar durch die eigenen evangelischen Pfarrer polonisiert.
In das Westgebiet, vor allem in die Gouvernements Wolhynien
(171 331 in 1897), Podolien, auch Kiew (14 707), sind die Deutschen
namentlich nach den polnischen Aufständen von 1831 und 1863 zumeist
aus dem Zartum, also bereits als russische Untertanen eingewandert, als
deutsche Kolonisten, die anfangs meist Pächter waren, dann z. T. aber auch
Land käuflich erworben haben; zwei Drittel davon mögen vor 1914 noch
Pächter gewesen sein.
Nach Südrußland aber und nach der Wolga haben die Zaren selbst
eine erhebliche deutsche Einwanderung gezogen, Katharina II. (namentlich
Die Grenzmarken.
361
mit ihrem Manifest von 1763) und Alexander I. (Manifest von 1804),
um die den Tataren abgenommenen Gebiete der Steppe, über die jahr-
hundertelang die Verwüstung hingegangen war, wieder fruchtbar zu
machen. Diese Teutschen kamen unter besonderen Privilegien, die ihnen
ein Leben, wie sie es gewohnt waren, möglich machten, vor allem aus
Schwaben, und sind auf diesem Neuland wirtschaftlich gut vorangekommen.
1871 wurde freilich ihre bevorrechtigte Stellung aufgehoben, nach 1874
wurden sie auch der allgemeinen Wehrpflicht unterworfen, doch hatten
sie dieselbe ausgedehnte Selbstverwaltung, wie die russischen Bauern. So
zählte man 1897 an der Wolga 390 000 und in Südrußland (Bessarabicn,
Cherson, Jekaterinoslaw, Taurien) 342 000 Deutsche. Von diesen Sitzen
aus sind deutsche Bauern über den Ural weitergezogen; auf 20—25 000
Köpfe schätzt man die Deutschen, die allein im Bezirk von Omsk auf dem
Lande sitzen.
Diese deutschen Kolonisten, die so gut wie ausnahmslos russische
Staatsbürger waren, wurden nun das Ziel einer starken nationalislischett
Agitation. Ihre wirtschaftlichen Erfolge weckten keine angenehmen Ge-
fühle; man las es nicht gern, wenn z. B. in einem Danilewskischen
Romans, der gerade diese Siedlungstätigkeit im Süden schilderte, hübsch
gesagt war: „Was findet ihr da wunderbar, ein Deutscher vermag
alles, und noch dazu kein russischer, sondern ein ausländischer Deutscher,
ein schwäbischer Schwab!" Und für eine bestimmte slawophile An-
schauung wurde der deutsche sogenannte „Drang nach dem Osten" geradezu
eine fixe Idee. Man sah in jedem harmlosen Bauern einen Vorposten
und Pionier dieser deutschen Expansion, der angeblich noch auf das engste
mit der alten deutschen Heimat zusammenhing — die die meisten voit
ihnen niemals gesehen hatten und mit der eine Fühlung gar nicht bestand.
Die nationalistische Politik Stolypins richtete sich daher auch gegen diese
Deutschen, in einem Gesetzentwurf gegen die im Südwestgebiet sitzenden
deutschen Kolonisten, die auf einen Landbesitz von 700 000 Dessjatinen
veranschlagt wurden.
Man wollte die Ausdehnung und Sicherung nichtrussischen Besitzes
in diesem Landesteile verhindern, da die deutschen Einwanderer angeblich
die Russen durch ihre wirtschaftliche Überlegenheit verdrängten und da
*) Die „Flüchtlinge in Neurußland", erschienen 1862.
362
X. Kapitel.
(nach den Motiven zum Entwurf) 9% nichtstädtischen Landes sogar in der
Hand von Ausländern waren. Es müsse deshalb vorgegangen werden
gegen, wie die Diskussion wörtlich sagte, „das Bestreben der germanischen
Rasse, die deutsche Kolonisierung zu einem System der friedlichen Er-
oberung der Nachbarlande auszugestalten". Die Vorlage, die „ausländischen
Ansiedlern sowie nichtorthodoxen Übersiedlern aus dem Weichselgebiete, die
sich in den Gouvernements Kiew, Podolien und Wolhynien niedergelassen
haben, den Erwerb wie auch die Pacht von Grundbesitz auf dem flachen
Lande verbot", ist nicht Gesetz geworden. Sie ist so weniger durch sich selbst
bedeutsam geworden als durch ihre Tendenz und ihre Wirkung. Denn sie
zeigte, wessen dieser um die Grenzmarken besorgte Nationalismus fähig
war, und sie führte zu einer Lockerung der deutschen Bevölkerung im
ganzen russischen Süden von ihrer Scholle, da die Verwaltung bereits
daran ging, in dem Sinne des gar nicht Gesetz gewordenen
Entwurfes zu handeln. Diese Lockerung rief eine starke Abwanderung,
teilweise nach überseeischen Gebieten, z. B. Kanada, teilweise nach dem
Deutschen Reich und teilweise nach den Ostseeprovinzen hervor, wo die
großen Besitzer in Kurland und Livland rund 20 000 solcher Kolonisten
angesetzt haben.
An 2 Millionen Untertanen deutscher Nationalität mochte das
russische Reich bei Ausbruch des Krieges zählen.
5. Bessarabien.
Nach Süden stößt an Polen russisches Kerngebiet; das kleinrussische
Land reichte ja über die Reichsgrenze hinaus bis zum San in Galizien.
So ist die im Süden den Ostseeprovinzen entsprechende Grenzmark das
Gouvernement Bessarabien^), mit dem Rußland 1812 und namentlich
1878, als Rumänien den Süden dieses Gebiets wieder aufgeben mußte,
seine Küste verlängerte.
Bessarabien ist 44 000 Quadratkilometer groß mit 2lA Millionen
Einwohnern (65 auf die Quadratwerst) und gehört national zum Volks-
gebiet der Rumänen, die hier fast die Hälfte ausmachen und deren in Ruß-
*) Der Name soll von einem Stamm der Bessen oder einer Priesterkaste
„Zarabi terei" kommen,
Die Grenzmarken.
363
land 1897 1,12 Millionen gezählt wurden. Die übrigen Bewohner Bess-
arabiens sind Russen, Juden, Bulgaren, deutsche Kolonisten') und Türken.
Die Rumänen oder „Moldauer" überwiegen in allen Kreisen des Gouverne-
ments, außer Chotin und Bender, wo die Russen überwiegen. Das Gebiet
ist fast rein agrarisch, sehr fruchtbar. 1905 besaß der Adel 860000, die
Bauern 2,17 Millionen Dessjatinen; der Besitz des Adels geht zugunsten
des bäuerlichen zurück.
Mit dem Erwerb dieses Landes zwischen Pruth und Dnjestr gewann
Rußland eine Grenzmark, die schon zum Gebiet der orientalischen Frage
gehörte, und eine Stellung an der Donau, an der Donaumündung. Zuerst
blieb die Autonomie des Gebiets bestehen, es behielt eine eigene politische
Existenz wie Polen oder Finnland. Seit 1828 jedoch wurde es den übrigen
Gouvernements gleichgestellt, so daß sich heute seine Verwaltung bis auf
geringe Besonderheiten nicht von der russischen unterscheidet. Die Stellung
in der orientalischen Frage, die ihm Bessarabien bot — über sein Gebiet
führt der kürzeste Landweg nach Konstantinopel — ist Rußland im
19. Jahrhundert nicht zu erweitern imstande gewesen. Im Gegenteil bildete
hier das Königreich Rumänien einen nicht zurückschiebbaren Riegel. So
hat die Grenzmark eine besondere Bedeutung nicht gewonnen. Im Reiche
kümmerte man sich nicht sehr um sie; das rumänische Volkstum, das sich
hier zwischen Rußland und die slawischen Balkanstaaten schob, störte ja
auch die panslawistischen Gedanken. Aber dieses russische Moldauertum
zeigte auch nicht die Neigung zu Sonderbestrebungen, zur Vereinigung mit
den Brüdern im Königreich. Und die Jrredenta dort blickte fast nur auf
die Rumänen in Siebenbürgen und nicht auf die über eine Million in
Bessarabien. Dieses konnte also selbst im Sinne der Samarinschen Grenz-
markenangst nicht als gefährlich gelten.
6. Der Kaukasus und die armenische Frage.
Wert und Wirtschaftsverhältnisse dieser Grenzmark sind, weil sie
bereits als Kolonie zu bezeichnen ist, an anderer Stelle^) charakterisiert.
Ihre Völkerkarte ist von einer Buntheit wie an keiner anderen Stelle des
9 Fast alle im Kreis Akkerman,
°) S. 316 ff.
364
X. Kapitel.
Reiches; was bedeutet für Rußland die Tatsache politisch, daß nach der
Zählung von 1897 nicht weniger als 24 verschiedene Völkerschaften das
Kaukasusgebiet bewohnen?
Nach diesem Gesichtspunkt zusammengefaßt stehen dort 33,9 %
Russen, 14,5% Georgier, 12% Armenier und 19,3% Turkotataren neben-
einander; die Bergvölker und sonstige Bestandteile können bei Seite bleiben.
Das russische Element wird von Beamten, Militärs und Bauern ge-
bildet; es ist in einer sehr geringen Minorität in Transkaukasien vor-
handen und ist in geschlossener und absoluter Mehrheit iu Nordkaukasicn.
Die Georgier — aus Grusiniern, Jmeretiern, Mingrelen und Swaneten
— sitzen konzentriert in ihrer alten Heimat, in den Gouvernements Kutais
und Tiflis. Dagegen sind die Armenier zerstreut und in knapper Mehr-
heit nur im Gouvernement Eriwan, % im Gouvernement Jelisawetpol.
Die Turkotataren sind in der Mehrheit in den Gouvernements Jelisawetpol
und Baku, stark vertreten in Eriwan und Kars, und sonst auch zerstreut.
Trotz der großen nationalen Mischung haben die Russen im Norden, die
Georgier im Südwesten, die Turkotataren im Südosten immerhin ge-
schlossene Gebiete, und die schwache Stellung der Armenier findet einen
Rückhalt an den anstoßenden 6 türkischen Vilajets, die mit Russisch-
Armenien geographisch wie ethnographisch eng zusammenhängen.
Von der Bevölkerung des ganzen Kaukasus wohneu 87% auf dem
Lande, 13% in Städten. Das Gebiet ist also fast ganz agrarisch; die nicht-
landwirtschaftliche Beschäftigung ist von Bedeutung nur bei den Armeniern.
Georgien oder wie die Russen es nennen, Grusien (Teile des Gouverne-
ments Tiflis, Kutais und Batum) ist seit 1801 in russischem Besitz. Tie
Verwaltung ist ohne jede Rücksicht auf den nationalen Charakter des
Landes ausschließlich russisch geworden. Die Mißstände, zu denen das
trotz der Verdienste Rußlands um die Befriedung des Landes führte,
wurden durch die Lage der Agrarverhältnisse noch gesteigert. Das adlige
Großgrundbesitzertum, das heute noch die erste Rolle unter den Georgiern
spielen will, ist in rettungslosen Verfall geraten. Fast nirgends sonst
hat sich soviel an feudalen Überresten und Abhängigkeitsverhältnissen er-
halten, aber mit ihnen wird dieser georgische Adel proletarisiert. Diese un-
erfreuliche, überlebte Struktur hat die russische Verwaltung nicht ver-
standen in modernere und gesundere Verhältnisse überzuleiten. So bot
Die Grenzmarken.
365
die damit entstandene Unzufriedenheit den einen Grund zur Teilnahme
an der Revolution. Der andere lag in der russischen Kirchenpolitik.
Sehr bald nach der Einverleibung begannen nämlich die Versuche
des Synod, die selbständige georgische Kirche in Abhängigkeit zu
bringen. Das ist durch das 1836 geschaffene grusinische Exarchat, die
Spitze dieser Kirche, die von Russen geleitet wird, geschehen. Dadurch
bemühte man sich, die georgische Kirche zu russifizieren, mit dem Er-
folge, daß die Georgier nur gegen den Staat aufgestachelt wurden. Dieses,
die Agrarverfassung und die große Mißwirtschaft der Verwaltung haven
zusammen die Aufstandsbewegung 1905 wachgerufen.
Der Kaukasus ist vom gesamten Kolonialgebiet am atterstärksten
von der Revolution ergriffen worden. Bereits 1898 beginnt hier eine
Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, in Tiflis, Batum, Baku ganz
besonders, deren Agitation sich mit der nationalistischen Bewegung des
georgischen und armenischen Elementes verband; 1899 gab es bereits
einen Eisenbahnstreik, 1900 eine Maifeier, seit 1901 wurde die Bewegung
ganz politisch. Daneben ging seit 1902 unter den Georgiern die agrarische
Bewegung her. Erst der Boykott gegen die Landherren, dann Mord-
anschläge, im August 1902 bereits blutige Gefechte mit dem Militär, die
sich bis zum Sommer 1904 hinzogen, in diesen Formen drückte sich die
agrarische Unzufriedenheit aus — da machte ein Kompromiß und die
Nachgiebigkeit vieler Landherren der Unruhe vorläufig ein Ende. Sofort
aber, als die Vorgänge des „Roten Sonntags" in Petersburg bekannt
wurden, brach die Revolution los, sozialistische und nationale (Autonomie-)
Wünsche in sich gefährlich vereinigend und vom armenischen und georgischen
Element getragen, dem sich das tatarische nur teilweise und langsamer
anschloß.
Die Revolution wurde gedämpft, ohne daß ihre Anlässe beseitigt
worden sind. Unerfreulich, gedrückt blieben die Verhältnisse der Georgier,
die aber, isoliert und wirtschaftlich zerrüttet, zu keiner eigenen nationalen
Bewegung fähig waren, zumal sie weder an den Tataren noch gar an den
Armeniern — zwischen ihnen beiden besteht ein tiefer wirtschaftlicher
Gegensatz und nationaler Haß — unterstützt wurden.
Auch die Tataren sind eine Bauernschicht ohne Bürgertum. In ihr
Gebiet fielen in der Revolution die Unruhen in Baku, die aber mehr
366
X. Kapitel.
sozialistischer als nationaler Art waren. Einen größeren Hintergrund als
das georgische Problem hat ja das tatarische, weil die Tataren Moham-
medaner sind und sie, wenn der Islam und der Panislamismus hier
politisch etwas bedeuten, durch die Tscherkessen, Abchasier, Lesghier ver-
stärkt würden — das würde etwa 2'A Millionen Mohammedaner er-
geben. Aber wenn auch der Panislamismus von den Wolgatataren
her Fortschritte machte und nach Taghestan übergegriffen hat, so war
das tatarische Problem, soweit das Kaukasusgebiet in Frage kam, nicht
von wesentlicher Bedeutung.
Ganz anders war das mit der armenischen Frage, die ein russisches
Nationalitätenproblem von internationaler Bedeutung ist. Unter den
Armeniern macht die Zahl der selbständig in der Landwirtschaft beschäftigten
nicht die Hälfte dieses Volkstums aus — so wichtig der armenische Bauer
Transkaukasieus ist. Die Händlerschicht und Bourgeoisie beherrscht zu-
sammen mit der Geistlichkeit das Volk und trägt mit der Intelligenz
zusammen die nationale Idee des Armeniertums.
Die Armenier sind durch die Geschichte Rußland, der Türkei und
Persien zugewiesen worden, haben sich aber ihre Einheitsidee bewahrt, die
sich in ihrer selbständigen christlichen (monophysitischen) Kirche verkörpert
und eine außerordentliche Schwungkraft in der Intelligenz der Armenier,
ihrem geistigen Zusammenhang mit Westeuropa und ihren wirtschaftlichen
Fähigkeiten findet. So entstand eine jungarmenische Bewegung, die die
religiös-nationale Einigung und Selbständigkeit mindestens in der Form
der Autonomie forderte. Da aber die Armenier nicht nur zu drei ver-
schiedenen Reichen gehörten, sondern in ihnen auch mit anderen Nationali-
täten und Konfessionen untrennbar verfilzt und in töilichem Antagonismus
zu ihnen zusammensaßen, mußte diese Bewegung etwas zielloses an sich
haben.
Rußland hat sich ihr gegenüber insoweit die Vorhand gesichert, als
es 1828 (Friede von Turkmantschai) in Etschmiadsin am Ararat den
klösterlichen Mittelpunkt der armenischen Kirche und den Sitz ihres Ober-
hauptes, des Katholikos, erwarb. Seitdem ist dessen Wahl von der Be-
stätigung des Zaren abhängig. Ter Ilkas von 1836 bestimmte die Rechte
dieser Kirche und sicherte ihre Autonomie, doch ergriff die Russisizieruna
in den achtziger Jahren auch dies Gebiet. An den bekannten Armenier-
massakres (1895, 1896), nahm Rußland keine Veranlassung, diese Frage
Die Grenzmarken.
367
von sich aus aufzurollen, und obwohl Zehntausende von flüchtigen Ar-
meniern nach Transkaukasien kamen, wurde die Politik der Russisi-
zierung und Unterdrückung, die der Generalgouverneur Fürst Galizyn
(1897—1905) vertrat, nicht aufgegeben. Immer mehr erschien die Be-
wegung der Armenier, die eine weithin wirksame Propaganda zu machen
verstand, als direkt revolutionär und war es auch. Darum ging das
Regime Plehwes seinerseits weiter, indem es 1903 das gesamte Kirchen-
vermögen der Armenier, das vom Kloster Etschmiadsin verwaltet wurde,
mit Beschlag belegte, in der Absicht, seine Verwendung zu revolutionären
Zwecken zu verhindern. Diese Maßregel, die Privilegien der armenischen
Kirche und zudem auch Eigentumsrechte nichtrussischer Armenier, die zu
diesem Fonds seit langem beigesteuert hatten, verletzte, erregte eine un-
geheuere Erbitterung. Der Katholikos erhob dagegen Widerspruch, wurde
aber seines Amtes entsetzt, die Bevölkerung widersetzte sich mit Gewalt der
Durchführung, wurde aber mit bewaffneter Hand zurückgeworfen. Die
Wirkung im ganzen war, daß nun die große armenische Organisation, die
für den Kampf in der Türkei geschaffen war, gegen Rußland eingesetzt
wurde. Und da zeigte sich in diesem Volke eine gewaltige revolutionäre
Energie, die in zahlreichen Attentaten und in der lebhaftesten Beteiligung
an der ganzen sozialistisch-revolutionären Bewegung zum Durchbruch kam.
In der ersten und zweiten Duma standen die Armenier wie alle Vertreter
des Kaukasus ganz auf feiten der Linken, an den Kongressen der Revo-
lutionäre wie der Autonomisten nahmen sie lebhaftesten Anteil, und es
nützte nichts, daß die Beschlagnahme des Kirchenvermögens rückgängig
gemacht wurde.
Nach 1905 ist der Staat auch hier der Revolution, die das ganze
kaukasische Gebiet in grenzenlose Verwirrung gestürzt hatte, Herr ge-
worden und hat durch die Wahlrechtsänderung auch hier die revolutionären
Elemente von der Duma ausgeschlossen. Aber damit ist hier erst recht
nichts getan, zumal auch die bisherige Resormgesetzgebung den Kaukasus
nirgends berührt hat. Man rechnete darauf, daß die Gebirgsnatur an sich
ein einheitliches Vorgehen der bunt zusammengewürfelten Völkerschaften
gegen die Staatsgewalt sehr erschwere und daß der tiefsitzende Haß der
Nationalitäten gegeneinander dieses vollends ausschlösse. In der Armenier-
frage aber wurde eine vollständige Schwenkung vollzogen. Galizyns
Nachfolger, Graf I. Woronzow-Daschkow, der von 1905—1915 Statt-
368
X. Kapitel.
Halter des Kaukasus war (gestorben Januar 1916) begann eine grund-
sätzlich armenierfreundliche Politik und setzte diese ein volles Jahrzehnt
fort. Das geschah in der Absicht, mit der Gewinnung der Armenier von
Osten aus einen Keil in die Türkei zu treiben und die Konfliktsmöglich-
keiten aus der armenischen Frage zwischen Rußland und den Westmächten
zu beseitigen. Wer England wurde die türkenfeindliche armenische Be-
wegung auch wirklich in ein Rußland freundliches Bett geleitet. Und je
schärfer die weltpolitische Spannung wurde, um so entschiedener trat der
russische Liberalismus für die in der Türkei bedrückten Armenier ein,
in den politischen Hoffnungen, denen Miljukow die Formel eines national-
autonomen Armeniens bis zum Golf von Alexandrette gab. Der zehn-
jährigen Tätigkeit des Grasen Woronzow dankte der russische Staat die
Beruhigung, die im ganzen Kaukasusgebiet eingetreten war und die ihm
erlaubte, diese Nationalitätenprobleme, so wenig auch für ihre Lösung
getan war, als ungefährlich anzusehen. Bei Ausbruch des Krieges aber
erntete er die Früchte dieser armenischen Politik mit der direkten Unter-
stützung, die seinen militärischen Operationen dort von den Armeniern,
auch denen aus dem türkischen Anteile, zuteil wurde.
3 Vt Millionen Russen, 2% Millionen Mohammedaner, 1A Milli-
onen Georgier und 1A Millionen Armenier mochte das Kaukasusgebiet
zu Kriegsbeginn zählen. Die Lagerung der nationalen Verhältnisse und
die Kulturstufe hätten mindestens in Transkaukasien eine Lösung im
Sinne der nationalen Autonomie noch auf lange Zeit unmöglich gemacht,
während die eigenartige geographische Lage dieser Kolonie das Interesse an
ihr im Rahmen der Kolonialpolitik zurückdrängte und daher auch die
Erschließung der großen natürlichen Reichtümer des Gebietes so langsam
vor sich ging.
7. Finnland.
Die nationale Frage, die die Aufmerksamkeit weitester Kreise
Europas erregt hat und von den Folgen der Revolution auf das stärkste
ergriffen wurde, ist die Stellung Finnlands zum russischen Reich.
Finnland ist 373 000 Quadratkilometer (davon 41 000 Binnenseen)
— 7Ao der Fläche des deutschen Reiches — groß und zerfällt in 8 Gouver-
Die Grenzmarken.
369
nements (Läns). Geographisch gehört es nicht zu Rußland und zu
Osteuropa, sondern steht es Schweden nahe. Es zählte 1912: 3,1 Milli-
onen Einwohner (11 auf die Quadratwerst), fast ausschließlich evangelischer
Konfession. Das immer noch wesentlich agrarische Land (85% wohnen
auf dem Lande), ist wirtschaftlich wie sozial demokratisch*); die große Zahl
nichtansässiger, nur von zufälligem Tagesdienst lebender Personen und die
nichtgrundbesitzende Pächterklasse begründen es, warum hier die Sozial-
demokratie einen so auffallend großen Anhang hat.
Von den 3,1 Millionen Einwohnern sind 86,7% Finnen und 13%
Schweden; Russen sind im Lande nur 0,2% vorhanden. Ein Zusammen-
hang mit den Finnen im Reich, im Nordosten und an der Wolga existiert
in keiner Weise. Von ihnen trennt die evangelische Religion und die
schwedisch-germanische Kultur des Großfürstentums. Obwohl das finnische
Element in der überwältigenden Mehrheit ist, hat sich der schwedische
Einfluß in Verwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung sehr stark er-
halten.
Finnland ist von Rußland erobert worden; im Frieden von Fredriks-
hamn (1809) hat Schweden das ganze Land bis zum Torneäelf mit
den Alandsinseln abgetreten. Vom russischen Staatsgesichtspunkt aus,
wie ihn Peter der Große gefaßt hatte, war diese Eroberung zur Abrundung
der Stellung am Baltischen Meer, als eine Erweiterung des „Fensters
nach Europa" notwendig — man brauchte sich nur die Lage von Peters-
burg anzusehen, das übrigens, im alten Jngermanland erbaut, in seiner
Landumgebung heute noch zahlreiche finnische Bauern und Dörfer hat.
Aber Alexander I., unter dem diese Machterweiterung errungen wurde,
gliederte sie seinem Reiche in einer rechtlich besonderen Weise ein. Es ent-
sprach der Entwicklungsstufe des Landes, wie der theoretischen Anschauungs-
weise des Zaren, der ja später auch Polen eine Verfassung gab, daß Finn-
lands althistorische Verfassung erhalten blieb. Das denkwürdige Manifest
von Borgn (27. März 1809), in dem das ausgesprochen wurde, lautete:
„Nachdem wir mit dem Willen der Vorsehung das Großfürstentum
Finnland in Besitz genommen, so haben wir die Religion und die Grund-
gesetze des Landes samt den Privilegien und Rechten, die ein jeder Stand
im erwähnten Großfürstentum für sich, und alle dessen Einwohner über-
0 Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse s. S. 140.
Hoetzsch, Rußland.
24
370
X. Kapitel.
Haupt, sowohl höhere wie niedere, gemäß der Konstitution genossen, hier-
mit bestätigen und befestigen wollen, gelobend, alle diese Vorteile und Ver-
fassungen fest und unverrückt in ihrer vollen Kraft zu bewahren^)." Da-
nach fand die Huldigung der Stände als der Vertretung des Landes statt,
und Finnland trat in einer besonderen rechtlichen Stellung und Organi-
sation zum russischen Reiche. Sinn und Absicht dieser kaiserlichen Kund-
gebung, die danach von sämtlichen Nachfolgern Alexanders bis heute
feierlich bekräftigt worden ist, ist nicht mißzuverstehen. Der Zar wollte
die vorhandenen Rechtsgrundlagen der bestehenden (altständischen) Ver-
fassung erhalten, er machte diese Grundlagen durch sein Manifest zur Ver-
fassung Finnlands innerhalb seines Reiches. Aber den Charakter eines
Vertrags hatte dieses Manifest zweifellos nicht. Die Verbindung mit
dem Reich wurde hergestellt, indem in Petersburg ein besonderes Staats-
sekretariat und ein ständiges Komitee für die finnischen Angelegenheiten
geschaffen wurde.
Diese Verfassung hat, während das Land im Innern wesentlich
selbständig lebte, in ihrem Verhältnis zum Reich über ein halbes Jahr-
hundert geruht: weder Alexander noch Nikolai I. haben je den Landtag
einberufen, sondern nur durch ihre Ukase regiert. Ihr verfassungs-
mäßiges Recht dazu wird nicht bestritten; jedenfalls hat Finnland unter
beiden Zaren ein konstitutionelles Leben nicht gehabt.
Anders wurde das unter Alexander II. Dieser bekannte sich in bezug
auf Finnland, obwohl die finnische Verfassung eine konstitutionelle Rechts-
ordnung im modernen Sinne nicht darstellte, durchaus zur monarchisch-
konstitutionellen Idee. So kam in ganz konstitutioneller Form, indem
auch der Landtag dieser Reform zustimmte, die Landtagsordnung von
1869 zustande, die die Periodizität der Landtage festsetzte, aber die alte
ständische Repräsentation (in den vier Ständen) beibehielt. Sie blieb von
nun an die unbestrittene Grundlage des finnischen Staatslebens bis zur
Zeit Nikolais II. Danach arbeitete ein ständisch zusammengesetzter Landtag
als Legislative und ein Senat als Exekutive, während der Zusammenhang
mit dem Reich durch den finnischen Staatssekretär in Petersburg und
durch den Generalgouverneur, der dem Senat präsidierte und die finnische
*) Text aus Erich, Staatsrecht des Großfürstentums Finnland (Tübingen
1912). S. 3.
