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Werner Beumelburg
Flandern
Vollständig neu bearbeitete Ausgabe
Mit einer Larte
ir-.—zs§. Tausend
Gerhard Stalling, Verlagsbuchhandlung
Oldenburg i.O./Berlin
53961
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen»
der Verfilmung und Verbreitung durch Rundfunk, vorbehalten.
Copyright jgss by Gerhard Stalling A.-G., Oldenburg L.O. Gedruckt
und gebunden ;-4- von der Gerhard Stalling A.-G., Oldenburg i.O.
prlncecl in 6«rmaa^
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Inhaltsverzeichnis
Seit«
Einsaat................................................ 7
Kreislauf..............................................io
Aufmarsch...........................................
Becelaere..............................................4)
DiMude..............................................
Langemarck 66
Bixschote.............................................114
Yser .................................................126
Choral................................................165
Steenbeek.............................................164
Doodemolen............................................199
Gchreiboom............................................2)9
Poelkappelle..........................................2§s
Vijfwegen.............................................24s
passchendaele............................................
k-IMVkM
Einsaat
Der deutschen Jugend ist dies Buch geschrieben. Ich will
Versuchen, ein wahrheitsgetreues Bild zu malen des großen
Rrieges, von jenem furchtbaren Zusammenprall an, in dem
im Oktober und November des Jahres 1014 Engländer,
Franzosen und Belgier beim Wettrennen zum Meere mit
den jungen deutschen Regimentern zwischen Lille und der
Rüste zusammenstießen. Zweiundzwanzig Tage lang währte
jene mörderische Schlacht an der Mer und um Rpern. Die
Blüte der deutschen Jugend ward hingemäht vom flandrischen
Tod. Singend sanken ganze Rompagnien zu Boden und neue
traten an ihre Stelle. In zwei Gliedern marschierten sie mit
gefälltem Seitengewehr gegen feuerspeiende Hügelketten und
knatternde Heckenreihen und stürzten, den letzten Treuschwur
für ihr Vaterland auf den Lippen, hin in die sumpfigen
Gräben der flandrischen wiesen, um nie wieder sich zu
erheben. In blutrauschenden Straßenschlachten fochten sie
vom Morgen bis in den Abend um jedes brennende Haus,
jede Mauer, jede Straße, die Gewehre entladen, die Messer
gezückt, nur einen Gedanken kennend: Sterben oder Siegen!
Zum letztenmal vollzieht sich der Rampf in jenen blut-
rünstigen Formen des Mittelalters und des Altertums. Zum
letztenmal stürmt die Jugend Deutschlands wie die Grena-
diere Friedrichs des Großen und die Musketiere des alten
Blücher, jeden Schutz verachtend, den Damm der Leiber hin-
werfend in blutiger Verschwendung vor die Grenzen des
Vaterlandes, wie bei Sempach und Morgarten im Rampf
der eisengepanzerten Ritter gegen die eidgenössischen Lands-
knechte ein Jahrhundert der Rriegsgeschichte begraben wurde,
wie bei Jena und Auerstedt die erstarrten Rampfformen der
friderizianischen Armee auseinanderbrachen vor dem leben-
digen Anprall der Rorsentruppen: so steht die Apernschlacht
da als letztes, ungeheuerliches, blutrotes Fanal des Maffen-
sturms gegen die verhundertfachte Macht der Maschine. Die
7
neue Erfahrung kostete uns die besten Teile unserer Jugend,
die im späteren Verlaufe des Krieges bestimmt gewesen
wären, die kriegserfahrenen, geläuterten Führer zu stellen.
Sie fehlten uns nachher bitter. Andere Schlachten von viel-
facher Materialverschwendung sind Zpern gefolgt. Verdun
traf das Mark des deutschen Westheeres, die Somme ver-
sumpfte im Blut, abermals kroch der flandrische Tod wochen-
und mondelang durch die Trichter um passchendaele und
wytschaete. Aber diese Schlachten trugen ein anderes Ge-
sicht. Vorbei war die Zeit, da man hinjauchzte in den Tod,
da sich höchster Gipfel des Lebens, höchste Erfüllung des
Daseins im trunkenen Rausche der Schlacht jäh vermählten
mit dem Grab . . .
Der deutschen Jugend ist dies Luch geschrieben. Der
Jugend, die heranwuchs in der bittersten Schmach ihres
Vaterlandes, deren Tage angefüllt waren von der frühen
Gorge um die Zukunft. Sie soll derer gedenken, die damals
jung waren wie sie selbst. Sie soll ihrer gedenken, nicht in
Trauer, sondern den Blick stolz auf das Vergangene gerichtet
und die Herzen erwartungsvoll und gläubig der Zukunft zu-
gewendet. Neu erleben soll sie die Tage, da ganze Schul-
klassen mit ihren Lehrern Grammatik, Mathematik und die
Klassiker beiseitewarfen und die Reihen schlossen, da Sech-
zehnjährige verzweifelt von Ersatztruppenteil zu Ersatz-
truppenteil irrten und überall abgewiesen wurden, bis es
endlich gelang. Da die Universitäten verödeten und die
Bataillone emporwuchsen aus dem Boden wie junge Saat
am Frühlingsmorgen. Halb ausgebildet, die notdürftigsten
Kenntnisse der militärischen Bewegungen beherrschend, die
Technik des Gewehres und der Geschütze im Fluge erobernd,
rollten die jungen Reservekorps Mitte Oktober durch Belgien,
durchglüht von der Aufgabe und dem willen, am rechten
Flügel des Westheeres die Entscheidung zu erzwingen, den
Durchstoß auf Dünkirchen und Calais. Niemals ist eine
Armee von solch herrlichem Geiste beseelt gewesen. Nie war
der Wille zum Sieg stärker denn damals, als die jungen
Regimenter, die von der Bahnfahrt steifen Glieder dehnend,
Ln fröhlichen Märschen der flandrischen Ebene entgegeneilten,
grüne Zweige am Helm und Blumen im Gewehrlauf. Je
näher der Geschützdonner, je höher schlugen die Herzen. Und
Ln den grauenvollsten Stunden der Schlacht, als der Tod sie
s
in ganzen Rolonnen abführte und die flandrischen Ranäle
sich rot färbten vom Blut, als der Feind immer neue Reihen
in das Gefecht schleuderte und den Eisenhagel seiner Geschütze
in die gedrängten Bataillone warf, als glutrot der Brand
der Dörfer lohte und die dumpfe Ohnmacht der Verzweiflung
über das niedergemähte Feld kroch: da erschallte jener Gesang,
der die brechenden Augen der Sterbenden noch einmal auf-
leuchten ließ und die Lebenden vorwärtsriß in übermensch-
lichem Antrieb, der den Lärm der Schlacht durchbrüllte und
die Schar der Todgeweihten hoch hinaushob über alles
Menschliche: „Deutschland, Deutschland über alles . .
Der deutschen Jugend ist dies Buch geschrieben,
damit sie derer gedenke, die, dies Lied auf den Lippen, starben
und bereitwillig ihre jungen Leiber als heilige Ein-»
saat für die Zukunft des Reiches Hingaben . . .
Areislauf
Nichts als ein dröhnender Gesang erfüllt die Lust, er-
schüttert den morgendlich dämmernden Himmel. Von Osten
und Süden her wölbt sich ein blaßrotes Leuchten bis über
den dämmerig fahlen Zenith. Tief gegen Norden dehnt sich
grau die langsam weichende Nacht . . .
Es ist das ewig gleiche Ringen, wenn die gähnende Nacht
die kühlen Glieder streckt und der junge Morgen ungeduldig
und ungebärdig an das ungeheure Gewölbe pocht. Steh auf.
hebe dich von dannen! Ein neuer Lauf, ein neuer Rreis,
ein neuer Gesang beginnt! Die dunklen Retten erklirren,
und es ist nicht mehr weit, bis dem blitzenden Speerwurf
eines jungen Rriegers gleich das erste Feuer der Sonne
hinrast über das gedehnte Land . . .
wer singt dies dröhnende Lied)
Tief, tief unten ein ruheloses, wallendes, wogendes Feld.
Das Meer! wer zählt die gischtenden Rämme, die wie matt-
glitzernde Hälse von Myriaden wandernder Schwäne leuchten)
wer gebietet diesem dumpfen Brausen Einhalt, das gleich
dem monotonen Gesang eines durch die Nacht der Ewigkeit
gen die blinkenden Zinnen von Walhall ziehenden Toten-
heeres ist) wer sagt, von wannen es kommt, wohin es
geht, wann es den Anfang nahm und wann es zu Ende sein
wird) wer erzählt, was in stummer Finsternis dort unten
unter der brodelnden Fläche ruht, von glotzäugigen Fischen
neugierig bewundert) wer berichtet, wann der erste jählings
hinabsank Ln dies Nimmersatte Gefäß, und wann man den
Letzten zählen wird)
Aber der dröhnende Gesang ist noch ein anderer.
Jenseits der dünnen mattgrauen Schleier, die langsam
über das Meer wandeln, hoch oben im endlosen Raum,
glimmt rötlich übermalt vom heraufziehenden Morgen ein
glitzernder Punkt. Schwebt dahingetragen von donnernder
Rraft in einer langsam steigenden Linie, wendet sich jetzt
Ln allmählicher Biegung von Norden gen Westen, gen Süd-
westen, hoch einhergezogen Uber der brausenden Fläche, einsam
in der Unendlichkeit, suchend nach irgendeinem Ziel in ver-
hüllter Ferne, ein unbekannter Wanderer im Morgen, ein
dröhnender, wilder, sturmgesättigter Herausforderer der
sterbenden Nacht.
Der erste Verkünder der neuen Zeit gigantischen Kampfes
über dieser Einöde. Der ist es, von dem der Gesang ausgeht,
hell knatternd und sonor brausend, ein ungeheures Gemisch
von Zorn, Kraft, Kampfeswille, Vorwärtsdrängen.
Ein deutscher Flieger . . .
Dies ist das tiefe Erlebnis, das die beiden im Rumpfe des
Riesenvogels Verborgenen aufschauen läßt von Rompaß und
Gasuhr und den Blick gegen Südosten lenken heißt: fernab,
wo wallende Nebelschleier die dunklen Schattenlinien der
Rüste verhüllen, durchbricht wie aus der Erde hervorgestoßen
ein zuckendes Feuer den Horizont. Ein Auflodern quillt
empor, als gösse sich ein Strom glühender Lava rinnend
über das Land, wie von unsichtbarer Hand herabgeworfen
vom Himmel erstrahlt der weiße Rand der Rüste, gießen sich
Wellen von Lichtern über das ruhelose Feld tief unten. Und
plötzlich ergleißt, wie von einem grellen Blitz entzündet, der
Leib des Vogels in einer weißen Flamme. Uber die Rauten
der Tragflächen und an den surrenden Drähten entlang
klettert der Strahl, und selbst der rasende Propeller badet
sich aufjauchzend im jungen Licht. Sonnenaufgang! Mit
langen Schritten entweicht über das Meer die Nacht, hier
und da auf der Flucht Gruppen verlorener Nebelschleier
zurücklassend, Fetzen aus ihrem schmutzigen Gewand, das der
stürmische Morgen ihr vom Leibe zerrt . . .
1500 Meter zeigt der Höhenmesser. Das Dröhnen verliert
den harten Rlang, schwillt ab, wird zum Rauschen. Langsam
neigt der Vogel den Ropf. 1400 Meter. Unruhig vibriert
der Zeiger . . . izc>o . . . irz-o . . . Deutlicher werden die
emporgereckten Hälse der Myriaden von Schwänen über der
glitzernden Fläche. Schärfer zeichnen sich die Linien der
Rüste. Gleich Bausteinen aus bunten Spielkästen der Rinder
tauchen hinter dem dunklen Strich der Dünen menschliche
Wohnungen auf, reihen sich aneinander, wie eine riesige
11
Drehscheibe beginnen sich langsam Erde und Meer umein-
ander zu drehen, wie silberne Bänder leuchten schmale
Ranäle auf. Und nun ist es, als müsse man das Brausen
des Meeres vernehmen. Aber plötzlich schwillt das Rauschen
des Motors zum jähen Donnern an. Der Vogel hebt den
Ropf und rast geradeaus Ln jagender Fahrt. Auf )ooo Meter
spielt sich der zitternde Zeiger ein . . .
Nicht weit zur Linken bleibt die langgestreckte Linie der
Rüste, benagt von dem ruhelosen Anrollen der Wellen.
Jetzt hat sich dort drüben das gleißende Feuer vom Boden
gelöst und schwebt als glitzernde Rugel, als greller Feuerkreis
langsam hinauf. Nun mag dort unten das Land erwachen.
Vögel werden munter die Nester verlassen und ihr Gefieder
im jungen Tag schütteln. Grillen und Zirpen werden ihr
unbeirrtes Ronzert beginnen und durch die taubehangenen
Halme springen. Das braune Getier der Wälder wird den
dunklen Rranz der Stämme verlassen und zögernde Ausschau
halten über die nassen wiesengründe. Träge werden die
Rühe auf der gepferchten weide die steifen Glieder dehnen
und schläfrig ein Büschel Gras mit langer Zunge ausrupfen.
Die stillen Bewohner der weit verstreuten Höfe werden er-
schreckt aus dem Schlaf fahren und das gewaltige Dröhnen
aus der Luft, dort drüben vom Meere her, vernehmen. Die
spärlichen Zeitungen strotzen von wilden Nachrichten. Rrieg
ist weitab dort unten Lm Lande, was, was will denn dies
Donnern hier- wird es nicht schwächer jetzt- Vielleicht nur
ein Traum, ein Spuk, ein Brausen der Brandung, ein
Gchiffssignal von draußen. Dort mag wohl einer in eine
Nebelbank geraten sein.
Nein! Da ist es wieder, unaufhaltsam, ehern, mark-
erschütternd, unheilgeschwoüen. Und immer kommt es hoch
von oben herab, wie ein grollendes Ungewitter mitten am
klarblauen Himmel . . .
Ein paar treffen sich, notdürftig bekleidet, zitternd Ln der
Morgenkühle, vor den Häusern. Raum versteht man sein
Wort, so donnert das jetzt. Hände beschatten die schlaf-
trunkenen Augen. Rinder laufen halb verstört, halb erfüllt
von einer wunderbaren Erwartung zwischen den Alten
umher.
Dort! Dort!
12
Ober dem Meer schwebt er dahin, der glühende, donnernde
Punkt. Gesang ist sein weg und Leuchten sein Wort,
zitterndes Brausen seine kraftstrotzende Bewegung.
„Der Nrieg! Der Rrieg ist im Lande!" schreit einer, und
erblassend bekreuzigt sich die Schar der Aufgeschreckten.
Heilige Frau von notre Kon 8eeour8 ... die Nerzen in
St. Pierre Lappelle brennen so rot, und der Gekreuzigte am
Wegzweig von Mannekensvere neigt sein blutendes Haupt
so tief: der Nrieg ist im Lande . . .
Bald werden die Glocken von Roulers wieder läuten . . .
bald werden die Mütter von passchendaele bis nach Lom-
bartzyde zu weinen haben . . . bald wird der bleiche Tod
von Npern über den Marktplatz gehn und die verschlossenen
Türen der Häuser öffnen . . . bald werden die Fischlein im
Rserkanal erschrocken sein über das grausig schöne Rot im
Wasser . . .
Der Rrieg ist im Lande! . . .
Die beiden hoch oben im Leib des Riesenvogels Versteckten
beugen sich über das Meer und messen mit den Augen den
weg zum Lande.
Dann sucht das Auge auf der Narte. Der rückwärts
Sitzende tupft mit ausgestrecktem Arm dem am Steuer
zweimal auf die linke Schulter. Der nickt. Verstanden.
Brüllend beschreibt der gehorsame Vogel einen gewaltigen
Halbkreis gen Süden und stürzt auf das Land zu.
Geradeaus leuchten im Morgenschein die Türme von
Vlieuport. Glitzernd windet sich der Nanal nach dem Meere
hin, wo gewaltige Helle (Quadern ihn abschließen gegen die
Nimmersatte Brandung. Die Schleusen von Nieuport. Gleich
Hellen Tüchern sind die Dünen gebreitet. Grün geschattet
dehnen sich endlos die Wiesenflächen. Das schmale Wäldchen
hinter dem Bad westende am Strande liegt wie ein dunkler
Farbenklex mitten darin. Rechts und links reihen sich weiß
und gelb die Steinkästen der Badehotels, wie ein leuchtendes
Band aus fleckenlosem Zephir oder aus hellgelber Seide
trennt der feinsandige Strand das graue Meer vom Grün
des Landes, gierig beleckt von den Zungen der unruhigen
Fläche. Dort der glitzernde Doppelstreif, aus dem Gewirr
der Häuser nach Südosten davoneilend bis in das Straßen-
gemisch der Stadt: die Bahnlinie. Dort oas seine Gewebe
von Spinnen, weiße Fäden in geraden Strichen auseinander-
gezogen nach allen Seiten, in weite Ferne sich verlierend:
die Straßen nach Middelkerke und Ostende, nach St. Georges
und nach Dixmude, nach Furnes und nach Loxyde. Und dort
im Südosten, verträumt unter weiden und Hecken, hin-
geschmiegt Ln langsamem Gleiten, hier und da Ln einem
verschlummerten Winkel sich aufhaltend oder einen stillen,
andächtigen Rreis ziehend um ein schlafendes Waldstück
voller Geheimnisse: die Zsser . . .
Nun jagt der Vogel in gerader Fahrt mitten auf den
Feuerball der Sonne zu. Es ist, als ob ihre Glut ihn an-
sauge mit unwiderstehlicher Macht. Der im Beobachtersitz
wendet sich nach rückwärts, um nicht geblendet zu werden von
der weißen Lichtflut. Unbemerkt ist das Meer weit zurück-
getreten. Nur noch ein graues Tuch breitet sich in der
Ferne, und schon beginnen die Schleusen von Nieuport sich
zu verstecken hinter den Türmen und Häusern von Nieuport.
Der im Vordersitz schaut zwischen Motor und Tragfläche
hinab, wendet das Steuer ein wenig hin und her. Mit
trägen Schwankungen gehorcht der Vogel, unwillig, daß man
ihn stört beim starren Flug in die Sonne. Dann nickt der
im Vordersitz zufrieden. Die Bahn des Vogels liegt kerzen-
gerade über den Doppelsträngen der Gleise, die von Nieuport
nach Dixmude laufen . . .
Dies ist das Bild, das der Vogel bei seinem Flug gegen
die Sonne sah.
Tief auf dem verhangenen Erdboden, weit im Süden, wo
sich das flache Land ohne ein sichtbares Ende verlies, lagen
breitgedehnte Nebelschwaden gleich dem Leib eines riesigen
Ungetüms. Zuerst waren sie kaum sichtbar, so dünn waren
sie noch. Aber es schien, daß sie wohl von unsichtbarer Hand
von Süden her, dort, wo die Erde schon sich zu wölben
begann, herangeschoben wurden. Deutlich war zu sehn, wie
es sich türmte, eines auf das andere, rechts und links und in
der Mitte. Nun erschien es wie ein eherner Schutzwall, den
irgendwelche Giganten, versteckt hinter seinen (Quadern, auf-
bauten und langsam in ächzender Schwere vorwärtstrugen.
