16 Seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, das heisst, seitdem die scholastische Theologie dahin gelangt war, das Christenthum in eine Summe von Begriffen, Definitionen und Distinctionen aufzulösen und den Glauben als ein Fürwahrhalten abstracter, nicht selten der Vernunft widersprechender Lehrsätze zu erklären und seitdem Hand in Hand mit dieser Schultheologie und fast gleichen Schritt mit ihr haltend, die Missbräuche in Verwaltung der göttlichen Gnadenmittel und in Vergebung der Pfründen, sowie die Immoralität im Leben der Geistlichen über¬ hand genommen hatten, seitdem hat sich dem Laienthum die Frage aufgedrängt, wie der Widerspruch zwischen Gläubigkeit und laster¬ haftem Lebenswandel, zwischen der Heiligkeit des Priesteramtes und der Unwürdigkeit seiner Träger aufzuklären sei. Eine der Lösungen gieng nun stets dahin, dass nicht die äusseren Ceremonien und der todte Buchstabenglaube, sondern die fromme Gesinnung die Religion ausmache, dass die Religion nicht Verstandes-, sondern Herzenssache sei, und dass es der Verwaltung der Religion durch ein besonders geweihtes privi¬ legiertes Priesterthum nicht bedürfe. Auf diesem Standpunkte stehen fast alle Secten, welche seit dem Aasgange des 14. Jahrhunderts in Deutschland zur öffentlichen Wirksamkeit und Verbreitung gelangt sind. So wird uns von den Waldensern berichtet, dass sie die Autorität der Schrift über die der Kirche und ihrer Tradition erhoben und dass sie das Recht der freien Prüfung der Glaubens¬ lehren für jeden Laien in Anspruch nahmen. Als das Ziel ihrer Sectenbildung erklärten sie die Refor¬ mation der von der Schrift abgekommenen verweltlichten Kirche, sie verwarfen die Ceremonien, den Heiligendienst, die Sacramente? die Messe und öffentlichen Gebete, die Lehre vom Fegfeuer, sie untersagten ihren Mitgliedern das Schwören und verdammten die Verbreitung des Christenthums durch Feuer und Schwert. Die Verderbtheit der katholischen Geistlichkeit führte sie zu dem Grundsatze, dass nicht die Ordination, sondern das apostolische Leben das Priester- und Predigeramt verleihe. Ein