Die Grenzmarken. 371
Armee, wie etwa im Lande garnisonierende russische Truppen komman-
dierte, gegeben war.
Der absolute Zar erschien so als Großfürst von Finnland als
konstitutioneller Monarch. Wegen dieses Widerspruchs hat diese Staats-
form immer lebhaftes wissenschaftliches Interesse erregt. Aber für das
wesentliche an der finnischen Frage ist es ohne Wert, ob man sie als
Personalunion oder Realunion oder als Bundesstaat oder als eine Staaten-
verbindung 8ui generis, was am wenigsten besagt, bezeichnet. Wesentlich
ist, daß auch nach dieser Verfassung Rußland allein die Souveränität zu-
kam und Finnland keine völkerrechtliche Staatspersönlichkeit, also im
wirklichen Sinne dieses Begriffes trotz aller sonst vorhandenen juristischen
Merkmale kein Staat, sondern nur ein mit weitgehender nationaler Auto-
nomie und besonderer Rechtsstellung ausgestatteter Reichsteil war, daß
aber andererseits nach der vom Zaren anerkannten Rechtslage an der
staatsrechtlichen Stellung Finnlands nur mit seiner Zustimmung etwas
geändert werden konnte.
Auf Grund dieser eigenartigen Verfassung genoß das Land seine
Selbständigkeit. Indem es sich um das Reich nicht kümmerte — die
ungenügende Kenntnis finnischer Staatsmänner von Rußland ist in der
Revolutionszeit und danach offenbar geworden —, entwickelte es sein
selbständiges Wirtschaftsleben und seine selbständige Kultur weiter.
Beide trugen durchaus demokratische Züge und beide waren von Haus
aus skandinawisch-schwedisch. Letzterem gegenüber setzte sich in einer
langsamen, durch den Namen Lönnrot*) nicht ausschließlich, aber her-
kömmlich zumeist bezeichneten Renaissance das finnische Element durch,
bis es 1883 und 1887 die Gleichstellung des Finnischen mit dem Schwe-
dischen im amtlichen Verkehr erreichte, die übrigens durch Ukase
Alexanders III. erfolgte. Der Gegensatz von Schweden und Finnen be-
stimmte auch die Gliederung der Parteien in Fennomanen, die erst literarisch,
dann politisch gegen das schwedische Element kämpften, und Swecomanen,
die für die schwedische Sprache und Nationalität fochten. An der Schwen-
kung der russischen Politik gegenüber Finnland spalteten sich dann die
Fennomanen in (russophile) Altfinnen und (verfassungstreue) Jungfinnen.
*) Dessen Sammlung „Kalewala" als Nationalepos der Finnen 1835
erschien.
24*
372
X. Kapitel.
Diese drei sind die älteren Parteien, zu denen später noch Bauernbündlcr
und Sozialdemokraten hinzutraten; diese fünf sind heute die Parteien des
Landtags in Helsingfors.
So sehr nun die staatliche Autonomie des Landes, das weder eine
Provinz noch gar eine Kolonie Rußlands war, rechtlich klar und gesichert
schien, so hing sie doch davon ab, ob das Reich, zu dem es gehörte, diese
Art der Verbindung dauernd als sich sicher genug betrachten würde. Darin
und nicht in der theoretischen Frage nach dem staatsrechtlichen Wesen Finn-
lands lag allein die Bedeutung der finnischen Frage, die die Frage eines
autonomen Staatswesens ohne jedes eigene staatliche Machtmittel war.
Diese praktische politische Bedeutung aber ruhte darin, daß Finnland
wie die anderen Grenzmarken zu Rußland gekommen ist, daß es für dessen
Verbindung mit Westeuropa ebenso wichtig ist wie jene, daß es der
Reichshauptstadt sehr naheliegt — von Petersburg bis zur finnischen
Grenze sind es 32 Kilometer — und für die Stellung zum Baltischen
Meer von größtem Wert ist, daß es aber mit seiner geographischen
Lage, seiner ausschließlich nichtrussischen Nationalität und seiner germa-
nischen Kultur Rußland noch viel fremder als die anderen Grenzmarken
ist. War es doch ein vollständig europäisches Land geworden, das seine
Zugehörigkeit zu Westeuropa entschieden betonte und in seinem hochent-
wickelten Bolksbildungsweserck) und seiner ausgeglichenen Kultur darauf
auch ein Anrecht hatte, von dessen ausgeprägter Besonderheit darum
Rußland glaubte, separatistische Tendenzen befürchten zu müssen.
Sah man das rechtliche Verhältnis zwischen dem Reich und Finnland
von hier an, so ergab sich folgendes. Die Stellung des Zaren als Groß-
fürsten mochte genügen — er regierte konstitutionell (mit einem Beamten-
tum, das nahezu ganz nichtrussisch, vielfach schwedisch war), jedoch nicht
parlamentarisch. Freilich lag eine sonderbare Disharmonie darin, daß
derselbe Mann zugleich konstitutionell beschränkter Monarch und absoluter
Herrscher war. Aber weiter: das Land hing mit dem Reiche so lose zu-
sammen, daß es kein gemeinsames Jndigenat gab. Zwar waren die
Rechte der russischen Untertanen nicht so gering, wie oft behauptet wurde;
es waren gewissermaßen Ausländer erster Klasse, aber doch Ausländer,
ohne Wahlrecht zuni Landtag. Während im Reichsdienst zahlreiche Finnen
i) Das Land hat heute nicht mehr als 1,48 % Analphabeten.
Die Grenzmarken.
373
auch in hohen Stellungen tätig waren — es sei an Namen wie Baron
Nikolay, Rehbinder, Roediger usw. erinnert —, gab es im finnischen Dienste
keine Russen. Sodann: das Land war ein eigenes Zollgebiet. 1885 hatte
der Finanzminister Bunge auf Wunsch der russischen Industrie Diffe-
renzialzollsätze auf finnische Waren, Eisen und Stahl, Papier, Leder,
Textilwaren, Glas und Porzellan, gelegt; 1897 wurden die Zollbeziehungcn
überhaupt in dieser Richtung geregelt, um die natürlichen Vorteile
der finnischen Industrie, die im Reichtum an Holz und Wasserkraft
lagen, gegenüber der russischen auszugleichen. In dieser handelspolitischen
Selbständigkeit fürchtete man die Gefahr, daß Finnland wirtschaftlich
überhaupt aus den Beziehungen zu Rußland heraus- und mit Skandinavien
Deutschland, England zu eng verwachse. Vor allem aber: der wirtschaft-
lichen und rechtlichen Selbständigkeit Finnlands entsprach nicht seine
militiärische Rüstung. 1878 war ein Militärgcsetz geschaffen worden,
das Finnland in die allgemeine Wehrpflicht einbeziehen wollte. Es
bestimmte auch — das war die Grundlage bis zu den Eingriffen, die eine
so große Erregung hervorriefen —, daß jeder finnische Staatsbürger
wehrpflichtig sei. Aber das Heer durste nicht außerhalb Finnlands ge-
braucht werden, wenn nicht der Thron unmittelbar gefährdet war oder
die Verteidigung Finnlands es erforderte, und die Friedensstärke dieses
Heeres durfte 5600 Mann nicht übersteigen. Finnland leistete danach für
die militärische Rüstung des Reiches nichts, genoß aber dessen Schutz gegen
alle Gefahren. Man brauchte in Rußland noch nicht einmal auszu-
rechnen, daß in den Jahren 1895—1898 im Reich die Militärausgaben
pro Kopf 2 Rubel 82 Kopeken betrugen und in Finnland nur 1 Rubel
35 Kopeken, um dieses Mißverhältnis zu empfinden.
Nun kam die slawische Doktrin und ihre praktische Anwendung
in der Pobjedonoszewschen Russifizierungspolitik dazu. Dieser war schon
die Existenz dieser geschlossen nichtrussischen, alles Russische ablehnenden
Bevölkerung und ihrer evangelischen Kirche zuwider. Daher beginnt, obwohl
Alexander III. den Finnländern noch am meisten von den nichtrussischen
Nationalitäten seines Reiches wohlwollte, unter ihm die Schwenkung in
der Auffassung des Verhältnisses zum Reiche, die unter seinem Sohne
zum vollen Bruch der Verfassung führte.
Dem Zaren trat die Frage immer näher, ob vom Standpunkte
des Reichsinteresses in den staatsrechtlichen Beziehungen zu Finn-
374
X. Kapitel.
land alles in Ordnung sei. Darauf begann auch die literarische Be-
handlung des Problems hinzuweisen, als deren Ausgang besonders C. F.
Ordins „Die Unterwerfung Finnlands"") anzusehen ist. Oder als die
finnischen Stände ein neues Strafgesetzbuch promulgierten, wies der erste
russische Strafrechtslehrer N. S. Taganzew darauf hin, daß zwar die
Rechtsinteressen Finnlands gut geschützt seien, fragte aber zugleich: „Wer
kann aber die Reichsinteressen schützen, wenn diese auf die eine oder andere
Weise von den neu einzuführenden lokalen Gesetzen berührt werden?"
Der Zar suspendierte daher das Strafgesetzbuch, das erst in Kraft treten
konnte, nachdem Änderungen vorgenommen worden waren. Ferner
wurden gemischte Komitees eingesetzt, um das autonome Post-, Zoll- und
Münzwesen zu verändern, wie sich auch Alexander im deutsch-russischen
Handelsverträge von 1894 ausdrücklich vorbehielt, den Unterschied zwischen
dem russischen und finnischen Zolltarif zu beseitigen.
Aber an die Existenz der Verfassung wurde erst unter Nikolai II.
gerührt. Auch er hat wie seine Vorfahren die Zusage von Borgs bestätigt
und das Versprechen, die finnischen Rechte zu erhalten, unterschrieben* 2),
das dann ebenso wie die früheren derartigen Versprechungen in der „Vollen
Gesetzsammlung" seinen Platz fand. Wer auf ihn machte besonders tiefen
Eindruck jene Diskrepanz in den Wehrfragen — der Kriegsminister
Kuropatkin soll dem Zaren geraten haben, diese Militärfrage entschieden
anzufassen. 1898 fanden Beratungen eines Komitees unter Vorsitz des
Großfürsten Michail Nikolajewitsch darüber stall, ein außerordentlicher
Landtag wurde auf Januar 1899 einberufen, im September 1898 wurde
der brutale General Bobrikow zum Generalgouverneur in Helsingfors
ernannt. Der Standpunkt, zu dem sich die Reichsregierung jetzt gewendet
hatte, war der, daß die Reichsgesetzgebung über der Finnlands stehe, und
auf Grund dessen sprach das Manifest vom 15. Februar 1899 aus,
daß an Stelle der finnischen Gesetzgebung die allgemeine, d. h. die des ab-
soluten Zaren trete für Gesetze, die das Reich und Finnland gemeinsam
beträfen, und für solche, die Finnland zwar allein angehen, aber „allgemeine
Reichsinteressen betreffen oder mit der Gesetzgebung des Reiches in Ver-
bindung stehen"; die Tätigkeit des finnischen Landtags sollte nur begut-
*) 2 Bände. Petersburg 1889.
2) Unter dem 6. November 1894.
Die Grenzmarken.
375
achtender Natur sein. Dieser Standpunkt widersprach strikt der bisherigen
Anschauung und Praxis, daß Veränderungen im Rechtsstatus Finnlands
nur mit seiner eigenen Zustimmung ersolgen dürsten.
Der Landtag hielt auch an dieser prinzipiellen Auffassung fest, kam
aber in einem selbständigen Wehrgesetz den russischen Wünschen wenigstens
zum Teil entgegen. Das genügte aber der Regierung, in der im August
1899 Plehwe — als erster Nichtfinne — das Staatssekretariat für Finn-
land übernommen hatte, nicht. Die Frage wurde gemäß der neuen im
Februarmanifest von 1899 ausgedrückten Rechtsanschauung dem Reichs-
rat übergeben, dessen Mehrheit indes den Bogen nicht überspannen wollte.
Aber der Zar schloß sich dem Minderheitsvotum an und sanktionierte das
neue Wehrgesetz vom 12. Juli 1901. Es war nicht verfassungsmäßig
zustandegekommen und zerbrach die finnische Autonomie wenigstens in
Sachen des Heerwesens ganz, indem es die finnische Landarmee auflöste
und die russische Wehrorganisation einführte. Danach sollte Finnland auf
militärischem Gebiete durchaus eine Provinz des Reiches werden, wie
auch russische Wehrpflichtige und Offiziere in Finnland dienen sollten.
Aber damit geriet man in einen schweren Kampf, der von den Finnen
mit steigender Erbitterung und unter starker Anteilnahme Europas geführt
wurde. Die treibenden Elemente in der Umgebung des Zaren waren
darin (Witte war dagegen) Plehwe, der Kriegsminister Kuropatkin und
der Generalgouverneur Bobrikow. Sie sahen freilich schon 1902 und 1903,
daß sie zu weit gegangen waren. Die einmütige passive Resistenz des
Landes machte es ganz unmöglich, die neue Wehrordnung durchzuführen.
Gerade dadurch fühlte man sich aber in der Anschauung bestärkt, daß die
Finnen unzuverlässige Untertanen seien, die sich ihrer Reichspflicht entziehen
wollten, und ging gerade darum mit immer stärkeren Mitteln der Russi-
fizierung vor. Auf zahlreichen Gebieten, in der Schule, Presse, Eisenbahn,
Post, Verwaltungssprache, wurden das Russische und russische Vorschriften
eingeführt, die Unabsetzbarkeit der Richter beseitigt, und durch starken
Personenwechsel die Spitzen der Verwaltungs- und Gerichtsbehörden ge-
fügig gemacht. Am 9. April 1903 wurde Bobrikow mit diktatorischer
Gewalt ausgestattet; damit war die finnländische Verfassung ganz be-
seitigt. Demgegenüber stieg die Erbitterung rasch immer höher. Die
Fennomanen spalteten sich, ihre Mehrheit ging von nun an als Jung-
finnen mit den Swecomanen, deren bedeutendster Führer Leo Mechelin
376
X. Kapitel.
War* *), gemeinsam im Kampfe um die Verfassung vor. Landesverwei-
sungen suchten die Führer zu entfernen, während durch einen organi-
sierten Passiven Widerstand die Staatstätigkeit überall gehemmt und ge-
lähmt wurde. Es waren Jahre des Kampfes, die dem Lande größten
Schaden brachten, Zerstörung des Rechtssinnes, Desorganisation der Ver-
waltung, massenhafte Auswanderung. Auf das rascheste griffen auch direkt
revolutionäre Bewegungen um sich, Verbindungen mit der Revolutions-
bewegung Rußlands wurden hergestellt, man dachte an den Terror und
seine Mittel, bis ein fanatisierter, aus gebildeter Familie stammender
Finne, Eugen Schaumann, am 16. Juni 1904 den Generalgouverneur
im Attentat erschoß. Genau sechs Wochen später wurde Plehwe ermordet,
und nun floß der finnische Versassungskampf mit der russischen Freiheits-
bewegung-zusammen, und zwar in ihrer revolutionärsten Ausprägung.
Von einem der Führer der finnischen „Aktionspartei"^) ist offen aus-
gesprochen worden, daß die Initiative zu einem „zufälligen" Zusammen-
schluß der verschiedenen oppositionellen Parteien in Rußland von finnischer
Seite ergriffen wurde, weil die finnische Opposition ein neutrales, von
niemand mit Mißtrauen betrachtetes Element bildete. Indem sich die
Finnen zu diesem neutralen Mittelpunkt machten, sei es möglich geworden,
liberale und revolutionäre, soziale und antisoziale, russische und polnische,
armenische und jüdische, georgische und lettische, ruthenische und andere
Elemente zum Kampf gegen das Zarentum zu verbinden. Dazu kam noch
die wirksame Unterstützung, die die finnische Opposition der russischen in
ihrer Verbindung mit der Presse und öffentlichen Meinung Europas
brachte, wie sie so keine der anderen politischen Strömungen Rußlands
hatte.
An der russischen Revolution beteiligte sich Finnland unmittelbar
insofern, als es einen leicht zu erreichenden sichereren Boden für aus Ruß-
land flüchtende Agitatoren, Gelegenheit zum Waffenschmuggel u. dgl. bot,
während im Lande selbst die antirussische Bewegung rasch immer höher
stieg: eine Reihe Attentate und der Generalstreik (Oktober 1905) wurdeti
auch hier erlebt. Auch die im Volk vorhandenen Gegensätze brachen
bereits los: eine „rote Garde" des Proletariats und der Finnen kämpfte
*) f 8. Februar 1914.
*) Konnt Zilliacus.
Die Grenzmarken.
377
gegen eine dagegen gebildete „Weiße Garde" des Bürgertums und des
schwedischen Volksteils, und die „rote Garde" und die Meuterer in Swca-
borg unterstützten sich gegenseitig.
Was Swjatopolk-Mirski für das Reich war, das wurden hier die
Generalgouverneure Fürst I. Obolenski und nach ihm N. N Gvrard,
die beide ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren, so daß vollständige
Anarchie eintrat. Unter dem Drucke der allgemeinen Revolution erhielt
auch Finnland seine Zugeständnisse. Nach dem Generalstreik stellte das
Manifest vom 4. November 1905 die alte Rechtsordnung wieder her.
Das heißt: es sistierte die Prinzipien des Manifestes von 1899 und dessen
Folgerungen, bis diese Fragen durch einen „Gesetzgebungsakt" geordnet
seien — was von Anfang an doppeldeutig war. Die Anwendung der
Wehrordnung war schon im März 1905 eingestellt worden. Im Laufe
des Jahres 1906 hat dann der Landtag wieder regulär wie früher getagt
und eine Reihe Gesetze von großer Bedeutung angenommen, die 1902 bis
1905 abgesetzten Beamten wurden wieder eingesetzt, eine Amnestie ge-
währt, kurz es fehlte nur noch die Wiederherstellung des eigenen Heeres
zur völligen Rückkehr in die frühere Zeit.
Aber schon unter den 1906 angenommenen Gesetzen war eines, das
die bisherigen Grundlagen verschob. Am 20. Juli 1906 war ein neues
Wahlrecht für den Landtag vom Zaren sanktioniert worden; diese neue
Landtagsordnung und das Wahlrecht waren von der finnischen Seite
bearbeitet worden, die Bestätigung durch den Zaren erfolgte auf Befür-
wortung Wittes und des Generalgouverneurs. Darin trat an Stelle des
alten ständischen Landtags ein modernes Parlament, und zwar mit dem
allgemeinen Wahlrecht (auch für die Frauen, aktiv wie passiv) und einem
Proportionalwahlsystcm. Als am 15. und 16. Mai 1907 die ersten
Wahlen stattfanden, ergaben sie 59 Alt- und 26 Jungfinnen, 24
Mitglieder der schwedischen Volkspartei, 9 Bauernbündler (ländliche
Pächter), 2 christliche Arbeiter und — 80 Sozialdemokraten, deren Zahl
in den nun folgenden fünf Auflösungen bis 90 gestiegen ist1). Das zeigte
eine Stärke des Radikalismus und der reichssemdlichen Richtung, die so
9 Die Wahlen 1916 ergaben 103 Sozialdemokraten (absolute Mehrheit),
33 Altfinnen, 22 Jungsinnen, 21 Schweden, 19 Bauernbündler. 1911 wurden
17 Frauen gewählt und waren 48 % der Wähler weiblichen Geschlechts.
378
X. Kapitel.
kaum erwartet werden konnte. Eine so starke Sozialdemokratie konnte
auch nicht allein im Kampfe um eine altständische Verfassung entstanden
sein, und das gab anscheinend doch denen recht, die Finnland nicht als zu-
verlässigen Reichsteil betrachteten. Und wie um das der Regierung recht
deutlich zu machen, waren die Kadetten nach Wiborg (4 Schnellzugs-
stunden von Petersburg) gegangen und hatten von dort, unter dem Schutz
der für die Petersburger Polizei nicht erreichbaren finnischen Autonomie,
ihren Aufruf zur Steuerverweigerung erlassen*).
Noch im Jahre 1906 dokumentierte die Reichsregierung durch
zweierlei, wie sie die Gefahr der finnischen Bewegung ansah. Im Juni
ließ sie die Alandsinseln, obwohl das durch den Pariser Frieden von
1856 verboten war, als Maßnahme der Sicherung gegen Finnland mili-
tärisch besetzen. Und ferner zog sie in den Reichsgrundgesetzen die rechtlichen
Grenzen, innerhalb deren sie die finnische Frage regeln wollte. Artikel 1:
„Das russische Reich ist eine Einheit und unzerteilbar", schließt Finnland
ein, erkennt dieses grundsätzlich nicht mehr als eigenen, mit dem Reich
nur besonders verbundenen, Staat an. Damit wurde trotz aller Zuge-
ständnisse des Jahres vorher durch das neue und von nun an geltende
russische Reichsrecht, das nach Auffassung seiner Schöpfer selbstverständlich
Landesrecht bricht, die finnische rechtliche Selbständigkeit prinzipiell zer-
brochen, also doch die Auffassung, in der alles von 1899 bis 1904 tat-
sächlich geschehen war, rechtlich — durch einseitigen Akt der russischen
Reichsgewalt — sanktioniert. Seitdem war Finnland ein integrierender
Teil des Reiches, womit sich ja vertrug, daß ihm innerhalb dieser Grenzen
eine weitgehende Selbständigkeit nicht nur belassen, sondern jetzt reichs-
gesetzlich garantiert wurde, laut Artikel 2: „Das Großfürstentum Finn-
land, bildend einen unabtrennbaren Teil des Russischen Reiches, wird in
seinen inneren Angelegenheiten verwaltet durch besondere Einrichtungen
auf Grund einer besonderen Gesetzgebung."
So wurde die Suprematie der Reichsgesetzgebung über die finnische
ausgesprochen, in Artikel 10: („Die Verwaltungsgewalt in ihrem ganzen
Umfang gehört dem Zaren in den Grenzen des ganzen russischen Reichs")
auch die der Reichsverwaltung über die finnische Verwaltung. Danach war
nur noch notwendig, im einzelnen reichsgesetzlich festzulegen, welche Ange-
0 S. S. 116.
Die Grenzmarken.
379
legenheiten der besonderen Gesetzgebung zuzuweisen seien und für welche die
gemeinsame, Finnland dann mitumfassende und — das lag logisch in
diesem Prinzip — ebenso wie das Reich behandelnde Reichsgesetzgebung
zuständig sein solle. Auf dieser Linie hat sich die Stolypinsche Aktion
bewegt.
Stolhpin leitete sie durch eine Rede in der Duma am 18. Mai 1908,
ein, in deren Schluß es hieß: „Die Wurzel des Übels liegt weder in der
Untätigkeit der Behörden, noch in der Gesetzwidrigkeit ihres Vorgehens,
sondern darin, daß ein ganzer Teil unserer Gesetzgebung, nämlich das
weite Gebiet unserer gegenseitigen Beziehungen mit Finnland, noch völlig
ungeordnet ist. Diese gewaltige Lücke ist unerträglich und muß ver-
schwinden .... Man lauscht in Finnland den Stimmen derer, die nicht
begreifen wollen oder nicht begreifen können, daß die strenge Gewalt, welche
die Revolution unterdrückt, und die schöpferische Kraft, welche die soziale
Ordnung im gesamten Kaiserreich wie in dessen einzelnen Teilen um-
zuformen sucht, lediglich ein und dasselbe Ziel haben: die Einführung einer
vollkommenen und unerschütterlichen gesetzlichen Ordnung im gesamten
Bereiche Rußlands . . . Man übersieht (in Finnland), daß sich, infolge der
Einführung einer neuen Ordnung der Dinge in Rußland, daselbst die Welle
einer anderen Reaktion erhoben hat: die Reaktion des russischen Patriotis-
mus, des russischen Nationalbewußtseins. Diese Reaktion faßt jetzt in den
verschiedenen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft festen Fuß. Früher besaß
die Regierung nur die Befugnis, die Besitzungen und die historischen
Rechte des souveränen Rußlands zu verteidigen. Dies hat sich gegen-
wärtig geändert. Jetzt ist der Monarch bestrebt, das zerstörte Gebäude
des russischen Nationalbewußtseins wieder aufzurichten. Sie aber sind die
vom Volke gewählten Vertreter dieses Bewußtseins, und Sie können sich
nicht den Pflichten entziehen, die Ihnen in Ihrer Eigenschaft als Ver-
treter des Vo'kes obliegen. Nicht umsonst ist russisches Blut geflossen:
nicht zwecklos und ohne eine besondere Absicht hat Peter der Große die
Souveränitätsrechte Rußlands an den Küsten des finnischen Meerbusens
befestigt. Würden wir auf jene Rechte verzichten, so würde das dem
Russischen Reiche zu unersetzlichem Schaden gereichen. Würden wir ihrer
aber allmählich infolge nationaler Schwäche oder infolge politischer Kurz-
sichtigkeit verlustig gehen, so wäre das dasselbe, als wenn wir sie durch
eine unter der Maske der Scheinheiligkeit verborgene Abtretung Verlierer:.
380
X. Kapitel.
Ein ganzer Schatz moralischer und intellektueller russischer Kraft ist auf
die Klippen und Gewässer Finnlands verwendet worden."
Die staatsrechtlichen Auseinandersetzungen über die frühere Rechts-
lage in dieser Rede, die weit über die finnische Frage hinaus vielleicht das
sprechendste Dokument des aufkommenden Nationalismus ist, waren nicht
haltbar. Aber klar war darin die neue Rechtsauffassung und Rechtslage,
die die Reichsregierung geschaffen hatte, die Betonung der unbestreitbaren
Staatsnotwcndigkeit und die Wendung an ein Reichsgefühl, das nun, der
Existenz einer Reichsduma adäquat, da war oder entstehen sollte.
Bereits am 6. April war der finnische Landtag aufgelöst worden;
die Neuwahl veränderte den Parteibestand nicht nennenswert. Am
2. Juni wurde durch Ukas die Behandlung finnischer, die Rcichsinteresscn
berührender Angelegenheiten geregelt: der Ministerrat hat seitdem zn ent-
scheiden, welche Fragen das sind und welche allein der finnischen Gesetz-
gebung zuzuweisen sind. Zu diesem Zwecke müssen alle Landtagssachen
und Senatseingaben dem Ministerrat eingesandt werden, der damit einen
unmittelbaren Einfluß (russischer Beamten also) auf Finnland nimmt
und den bisherigen Staatssekretär für Finnland sich geradezu unterordnet,
jedenfalls in seiner Bedeutung als finnischen „Landsmannminister" matt-
setzt — der Staatssekretär für Finnland gehört nicht zum Ministerrat und
hat, wie der finnische Generalgouverneur, in Konfliktsfällen den Vortrag
beim Zaren nur zusammen mit dem Ministerpräsidenten. Das Amt
wurde damit für die besonderen finnischen Interessen wertlos.
Im April 1908 wurde ein gemischtes Komitee aus Russen und
Finnen uriter Vorsitz Charitonows zur Ausarbeitung einer Vorlage
über die Finnland angehenden Gesetze von Reichsbedeutung eingesetzt.