)4
Vernahm man denn nicht ihr Stöhnen und ihr Murren über
die furchtbare Last-
Die Sonne, die bisher sich um das geschäftige Treiben der
Dunkelmänner nicht gekümmert und ruhig und stetig ihren
weg himmelan stieg, begann auf einmal zu erblassen. Asch-
fahl wurde ihr Gesicht, und ihre jungen Strahlen, eben noch
frisch wie das Leben selbst, erhielten ein abwehrendes, häß-
liches, ungesundes Stechen wie der Stachel giftiger Fliegen.
Ja, es schien, daß sie verzweifelte Versuche machte, weiter
hinaufzusteigen, daß aber wie Fäden des Spinnetzes die von
dort unten Schleier um sie legten und sie festbannten an die
Erde. Entsetzlich grausam und quälend sah dies Schauspiel
aus. Niederdrückend war es, mit anzusehen, wie binnen
kurzem aus dem voller Lebenskraft aufwärtssteigenden jungen
Gott ein mühsam um seine letzte Stunde ringender grau-
haariger Greis geworden. Deutlich war zu erkennen, wie er
zusammenschrumpfte und fast erstickte unter der bleichen Last.
Dazwischen aber klang trotzig und hart hier und da ein
Hohnlachen irgendeines der dunklen Männer . . .
Da geschah das Wunder. . .
Zuerst erschien es nur wie ein gekrümmter Buckel, der sich
am Rande der dunklen wand aufwölbte. Dann mochte man
glauben, daß irgendeiner von rückwärts über eine Stufe auf
die Mauer trete, um mit den Schultern sich gegen die Sonne
zu stemmen. Dann schien es ganz deutlich zu werden, daß es
ein breiter Gigant war, der die beiden riesigen Arme seit-
wärts um die halbtote Sonne zu schlingen sich anschickte und
das zottige Haupt listig zwischen die Schultern einzog. So
schwoll es langsam und gefräßig und ganz schwarz herauf,
indes die Sonne schon nicht mehr zu atmen wagte, und indes
tief unten am Fuße der Mauer hier und da ein schwefelgelbes
Feuer zuckte. Und jedesmal, wenn der Unhold die Arme ein
Stück höher hinausschob, brüllte irgendwoher aus einem
düsteren Winkel einer auf, der den Tod der Sonne gar nicht
erwarten konnte. Arme Sonne . . .
Go aber vollzog sich das Wunder vor dem Angesicht des
starr geradeaus gerichteten Vogels.
Als der schwarze Gigant das Haupt aufrichtete und damit
an die Sonne stieß, war ein gelähmtes Schweigen in der
15
ganzen Natur. Reiner der Unholde wagte in diesem Augen-
blick zu gröhlen. Die Wälder verstummten, und alle Bäume
ließen ihre Blätter reglos herabhängen. Die Gräser standen
ganz still und selbst die hurtigen Wellen der Bäche erschraken
über ihr leichtsinniges plätschern. Rein Getier bewegte sich.
Die Rehe beugten die Röpfe weit vor und sogen ängstlich
die Luft ein. Die Füchse verkrochen sich in einem merk-
würdigen Gefühl der Unlust. Die Hasen selbst hielten im
Fressen ein und legten die langen Ohren dicht an den Rörper.
Alles Getier wartete auf den Henker und duckte den Nacken.
Und nur der Riesenvogel allein raste starr geradeaus, mitten
auf den dunklen Leib des Giganten zu. Und ließ sich auch
nicht beirren, als plötzlich kühle Finsternis wurde und ein
Leichter klagender wind über die Ebene ging. Freilig konnte
er den wind nicht vernehmen, weil er so wild einherjagte . .
Und da war unbemerkt schon das Wunder geschehen, just
in dem Augenblick, als die Sonne ertrank in der Finsternis.
Der Leib des getürmten Giganten wandelte sich zu einer
schwarzen Säule. Sein zottiges Haupt schloß sich zu einem
Block, der auf der Säule ruhte. Die aufwärtsgestreckten
Arme sanken herab in die wagerechte, die gekrümmten
Finger streckten und ballten sich und aus rechtem und linkem
Arm wurde ein dunkler Stamm, der sich quer über die
Säule legte. Und dann wurde allem lebenden Wesen, das
dies mit ansah, bewußt, was es bedeutete.
Das Rreuz!
Ein ungeheures Rreuz wuchs aus der Erde empor, ver-
deckte mit seinem Gipfel die Sonne und breitete die Arme
weit über den ganzen Himmel von Westen nach Osten.
Hinter der Stelle hervor, wo seine Säule sich mit den
Armen verband, drangen die Strahlen der bleifarbenen
Sonne schräg in Bündeln nach oben und nach unten, wie es
wohl auf alten Bildern von Golgatha zu schauen ist.
So stand das Rreuz, regungslos, schweigend, furchtbar
aufgerichtet und gebieterisch. Und als der Vogel hinabschaute
auf die Erde, welches die Schädelstätte sei, aus der dies
Marterzeug emporgestiegen, da erblickte er tief unten, klein
und winzig und kaum zu erkennen in der Finsternis, die
gotischen Türme der Rathedrale von Rpern.
Just über ihr stand das Rreuz.
Da erkannte der Vogel, daß es der bleiche Tod von Kpern
mar, der das Rreuz aufgerichtet und die Sonne damit bedeckt
hatte. Und er senkte den einen Flügel, indes er den andern
emporhob, und zog einen weiten Rreis rings um das Bild
der todgeweihten flandrischen Stadt . . .
Als der deutsche Flieger bei Warneton und Lomines die
Bahnlinie und die lieblich über die wiesen sich schlängelnde
Lys erreicht hatte, verzückten in seinem Rücken die letzten
Nachzügler des Gewitters von Kpern, und die Sonne ließ
wieder die Dächer der Häuser blinken.
Ganz plötzlich, wie hervorgezaubert aus der Luft, stand
wenige hundert Meter vor ihm ein dichtgeballtes weißes
wölklein, ein riesiger Schneeflock. Ein feines, vielstimmiges
Singen drang an das Ohr der beiden im Leib des Vogels
Versteckten, und irgend etwas fuhr mit Hellem Zwitschern
dicht an ihnen vorüber. Der im Vorderteil über das Steuer
Gebeugte wandte sich zurück nach dem, der immer aus die
Rarte schaute und dann sich wieder über die Erde hinab-
beugte. Beide lächelten, ohne daß sie es unter dem ledernen
Helm sehen konnten. Aber jeder spürte es vom andern. Der
rückwärts Sitzende begann mit den Augen ein eifriges
Suchen am Ufer der Lys und längs der Bahnlinie. Unbeirrt
raste der Vogel in weitem Bogen gegen Südosten.
Und auf einmal sprang ein zweites hellweißes Wölkchen
mitten am Himmel aus, just dort, wo der Vogel jetzt flöge,
wenn er den Bogen nicht begönne hätte. Es war viel näher
als das erste. Deutlich vernahmen die beiden einen ge-
dämpften Rnall, und zwei-, dreimal klatschte es von unten
gegen den Leib des Vogels. Der schien sich voller Zorn zu
schütteln und begann unwillig den Ropf zu heben und mit
donnerndem Gesang höher zu steigen . . .
Richtig, die beiden nächsten Wölkchen sprangen ein gut
Stück unter ihm, aber genau in seiner Flugrichtung, wie
zwei verlorene kleine Inseln schwammen sie geruhsam unter
ihm dahin und dehnten sich ganz allmählich zu luftigen
Schleiern . . .
Und nun begann ein lustiges Spiel tief unter dem dahin-
brausenden Vogel. Irgendein unsichtbarer Bewohner der
Luft schien sich ein sonderbares Vergnügen daraus zu machen,
S Be umeIburg, Flandern
17
die Flugbahn des Vogels am Himmel mit weißen pflöcken
abzustecken, ein neckisches Gesellschaftsspiel mit dem Brüllen-
den zu treiben, den Rasenden zu reizen durch wahllos umher-
gestreute wattepfröpfchen. Und ein Singen und Klirren
war am Himmel wie von dünnen Kinderstimmen und dem
gedämpften Aneinanderschlagen von Blechspielzeugen. Un-
willig umschrieb der Vogel große Kreise, stieg bald höher
hinauf, beugte sich dann wieder und stürzte hinab, indes der
wind heulend über seine Schwingen strich und die feinen
Drähte seiner Verspannung wie die Hellen Saiten einer
riesigen Geige erklingen ließ. Hartnäckig kehrte er immer
wieder zurück, um den zu entdecken, der dies respektlose Spiel
mit ihm zu treiben wagte. Aber lange Zeit war niemand zu
finden, indes schon der Himmel fast aussah wie ein Spiel-
brett mit lauter mutwillig durcheinandergeworsenen weißen
Bausteinen . . .
Aber dort steckte der heimliche Spieler! Zornig stieß der
Vogel mit tief gesenktem Kopf herab, um seine Augen besser
benutzen zu können. In engen Kreisen wand er sich über
dem Nordrand von Lomines, wo Bahn, Straße und Kanal
sich in den wiesen begegnen. Just am Rande einer dichten
Hecke sprang unablässig vierfach hintereinander ein ge-
dämpftes Blitzen auf, und wenn der Vogel emporschaute
zum Himmel, von dem er in diesem Augenblick herabgestürzt,
erkannte er, daß jedesmal nach dem vierfachen Blitz dort
oben vier weiße Wölkchen rasch hintereinander hervor-
gezaubert wurden . . .
Der auf dem Rücksitz machte ein Zeichen in die Karte,
beugte sich zu dem am Steuer und klopfte ihm dreimal mit
ausgestreckter Hand auf den Rücken. Zufrieden brüllend nahm
der Vogel Richtung gen Nordosten und kletterte wieder
hinauf Ln den Himmel, indes weit hinter ihm das enttäuschte
Feld zahlloser niedlicher Wölkchen verschwamm . . .
Roulers lag weit ausgebreitet unter dem Flug des Vogels.
Seine Augen erkannten deutlich, wie sich dichte Massen des
Volkes auf den Straßen drängten und nach oben schauten,
wo der einsame Fremdling mit lautem Gesang eine neue
Zeit ankündigte. Fast vermeinte er, ihre erregten Stimmen
is
hören zu müssen oder die Gesichter zu erkennen, die halb
Zorn, halb Angst waren . . .
Gleich einem gesteckten Wurm kroch ein Züglein südwestlich
nach Moorslede und Zonnebeke, wo die feinen Eisenstränge
sich im Gewirr der Waldstücke und des leichten Höhenrings
um Zypern verloren. Der weiße Rauch der Lokomotive
hinterließ eine lange Rette, als zerre der Wurm in un-
geduldiger Hast eine Schleppe hinter sich her. Erst als der
Vogel die Augen sehr anstrengte, entdeckte er auf den einzel-
nen Gliedern des Wurmes feine kleine Stäbchen und
Rästchen, und um jedes Stäbchen und Rästchen herum regten
sich wie Maden zierliche Geschöpfe. Die Stäbchen glitzerten
so merkwürdig im Sonnenschein und alles war so fein ge-
ordnet, daß der Vogel unbedingt sich dies Spielzeug näher
anschauen mußte. Jählings stieß er Ln einer steilen Rurve
nieder aus den Wurm, der sich vor Schrecken Ln einem
großen Logen zu entwinden suchte. Aber er war ja gefesselt
an den eisernen Strang . . .
Nun raste der Vogel mit einem ungeheuren Rauschen
wenige hundert Meter der ganzen Länge nach über den
keuchenden Wurm dahin, plötzlich, als man schon glauben
konnte, er wolle mit seinem Schnabel sich in den Leib des
Rriechenden bohren, stieß er ein triumphierendes Gebrüll aus
und warf sich dröhnend wieder hinauf. Seine Augen hatten
alles gesehen. Und der Ln seinem Leib Geborgene beugte sich
über die Rarte und machte ein Zeichen: „Ein Transport
Artillerie südwestlich Roulers, Richtung auf Zypern . . ."
Just als der Vogel hinausstieß gen Himmel, bellte es unter
ihm in wilder Hast auf, und stoßweise fuhr ein gellendes
pfeifen und Zischen, ein irres Rattern und Schlagen in ohn-
mächtigem Zorn hinter ihm her. Er schüttelte nur das
Gefieder und gab sich nicht einmal Mühe, sich nach dem
Beller umzuschauen . . .
Immer noch standen Ln Roulers die Menschen auf den
Straßen und blickten unter wilden Armbewegungen und
drohenden Verwünschungen gen Himmel, wo sich das
Dröhnen langsam im Norden verlor . . .
* »
über den Türmen von Thourout zog der singende Vogel
einen gewaltigen Halbkreis und wandte sich gegen Nord-
s*
Z9
westen. Die Straße nach Ostende, rechts und links in un-
absehbarer Reihe punktiert von herrlichen Bäumen, gab ihm
Richtung. Gar possierlich war, wie die Bäume erst als lange
Riesen von ferne auf ihn zutraten, dann immer mehr zu-
sammenschrumpften, je näher sie ihm kamen, als dicke Rugeln
sich unter seinem Leib hinwegstahlen und weit hinter ihm
sich langsam wieder aufrichteten. Als duckten sie sich unter
seinem durchdringenden Blick wie Igel vor den Augen des
Fuchses . . .
Schon sah der Vogel weit im Nordwesten quer vor sich
hingestreckt das silberne Band des Nieuport-Banals, der sich
östlich von Ostende mit dem Ranal von Brügge vereinigt,
als ein sonderbares Schauspiel dort unten seine Aufmerksam-
keit feffelte.
Diesseits des Ranals war ein seltsames Rrabbeln von
winzigen Wesen auf der Erde, ein Hin- und Hereilen, ein
Vorwärtsbringen und dann wieder Einhalten. Schnurstracks
eilte der Vogel darauf zu, und als er gerade darüber war,
begann er große Rreise zu ziehen. Nun entdeckte er eine
lange Reihe von diesen winzigen Wesen, die alle neben-
einander hinter einer langen Weidenhecke lagen und ihre
Gesichter gen Osten gekehrt hatten. Nicht weit von diesen
entfernt, einzeln verstreut über das Wiesenland, krochen
andere von Osten heran. Jetzt lagen sie ganz still, jetzt
schienen sie plötzlich wie auf geheime Verabredung aufzu-
springen und denen hinter der Hecke entgegenzueilen. Aber
viele von ihnen hielten mitten in der Bewegung Lnne und
blieben regungslos auf der wiese liegen, während die anderen
plötzlich nach der Seite liefen und hinter einem Gehöft sich
Versteckten. Deutlich konnte der Vogel sehen, wie sie sich auf
Ostseite des Hofes eng zusammendrängten und ordneten,
wie Maulwurfshügel auf dem Felde lagen mucksmäuschen-
still die Zurückgebliebenen. Nur hier und da bewegte sich
einer ganz langsam zurück über die wiese, ach, so langsam!
plötzlich aber entdeckte der Vogel eine dichtgeballte gelbe
und schwarze Wolke, die aus dem Gehöft hervordrang. Die
Wolke verzog sich zu einem grauen Schleier, aus dessen
Rändern auf einmal die winzigen Wesen hervordrangen.
Sie eilten Ln wilder Hast nach allen Seiten, und wieder hielt
so mancher in der Bewegung ein und streckte sich auf der
wiese aus. Das Feld war nun schon ganz getüpfelt von
ro
kleinen Punkten, deren jeder bis vor kurzem noch ein lebendes
Wesen war . . .
Und nun sprangen mitten aus der wiesenfläche, erst hier
und da und dann Ln beinahe regelmäßiger Folge graue
Wölkchen aus und hinterließen jedesmal, wenn sie zu dünnen
Schleiern verwoben, einen dunklen Fleck mitten im grünen
Sammet des Rasens. Aber es waren schon keine von den
winzigen Wesen mehr zu sehen, außer denen, die verstreut
umherlagen. Und die vermochten die tanzenden Wölkchen
nicht mehr in Bewegung zu bringen . . .
Als der Vogel einen weiten Rreis gegen Westen zog,
um zu erkennen, wer denn diese Wölkchen über das Feld
streute, entdeckte er dort, wo zwischen Lesfinghe und Slype,
ein paar kümmerlichen Häuserblöcken, die Brücke über den
Ranal führte, wieder dies vierfache gedämpfte Blitzen, das
unaufhörlich aus einer Hecke fuhr. Und abermals machte der
über die Rarte Gebeugte ein Zeichen, ehe der Vogel in
scharfem Bogen sich rückwärts gegen Osten wandte . . .
Und nun sah es dort unten ganz anders aus. Von Osten
heran, weit von rückwärts, dicht neben dem Ranal, schlängelte
sich ein grauer Wurm. Von seinem Ropse lösten sich nach-
einander lange Fühler und zogen sich quer durch die wiesen.
Dann trennten sie sich von dem Leib und krochen für sich allein
vorwärts, indes sie immer lockerer wurden und schließlich
nur noch aus einem losen Gewebe von Punkten bestanden.
Hinter dem Punktschleier sammelten sich kleine dichtgeballte
Häuflein, die jedesmal hinter Hecken und Mauern einhielten,
bis die Punkte weit nach vorwärts gedrungen waren. Dann
folgten sie langsam und zögernd Ln Zickzackbewegungen nach.
Fernab im Osten am Ufer des Ranals war der Zug des
grauen Wurmes erstarrt . . .
Da kam auf einmal Bewegung in die Reihe der winzigen
Wesen, die hinter der Hecke ausgestreckt lag. Erst kurz vor
ihnen, dann mitten unter ihnen tanzten neue graue Wölk-
chen auf. Nun sprangen die ersten auf und eilten über die
wiese zurück nach einem walbfleck in ihrem Rücken, in dem
sie nacheinander untertauchten. Aber nicht alle verschwanden
dort. Jeder dritte oder vierte blieb regungslos liegen und
ließ sich auch nicht mehr erschrecken durch den dichten Tanz
der Wölkchen. Das war just in dem Augenblick, als von
Osten her von allen Seiten die Punktschleier dicht heran
waren und sich gegen die Hecke zusammenzogen. Nun gingen
die Schleier langsam hinweg über die dunklen Häuflein
östlich der Hecke. Aber ihre Bewegung vermochte keinem
dieser Häuflein neues Leben zu geben. Unbeweglich blieben
sie hinter den andern zurück . . .
plötzlich sprangen die Wölkchen von der Hecke in großen
Sätzen über das Feld hinweg, tanzten einmal vor und ein-
mal hinter dem waldfieck und mußten nun wohl mitten
darin sein. Aber das konnte der Vogel nur daran erkennen,
daß sich ein grauer Schwaden langsam rings um das Wäld-
chen zog und über das Feld kroch. Indes die von Osten
heranziehenden Punkte an der Hecke anlangten, stürmte es
aus der Westseite des Wäldchens in wilder Hast davon. Und
das war das Seltsame: Ln dem Wäldchen hatten sich die
winzigen Wesen alle vergrößert, aus Punkten waren läng-
liche Schifflein geworden, die Ln vielfach vergrößerter Ge-
schwindigkeit über das Feld rasten, bis sie die Straße nach
Slype erreichten . . .