Begreiflicherweise war darin eine Verständigung über die einander
diametral entgegengesetzten Rechtsaufsassungen nicht zu erreichen, zumal
auch die finnischen Mitglieder nicht Russisch verstanden. Der von
den russischen Mitgliedern ausgearbeitete Entwurf Charitonows wurde
vom Ministerrat akzeptiert. Das Projekt „über die Ordnung des Erlasses
von Finnland betreffenden Gesetzen und Bestimmungen von allgemeiner
Reichsbedeutung" zählte die unter die Reichsgesetzgebung fallenden An-
gelegenheiten im einzelnen auf und nahm dafür die Vertretung Finnlands
im Reichsrat und in der Duma in Aussicht. Es ging im Frühjahr 1910
an die Duma und wurde dem finnischen Landtag zur „Begutachtung"
Die Grenzmarken.
381
übergeben. Die Vorlage zerbrach die Rechtsordnung Finnlands endgültig,
indem danach der finnische Landtag nicht mehr die konstitutionelle Ver-
tretung des finnischen Volkes, sondern ein Provinziallandtag innerhalb des
russischen Reichskörpers werden sollte.
Seiner Rechtsauffassung entsprechend lehnte deshalb der Landtags
es ab, ein Gutachten über das Projekt abzugeben. Die Hauptschlacht war
aber in der Duma zu schlagen. In dieser waren die Rechten und die Natio-
nalisten ohne weiteres für den Entwurf. Dagegen waren die Progressisten,
Kadetten und Vertreter der nichtrussischen Völkerschaften und die überhaupt
opponierende äußerste Linke. Von den Oktobristen war der größere Teil
unter Führung Gutschkows dafür, dagegen freilich mit die bedeutendsten
Köpfe der Fraktion, Baron Meyendorff, Schidlowski u. a. Durch die
Geschäftsbehandlung, die mehr eine Durchpeitschung als eine Beratung
war, zeigten die Mehrheit und die Regierung nicht gerade, daß sie sich ihrer
Sache sehr sicher fühlten. Kaum eine Woche dauerte der Kampf um dieses
grundlegende Gesetz, das schließlich angenommen und unter dem 30. Juni
1910 sanktioniert wurde. Die Gründe der opponierenden Minorität waren
die des Verfassungsrechts nach der finnischen Auffassung, in fester eigener
Rechtsüberzeugung und in der Befürchtung, daß diese Tendenz sowohl
dem unentwickelten Rechtssinn schädlich sein müsse als auch auf andere
Völkerschaften angewendet werden könne. Aber der größere Teil der
Oktobristen hatte sich bereits zu sehr mit dem Nationalismus durch-
tränkt und drückte das Gesetz durch.
Es setzte gesetzlich die Unterscheidung der Finnland betreffenden Gesetze
fest in die „allgemeine" Gesetzgebung, die Finnland und das Reich angeht
und durch Duma, Reichsrat und Zar sich vollzieht, und in die „besondere",
die nur die inneren Angelegenheiten Finnlands betrifft und seinem
Landtag reserviert bleibt. Diese Unterscheidung war begrifflich schtver
zu geben. Daher wurden, etwa analog dem Artikel 4 der deutschen Reichs-
verfassung, die Gegenstände dieser allgemeinen Gesetzgebung kasuistisch
aufgezählt. Es sind: 1. die Teilnahme Finnlands an den Reichsausgaben
und die Festsetzung der dafür notwendigen Zahlungen, Gebühren und
Steuern; 2. die Wehrpflicht der Bevölkerung Finnlands; 3. die Rechte
der russischen Untertanen in Finnland, welche das finnische Bürgerrecht
nicht besitzen; 4. die Anwendung der Reichssprache in Finnland; 5. die
st Der inzwischen, 1909, abermals aufgelöst worden war.
382
X. Kapitel.
Grundsätze der Verwaltung Finnlands auf Grund des Art. 2 der Reichs-
grundgesetze; 6. die Rechte und Pflichten und die Organisation der Reichs-
institutionen und -behörden in Finnland; 7. die Exekution von Urteilen
mW Anordnungen gerichtlicher Institutionen anderer Reichsteile, sowie
von Gesuchen solcher Behörden und von dort abgeschlossenen Verträgen
und Urkunden in Finnland; 8. die Bestimmung von Ausnahmen von den
finnischen Straf- und allgemeinen Gerichtsgesetzen im Interesse des
Reiches; 9. die Sicherung der Reichsinteressen in Sachen der Bestimmung
der Schulprogramme und der Aufsicht darüber; 10. die Verordnungen über
öffentliche Versammlungen, Vereine und Verbände; 11. die Rechte und
die Bedingungen der Tätigkeit von an anderen Orten des Reiches und
des Auslandes gegründeten Gesellschaften in Finnland; 12. die Gesetz-
gebung über die Presse und die Einfuhr von Preßerzeugnissen aus dem
Auslande nach Finnland; 13. das Zollwesen und die Zolltarife in Finn-
land; 14. der Schutz von Warenzeichen und Handelsprivilegien sowie der
Schutz literarischen und künstlerischen Eigentums in Finnland; 15.
das Münzsystem in Finnland; 16. Post, Telephon, Luftschiffahrt und
ähnliche Mittel des Verkehrs in Finnland; 17. die Eisenbahnen und
anderen Verkehrsmittel in Finnland in bezug auf die Reichsverteidigung,
der gemeinsame Verkehr zwischen Finnland und dem Reich, der inter-
nationale Verkehr und der Eisenbahntelegraph; 18. die Handels-See-
schiffahrt und das Lotsen- und Leuchtturmwesen in Finnland; 19. die
Rechte der Ausländer in Finnland.
Dieser Kreis ist so weit, daß dem finnischen Landtage nur die rein
lokalen Aufgaben blieben. Es war daher zwar nicht würdig, aber richtig,
wenn am Schluß der Verhandlungen darüber ein Abgeordneter der
Rechten, der durch dergleichen Äußerungen häufiger auffallende
Purischkjewitsch, triumphierend ausrief: „Finis Finlandiae!" Anderer-
seits aber hatte Finnland nun an der Beratung im Reichsparlament
seinen Anteil: es entsendet vier Vertreter in die Duma und zwei
in den Reichsrat. Die Duma hat dabei die finnische Selbständigkeit
dadurch anerkannt, daß sie deren Wahl dem Landtag, nicht dem Volke
direkt übertrug und den von der Regierung gewünschten besonderen Ver-
treter der russischen Bevölkerung im Großfürstentum ablehnte. So wurde
die Parlamentsvertretung Finnlands auch Gesetz. Und ferner ist von nun
an die lokale Gesetzgebung Finnlands durch Reichsgesetz garantiert.
Die Grenzmarken.
383
Aus dem Gesetz ergaben sich die weiteren Konsequenzen: die Ver-
treter im Parlament waren zu wählen, und es war, wofür die Entwürfe
dem Landtag und der Duma vorgelegt wurden, die rechtliche Gleich-
stellung der finnischen und übrigen russischen Unteranen durchzuführen,
sowie die Reichswehrpflicht der Finnen zu regeln. Der Landtag wies das
wiederum ab. Im ersten Gesetz sollte nur das Prinzip gesetzlich aus-
gesprochen werden, das den Russen die rechtliche Gleichstellung in Finnland
mit den finnischen Unteranen ipso jure zusprach — wie ja umgekehrt den
Finnen auch nunmehr ipso jure und ohne daß es eines besonderen Gesetzes
bedurfte, kraft Reichsvcrfassung diese Rechte im ganzen Reiche zustanden.
Die Einzelheiten blieben einer Kommission vorbehalten, die der Minister-
präsident Kokowzow unter Vorsitz des Staatsrates Korewo einsetzte;
diese hatte auf Grund der so geschaffenen neuen Rechtsbasis die finnische
-Gesetzgebung der allgemein russischen anzupassen. Das Wehrgesetz aber
nahm eine eigentümliche Regelung in Aussicht. Man wollte die Finnen
nicht persönlich zum Heeresdienst heranziehen, aus Mißtrauen und um
die Einheit der Armee nicht zu gefährden. Daher wurde die persönliche
Wehrpflicht durch Leistung eines Wehrbeitrages an die Reichsrentei ersetzt,
die aber nicht persönlich, sondern durch den finnischen Fiskus zu erfolgen
hat. Da nach Stolypins Ermordung Kokowzow an dieser Politik fest-
hielt, sind die beiden Vorlagen auch Reichsgesetze geworden.
Die Frage schließlich, ob Finnland (Gesamthandel 1913 in Einfuhr
495,4, in Ausfuhr 404,7 finnischer Millionen Mark) in das Reichs-
Zollgebiet einzubeziehen sei, ist bis zum Kriege nicht endgültig entschieden
worden'). Für diese siel neben der Agitation der russischen Industriellen
ins Gewicht, daß sich die Handelsbilanz zwischen Rußland und Finnland
zu ungunsten Rußlands verschob: die Einfuhr aus Rußland betrug 1905:
95,5 Millionen (finnischer) Mark, 1913: 140,1, aus Deutschland 1905:
101,3, 1913: 202,5 Millionen, aus England 1905: 29 und 1913: 60,6
Millionen Mark. Die Ausfuhr nach Rußland war zu beiden Terminen
67,9 und 113,3 Millionen, nach England 75,1 und 108,5 Millionen,
nach Deutschland 26,6 und 52,1 Millionen Mark. Auch im Handels-
vertrag von 1904 mit Deutschland hatte sich deshalb Rußland den all-
mählichen Einschluß Finnlands in sein Zollgebiet vorbehalten.
*) S. oben S. 190.
884
X. Kapitel.
Die finnische Auffassung mit ihrem Beharren auf dem Rechtsstand-
punkt hat sich die Sympathien Europas erworben, aber dabei unzweifel-
haft die Staalsnotwendigkeiten des Reiches, zu dem Finnland gehörte,
nicht richtig eingeschätzt. Sie übersah immer das Mißverhältnis zwischen
der Betonung des selbständigen Staatswesens und der ihm zur Verfügung
stehenden realen Macht, das Mißverhältnis zwischen der Stellung im
Reichskörper und den Leistungen für ihn. Und sie übersah in der letzten
Phase, daß nach dem Gesetz vom 30. Juni 1910 Finnland nun seine Lokal-
gesetzgebung reichsrechtlich garantiert war und daß ihm auch danach eine
Autonomie so weitgehender Art blieb, wie sie keine andere Grenzmark
erhalten hatte. Vom objektiv-historischen Standpunkte war der Kampf
gegen die finnische Selbständigkeit der Kampf der russischen Reichsidee mit
den Finnland beherrschenden Traditionen. Haben doch auch die baltischen
Teutschen, die mit Recht aus dem Geiste dieser Finnlandpolitik auch für
sich fürchten konnten, den Vorlagen über die rechtliche Gleichstellung der
Russen in Finnland und die finnische Wehrsteuer zugestimmt, weil sie,
wie auch sonst national gemäßigte Kreise der Duma, das als eine Reichs-
notwendigkeit empfanden.
Eine andere Frage aber war, ob nicht schon 1899 der Rechtsbodcn
rascher verlassen wurde, als notwendig war, nämlich die Basis, daß ohne
Zustimmung Finnlands an seiner Rechtsordnung nichts geändert werden
durfte, sollten überhaupt Recht und Gesetz im bisher anerkannten Sinne
weiter walten. Und noch weniger waren Akte reiner Willkür, wie sie
mit dem Regime Bobrikows verbunden waren, zu rechtfertigen. Die
Hauptschwäche aber der neuen Politik war, daß sie im einzelnen durchzu-
setzen fast unmöglich war. Bei der geringen Anzahl von Russen im Lande,
bei dessen großer Ausdehnung und bei der absolut einheitlichen Rechtsüber-
zeugung des Volkes bedurfte es unendlicher Mühe, diese Politik gegen den
passiven Widerstand durchzuführen. Und daß dabei der Rechtssinn nicht
gefördert wurde, Ordnung und Wirtschaftsleben nicht vorankamen und
die geschlossene und selbständige finnische Kultur Schaden litt, ohne daß
an ihre Statt etwas Besseres trat, ist durch den Gang der Entwicklung
schon erwiesen.
XL Kapitel.
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
1. Litauen und Weißrußland*).
Der Begriff Litauen, das sich wie ein Block zwischen Kurland und
Ostpreußen bis zur Küste vorschiebt (dies Stück ist das alte Samogitien),
schwankt in Vergangenheit und Gegenwart, je nachdem man ihn historisch
oder ethnographisch nimmt. Ethnographisch ist Litauen in der Hauptsache
das Gebiet des untern Njemen und gehört zu den Gouvernements Kowno,
Wilna, Kurland, Suwalki und der Provinz Ostpreußen. Mit den Letten
zusammen bilden die Litauer eine indogermanische Völkergruppe. Sie
sitzen heute wohl noch ziemlich in denselben Grenzen wie damals, als
der deutsche Orden zuerst in ihr Gebiet eindrang, dessen Grenzlinie von
Labiau bis Goldap, von da östlich und nordöstlich bis Dünaburg und von
da an der Südgrenze von Kurland entlang geht^). In der Vergangenheit
umfaßte das Großfürstentum Litauen freilich ein Gebiet, das weitaus
größer war. Zum überwiegenden Teile waren aber die Bewohner dieses
zwischen Polen und Moskau zeitweilig fast von Meer zu Meer reichenden
litauischen Staates an der Düna, der Wilja und dem Njemen Weiß- und
Kleinrussen. Zwischen Moskau, dem Ordensstaat und Polen suchte er sich
selbständig zu behaupten, unter seinen Fürsten Gedymin und namentlich
Witowt, aber mit einer Volksbasis, die von vornherein zu schmal war.
1386 verband er sich durch die Heirat Jagiellos mit der polnischen Königs-
tochter und Erbin Hedwig mit Polen, und damit endet seine selbständige
Geschichte. Der kulturelle Druck Polens wirkte so stark, daß Adel und
*) S. zum folgenden den Atlas „Völkerverteilung in Westrußland". Verlag
der Kownoer Zeitung 1916.
2) Nach Bezzenberger.
HoeHsch, Rußland.
25
386
XI. Kapitel.
Kirche polonisiert wurden und das Volk als kulturlose, leibeigene Masse
unbeachtet dahin vegetierte. Die sog. Unionen, bis zur Union von Lublin
(1569), bezeichnen die einzelnen Etappen dieser Entwicklung, in der
Litauen nicht im polnischen Staate aufging, Wohl aber, was in der pol-
nischen Adelsrepublik auf dasselbe hinauskam, sein Adel in der polnischen
Szlachta. Daß litauische Volkslieder, die Dainos, die Aufmerksamkeit
unserer Dichter auf sich zogen, daß der größte polnische Dichter, Mickiewicz,
aus Litauen stammte u. dgl. m., war nur eine Kuriositätserinnerung an
diesen vergessenen Volksstamm. Die polnische Geschichtsschreibung trug
auch das ihre dazu bei, die Vorstellung zu erwecken, im Gmnde sei Litauen
polnisches Gebieth. Das ist es aber nicht.
Dem Königreich Polen war der viel größere, aber kulturell unter-
legene Vasallenstaat Litauen notwendig für seine jagellonische Idee. Diese
richtete, da die germanische Expansion den Weg nach Westen versperrte,
das Gesicht des polnischen Staates nach Osten und nahm für diesen
Lettland und Litauen, Weiß- und Kleinrußland in Anspruch, so ein ge-
waltiges Reich von Meer zu Meer herstellend, das im Westen an Branden-
burg, im Osten an einer über Smolensk gehenden Nord-Südlinie dem
Moskauer Staat sehr nahe rückte. Aber: die nationale Basis, die das
polnische Element an der Warthe und mittleren Weichsel für ein so großes
Reich bot, war viel zu schmal. Daher die Notwendigkeit, wenn man an
das Meer dringen wollte, sich mit jenen anderen Elementen zu verbinden:
Litauern und Letten, Weiß- und Kleinrussen, ja auch den Deutschen.
Dieses Moment, daß das jagellonische Polen nicht nur staatsrechtlich,
sondern auch national und kirchlich immer eine Föderation war, hat zu
seiner inneren Schwäche wesentlich beigetragen und ist dadurch nicht be-
seitigt worden, daß es die polnische Szlachta verstanden hat, sich den
litauischen und kleinrussischen Adel national und kirchlich völlig zu assimi-
lieren. Dadurch wurde nur der Schein größerer Einheit erweckt und die
Tatsache verschleiert, daß die jagellonische Idee keine Lebensmöglichkeit
hatte. Die deutschen Bürger und Bauern Preußens gehörten nach Volk
und Kirche zu Deutschland, die Litauer, Weiß- und Kleinrussen kirchlich
9 Die Polen meinen, wenn sie von Litauen sprechen, Wilna, Kowno,
Grodno, Minsk, Mogilew und Witebsk und lassen das litauische Suwalki, das
zum Zartum Polen geschlagen war, aus.
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
387
zum großen Teil auf die Seite des Großrussentums, dem sie auch der
Nationalität nach näher standen als dem Polentum. Diese Momente
machten eine Beherrschung der baltischen Küste und des Dnjeprlaufs
von Anfang an unsicher, sie verhinderten ferner zusammen mit dem Siege
der polnischen Szlachta über ihren Staat die Durchsetzung einer Einheit,
deren Fehlen schmerzlich empfunden wurde, als von rechts und links Ein-
heitsstaaten auf dieses föderative Polen-Litauen drückten und ihm in den
Teilungen erst seine Grenzmarken abnahmen, dann es selbst auflösten. Die
historische Idee des großen von Meer zu Meer reichenden Jagellonen-
reiches ist zwar damit nicht zugrunde gegangen, im Gegenteil auch heute
noch in den Ansprüchen des Polentums lebendig, aber sie stößt sich in der
Gegenwart auf das härteste an den nationalen Realitäten ihres Gebiets,
und darunter vor allem am Litauertum.
Litauen gehörte zu dem sog. Nordwestgebiet, dem nordwestlichen Teile
der 9 Westgouvernements zwischen Polen und dem Moskauer Kerill).
Die 3 Nordwestgouvernements sind groß: Wilna 41800 Quadrat-
kilometer (2 Mill. Einwohner, 54 auf die Quadratwerst), Kowno 40 000
Quadratkilometer (1,8 Mill., 51) und Groduo 38 500 Quadratkilometer
(2 Mill., 58). Dazu sind hier noch heranzuziehen Witebsk 43 900 Quadrat-
kilometer (1,87 Mill., 48), Minsk 91000 Quadratkilometer (2,9 Mill., 36)
und Mogilew 47 900 Quadratkilometer (2,3 Mill., 54) als die Sitze der
Weißrussen, deren Geschicke mit den litauischen eng verbunden waren und
sind. Die Volkszählung von 1897 zählte 1,21 Mill. Litauer und 0,44 Mill.
Schmuden (die alten Samaiten oder Samogitier), die mit ihnen zusammen
gehören, — 1,65 Mill., davon in Wilna 279 000 und Kowno 1 Mill.
Heute können rund 2 Mill. Litauer gerechnet werden* 2). Zu chnen treten als
Bevölkerung des historischen Litauens die Weißrussen, Polen, Juden,
Klein- und Großrussen. Im ganzen Westgebiet gibt es 3)4—4 Mill.
Polen. Nach der amtlichen Statistik bildeten sie 1897 in Grodno 10,8%
(161000), Kowno 9,1% (139 000), Wilna 8,2% (130 000), Witebsk
3,4% (50 000), Minsk 3,1% (64 000), und Mogilew 1,1% (17 000);
in den Südwestgouvernements: Wolhynien 6,2% (184 000), Podolien
2,3% (69 000) und Kiew 1,9% (68 000). Weißrussen, die außer in
0 S oben S. 7.
2) Dazu in Preußen ca. 120000 (protestantische) Litauer.
25-
388
XI. Kapitel.
Witebsk, Minsk und Mogilew auch im Osten des Gouvernements Wilna
und im Norden des Gouvernements Grodno, sonst nur noch in Smolensk
sitzen'), gab es 1897: 5,8 Mill., davon 891000 in Wilna, 705 000 in
Grodno, 788 000 in Witebsk, 1389 000 in Mogilew und 1663 000
in Minsk. Heute werden sie auf 6 bis 7 Mill. geschätzt, zu % katholisch
und zu % orthodox. Juden gab es 1897 in Wilna 202 000, Kowno
212 000, Grodno 278000, Minsk 343000, Mogilew 203 000, Witebsk
174 000; in Grodno waren sie 17,3%, in Wilna 12,7% der Bevölke-
rung"). Großrussen waren 1897 in Wilna 78000, Kowno 72000,
Grodno 74 000, Minsk 84 000, Mogilew 58 000 und Witebsk 198000.
Kleinrussen sitzen in einer ins Gewicht fallenden Zahl nur in Grodno;
1897: 362 000.
Diese Übersicht zeigt, daß vom historischen Litauen die Gebiete von
Mogilew, Witebsk und Minsk geschlossen weißrussisch sind und daß Weiß-
russen auch in sehr hohem Prozentsatz in Wilna und Grodno sitzen. Im
Grodnoschen (Kreise Bjelsk, Kobrin, Brest-Litowsk) reicht das klein-
russische Sprachgebiet stark herein. Polen und in stärkerem Maße Juden
sind Minoritäten; das Großrussentum ist noch schwächer, im eigentlichen
Litauen erreicht es nicht 5% der Bevölkerung.
Dies bunte ethnographische Bild wird durch die wirtschaftliche und soziale
Gliederung noch stark verschoben. Das ganze Gebiet ist rein agrarisch; nur
in Bialystok gibt es eine bedeutendere Textilindustrie. Die 3 Gouverne-
ments Wilna, Kowno und Grodno sind Bauernland; in keinem ihrer
Kreise sinkt der Kleinbesitz unter 40% der Fläche. Die Bauern sind aus-
schließlich Litauer oder Weißrussen. Daneben steht ein erheblicher Krons-
(Domänen-)Besitz und ein stattlicher Großgrundbesitz. Den grund-
besitzenden Adel stellen die Polen dar, in deren Händen die volle Hälfte des
landwirtschaftlich genutzten Bodens ist. Zur polnischen Oberschicht gehört
auch die polnische Geistlichkeit. In Weißrußland ist der sehr ausgedehnte
Großgrundbesitz in großrussischer oder polnischer Hand, — % des Bodens
ist in der Hand des Großgrundbesitzes, V« in der von Staat und Kirche —
') S. oben S. 19. Der Name soll auf weißer Kleidung gehen oder das weiß
soviel wie blaß bedeuten, blasse oder halbe Russen, weil zwischen Polen und
Großrussen stehend.
2) Weiteres über die Juden unten S. 392 ff.
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
389
die Weißrussen sind eine armselige bäuerliche Masse. In allen Städten
des Gebiets herrscht das Judentum vor als Surrogat eines Bürgertums.
Gegen dieses richtet sich die Arbeit „friedlicher Erneuerung", die die Polen
auch im Westgebiet energisch treiben. Namentlich von Wilna aus arbeitete
es mit landwirtschaftlichen Vereinen, der „Wilnaer Agrarbank", die unter
Leitung ihres Direktors Montwill systematisch die Fundierung des pol-
nischen Großbesitzes betreibt, und zwar besonders mit Erfolg gegenüber dem
russischen und deutschen Besitz. Auch Ansätze einer Industrie und eines
städtischen Mittelstands in Litauen sind in der Hand der Polen und des
polnischen Adels (Grafen Tyszkiewicz und Tiesenhausen namentlich), und
die Stadtverwaltung von Wilna war ganz polnisch geworden, obwohl sich
in der Stadt die Nationalitäten ungefähr die Wage halten.
Die polnischen Teilungen wiesen Litauen Rußland zu; es wechselte
also zunächst nur den Herrill). Die ersten Jahrzehnte, die Zeit Alexanders I.,
sind dabei sogar noch eine Zeit der polnischen Herrschaft über Litauen, in der
Alexanders Polenpolitik auch auf das Nordwestgebiet einen großen Einfluß
ausübte. In der Universität Wilna (1803 gegründet) erhielt sie sogar
einen Kulturmittelpunkt, den das Polentum bis dahin noch nicht gehabt
hatte. Nach den Aufständen von.1830 und 1863 aber traf die russische
Reaktion gegen die Polen — seit 1865 war den Polen jeglicher Grund-
erwerb im ganzen Westgebiet untersagt — mit gleicher Schärfe auch die
Litauer. Die Universität Wilna wurde 1832 beseitigt, etwas später auch
das berühmte litauische Statut, an dessen Stelle russisches Gesetz und
russische Verwaltung traten. 1864 wurde der Druck litauischer Bücher.und
Zeitungen in Rußland direkt verboten; das Verbot war bis 1904
in Kraft. Offiziell herrschte nur die russische Sprache, so sehr,
daß nach dem Aufstande von 1863, dessen harte Niederwerfung
durch Murawjew noch heute im Gedächtnis fortlebt, wie man
behauptete, jedes öffentlich gesprochene nichtrussische Wort Strafe kostete.
Die schwersten Schläge aber wurden gegen die Kirche geführt. Die
Litauer gehörten entweder zur römisch-katholischen oder zur unierten
Kirche") und wurden in beiden von Rußland besonders gequält. Die unierte
*) Der westliche Teil von Litauen und Weißrußland gehörte übrigens von
1795 bis 1807 zu Preußen, zu der Provinz „Neu-Ostpreußen" mit den Kriegs-
und Domänenkammern in Bialystok und Plozk.
") S. über diesen Begriff oben S. 243 ff.
390
XI. Kapitel.
Kirche wurde 1839 aufgehoben, vor allem aber wurde nach dem Aufstande
von 1863 ein systematischer Feldzug von Zwangsbekehrungen gegen diese
„Nniaten" gerichtet, die trotzdem nicht auszurotten waren — gegen Ende des
Jahrhunderts waren immer noch ihrer 80 000 vorhanden. Ebenso
hart lastete der Druck auf der römisch-katholischen Kirche im Westgebiet.
Das russische Regime suchte jede polnische und jede litauische nationale wie
kirchliche Besonderheit zu unterdrücken und niachte sich kein Gewissen
daraus, mit den gleichen Maßnahmen gegen die unicrten Weißrussen und
den weißrussischen Dialekt — dessen Gebrauch in der Schule und im Druck
seit 1865 gleichfalls verboten war — auch einen russischen Volksstamm
zu drangsalieren.
Aber gerade russische Maßnahmen gaben den Gedanken der litauischen
und weißrussischen Selbständigkeit Raum, vor allem die Beseitigung der
Leibeigenschaft und Befreiung der Bauern, in der die russische Regierung
wenigstens den litauischen Bauern gegen den polnischen Herrn direkt be-
günstigte. Deshalb suchte sie auch trotz ihrer Politik im Lande selbst
eine litauische Intelligenz hervorzurufen, um damit die litauische gegen die
polnische Nationalität auszuspielen. Eine solche Intelligenz entstand auch
in bescheidenem Maße. Aber das Verbot der Verwendung des Litauischen
im Druck — darauf kam das Verbot der lateinischen Lettern ja heraus —
trieb diese Intelligenz gerade ins rußlandfeindliche Lager. Sie fand Rück-
halt im preußischen Litauen: seit 1883 wurde von Tilsit aus eine
litauische Buch- und Zeitschriftenproduktion nach dem russischen Litauen
in großem Umfange herübergeschmuggelt. Im Kreise dieser Literaten
wurde dann auch die Erinnerung an Litauens Vergangenheit wieder belebt
und Gedanken einer litauischen Autonomie, sogar eines litauischen Staates
aus Litauern und Letten von Suwalki bis Riga vorbereitet und geträumt.
1896 entstand eine litauisch-sozialdemokratische, in derselben Zeit auch eine
demokratische Partei. Die Tendenzen dieser Bewegung waren antirussisch
und antipolnisch, demokratisch und bäuerlich-agrarisch. Wichtig vor
allem war, daß sich zu ihr auch die Geistlichkeit in ihren jüngeren Gliedern
fand, in deren Beteiligung der einzige einigermaßen ernsthafte Faktor dieser
im ganzen schwach bleibenden Bewegung lag.
Auch das weißrussische Volkstum wurde etwas wachgerufen, durch
weißrussische Studentenvereine in Moskau und Petersburg, durch Volks-
schristen und Zeitungsanfänge (eine Zeitung Homan in Minsk). 1903
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
391
entstand auch hier eine Art Partei in einer „Weißruthenischen sozialen
Genossenschaft". So unbedeutend das alles hier und in Litauen war, es
hatte doch dafür ausgereicht, daß in der Revolution von 1905 auch
hier das Programm der Autonomie fix und fertig da war und gefordert
wurde.
Schon 1904 (7. Mai) war das Verbot der lateinischen Lettern ge-
fallen. Fürst Swjatopolk-Mirski, der spätere Minister, hatte es als General-
gouverneur von Wilna durchgesetzt. Das war ein wesentlicher Fortschritt.
Denn nun konnte die Schmuggeltätigkeit aus Preußen aufgegeben, der
Druck litauischer Schriften, vor allem auch von Gebetbüchern nach Wilna
verlegt werden. Dann kam das Toleranzedikt, das hier am lebhaftesten
begrüßt wurde, wie es auch hier in zahlreichen Rückübertritten die stärkste
Wirkung hatte. Ferner gestattete der Ukas vom 14. Mai 1905 den
Unterricht des litauischen und polnischen als Unterrichtsfaches und den
Landerwerb durch Polen in den Gouvernements des Westgebietes, der,
wie erwähnt, völlig verboten gewesen war, wenn auch das Verbot stark
umgangen worden war, indem die Güter auf die Namen von russischen
Strohmännern übertragen wurden. Praktisch schlug diese Erlaubnis
allerdings zum Nachteil der Polen ans, da sie die Liquidierung des pol-
nischen Grundbesitzes im Westgebiet förderte. Denn in den drei Jahren nach
Erlaß des Ukas vom 14. Mai 1905 wurden nicht weniger als 1000
Güter der Bauernagrarbank zum Verkauf angeboten, von denen die Mehr-
zahl in den Händen des polnischen Großgrundbesitzes war. Und
dieser Besitzwechsel ist in vollem Gang geblieben, Schuld daran
ist die starke Verschuldung des polnischen Landadels. Käufer aber sind
russische und noch mehr litauische Bauern. Und schon darin trat der
polnisch-litauische Gegensatz auf das schärfste hervor.
Die Revolutionsbewegung war im ganzen Westgebiet nicht nur ein
Aufbäumen gegen das politisch herrschende Großrnssentum, sondern auch
gegen das sozial herrschende Polentum; die Kleinrussen im Süden, die
Litauer im Norden, auch die Weißrussen in der Mitte erhoben sich gegen
die polnischen Herren. Besonders die litauische Bewegung erwies sich als
so stark antipolnisch, daß sie das Verhältnis zu Rußland weniger feind-
selig faßte. Diese Richtung, die man fast russophil nennen konnte, ist
auch in den Jahren bis zum Weltkriege die stärkere geworden und geblieben.
Die Vertretung der Polen des Westgebiets im Reichsrat und in der
392
XL Kapitel.
Duma gehörte, wie das dem aristokratischen Charakter des Polentums im
Westgebiet entspricht, zu den „Versöhnlern" oder „Realisten".
Aus Weißrußland ist in der Revolution keine ernsthafte Bewegung ent-
standen. Die Verwendung des weißrussischen im Druck ist erlaubt geblieben,
konnte aber bei dem Kulturzustande dieses Volksteiles keine Bedeutung ge-
winnen. Während der Nationalismus das Litauertum in dem wenigen,
was es seit 1905 kulturell, namentlich in der Schulfrage, voranbrachte,
anscheinend nicht gestört hat, sind der Benutzung des Toleranzedikts zu-
nehmend Verwaltungsschikanen in den Weg gelegt worden. Auch wurde die
Semstwoverfassung bei der Stolhpinschen Maßnahme*) nicht auf die drei
litauischen Gouvernements ausgedehnt und mit der Auflösung des General-
gouvernements Wilna (Gesetz vom 14. Juli 1912) sogar der administrative
Zusammenhang des litauischen Reichsteils in sich aufgehoben. Eine Gefahr
für das Ganze lag in der Gärung dieser Gebiete, zumal sich die nichtgroß-
russischen Nationalitäten im Schach hielten, nicht. Denn das wesentliche
darin war der unvereinbare Gegensatz zwischen den Polen, die mit aller
Kraft auf Litauen historische Ansprüche erheben, und den Litauern, deren
Selbständigkeitsbewegung sich in erster Linie gegen die Polen richtet.
Darum hat die russische Politik hier zwischen 1906 und 1914 die Litauer
als die schwächeren begünstigt und wurden diese, um polenfeindlich sein
zu können, russenfreundlich.
2. Der jüdische Ansiedlungsrayon.
Die russische Gesetzgebung rechnet die jüdischen Untertanen auch heute
noch zu den „Fremdstämmigen" mit den Samojeden, Kalmücken, Kirgisen
usw. zusammen. Daher müssen sie in die Erörterung der Nationalitäten-
frage eingeordnet werden, und zwar hier, da ihr „Ansiedlungsrahon" zu
dem soeben erörterten Gebiete geographisch gehört. Die Judengesetzgebung
gilt aber nur für die den Talmud anerkennenden Juden; die ihn nicht
anerkennenden sogen. Karaimen — weitaus die Minderheit, in der Krim,
mit dem Mittelpunkt in Eupatoria, sie gelten als Nachkommen der
Chasaren — stehen rechtlich den „eingeborenen Untertanen" ganz gleich.
Gegenüber den Fremdstämmigen aber besteht der Unterschied, daß diese das.
st S. oben S. 129. 238 f.
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
393
auch nach Annahme des Christentums bleiben, die Juden aber dadurch
in den Genuß aller Rechte der „eingeborenen Untertanen" kommen oder
wenigstens kommen sollen.
In Artikel 67 der Reichsgrundgesetze ist die Glaubensfreiheit auch
den Juden zugesprochen. Obwohl aber sonst die staatsbürgerlichen Rechte
unabhängig vom religiösen Bekenntnis erworben und besessen werden,
sind die Juden auf Grund ihrer Religion in dieser Beziehung außer-
ordentlich beschränkt geblieben. Sie dürfen nur im sogenannten An-
siedlungsrayon (russisch: Tscherta), d. h. im Zartum Polen, im West-
gebiet (außer der Stadt Kiew), in Bessarabien, Cherson, Poltawa, Jekate-
rinoslaw, der Krim und in Kurland, im ganzen noch nicht 1 Million
Quadratkilometer, wohnen und auch dort nur in den Städten, soweit sie
nicht von früher her schon auf dem Lande saßen. Der Erwerb und die
Pachtung von Land außerhalb der Städte ist auch dort verboten. Aus-
nahmen gelten nur für bestimmte Berufe. Außerhalb des Ansiedlungs-
rahons ist das Reich der Masse der Juden für dauernden Aufenthalt
verschlossen. Dieser wird nur für Kaufleute erster Gilde, Inhaber akade-
mischer Diplome, Studierende und das ärztliche Hilfspersonal gestattet; nicht
mehr als 6—7 % der russischen Juden wohnen außerhalb des Rayons. Der
Zutritt zur Staatsverwaltung wird auch dann nur in wenigen Zweigen
gewährt, der Zutritt zu den mittleren und höheren Schulen des Staates
nur in einem bestimmten Prozentsatz, der im Ansiedlungsgebiet 10%,
in den übrigen Gegenden 5%, in den Residenzen gar nur 3% beträgt.
Die Härte, die in diesen in der Hauptsache aus dem Jahre 1882
stammenden und zu unendlichen Verwaltungsschikanen Anlaß gebenden
Beschränkungen liegt, wird klar, wenn man sich vorstellt, daß es sich um
sicherlich 6% Millionen, davon im Ansiedlungsrayon zirka 6,2 Millionen
Juden handelt. Die Volkszählung von 1897 zählte für das ganze Reich
5 063156 Juden, davon in den 34 Gouvernements des eigentlichen
Zentralrußlands 146 000, in Asien und im Kaukasus 118 000. Die Ge-
samtbevölkerung des Ansiedlungsrayons war 1897: 42,5 Mill. Seelen,
davon 4,8 Mill. Juden. Der Anteil der Juden an der Reichsbevölkerung
war 1897: 4,1 %, im Rayon 12%. Es wohnten damals in Polen 1,3
Mill., in Kurland 37 000, Wilna 202 000, Kowno 212 000, Grodno
278 000, Minsk 343 000, Mogilew 203 000, Mtebsk 174 000,
ALolhynien 394000, Podolien 369000, Kiew 430 000, Bessarabien
394
XI. Kapitel.
228000, Cherson 322 000, Poltawa 110 000, Jekaterinoslaw 99 000,
Taurien 55 000 Juderll).
Der Prozentsatz der jüdischen Bevölkerung im Rayon ist in den
Städten infolge der geltenden Bestimmungen viel höher als auf
dem Lande. In Grodno und Minsk sind 60% Juden, über 50% in
Witebsk, Mogilew u. a., in Berditschew, Schitomir und Kischinew steigt
der jüdische Anteil auf die Hälfte, drei Viertel und mehr der Bevölkerung.
Da leben die Juden auf das engste zusammengepfercht und müssen sich
in stärkster Konkurrenz gegeneinander das Leben zur Hölle machen, weil
sie nur von Handel und Handwerk leben können. Der russisch-polnische
Jude ist wesentlich städtischer Proletarier und lebt bei diesen Bedingungen
oft in unbeschreiblichem Elend .
Das russisch-polnische Judentum bildet ein geschlossenes Ganze,
zusammengehalten durch Kahal (autonome Gemeinde) und Chaider
(Kirchenschule), Glauben und Sprache, das „Jiddisch" oder den „Jargon".
Diese Sprache, die 96% der Juden Rußlands als ihre Muttersprache
angaben, ist eine Mischsprache, eine mit hebräischen Lettern geschriebene,
mit hebräischen und slawischen Worten durchsetzte, stark korrumpierte
mittelhochdeutsche Mundart, in der literarische Erzeugnisse, auch Tages-
zeitungen erscheinen. Zwischen den Juden Polens und denen des historischen
Litauens (den sog. Litwaken) bestehen erhebliche Unterschiede, in äußerer Er-
scheinung, Typus und Tracht, Dialekt und in der Stellung zum Talmud
und zur kirchlichen Gelehrsamkeit. Der Litwak fühlt sich auf einem höheren
jüdisch-religiösen Bildungsniveau als der polnische Jude, wird aber dafür
von letzterem, der sich mehr als Westeuropäer betrachtet, als russisch in-
fiziert angesehen. Der Gegensatz, der sich durch andere Umgebung und auch
andere Geschichte erklärt, ist stark und bewußt. Eine national bewußte
und politisch einheitlich denkende Masse ist das russische Judentum als
Gesamtheit nicht, trotz seiner scharfen Scheidung vom russischen Staat,
die dessen Judenpolitik hervorrief, und vom Polentum, die der seit den
80er Jahren entstandene polnische Antisemitismus bewirkt hat. Dagegen
fallen aber auch die Juden, die sich dem Polentum oder dem Russentum
assimilieren, im jüdischen Problem Rußlands nicht ins Gewicht.
y Im Tschernigowschen 114000, in Petersburg 16000, Moskau 7000,
Odessa 138 000. — Nach dem Bekenntnis zählte Kurland 51000, Cherson 339 000,
Taurien 60000 Juden.
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
395
Dieses ist für Rußland durch die Teilungen Polens entstanden, durch
die die jüdische Bevölkerung Polens mit übernommen werden mußte.
Ihre Behandlung in der heute noch maßgebenden Art stammt aus der
Ara Alexanders III. Es entsprach der Richtung seiner Politik, daß dieser
Fremdkörper, ebenso wie die anderen Fremdkörper behandelt wurde, d. h.
im Prinzip, nicht in der Methode, da auch nur der Versuch einer Russi-
fizierung gegenüber diesen Massen von so hartem Volkscharakter von vorn-
herein aussichtslos war. Daher suchte man in jenen Regeln von 1882,
die mit Modifikationen die heutige Rechtslage darstellen, die Juden vont
übrigen Reich ganz fernzuhalten und kümmerte sich nicht darum, wie sie
nun in ihrem Gebiet miteinander handelnd und wirtschaftend lebten. Diese
Politik führte zwar dazu, daß die Auswanderung unter den Juden außer-
ordentlich zunahm, aber die Frage selbst wurde damit nicht gelöst. Wenn
man die Juden noch so sehr als Untertanen zweiter Klasse behandelte,
die nur Pflichten und sehr beschränkte Rechte hatten, die z. B. kein christ-
liches Hausgesinde haben, keine Ehen mit Orthodoxen oder Katholiken
schließen durften, so wurde die in ihnen liegende Kraft damit nicht ertötet.
Das händlerische Genie vielmehr, das so geradezu gezüchtet wurde, führte
dazu, daß Juden, wenn sie sich in die Höhe arbeiteten, wo sie hinkamen,
rasch an die Spitze des Wirtschaftsleben traten. Das galt ganz besonders
für das Zartum Polen, in dem der große wirtschaftliche Aufschwung seit
1863 ohne die Kronenberg, Bloch usw. gar nicht denkbar ist. Aber auch in
Kernrußland ist dieser jüdische Erwerbssinn, der sich oft nur illegal betätigen
konnte, von großer Bedeutung geworden, entweder in den oberen Schichten
von Handel und Industrie, wo das Judentum namentlich mit der Witteschen
Politik eine sehr bedeutende Stelle errang, oder in den unteren Schichten,
wo sich der Jude als Geld- und Kleinhändler durchschlug und auf Kosten
der einheimischen Bevölkerung zu Gelde kam.
Ferner wurde durch die Unterdrückungspolitik der Bildungshunger
der Juden, der Drang herauszukommen und höher zu steigen, nur noch
mehr gereizt. Es mußte empörend wirken, wenn in den Städten des An-
siedlungsrayons russische Gymnasien errichtet wurden, die schwach besucht
wurden, weil die russischen Kleinbürger des Ortes ihre Söhne nicht hinein-
schickten und die Juden ihre Kinder nicht hineinschicken durften, oder wenn
von den Juden für die Gründung von eigenen Schulen erhobene Sonder-
steuern regierungsseitig für andere Zwecke verwendet wurden. So erwuchs
396
XI. Kapitel.
ein wilder Haß gegen das bestehende Regime, stellte doch noch unter
Alexander III. eine Kommission fest, daß gegen 90% der Juden Rußlands
eine fast besitzlose Masse seien, und eine besitzlose Masse, deren Intelligenz
außer allem Zweifel stand. Einen besseren Boden konnte man sich nicht
wünschen entweder für den Zionismus, der die Juden überhaupt aus
dem Lande herausführen wollte, oder, noch erfolgreicher, für die sozial-
revolutionäre Bewegung im Lande selbst.
Das wurde noch gefährlicher, weil die harte Gesetzgebung praktisch
sehr stark durchlöchert wurde. Obwohl es nicht erlaubt war, saßen Massen
von Juden im Reiche selbst, bei gänzlich unsicherer Rechtsbasis. Denn
diese bestand nur darin, daß sich die Polizei von ihnen bestechen und sie
wohnen ließ. Wurde dann einmal, wie 1891 und 1892 in Moskau durch
den Großfürsten Sergius, durchgegriffen, so wurden in einer solchen
Judenaustreibung zahlreiche Existenzen vernichtet, gegen deren wirtschaft-
liche Überlegenheit sich ein immer stärker zunehmender Haß der russischen
Bevölkerung gerichtet hatte.
So wurde das Problem zu einer immer größeren Gefahr für den
Staat, ohne daß dieser es verstand, ihm zu begegnen. Die lokalen Ver-
waltungsorgane standen im Banne der Abneigung der einheimischen Be-
völkerung gegen die Juden und der demagogischen Hetze gegen sie und
luden dadurch oft eine schwere Mitschuld an den elementaren blutigen Aus-
brüchen des Volkshasses, den sogenannten Progroms, auf sich, die schon
im Frühjahr 1881 einmal stattfanden. Das Jahr 1903 brachte wieder
derartige Progroms, in Kischinew und an anderen Stellen; in der Revo-
lutionszeit brachen sie fast in allen Zentren des Ansiedlungsrahons aus.
Andrerseits hatte das Judentum sich immer mehr auf eine Revolution
gerüstet. Es hatte sogar sehr lebhaft an ihren Vorbereitungen teil-
genommen. Ende der 80er Jahre entstand der sog. „Bund", der 1897
zu dem „allgemeinen jüdischen Arbeiterbund in Rußland, Polen und
Litauen" wurde und der neben der polnischen Sozialdemokratie das meiste
dazu beigetragen hat, die Arbeiterschaft zu revolutionieren. Bei der Intelli-
genz war das nicht erst nötig. Denn wenn sich aus diesem Judentum
ein geistig Begabter in die Höhe arbeitete, so fand er nur in Ausnahme-
fällen als Arzt oder Rechtsanwalt in Polen oder im Reich sein Fort-
kommen. In der Hauptsache verstärkte er die besitzlose und revolutionäre
Intelligenz. Er nahm an der geschilderten Bewegung des „Jns-Volk-
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
397
gehen" teil, — unter den Nihilisten und Attentätern sind zahlreiche
jüdische Namen —, und als die Revolution wirklich ausbrach, als die
politischen Vereine, Flugblätter, Zeitungen nur so aus dem Boden schossen,
da standen überall die Juden in der vordersten Reihe als die extremsten
und radikalsten Führer der Revolution. Ebenso beteiligten sie sich energisch
am politischen Kampf in den Dumm; unter den liberalen Parteien von
den Kadetten an nach links waren und sind eine ganze Reihe jüdischer Ab-
geordneter.
Jeder unbefangene Russe mußte in diesen Jahren einsehen, daß die
jüdische Frage zu einem der schwersten Probleme geworden war und daß
sie mit den „Regeln" aus der Zeit Alexanders III. nicht mehr zu bestreiten
war. Die Revision der Judengesetzgebung ist daher auch gefordert und
sehr lebhaft, auch vom Auslande her, verfochten worden. 1905 (Ukas vom
21. Juni) schon ist eine Kommission für die Judenfrage eingesetzt worden,
auch die Zusage (im Ukas vom 25. Dezember 1904) einer Revision der
Bestimmungen über die Fremdstämmigen mußte sinngemäß für die Juden
gelten. Aber weder von der Regierung noch von der Duma ist etwas
Positives geschehen.
Freilich war die Frage mit dem Schlagwort der Judenemanzipation
auch nicht gelöst. Der Haß des russischen Juden gegen den bestehenden
Staat war zu verstehen, andererseits bedeutete eine unbedingte Emanzi-
pation nur, daß sich dieses Judentum über das ganze Reich ergösse und
sich überall rasch an die Spitze schwingen könnte. Denn die Abneigung
des Russen, die sich in elementaren Ausbrüchen der Revolutionszeit
blutig gegen das Judentum wandte, war psychologisch in dem Ge-
fühl begründet, dem sich auch die verantwortlichen Politiker nicht
verschlossen, daß im Falle einer Emanzipation sofort ein großer Teil
des wirtschaftlichen Lebens in die Hände des Judentums käme, m.
a. W., daß in Volkscharakter und Volkswirtschaft Rußlands Schwächen
lägen, die diese den Juden in die Hände geben würden, wenn sie sich frei
entwickeln könnten. Dazu kommt, daß die Schwierigkeiten der Assimilation
unüberwindbar sind; wie sollte das russische Volk heute dieses orthodox-
talmudistische Judentum in die europäische Kultur herüberführen können?
Darum ist die Judenfrage auch vom Liberalismus nicht entschieden an-
gefaßt worden; sie ist eine eiternde Wunde am Volkskörper geblieben.
398
XL Kapitel.
3. Die ukrainische Frage.
Das prinzipielle und historische über den Gegensatz des Groß- und
Kleinrussentums wurde schon erörtert). Das Kleinrussentum ist nach der
Angliederung der Ukraine — Vertrag von Perejaslawl 1654, Friede von
Andrussow 1667, Reaktion gegen Moskau unter Mazeppa im Bund mit
Schweden und deren Niederlage bei Poltawa 1709, polnische Teilungen,
durch die außer Ostgalizien und Bukowina nun alles kleinrussische Gebiet
zu Moskau gekommen war — zuerst von Peter dem Großen an unter dem
Gesichtspunkt der Zentralisierung des Staats unterdrückt worden: Auf-
hebung des selbständigen Zollgebiets durch Elisabeth, Aufhebung der
Hetmanswürde 1764, Zerstörung der sog. Sitsch, des Mittelpunktes des
Kosakentums am Dnjepr 1775, Einführung der Leibeigenschaft 1783
usw. Dazu tritt später die Unterdrückung auch der sprachlichen und
kirchlichen (unierten) Besonderheit, bis der Ukas vom 30. Mai 1876 allem
die Krone aufsetzte: „I. Die Einfuhr jeder Art der im Auslande heraus-
gegebenen ruthenischen Druckschriften in die Grenzen des Reiches — ohne
spezielle Bewilligung der Oberpreßbehörde — ist untersagt. II. Innerhalb
des Reiches ist der Druck und die Herausgabe von Originalwerken und
Übersetzungen in dieser Sprache zu verbieten, mit Ausnahme a) von histo-
rischen Dokumenten; b) von Werken aus dem Bereiche der schönen Litera-
tur, aber unter der Bedingung, daß bei Veröffentlichung der historischen
Dokumente die Orthographie des Originals, bei belletristischen Werken aus-
schließlich die russische Rechtschreibung angewandt wird, daß ferner die
Bewilligung des Drucks ruthenischer Bücher nicht anders als nur nach
Prüfung der Handschrift von der Oberpreßbehörde erteilt wird. III. Ebenso
sind die Bühnenvorstellungen jeder Art und Vorträge in der ruthenischen
Sprache sowie der Druck ruthenischer Texte in Musiknoten zu verbieten."
Der Gebrauch der kleinrussischen Sprache war danach vollständig verboten,
die Schulen aller Grade waren ausschließlich großrussisch, die kleinrussische
Literatur und ihr Theater waren ausgeschlossen. Die Ukrainer waren,
wie man sagte, eine „nichtstaatliche Nationalität", es gab einfach keine
ukrainische Nation, und ihre Sprache wurde als schlechter Dialekt des
niederen Volkes betrachtet. Infolge dieser Sprachen- und der ihr ent-
sprechenden Schulpolitik zählt der ukrainische Volksteil nirgends unter 50 %
9 S. 19 ff. 25.
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
399
Analphabeten, da das Russische für das ukrainische Kind trotz aller Dialekt-
verwandtschaft als Schülsprache zu schwierig ist. Daher fehlt ihm bis
heute noch eine Intelligenz, seine geistigen Führer müssen zugleich russische
Professoren, Arzte, Redakteure usw. sein. Die Russifizierung ist überall
hart vorgegangen, aber direkt die andere Sprache zu verbieten, soweit ist
sie weder in Polen noch in den Ostseeprovinzen gegangen. Und dabei
handelte es sich hier um eine Sprache und einen Volksstamm, die von allen
heute im russischen Reiche lebenden dem Großrussentum am nächsten stehen.
Diese Unterdrückung in Rußland führte dazu, daß alle Arbeit der
Ukrainer um ihr Volkstum nach Galizien rückte, wo man mehr Freiheit
hatte. Lemberg wurde das Zentrum, wo man die Dichtungen Kotlja-
rewskis und SchewtschenkosH (1814—1861) genießen konnte, wo man die
heimische Geschichtsforschung im Gegensatz zur großrussischen Auffassung
pflegte, wo man sich in der noch heute blühenden „Schewtschenkogesellschaft"
eine Art Akademie der Wissenschaften für das Ukrainertum schuf
und wo man die politischen Gedanken und Ziele ausspann, denen
man erst in Galizien, später vielleicht auch in Rußland Verwirk-
lichung bereiten wollte. Von hier ist auch Europa zuerst wieder auf diesen
Stamm und seine Wünsche aufmerksam gemacht worden. Ohne diese
jahrzehntelange Vorbereitungsarbeit, die ihre Fäden natürlich auch nach
Rußland herüber spann, wäre die Bereitschaft nicht möglich gewesen, in
der man dastand, als die Revolution auch hier den alten Druck löste.
Das Martyrium der langjährigen Unterdrückung hatte freilich auch
den Boden für die freiheitliche Bewegung zur Genüge bereitet, wie schon
unter den älteren Revolutionären oft kleinrussische Namen (die zahl-
reichen auf o endigenden Namen sind immer kleinrussisch) waren. Klein-
russen waren auch zum großen Teil die meuternden Matrosen, kleinrussisch
ein großer Teil der Agrarunruhen auf der schwarzen Erde, von der ja
gut die Hälfte mehr oder minder ukrainisches Gebiet ist.
1) Das sind die beiden wichtigsten Dichter, die kleinrussisch schrieben;
stammlich sind auch so bedeutende, aber großrussisch schreibende Dichter wie
Korolenko und vor allem Gogol Kleinrussen, über Schewtschenko siehe:
Taras Schewtschenko, der größte Dichter der Ukraine. Zur Jahrhundertseicr
seiner Geburt. Her. von W. Kuschnir und A. Popowicz. Wien 1914. (Mit
Gedichtproben). Ferner: Ausgewählte Gedichte von Taras S. Aus dem
Ukrainischen von I. Virginia. Leipzig 1911.
400
XI. Kapitel.
Infolge der allgemeinen freiheitlichen Zugeständnisse sielen die Fesseln
der Sprache. Zwar ist der Ukas von 1876 niemals offiziell aufgehoben
worden, aber die allgemeine Freiheit von Zensur und Polizei kam auch dem
Gebrauch des Kleinrussischen zugute. Eine Kommission der Petersburger
Akademie der Wissenschaften bescheinigte ihm sein Recht (März 1905),
indem sie das Kleinrussische für ein selbständiges Idiom erklärte: „Alles
Gesagte führte die Akademie der Wissenschaften zu der Überzeugung, daß
die kleinrussische Bevölkerung dasselbe Recht, wie die großrussische haben
soll — öffentlich und im Druck ihre Muttersprache zu gebrauchen."
In der Kirche, besonders den geistlichen Seminaren, und Schule wurde
ein eigenes Leben versucht, Volksaufklärungsvereine mit dem Namen
„Proswita" entstanden, ebenso Genossenschaften — in alledem sind
die Semstwos der kleinrussischen Gouvernements, besonders das von
Poltawa, sehr eifrig gewesen —, vor allem regte sich ein politisches Leben.