Noch ein Blick warf der Vogel auf den langen Wurm
östlich am Kanal. Als er sah, wie der sich ganz langsam
wieder gen Westen in Bewegung setzte, bog er zufrieden
nach Norden . . .
Schien es ihm nicht, als müsse dort oben in weiter Ferne
sich schon das Meer breiten und das Ende seines Kreislaufs
kündigen-
über den weißen Streifen der Dünen und des Sand-
strandes glitt der Vogel hinaus auf die brodelnde Fläche des
Meeres. Es schien, als schwelle sein Gesang an zu einem
stolzen Lied über die Vollendung des Kreislaufs und als
stürze sein grauer Leib, befreit von den Hemmnissen der
Erde, noch stürmischer voran . . .
Hüte dich, jauchzender Vogel! Dein donnerndes Lied ver-
schlingt das ferne Brausen, das von Südwesten her brandet.
Deine gen Norden gekehrten Blicke schauen nicht den glitzern-
den Punkt, der, gleich dir hoch über das Meer getragen,
windschnell Ln deinem Rücken sich nähert.
Schaue dich um, jauchzender Vogel!
Aber eben jetzt, da die Gefahr sich dir naht, erkennst du
geradeaus, wo tief unter dir Meer und Himmel in einem
rr
lichten Streif sich begegnen, drei, vier langhingezogene
schwarze Striche. V?un biegen sich alle Ln ebenmäßiger Be-
wegung zu vier nebeneinander verlaufenden Rurven. Und
nun wird aus den vieren plötzlich nur einer, der lang hin-
gestreckt herankriecht. Erkennst du die kleinen grauen Räfer,
die sich kaum abheben von der Fläche und sich nur durch
die schwarzen Schleppen verraten, die sie träge hinter sich
herzerren)
Schau dich um, jauchzender Vogel!
Längst hat dich der andere erspäht. Er ist kleiner als du
und viel schneller. Er klettert steil in die Höhe, um über dich
zu gelangen. Er führt nichts Gutes im Schilde, sonst würde
er nicht bald rechts, bald links schwenken, um dich nicht zu
überholen und immer hoch in deinem Rücken zu bleiben . . .
Die vier Räfer da unten stieben auseinander und zer-
streuen sich über die Fläche. Suchen sie etwas oder fürchten
sie, daß du sie angreifst)
Jetzt! Jetzt geschieht es! wahre dich!
Der kleine behende Vogel senkt plötzlich den Schnabel tief
und stößt wie ein Sperber auf den Rücken des großen hinab.
Ein Helles Rnattern erklingt als sein Rampfruf. Hageldicht
pfeift es durch die Luft, und feine weiße Striche spreizen sich
von der Spitze seines abwärtsrasenden Leibes, als spucke er
Giftstrahlen gegen den Feind.
Der große Vogel hat just Ln diesem Augenblick einen Halb-
kreis begonnen, um gerade über das ängstliche Gewirr der
Räfer zu kommen. Da prasselt das Rnattern gegen ihn an.
Verdutzt schwankt er eine Sekunde lang, als wollte er die
Pfeile aus seinem Gefieder schütteln. Dann, jäh erkennend,
beugt sich sein Ropf, und er fällt beinahe senkrecht hinab
auf die Räfer zu. wie pfeift der wind durch die Drähte!
Fast scheint es, daß die Flügel den ungeheuren Druck nicht
halten können und brechen wollen . . .
Schon bäumt sich der Sperber Ln jähem Triumph auf und
zieht einen engen Rreis, die Augen starr und blutgierig auf
den Hinabstürzenden gerichtet. Schon laufen die Räfer dicht
zusammen, als fürchteten sie, der todwunde Riese werde sie
im Fall begraben.
Da überbrüllt der tosende Gesang des Stürzenden das
ganze Feld. wie mit einem Ruck hebt sich der Ropf, die
Flügel scheinen sich zu breiten. Zornbebend hält er Ausschau
rz
nach dem Sperber, den Blick abgekehrt von den verdutzt
hockenden Rasern. Hoch oben, im grellen Sonnenlicht, windet
sich in kleinen Rreisen der Räuber. Jetzt, wie er den Riesen
neu erwachen sieht, stößt er abermals mit wild klatschendem
Geschrei und pfeifender Wut herab, und sein Schnabel speit
in rasender Folge Schlag auf Schlag und Blitz aus Blitz.
Der ganze Himmel scheint zu erbeben unter dem Lärm . . .
Schwankt er nicht, der große Vogel- Geht nicht ein Beben
durch seinen grauen Leib- Beginnen die Flügel nicht zu er-
zittern und unmerklich zu schaukeln; wird sein Gesang nicht
auf einmal stockend; warum, warum läßt er sich denn nicht
abermals hinabsallen; Er stößt ja mitten aus ihn, der
Sperber! Er ist ihm ja wehrlos ausgeliefert, dem Räuber!
Macht ein Ende, ein Ende! Jetzt . . . jetzt muß er fallen,
der Riese! Ist das die Vollendung des Kreislaufs;
Der Sperber bäumt sich, schießt vorüber, klettert steil
hinauf, wendet sich fast auf der Stelle, senkt den Rops wieder
und schüttet sein Rnattern und prasseln in pfeifendem Hinab-
stürzen abermals über den geradeaus ziehenden Riesen. Es
ist ein Bild zum Verzweifeln . . .
Und jetzt das gleiche. Es ist, als ob er nicht sterben könne,
der Riesenvogel. Es ist, als ob er todesröchelnd sich dahin-
schleppe, indes sein Herzblut langsam ins Meer hinabtropfe.
Viermal hat der blutlechzende Räuber das grausige Spiel
wiederholt. Zahllose kleine Löcher übersäen die Schwingen
des Riesen. Aber noch schlägt sein starkes Herz, noch schallt
sein dumpf brüllender Gesang über das Meer . . .
Und zum fünftenmal klettert der Sperber in die Höhe . . .
Da geht ein letztes Zucken durch den Leib des Riesen. Jäh
schreit er auf, und gellend entsteigt seinem Rörper eine Reihe
prasselnder Schläge. Klatschend brandet das Geprassel gegen
den Räuber, der sich, seines Sieges gewiß, dicht über dem
Sterbenden gehalten. In wilder Wut steigen die rasenden
Pfeile unablässig hinauf. Es scheint, daß aus dem Gefieder
des Sperbers die Federn stieben. Noch versucht er, auf der
Stelle zu wenden und sich auf den erwachten Riesen zu
stürzen . . .
Da geschieht es im Bruchteil einer Sekunde . . .
Ein gleißender Funke glimmt mitten im Leib des Raub-
vogels auf. Ein gelbes Flammengesprühe lodert. Der Ropf
fällt jäh nach unten. Eine Schwinge knickt zusammen und
24
löst sich vom Körper. pechschwarzer Qualm schießt hervor
und ballt sich zu einer Säule, die mit rasender Geschwindig-
keit sich nach unten verlängert. Am abwärts stürzenden Fuß
der Rauchsäule glitzert ein zuckendes Feuer. Und verlischt
tief unten im Meer, mitten zwischen den heraneilenden
grauen Käfern. Fast unbewegt steht die Gäule über dem
Punkt, an dem der Räuber versunken, und ihr Haupt breitet
sich langsam zu einer Wolke . . .
Längst, nachdem der Gefallene untergetaucht, klatscht ab-
seits nach zickzackartigem Herabstürzen der abgebrochene
Flügel ins Meer . . .
Tief über der Fläche eilt der Riesenvogel dem Land zu...
Auf dem rückwärtigen Sitz in seinem Leibe krümmt sich
der Beobachter, die Hand noch am Maschinengewehr, das
Auge schon gebrochen, das Gesicht blutleer, die Lippen blau
und fest zusammengekniffen. Der im Vordersitz beugt sich
zurück. „Nur Mut!" brüllt er. Aber der Gesang des Vogels
verschlingt seine Stimme. Der Sterbende versucht zu
lächeln . . .
Auf dem Boden des Beobachtersitzes sammelt sich langsam
eine Lache von rotem Herzblut . . .
So vollendete der Vogel den Kreislauf, indes die vier
grauen Käfer zurückblieben und nach dem Gefallenen suchten.
Sie fanden aber nichts als den Flügel, der halb verbrannt
und von vielen Kugeln durchbohrt auf der Meeresfläche
schaukelte.
Die schwarze Rauchsäule verwob langsam zu einem riesigen
Trauerschleier . . .
Aufmarsch
Am Nachmittage des 9. Oktober 1014 läuteten in ganz
Deutschland die Glocken. Sie schwangen ihr Lied über das
Häusermeer der Hauptstadt, sie sandten weithin ihre ver-
klingenden Wellen über die Nordsee, sie fingen sich im
Widerhall der Steilwände am Fuß der Alpen, sie wanderten
über den aufhorchenden Rhein. Mit dem Rauschen der
Tannen im Schwarzwald vermischte sich ihr Gesang wie mit
dem leisen wehen Ln den Buchenkronen auf Rügen.
Antwerpen gefallen!
Die Übergabe der bedrängten Festung war durch die
Unterschrift der aus der Stadt gesandten Abordnung und
des Angreifergenerals von Beseler vollzogen. Aus dem
Rathaus wehte die deutsche Kriegsflagge. Mit blumen-
geschmückten Gewehren strebten die Marschkolonnen der
deutschen Infanterie aus der Linie der zertrümmerten Forts
und Feldstellungen von Süden und Güdosten Ln die Stadt.
In den Forts pferchten sich die Gefangenen. Der brüllende
Orkan des Geschützfeuers war aus dem Weichbild gewichen
und verklang mit dem Abend gegen Westen, wo die Mehr-
zahl der belgischen Verteidiger in guter Ordnung und voller
Grimm über den Verlust der für uneinnehmbar gehaltenen
Festung, des letzten Bollwerks ihres unglücklichen Landes,
unter Nachhutgeplänkel mit deutscher Kavallerie ab-
marschierte.
Zwölf Tage hatte der Ansturm der Belagerer gedauert.
Der ursprüngliche Plan, die Stadt von Westen, Süden und
Osten abzuschließen und dem Gegner nur die Wahl zwischen
Übergabe, Flucht nach Holland oder Tod zu lassen, scheiterte
an den schwachen Kräften der Belagerungstruppen. General
von Beseler verfügte außer über die Belagerungs-
artillerie, Pioniere und technische Truppen nur über die 5.
und 6. Reserve-Division seines III. Reservekorps, über eine
aus Marineinfanterie, Matrosenartillerie, einigen Landwehr-
rs
abtetlungen und Radfahrertruppen bestehende Marine-
Division, die 4. Ersatz-Division, die 1. bayer., r6. und
37. Landwehr-Brigade. Ihm stand die ganze belgische
Armee mit sechs Divisionen, verstärkt durch einige tausend
Engländer, gegenüber. Die Angreifer waren darauf ange-
wiesen, auf schmalem Raum von Süden her eine Bresche in
den dichten Rranz von Forts und Feldbefestigungen zu stoßen,
um sich innerhalb des Fortsgürtels nach rechts und links zu
verlängern.
Der Stoß gelang. Antwerpen fiel. Die Hauptteile des
Gegners marschierten westwärts ab, um entlang der Rüste
bis hinter die Äser zu gelangen, wo englische und französische
Verstärkungen zu erwarten waren. 5200 Belgier wurden bei
den Kämpfen um die Forts und im unübersichtlichen Zwischen-
gelände gefangen. In der Stadt wurden noch zahlreiche
Versprengte aufgegriffen. Die Zahl der erbeuteten Geschütze
beschränkte sich im allgemeinen auf die in den Forts ein-
gebauten Batterien, roooo Belgier und Engländer über-
schritten, nordöstlich von der Festung abgedrängt und von
der Befehlsverbindung mit ihren höheren Stäben abge-
schnitten, die holländische Grenze und wurden dort entwaffnet.
Und nicht einen Tag lang rastete der Angreifer. General
von Beseler wußte, daß sein Sieg nur unvollständig
war, solange der Gegner noch seine Gefechtskraft besaß. Am
io. Oktober begann die gegen Westen gerichtete Ver-
folgung, die unter leichten Gefechten mit den eiligst
zurückweichenden Belgiern am )5. bei Ostende das Meer
erreichte. Der linke Flügel des III. Reservekorps stand an
diesem Tage an der Pappelallee zwischen Thourout und
Roulers. Ein Befehl der Armee hieß das Rorps in dieser
Linie einstweilen verbleiben.
Neue Ereignisse hatten sich unterdessen angesponnen.
» *
Nach der Schlacht an der Marne, deren Ende die deutschen
Westheere Ln weit zurückgebogener Stellung von neuem dem
siegestrunken nachdrängenden Gegner die Stirn bieten sah,
hatte das Wettrennen zum Meere seinen Anfang
genommen. Der Gedanke nahm von den Gegnern seinen
Ausgang. Als sie erkannten, daß die deutsche Westfront
27
keineswegs in Auflösung zurückwich, sondern in den neuen
> Stellungen jedem Ansturm zum Trotz erstarrte, besannen sie
sich auf ihre guten Bahnverbindungen im Norden Frank-
reichs und auf die Tatsache, daß der weg der Ln Dünkirchen
und Calais an Land gehenden Engländer nach Lille, an die
Lys und zur Äser kürzer war als bis zur Marne und nach
Laon. Es entstand der Plan, die deutsche Westfront durch
Überflügelung ihres freihängenden rechten Flügels
umzubiegen und einzudrücken. Die deutsche Heeresleitung
begegnete rechtzeitig solchen Absichten.
Ende September stießen die verlängerten Heeresflügel
nördlich der Somme, bei peronne und Albert in blutigem
Zusammenprall aufeinander. Die Somme trank zum ersten-
mal Blut, ehe sie später darin versumpfte. In den ersten
Tagen des Oktober krallte sich die Schlacht in feuerspeiendem
Bogen um Lens und Arras. Ein Ringen hob hier an,
das bis Ln die Ausgänge des Jahres jn furchtbarer Ab-
wechslung die Armeen Ln seinem Bann hielt und mit den
ersten Regungen des neuen Frühlings abermals zu grellen
Flammen aufloderte. Deutsche Heereskavallerie
streifte in kühnen Vorstößen bis tief gegen die englischen
Verbindungslinien in der Gegend von Hazebrouck und Cassel
und verstrickte sich dort in Gefechte mit vorrückenden feind-
lichen Angriffskolonnen, vor denen sie langsam ostwärts
zurückwich.
Und dann erwachte jäh die Schlacht im ersten Drittel des
Oktober im Herzen des französischen Industriegebietes, zu
beiden Seiten des ehrwürdigen Lille. Der Nordflügel
der 6. deutschen Armee, Teile des XIX. sächsischen Armee-
korps zusammen mit Landwehrtruppen, unterstützt von dem
XIII. württembergischen Armeekorps, traf dort auf einen
französischen Gegner, der den Auftrag hatte, die Festungs-
werke der Stadt unter allen Umständen zu halten, um die
Bewegungen der westlich heranrückenden io. französischen
Armee vor den Deutschen zu verbergen, während in diesen
Tagen die Truppen Beselers schon von Antwerpen
gegen Westen rückten, während die Heereskavallerie im
freien Raum zwischen der 6. Armee und der Rüste streifte
und die auffallenden Märsche des Gegners weit im Hinter-
land zu entwirren versuchte, entspann sich ein erbittertes
Ringen um Lille.
rs
Am ir. Oktober war der feindliche widerstand gebrochen.
Die Sachsen und die Landwehr rückten Ln die stark be-
schädigte und an mehreren Stellen brennende Stadt ein.
Viereinhalbtausend Mann französischer Territorialtruppen
fielen in die Hände der Sieger. Die Reste der Geschlagenen
wichen, hart bedrängt von den nachstoßenden württem-
bergern, kämpfend gegen die Lys zurück. Zwei Tage später
stand die 6. Armee in einem weiten Logen nordwestlich Lille,
der in Menin an der Lys seinen Anfang nahm und über
Tomines, Warneton, östlich Armentieres bis zu den West-
forts von Lille sich wölbte. Zu dieser Zeit hatte Besel er
die Linie Ostende—Roulers erreicht. Die belgische Armee
war auf dem weiteren Rückzug längs der Rüste hinter die
Äser. Zwischen dem linken Flügel Leselers bei Roulers
und dem rechten Flügel der 6. Armee bei Menin klaffte eine
gähnende Lücke, verschleiert durch Ravallerieabteilungen.
Die Hauptmasse der Heereskavallerie streifte immer noch
gegen die rückwärtigen feindlichen Verbindungen im Raume
östlich Hazebrouck und (Lasset.
Als die Reiter von ihren Streifen und ihren täglichen
plänkelgesechten zurückkehrten, begann sich das Bild der
Rrästeverteilung zu entwirren. Mit einemmal wurde der
gewaltige Umfang der feindlichen Absichten im Raume
zwischen Lille und dem Meere klar und die furchtbare Gefahr,
die den schwachen deutschen Rräften zwischen Ostende, Rou-
lers und Menin drohte.
» *
*
General French, der ehrgeizige Führer der englischen
Landarmee, hatte sich Anfang Oktober an den französischen
Oberbefehlshaber Joffre gewandt und darum ersucht, ihn
mit der Durchführung eines auf große englische und
französische Truppenmassen gestützten Angriffs gegen den
deutschen Nordflügel in Richtung auf Antwerpen und die
Rheinlinie zu beauftragen. Ioffre, der über das Stecken-
bleiben seines frontalen Vorgehens gegen die deutschen West-
heere enttäuscht war, entsprach den Vorschlägen des eng-
lischen Generals und stellte für den geplanten Großangriff
neben der S. und )c>. französischen Armee starke französische
Territorialabteilungen und Ravallerieformationen zur Ver-
fügung. Alle weiter südwärts eingesetzten englischen Ver-
bände wurden für den nördlichen Stoß frei gemacht. Die in
rascher Folge aus England neu heranbeförderten Massen
wurden Ln Dünkirchen und Calais ausgeladen und auf
kürzestem Wege in die Angriffslinie eingeschoben. Noch
standen Antwerpen und Lille. French wußte, daß die deut-
schen Angriffskräfte vor Antwerpen nicht allzu stark waren.
Er rechnete mit einer längeren Belagerung, die er durch
seinen Angriff mitten durch das schwach besetzte Belgien
hindurch und nördlich an dem rechten Flügel der deutschen
Armeen vorüber abzukürzen gedachte.
Aber noch war Frenchs Aufmarsch nicht vollendet, als
am )S. Oktober überlegene englische Ravalleriekräfte bei
Roulers eine deutsche Radfahrerpatrouille umzingelten und
gefangennahmen. Die Gefangenen wurden zum Haupt-
quartier gebracht. Ihre Regimentsnummern waren bisher
ganz unbekannt. Aus aufgefundenen Papieren und Notizen
erfuhr French mit jäher Erkenntnis von einem voll-
endeten Aufmarsch und einem für morgen zu er-
wartenden Angriff einer aus fünf Armeekorps bestehenden
neuen deutschen Armee!
woher kamen die unendlichen feldgrauen Rolonnen, die
singend, in fröhlichen Märschen, Helme und Gewehrläufe
geschmückt mit grünen Zweigen, tagaus tagein von Osten gen
Westen durch Belgien hindurch nach der flandrischen Ebene
zogen; woher rollten die Züge auf allen Bahnstrecken südlich
Brüssel, die in schier endlosem Reichtum Menschen und
Ranonen von sich gaben und den kerzengrade sich streckenden,
mit riesigen Pappeln umsäumten Straßen Flanderns anver-
trauten; was war dies für ein graues, lustiges Gewimmel
auf den Biwakplätzen und auf den Märkten der weit aus-
einandergezogenen vlämischen Dörflein; wer leitete an un-
sichtbaren Fäden diese unheimlichen Bewegungen, die das
Land anfüllten mit Staubwolken und klirrenden Schritten
und dem dumpfen Rasseln der stählernen Fahrzeuge; welcher
Wille beherrschte diese Massen, die, den Blick erwartungs-
voll gegen Westen gekehrt, nicht schnell genug die un-
berührten Gegenden hinter sich bringen konnten, begierig
den ersten Dag des Zusammenstoßes ^rechnend*
rs
In ungezählten Reihen zu vieren rückten die Compagnien
an, reihten sich zu Bataillonen, zu Regimentern, zu Divi-
sionen. Bärtige Männer mit dem kühlen Blick der Lebens-
erfahrung marschierten neben Rnaben mit Gesichtern aus
Milch und Blut, die mühsam das schwere Gepäck schleppten.
Strahlende Augen verbargen die kaum zu ertragende An-
strengung. Rücken, auf denen vor kurzem noch die Last der
friedlichen Arbeit geruht, beugten sich unter dem Tornister.
Hände, die vor Wochen noch den Federhalter geführt, klam-
merten sich fest um den Gewehrkolben. Augen, die nichts
gesehen als Bücher und Schriftlichen, maßen mit freiem
Blick die Ebene und die fernen Höhenzüge rings um Rpern.
Röpfe, die vor Wochen noch angefüllt mit den Regeln der
Algebra, den Oden des Horaz und den schwungvollen Peri-
oden lateinischer Rlassiker, verschwanden unter den stoffüber-
zogenen Helmen. Hier schritt der Lehrer mit dem Schüler,
der Meister mit dem Lehrling, der Mann mit dem Jüngling,
der Reiche mit dem Armen, der Ehemann mit dem Jung-
gesellen, der Student mit dem Arbeiter, alle im gleichen Rock,
alle im gleichen Schritt, alle mit dem gleichen Gedanken:
vorwärts!
Offiziere, die längst den bunten Rock mit dem Bürgerkleid
vertauscht und die bei dem großen Ruf wieder in die Front
geeilt waren, ritten an der Spitze der Rompagnien. Unter-
offiziere maßen mit dem grimmigen Blick der Verantwortung
die engen Reihen der Professoren und Studenten, aus denen
ihr Zorn und ihr Zureden Ln kurzen Wochen Schießkünstler
und Dauermärschler gemacht. Muttersöhnchen und Tauge-
nichtse schritten entschlossen und brav nebeneinander und
richteten den gehorsamen Blick auf den gestrengen Herrn
Feldwebel, würdige Oberlehrer, denen die Gelenke noch
schmerzten vom Auf und Hinlegen und vom Sprung-auf-
marsch-marsch Ln Jüterbog, Döberitz, Altengrabow und
Großenhain, verbissen das verräterische Zucken im Gesicht
und drückten krampfhaft die Rnie durch, was sollten denn
die Oberprimaner sagen, die nur darauf warteten, die er-
habenen Weltweisen von vorgestern auf einem Beine hum-
peln zu sehen) Raum dem Stock des Vaters entronnene
Rnaben, die tagelang von Ersatztruppenteil zu Ersatztruppen-
teil geeilt, bis endlich einer Erbarmen mit ihnen hatte, bissen
die Zähne aufeinander, damit man ihnen die Schmerzen im
31
Rücken und das Brennen der Fußsohlen nicht ansah, was
würden denn die Magister sagen, die schon immer gejammert
und gestöhnt: „Aus ihm wird nichts, er kann nicht einen
Gedanken zehn Minuten lang im Kopfe behalten und nicht
eine Sache eine Viertelstunde lang hintereinander be-
treiben!" Und wenn die Blicke unter dem Helm sich be-
gegneten, dann lächelten sie ermunternd. Und es hieß nicht
mehr „Herr Oberlehrer" und „Iungens", sondern Kamerad
und Du. Und wenn die vierte Kompagnie von hinten, wo
die Kleinsten sich abmühten mit Anschlußhalten, anstimmte:
„was blitzet so freudig im sonnigen Schein, was schreitet so
mutig einher", dann fielen dritte und zweite und erste ein.
Und bis es erklang: „Lebt alle wohl, es ziehn ins Feld des
Königs Grenadiere", dröhnte der Sang über das ganze
Bataillon und zündete das Regiment an . . .
Abends, im Biwak, wenn ein paar flackernde Feuer Bäume
und Häuser eigentümlich gespenstisch anmalten und ein ganz
leises fernes Rumpeln die Luft erfüllte, wenn das Rasteln
des Marsches verklungen und die Feldwachen und Doppel-
posten sich durch die Dunkelheit zerstreuten, wenn zwischen
wachen und Schlafen, zwischen Übermüdung und Vlerven-
reizung Vergangenes und Kommendes schroff aufeinander-
stießen, schlich wohl ein verschwiegenes Heimweh durch
manche Brust. Die Einsamkeit und die Nacht wecken viele
Stimmen, die am Tage und inmitten der Marschkolonnen
ungehört verklingen, was man nicht spricht, das wandelt
heimlich im Dunkeln, und Schatten sind am größten Ln der
Nacht. Aus Vorposten, fröstelnd im Mantel, kriecht vieles
durch die schweigenden Felder, was am Tage sich versteckt.
Das leise Rauschen in den Kronen der Bäume und das stille
plätschern im Bach flüstern eine eindringlichere Melodie als
der laute Gesang in Reih und Glied. Ganz unvermittelt
wölbt sich eine Brücke von der Schweigsamkeit der flan-
drischen Nacht bis nach daheim, wo die kleinen Brüder ihr
Nachtgebet sprechen für den großen, und wo Vater und
Mutter jetzt über die Karte gebeugt sein mögen und still
erwägen, wo jetzt ihr Ältester sein Haupt zur Ruhe betten
mag. Ach, der Stolz, mit dem er die zurückgebliebenen Kame-
raden verlassen, der feste Blick, mit dem er den Väter zum
letztenmal angeschaut, ehe das Züglein angezogen, schmilzt
hier im vlämischen Land und in der frierenden Oktobernacht.
32
Niemand sieht es außer dem schwarzen Schatten der Pappeln
allein — warum soll man da nicht einmal drei Minuten lang
(nur drei Minuten lang!) Heimweh haben, richtiges Heim-
weh- Beileibe keinem andern es eingestehen, aber vor sich
selbst, vor sich selbst allein; warum nicht einmal für ganz
kurze Zeit — gleich muß es ja wieder aufhören, damit es
nicht Schwachheit wird (nur keine elende Schwachheit!) —
warum nicht die paar Minuten lang noch einmal Rind sein
wie all die Zeit bis vor wenigen Wochen; warum nicht die
selbstgewählte Bürde der Männlichkeit einen ganz kurzen
Augenblick lang heimlich beiseitestellen und Sehnsucht, ganz
richtige kindische Sehnsucht nach dem tollen Unsinn der Ober-
tertia und dem entrüsteten Gepolter des schwerhörigen Direk-
tors oder dem piepsenden Zetern des spindeldürren Lehramts-
kandidaten haben; warum nicht einmal im Geiste mit den
andern im Boot sitzen und mit raschen Schlägen den Strom
hinabgleiten, unter der Brücke hindurch, von der s i e hinab-
schaut auf den Verehrer, s i e, die gerade ihn sich ausgewählt
vor allen andern, um mit ihm geheimnisvolle, duftende
Lrieflein zu tauschen: „Rannst du heute Abend um acht Uhr
am dritten Baum hinter dem Feuerwehrturm auf mich
warten; wenn ich in einer Viertelstunde nicht dort bin, hat
mich das Fräulein festgehalten oder ich muß Mama aus
Damms Klavierschule Fingerübungen vorspielen." warum
nicht dies alles ganz heimlich und verschwiegen unter dem
Rauschen der flandrischen Bäume und dem stillen plätschern
des Baches, eingemummt von der schützenden Oktobernacht,
noch einmal kosten — wenn's auch (seltsamerweise!) so weh
tut;
» *
*
Am iS. August 1914, als die deutschen Armeen sich an-
schickten, den gewaltigen Vormarsch durch Belgien zu be-
ginnen, und in den Vogesen und in Lothringen die feind-
lichen Hauptkräfte zum erstenmal aufeinanderstießen, ordnete
das preußische Rriegsministerium die Bildung von fünf
neuen Reservekorps an und gab ihnen die Nummern XXII
bis XXVI. Das Gerippe dieser Rorps bildeten Landwehr- und
Landsturmtruppen, zahlreiche bereits inaktive Offiziere, ein
geringer Teil abkommandierter aktiver Offiziere und Unter-
offiziere und einige Tausend Ersatzreserviften. Die Haupt-
Ar
3 DkumelLurg, Flandern
Masse der Truppen ergänzte sich aus der Million von Kriegs-
freiwilligen, die in den ersten Tagen des Krieges in allen
Teilen Deutschlands zusammenströmte, im Alter von bis
5O Jahren. Im allgemeinen bestanden die Regimenter zu
dreiviertel aus Freiwilligen, deren größerer Teil
wieder aus Studenten und höheren Schülern
sich zusammensetzte. Der Volksmund gab ihnen darum den
Namen „Rinderregimenter". Vor Dixmude, Bix-
schote, Langemarck und Becelaere mußten ihrer die meisten
sterben.
Unsägliche Schwierigkeiten bereitete die Ausbildung in den
Garnisonen. Rasernen standen nur zum Teil zur Verfügung.
In Schulen, Gemeindehäusern und amtlichen Gebäuden
schliefen die Freiwilligen auf Holzpritschen und Strohlagern.
Uniformen waren bis Ln die letzten Tage vor dem Ausrücken
nicht Ln ausreichender Zahl vorhanden. Vielfach wurde Dienst
in Zivil getan, mit umgeschnalltem Roppel. Die Gewehre
gingen reihum, damit jeder einmal ans Schießen kam. Das
Ausbildungspersonal war mit den neuen Vorschriften nur
mäßig vertraut, zudem kam auf mehrere Gruppen immer nur
ein Unteroffizier, und ein Leutnant war geradezu eine Rari-
tät. Die Rompagnieführer hatten keine Gäule, und wenn
schließlich einer kam, dann war es eine Rosinante, die ihrem
ehrwürdigen Alter und ihren Gichtbeinen zum Trotz den
Bierwagen mit dem Kriegsschauplatz vertauschen sollte.
Fahrzeuge standen allein auf dem Papier, und die Artille-
risten schossen an Hand der Schießvorschrift in ihren Kam-
mern. Stiefel und Leibwäsche waren Bestandteile eines
Märchens, die Kompaniekammern gähnten vor Leere.
Und dennoch gelang es! wenn nicht jener wundervolle
Geist die Hunderttausende beherrscht hätte, der jeden Ge-
danken und jede Bewegung dem Ziel der Rriegstüchtigkeit
unterordnete, wenn nicht jenes Gemeinschaftsgefühl
sie beseelt hätte, das einen den andern unterstützen, belehren,
fördern geheißen hätte: es wäre ein Ding der Unmöglichkeit
gewesen, aus diesem Wirrwarr von allen Seiten, aus allen
Berufen, aus allen Klassen, von jeder Altersstufe zusammen-
gelaufener Männer binnen zehn Wochen eine kampfbereite
Armee zu schmieden. Es waren keine kriegserfahrenen Regi-
menter, die um die Mitte des Oktober die blauen Uniformen
auf Kammer abgaben und sich in Feldgrau einkleideten. Es
54
haperte auch, wenn sie eine Schwenkung machten, und tue
Gewehrlage beim Marsch in Gruppenkolonne ließ viel zu
wünschen übrig. Mancher Minderbegabte hatte auch immer
noch nicht begriffen, daß er beim Schwärmen links vom
Vordermann in die Lücke treten müsse, und daß beim Hin-
legen linkes Rnie, rechte Hand, linker Ellenbogen den Boden
nacheinander zu berühren haben. Aber jeder von ihnen konnte
laden und schießen und wußte, wie der Tornister zu packen
war. Jeder verstand sich auf die simpelsten Formen des
Gefechts, wußte, wie die Fußlappen zu wickeln waren und
wie man das Seitengewehr aufpflanzt. Jeder von ihnen
schließlich hatte begriffen, daß man den Feind angreifen
müsse, wo man ihn träfe. Und jeder von ihnen kannte
den Satz aus dem Reglement: „Die Infanterie ist die Haupt-
trägerin des Rampfes, darum winkt ihr aber auch der höchste
Ruhm . . ."
Am 17. Oktober waren die Ausladungen überall beendet
und die Rorps in die ihnen zugewiesenen Aufmarschräume
eingerückt. Der Vormarsch begann.
In ihrer ganzen Breite war die 4. Armee seit dem Vor-
mittage des 17. Oktober auf dem Vormarsch begriffen. In
zahlreichen nebeneinander angesetzten Rolonnen rückten die
Rorps vor, indem sie starke Patrouillen und Sicherungen
vor sich her schoben. Die Eigentümlichkeiten des flandrischen
Lodens begannen sich bald bemerkbar zu machen. Unendlich
weit dehnte sich die Ebene. Bei klarem Wetter konnte man
von den Türmen der Rirchen und hochgebauten Häusern aus
die flachen Wellenlinien der Höhenzüge erkennen, die sich,
östlich Dixmude beginnend, durch den Houthulster Wald in
weitem nach Westen geöffnetem Bogen über passchendaele,
Gheluvelt und Hollebeke bis zum Remmel hinziehen. Von
Nordosten über Osten und Süden bis fast zum Westen ein-
gebettet liegt mitten darin das verträumte Äpern. Nur der
Norden ist freie Ebene, durch die sich der Ranal seinen weg
zur Äser sucht, nachdem er in zahlreichen Schleusen bei
Hollebeke und Voormezeele sich von Süden her mitten durch
den 50—60 Meter hohen Hügelkranz an die Stadt heran-
gemüht hat.
Einst, im 13. und 14. Jahrhundert, war Zypern die blü-
hendste unter den Städten Flanderns. Reiche und unter-
nehmende Raufleute brachten aus Italien die Runst der
Tuchweberei mit. Die Bürgerschaft begriff sofort den wert
dieses Geschenkes, schloß mit den seetüchtigen Bewohnern
von Brügge ein übereinkommen und ging an die Arbeit.
Nach zehn Jahren war Rpern eine der reichsten Städte vom
Meere bis nach Lille und Roubaix. Täglich fuhren die
schweren Rarren mit köstlicher Ladung über die holprigen
Straßen nach Roulers und Thourout, ehe sie nach zwei- oder
dreitägiger Fahrt in Brügge eintrafen, um die Ballen flan-
drischen Tuches den Händlern von Brügge gegen gute klin-
gende Münze abzuliefern. Von dort wanderten die Stoffe
Ln den Laderäumen der Rauffahrteischjffe um die ganze
damals bekannte Welt, und kein Stutzer war an den Höfen
Europas, der nicht den Ruhm der Tuchmacher von Zypern
gekannt hätte.
Aber eines Tages zog eine neue Zeit ein. Unauffällig und
ganz heimlich kam sie zuerst, ehe denn sie sich in frecher An-
maßung ganz offen breitmachte. Harmlos und wie ein Spiel-
zeug gebärdete sie sich im Anfang, bis sie hohnlachend den
Tuchwebern das Brot vom Mund nahm und ihrer Hände
Arbeit verspottete. Sie wagte sich nicht Ln die Stadt, denn
sie fürchtete sich im Grunde vor ehrlicher Hände Tun. Sie
blieb lauernd abseits in Menin und Tourtrai und sah mit
scheelen, neidsüchtigen Blicken nach Zypern hinüber. Sie rief
sich ein paar Landstreicher zu Hilfe und begann hinter ver-
schlossenen Türen ihr geheimes Werk. Erst lockte sie die von
Zypern mit klingendem Geld. Aber die wandten sich ver-
ächtlich ab und beluden ihre Rarren für die Fahrt nach
Brügge. Dann aber zeigten die Ln Brügge denen von Zypern
die neuen Tuche aus Tourtrai und Menin und bewiesen
ihnen, daß sie ebensogut und viel billiger seien. Da ver-
schleuderten die von Zypern erst ihrer Hände Arbeit um einen
Gotteslohn und ballten die Fäuste dann in ohnmächtiger
Wut, als sie die ausländische wolle nicht mehr bezahlen
konnten. Und dann ließen sich viele von der neuen Zeit in
Lourtrai und Menin Ln die dunklen verschlossenen Häuser
sperren, wo sie ihrer Hände Runstfertigkeit eintauschten gegen
stumpfsinnige Griffe an Hebeln und Hölzern. Da hatte die
neue Zeit den Sieg davongetragen, und auf der Straße nach
Roulevs wurde es still von den hohen zweirädrigen Darren
aus Wern. Die Stadt begann einen langen, langen Schlaf,
träumend von dem emsigen Gang der Webschifflein und den
herrlichen Ballen wundervollen Tuches, von den blinkenden
Dukaten und dem fröhlichen Gesang der Lehrbuben und
Gesellen. Auch Brügge sank in Schlaf, als Menin und Lour-
trai ihre Ware südwärts und ostwärts über Land zu schicken
begannen. So ruhten die beiden emsigen Schwestern neben-
einander aus von ihrer Arbeit, und die Zeit schien an ihnen
mit leisen Schritten vorüberzugehen, um ihren Dornröschen-
schlaf nicht zu stören . . .
*
Vor mehr als einem halben Jahrtausend barg die sagen-
reiche Stadt einen unheimlichen Gast Ln ihren Mauern. Das
war der Tod von Wern. Aus der Fremde war er gekommen,
von niemandem bemerkt, in der Brust irgendeines verborgen,
der von draußen heimkehrte. Er blieb nicht in Genua, nicht
Ln Bordeaux, nicht Ln Calais und nicht in Brügge, sondern
machte sich schnurstracks auf den weg nach Wern, als wisse
er, daß dort seine Heimat sei. Und wo ihm unterwegs
lachende Menschen begegneten, da dachte er: „wartet nur,
bald werdet ihr eure Gesichter verzerren!" Und wo er das
Dorn unter den Sicheln der Mähleute fallen sah, da flüsterte
er: „warte nur, bald wird niemand mehr dich schneiden, da
ich die Sichel zu einer anderen Mahd brauche!" Und als
nach wenigen Tagen die Stadt mit jähem Entsetzen das
bleiche Gesicht des Fremden erkannte, da war es längst zu
spät.
Der Tod von Zypern begann seine Mahd. Er stieg aus der
verbrennenden Brust dessen, der ihn über die Straße und
das Meer in diese Stadt getragen, und erwürgte ihn mit
kaltem Griff. Dann wußte er, wie es zu machen war. Er
ging in das Nebenhaus, wo der Meister mit Weib, Rindern
und Lehrbuben beim Vespermahl saß, trat in die Stube,
indes der Meister gerade Jesus Christus um sein Zugegen,
sein beim Mahle bat, und tupfte ganz leise den jüngsten
Lehrbuben auf die Stirn. Da half kein Schreien, kein Beten
und wimmern, kein Aderlaß und kein geistlicher Zuspruch.