Parteien, die bisher im Verborgenen gearbeitet hatten, traten hervor:
eine revolutionäre (1900 gegründet, 1905 im Programm sozialdemo-
kratisch geworden), eine radikale, eine demokratische. Die stärksten waren
die „sozialdemokratische Arbeiterpartei" und die „demokratisch-radikale
Partei". Ebenso rasch schoß eine ukrainische Presse aus; eine Übersicht im
Herbst 1905 zählte schon 34 Organe auf. Am wichtigsten waren die
Zeitung „Hromadska Dumka" in Kiew, später unter dem Namen „Rada"
erscheinend, dann die Wochenschrift „Ridnij Kraj" in Poltawa, das sozial-
demokratische Monatsblatt „Vilna Ukraina" und der russisch erscheinende,
sehr gut orientierende „Ukrainski Vjestnik" in St. Petersburg. In der
ersten Duma hat es 63 ukrainische Abgeordnete gegeben, von denen über
40 einen ukrainischen Klub bildeten. Ihr Führer war der Advokat Schräg
aus Tschernigow. Die meisten Abgeordneten hatten entsandt die Gouver-
nements Tschernigow, Poltawa, Charkow, Kiew, Podolien, Wolhynien
(das zur ersten Duma unter 42 Abgeordneten 29 Ukrainer entsandte).
Was wollte man nun politisch?
Die politischen Ziele wurden zuerst dadurch etwas verschleiert, daß die
Ukrainer bei den Wahlen mit den Kadetten, den Juden und den Polen
zusammengingen, und daß sie in den beiden ersten Dumen verschiedenen
Parteien angehörten. An sich aber waren ihre Ziele ganz präzis. Sie waren
es auch bei den Bauern, deren Gemeindeversammlungen die Forderungen:
Autonomie und Land aussprachen. Dabei bedeutete Autonomie: Negation
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
401
des sogenannten geschichtlichen Polens, die z. B. schon im polnischen Aus-
stand von 1863 zur Unterstützung der russischen Regierung durch die
Ukrainer geführt hatte, und volle landschaftliche Selbständigkeit und Selbst-
verwaltung innerhalb eines russischen Föderativstaates. Jetzt trug die Saat
der historisch-politischen Ideen Dragomanows ihre Früchte, nach denen
Rußland als Staat auf einem Vertrage (von 1654) zwischen seiner groß-
russischen und seiner kleinrussischen Hälfte ruhe und die Polen auf dem
Boden Kleinrußlands nichts zu suchen haben, weil sie ihn nur erobert
haben, er aber national den Ukrainern, Kosaken und Bauern gehöre.
Nach dieser Theorie verlangte die Ukraine ihr historisches und nationales
Recht von beiden alten Feinden, das sie freilich alle Zeit nicht imstande
gewesen ist, aus eigener Macht zu gewinnen und zu erhalten. So fand
der Föderalismus, den die Revolution fast bei allen nichtrussischen Natio-
nalitäten im Reich emportrieb, hier seine prinzipiellste und extremste Aus-
gestaltung. Was er im einzelnen anstrebte, sagte am besten das Pro-
gramm, mit dem die Ukrainer noch 1912 in die Dumawahlen herein-
gingen. Da verlangte man: Einführung der ukrainischen Unterrichtssprache
in allen Schulen auf dem Boden der Ukraine; Gleichberechtigung der
ukrainischen Sprache mtt der großrussischen in diesem Gebiet, also das Recht
der Benutzung dieser Sprache vor Gericht, in der Kirche und in der Ver-
waltung; Änderung des herrschenden Finanzsystems, das die Produktion
der Ukraine zugunsten des großrussischen Gebiets ausbeute; Unabhängig-
keit der ukrainischen Kirche und die volle Autonomie der Verwaltung der
Ukraine.
Die Agrarfrage aber gab den Ukrainern Gelegenheit, auch ihre alte
Todfeindschaft gegen die Polen mit allem Nachdruck kund zu tun. So
schlossen sie sich ganz besonders energisch den Agrarforderungen des groß-
russischen Liberalismus und Sozialismus an: der soziale Gegensatz des
Bauern zum Grundbesitzer verschärfte sich hier durch den nationalen des
Ukrainers (der keinen Adel mehr hat) zum Polens und Großrussen. Weil
die Zwangsenteignung den Polen vor allem schädigte, waren die Ukrainer
für sie. Und diese Ansicht ging tief hinein in das Volk, wie die Wahlen
und Reden der Bauerndelegierten bewiesen. Fiel der polnische Großgrund-
y Der polnische Anteil an der Bevölkerung betrug 1897 in Wolhynien
6,2??, Podolien 2,3?? und Kiew 1,9%; vom Privatgroßgrundbesitz soll er
in Wolhynien 45,7??, in Podolien 53?? und in Kiew 41?? betragen.
Hoeßsch, Rußland. 26
402
XI. Kapitel.
besitz, so fiel auch der Traum vom „historischen Polen", der nicht nur
Litauen, sondern auch Kleinrußland, mindestens in seiner rechts des Dnjepr
gelegenen Hälfte, umfaßt. Deshalb sind die ukrainischen Parteien durchaus
demokratisch und durchaus für die Zwangsenteignung gewesen. Es war
derselbe Gegensatz wie in Weißrußland und Litauen und wie in den Ostsee-
provinzen; aus dem Zusammenfallen nationaler und sozialer Interessen
nahm er in allen diesen Gebieten seine unerhörte Schärfe.
Mit dem Bestände des mssischen Reiches war das politische Pro-
gramm dieses Kleinrussentums nicht vereinbar. Das sah nicht nur, wie
selbstverständlich, die Regierung, sondern auch der großrussische Liberalis-
mus, der ganz zentralistisch geworden ist und nur da an die Forderung der
Autonomie Zugeständnisse macht, wo er dazu gezwungen ist: in Polen
und in Finnland. Wenn Peter Struve 1912 schrieb: „Ich bin durchaus
überzeugt, daß neben der russischen Kultur und Sprache die kleinrussische als
lokale Erscheinung, als provinzieller Zweig dasteht. Die Stellung der
letzteren ist eben nur als Ausfluß der russischen Gesamtkultur denkbar
und ein Wandel hierin ist nur im Wege einer Zersetzung des politischen
und sozialen Organismus Rußlands möglich", so sprach er damit die
Ansicht des Liberalismus bis weit nach links hin aus. Dann aber blieb
den Ukrainern nur die Bundesgenossenschaft der Revolutionäre. Deren
wurde der Staat nun sehr bald Herr. So fanden auch die Ukrainer keine
Unterstützung, als das neue Wahlgesetz von 1907 sie des Wahlrechts nahezu
ganz beraubte. Weder die dritte noch die vierte Duma wiesen einen bewußten
Vertreter des ukrainischen Stammes auf; daß unter ihren Abgeordneten
eine ganze Reihe als gebürtige Kleinrussen ausgewiesen wurden, besagte
nichts. Dementsprechend sind auch in und außerhalb der gesetzgeberischen
Arbeit die ukrainischen Interessen nicht nur zu Wort gekommen, sondern
vielmehr zurückgedrängt worden. Das entstandene Vereins- und Preß-
wesen wurde unterdrückt, die geringen Ansätze eines Schulwesens zerstört
usw., und wenn noch 1907 sogar der Shnod für das geistliche Seminar-
für Podolien die ukrainische Vortragssprache bewilligt hatte, wurde das
1912 zurückgenommen und beseitigte der Reichsrat aus dem Schulgesetz-
entwurf die Bestimmung, daß das Ukrainische während der beiden ersten
Jahre als Unterrichtssprache gebraucht werden dürfe. Ebenso nahm die
Einführung der Semstwos im Westgebiet, gerade in den sechs ukrainischen
Gouvernements, auf die Kleinrussen nicht die mindeste Rücksicht, sondern
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
403
war mit gegen sie gerichtet, und auch die von den Ukrainern beklagte Ver-
nachlässigung ihres Gebietes im Reichsbudget wurde nicht geändert.
Die große Bedeutung der Ukraine für die Weltstellung Rußlands ist
ohne weiteres klar: sie ist der Boden des Weizens und der Zuckerrübe,
des Eisens und der Kohle, und über sie geht die Verbindung Moskaus
mit dem Meere im Süden. Ein Separatismus in ihr, als „Mazeppiner-
tum" bezeichnet, wird gefürchtet, ist aber nicht mehr als das Streben
nach Autonomie und dient dem Großrussentum nur als äußerer
Grund zu seiner harten Unterdrückungspolitik. Seine gedankliche Weiter-
bildung zum Programm eines ukrainischen Staates ist durch die
österreichischen Ruthenen erfolgt. Im russischen Ukrainertum hat sie
weder tiefere Wurzeln noch die historischen und Gegenwartsvor-
aussetzungen dazu. Das Kleinrussentum ist zwar eine starke Be-
sonderheit und Eigenart, hat aber zu eigenem staatlichen Leben keine
Kraft und Fähigkeit erwiesen und der Haß gegen das Polentum ist
schließlich in ihm, noch mehr als bei den Litauern, stärker als die Feindschaft
gegen die Großrussen. Damit ist jedoch die ukrainische Bewegung, so wenig
davon vor dem Weltkriege noch zu bemerken war, nicht erledigt. In der
Dumadebatte über diese Frage, die 1912 stattfand, protestierte Miljukow
auch gegen die Verfolgung der Kleinrussen mit dem Hinweis, der die Gefahr
dieser Bewegung andeuten sollte: „Nicht bei uns, sondern in Österreich
wurde ein kulturelles Zentrum geschaffen, welches mit jedem Jahre
größeren Einfluß auf das nationale Leben in unserer Ukraine hat." Deshalb
behaupteten die Eroberungsgelüste auf das ruthenisch-kleinrussische Gebiet
Österreichs, das sog. „Rotrußland", das man als altes russisches Land
ansah und beanspruchte, geradezu eine Mission zu erfüllen. Und so
wurde für die Kriegspartei, die mit Spionage, Geld und kirchlicher Propa-
ganda den Boden in Galizien zur Invasion dort vorbereitet hatte, die
ukrainische Frage eines der Motive zum Weltkrieg. Erst eine neue große
Erschütterung des Staates würde zeigen, ob der Gegensatz von Groß- und
Kleinrussentum mehr ist als der zwischen Nord und Süd oder zwischen
Kolonialland und Mutterland.
4. Mohammedaner und Tataren.
Die Zählung von 1897 wies im russischen Reiche: 13,9 Mill.
Mohammedaner auf; ihre Zahl ist heute auf 18)4 Millionen zu schätzen.
26*
404
XI. Kapitel.
Der weitaus größte Teil davon sind Turkotataren, so daß eine islamische
und eine tatarische Bewegung nahezu zusammenfallen. 1897 gab es 3,7
Mill. Tataren, 0,8 Mill. Tschuwaschen, 1,3 Mill. (turko-sinnische) Basch-
kiren, 4 Mill. Kirgisen, 0,9 Mill. Sorten und 2,6 Mill. Angehöriger
anderer turko-tatarischer Stämme — 13,3 Mill.; die Gesamtzahl dürfte
also heute zwischen 17 und 18 Mill. betragen. Ihre Gebiete sind die
Krim, das östliche Transkaukasien, Transkaspien (Gebiet der Turkmenen),
Ost-Turkestan (Gebiet der Sorten), die Steppengouvernements und Semi-
rjetschje (Gebiet der Kirgisen) und das der Kasanschen oder Wolgatataren
und Westsibiriens. Letztere sind die wichtigsten, weil lebendigsten, sie ge-
hören politisch und literarisch überhaupt zur Elite des Islams. Sie sitzen
vor allem in den Gouvernements Kasan, Simbirsk, Astrachan und jenseits
der Wolga, und sind im ganzen Reiche als unbedingt nüchtern und zu-
verlässig, aber sehr verschlagen bekannt; der tatarische Hausierer und der
tatarische Kellner sind überall in den Städten typische Figuren. Die
Zentren dieses Tatarentums sind Kasan, Ufa, Orenburg. Im ganzen
sind die Turkotataren Rußlands Händler, Bauern und Nomaden. Letztere
müssen vor der russischen Kolonialpolitik und Siedlung immer stärker
zurückweichen, dagegen behaupten sich Händler und Bauern sehr ent-
schieden.
Zu einer Macht in Rußland ist der Islam im Gefolge der mon-
golischen Eroberung geworden; der dritte Herrscher des Reiches der
„Goldenen Horde" hat ihn im 13. Jahrhundert angenommen. 1552
eroberte Iwan IV. Kasan, 1554 Astrachan; von Katharina II. an
kamen dann mit Krim, Kaukasus, Zentralasien das weitere islamische und
turkotatarische Gebiet zum Reiche dazu. Rußland ist nun dem Islam
immer anders entgegengetreten, als den anderen fremden Konfessionen, in
der durch Erfahrung gewonnenen Einsicht, daß ihm weder durch Mission
noch durch Gewalt beizukommen sei. So genoß er sowohl im europäischen
Reichsteile wie später in den zentralasiatischen Kolonien volle Freiheit, auch
in den inneren Angelegenheiten, deren Regelung das Scheriatgesetz vor-
schreibt. Auf diese Weise hat sich der Islam auch in die russische Herrschaft
fügen können. Freilich hatte er auch etwa in Turkestan eine andere Gestalt,
als z. B. in Ägypten und in Nordafrika. Wenn früher vom Fanatismus
der Bevölkerung gesprochen werden konnte, wie in Buchara, 'so ist der
Grund der Haß gegen den Fremden überhaupt und nicht die fanatische
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
405
Anhänglichkeit an die Konfession gewesen. Heute ist weder vom einen noch
vom anderen die Rede. Der Fremde kann sich in Bazar und Moschee
ungestört bewegen; es hindert ihn niemand, sogar an einem Gottesdienste
teilzunehmen. Das ist weniger Toleranz als Gleichgültigkeit. Denn es
ist keine tiefsitzende islamische Religiosität in diesem Lande. Einzelne Teile,
wie die Kirgisen und Turkmenen, sind nur Namens-Jslamanhänger und
beobachten die Gebote des Koran überhaupt nicht. Einem solchen Jn-
differentismus gegenüber hatte es darum Rußland auch leichter; es hat
aus Zentralasien von der Bewegung des Panislamismus nichts zu fürchten.
Die Beteiligung an den Pilgerfahrten nach den heiligen Stätten, die diesen
Zusammenhang fördern könnte, ist nicht groß: die Turkmenen gehen
überhaupt nicht nach Mekka, und die anderen hält von größerer Beteiligung
die Entfernung und der umständliche und, wenigstens wenn man über
Afghanistan und Indien geht, gefährliche Weg zurück.
Ganz anders aber ist dies bei den mohammedanischen Tataren des
Nordens, an der Wolga und in Westsibirien. Hier hat gerade die offizielle
Jslampolitik selbst eine Bewegung wachgerufen. 1788 hat sie in Oren-
bnrg ein Muftiat begründet. Der Mufti von Orenburg ist heute Vor-
sitzender der sog. „Orenburger geistlichen Versammlung", die die oberste
geistliche Behörde für den ganzen russischen Islam ist, heute aber in Ufa
domiziliert. Nur die Mohammedaner der Krim und des Kaukasus haben
eigene Organe, die Krim einen Mufti in Simferopol, der Kaukasus einen
Scheich ül Islam für die Schiiten und einen Mufti für die Sunniten.
Aber der Mittelpunkt aller russischen Muselmänner ist der (vom Zaren
ernannte) Mufti von Orenburg, dem über 7000 mohammedanische Ge-
meinden unterstehen, und wie mit Absicht hat Rußland in dem Arabisch
dieses Orenburger Seminars den verschiedenen Dialekten und Sprachen
seiner Jslamanhänger ein einheitliches Verkehrs- und Bildungsmedium
gegeben.
Dies hat der außerordentliche Bildungstrieb der intelligenten und
energischen kasanschen Tataren auch sehr ausgenutzt. Rußland zählte 1880:
11 Millionen Mohammedaner, ihre ganze Literatur an gedruckten Büchern
betrug 7—8; sie hatten eine Buchdruckerei (1802 in Kasan begründet),
vier Führer und zwölf Leute mit höherer Bildung, davon einen, der in
Westeuropa studiert hatte. 1910 dagegen waren es im ganzen 18 Milli-
onen; sie hatten über 1000 gedruckte Bücher, 14 Druckereien und 16 perio-
406
XL Kapitel.
dische Schriften, in Rußland Höhergebildete 200, in Westeuropa Studierte
20, etwa 100 Literaten, 6 höhere und 5000 niedere Schulen, 37 Wohl-
tätigkeitsanstalten, drei kleine Banken und drei Dorfbanken. Die moham-
medanische Bevölkerung Rußlands hat sich also kulturell sehr entwickelt: bei
den Kasanschen Tataren kommt heute auf 150 Seelen eine Moschee und ein
Mollah, bei den Russen und Fremdstämmigen derselben Gegend erst aus
1500 Seelen ein Priester; bei ersteren eine Schule auf l00 Seelen beiderlei
Geschlechts, bei den Rechtgläubigen auf 1500—3000. Die Buch- und
Zeitungsliteratur ist bei den islamischen Tataren relativ noch viel größer.
Dank ihr wußte man 1905, als alle Fesseln fielen, recht genau, was
man wollte. Gleich im Frühjahr 1905 zeigte sich, daß die politische Be-
wegung auch diese mohammedanischen Tataren ergriffen hatte. Ein all-
russischer Mohammedanerkongreß wurde berufen, dem noch mehrere andere
gefolgt sind, ein „Bund der russischen Mohammedaner" mit einem dem
kadettischen nahestehenden Programm bildete sich, und das Wahlrecht ge-
stattete die Entsendung mohammedanischer Abgeordneter. Die Umge-
staltung des Wahlrechts 1907 beraubte auch die Mohammedaner eines
Teils ihrer Vertretung; die dritte Duma zählte 10, die vierte 6 Mohamme-
daner. Diese mohammedanischen Abgeordneten bildeten eine Art Klub und
beteiligten sich auch an den Arbeiten der Duma, ohne wesentlich hervortreten
zu können. An sich hätte diese Bewegung nicht viel bedeutet, hätte nicht
auch sie der Nationalismus und dann der Panislamismus gefördert. Die
Mohammedaner waren unzweifelhaft loyal und ruhig, bis sie durch die
nationalistische Politik in der Schulfrage und in der Landfrage gestört
wurden; namentlich in der letzteren, der Zurückdrängung der Eingeborenen
in Turkestan und in der Steppe, sahen sie einfach einen Landraub. Außer-
dem klagten sie darüber, daß sie zwar den Russen in der Steuer-
pflicht gleichgestellt sind, aber die Kosten ihrer Kirche durch freiwillige
Beiträge aufbringen müssen. Durch die nationalistische Politik so in
Unruhe gebracht, wurden die mohammedanischen Tataren geneigt, sich der
Bewegung anzuschließen, die als Panislamismus durch die mohamme-
danische Welt geht. An Ort und Stelle ist ihre Kultur der russischen
durchaus überlegen, sie vermag sich sogar christliche und heidnische Fremd-
stämmige zu assimilieren. Durch dieses Übergewicht haben sie sogar den
Panislamismus in die ganz ruhigen Sorten und Kirgisen hereintragen
können. Die Regierung fürchtet auch das Eindringen der tatarischen Islam-
Die nationalen Probleme des Kerngebiets.
407
anhänger und hält sie tunlich vom Lande Turkestan fern. Hier ist auch die
Schulpolitik Rußlands keineswegs nationalistisch. Das geistliche Studiuin
ist gänzlich ungestört. Ebenso hat man an dem vorhandenen Schulwesen
nichts "geändert. Ja, es vollzieht sich sogar auf dem Gebiet der Schule
in Turkestan eine Annäherung der Eroberer ttnd der Einheimischen an ein-
ander, in russisch-einheimischen Schulen, gemischten Schulen für Russen
und Einheimische zugleich, mit russischer Unterrichtssprache, die von den
Einheimischen gern beschickt werden. Von dergleichen ist im Norden, an der
Wolga gar keine Rede, wo der viel agileren und beweglichen tatarischen
Welt keine solche Schulpolitik und keine Überlegenheit des russischen
Elements an Ort und Stelle entgegengestellt werden kann.
Die Ziele der mohammedanischen Tataren hallen sich indes ganz im
Rahmen des Reiches. Sie verlangen Freiheit und Neuordnung ihrer
geistlichen Organisation und ihres Bildungswesens, Einfluß auf die Be-
setzung des Muftiamtes, politische Gleichberechtigung, wie sie sie 1905
erhielten, und eine gerechte Landpolitik, die vor einer brutal nationalistischen
Kolonialpolitik schützt. In alledem wird eine Einheit des Turkotataren-
tums betont, die zwar durch Religion und Rasse vorhanden ist, aber der
Einheitssprache und des Einheitsbewußtseins ebenso entbehrt, wie der
Homogenität der Lebensbedingungen und auch der Geschlossenheit der
Siedlungsgebiete. Ernsthaft in Frage kommt für diese Bewegung nur der
Teil der kasanschen Tataren, die von Orenburg aus die Einheit des
russischen Tatarentums in ihrer Sprache predigen. Weder Sorten noch
Turkmenen sind dafür schon gewonnen, und noch weniger die Kirgisen
oder die Kaukasus- und Krimtataren. Einen festen Rückhalt am russischen
Liberalismus hatte die mohammedanische Bewegung trotz ihres Zu-
sammengehens mit den Kadetten bisher auch nicht. Und ebenso waren
ihre Fäden mit der Türkei und dem Gesamtislam viel zu dünn, als daß
sie im Jahrzehnt zwischen 1904 und 1914 zu einer ernstlichen Gefahr
für das Reich geworden wäre, auch wenn sie das in allen ihren Trägern,
was nicht der Fall war, hätte werden sollen.
XU. Kapitel.
Nationalismus und Panslawismus.
I. Der Nationalismus.
Jede einzelne der nicht großrussischen Nationalitäten mochte, auch
wenn ihre Gedanken weit ins separatistische gingen, die Stellung des Ge-
samtstaates vielleicht nicht gefährden. Aber nahm man sie alle zusammen
und versuchte man die Ideen des Oktobermanifestes wirklich mit
der Tatsache zu verbinden, daß nach einem Worte Wittes „eigentlich
nicht ein russisches Kaisertum (Zarstwo), sondern ein russiches Reich
(Jmperija) existiert, dessen Bevölkerung zu einem Drittel nichtrussischer
Nationalität ist", so ergab sich folgender Gedankengang, der erst die
Regierung, dann aber auch den großrussischen Liberalismus entscheidend
bestimmte.
Die konstitutionelle Bewegung hatte jetzt auch in Rußland den Absolu-
tismus, so fest er hier verankert war, zu Zugeständnissen gezwungen, wenn
sie ihn sich auch nicht ganz zu unterwerfen vermochte. Vielleicht läge darin
eine Stärkung des Staatswesens, da die große Kraft der europäischen
Staaten auf dem Bunde von Freiheit und — nicht nur politischer, sondern
auch nationaler — Einheit beruht? Konnte diese Verbindung nicht auch
auf das Rußland Nikolais II. Anwendung finden? Aber für dieses
wiederholte sich dann die Erfahrung Österreich-Ungarns, daß jedes
wirkliche Zugeständnis an konstitutionelle Gedanken zugleich ein Zu-
geständnis an die nationale Selbständigkeit wurde. Für die nichtmit-
herrschenden Volksteile war das, wie der Verlauf der Revolution zeigte,
dem Großrussentum gegenüber genau so selbstverständlich, wie es für die
slawischen Volksteile Österreichs dem Deutschtum gegenüber selbstver-
ständlich gewesen ist, Dann aber erwies sich die Verbindung von Freiheit
und Einheit als gefährlich, weil die letztere noch nicht ausreichend vor-
handen zu sein schien, und dann drohte die Gewährung der Freiheit die
staatliche Einheit zu sprengen.
Nationalismus und Panslawismus.
409
Dieses Problem haben die Jahre 1905 und 1906 in seiner vollen
Bedeutung herausgestellt, überall, wo die Freiheitsbewegung nicht-
großrussische Reichsteile ergriff, trat sie national sofort mit der Forderung
der Autonomie hervor. Die Gefahr war dabei gerade, daß die politische
Revolution nicht zugleich die nationale sein wollte, nicht die Vereinigung
der Polen Rußlands mit denen Österreichs und Preußens zu einem selb-
ständigen Staate, nicht die Vereinigung der Kleinrussen mit ihren
Stammesbrüdern in Galizien zur Wiederherstellung eines eigenen Staates,
nicht die Vereinigung Finnlands mit Schweden, nicht die Begründung
eines selbständigen Tatarenreiches, nicht die Wiederaufrichtung zu Boden
geworfener kaukasischer Fürstentümer forderte. Alles das waren Utopien,
für die die Kraft des Staates viel zu groß war. Sondern die
nationalen Wünsche gingen überall nur auf ein beschränktes Maß von
Selbständigkeit, das realpolitisch denkbar war und deshalb ernsthaft er-
örtert werden konnte. Ein Maß von nationaler Selbständigkeit, das sich
von selbst zu gewähren schien, wenn die liberalen Errungenschaften in
Sprache, Kirche und Schule ernsthaft gewährt wurden. Aber diese Ge-
währung nationaler Wünsche und jede Erweiterung liberaler Zugeständ-
nisse drohte die Staatseinheit zu gefährden, riß zwar den Staat nicht
gleich auseinander, aber schwächte ihn in seiner Stoßkraft und Einheitlich-
keit nach außen, veränderte ihn jedenfalls innerlich gegenüber dem Staate,
den die Zaren des 18. und 19. Jahrhunderts geschaffen hatten, und machte
die Behauptung seiner Weltstellung schwieriger. Dabei waren die ge-
fährlichsten Gebiete, für die das galt, gerade die westlichen Grenzmarken,
auf deren ungelockertem Zusammenhang mit dem Reich die Stellung
Rußlands in und zu Europa beruhte. Und da besonders konnte die man-
gelnde innere Einheit, deren Fehlen bisher nicht schadete, jetzt, wo sie not-
wendig war, nicht durch die Überlegenheit der Kultur des herrschenden
Volksteiles und Staates hergestellt werden. Man konnte wohl leicht das
Wort Katkows zur Richtschnur nehmen: „Rußland braucht die Einheit
des Staates und ein starkes russisches Volkstum. Schaffen wir ein solches
Volkstum auf der Grundlage einer allen Bewohnern gemeinsamen Sprache,
eines gemeinsamen Glaubens und der slawischen Gemeinde. Alles, was
uns im Wege stehen wird, stürzen wir um!" —, und die äußereren Ge-
waltmaßnahmen dazu waren ja rasch getroffen. Aber überwand man so
die polnische, die deutsche, die finnische, die armenische, die georgische, ja
410
XII. Kapitel.
nur die kleinrussische oder tatarische geistige Kultur, die zu russifizieren ver-
gebliches Bemühen ist? Schuf man sich damit die sichere Basis für das
Reich der großen russisch-slawischen Weltidee, von der, in phantastisch-
mystischer Übertreibung, so verschiedenartige Geister wie Dostojewski oder
Wladimir Solowjew sprachen?
Stolhpin antwortete auf diese zweifelnden Fragen mit dem Nationalis-
mus, d. h. dem entschiedenen Willen, das (groß)-russische Wesen im Reiche
überall in Sprache und Kultur zum herrschenden zu machen, auch mit
Gewalt und rücksichtsloser Unterdrückung der anderen Nationalitäten, die
man dadurch zur Assimilierung zwingen zu können glaubte, wenn man
ihnen mit roher Gewalt bewies, daß sie die Schwächeren seien. Durch den
Staatsstreich von 1907 schuf sich die Regierung dazu eine Duma, in der der
Einfluß der nichtgroßrussischen Nationalitäten so gut wie ausgeschaltet war.