Nach zwei Tagen wälzte sich der Junge zum letztenmal unter
den brennenden Gualen der Schwären seines armen Leibes.
S7
Dann trugen sie ihn hinaus, indes der Tod von Wern längst
die ganze Straße auf seine Tafel geschrieben hatte.
Da erkannten ihn die von Wern. Und eine wahnsinnige
Todesangst durchrüttelte die ganze Stadt. Tausende flohen
blindlings davon. Ach, längst hatte ihnen der Tod von
Wern auf die Stirn getupft! Sie kamen nicht weit, ehe sie
niederbrachen. Gesellen trugen den Meister zu Grabe und
legten sich zum Sterben, als sie zurückkamen. Rinder weinten
um den Vater, und ehe sie ein einziges Tuch naßgeweint,
hörten sie den unsichtbaren Tod Ln ihrem Rücken kichern und
fühlten die Spitze seines kalten Fingers auf ihrer Stirn.
Rirchhöfe und Grüfte waren übervoll, die Totengräber sanken
neben die Särge, die Toten blieben in den Häusern, da
niemand sie mehr hinaustrug. Die Sterbeglocken läuteten
ohne Aufhören von den Türmen der Martinskirche, bis
niemand mehr war, der den Strang ziehen konnte. Alte
Leute schleppten sich mit der letzten Rraft auf den Rirchhos,
um dort vom Tod sich abholen zu lassen. Niemand mehr
wehrte sich gegen ihn, denn alle wußten, daß er nicht ruhen
und rasten würde, bis er seinen Hunger gestillt.
Und als er endlich über die Straße davonzog, hinterließ
er von zweimal hunderttausend Menschen nicht mehr
zwanzigtausend. Zufrieden nickte er über sein Werk und
versprach, daß er nach abermals einem halben Jahrtausend
wiederkehren werde . . .
Die Menschen wurden klüger und lernten, sich gegen den
Tod verteidigen. Die alten Leute von Wern erzählten ihren
Enkelkindern von dem bleichen Besucher, der ihre Urväter
heimgesucht, und vergaßen nicht hinzuzufügen, daß er nun
und nimmer wiederkehren werde, weil er Heuer sich nicht
mehr unsichtbar einschleichen könne, und weil man wisse, wie
man ihn abschrecken müsse. Und wenn ein Bursch zu einer
blassen Maid sagte: „Du siehst ja aus wie der Tod von
Wern!" dann lachten beide, weil der Tod von Wern nun
selbst gestorben sei. Niemand wollte sich mehr entsinnen,
daß er seine Wiederkehr nach einem halben Jahrtausend
angekündigt.
Und just als das halbe Jahrtausend um war, da war der
Tod von Wern wieder im Land.
Er war seiner Sache so sicher, daß er es verschmähte,
heimlich und leise, Ln einer Menschenbrust versteckt, seinen
5S
Einzug zu halten. Er gab sich auch nicht erst mit schwachen
Rindern ab, sondern er fiel mit gellendem Schrei erwachsene
Männer an und warf sie hin auf die Straße und auf die
Felder. Er wühlte nicht heimlich in ihren Gedärmen und
schlich nicht lautlos weiter, nachdem er an ihre Stirn getupft,
sondern er zerriß mit jähem Griff ihre Stirn und ihre Brust
und ließ ihr Blut zur Erde strömen. Schamlos und nackt,
brüllend und gröhlend ritt er durch die Luft auf feurigen
Strahlenbögen und hüllte sich in stinkende Schwefelwolken.
Fauchende Eisenstücke schleuderte er nach allen Seiten mitten
unter die zusammengedrängten Menschen und schrie vor
trunkener Wildheit, wenn ihrer ganze Gruppen auf einmal
zerrissen. Dem Freund, der dem Freund die Wunden ver-
band, stieß er die Lanze hinterrücks durch die Brust. Den
Ahnungslosen, der über die Straße schritt, sprang er mit
jähem Lärm aus weiter Entfernung an und trat ihn nieder,
daß sein blutendes Fleisch sich mit dem Lehm vermengte. In
rasender Tollheit lief er durch das Land und legte Feuer an
die Häuser, wenn hinter ihm rauchende Trümmer ver-
kohlten, pflanzte er längst den roten Hahn auf einen andern
Turm. Des Nachts, wenn ringsum gleich blutenden Wunden
die Flammen gen Himmel züngelten, fuhr er heulend und
pfeifend durch die Luft und machte hier und da unter
krachendem Lärm einen trunkenen Sprung.
Auf allen wegen zog er heran, hinter allen Hecken lauerte
er, in allen Wäldern versteckte er sich, alle Ranäle färbte er
mit seiner Lieblingsfarbe Rot.
Mit tausend Hämmern begann er auf die Stadt zu schla-
gen, die seine Wiederkehr vergessen. Hundert züngelnde
Feuer legte er an. Und wenn einer es wagte, den Brand zu
stören, fuhr er Ln einem heulenden Schwung heran und warf
den Vermessenen zu Boden, daß die Flammen über ihn
krochen gleich lüsternen Schakalen. Nach mondelanger Ar-
beit fand er, daß das Werk nur langsame Fortschritte mache
und verschwor sich, nicht eher zu ruhen, bis kein Haus dieser
Stadt ohne sein Mal sei. Er besann sich, daß er fünfhun-
dert Jahre gesäumt, und daß er sich darum Zeit nehmen
müsse, um alles zu Ende zu führen. Er nistete sich für den
Winter ein und ruhte sich aus. Und er begann im Frühjahr
mit verdoppelter Wut zu arbeiten. Er blieb auch im näch-
sten Jahre und begann im dritten, da es ihm immer noch
nicht schnell genug ging, mit einer hämmernden Walze hin
und her über die unglückliche Stadt zu fahren. Da sanken
die letzten Türme in Schutt.
Im fünften Jahre endlich fand er, daß ihm nichts mehr
zu tun übrigblieb, und verließ die Stadt, in der kein Leben
sich regte und kein Stein mehr über dem andern lag. Rings
um das schweigende Steinmeer breitete sich eine wüste.
So war der Tod von Apern nach fünf Jahrhunderten
wiedergekehrt, wie er es einst verkündet hatte . . .
während im Verlause des iS. Oktober sämtliche Rorps
der 4. Armee mit den Sicherungen des Gegners in Ge-
fechtsfühlung kamen, entspann sich auf dem rechten Flügel
der Armee bereits der Beginn der großen Schlacht. Un-
bekümmert um das Feuer der in immer größeren Mengen
auftauchenden englischen Kriegsschiffe drangen die Deutschen
Ln lichten Wellen durch die Dünen und entrissen um die Mit-
tagsstunde den erschöpften Belgiern westende.
Den ganzen Tag über brodelte das Feuer. Gegen Abend
trat vorübergehende Ruhe ein. Mitten in der Nacht begann
in der Gegend von Keyem heftiges Schießen. In das
Knattern der Gewehrschüsse mischten sich die harten Schläge
der Granaten. Stundenlang wogte der Kampf hin und her.
Die Verbindungen rissen ab. In Dunkelheit, Häusergewirr
und Heckenreihen focht jede Gruppe für sich, ohne Kenntnis
des Nachbarn. Allein das Feuer verriet die Linie der
Kämpfenden. Nachts um drei Uhr war auch dieser Lärm
vorüber. Keyem blieb fest in der Hand der Deutschen.
40
Decelaere
östlich Rpern schlängelt das Bähnlein nach Men in
sich langsam dem Höhenkranz entgegen. Links schimmert der
Teich vom Schloß Hooge. Rechts grüßen die Gehöfte
von Zillebeke, ehe die herrlichen Wälder nahe an die
Gleise herantreten. In tiefem Einschnitt geht es durch die
Hügel, bis auf einmal Gheluvelt an einer Biegung er-
scheint. Dann schleicht das Bähnlein Ln unmerklicher Wen-
dung nach Nordosten am Branz der Hügel vorüber, streift
links den wundervollen, gepflegten park von polder-
hoek, passiert einen verträumten Bachlauf, den Reutel-
beek, und zieht in weitem südlichem Bogen durch Beee-
laere hindurch. Hier ein Hof und dort ein Hof, hier eine
Häusergruppe und dort eine Häusergruppe. Ringsum wie-
sen, Bachläufe, weiden, Hecken, Waldstücke und Äcker. Und
über dem ganzen wie eine Glucke unter den Büchlein der
breite Bau der Birche...
Große Erregung ist im Ort. Auf dem Marktplatz drän-
gen sich Männer, Weiber und Binder zusammen. Von Ter-
hand und Dadizeele sind in der Nacht ein paar Männer ge-
kommen und haben gesagt, daß die Deutschen schon diesseits
Ledeghem sind. Sie brennen und sengen und schlagen alles
tot, was ihnen entgegenkommt. In Roulers haben sie mit
den Einwohnern gekämpft, die hinter verschlossenen Fenster-
läden das Feuer auf die Boches eröffnet, just als diese die
verrammelten Haustüren mit den Gewehrkolben einstoßen
wollten. Im Handumdrehen lagen ihrer eine ganze Anzahl
auf den Straßen. In Staden haben sie den Pfarrer ver-
haftet und wollen den Bürgermeister erschießen, weil vom
Birchturm herab Zivilisten eine Patrouille niedergeschossen
haben. Und in Eessen gar soll sich eine regelrechte Schlacht
zwischen den Boches und den Einwohnern abgespielt haben,
und die ganze Stadt sei am Brennen. Alles stehlen sie, alles
brennen sie nieder, Weiber und Binder sind nicht sicher vor
4)
ihren Messern. Das einzige Mittel ist, daß man sie ab-
schießt wie tolle Hunde.
Ein Alter macht darauf aufmerksam, daß es nicht klug sei,
wenn die Einwohner sich am Kampfe beteiligten. Sie soll-
ten Ln die Keller gehen und abwarten, bis die Schlacht dar-
über hinweggeschritten sei. was die Deutschen verlangten,
das müsse man ihnen geben. Das Kriegführen, das sei ja
Sache der Engländer. Ein paar murmeln Beifall und wen-
den sich schwerfällig um. Eine englische Kavalleriepatrouille
klappert Ln eiligem Trab ostwärts über den Marktplatz. Die
Karabiner liegen über den Sätteln. Die Gäule sind abgehetzt
und stolpern. Die Reiter über und über mit Dreck bespritzt.
Die Gesichter sind todernst. Ihre Träger wissen schon um
das Sterben. Vielleicht waren sie gerade zurückgekommen
von vorn, wo ihrer ein paar aus den Sätteln geschossen
waren, hatten Meldung gemacht und trabten wieder aufs
Feld hinaus.
Als sie dicht neben den Leuten von Becelaere waren, trat
einer aus sie zu und hob die Hand. Der Führer der Englän-
der parierte seinen stolpernden Gaul, daß er mit der Hinter-
hand fast zusammenbrach, und beugte sich aufmerksam zu dem
Frager. Der sagte irgend etwas und wies mit der Hand
gegen Osten und dann auf die begierig wartenden Menschen
auf dem Markt. Der Engländer schüttelte den Kopf und
sah fragend seine Genossen an. Die vlämischen Laute waren
ihm unverständlich. Der flandrische Bauer zuckte mit den
Schultern und wandte sich seinen Leuten zu. Die Straße
klirrte abermals unter den Hufen der Pferde. Die Kara-
biner schaukelten über den Hälsen. Mit unbewegten Ge-
sichtern traben die Reiter ostwärts dem Dorfausgang zu...
Als vom Kirchturm die Uhr die zwölfte Mittagsstunde an-
kündigte, vernahm man ganz deutlich von Osten her das
lange Knattern der Gewehrsalven und die zuckenden Schläge
der Granaten. Nicht viel später galoppierte eine englische
Batterie aus der Straße von Terhand heran und stellte sich
nördlich des Dorfes hinter einer Hecke auf. Ehe zehn Mi-
nuten verstrichen, schrillten ein paar scharfe, fremdlautende
Kommandos, und krachend entfuhr es mit vierfachem Blitz
den Rohren. Irgend etwas heulte mit heiserem Zischen hoch
durch die Luft davon. Indes der größere Teil der Dorfleute
das Vieh zusammentrieb und ohne einen langen Abschied
4L
stumm in die Wälder im Westen verschwand, stiegen andere
langsam in die Reller und verrammelten die Türen mit
Brettern und Schubkarren und allem möglichen Gerümpel.
Sie saßen kaum eine Stunde darin, als zu ihren Häuptern
ein wildes Geschrei und ein hastiges Hin- und Herlaufen sich
erhob. Längst schoß die englische Batterie am Nordausgany
nicht mehr. Und dann verstummten auch die Schritte. Fast
eine Viertelstunde lang war eine lauernde Stille, in der man
jeden Schlag des Herzens vernahm.
Dann aber mit einemmal krachte aus allen Ecken und
Enden die Hölle los. wildes Gebrüll lärmte durch die
Straßen, als kämpften ineinander verbissene Raubtiere um
einen Fleischfetzen. Schläge klatschten, und Getroffene
schrien auf. Flüche gellten durcheinander mit Befehlen und
brachen jäh ab in einem ohrenzerreißenden Hammerschlag.
Brand knisterte heimlich und verriet sich durch brenzlichen
Geruch, der durch die Ritzen der Rellerlöcher eindrang, pfei-
fend rauschte es durch die Luft und krachte gegen die wände.
Alles aber überdröhnte von Minute zu Minute das rasselnde
Donnern. Dann erzitterten jedesmal die Gewölbe bis Ln
den Grund. Reiner wagte einen Blick auf die Straße.
Reiner bewegte sich. Eng aneinandergekauert zählten sie die
Minuten und die Hammerschläge und lauschten, ob das Ge-
schrei sich noch nicht entferne.
Als der Abend vom Himmel stieg, quoll rote Glut durch
die Ritzen der Rellerfenster herein. Und immer noch raste
das irre Gebrüll...
Morgens um 9 Uhr setzten sich die deutschen Marsch-
kolonnen aus dem Raume von Moorseele Ln Bewegung. Ein
unfreundliches Wetter herrschte. Feuchtigkeit und Rühle
machten die württemberger frösteln. Die umgehängten
Mäntel hinderten am Marschieren. In den verschlafenen
Röpsen der jungen Leute spukte die Erinnerung an die
Rämpfe des vergangenen Tages, in denen sie zum erstenmal
dem Tod begegneten.
Gegen io Uhr durchschreitet die Spitze das Dörflern Da-
dizeele. Merkwürdig ist, daß die Engländer, die den gan-
zen gestrigen Tag über eifrig geplänkelt, heute sich so zurück-
haltend zeigen. Ein paar Gewehrschüsse fallen aus dem
4Z
Waldstück links der Straße nach Terhand. Das ist alles.
Dre Spitzengruppe macht eine kleine Verbeugung, dann geht
es weiter. In Terhand sind alle Häuser verrammelt. Mit
vorgehaltenem Gewehr wird das Nest durchschritten, eine
Reihe links, eine rechts an den Häusern, jede die Fenster
gegenüber beobachtend. Man kennt die Geschichte seit den
Ereignissen in Roulers, wo es auf einmal aus den ver-
schlossenen Fensterläden hervorkrachte. Reine Spur von den
Engländern.
Am Westrand von Terhand kurzes Verweilen. Mit dem
Glase wird das Vorgelände abgesucht. Hecken und Zäune be-
engen die Sicht. Eine flache Mulde zieht sich nach Westen,
auf der anderen Seite steigt es ganz allmählich gegen Beee-
laere an. Um 4 Uhr, als sie etwa 300 Meter über Terhand
hinausgedrungen sind, beginnt es plötzlich am Rande von
Becelaere lebendig zu werden. Mit Hellem pfeifen fahren
die Rugeln durch die Bäume und klatschen gegen die Häu-
ser von Terhand. Inzwischen treffen in Terhand immer
mehr Teile der Division ein. Ein Menschengewirr ist in
den Straßen. Die Gewehre in der Hand, sammeln sich die
Rompagnien hinter den Häusern und lauschen aus das ver-
worrene Rnattern vom Westen her, das immer dichter
wird. Hoch oben durch die Luft hört man die (Querschläger
singen. Es wird nicht viel gesprochen, wer kann, lehnt den
Tornister aus eine Mauer oder auf einen an der Straße ste-
henden wagen. Die Rompagnieführer gehen zum Ba-
taillonsstab und nehmen die Angriffsbefehle entgegen. End-
lich, als von der Spitze ein paar zurückkommen, kann man
Näheres erfahren. Becelaere muß dicht besetzt sein von den
Engländern, die auf den deutschen Angriff warten. Bei
jeder Bewegung beginnen sie ein wildes Geschieße aus den
Häusern und den Heckenrändern. Ein paar Posten im Vor-
gelände gehen langsam auf den Dorfrand zurück. Die
Spitze hat schon zwei Tote durch Ropfschuß. Glänzende
Schützen sind die Engländer, und nichts ist von ihnen zu
sehen.
Rurz vor 1 Uhr gehen Rompagnien in langen Reihen
durch den Ort nach vorn. Im Schutz der Bäume und Gär-
ten treten sie auf das Feld, das ständig vom pfeifen der
Rugeln erfüllt ist. Am Rande der Gärten entwickeln sie sich
zum Gefecht.
44
Punkt 1 Uhr, als alle Truppen mitten in der Bewegung
sind, krachen hinter und nördlich Becelaere die ersten eng-
lischen Batteriesalven. In heulendem Schwung bricht es in
Terhand ein und schleudert Eisen, Steine, Feuer und Schwe-
fel umher. Gleich die ersten Granaten finden ihr Ziel. Ein
paar wälzen sich auf der Straße in ihrem Blut. Ein Augen-
blick der Verwirrung. Das Geschrei der Verwundeten klingt
markzerreißend. Die nächste Batteriesalve heult heran und
zerkracht in den Häusern. Rommandorufe schrillen. Die
Verwundeten werden von der Straße getragen. Zwei oder
drei rühren sich nicht mehr. Die jungen Leute machen ganz
große Augen, indes sie die Leichen derer beiseite schleppen,
die noch vor zwei Minuten mit ihnen in Reih und Glied ge-
standen. Blutlachen stehen auf der Straße. Vorbei. Am
Ostrand sammeln sich die Reserven in den Gärten und setzen
die Gewehre zusammen, indes die splitternden Teufel in dem
geleerten Dorf umherspringen und ab und zu durch ihr
Brüllen das abgehackte Rnattern der Infanterieschlacht hin-
durchgingen lassen. Jeden Augenblick muß der Befehl für
die Reserven kommen, die vordere Linie aufzufüllen.
Mutterseelenallein liegen die Toten im Dorf...
» *
Unterdessen brandet am Ostrand von Becelaere die er-
bitterte Schlacht. Die Batterien sind westlich Dadizeele im
freien Feld aufgefahren und schleudern ihre Eisentöpfe im-
mer zu sechsen nach Becelaere und auf die Straßenkreuze.
Aus einzelnen Häusern züngeln schon die Flammen. Der
Rirchturm weist ein gähnendes Loch auf, aus dem langsam
Rauch quillt. Unsichtbar feuern englische Maschinengewehre
ohne pause über das ganze Feld, und jede Bewegung weckt
gellende Schläge aus allen Hecken und Häusern. Immer
wieder springen die Gruppen auf und eilen vorwärts. Sie
sehen den Feind nicht und feuern dorthin, wo sie ihn nach dem
Rlang der Schüsse vermuten. Bei aufklärendem Wetter
kann man nördlich und südlich den Brand von Ortschaften
beobachten. Es ist gegen vier Uhr nachmittags...
Das I. Bataillon des Reserveregiments 245 ist am wei-
testen vorgedrungen und liegt dicht vor den ersten Häusern
des Ortes. Das III. folgt ihm dichtauf. Der Rommandeur
der 245er dringt mit der 2. Compagnie seines Regiments Ln
45
den Nordteil von Becelaere ein, während die 5. und 6. Rom-
pagnie von Osten herankommen. Der Rest des I. Ba-
taillons folgt der r. Rompagnie auf der Straße von Molen-
hoek her. Die 7. und S. Rompagnie verstärken die 5. und 6.
östlich des Dorfes. Zwischen 4 und 5 Uhr wird mit Hurra
auch von Osten und Südosten her eingedrungen. Die Eng-
länder gehen Ln den westteil zurück. Das Infanteriefeuer
schwillt ab. Vereinzelt nur peitschen die Rugeln durch die
Straßen. Ein Durcheinander von vier verschiedenen Ba-
taillonen ist im Dorf, das die Rompagnieführer zu entwirren
versuchen. Voller Granatlöcher sind die Straßen. Gruppen
von toten Engländern liegen umher, die das Artilleriefeuer
gefaßt. Die Häuser sind verschlossen, werden mit dem
Rolben abgestoßen und nach Engländern durchsucht. Nie-
mand ist darinnen außer ein paar zitternden Einwohnern.
Reiner denkt daran, den Brand der Häuser zu löschen. So-
bald die Rompagnieführer ihre gelichteten Häuflein bei-
sammen haben, geht es vorwärts gegen den westteil des
Ortes, wo der Engländer noch festsitzt...
Indessen hatte das III. Bataillon der 246er den Befehl, in
einem Abstand von 600 Metern den vorderen Truppen ge-
gen Lecelaere zu folgen und sich zur Verfügung des Bri-
gadekommandeurs General von Reinhardt zu halten.
Vergeblich versuchte das Bataillon, den Brigadestab zu er-
reichen. Als der Gefechtslärm am Rande von Becelaere
immer stärker wurde, entschloß sich der Rommandeur zum
selbständigen Eingreifen und entwickelte die Rompagnien
gegen den Südteil des Ortes. In raschem Lauf geht es
durch die Häusergruppen hindurch bis zum Südwestausgang.
Als die ir. und 10. Rompagnie das freie Feld betreten,
schlägt ihnen ein mörderisches Infanteriefeuer entgegen. So-
fort werfen sich die Schützen zur Erde. Links von ihnen
läuft die Chaussee nach Gheluvelt. Geradeaus dehnt sich
ein breites wiesenfeld, an dessen Ende, durch einen Bach ge-
trennt, der Waldpark von poezelhoek seinen Anfang
nimmt, weiter rechts schimmern die Wälder von Reutel.
Das irrsinnige Gewehrfeuer quillt aus dem Parkrand von
poezelhoek, wo jeder Baum mit einem feuernden Engländer
besetzt scheint. Schon ist es sechs Uhr durch und langsam be-
ginnt die Dämmerung. Aber das Schießen nimmt immer
mehr zu. Die beiden Rompagnien bringen es fertig, sich bis
46
aus eine kleine Erdwelle nördlich der Lhauffee vorzuschieben,
indes eine 50 Mann starke Feldwache in der linken Flanke
ein Gehöft etwa einen halben Kilometer südwestlich des
Kirchturmes besetzt...
Als das I. Bataillon der 245er den Westrand von Bece-
laere erreicht, ergeht es ihm nicht besser als den 24§ern links
von ihnen. Aus den Wäldern von Reutel rasselt ein solches
Infanteriefeuer, das sofort jede Bewegung erstickt. Nach-
folgende Schützenlinien werden bis fast auf den letzten Mann
zusammengeschossen. Die wiesen bedecken sich mit Leichen.
Es ist unmöglich, die Verwundeten durch den Feuerhagel zu-
rückzubringen. Sie müssen bis zum Anbruch der Nacht war-
ten. Die eigene Feldartillerie ist im Stellungswechsel be-
griffen und kennt die neuen Ziele noch nicht. Zu allem
Überfluß beginnt von der Westseite der Wälder her die
schwere englische Artillerie Becelaere zu beschießen, so daß die
Reserven durcheinandergeraten. An vielen Stellen flackert
der Brand. Mehrfach versuchen die Kompagnieführer, ihre
Leute sprungweise vorwärtszubringen. Die aufspringen-
den Linien brechen im Kugelregen zusammen. Die Unsicht-
barkeit des Gegners, seine Zielsicherheit, das Brüllen der
schweren Artillerie, die andauernden harten Verluste und das
gänzliche Abgeschnittenem gehen über die Nervenkraft der
jungen Truppen. Erst einzelne, dann ganze Truppen weichen
zurück in die ersten Däuser von Becelaere. Das Bataillon
wird zersprengt. Rechts vom I. haben sich Teile des
HI. Bataillons vorgearbeitet. Der Kommandeur, Oberst
Hesse, wird schwer verwundet, mehrere Offiziere fallen.
Die führerlosen Truppen geraten in heftiges Schrapnell-
feuer und erleiden schwere Verluste. Gleichwohl dringen sie
etwa loo Meter über den Ort hinaus vor und stellen einen
flüchtigen Graben her, in dem sie sich notdürftig gegen das
Infanteriefeuer schützen. Entsetzlich ist, daß man den Eng-
länder überhaupt nicht sieht und ihn darum nicht fassen kann.
So geht es Ln die Nacht, ohne daß die irrsinnige Schießerei
schwächer wird. Die Engländer, die in der Dunkelheit nicht
zielen können, streuen aufs Geratewohl mit ungeheurer
Verschwendung das ganze Feld ab...
Mittlerweile sind die 240er und 245er völlig durchein-
andergeraten. Teile des II. Bataillons 246 sind mit dem I.
und III. Bataillon 245 vermengt und liegen westlich Lece-
47
laere. Das I. Bataillon 246 ist beim Durchstoß durch den
Ort in nördlicher Richtung von seinem Regiment abge-
kommen, wird am Nordwestausgang von einem Feuerhagel
überschüttet, schwärmt aus und liegt dort ohne jedes Schuß-
feld unter schwersten Verlusten nutzlos einem unsichtbaren
Feind gegenüber. Der Bataillonskommandeur Major Bau-
mann wird verwundet. Die Truppen tun das einzig Mög-
liche und schützen sich durch Einbuddeln vor dem Feuer.
über der ganzen Linie brodelt der Lärm, als die Dunkel-
heit sich herabsenkt...
Mittags gegen r Uhr war das Reserve-Infanterie-Regi-
ment 248 in einer kleinen Erdsenke südwestlich von Terhand
angelangt. Die Bataillone entfalteten sich und nahmen Ge-
fechtsstellung. Vorn brodelte das Infanteriegefecht um
Becelaere und südlich davon. Zu sehen war nichts. Der Re-
gimentskommandeur, Oberst Freiherrvon Hügel, war
allein auf die widersprechenden Meldungen zurückgehender
Leichtverwundeter angewiesen. Die Dunkelheit begann be-
reits zu nahen, ohne daß ein Befehl gekommen war. Als
um fünf Uhr das Schießen eine außerordentliche Heftigkeit
annahm, kam ein verwundeter Meldegänger von der links
kämpfenden bayerischen Infanterie und brachte die Bitte der
Bayern um Unterstützung ihres schwer ringenden Flügels bei
Roelberg. Oberst von Hügel nahm sofort Verbindung
mit seiner Division auf, um deren Genehmigung zu er-
halten. Noch ehe seine Leute zurückkamen, lief der Befehl
von der Division ein, sofort mit dem ganzen Regiment nach
Becelaere zu rücken. Es war sechs Uhr nachmittags. Raum
war die Bewegung angetreten, als Gegenbefehl kam. Die
248er sollten, den wünschen der Bayern entsprechend, gegen
Roelberg vorgehen.
Die Bataillone wechselten die Richtung und bogen nach
Südwesten, das I. vorn Ln Schützenlinien, das II. links da-
hinter, das III. am Schluß. Richtung gab die Windmühle
vor Roelberg...
Inzwischen erhob sich in der Dunkelheit vorn ein grau-
siges Gemälde. Blutrot loderte der Brand der RLrcl)e von
Becelaere, deren Mauern gleich glühendem Eisen leuchteten.
Eine dickschwarze Brandwolke lagerte sich breit und schwer
über dem unglücklichen Dorf. Rnisternd und prasselnd sra-
ßen sich züngelnde Flammen nach allen Seiten weiter, indes
das verworrene Geschrei der im westteil Kämpfenden sich
mit den reißenden Schlägen der Granaten, dem Gebell der
Schrapnells und dem Peitschenknall der Infanteriegewehre
mischte. Hoch über dem Oualm blähten sich schwere Regen-
wolken, deren Läucl)e von der lohenden Brandfackel rot an-
gemalt wurden, wie die schillernden Leiber unförmiger Un-
geheuer zogen sie langsam und träge über das klirrende,
dröhnende, knisternde, splitternde Dorf. In dem Raum
zwischen Brandrauch und Regenwolken hingen die Wölkchen
der Schrapnells gleich hellroten Feuertupfen am Himmel.
Jedesmal, wenn eines von ihnen aufsprang, schien es, als
zünde ein unsichtbarer Gigant ein Streichholz an, um das
Land zu erleuchten. Dann aber wandelte sich das glimmende
Flämmchen in einen dunklen Tropfen langsam herabträu-
felnden roten Blutes, wild brüllte die Schlacht in der
Dunkelheit...
In der Finsternis verlor das I. Bataillon der 248er die
Richtung nach Roelberg, geriet in den Streifen der um
Becelaere ringenden Regimenter 245 und 240 und stellte
sich dem dort befehlführenden Generalleutnant von Rein-
hardt zur Verfügung. Auch das II. Bataillon und die §.
und 11. Kompanie des III. verloren die Verbindung mit
ihrem Regimentsstab. Sie gerieten mitten in der Nacht in
das brennende Becelaere, vereinigten sich dort mit dem
I. Bataillon und verteilten sich mit diesem aus die am
Westrand des Dorfes Ln schnell ausgehobenen Gräben lie-
genden 245er und 246er. Die Vermischung der Verbände
war dort jetzt eine vollkommene. Der bei Koelberg ein-
getroffene Regimentsftab verfügte nur noch über die 10. und
)2. Compagnie. Mit ihnen trat er zu dem im Verband der
3. Kavallerie-Division fechtenden I. Bataillon des ). baye-
rischen Reserve-Insanterie-Regiments. Von seinen übrigen
Truppen konnte er bis zum Morgen nichts erfahren.
Die 247er waren gerade in den wiesen östlich Dadizeele
beim Abkochen, als plötzlich das scharfe Geknatter des In-
fanteriefeuers von Westen her an ihre Ohren drang. Bald
mischte sich das rauhe Konzert der Artillerie in das Brodeln.
4 Devmelöurg, Flander«
49
Und jetzt verlängerte sich nach rechts und nach links der
Lärm, als erwache, jäh aus dem Mittagsschlaf geweckt, Ln
breiter, brüllender Schwerfälligkeit die große Schlacht.
Es war den 24?ern gar nicht recht, daß sie hier in den
wiesen Rindfleisch rösten und Rartoffeln schälen sollten,
indes die Rameraden vorn Lorbeeren pflückten. Mit Un-
geduld schielten die Freiwilligen nach den über die Karte
gebeugten Kompaniechefs und konnten gar nicht begreifen,
daß nicht sofort beim ersten Schuß das Kommando erklang:
„An die Gewehre!" Meldereiter und Radfahrer wurden um
ihre Meinung befragt. Sie wußten nicht mehr, als daß es
vorn losgegangen sei, und daß es vorwärtsgehe.
Langsam begann es zu dämmern. Das Brodeln vorn
knatterte Ln ungeminderter Stärke. Der Himmel bedeckte sich
mit schweren Wolken, und hier und da fiel schon ein Tropfen.
Just hatte sich der 247er die Erkenntnis bemächtigt, daß es
doch gar nicht so übel sei, heute noch einmal unter den
Dächern von Dadizeele zu übernachten, als der Ruf sich über
das Feld pflanzte:
„An die Gewehre!" . . .
An der Windmühle von Dadizeele vorbei marschierten
die Kolonnen auf Terhand zu. Seltsame Spukbilder malte
die Nacht. Ein feiner leiser Sprühregen hatte eingesetzt.
Die niederrieselnden Schleier wurden durchleuchtet vom
Brand der Gehöfte, daß sie gleich glühenden Perlenketten
schillerten. Rechts und links ging bisweilen ein jähes Auf-
flammen in die Höhe, als zerreiße eine feurige Faust das
glitzernde Gewebe. Ein rasendes Gebrüll machte dann jedes-
mal die Erde erbeben. Abfeuernde Batterien, die ihre Eisen-
töpfe über Becelaere hinweg in den park von poezelhoek
und die Waldstücke um Reutel schleuderten. Heiser und gierig
pfeifend fuhr es davon durch die Dunkelheit. Auf der Straße
stauten sich lange Fahrzeugkolonnen — Batterien, die im
Stellungswechsel nach vorn begriffen waren, protzen und
Fahrzeuge mit Munition, Sanitätswagen und Maschinen-
gewehrfahrzeuge. Fiebernde Ungeduld überall. Scharfe Kom-
mandos, die den Knäuel zu entwirren suchten, prusten von
Pferdenüstern, klatschende peitschenschläge, Flüche und erregte
Worte. Es war für die Infanterie unmöglich, über die
Straße vorwärts zu gelangen. Immer neue Fahrzeug-
kolonnen sperrten den Durchgang, tauchten aus dem Dunkel,
50
verschwanden darin. Im Eingang von Terhand war über-
Haupt kein Durchkommen mehr. Das ganze Dorf war an-
gefüllt mit Rolonnen. die sich bis zur Unbeweglichkeit auf-
einander festgefahren hatten. Ein Glück, daß der Engländer
in dieser Stunde nicht mit seiner Artillerie hereinfunkte, das
Thaos müßte fürchterlich sein.
Die Rompagnien stauten sich fest. Erhitzt durch den be-
schwerlichen Vormarsch, begannen sie jetzt in Rühle und
Regen zu frieren. Der Hunger meldete sich, an Verpflegung
war nicht zu denken. Nicht einmal die Tornister konnten
abgehängt werden, denn in jedem Augenblick mußte die
Bewegung sich fortsetzen.
Zu Fuß und aus Tragbahren kehrten lange Rolonnen von
Verwundeten zurück. Im Dunkeln waren ihre Gesichter nicht
zu erkennen. Sie sprachen nicht. Unheimlich hoben sich aus
der Finsternis die Bahren, langsam zwischen den gebeugten
Trägern schwankend. Regungslos lag die Last darauf, mit
Mänteln und Zeltbahnen zugedeckt. Mit scheuen Blicken
streiften die jungen Freiwilligen darüber. Mer weiß, ob
nicht schon in einer Stunde man selbst so aus einer Bahre
lag. wenn einer aus der Marschkolonne halblaut einen
Leichtverwundeten nach den Ereignissen vorn fragte, hob
alles die Röpfe und verstummte, was die erzählten, klang
wenig nach fröhlichem Rriegführen. So ganz anders hatte
man sich das immer gedacht. Und der Regen, der Regen rann
Ln triefender Gleichförmigkeit, die nassen Mäntel hingen als
schwere Last um die Rörper. Feucht tropfte es vom Helm-
rand in den Rragen. Unvermindert rasselte das Gewehr-
feuer, jetzt schon ganz nahe. Ab und zu pfiff ein lang-
gezogener scharfer Laut vorüber, klatschte gegen eine Mauer,
oder ein Querschläger bohrte sich mit Hellem Trillern hoch
oben durch die Finsternis . . .
Um )o Uhr abends erhielt das HI. Bataillon den Befehl,
„den weichenden Gegner vorn zu verfolgen". Das brachte
neues Leben in die erstarrten Reihen. Im Augenblick war
die alte Begeisterung wieder da. Seitwärts der Straße
stapften die Rolonnen in mühsamer Hast durch Rübenfelder
und wiesen. Der Lehm klebte an den Stieseln, das Wasser
drang durch die Sohlen, plötzlich ein wildes Geschieße aus
der linken Flanke. Im Handumdrehen hieß es, der Eng-
länder greift an. Die Verwirrung auf der Straße begann
51
zum Lhaos zu werden. Schrill schallten die Rommandos.
Ebenso schnell wie er begonnen, legte der seitliche Lärm sich
wieder. Immerhin waren ein paar Pferde getroffen, die
von den Fahrern aus den Strängen befreit und von der
Straße heruntergezerrt wurden . . .
Am Straßenkreuz nördlich Beeelaere, beleuchtet vom
Brand des Dorfes, stand der General von Reinhardt.
Die Gewehrkugeln pfiffen um ihn und seinen Stab und
klatschten in die Baumstämme. Unbekümmert um ihr Ge-
zwitscher zählte der General die Gruppen der anrückenden
Rolonnen. „Endlich kommt ihr..sagte er, und sein Ge-
sicht sah furchtbar ernst dabei aus. Es stand nicht gut
vorn...
Die 247er marschierten auf der Straße ein Stück nördlich
nach Broodseinde zu und gruben sich dort östlich der Straße
ein. roo Meter vor ihnen lagen die 245er und 246er, weiter
nach rechts schloffen sich die Sachsen von der 53. Reserve-
Division an.
Die Nacht schlich vorüber, der Regen rann, und das irre
Gebell der Gewehre nahm kein Ende . . .
Um die Mitternachtsstunde erhob sich die Schlacht urplötz-
lich aus überreiztem Schlummer zu neuem Toben. Die Eng-
länder griffen überraschend an.
Ein prasselndes Iufanteriefeuer, untermischt von den
Paukenschlägen unsicher umhertastender Artillerie, schlug
gegen die deutschen Linien, wo jeder Trupp sich gerade
eingegraben, begann er das Abwehrfeuer gegen den unsicht-
baren Feind. Am Waldrand von poezelhoek und an den
Waldstücken vor Reutel blitzten die kleinen Mündungs-
flämmchen der Maschinengewehre reihauf und reihab. Ohren-
betäubend war ringsum der Lärm.
Mancher sank da vornüber, von einer verirrten Rugel
getroffen. Die Reserven am Westrand von Beeelaere fuhren
aus wirrem Schlaf auf, griffen zu den Gewehren und stürzten
aus den Rellern hinauf in die Straßen. Blutrote Flecke
zuckten an den Mauern der Häuser vorüber und bedeckten
Gesichter und Hände. Die Rirche brannte immer noch lichter-
loh, und schwellende Oualmwolken wandten sich aus der Glut
hinauf in die Dunkelheit, durchquirlt von wirbelnden Funken-
Haufen. Ein Ächzen und Stöhnen war ringsum in dem
sterbenden Dorf, als gäben sich die ruhelosen Geister aller
derer ein Stelldichein, die an diesem Tage hatten dran
glauben müssen.