Noch war sie nicht von vornherein nationalistisch. Die Kadetten und was
links von ihnen stand, hielten daran fest, daß die Freiheiten auch den unter-
drückten Nationalitäten zugute kommen müßten, die Oktobristen suchten
nach einem Kompromiß zwischen Freiheit und Einheit. Das ist den
Oktobristen nicht gelungen. Aber auch die Haltung des reinen Liberalismus
änderte sich. In der demokratischen Mehrheit einer Volksvertretung liegt
stets ein unitarischer, nivellierender Zug; er machte sich auch in dieser
demokratischen Duma geltend. Gerade aber die Führer des bürgerlichen
Liberalismus hatten zugleich ein tiefes Empfinden für die Machtinteresscn
ihres Staates. Das zeigte sich in ihrer Haltung zu den Wehrfragen, das
zeigte sich besonders auch in den Debatten über die auswärtige Politik, die
sich auf einer Höhe bewegten, wie in wenigen Parlamenten. Wurden diese
Liberalen immermehr liberale Imperialisten nach außen, so wurden sie —
bewußt und unbewußt — Zentralisten im Innern. Bewußt hat das z. B.
Struve, der frühere Marxist), getan, aber auch Miljukow hat im Februar
1914 bei der Schewtschenko-Debatte in der Duma gesagt: „Ich teile die Be-
strebungen der Autonomisten durchaus nicht und würde die Verwirklichung
ihres politischen Programms für Rußland gefährlich und schädlich halten".
Der Kampf gegen den Regierungsnationalismus und den des Reichsrats,
z. B. in der Schul- und Glaubensfrage, in der polnischen, deutschen, fin-
nischen Angelegenheit u. a. ist daher auch vom Liberalismus (mit wenigen
9 S. oben S. 94.
Nationalismus und Panslawismus.
411
Ausnahmen) nicht mit Leidenschaft geführt worden. Die Differenzen er-
schienen niehr wie Meinungsverschiedenheiten über die Art der Behandlung,
aber nicht über das Problem selbst. Im Konflikt zwischen Freiheit und
(großrussischer) Reichseinheit entschied sich auch der Liberalismus für die
letztere, und die Idee, beides durch eine föderative Gestaltung des Reichs
zu versöhnen, lehnt er absolut ab. Bei der Rechten brachte das keine gedank-
lichen Schwierigkeiten, weil sie so wie so entweder reaktionär ist oder brutal
die Verfassung nur für das Großrussentum wünscht. Die äußerste Linke
scheut vor der Forderung der Lockerung des Reichsgefüges um der Freiheit
willen nicht zurück. Oktobristen und Liberale aber haben die Frage nicht
gelöst, wie „ein russischer Nationalismus nicht eine der russischen Nationa-
litäten bedrohen^)" soll, wie „Rußland als ein eine Völkerfamilie um-
fassendes Kaiserreich Freiheit der Sprachen im Reich gewähren" solll).
So war ihr Widerspruch selbst gegen den sog. „zoologischen Nationalismus"
schwach, weil sie schließlich auf diesem Wege der alten Slawophilie doch
auch sehr nahe kamen, nur daß diese bei ihnen Zentralismus heißt.
Das Jahr 1905 hatte mit den Autonomieprogrammen der nicht-
staatlichen Nationalitäten gezeigt, welche Gefahr in deren Ansprüchen an
den Staat für die Reichseinheit liegen konnte. Stolypin trat ihr im
Bewußtsein der Verantwortlichkeit des leitenden Staatsmanns entschlossen
entgegen. Die Gesellschaft folgte ihm, teils unbedingt zustimmend, teils
widerwillig und zögernd. Die Massen in Stadt und Land wurden nicht
gefragt und standen dem nationalistischen Haß wie der imperialistischen
Leidenschaft in gleicher Stumpfheit fern. Objektiv war der Kampf der nicht-
russischen Nationalitäten ebenso zu verstehen, wie die psychologische Be-
gründung des Nationalismus, der auch sein historisches und nationales
Recht betonte. Die nichtgroßrussischen Nationalitäten zählen wohl über die
Hälfte der Untertanen des Zaren, aber sie wohnen zerstreut, bilden keine
geschlossene Einheit, stehen innerlich verschieden zum Gesamtstaat und
sind durch nationale und kirchliche, sprachliche und kulturelle Unterschiede
so sehr voneinander getrennt, daß das Problem durch das „teile und
herrsche", wenn nicht zu lösen, doch seiner gefährlichen Spitze beraubt
werden konnte. Und Natur und Boden üben wenigstens für einen sehr
*) Formel A. Pogodius,
2) Wl. Solowjew.
412
XII. Kapitel.
großen Teil der Fremdvölker einen vereinheitlichenden Einfluß auf das
Zentrum hin aus, der schon in der Vergangenheit nicht gering, durch die
Mittel des modernen Staates und der modernen Wirtschaft noch stärker
wurde. Das Großrussentum hat auch eine Fähigkeit zur Staatenbildung
bewiesen, wie keiner der von ihnen unterworfenen fremden Teile. Aber es
sorgte, ob diese bei der Weichheit des eigenen Nationalcharakters und unter
den neuen Verhältnissen der Verfassung und politischen Freiheit ausreichen
würde, das Reich zu erhalten und innerlich fortzubilden. Es hatte eben
auch seinen Fremdvölkern gegenüber das Gefühl der Unsicherheit, ja Unter-
legenheit und inneren Schwäche. Deshalb ließ es sich in so weiten Kreisen
vom Gewaltprogramm des Nationalismus so ergreifen, wie es seit 1911
von Jahr zu Jahr stärker geschah.
Ohne die weltpolitische Spannung dieser Jahre wäre indes dieses
Gefühl kaum so mächtig geworden, das sich im Innern immer mehr gegen
die Deutschen, die Bringer der europäischen Bildung oder, anders aus-
gedrückt, die Schulmeister, richtete, und nach außen nach dem Balkan, nach
Konstantinopel. Und damit kamen auch die Liberalen dem alten Pan-
slawismus, so wenig sie ursprünglich mit ihm gemeinsames hatten,
sehr nahe.
II. Der Panflawismus.
Realpolitisch mochte zunächst dem Liberalismus das Programm
Danilewskis alles nötige sagen1): „Während der Gegendruck der
slawischen Welt auf der Westgrenze Rußlands einen fast befriedigenden
Ausgang unter der Regierung der Katharina hatte, indem zu Rußland sein
alter Besitz mit einziger Ausnahme des galizischen Gebietes zurückkehrte,
das bisher Opfer der Polonisierung und Germanisierung geblieben ist,
sind die Erfolge der russischen Waffen und Politik bei weitem nicht so
entscheidend im Kriege mit der Türkei gewesen, obwohl Rußland mit ihr
fünf siegreiche Kriege führte." Von hier ist aber der Schritt zur gefühls-
mäßigen Begründung dieses Strebens und von da zum Panslawismus
nicht mehr weit. Danilewski zitiert schon diese VerseJ: „Und die alteri * S.
*) Rußland und Europa S. 349.
S. 398.
Nationalismus und Panslawismus.
413
Gewölbe der Sophia im wiederhergestellten Byzanz beschatten erneut
Christi Altar. Falle nieder vor ihm, o Zar von Rußland, und stehe auf
als Allslawischer Zar." Wladimir Solowjew faßte das noch tiefer
mit seinen Versen an die heilige Sophie (Hagia Sophia, Heilige
und ihre Kirche in Konstantinopel): „In Dir hab' alles ich gesehen und
alles verging in Dir, dem Bilde ewiger Schönheit, Dein Maß begreift das
Ungemessenste, in mir und vor mir lebt nur eines, Du." Damit war man
mitten in der mystisch-religiösen Umkleidung, mit der das Streben nach
Konstantinopel als „Zentralidee der russischen Religiösität" erscheint: in
ihrer Verwirklichung erfüllt Rußland seine Mission und opfert es sich der
Menschheit. Leidenschaftlich und hinreißend hat Dostojewski diese Opferidee
ausgeführt, die den tieferen Sinn der politischen Expansion nach dem Balkan
wiedergeben soll. Diese seine Gedanken üben auf die Kreise der Intelligenz
heute wie während des Krieges von 1877/78 eine Wirkung aus, die aber
nicht überschätzt werden darf. Wirkungsvoller ist ihre Weiterführung, weil
sie grobkörniger ist, auf die Gemeinsamkeit mit den slawischen Brüdern,
die so gleich von einem religiös-poetischen Nimbus umstrahlt ist. 1876
schrieb derselbe Dostojewski: „Ganz von selbst spezifizierte sich nach Peter
der erste Schritt unserer neuen Poliük: dieser erste Schritt lag in dem
Plane, das ganze Slawentum unter den Flügeln Rußlands zu vereinigen.
Und diese Vereinigung nicht etwa zur Aneignung fremden Besitzes, nicht
zur Vergewaltigung, nicht zur Vernichtung der einzelnen slawischen
Völkerpersönlichkeiten durch den russischen Koloß, sondern um sie zu er-
neuen und in das ihnen zustehende Verhältnis zu Europa und zur Mensch-
heit zu bringen, ihnen endlich die Möglichkeit zu geben, friedlich leben zu
können und sich nach ihren unzählige Jahrhunderte langen Leiden zu
erholen, um sich im gemeinsamen Geiste zu sammeln und, nachdem
man seine neue Kraft gefühlt, auch sein Scherflein in die Schatzkammer des
menschlichen Geistes zu bringen, auch sein Wort in der Kultur zu sagen.
Oh, natürlich, man kann ja über diese meine „Illusionen" über die
russische Prädestination lachen, soviel man Lust hat, doch bitte ich
wenigstens eines sagen zu dürfen: wünschen etwa nicht alle Russen die
Befreiung und Erhebung der Slawen gerade auf dieser Basis, gerade für
ihre volle persönliche Freiheit und die Auferstehung ihres Geistes, und
durchaus nicht, um sie für Rußland politisch zu gewinnen und durch sie
Rußland politisch zu verstärken, wie cs einstweilen Europa argwöhnt?
414
XII. Kapitel.
Das ist doch so, nicht wahr? Dann aber sind doch meine „Illusionen"
schon teilweise gerechtfertigt. Versteht sich, daß zu diesem selben Zweck
Konstantinopel früher oder später doch unser sein muß'").
Mit diesen Zitaten ist der Gedankeninhalt des Panslawismus schon
zusammengetragen.
Der Allslawismus ist das älteste der heute geläufigen, aus
„All-" und einem Rasse- oder Konfessionsnamen zusammengesetzten
politischen Schlagworte. Denn die Vorstellung ist falsch, daß er eine
nationalistische Strömung sei, die erst durch den Pangermanismus und
an seiner Abwehr entstanden sei — gab es doch einen Panslawismus
schon vor 1866. In ihm ist ein Empfinden und ein Wollen ausgesprochen
— das Empfinden, daß die Glieder des slawischen Volkstums über die
gegenwärtigen Staatsgrenzen hinaus in einer höheren Einheit zusammen-
gehören, und das Wollen, diese Zusammengehörigkeit in irgendeiner Form
zu realem Ausdruck zu bringen, zum mindesten sie durch Pflege der ge-
meinsamen Sprache, Literatur, Tradition, Geschichte und in gegenseitiger
Sympathie lebendig und wirksam zu betätigen. Die Idee des Panslawis-
mus ist so bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden
und gedanklich ausgearbeitet worden. Ja, wenn man will, kann man sie
noch weiter, bis auf Peter den Großen, zurückführen, oder gar bereits den
ältesten Chronisten, den sogenannten Nestor, als Panslawisten ansprechen* 2),
weil seine Idee die Einheit des Slawentums sei. Aus der Zeit Peters des
Großen lassen sich schon direkt panslawistische Stimmen anführen, wie die
des Russen Iwan Possoschkow oder des Serben Juri Krischanitsch. Und
eines der wichtigsten Momente im Panslawismus ist schon vor Peters
Zeit erkannt und betont worden: die sprachliche und konfessionelle Verwandt-
schaft des moskauischen Rußlands mit den Völkern der Balkanhalbinsel.
Die Moskauer Großfürsten haben allerdings mit diesen nationalen und
konfessionellen Sympathien nicht als mit einem politischen Faktor gerechnet.
Das hat erst Peter, bewußt und absichtlich, getan, als er 1711 den Krieg
gegen die Pforte begann, in dem die stammverwandten slawischen und die
griechisch-orthodoxen nichtslawischen Völkerstämme der Halbinsel seine
Bundesgenossen gegen den Sultan sein sollten. Freilich schlug der Feldzug
y Politische Schriften (Sämtl. Werke XIII, München 1907). S. 194 f.
2) Wie dies der Historiker W. Kljutschewski tut.
Nationalismus und Panslawismus.
415
mit der bekannten Niederlage am Pruth völlig fehl, aber sein Gedanke
hat die orientalische Politik seiner Nachfolger in dieser Richtung entscheidend
festgelegt.
Wenn Peter der Große so in gewissem Sinne als Vater des Pan-
slawismus erscheint, so ist dieser jedoch als die Geister beherrschende Idee
von den Slawophilen gerade im Gegensatz zu Peter und den Tendenzen
seines Lebenswerks ausgebildet worden. Ein Slawophile brauchte an sich
nicht Panslawist zu sein, aber im entschiedenen Panslawisten steckte und
steckt immer eine gute Dosis Slawophilie.
Die Slawophilie ist eine russische Anschauungsweise, und unter
russisch ist dabei stets und ausschließlich verstanden: großrussisch — der
Teil des russischen Volkes, der die Moskauer und die, Petrinische Staats-
bildung zustandegebracht hat. Von da kommen die Ultras dieser Richtung
leicht dazu, die slawische Idee nur im Großrussen verkörpert zu sehen.
Logisch folgte aus diesem Slawophilismus ferner für die innere Politik
die Russifikation gegenüber denen, die diesem Typus eben nicht angehörten:
Polen, Ukrainer, Deutsche, Finnen — ganz gleichgültig, ob diese eine
eigene Kultur hatten, die für ihr Recht alle Argumente der Sla-
wophilen ebensogut in Anspruch nehmen konnte. Für die Glieder der
anderen slawischen Stämme kann aber diese Anschauung, die man besser
russophil als slawophil nennt, nur das Wort Puschkins haben, daß „die
slawischen Bäche alle bestimmt seien, ins russische Meer einzusließen".
In dieser Konsequenz ist ein Panslawismus nichts Reales, da die anderen
slawischen Stämme nicht daran denken, im russischen Wesen und Staate
aufzugehen.
Dagegen ist bei ihnen, seitdem sie begannen, national bewußter zu
werden, das Gefühl der Rassen- und teilweise Konfessionsgemeinschaft mit
Rußland immer mehr betont und das Bedürfnis immer größer geworden,
sich an diesen Staat, der das Kernwerk der Weltstellung des Slawen-
tums überhaupt ist, fester anzulehnen, bei ihm engeren Anschluß
zu finden. Nicht oder wenigstens bis in die neueste Zeit herein nicht bei
den Polen, aus Gründen, die auf der Hand lagen. Dagegen erblickten die
Balkanslawen in den Nöten ihrer Befreiungs- und Machtkämpfe in Ruß-
land ihren Hort, und die Donauslawen in demselben Rußland den
Rückhalt für ihr Streben, die Donaumonarchie in eine slawisch be-
herrschte Föderation aufzulösen. Der tschechisch-slowakische Poet Johann
416
XU. Kapitel.
Kollar, der Kroate Ludwig Gaj, die Tschechen Wenzel Hanka und Franz
Palacky haben diesen Panslawismus gedacht. Kollar nimmt „die litera-
rische Wechselseitigkeit zwischen bert Stämmen und Mundarten der sla-
wischen Nation"*) noch rein geistig und lehnt politische Folgerungen
ab. Er spricht, angeregt durch Herdersche Äußerungen, von der Mission
und Vermittlungsausgabe zwischen alter und neuer Welt; die Mittel dazu,
die er nennt, sind nur geistig-literarischer Art. „Was werden wir Slawen
über 100 Jahre sein? Was wird dann Europa sein? Uber 100 Jahre
wird sich das slawische Leben wie eine Sintflut über die ganze Welt er-
gießen." Dies Evangelium der slawischen Kultureinheit und Kultur-
zukunft münzt der tschechische Historiker Franz Palacky dann politisch um.
Durch seine Bemühungen vornehmlich ist der erste allslawische Kongreß
am 31. Mai 1848 in Prag zustandegekommen. Und Palacky zog im
Mai 1867 zum zweiten dieser Kongresse nach Moskau. So schnell hatte
diese panslawistische Idee um sich gegriffen, daß sie schon zu Zusammen-
künften der verschiedenen Zweige des Slawentums führte, auf denen man
freilich auf eine unüberwindliche Schwierigkeit stieß: man verstand sich
gegenseitig nicht; bis heute gibt es — das Haupthindernis jedes Pan-
slawismus — keine slawische Gemeinsprache.
Während der Gedanke allslawischer Gemeinsamkeit in Ostrereich
durch die Agitation seiner slawischen Stämme weiter gepflegt wurde, kam
ihm aus Rußland die slawophile Anschauung und Stimmung lebhaft
entgegen. Rußland als Protektor aller Slawen und Kern einer wie auch
gedachten Zusammenfassung des Slawentums, die ihre Mittelpunkte in der
Hagia Sophia zu Konstantinopel und auf dem heiligen Berge (Athos)
sieht — das erschien als das glänzende Ziel. So ist cs aus jenem Kongreß
in Moskau von den Deputierten der slawischen Stämme gefeiert worden
— nur die Polen waren ferngeblieben. Das reale Programm aber
dafür hieß: die allslawische Föderation unter Rußlands Führung und
mit einem russischen Konstantinopel als Mittelpunkt. Wieder gab hierfür
Danilewskis Buch die Formel, die wegen ihrer großen Bedeutung für die
russische Ansicht der Orientfrage auch im Wortlaut mitgeteilt werden
muß* 2): „Nach den ethnographischen Bedingungen müssen die Slawen tat-
0 So der Titel seiner wichtigsten Schrift. 2. Stuft. Leipzig 1844.
2) S. 395.
Nationalismus und Panslawismus.
417
sächlich eine Föderation schaffen. Aber diese Föderation muß alle Länder
und Völker umfassen vom Adriatischen Meere bis zum Stillen Ozean, vom
Eismeer bis zum Archipel. Gemäß diesen Bedingungen und auch
übereinstimmend mit den Tatsachen der Geschichte und mit der politischen
Lage in der unmittelbaren Nachbarschaft der mächtigen und feindlichen
romano-germanischen Welt, muß diese Föderation die allerengste sein, unter
Führung und Hegemonie des ungeteilten und all-einigen russischen
Reiches." Konstantinopel soll nicht Hauptstadt Rußlands werden,
sondern Hauptstadt des ganzen allslawischen Bundes. Diesen bilden*): das
russische Reich mit ganz Galizien und der „ugorschen Rus", das Königtum
der Tschechen, Mähren und Slowaken mit Nordungarn, das Königtum der
Serben, Kroaten, Slowenen (Serbien, Montenegro, Bosnien, Herzego-
wina, Altserbien, Nordalbanien, der Banat, Kroatien, Slowenien, Dal-
matien, die Militärgrenze, Krain, Görz, Gradisca, Istrien, Triest, zwei
Drittel von Kärnten, ein Fünftel von Steiermark), Bulgarien
mit dem größten Teil Rumeliens und Mazedoniens, Rumänien mit
einem Teil der Bukowina und Halb-Siebenbürgen bis zur Marosch und
Westbessarabien (Rußland erhält Südbessarabien mit dem Donaudelta und
der Dobrudscha), Griechenland mit Thessalien, Epirus, Südwestmazedonien,
allen Inseln, Rhodos, Kreta, Cypern und der kleinasiatischen Küste,
Ungarn und Konstantinopel. In diesen Bund müßten auch die Polen, die
skeptisch und mit den Magyaren als feindlich betrachtet werden, eintreten,
da er ihnen die einzige Möglichkeit der Selbständigkeit biete.
So gab dieses Buch das Evangelium des politischen Panslawismus,
dem, wie man sieht, auch die wildeste Agitation der Gegenwart nichts
neues zuzusetzen brauchte, und so wurde unter Alexander II. seine Theorie
popularisiert. Aus dem Hexenkessel der orientalischen Frage konnte
wohl etwas für sie herauskommen: nahe genug ist in San Stefano die
russische Orientpolitik dem von Peter dem Großen vorgezeichneten Ziele
gekommen. Praktisch aber wurden diese Ideen von der slawophil-pansla-
Wistisch gestimmten russischen Gesellschaft in der heute noch bestehenden
„Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaft" gefördert.
In Moskau war diese 1858 in einem Kreise von Slawophilen, an
deren Spitze M. Pogodin stand, gegründet worden; sie sollte aus freiwillig
i) S. 423.
Hoetzsch, Rußland.
27
418
XII. Kapitel.
aufgebrachten Mitteln „den rechtgläubigen und anderen Slawen Wohl-
tätigkeit" erweisen. Zuerst wirkte dieses Moskauer Komitee unter den
Bulgaren, dann griff es zu den übrigen Süd- und Westslawen über. 1867,
am zweiten allslawifchen Kongresse, belebte sich seine Arbeit neu; eine
Petersburger Abteilung trat dazu. Die Arbeit war unpolitisch, kultur-
fördernd in der Unterstützung von Kirche, Schule, Verbreitung von
Büchern, die das gemein-slawische Gefühl wachhalten sollten. An den
Kämpfen auf der Balkanhalbinsel in den 70er Jahren hat sie sich mit
Sammlungen und unmittelbarer Unterstützung lebhaft beteiligt. Seitdem
hat sich die Gesellschaft besonders der jungen Slawen, die sich in Rußland
höhere Bildung holen wollten, angenommen und die geistigen und litera-
rischen Bande Rußlands mit allen Slawen immer enger zu ziehen gestrebt.
Alle das Slawentum berührenden Angelegenheiten finden in dieser „Wohl-
tätigkeitsgesellschaft" lauten Widerhall, und sie wirkt mit ihren Unter-
abteilungen im Lande als Kirchen-, Schul- und Erziehungshilfsverein
mit der bewußten Absicht, in den Unterstützten und durch die Unter-
stützungen das Gefühl der Gemeinsamkeit der Balkanslawen mit Rußland
wachzuerhalten.
Nachdem unter Alexander III., im Jahrzehnt zwischen 1880 und
1890, die panslawistischen Tendenzen lebendig weiter gewirkt hatten, tritt
schon während seiner Regierungszeit die Wendung ein, die unter Nikolai II.
vollzogen wurde: vom nahen Orient über das mittlere Asien nach dem
fernen Osten. In diesen politischen Kombinationen war für den Pan-
slawismus keine Stelle. Slawophile Gedanken dienten Wohl auch, wie aus
Uchtomski zu erkennen isll), zur Fundierung des russischen Imperialis-
mus wirkungsvoll mit, aber mit einem Panslawismus alter Observanz
war nichts anzufangen, wenn man sich mit der vollen Front nach Sibirien
und dem Stillen Ozean wandte und die Balkanslawen und vollends die
Donauslawen sich selbst überließ.
Diese ostasiatische Politik schlug fehl. Seitdem hat man sich wie
unter einem Schicksalszwange wieder dem nahen Orient zugekehrt, und
von selbst ist die Stimmung der 70er Jahre wiedergekommen. Aber es
war ein im Innern anders werdendes Rußland, in dem der Pansla-
wismus wieder lebendig wurde, und dieser sogenannte Neopanslawismus
*) S. oben S. 286.
Nationalismus und Panslawismus.
419
war sachlich etwas anderes als der Panslawismus der 60er und 70er
Jahre. Jener alte Panslawismus war ausgesprochen großrussisch, d. h.
vor allem polenfeindlich und zarisch-absolutistisch gewesen, mit den drei
Schlagworten von der Selbstherrschaft, der Rechtgläubigkeit und der (aus-
schließend und unterwerfend russischen) Nationalität. Diese Anschauungen
leben heute in der Rechten der Duma, in einflußreichen Zeitungen, in
Kreisen der Geistlichkeit und Aristokratie noch fort, aber sie stellen den
heutigen Panslawismus nicht mehr dar. Die modernen Slawophilen —
und deren Kreise beginnen bei den Rechten und gehen in die Oktobristen
und Kadetten hinein und weiter, ohne diese Parteien ganz zu umfassen
— sahen zunächst nicht im „Panrussismus" die praktische Folgerung des
allslawischen Gemeingefühls, sondern in der Entfaltung der Eigenart aller
nicht zum Großrussentum gehörigen slawischen Stämme. Wenn diese
Kreise dann das Zauberwort der „Autonomie" und den älteren Ge-
danken einer Föderation der Slawenstämme inner- und außerhalb des
russischen Staates, aber unter dessen politischem Schutz aussprachen —
dann war den anderen slawischen, aber nicht großrussischen Elementen
im Reiche auch der Anschluß ermöglicht und waren jene kleineren Volks-
teile davor geschützt, „im russischen Meer ertrinken" zu müssen. Davon
hatten begreiflicherweise gerade die Bestandteile der slawischen Rasse nichts
wissen wollen, die sich kulturell und Politisch selbständiger entwickelt hatten.
Vor allem hatte bisher immer ein für die Verbindung zwischen Ostslawen-
tum und den anderen Teilen unumgänglich notwendiger Stamm den
panslawistischen Gedanken ablehnend gegenüber gestanden, die Polen, denen
der Haß gegen Rußland als den Urheber der Teilungen viel näher lag, als
die Gemeinschaft mit dem Slawentum, von dessen großer Mehrheit sie
schon durch ihr Bekenntnis zur römischen Kirche und ihre westeuropäische
Kultur getrennt sind.
Der Anstoß zu der neuen Fassung, für die bald das Schlagwort
„Neopanslawismus" geprägt wurde, liegt kurz vor der russischen Revolu-
tion, als den Dmowskischen Ideen im Polentum die neue Strömung im
russischen Liberalismus entgegen kantt). Dieser glaubte sich, wenn die
Selbständigkeitshoffnungen der Polen und damit die politische Gefahr der
polnischen Frage für Rußland schwanden, dem Polentum nähern zu
*) S. oben S. 346.
420
XII. Kapitel.
können, weil er sich mit ihm in dem gemeinsamen Kampf gegen den Ab-
solutismus verbunden fühlte. Dann aber erweiterte sich die Basis des
Panslawismus außerordentlich.
Dem Anschlüsse der Polen vor allem war der neue panslawische
Kongreß gewidmet, der vom 12. bis 18. Juli 1908 abermals in Prag
stattfand. Und „vorbehaltlos", so erklärte hier Dmowski, schlössen sich
nun, da die Entwicklung Rußlands ihnen Freiheit und Autonomie
in Aussicht stelle, die Polen der gesamtslawischen Sache an. Dadurch
wurde deren Front anscheinend gewaltig verstärkt und geschlossen. Freilich,
als diese Tagung im Mai 1909 in Petersburg wiederholt wurde,
zeigte sich in den praktischen Bestrebungen auch nicht der mindeste Fort-
schritt. Es erwies sich ferner, daß der Riß zwischen Russen und Polen als
Ergebnis eines jahrhundertelangen Kampfes nicht durch Kongreß-
erklärungen geheilt worden war, und das kühlte die neupanslawistischen
Ideen in den folgenden Jahren rasch wieder ab. Die Kluft zwischen
Russentum und Polentum erweiterte sich vielmehr wieder, je mehr infolge
der nationalistischen Politik die Hoffnungen auf eine freiheitlichere Ge-
staltung der polnischen Verhältnisse trogen. Als die Siege der Balkanslawen
im Winter 1912/13 das panslawistische Gefühl wieder mächtig anschwellen
ließen, wirkte das auch bei den russischen Polen, aber — trotz aller
Dmowskischen Bemühungen — nicht im rußlandfreundlichen Sinne.
Die schöne Zeit von 1905 und 1906 war vorbei, die polnische Sozial-
demokratie des Zartums hielt sogar die Zeit zu einem Aufstand gegen den
russischen Bedrücker bereits für gekommen, — damit blieb für den Pan-
slawismus die alte Lücke, die ihn als realpolitisches Programm unmöglich
machte.
Er machte allerdings in dieser Krisis viel Lärm und drohte wochen-
lang, die Situtation zu wiederholen, die Rußland genau mit denselben
Motiven 1877 in den Krieg gezwungen hatte. Aber die Träger dieser Be-
wegung waren, auch wenn sie auf den Straßen der Hauptstadt Tausende
in Bewegung setzten und über eine einflußreiche Presse, — darunter die
Nowoje Wremja — verfügten, sehr kleine Kreise: die Zirkel der „Slawischen
Wohltätigkeitsgesellschaft", die „Gesellschaft der slawischen Gegenseitigkeit",
u. dgl. m. Das Volk, d. h. das Bauerntum und der Mittelstand und ein
großer Teil des Großgrundbesitzes, interessierte sich für diese Dinge überhaupt
nicht. Die Manifestationen spielten sich immer und immer wieder vor den-
Nationalismus und Panslawismus.
421
selben Kreisen in Petersburg ab; man hörte nicht, daß sie Widerhall in der
Provinz, in den erwerbstätigen Klassen fanden. Dazu kam, daß der immer
mächtiger werdende Nationalismus, der sich auf die Idee des National-
staates stützte, diesem Neopanslawismus, der von der Idee der Rassen-
gemeinschaft ausging und von den Staatsgrenzen abstrahieren wollte, direkt
widersprach, wenn auch beides oft genug, besonders in der oktobristischen
Partei, deren Führer Gutschkow sich mit großer Begeisterung in diese Be-
wegung gestürzt hatte, zusammengeworfen wurde.
Konsequent durchgedacht war der Neopanflawismus auch nur
möglich, wenn der russische Staat sein gegenwärtiges Wesen aufgab. Ein
Panslawismus der älteren Fassung, der die anderen Slawen an Groß-
russentum und orthodoxe Kirche heranzog, konnte als Stärkung des
russischen Staates gelten. Aber ein demokratischer Neopanslawismus, wie
er von dieser polnischen Schule, von den tschechischen und südslawischen
Führern und auch manchen Russen verfochten wurde, risse den russischen
Staat in Stücke. Denn er ging von dem Gedanken der Gleichberechtigung
aller slawischen Nationalitäten aus, die innerhalb des russischen Staates
praktisch nur durchgesetzt werden und die sich staatsorganisatorisch nur ver-
wirklichen konnte in einem lockeren Staatenbunde oder Bundesstaate
selbständiger lokaler Autonomien unter Auflösung des Gesamtstaates. Des-
halb hat sich die amtliche Politik Rußlands zwar des Neopanslawismus
bedient, wo er ihr nützte, aber gefördert hat sie ihn nicht nur nicht, sondern
sie hat sich sogar an die Konsequenzen in der inneren Politik immer weniger
gekehrt, je mehr sie sich wieder festigte.
So war auch der Neopanflawismus wohl ein mächtiges Gefühl, das
elementar hervorbrechen und im bestimmten Moment zu bestimmter
Stellungnahme zwingen, für andere Staaten gefährliche Situationen
schaffen konnte. Aber in ihm einte das negative — die Stimmung gegen
den angeblichen „Drang des Germanentums nach dem Osten" — stärker
als das positive Gefühl der allslawischen Gemeinsamkeit. Denn dieses stößt
sich zu hart an der Realität poliüscher Dinge, oder es geht ins Leere, weil
der politische Raum dafür zu groß ist. Die Probe auf den Panslawismus
als politisches Schlagwort brachte der Weltkrieg.
Schluß.
Das Jahrzehnt russischer Geschichte von 1904—1914 hat die innere
Kraft des alten russischen Staatswesens noch als sehr stark erwiesen. Es ist
von der Revolution zu einem Regenerationsprozeß gezwungen worden,
dessen gewaltige Bedeutung schon die Anfänge der letzten Jahre erkennen
ließen. In ihm wurden die Kräfte der Gesellschaft zur Lösung der großen
Aufgaben, mit denen die bis dahin allein maßgebenden geschichtlichen
Mächte des Staates und der Kirche nicht mehr fertig wurden, heran-
gerufen, ohne daß darum die letzteren daran dachten, abzudanken. Noch war
eine Stabilität der Verhältnisse von Staat und Gesellschaft und Wirtschaft
nicht gewonnen und noch blieb das geistige Leben zwiespältig. Mit jähem
Ruck hat der Weltkrieg, den dieser Staat im Bunde mit seinen Genossen
entfesselte, diese Übergangszeit, die eine lange Zeit äußereren Friedens
erfordert hätte, unterbrochen. Die Schuld derer, die ihren Staat in diesen
Krieg rissen, wird es sein, wenn er schwere Erschütterungen mit sich bringt.
In jedem Falle zieht er Rußland von seinen Aufgaben ab, die in seinem
Inneren und nach Osten liegen. Es ist der gegebene Vermittler und Wall
zwischen der europäischen und der asiatischen Welt, die es geographisch ver-
bindet und trennt und zwischen denen es — Europa näher als Asien —
steht. Für diese historische Mission aber wäre Voraussetzung, daß es den
mit 1905 begonnenen Prozeß zu Ende führte. Sind dazu sein Staat
und Volk, auch abgesehen von allen Folgen des Krieges, überhaupt fähig?
Hatten sie ferner bisher schon den Beweis eigener kultureller Kraft er-
bracht?
Viele Zeugniffe, die das glatt verneinen, aus russischem und aus-
ländischem Munde, ließen sich anführen. Tschaadajew sagt einmal: „Es
steckt irgend etwas in unserem Blute, was jeden wahren Fortschritt un-
möglich macht . . . Wir haben zum Fortschritt des menschlichen Geistes
nicht das geringste beigetragen, der menschlichen Gesellschaft keinen nütz-
lichen oder großen Gedanken geliefert, wir haben alle uns überkommenen
Schluß.
423
Fortschritte zu Karikaturen verzerrt und eine Geschichte durchlebt, die ledig-
lich eine Lücke in der menschlichen Einsicht, eine Europa erteilte Lehre
ist..........Wir sind wie uneheliche Kinder zur Welt gekommen, ohne
Verbindung mit unseren Nebenmenschen. Was bei anderen aus Instinkt
oder aus Tradition geschieht, muß uns mit dem Hammer in den Kopf
hineingeschlagen werden. Unser Gedächtnis reicht nur bis gestern zurück —
wir wachsen, aber wir reifen nicht —, wir rücken weiter vor, aber auf
einer Linie, die nicht zum Ziele, sondern an ihm vorbeiführt. Man könnte
glauben, daß die allgemeinen Gesetze der Menschheit für uns nicht geschrieben
worden seien." Und Iwan Turgenjew: „Kann man denn an einen durch
Fäulnis zerrissenen Zaun herantreten und ihn anreden: Du bist kein
Zaun, du bist eine steinerne Mauer, und ich werde im Anschluß an dich
bauen?" Nadeschdin sagte zwar 1831: „Man braucht nur eine Weltkarte zu
betrachten, um mit heiligem Respekt vor den künftigen Bestimmungen Ruß-
lands erfüllt zu werden. Konnte die Weisheit des Schöpfers einen solchen
Koloß ohne Zweck errichten?" Aber Tschaadajew darauf (1836): „Wir
gehören keiner der großen Familien des Orients oder Okzidents an. Wir
haben weder die Tradition des einen noch des andern. Wir leben gleichsam
außerhalb der Zeit und die Kultur des Menschengeschlechts hat uns nicht
berührt." über die Staatenbildung hinaus hat auch das russische Volk
schöpferische Kraft nur an einzelnen Stellen bewiesen. In seiner Dichtung,
die in einem Jahrhundert die Reihe der Puschkin und Lermontow, der
Gogol und Gontscharow, der Turgenjew, Dostojewski und Tolstoi ausweist,
hat es Schöpfungen von Menschheitswert hervorgebracht, sonst in Wissen-
schaft und Technik, Glaube und Kunst wenig oder nichts der Art geschaffen.
Es wendet seine eigenen Maßstäbe an auf das, was zu ihm hereinkommt,
aber es schafft noch wenig originale Gedanken oder neue ästhetische Ideale.
Darum fehlt auch dem politischen Ideale seines Imperialismus trotz
aller religiösen Verbrämung noch sein sittliches Recht.
Das gleiche hat man auch von den Vereinigten Staaten, mit denen
Rußland doch am ehesten verglichen werden kann, gesagt. Wie für
diese gilt auch für Rußland, daß seine physischen und geistigen Kräfte
durch die nächste geschichtliche Aufgabe, die Aufgabe des Kolonialvolks noch
zu stark in Anspruch genommen sind. Nicht für jene aber gilt, was von
Rußland weiter zu sagen ist, daß diese seine Aufgabe von den es leitenden
vielfach überspannt und zu weit genommen wurde, die Kräfte seines Volks
424
Schluß.
daher übermäßig darauf abgelenkt wurden. Und wie auf die Vereinigten
Staaten, hat auch auf Rußland das Übergewicht der geistigen Kultur
Europas hemmend gewirkt. Rußland kann aus Europa nicht mehr
heraus, aber es ist weit davon entfernt, den geistigen Ausgleich mit ihm
gefunden zu haben. Der Anschluß an Europa ist da, aber immer ist es,
als wolle das eigene Wesen und die eigene Vergangenheit sich aufbäumen
gegen die „Europejnitschanje", gegen die volle geistige Gemeinschaft mit
Europa. Zu dieser ist Rußland berufen und ohne diese wird es sich zur
eigenen Kulturidee nicht durchringen, nicht seine Eigenart entwickeln
können, die trotz des westlichen Einflusses und trotz gleicher Entwicklungs-
tendenzen vorhanden ist. Diese eigene Art des ostslawischen Wesens völlig
zu erfassen, versagen vorerst noch unsere kulturphilosophischen Maßstäbe.
Sie ihm abzusprechen, weil uns eine Symbiose vom Germanentum und
Slawentum fern erscheint, von gegenseitiger Befruchtung nicht die Rede
ist und der Krieg eine tiefe Kluft zwischen den Völkern und Staaten reißt,
haben wir nicht das Recht.
Im Mißverhältnis zwischen den überspannten Ansprüchen eines
Expansivstaates und dem Reifegrad der Volkswirtschaft und Kultur seines
Volkes liegt, wenn die Dinge auf eine solche allzuknappe Formel gebracht
werden dürfen, vor allem das, was Rußland noch außerhalb des Kreises
der modernen Staaten hält. Auszugleichen ist es nur durch die Kräfte
des Kapitalismus, der konstitutionellen Idee, des modernen Individualis-
mus und seiner Kultur. Ohne fremdes Kapital, fremde Technik, Or-
ganisationskraft und Intelligenz ist das nicht möglich, ohne Rezeptionen,
wie die, in denen Westeuropa seine Kulturgemeinschaft hergestellt hat und
deren Aneignung ohne schwere, erschütternde Kämpfe nicht gelang. Einem
Revolutionsversuch, der die Pforte dazu aufmachen wollte, folgte ein
Rückschlag gleichsam atavistischer Art, über Reaktion und ablehnenden
Nationalismus zum Angriff auf die Nachbarn. Deren Waffen- und
Geistesüberlegenheit bricht den Ansturm der Masse und des Eroberer-
willens, der sie leitet, setzt ihm unübersteigliche Grenzen und zwingt zur
Selbstbesinnung auf die Wege und Formen, in denen Rußland allein seine
Zukunft suchen kann. —
Anhang
1. Literaturangaben.
An statistischen Nachschlagewerken in russischer Sprache sind zu nennen:
„Statisticeskij ezegodnik Rossii“ (Annuaire Statistique de la
Russie), herausgegeben seit 1904 vom Zentralstatistischen Komitee (mit Tabellen-
köpfen in französischer Sprache), der „Ezegodnik ministerstva finan-
s o v“ (Annuaire du Ministere des Finances) und der „Statistiöeskij ezegodnik“ des
„Sovet sezdov predsiavitelej promyslennosti i torgovli" (des „Conseils für Handel
und Industrie"), beide gleichfalls mit Tabellenköpfen in französischer Sprache.
Allgemeine statistische Nachschlagewerke: Fa Russie ä la fin du 19e siede,
ouvrage publie sous la direction de M. W. Kovalevsky. Paris 1900 (für
die Pariser Ausstellung im Auftrag Wittes zusammengestellt). — TheRussian
Yearbook. Compiled and ediled by H. P. Kennard. London. (Er-
scheint seit 1911 jährlich). — Das Russische Reich in Europa und Asien. Ein
Handbuch über seine wirtschaftlichen Verhältnisie. Herausg. von A. von Boustedt
und D. Trietsch. 2. Auflage. Berlin, Leipzig, Hamburg 1913. — Außerdem enthält,
abgesehen von allgemeinen Nachschlagewerken wie dem „Gothaischen genealogischen
Hofkalender" u. ä., statistisches Material das auch allgemein sehr wertvolle und immer
heranzuziehende russische Konversationslexikon „Enciklopedieeskij Slo-
vaf“, herausg. von Brockhaus und Efton in 86 Bänden (seit 1912 neu er-
scheinend als „Novyj E. 81."). Die Artikel der älteren Auflage über Rußland
sind auch (Petersburg 1900) besonders erschienen als: „Otdelnoe izdanie statej o
Rossii iz Endklopedtfeskago Slovarja Brokgauza i Efrona".
Sehr nützlich ist der „Ezegodnik gazety Rec" (Jahrbuch der Zeitung Rjetsch).
Petersburg, alljährlich.
Zur Umrechnung: F. N. Huthers Reduktionstabellen. Eine Darstellung
der Münzen, Maße und Gewichte aller Länder der Erde auf Grund der neuesten
Gesetzgebung unter besonderer Berücksichtigung des russischen Reiches. 6. Auflage.
Riga 1913.
Zu Kapitel 1.
B a i n, N., Slavonic Europe. A political history of Poland and Russia from 1447
to 1796. Cambridge 1908.
426
Anhang.
v. Bernhard!, Geschichte Rußlands und der europäischen Politik in den Jahren
1814—1831. Leipzig 1863 fs. 4 Bde. (enthält in Bd. II, 1 und II, 2 eine
Gesamtgeschichte Rußlands bis zum Wiener Kongreß.)
Bibliothek russischer Denkwürdigkeiten. Herausg. von Theodor Schiemann.
Stuttgart 1893 sf. 7 Bde.
Brückner, A., Die Europäisierung Rußlands. Land und Volk. Gotha 1888.
v. d. Brüggen, E., Das heutige Rußland. Leipzig 1902.
Drage, Geoffrey, Russian Affairs. London 1904.
D 2 aniev, Epocha velikich reform. 9. Ausl., Petersburg 1905.
Helmolts Weltgeschichte V: Südosteuropa und Osteuropa. Leipzig und Wien
1905.
Hettner, A., Rußland. 2. Ausl. Leipzig 1916.
Kljuäevskij, Kurs russkoj istorii. 4 Bde. Moskau.
(Kornilov, A.), Obscestvennoe dvizenie pri Aleksandre II. (1855—1881).
Paris 1905.
Karam sin, N., Istorija rossijskago gosudarstva. Die ersten 8 Bde. 1916, der
letzte, 12., unvollendet 1824. — Französische Übersetzung Paris 1819/26,
Kostomarow, Russkaja istorija v zisneopisanijach eja glavnejsich dejatelej.
Petersburg 1874, 76, 79. Deutsche Übersetzung: K., Russische Geschichte nt
Biographien. 2 Teile. Leipzig 1886. 1888.
Kraßnow und Woeikow, Rußland. (Länderkunde. Her. von A. Kirchhofs.
III.). Leipzig und Wien 1907.
Leroh-Beaulieu, A., L'Einpire des Esars et les Russes. 4. Aufl. 3 Bde.
Paris 1898.
Miljukov, P., Skizzen russischer Kulturgeschichte. 2 Bde. Leipzig 1898—1901;
der 3. Teil nur russisch: Nacionalizm i obscestvennoe muenie. Peters-
burg 1903.
— La crise russe. Paris 1907.
Moltke, Graf, Briefe aus Rußland. Berlin 1877.
Par es, B., Reaction and Revolution in Russia. In: Cambridge Modern Ei-
story, Bd. XII, S. 294—345.)
Philippson, A., Landeskunde des europäischen Rußland. Leipzig 1908.
Platonov, S., Eekcii po russkoj istorii. Petersburg 1904.
Rambaud, A., Elistoire de la Russie (bis 1900). 6. Aufl. Paris 1900.
Reclus, Ge., Nouvelle Geographie Universelle. La Terre et les Hommes. V:
L'Europe Scandinave et Russe. Paris 1880.
R o s s i j a. Polnoe geograficeskoe opisanie nasego otecestva. Herausg. von
W. P. Semenov-Tjan-Sanskij. Zahlreiche Bände.
Schiemann, Th., Rußland, Polen und Livland bis ins 17. Jahrhundert.
2 Bde. Berlin 1886.
— Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I. Bis jetzt 3 Bde. Berlin 1904 ff.
Literaturangaben. 427
v. Schultze-Gaevernitz, G., Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland.
Leipzig 1899.
Skrine, F. H., The Expansion of Russia 1815—1900. Cambridge 1903.
Tatiscev, S. S., Imperator Aleksandr II., ego zizn i carslvovanie. 2 Bde.
Petersburg 1903.
Turgenjew, N., Ea Russie et les Russes. Paris 1847. Deutsch: Rußland und
die Russen. Grimma 1847.
Uebersberger, H., Rußlands Orientpolitik. I. Stuttgart 1913.
Velikija Reformy 60ch godov v ich proslom i nastojascem. Pod redakciej J. V.
Gessena i A. J. Kaminka. Petersburg 1905. 9 Teile.
Wallace, D. M.., Russia. Neueste Auslage London 1913. Deutsch: Rußland.
4. Auflage. Würzburg 1906. 2 Bde.
Zur schönen Literatur:
Brückner, A., Geschichte der russischen Literatur. Leipzig 1905.
Kropotkin, P., Ideale und Wirklichkeiten in der russischen Literatur. Leipzig
1906.
W o l k o n s k i, S., Bilder aus der Geschichte und Literatur Rußlands. Gotha
1900.
Zu Kapitel 2.
Hoetzsch, O., Die historischen Voraussetzungen eines konstitutionellen Lebens in
Rußland (in: Beiträge zur russischen Geschichte. Berlin 1907, S. 83 ff.).
Kropotkin, P., Memoiren eines Revolutionärs. 2 Bde. Stuttgart 1900f.
Kulcickij, L., Istorija russkago revoljucionnago dvizenija. Petersburg 1908.
L a w r o w, P., Historische Briefe. Aus dem russischen übersetzt. Berlin 1901.
Martov, Maslov und Potresov, Obscestvennoe dvizenie v Rossii
v nacale XX. veka. Petersburg 1909 ff. Bisher I, II, 1 u. 2, IV, 1 er-
schienen.
Masarhk, Th., Zur russischen Geschichts- und Religionsphilosophie. 2 Bde.
Jena 1913.
Oldenberg, K., Der russische Nihilismus von seinen Anfängen bis zur Gegen-
wart. Leipzig 1888.
P a r e s, B., Rnssia and Reform. London 1907.
Pobj edonoszews Aufsätze, gesammelt in ,Moskovskij Sbornik“ (Moskau
1896). Der größere Teil daraus in deutscher Übersetzung: „Streitfragen der
Gegenwart" (Berlin 1897), vollständig englisch als: „Reüections of a
Russian Statesman“ (London 1898), mit einer Vorrede von Olga Nowikow.
Dazu: S. Dalton, H., Offenes Sendschreiben an den Oberprokureur
des russ. Shnods, Herrn Wirkl. Geheimrat Konstantin Pobedonoszeff.
1889. (Auch ins Russische und Englische übersetzt.)
Thun, A., Geschichte der revolutionären Bewegung in Rußland. Leipzig 1883.
(Auch ins Russische übersetzt mit Ergänzungen von Plechanow, Lawrow u. a.)
428
Anhang.
Brandt, Innosfrannye kapitaly v Rossii. 3 Bde. Petersburg 1899/1901.
Cleinow, G., Graf Witte. In: Aus Rußlands Not und Hoffen. II.
Davidson, Die Finanzwirtschaft Rußlands. (Übersetzung des betr. Artikels
aus dem Enciklopedi£eskij slovaf.). Leipzig 1902.
Golov in, K., Rußlands Finanzpolitik und die Aufgaben der Zukunft. (Deutsche
Übersetzung.) Leipzig 1900.
Helfferich, K., Das Geld im russ.-japanischen Kriege. Berlin 1906.
Tugan-Baranowski, M., Geschichte der russischen Fabrik. Berlin 1900.
Wirtschewsky, Rußlands Handels-, Industrie- und Zollpolitik. Berlin 1905.
Witte, S. I., Vorlesungen über Volks- und Staatswirtschaft. Deutsche Aus-
gabe. Stuttgart und Berlin 1913. 2. Bde.
Zu Kapttel 3.
Alexinsky, G., Modern Russia. London s. a.
Cleinow, G., Aus Rußlands Not und Hoffen. 2 Bde. Berlin 1906ff.
Kuropatkin, Memoiren (übers.), 2. Ausl.. Berlin 1909. — Derselbe,
Rechenschaftsbericht an den Zaren über den russisch-japanischen Krieg
bis zu den Mukdener Kämpfen einschließlich. (Deutsche Übersetzung.)
Berlin 1909. — Witte, Erzwungene Aufklärungen aus Anlaß des
Berichts Kuropatkins. (Deutsche übers. Wien und Leipzig 1911.)
— Aus der „Anklage"Literatur: Martynow, E. I., Die Ursachen
der russischen Niederlagen (Übers.,) Berlin 1907, und Semenov, Vl.,
Rasplata (Petersburg 1907).
v. Maltzahn, Der Seekrieg zwischen Rußland und Japan 1904 bis 1905.
2 Teile. Berlin 1913.
M i r o n o v, M., Gosudarstvennye akty osvoboditePnoj epochi ot ukaza 12. dek.
1904 do ukaza 11. dek. 1905. Petersburg 1906.
Pares B., The Reform Movement in Russia. (Cambridge Modern History
Bd. XII, S. 346—380.) Cambridge 1910.
Rußlands Kultur und Volkswirtschaft. Herausg. von M. Sering. Berlin und
Leipzig 1903. (Auch zu den folg. Kap.) Darin: Hoetzsch, Die innere
Entwicklung Rußlands seit 1905.
SaviL, G., Novyj gosudarstvennyj stroj Rossii. Petersburg 1907.
Schlesinger, M. L., Rußland im XX. Jahrhundert. Berlin 1908. (Auch für
die folgenden Kapitel.)
T e t t a u, Der russ.-jap. Krieg. Darstellung des russischen Generalstabs. Deutsch.
Berlin 1911 ff.
V. S. (W. Stein), Novejäija preobrazovanija russkago gosudarstvennago stroja.
Petersburg 1906.
Der russisch-japanische Krieg. 15 Beihefte der Marinerundschau. Berlin 1904.
Die lettische Revolution. 2 Bde. Berlin 1906. 1907.
Literaturangaben.
429
Zu Kapitel 4.
Joffe, M. S., und Hessen, V. M., Vaznejsie zakonodatePnye akty 1908
bis 1912). Mit alphabetischem Sach- und chronologischem Register.
Petersburg 1913.
Obzor dejatePnosti gosudarstvennoj dumy 3. sozyva. 1907—1912. Her. von der
Duma-Kanzlei. 3 Teile. Petersburg 1912.
Rossijskija partii, sojuzy i ligi. Sbornik programm, ustav i spravo&iych svedenij
0 rossijskich politiceskich partijach, vserossijskich professionaPno-
politiöeskich i professionaPnych sojuzach i vserossijskich ligach. Sostavil
V. Ivanovic. Petersburg 1906.
Salkind, Die russische Reichsduma, ihre Geschäftsordnung und deren Zusammen-
hang mit den Geschäftsordnungen anderer Volksvertretungen. Berlin 1909.
Zu Kapitel 5.
C i £ e x t tt, B. N., Sobstvennosf i gosudarstvo. Moskau 1882/83. 2 Bde.
Ci £ erin, B. N., Opyty istorii russkago prava. Moskau 1859.
Engelmann, I., Die Leibeigenschaft in Rußland. Leipzig 1884.
Haxthausen, A. von, Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und
insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands (Berlin 1847—62,
3 Bde.) und: Die ländliche Verfassung Rußlands, ihre Entwicklungen und
ihre Feststellung in der Gesetzgebung von 1861. (Leipzig 1866.) —
K e u ß l e r, I. v., Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in
Rußland. 3 Bde. Riga und Petersburg 1876/87.
Kornilov, A. A., KresPjanskaja refornia. Petersburg 1905.
Simkhowitsch, W. G., Die Feldgemeinschaft in Rußland. Jena 1898.
Swjatlovski, W.., Der Grundbesitzwechsel in Rußland (1861—1908).
Leipzig 1909.
T h ö r n e r, F., Oosudarstvo i zemlevladenie. 2. Aust.. Petersburg 1901.
Thun, A., Landwirtschaft und Gewerbe in Mittelrußland seit Aufhebung der Leib-
eigenschaft. Leipzig 1880.
Blank, S., Die Landarbeiterverhältnisse in Rußland seit der Bauernbefteiung.
Zürich 1913.
Denkschriften der Hauptverwaltung für Landorganisation und
Ackerbau: Obzor dejatePnosti uezdnych zemleustroitePnych kommissii
1907—1908. Obzor dejatePnosti uezdnych zemleustroitePnych kommissii
1907—1911, und: Itogi rabot 1909—1913.
Koefoed, A., Die gegenwärtige russische Agrargesetzgebung und ihre Durch-
führung in die Praxis. Petersburg 1912.
Mehendorff, Baron, Kressjanskij dvor v sisteme russkago zakonodatePstva
i obscinnago prava i zatrudnitePnosf ego uporjadoöenija. Petersburg
1909.
430
Anhang.
Preher, W. D., Die russische Agrarreform. Jena 1914.
Zakon 14. Junja 1910. g. ob izmenenii i dopolnenii nekotorych posfanovlenii
o kresfjanskom zemlevladenii.
Jschchanian, B., Die ausländischen Elemente in der russischen Volkswirtschaft.
Berlin 1912.
Zuckermann, Der Warenaustausch zwischen Rußland und Deutschland. 2. Ausl.
Berlin 1916.
Zu Kapitel 6.
Engelmann, I., Das Staatsrecht des Kaisertums Rußland. Freiburg i. B.
1889.
Faleev, N., Atlas dlja nagljadnago izucenija zakonovedenija i gosudarst-
vennago stroja Rossii. 86 Figuren mit Text.
Gradovskij, A., Nacala russk. gosud. prava. 3 Bde. Petersburg 1875ff.
G r i b o w s k i, W., Das Staatsrecht des russischen Reiches. Tübingen 1912.