So starrten die Reserven mit frostklappernden Zähnen
hinaus in die Nacht, aus der dies verworrene Gebell von
allen Seiten heranschlug. Die Gewehre schußsertig im Arm,
standen sie hinter Mauern und Gartenzäunen unbewegt.
Und nur ab und zu, wenn ein jähes Pfeifen schrillte und
ein klatschender Schlag gegen die Mauer sprang, zuckte wohl
einer zusammen.
Eine halbe Stunde dauerte der Höllenlärm . . .
Dann sank die Schlacht zurück in ihr stöhnendes Bett . . .
Das III. Bataillon der 247er lag im Morgengrauen des
r). Oktober an der Straße von Beeelaere nach passchendaele
hart nördlich Beeelaere bei den Gehöften von Zwaanhoek.
Mann an Mann lagen die 247er an der westlichen Straßen-
böschung und warteten, was der Tag bringen würde.
wenige hundert Meter vor sich konnten die Infanteristen
bei Tagesgrauen eine dünne Linie eingegrabener Schützen
sehen. Das waren die spärlichen Reste der 246er, vermischt
mit 245ern, die am gestrigen Tage durch Beeelaere gedrungen
waren. Noch verschwammen die Waldstücke von Reute! im
Morgengrau.
Es mochte neun Uhr gewesen sein, als die Truppen der
Schwesterregimenter vorn sich erhoben und in Schützenlinien
vorgingen. Das unsichtige Wetter verschlang sie. Der Lärm
des Infanteriefeuers allein verriet, daß sie mit dem Gegner
zusammengestoßen. Zwei Stunden lang dauerte das da vorn.
Dann kamen ein paar mit langen Sätzen von rechts gelaufen
und sagten, es müsse unbedingt Hilfe nach dort, größte Eile
tue not.
Die 247er besannen sich keinen Augenblick. In großen
Sprüngen eilten die Compagnien in den Hollebuschgrund
hinunter, an den verlassenen Schützenlöchern der Nacht
vorüber, den jenseitigen Hang hinauf. Ein kleines Wald-
stück breitete sich dort vor den Gehöften von In de Ster.
Aus dem Wäldchen kamen unaufhörlich größere und kleinere
Trupps der sächsischen Regimenter zurück. Ohne Führer,
5Z
ohne Ordnung, ohne einen Blick nach rückwärts zu wenden.
Alle Zeichen des Schreckens verratend. Ein paar riefen:
„Unsere Artillerie beschießt die eigenen Leute!" Ein Mann
von den 243er» schrie: „Mein ganzer Zug ist durch Voll-
treffer vernichtet!" Da kam auch unter die 247er ein Stocken,
indes von rechts und links und von vorn das feindliche Feuer
Lücken riß. Aber der Hauptmann von Flotow erhob sich
vor den Zögernden und rief: „Sprung aus! Marsch marsch!"
Alles stürzte vor. Schon tauchten die Bäume an der Straße
nach Broodseinde auf, als den tapferen Hauptmann eine
Rugel mitten in die Brust traf. Ein zweiter Schuß zer-
schmetterte ihm den Oberarm. Ein Teil seiner Leute wich
führerlos zurück. Die meisten hielten auch ohne Führer aus
und setzten sich an der Straße hinter ein paar Hecken fest...
Ein furchtbares Geschick traf um die Nachmittagsstunden
den Rest des Bataillons, der nördlich Becelaere mit Front
nach Reutel liegengeblieben war. Den ganzen Tag über
waren die Rompagnien ohne Verbindung mit den Führer-
stellen gewesen. Ohne Pause rollte das Feuer, bis am Früh-
nachmittag eine Abschwächung zu erkennen war. Unter neuer
Hoffnung nahmen die 247er an, die feindliche Artillerie sei
zum Schweigen gebracht. Verwundete brachten die Nachricht,
für 4 Uhr sei der große deutsche Angriff aus der ganzen
Front vor Becelaere geplant. Tatsächlich begann gegen
3 Uhr die deutsche Artillerie eine heftige Tätigkeit zu ent-
wickeln. Eine Batterie des Reserve-Feldartillerie-Regiments 54
drang in prächtiger Ausfahrt über das Straßenkreuz nördlich
Becelaere vor und nahm das Dorf Reutel unter Feuer. Gut
konnte man beobachten, wie aus den Häusern schwarze Rauch-
fahnen hervorsprangen, und wie auf der Straße die Ein-
schläge sich bäumten. Leider gelang es nicht, die Häuser am
Dorfrande richtig zu fassen, in denen die Engländer sich mit
ihren Maschinengewehren eingenistet hatten. Die Gehöfte
im Nordteil von Zwaanhoek gingen in Flammen aus. In
langen Sätzen suchten die englischen Schützen das weite.
Manch einer purzelte im Lauf vornüber, um nicht wieder
aufzustehen.
Punkt 4 Uhr erreichte das deutsche Feuer den Höhepunkt.
Die englische Artillerie antwortete fast gar nicht. Das Ba-
taillon stellte sich an der Straße zum Sturm bereit.
Die 9. Kompanie unter Hauptmann Stockmayer
54
machte den Anfang. In weit auseinandergezogenen Linien
vorgehend, erreichte sie ohne Verluste die nächtliche Stellung
der 240er, die diese am Morgen verlassen. Die Grabenlinie
war mit Truppen aller in diesem Abschnitt kämpfenden Regi-
menter angefüllt, das Vorgehen am Vormittag war im Feuer
erstickt worden.
Die -r. Kompanie war der 9. gefolgt, die 10. blieb an der
Straße, die )). lag mit ihren Resten vor In de Ster.
Kurz nach vier Uhr gellten die Hörner über den ganzen
Abschnitt, das Angriffssignal . . .
Und dann vollzieht sich alles in fürchterlicher Raschheit.
In dichten Massen quellen die Truppen aus den Gräben und
stürzen gegen Reute! und die darumliegenden Waldstücke
vor. Im gleichen Augenblick pfeifen und krachen die Kugeln
aus allen Ecken und Enden. Jedes Haus scheint mit einem
Maschinengewehr besetzt, jeder Baum einen Schützen zu
verbergen.
Verdutzt halten die geballten Angriffskolonnen ein. Da
wälzen sich schon ganze Reihen auf der Erde. Sterbende
schreien, Verwundete schlagen um sich. Die Offiziere springen
vor und geben Befehle. Major Strelin, der Führer des
III. Bataillons der 247er, setzt sich in wehendem Hellem
Mantel an die Spitze, weiter gehts gegen das Kiefern-
wäldlein vor Reutel. Jeder Schritt über Leichen.
Das wäldlein wird passiert. Todesmutig werfen sich die
Kompanien auf das freie Feld. Kein Gegner zu sehen, kein
Maschinengewehr, kein Gewehr. Entsetzlich die blinde Ab-
geschiedenheit inmitten des Höllenlärms. Die Ordnung löst
sich. Ein Teil läuft nach rechts, einer nach links, wie eine
Herde drängen sich die Freiwilligen unter sich zusammen,
Schutz suchend vor dem irrsinnigen Feuer. Nutzlos. Ganze
Gruppen fallen zu Boden und bleiben liegen. Fürchterlich
würgt der Todesengel.
Hinwerfen! Hauptmann Stockmayer nimmt das Glas
vor, um endlich etwas vom Gegner zu erkennen, damit man
sich wenigstens wehren kann. Ein leiser Aufschrei. Mitten ins
Herz getroffen krümmt sich der wackere Offizier. Einen blut-
jungen Kriegsfreiwilligen überkommt der heilige Todes-
entschluß. Er springt auf. „Die Kompanie hört auf mein..
55
Ein schriller Schrei! Eine Handvoll Bügeln zerreißt die
junge Brust in Fetzen.
Major Strelin nimmt die Pistole in die Faust. Alles,
was sich noch bewegen kann, folgt dem Rommandeur. Die
Truppen geraten nach rechts. Maschinengewehrsalven raffeln
aus der linken Flanke von Reutel her. Ohne Rommando
schwenkt alles in dieser Richtung ein und stürzt vor.
Und dann geraten die Todgeweihten mitten vor die eng-
lische Hauptstellung.
Ein Ungeheuers Geprassel schlägt ihnen entgegen wie eine
eisensplitternde Wolke. Man hört kein Schreien und kein
Befehlen. Der Major bricht zusammen. Tot. Noch flattert
sein Heller Mantel im Fall. Mit schreckverzerrten Gesichtern
wenden die Unglücklichen um. Umsonst. Von drei Seiten
jagt ihnen der Hagel entgegen. Der Tod mäht mit breiter
Sichel. Die Ähren sinken stumm zusammen . . .
Ein paar überlebende verbergen sich in Ackerfurchen und
Löchern und harren der Nacht.
Endlich, endlich kommt sie heran und zieht ihren dunklen
Schleier über das grauenvolle Bild.
Die Artillerie zerschlägt die Häuser am Rand von Reutel
und rächt die Gefallenen. Rot lecken die Flammen aus den
Dachluken.
Das III. Bataillon der 247er besteht nicht mehr. In
Reihen und Gruppen liegen die Freiwilligen auf dem Feld
und schlafen den letzten tiefen Schlaf im Schoße der flan-
drischen Nacht . . .
Am Nachmittag des r). Oktober gab das Generalkommando
des XXVII. Reservekorps den Befehl zum Angriff auf der
ganzen Front in der Richtung auf Rpern. Ja, das Borps
war sogar der Ansicht, man müsse am heutigen Tage noch
über Rpern hinaus bis nach Dickebusch gelangen. Der
Befehl zeigte, daß man bei den höheren Stäben ein gänzlich
falsches Bild von der Lage der Schlacht hatte, und daß man
noch nicht erkannt hatte, daß das Rorps vor der englischen
Hauptstellung stand.
Frühmorgens war es gelungen, einige loem-Banonen
gegen die englischen Linien einzusetzen. Die Feldartillerie
der 54. Reserve-Division, die in der Nacht bis Becelaere
56
vorgerückt war, mußte wieder zurück Ln die alten Stellungen
zwischen Terhand und Dadizeele. Nur ein paar Batterien
blieben dicht aufgeschlossen hinter der Infanterie, um un-
mittelbar in das Gefecht einzugreifen. Die einzigen Reserven,
die der Division noch zur Verfügung standen, waren das I.
und II. Bataillon der 247er, die Ln der Umgebung von Ter-
hand auf Befehle warteten. Alle anderen Truppenteile lagen
Ln und westlich Becelaere von In de Ster im Norden über
das Riefernwäldchen von Reutel zum Reutelbeek, vor dem
park von poezelhoek bis südlich in die Gegend um Zuidhoek.
Jede Gefechtsordnung war westlich Becelaere verloren-
gegangen. wo ein Offizier war, hatte er eine Handvoll von
Leuten aus allen drei Regimentern in Grabenstücken um sich
gesammelt, wenn der Nachbar vorging, schloß er sich an.
So reihte sich ein regelloser Angriff an den andern. Viel
Blut floß. Erreicht wurde nichts.
Der Befehl des Generalkommandos schaffte neues Durch-
einander. Am rechten Flügel führte er zum Untergang des
III. Bataillons der 247er. Die mit diesem Bataillon vor-
gehenden Teile der 245er und 240er wurden zersprengt und
sammelten sich am Westrand von Becelaere. Bis in die
Nacht hinein flutete der Angriff vor und zurück. Die 245er
gerieten beim Vorgehen gegen den park von poezelhoek in
das englische Kreuzfeuer. Die eigene Artillerie schoß Ln Un-
kenntnis der Lage stellenweise zu kurz und verursachte Ver-
luste. Oberst Baumgarten-Lrusius sank von einer
Granate getroffen verwundet zusammen. Die 1. Batterie des
Reserve-Feldartillerie-Regiments 54 versuchte, durch Bece-
laere gegen poezelhoek vorzustoßen, geriet in heftiges In-
fanteriefeuer und mußte unter großen Verlusten kehrt-
machen. Das I. Bataillon der 245er sammelte sich in den Aus-
gangsgräben, das III. wurde zersprengt und gelangte mit
seinen Resten an den Westrand von Becelaere.
Das II. Bataillon der 248er ging fünfmal hintereinander
auf dem linken Flügel der 245er zum Angriff gegen poezel-
hoek vor. Fünfmal mußte es unter stärksten Verlusten zurück,
da von rechts, wo die 245er am Nachmittag zurückgewichen,
das englische Flankenfeuer ihnen in die Seite schlug. Am
Spätnachmittag war es mit den Nerven des Bataillons zu
Ende. Die Württembergs räumten ihre Stellungen. Feld-
webel Buck von der 5. Kompanie sammelte den Rest von
57
36 Mann am Ostrand von Becelaere. Major Burgund
führte sie nach Dadizeele, wo eine Anzahl Versprengter zum
Bataillon stieß. Der Major mußte krank abtransportiert
werden, die 6. Rompagnie hatte ihren Führer, Oberleutnant
Baumberger, vor poezelhoek schwer verwundet aus dem
Felde liegen lassen. Es gelang ihm, sich selbst zurückzu-
schleppen. Das I. Bataillon der r4Ser blieb am Westrand
von Becelaere.
Alle Opfer des r). Oktober waren nutzlos.
Der rr. Oktober begann mit leise rinnendem Regen.
Die Flammen von Becelaere verknisterten. Beizender
Gualm zog, vom Regen auf die Erde gedrückt, über das Feld.
Die Truppen lagen in den nassen Gräben, ohne daß ihnen
Verpflegung zugeführt werden konnte. Das Infanteriefeuer
versickerte. Die Artillerie allein gab sich Mühe, die Schlacht
nicht einschlafen zu lassen. Auch die Engländer fühlten sich
nicht wohl. Sie unternahmen nichts.
wiederholt drängte das Generalkommando zum Angriff.
General von Reinhardt hielt ihn für unmöglich, be-
mühte sich, eine Reserve aus seinen Truppen auszuscheiden
und ließ den Westrand von Terhand zur Verteidigung ein-
richten. Er war überzeugt, daß ein starker englischer Angriff
bevorstand und rechnete mit der Möglichkeit, daß seine
dünnen Linien westlich Becelaere nicht mehr standhielten.
Die Truppen waren furchtbar mitgenommen. Offiziere fehlten
überall. Der Hunger knurrte in den Därmen. Die Munition
war knapp. Der Regen durchnäßte die Rompagnien bis auf
die Haut.
Das Generalkommando schickte abermals Befehl. Das
XXVII. Reservekorps muß vorwärts kommen. Da entschloß
sich die Division zu einem flankierenden Angriff südlich Bece-
laere in der Richtung aus Vieux-Thien, das Straßenkreuz
westlich davon und Oude-Rruiseik. Der Befehl im Angriffs-
abschnitt wurde dem Kommandeur des Reserve-Infanterie-
Regiments 247, Oberst von Bendler, übertragen. Ihm
wurden als Angriffsinfanterie vorderer Linie sein I. und
II. Bataillon und als Reserve die verfügbaren Teile der
248er, hauptsächlich das von Becelaere zurückgezogene
I. Bataillon unterstellt. Das Vorgehen erfolgte aus den
Reservestellungen bei Terhand . . .
Um ).zo nachmittags traf der Befehl der Division ein.
Rurz vor dem Angriff war es noch einmal möglich ge-
wesen, die Truppe warm zu verpflegen, nachdem sie sich zwei
Tage lang mit der eisernen Portion schlecht und recht durch-
gehungert hatte.
Nachmittags um z Uhr begann die Bewegung, indessen
die schwere deutsche Artillerie die Straße nach Gheluvelt
und das Dorf selbst mit harten Brocken bewarf. Einzelne
Züge Feldartillerie begleiteten die Angriffstruppen unmittel-
bar in der Schützenlinie. Das I. Bataillon der 247er ent-
wickelte sich nach rechts, das II. nach links. Eine leichte
Schützenlinie ging voraus, dahinter folgten die Rompagnien
in Rompagniekolonnen. Von Terhand fällt das Gelände
hinab in den Grund des Reutelbeeks und steigt jenseits all-
mählich wieder an. Ist man erst dort oben, so kann man in
einem zweiten Grunde vor sich die Häuser von Vieux-Thien
erkennen, umrahmt von Waldstücken. Jenseits der Gehöfte
geht es dann wieder aufwärts nach (Vude-Rruiseik . . .
Der englischen Artillerie war die neue Bewegung ent-
gangen. Ihr Feuer konzentrierte sich auf den Raum westlich
Becelaere. Den 247er», die Ln der rechten Flanke von Teilen
der 248er unterstützt wurden, glückte es, ohne Verluste in
den Grund am Reutelbeek hinabzusteigen und die Waldstücke
nördlich Vieux-Thien zu durchschreiten. Raum aber lichteten
sich die Bäume, als auch schon vom Straßenkreuz nördlich
(Vude-Rruiseik und aus den Gehöften selbst die ersten Schüsse
fielen. Als die vordersten Schützenlinien aufs freie Feld
traten, gab es Verluste. Die Rompagnien entwickelten sich
und begannen, Ln Sprüngen gegen das Straßenkreuz vor-
zugehen. Der Führer der 4. Rompagnie, Hauptmann Frei-
herr von Soden, erhielt dabei einen schweren Schuß,
dem er zwei Tage später erlag. Etwa 200 Meter westlich der
Waldstücke lagen die beiden Bataillone in heftigem In-
fanteriegefecht mit einem Gegner, der sich offenbar in ein-
zelnen Schützennestern rings um (Vude-Rruiseik und das
Straßenkreuz eingegraben hatte. Nördlich des Reutelbeeks
schlossen sich Teile des I. Bataillons 248 an.
So ging es in die Nacht, ohne daß das Infanteriefeuer
ein Ende nahm. Die Engländer befolgten die Taktik, durch
59
dauerndes Gewehrfeuer, auch ohne sichtbares Ziel, den Gegner
zu beunruhigen und erreichten ihren Zweck gegenüber den
noch wenig kriegserfahrenen deutschen Truppen in vollem
Maße. Die deutschen Feldwachen glaubten sich bei jeder An-
näherung überfallen und eröffneten das Feuer. Eine Com-
pagnie beschoß die andere. Patrouillen stießen aufeinander
und gingen zum Nahkampf gegeneinander vor, bis sie sich
erkannten. Das plötzlich im Hintergelände einschlagende
Gewehrgeprassel füllte die Dunkelheit mit allen möglichen
Gerüchten über feindliche Durchbrüche. Die Führung wurde
nervös und gab verwirrende Befehle. Die allgemeine Un-
sicherheit ging so weit, daß ein Befehl der Division, der
von ganz falschen Voraussetzungen ausging, mit allen Einzel-
heiten den Rückzug der Regimenter nach Terhand anordnete,
warum- Ein Meldereiter hatte die Alarmnachricht von einem
Durchbruch der Engländer bei Becelaere gebracht! Artillerie
und Infanterie waren mißtrauisch aufeinander, weil aller
Opfermut der Verbindungsoffiziere das Rurzschießen einzelner
Batterien nicht verhindern konnte. Hinzu kam die ununter-
brochene Anstrengung der Gefechte, das Fehlen des Schlafes, die
lückenhafte Verpflegung und schließlich die starke Enttäuschung
über die großen Verluste und den minimalen Erfolg. Das
Armeeoberkommando schickte einen energischen Befehl, es
wäre wiederholt vorgekommen, daß einzelne Verbände nachts
Stellungen verlassen hätten, die sie am Tage erobert hätten.