Klibanski, H., Handbuch des gesamten russischen Zivilrechts, I. Berlin 1911.
Korkunov, N. M., Russkoe gosudarstvennoe pravo. 7. Aufl. 2 Bde. Peters-
burg 1913.
Landau, H., Das Budgetrecht in Rußland. Berlin 1912.
Lazarevskij, N. I., Lekcii po russk. gosudarstvennomu pravu. I. Peters-
burg 1908.
Nolde, Baron B., Ocerki russkago gosudarstvennago prava. Petersburg 1911.
v. Dettingen, M., Abriß des russischen Staatsrechts. Berlin 1899.
Palme, A., Die russische Verfassung. Berlin 1910.
Vladimirskij-Budanov, M., Obzor istorii russkago prava. 6. Aufl.
Petersburg 1909.
Zu Kapitel 7.
Apostol, P., Das Artjel. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie. Stuttgart 1898.
Vessloskij, V., Istorija zemstv za ostatnye 40 let. 2 Bde. Petersburg 1909.
Samoderzavie i zemstvo. (Vertrauliche Denkschrift des Finanzministers, Staats-
sekretärs S. I. Witte, 1899.) 2. Ausgabe. Stuttgart 1903.
Zu Kapitel 8.
Erinnerungen eines Dorfgeistlichen. Aus dem Rufs. übertragen von M. v. Dettingen.
Stuttgart 1894.
Golubinskij, E., Istorija russkoj cerkvi. 3 Bde. Moskau 1880/81. 1900.
N o e tz e l, K., Das heutige Rußland. Eine Einführung an der Hand von Tolstois
Leben und Werken. I. München und Leipzig 1915.
Palmieri, A., La chiesa russa. Florenz 1908.
Philarei, Geschichte der Kirche Rußlands. 2 Bde. Leipzig 1908.
Petrow, Das Evangelium als Grund des Lebens. Hamburg 1905.
S o l o w j e w, Wl., Ausgewählte Werke. Deutsche Übersetzung. 2 Bde. Jena 1914.
Zdziechowski, M., Die Grundprobleme Rußlands. Leipzig 1907.
Literaturangaben.
431
Zu Kapitel 9.
A. v. B., Die Kosaken in ihrer geschichtlichen Entwicklung und gegenwärtigen
Zuständen. Berlin 1860.
Auhagen, O., Zur Besiedlung Sibirens. Berlin 1902.
Die Kolonisation Sibiriens. Eine Denkschrift von P. A. Stolhpin und A. W.
Kriwoschein. Berlin 1912.
Busse, W., Bewässerungsverhältnisse in Turan. Jena 1916.
v. Carlowitz-Maxen, Einteilung und Dislokation der russischen Armee.
Berlin. Alljährlich.
Lord Curzon, Russia in Zentral Asia and the Anglo-Russian Question.
London 1889.
Denkschrift des Chefs der Hauptverwaltung für Landeinrichtung und Landwirtschaft
über seine Reise nach Turkestan im Jahre 1912. Berlin 1913.
Dmitriev-Mamonov,A. I., PutevoditeF po Turkestanu. Petersburg 1912.
Dmitriev-Mamonov, A. I., PutevoditeF po velikoj sibirskoj zeleznoj
doroge. Petersburg 1912.
Goebel, O., Volkswirtschaft des Westbaikalischen Sibirien. Berlin 1910.
Goebel, O., Volkswirtschaft des Ostbaikalischen Sibiriens ums Jahr 1909.
Berlin 1910.
H o e tz s ch, Russisch-Turkestan und die Tendenzen der heutigen russischen Kolonial-
politik. (Schmollers Jahrbuch 1913.)
Kr ahm er, Geschichte der Entwicklung des ruft. Heeres. 2 Bde. 1896. 1897.
Kr ahm er, Rußland in Asien. 10 Bde. Berlin 1889—1909.
Nansen, F., Sibirien ein Zukunftsland. Leipzig 1914.
Miljukow, P., Balkan3kij vopros i politika Izvolz’kago. Petersburg 1910.
Reclus, E., Nouvelle Geographie Universelle. VI: L‘Asie Russe. Paris 1881.
fR o u i r e, La Rivalite Anglo-Russe au XIXe siede en Asie. Paris 1908.
Trubetzkoi, Fürst G., Rußland als Großmacht. Stuttgart und Berlin 1913.
Unterberger, P. F., Priamurskij Kraj 1906—1910 gg. (Bd. XIII der Annalen
der Statist. Sektion der Kaiferl. Rufs. Geogr. Gesellschaft.)
Uslav o voinskoj povinnosti. Ausgabe 1912.
Weidenbaum, PutevoditeP po Kavkazu. Tiflis 1888.
Wiedenfeld, K., Sibirien in Kultur und Wirtschaft. Bonn 1916.
Graf Dorck, Das Vordringen der russischen Macht in Asien. Berlin 1900.
Zu Kapitel 10.
Bielschowskh, F., Die Textilindustrie des Lodzer Rayons. Leipzig 1912.
Cleinow, Die Zukunft Polens. I: Wirtschaft, II: Politik (bis 1883). Leipzig
1908. 1913.
Esipov, V., Ocerk zizni byta privislinskago kraja. Warschau 1909.
Friedrichsen, M., Die Grenzmarken des europäischen Rußlands. Hamburg
1916.
432 Anhang.
I anLul, Merk i8toriä. razvitija fabricnozavodskoj promyslennosti v carstvie
poPskom. Moskau 1887.
Kultura Polska (Wydawnictwo Macierzy Polskiej 83). Lemberg s. a.
Luxemburg, R., Die industrielle Entwicklung Polens. Leipzig 1898.
Pogodin, A., Olavnyja tecenija poPskoj poliliceLkoj my8li (1863—1907).
Petersburg s. a.
Rostworowski, Graf, Entwicklung der bäuerlichen Verhältnisse im Königreich
Polen im 19. Jahrhundert. Jena 1896.
V a s i l e v s k i j, L., Lovrememiaja PoPsa i eja politiceskaja stremlenija. Peters-
burg 1906.
Zechlin, E., Die Bevölkerungs- und Grundbesitzverteilung im Zartum Polen.
Berlin 1916.
Arbusow, L., Grundriß der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands. 3. Ausl.
Riga 1908.
Baltische Bürgerkunde. I. Riga 1908.
Die lettische Revolution. 2 Teile. Berlin und Leipzig 1904.
E ck a r d t, I. v., Die baltischen Provinzen Rußlands. Leipzig 1868.
Keller, Die deutschen Kolonien in Südrußland. Odessa 1905.
Stach, Die deutschen Kolonien in Südrußland. Leipzig 1904.
Tobien, A., Die Agrargesetzgebung Livlands im 19. Jahrh. 2 Bde. Berlin 1899.
Riga 1911.
Atlas de Finlande. Her. von der Geograph. Gesellschaft Finlands. Atlas
von 55 Blatt und Text, 2 Bde. (1514 S.). Helsingfors 1910. 1911. (Fin-
nisch, schwedisch und französisch.)
Erich, R., Das Staatsrecht des Großfürstentums Finnland. Tübingen 1912.
Koskinen, B., Finnische Geschichte von den ältesten Zeiten bis auf die
Gegenwart. Leipzig 1874.
. M e ch e l i n, L., Das Staatsrecht des Großfürstentums Finnland. Freiburg i. B.
1899.
S ch Y b e r g s o n, M. G., Geschichte Finnlands. Gotha 1896.
Kasso, L. A., Rossija na Dunae i obrazovanie bessarabskoj oblasti. Moskau
1913.
Jschchanian, B., Nationaler Bestand, berufsmäßige Gruppierung und soziale
Gliederung der kaukasischen Völker. (Osteuropäische Forschungen im Auf-
trag der Deutschen Gesellschaft zum Studium Rußlands, herausgegeben
von Hoetzsch, Auhagen und Berneker. I.) Berlin und Leipzig 1914.
Die Hauptzeitungen Rußlands.
433
Zn Kapitel 11.
Ljubawski, M. K. Ocerk istorii litovskorusskago gosudarstva do Ljublinskoj
unii. Moskau 1910.
Hrusevskij, M., Illustrowana istorija Ukrajiny (Kiew 1911), in ukrainischer
Sprache.
Derselbe, Ocerk istorii ukrajnskago naroda 3. Ausl. Petersburg 1911 (russisch).
Derselbe, Istorija Ukrajiny-Rusy (ukrainisch); bis jetzt 8 Bände, der erste auch
in deutscher Sprache. (Leipzig 1906.)
Polska i Litwa w dziejowym stosunku. Warschau 1914. 1915.
ää egolev, I. N., Okrajnskoe dvizenie kak sovremenny etap juzno-russkago
separatizrna. Kiew 1913.
Zu Kapitel 12.
D a n i l e w s k i, N. I., Rossija i Luropa. Petersburg 1869, 4. Ausl. 1889.
Kovalevskij, P. I., Russkij nacionalizm i nacionaknve vospitanie. 3. Ausl.
Petersburg 1912.
Nacionalisty v 3. gosudarstv. dume. Petersburg 1912 (enthält die nationalistischen
Reden zu den einzelnen Fragen.)
2. Die Hauptzeitungen Rußlands.
Die wichtigsten Zeitungen Rußlands sind seit 1905 (st = die wieder ver-
schwundenen; die Anordnung geht von rechts nach links, die Namen bedeuten Her-
ausgeber und wichtige Mitarbeiter):
1. Moskovskija Vedomosti1): Gringmuth (verstorben; das alte Organ
Katkows), reaktionär-slawophil. — 8vet (panslawistisch). — Rievljanin (Der
Kiewer; konservativ). — Russkoe Znamja (Dubrowin, reaktionär-antisemitisch).
— Kolokol (reaktionär und kirchlich). — Lemöcina (Markow II., äußerste Rechte,
antisemitisch).
2. Orazdanin (der russische ^Spectator"; Fürst Mesäerskij st, Bulazell.)
3. blovoje Vrernja (Suvorin d. A. (st). Menschikow, Pilenko, Stolhpin. Ein-
flußreichstes Blatt, nationalistisch und opportunistisch. Die Aktien z. T. in eng-
lischen, z. T. in Oktobristenhänden).
4. Ook>8 Moskvy (Hauptblatt der Oktobristen). 1916 eingegangen.
5. st St. Petersburger Zeitung (Deutsch; P. S. v. Kügelgen). — st Herold
(deutsch).
6. st XX. Vek (20. Jahrhundert; Partei der demokratischen Reform und
Panslawistenblatt, später Öko, Rus; (Suvorin d. I.). — Ru88kija Vedomosti (in
Moskau, linksliberal; Jollos st). — RSc (Hauptblatt der Kadetten; Miljukow,
*) Die maßgebenden Moskauer Blätter sind Russkoe Slovo. — Russkija
Vedomosti. — Utro Rossij. —- Moskowskija Vedomosti.
Hoetzsch, Rußland. 28
4
434
Anhang.
Petrunkiewitsch, Hessen). — Utro Rossij (Kadettenblatt, Moskau; A. Pogodin).
Ru88koe Zlovo (in Moskau, rechtsliberales Kaufmannsblatt. — f Russkaja
Molva (in Petersburg). — vjen (radikal-fortschrittlich).
7. Birzevyja Vedomosti (linksliberales Boulevard- und Handelsblatt;
Propper).
8. Sozialdemokratisch: 4 l8kra. — f Tovarisc. — f Vpered. — f Luc
(sozialdemokratisch-evolutionistisch). — f Pravda (sozialrevolutionär).
Polenblätter: Ruryer V^ar8zav^8k1 (Warschau). — Dzieimik Petro
gradski (Petersburg). — Dziennik Kijowski (Kiew). — f Kraj (Wochenschrift:
Petersburg). — Ukrainisch: f Hromadska Dumka. — f Ukrainskij Vestnik.
Offiziell und offiziös: Pravitelstvennyj Vestnik (offiziellesRegierungs-
blatt). — f Rossija (= Nordd. Allg. Ztg.). — Ru58kij Invalid (Militärtages-
zeitung, geleitet Vom Generalstab). — Torgovo-promyschlennaja Gazeta (amtliche
Tageszeitung des Finanz- und Handelsministeriums). — Vestnik ünansov (amt-
liche Wochenschrift des Finanzministeriums). — Petersburger Telegraphenagentur
(offiziell und amtlich).
Führende Revuen: Vestnik Evropy (Organ des Liberalismus; Kowalewski ft).
— Ru88kaja Mysl’ linksliberal; P. Struve). — Russkoe Bogatstvo (radikal). —
No.vyj Economist (volkswirtschaftliche Wochenschrift; Migulin). — Promyslennost'
i Torgovlja (Wochenschrift des Conseils von Handel und Industrie).
Personenregister
Aehrenthal, Graf 326.
Aksakow 63, 64, 259.
Albedinski 357.
Alexander I. 32, 33, 41, 48, 60, 64,
84, 246, 361, 369, 370, 389.
Alexander II. 1, 2, 40, 41, 42, 43, 46,
48, 60, 65, 67, 69, 60, 62, 64, 69, 70,
109, 149, 163, 166, 208, 211, 214,
217, 218, 230, 237, 261, 286, 357,
370, 417.
Alexander III. 26, 31, 60, 61, 62, 64,
65, 66, 67, 68, 71, 82, 86, 208, 209,
217, 261, 269, 343, 371, 373, 374,
396, 396, 397, 418.
Aleksejenko 126.
Alexejew, F. G. 89, 90.
Alexej 149.
Akimow 226.
Anastasia von Montenegro
330.
Antonius, Metropolit von Wol-
hynien 265.
Andrejew 274.
Annenkow 310.
A p u ch t i n 340.
Arzibaschew 274.
Axelrod 83.
Bagalej 363.
Bakunin 53, 56, 67, 68, 69, 84.
Bark, P. 134, 135, 186.
Besobrasow 89, 90.
Bismarck 73, 221, 353.
Bjelinski 62, 63, 64.
Bloch 395.
Bobrikow 374, 376, 376, 384.
Bobrinski, Graf Wladimir 351.
Bogoljubski, Andrej 20.
Bugajew 274.
B ul hg in 97, 98, 101, 102.
Bunge 71, 373.
Cassini, Graf 324.
Cancrin 209.
Charitonow 380.
Chomjakow, A. S. 53, 64, 248,
277.
Chomjakow, N. A. 126, 323.
C u r z o n, Lord 322.
Czartoryski, A. 348.
Danilewski, G. P. 361.
Danil ewski, N. S. 277, 278, 412,
416.
D a w h d o w 194.
Deljanow 261.
Dmowski 348, 350, 419, 420.
Dostojewski 27, 39, 63, 64, 56, 80,
268, 269, 262, 273, 274, 276, 277, 280,
410, 413, 423.
Dragomanow 336, 363, 401.
D u b r o w i n 118.
D u r n o w o 101, 131.
Elisabeth P e t r o w n a 60, 85, 213,
398.
Engels 64.
Fcodor Alexejewitsch 32.
F l a w i a n, Metropolit von' Kiew 255.
*
436
Personenregister.
Frederiks, Baron 90, 222.
Friedrich Wilhelm I. v. Preußen
26.
Galizhn 367.
Gapon 96, 98, 266.
Garibaldi 64.
Garin 228.
Gay 416.
Gedhmin 385.
Gerard, N. H. 377.
Glinka 175.
Gogol 10, 36, 53, 399, 423.
Go low in 107.
Golownin 261.
G o n t s ch a r o w 62, 64, 423.
Goremhkin 104, 134, 135, 136, 178.
Gorki 80, 147, 273, 274.
Gortschakow 212, 280.
Granowski 64,
G r e h, Sir Edward 326.
Gribojedow 52.
Grigorowitsch, Marineminister
294.
Grimm, Professor 130.
Gringmuth 108, 110, 119.
Grippenberg Hl.
Gurko 340, 342.
Gutschkow 111, 117, 132, 133, 287,
288, 294, 330, 347, 381, 421.
H a n k a 386.
Hartwig 330.
Haxthausen 11, 148, 240.
Hedwig, Königin von Polen 386.
Heliodor 269.
Herder 416.
Hermogen, Bischof 265.
Herzen, Alexander 26, 39, 63, 64,
65, 67, 94, 166.
Hessen 107, 108.
Heyden, Graf 98, 111, 119.
Hughes 70, 144.
Jagic 22.
I a g i e l l o 385.
Jermak 24.
Jermolow 311.
Jgnatiew, Gräfin 263.
Jgnatiew 62, 63, 66, 118, 266, 321.
Jliodor 265.
Jswolski, Oberprokuror 256.
Jswolski, A. P. 126, 284, 287,
302, 322, 326, 326, 330.
Jto 89.
Juschakow 286.
Iwan I. 23.
Iwan III. 6, 28, 31.
Iwan IV. 1, 5, 24, 31, 404.
K a r a k o s o w 48, 57.
K a r a m s i n 13, 26.
K a f f o 266.
Katharina II. 5, 20, 22, 25, 26, 29,
30, 33, 41, 46, 61, 85, 149, 166, 186,
213, 216, 229, 230, 246, 360, 404, 412.
Katkow 63, 64, 65, 57, 60, 62, 64,
66, 66, 108, 129, 409.
Kawelin 66.
Kirjejewski 64, 269, 277.
Knoop, Ludwig 70.
Kokoschkin 107.
Kokowzow 104, 132, 133, 134, 135,
136, 182, 184, 186, 186, 189, 194,
238, 262, 326, 330, 383.
Kollar, 416.
Komarow 108.
Korewo 383.
Korolenko 399.
Korostowez 328.
Koslowska, Maria 360.
Kostomarow 26.
Kotljarewski 399.
Kowalski 360.
Krisch anitsch 414.
Kr iw o sch ein 136, 171, 175, 176,
177, 178, 184, 297, 313.
Kronenberg 396.
Personenregister.
437
Kropotkin 60, 56, 80, 107.
Krhschanowski 119.
Kuropatkin 90, 91, 283, 371.
Kutler 167.
Lambsdorff, Graf 89, 90, 281.
Landsdowne, Lord 321.
L a w r o w 57, 58.
Lenin 83, 106.
Leo XIII. 216.
L e r m o n t o w 12, 52,123.
Leroh-Beaulieu 9, 10, 12.
List, Friedrich 73.
Lönnrot 371.
Lopalin 259.
Loris-Melikow 18.
Lwow, Fürst 119, 210.
Makarow 131, 226.
Maklakow 131.
M a n a s s e i n 357.
Maria Feodorowna, Zarin 208,
211.
Markow 83.
Martow 106.
Marx 51, 57, 83, 84, 106.
Masarhk 50, 276.
M a z e p p a 398.
Mazzini 64.
Mechelin, Leo 375.
Menschi ko w 136.
Mereschkowski 259.
Mesch tscherski, Fürst 76, 109.
Mehendorff, Baron 111, 126, 132,
169, 381.
Michael Nikolajewitsch 374.
Michael Rom anow 1.
Mirkiewicz 386.
Migulin 328.
Miljukow 108, 110, 125, 133, 287,
. 403,110.
Miljutin, Dmitri 49.
Miliza von Montenegro 330.
Moltke 12, 91.
Montwill, 389.
Murawjew, Graf M. H. 389.
M u r a w j e w, Graf N. H. 89.
Murawjew, N. M. 336.
Nadeschdin 123.
Nansen 301, 302.
Napoleon I. 91, 92.
Neidhardt 130, 228.
Nekrassow 168.
Nestor 414.
Netschajew 57.
Nicholson, Sir Arthur 324.
Nikolai I. 31, 41, 62, 64, 61, 64,
209, 357, 370
Nikolai II. 36, 50, 60, 61, 64, 67, 84,
88, 89, 90, 96, 97, 98, 99, 100, 101,
102, 104, 111, 112, 114, 116, 117,
124, 129, 134, 136, 136, 178, 186,
250, 268, 286, 311, 320, 326, 327,
331, 343, 344, 370, 374, 408, 418.
Nikolai Nikolajewitsch 289,
294, 330.
Nikolah, Baron 373.
Nobel 78.
Nogi 91.
N o w i k o w, Olga 323,
Nowossilzew 48.
Obolenski, Oberprokuror 255.
Obolenski, Fürst 377.
Obrutschew 66.
Ogarjew 53.
Ojama 91.
O r d i n 374.
Pahlen, Graf 228, 313.
Palackh 416.
Paul I. 202.
Pestel 61.
Peter der Große 1, 5, 7, 23, 24, 25,
26, 29, 30, 32, 33, 34, 36, 64, 68, 86,
438
Personenregister.
149, 150, 185, 208, 209, 213, 219,
245, 246, 277, 281, 284, 310, 321,
354, 369, 379, 398, 413, 414, 417.
Peter III. 41, 86.
Peter Nikolajewitsch 330.
Petrow, General 183.
Petrow, Priester 269.
Petrunkewitsch 59, 107.
Piltz 343.
Pirogow 257.
Pitirim, Metropolit 266, 259.
P l e ch a n o w 69, 83, 84, 107.
Plehwe 76, 90, 93, 94, 96, 118, 136,
367, 376, 376.
Pobjedonoszew 26, 60, 61, 62, 63,
64, 66, 67, 101, 118, 129, 246, 247,
266, 268, 269, 373.
Pogodin 417.
Possoschkow 414.
Purischkiewitsch, 118, 382.
Puschkin 42, 62, 155, 416, 423.
Ranke 1.
Rasputin 136, 265, 269.
Rehbinder 373.
Rittich 171.
R o d s j a n k o 126.
Roediger 373.
Roschdestwenski 320.
Rosen, Baron 89.
Rurik 23.
R u s s o w, A. 19.
Rhlejew 62.
Gabler 134, 256, 271.
S a b u r o w 130.
Saltykow-Schtschedrin 33, 63,
156.
S a rn a r i n, I. 3, 64, 366, 363.
Samarin, Adelsmarschall 240.
Sasonow 184, 284, 326, 327, 330,
331.
Sassulitsch, Wera 68, 83.
Schamyl 317.
Schaumann, Eugen 376.
Schewtschenko 399.
Schidlowski 132, 381.
Schipow 98, 107, 111, 118.
Schräg 119, 400.
Schtscheglowitow 134.
Schtscherbatow 109.
Schwartz 266.
Sergius, Großfürst 97, 396.
Sipjagin 76, 93.
Skalon 338.
Skobelew 310.
Sollogub 274.
Solowjew 16, 264, 269, 276, 277,
286, 410, 411, 413.
S p a s s o w i t s ch 343.
Speranski 48, 209, 219, 247.
S t a ch o w i t s ch 98, 107, 111.
Stackelberg 91.
Stankewits ch 54..
Stead, W. T. 323.
Stein, Freiherr vom 61, 116, 165.
S t o l y p i n 94,104,115, 116,117,118,
119, 122, 123, -124, 128, 129, 130,
131, 132, 133, 166, 168, 170, 178,
181, 191, 222, 223, 227, 238, 262,
265, 270, 297, 313, 326, 347, 361,
379, 383, 392, 410, 411.
Strukow 240.
Struve 83, 94, .133, 402, 410.
Subatow 84.
Suchomlinow 289, 294.
Suworin 109, 346.
Swjatopolk-Mirski, Fürst 95,
107, 374, 391.
T a g a n z e w 374.
Tiesenhausen, Graf 389.
Tolstoi, Graf Dmitri 62, 64, 267, 268,
269.
T o l st o i, Leo 53, 81, 82,107,147, 268,
259, 273, 276, 277, 423.
T r e p o w, General 68, 101.
Personenregister.
439
Trubezkoi, Fürst Eugen 109, 119,
168, 266.
Trubezkoi, Fürst Gregor 280, 287.
Tschaadajew 422, 423.
T s ch a r y k o w 330.
Tschechow 273, 274.
Tschelnokow 240.
T s ch e r n a j e w 310.
Tschernhschewski65.
Tschitscherin 64, 269.
Turgenjew, Iwan 63, 64, 66, 58,
262, 423.
Turgenjew, Nikolai 61, 64.
Tugan-Baranowski 83.
Tyszkiewicz, Graf 389.
U w a r o w, Gräfin 265.
Uchtomski, Fürst 67, 88, 89, 286,
323, 418.
Wallaee 21, 324.
W a n n o w s k i 66, 290.
Warnawa 259.
Wassili IV. 6, 31.
Wilhelm II. 320.
Witowt 386.
Witte 67, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77,
78, 79, 90, 92, 93, 100, 101, 102,
104, 134, 136, 140, 168, 167, 180,
182, 183, 189, 209, 280, 376, 377,
396, 408.
Wjelopolski 348.
Wladimir 1.1, 3, 23, 38, 248.
Wladimir, Metropolit 266.
Wolkonski, Fürst 126.
Woronzow-Daschkow, Graf 367,
368.
Whschnegradski 71, 72, 247.
/
Verlag von Georg Reimer in Berlin W. 10
Deutschland und die große Politik. Von Theodor Schiemann,
anno 1901-1914. Jeder Band geh. M. 6.-, geb. M. 7.—.
... So ist das Werk nicht nur als Quellen- und Nachschlagewerk für
Geschichtsforscher und Publizisten, sondern ganz allgemein als Leitfaden durch
die neueste Geschichte wertvoll. Schlesische Zeitung.
Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus l. Von Theodor
Schiemann. 8°. Band I: Kaiser Alexander I. und die Er-
gebnisse seiner Lebensarbeit. 1904. Geh. M. 14.—, in Halb-
franz geb. M. 16.—. Band II: Vom Tode Alexanders I. bis
zur Julirevolution. 1908. Geh. M. 12.—, in Halbfranz geb.
M. 14.—. Band III: Kaiser Nikolaus im Kampf mit Polen
und im Gegensatz zu England und Frankreich 1830—1840.
1913. Geh. M. 12.—, in Halbfranz geb. M. 14.—.
. . . Ein groß und weit angelegtes Werk, das ohne Zweifel als eine
wesentliche Bereicherung der Geschichte Rußlands in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts angesehen werden kann ... Man darf mit einiger Spannung
den folgenden Bänden des Schiemannschen Werkes entgegensehen.
Frankfurter Zeitung.
Zur Geschichte der Regierung Pauls I. und Nikolaus i. Neue
Materialien von Theodor Schiemann. In deutscher und
russischer Sprache in einem Bande. 8°. 1906. Geh. M. 10.—.
Wir schließen mit dem Ausdruck des Dankes an den Herausgeber für
die schöne Publikation. Sie wird jeden, der sich für geschichtliche Einzel-
forschung interessiert, so packen, daß er das Buch nicht so bald aus der Hand
legen wird. Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung.
Die polnischen Provinzen Rußlands unter Katharina II. in den
Jahren 1772—1782. Versuch einer Darstellung der anfäng-
lichen Beziehungen der russischen Regierung zu ihren polnischen
Untertanen. Von U.L.Lehtonen. Aus dem finnischen Original
von G. Schmidt. 8°. 1907. Geh. M. 12.—.
Die Arbeit von Lehtonen trägt in keiner Hinsicht den Charakter einer
Erstlingsarbeit. Sie ist eine Frucht mehrjähriger gründlicher Studien, gut
disponiert und führt zu einem erfreulichen wissenschaftlichen Fortschritt . . .
Die Darstellung ist korrekt und auch für denjenigen, der sich nicht speziell mit
polnischer Geschichte beschäftigt hat, eine gute Einführung in den schwierigen
Stoff des polnischen Verfassungs- und Wirtschaftslebens. Historische Zeitschrift.