Die nächtliche blinde Schießerei der Truppen untereinander
veranlaßt die Division anzuordnen, daß alle Gewehre, mit
Ausnahme derjenigen der Posten, des Nachts zu entladen
seien. Aber just die Posten waren es, die Ln der Nacht aus
Nervosität aufeinander knallten.
weder vom rechten noch vom linken Nachbar war etwas
bekannt. Und dazu begann der Oktoberhimmel seine Schleu-
sen zu öffnen.
Der Rrieg begann ein Gesicht anzunehmen, wie es sich
keiner von den jungen Rriegsfreiwilligen geträumt hatte.
Aber jeder dachte, in ein paar Stunden, spätestens am
nächsten Tage, geht es weiter, und alles ist wieder gut. . .
In dieser verwirrten Nacht traf auch den General von
Reinhardt das harte Soldatenlos. Unermüdlich war er
So
seit drei Tagen unterwegs. Schlaf kannte er nicht. Ohne
Pause galt seine Sorge den Bewegungen des Gegners und
dem Verhalten der eigenen Truppen, wo er sich befand, griff
er ordnend, befehlend, beruhigend ein und gab den jungen
Leuten ein Vorbild persönlicher Unerschrockenheit, wenn
er Nachts, eingehüllt in den großen Mantel, die Stellung
abschritt, erkannte jedermann seine Gestalt.
Just hinter dem Straßenknie zwischen Becelaere und
Gheluvelt traf den General eine englische Rugel mitten in
die Stirn, ohne Laut sank er zusammen.
Die Nachricht machte auf die ganzen Regimenter einen
niederschmetternden Eindruck. Oberst von Roschmann
übernahm den Befehl über die Angriffsgruppe Becelaere.
* K
*
wer hätte gedacht, daß die zermürbten Truppen der
württembergischen und sächsischen Regimenter am 24. Ok-
tober noch genug Rraft besessen hätten, dem Engländer einen
großen Teil seiner Stellung zu entreißen und ihm an
tausend Gefangene abzunehmen-
Die beiden aneinandergelehnten Flügel der 53. und 54«
Reserve-Division erhielten Befehl, bei Tagesanbruch das
Dorf Reutel und den dahinterliegenden Polygon-Wald
zu nehmen, um endlich die deutsche Front aus dem unhalt-
baren Winkel von Becelaere nach vorwärts zu reißen. Die
deutsche Artillerie bereitete den Angriff durch heftige Feuer-
überfälle auf Dorf und Wald vor.
Punkt 7 Uhr, als der graue Morgen trübselig über das
flandrische Feld kroch, standen das sächsische Regiment 244
und das württembergische 246 aus ihren Grabenstücken auf
und drangen vor. 244 hatte sein II. Bataillon Ln vorderer
Linie entwickelt, das III. folgte unmittelbar dahinter, das
I. blieb in Reserve. Von den 246er» standen die vereinigte
1. und 2. Compagnie unter Hauptmann Rais er und die
vereinigte 3. und 4. unter Hauptmann ReLnmöller als
I. Bataillon vorn, daneben das II. Bataillon, das III. in Re-
serve...
Raum hat die erste Bewegung begonnen, als auch schon
das Schnellfeuer des wachsamen Gegners die ersten Schützen
zu Boden wirft. Nach kurzem Stocken kommt Schwung Ln
die Bataillone. Der nervenfreffende Stillstand der letzten
61
Tage macht sich in einem unwiderstehlichen Angriffödrang
Luft. Heute muß es erzwungen werden!
Mit weiten Sprüngen eilt Hauptmann Degen seiner
5. Rompagnie von den 244ern voran. Um den gezogenen
Säbel sammelt sich alles, was Beine hat. Benachbarte 240er
schließen sich an. Mit tierischem Gebrüll, das das Geschrei
der Getroffenen verschlingt, wälzt sich die Flut gegen die
gespickten englischen Gräben. Hände hoch! Sie denken nicht
daran. Schießen aus allernächster Nähe die Angreifer ab
wie Hasen auf der Treibjagd. Einer nach dem anderen
stürzt vornüber. Da überkommt eine entsetzliche Wut die
Stürmer. Mit Messern, Bajonetten und Gewehrkolben
brandet die Masse gegen die zuckende Reihe der Gewehr-
läufe. wer hinschlägt, schreit den Lebenden noch einmal ein
„Vorwärts!" zu, ehe die Fäuste sich ausstrecken und die Augen
brechen. Schreiend ergießt sich der Schwarm in die Gräben
und auf den erstarrten Gegner. Schon blitzen die Messer,
schon schreien die Gestochenen. Schon klatschen dumpfe
Schläge der Rolben auf die Schädel nieder.
Es sind die wilden Augenblicke der Schlacht, da das Weiße
in den Augen des Menschen wie bei einem Raubtier zu
glimmen beginnt. Da jeder Gesichtsmuske! sich zu einer er-
starrten bestialischen Grimasse verzerrt. Da jeder Gegen-
stand, den die zuckenden Hände halten, zum blutlechzenden
Mordwerkzeug wird, das ohne den willen seines Lenkers
rings niederschlägt, als sei eine schreiende Seele hinein-
gefahren, die den willenlosen Arm mit sich reißt, auf . . .
nieder, auf . . . nieder. Da jeder Todesschrei nur immer
tiefer hineinzerrt in die Mordlust, und jeder zerschmetterte
Schädel zum grinsenden Teufel wird. Ein krampfhafter
Bann preßt den Verstand zusammen und jagt das Blut in
rasendem Tempo durch die Schläfen, daß es gleich Hammer-
schlägen in den Ohren dröhnt. Die Todesnot und -angst
quälender ohnmächtiger Stunden, der verzehrende, fressende
Druck flammendurchschüttelter, eisenspuckender Nächte, die
hinsterbende Gual des sinnlosen Zerschlagenwerdens bäumen
sich zu einer steilen Höhe, verstricken sich ineinander zu einer
feurigen Lohe, die Seele und Leib verbrennt und nur den
glühenden Drang der Vernichtung übrig läßt. Der Mensch
kehrt zurück zum Tier . . .
Hauptmann Degen wirft sich unter die Mordenden, denen
Sr
vor wenigen Wochen noch das Sterben einer Fliege Mitleid
entlocken konnte. Sein energischer Wille dämpft endlich die
entfesselte Bestie. Dreizehn englische Offiziere und fünf-
einhalbhundert Mann werden zu Gefangenen gemacht,
weiter stürzt die Horde, den feuernden Schlünden des
Polygon-Waldes entgegen. Der splitternde Waldrand wird
erreicht. Im Augelgefecht löst sich der Aampf auf . . .
Das II. Bataillon der 246er gerät Ln ein verheerendes Areuz-
feuer. Im Handumdrehen fällt die Hälfte der Angreifer.
Die 5. Compagnie wird eingeschoben. Die Compagnien des
I. Bataillons mischten sich darunter, weiter geht der Aampf.
Aus der Höhe hinter Reutel schlägt eigenes Artilleriefeuer in
die Reihen. Die Verwirrung wird immer größer. Die Eng-
länder erkennen den Zustand und verdoppeln ihr Feuer aus
den Wäldern. Der Adjutant des I. Bataillons fällt, die
beiden Hauptleute Rein Möller und Raiser brechen
verwundet zusammen. Das Regiment besteht nur noch aus
einem Bataillon. Aber es gibt kein Einhalten. Mit Gebrüll
und vorgehaltenen Bajonetten stürzt alles in die Wälder
hinein, in deren Schatten ein blutiges Abschlachten anhebt.
Der Polygonebeek wird erreicht, die Truppen scharren sich
Löcher Ln die Erde, um dem entsetzlichen Feuer zu entgehen.
Die paar Spaten schaffend nicht, Seitengewehre werden zu
Hilfe genommen. Eine irrsinnige Hast, indes hier und da
einer zusammenbricht über den Löchern, um nicht wieder
aufzustehen. Ein Wettrennen, wer schneller ist, der Spaten
oder die Rugel. Die Rugel gewinnt, der Spaten gibt das
Rennen auf . . .
Oberstleutnant von Holleben und sein Adjudant Leut-
nant Lipsert von den r44ern sind gefallen. Im Polygon-
wald kämpfen die Sachsen einen verzweifelten Rampf.
Stunde reiht sich an Stunde. Schon hat das Regiment kaum
noch einen Offizier. Es geht nicht mehr. Der Rückschlag tritt
ein . . .
Oberst Straube sammelt am Nachmittag den Hauptteil
der überlebenden seines Regiments 150 Meter östlich des
Waldes auf der Höhe nördlich Reutel Ln englischen Gräben,
ros Meter links davon hat Oberleutnant von Lriegern
den Rest des III. Bataillons um sich geschart und baut einen
Graben, was sonst noch vom Regiment da ist, sammelt
Major Rothe bei Zwaanhoek in den Gräben, aus denen
morgens der Angriff seinen Anfang genommen . . .
Die Mannschaften sind derart zermürbt und zerschlagen,
daß sie ohne sich zu bewegen auf dem Feld kauern. Raum ist
eine Spur des Lebens in ihrem Rörper zu entdecken. Leise
rinnt der Regen nieder. Ab und zu klatscht ein vereinzelter
Schuß.
Die 244er zählten an diesem Tage noch 6 Offiziere, 77
Unteroffiziere und 671 Mann. Ausgerückt waren sie mit
57 Offizieren und 2629 Unteroffizieren und Mannschaften ...
Das Zurückweichen der 244er bringt den rechten Flügel
der am Reutelbeek bis nördlich polderhoek vorgedrungenen
württemberger in schwere Gefahr. Der Regimentsadjutant
der 246er, Leutnant Sautter, hält fest, was er von 244ern
greifen kann. Mit Mühe gelingt es ihm, die von den furcht-
baren Waldkämpfen gänzlich zerrütteten Sachsen Ln den
Linien der 246er festzuhalten. Bis Ln den Nachmittag glückt
es den württembergern, die Linie zu halten. Da schlägt
ihnen aus der linken Flanke aus dem park von polderhoek
ein vernichtendes Gewehrfeuer entgegen. Große Teile des
Regiments weichen zurück. Aber sie werden wieder nach
vorn geführt. Die Verluste werden immer schlimmer. Offi-
ziere sind nicht mehr vorhanden. Jede Ordnung geht ver-
loren. In der Dunkelheit löst sich das Gefecht in eine plan-
lose Schießerei auf. Die Reste der 246er liegen nach wie vor
am Polderhoekpark und dem Reutelbeek.
57 Tote, 3io Verwundete und 179 Vermißte zählte an
diesem Tage allein das II. Bataillon der 246er, das Regiment
im ganzen büßte 70 Prozent seiner Gefechtsstärke ein. Unter
den Toten war auch der Führer des III. Bataillons, Major
Holtzhausen...
Das war ein trauriger Abend für die beiden sächsischen
und württembergischen Regimenter. Sie hatten nicht mehr
Hände genug, ihre Toten zu bestatten, und nicht mehr Füße
genug, um die zurückgebliebenen Verwundeten zu suchen . . .
In dumpfer Verzweiflung starrten sie in die Nacht . . .
östlich Rpern schlängelt das Lähnlein nach Menin sich
langsam dem Höhenkranz entgegen. Links schimmert der
Teich von Schloß Hooge. Rechts grüßen die Gehöfte von
S4
Zillebeke, ehe die herrlichen Wälder nahe an die Gleise
herantreten. In tiefem Einschnitt geht es durch die 'Zügel,
bis auf einmal Gheluvelt an einer Biegung erscheint. Dann
schleicht das Bähnlein in unmerklicher Biegung nach Nord-
osten am Rranz der 'Zügel vorüber, streift links den wunder-
vollen park von polderhoek, passiert einen verträumten
Bachlauf, den Reutelbeek, und zieht in weitem südlichen
Bogen durch Becelaere hindurch, Hier ein Hof und dort
ein 'Zof, hier eine Häusergruppe und dort eine Häuser-
gruppe. Ringsum wiesen, Bachläufe, weiden, Hecken,
Waldstücke und Äcker. Und über dem Ganzen wie eine
Glucke unter den Rüchlein der breite Lau der Rirche . . .
Es war einmal . . .
L Beumeldurg, Flandern
Dixmude
Eine halbe Wegstunde vor Dixmude liegt ein ver-
träumtes flandrisches Dörflein, Eeffen geheißen. Am Nord-
rand schlängelt sich die von Oortemarck über Handzaeme nach
Dixmude führende Eisenbahn vorüber. Noch wenig weiter
nach Norden durch wiesen- und weidenland, dann tauchen
die Deiche des Handzaemekanals auf, der sich im west-
teil von Dixmude mit der Rser vereinigt, wenn man
von Eeffen aus westlich nach Diymude geht, hebt sich eine
sanfte Erdwelle. Sobald man ihren Rücken erreicht hat, eilt
der Blick über ein Gewirr von Hecken, Höfen, weiden und
schmalen Ranälen geradeaus bis zu den ersten Häusern von
Dixmude. Rechts taucht der Bahnhof auf. Links zieht schnur-
stracks nach Süden die Pappelallee der großen Straße nach
Bixschote und Zypern. Durch die Pappelreihen schimmert der
Bahndamm und verliert sich eine Viertelstunde südlich des
Stadtrandes hinter den Mauern eines uralten Schlosses.
Die Rser bleibt immer westlich der Stadt, die sich als ein
breiter Brückenkopf um ihre Übergänge legt. Hier in
Dixmude treffen sich die Bahnlinien von Vlieuport, von
Dünkirchen und Furnes, von Lille und Rpern, von Roulers,
von Thourout und von Ostende. Die Hauptwafferstraßen
und Landstraßen berühren einander Ln der Stadt, die neben
Rpern und Ostende die schönste und größte unter den Städten
des engeren Flandern ist. . .
Aber von Eeffen ist noch zu berichten.
Das XXII. Reservekorps hatte den Befehl, südlich des
III. Reservekorps und im engsten Anschluß an dieses bei und
nördlich Dixmude den Übergang über die Rser zu erzwingen.
Der Hauptstoß galt Dixmude und wurde mit der 43. Re-
serve-Division geführt. Von Osten über Thourout her an-
rückend, gelangte die deutsche Vorhut am Spätnachmittag des
ro. Oktober, als schon die Dämmerung die flandrischen wie-
sen mit einem Schleier zudeckte, nach Eeffen. Der Tag
hatte viel Geplänkel bei schlechtem Wetter gebracht, große
Marschanstrengungen durch das dauernde Anhalten und Wie-
derantreten, großen Hunger durch das Ausbleiben der Feld-
küchen und manche Aufregung durch das ungewohnte Bild
des Gefechts. Die Truppen waren stark ermüdet und trugen
Verlangen nach (Quartier und dem Inhalt eines Rochtopfes.
Eeffen war als Tagesziel befohlen. Rein (Quartier schien
besser als dies verträumte Dörsiein, das, wie die Patrouillen
festgestellt hatten, von dem zurückweichenden Gegner am
Nachmittage geräumt worden war.
Ahnungslos rückten die müden Rolonnen ein.
Es ist eine alte Regel des Rrieges: wer zuerst kommt,
kriegt die besten (Quartiere, wer spätere Ansprüche an-
meldet, muß schon einen sehr hohen Rang bekleiden, um zu-
gelassen zu werden.
Die 15. Reservejäger und Teile der Regimenter ro) und
roz waren just am Feilschen über die Güte der Obdächer, als
urplötzlich in der Dunkelheit mitten Ln dem träumerischen
Dörflein ein regelloses, wildes Geschieße begann. Im Hand-
umdrehen war eine Schlacht im Gange, ohne daß irgend je-
mand einen Gegner gesehen oder auch nur vermutet hätte.
Die Straßen waren vollgestopft mit hereingerückten Ro-
lonnen, so daß es weder ein Vor noch ein Zurück gab. In-
fanterie, Artillerie und Jäger waren miteinander zu einem
dichten Rnäuel vermengt. Offiziere gaben Befehle, ohne zu
wissen, gegen wen sie die Truppen führen sollten. Truppen
pflanzten das Seitengewehr auf, obwohl sie vor sich nichts
als verschlossene Türen und schweigsame Pumpenschwengel
sahen. Eine grenzenlose Verwirrung entstand, als sich unter
das rollende Geknatter der Gewehre die dumpfen Pauken-
schläge von Handgranaten mischten.
Endlich begriffen die Jäger, was vorging. Aus der Rirche
und den umliegenden Häusern zuckten die Mündungsfiämm-
chen der Gewehre, pfeifende Rugeln jagten über die Stra-
ßen und klatschten irgendwo in der Dunkelheit gegen
Mauern. Als habe einer mit riesigem Fuß in einen Bienen-
schwarm getreten, so summte und schwirrte das überall hin-
ter verschlossenen Fenstern und aus Dachluken hervor. Jetzt,
da der Gegner erkannt war, gab es kein Zögern mehr. Es
wurde nicht viel befohlen. Jeder wußte, was zu tun war.
Im Handumdrehen klatschten wuchtige Axthzebe gegen auf-
stöhnende Türen. Holz splitterte, Geschrei ertönte. Im
Flackerschein eines rasch emporlodernden Brandes zerrten ein
paar Jäger einen Zivilisten aus der dunklen Türumrah-
mung, das Gewehr noch in der Hand. Harte Fäuste richteten
ihn an der Hauswand auf. Er gab keinen Ton von sich. wild
krachten ein paar Schüsse und ein schwarzer Rörper krümmte
sich auf der Straße.
Am schlimmsten war es vor der Rirche. Von dort herab
fielen auch die Handgranaten. Raum konnte man an sie her-
ankommen. wie ein feuergespreizter Igel lag sie in der
Dunkelheit, nach allen Seiten um sich schlagend. Der Brand
der Nachbarhäuser begann ihre kahlen Flanken blutrot zu
übermalen, wie in grimmigem Zorn über die verräterische
Glut trat der massige Turm aus der Nacht hervor. Ein
paarmal versuchten Infanteristen und Jäger einzudringen.
Aber die harten Türen hielten den Beilhieben stand, indes
von oben herab aus Fenstern und Luken der listige Tod seine
Pfeile schoß. Ein wildes Geschrei war rings um das ver-
ratene Gotteshaus.
Da machten die Jäger nicht lange Federlesens und legten
den gefräßigen Brand an. Gierig züngelten kleine Flämm-
chen und brachen auf heimlichen wegen in das Innere. Bald
begannen die Fenster sich von innen mählich zu röten. Die
ersten Scheiben splitterten. Rauch quirlte aus den Löchern.
Ringsum wachten die überfallenen, daß niemand den Bau
verließ, indes die Rugeln langsam aufhörten zu schwirren.
Es dauerte nicht lange, bis die Flammen jähe Gewalt an-
nahmen und das Dach sprengten. Rrachend versank alles ins
Innere. Mit wildem Auflodern kämpften die Gluten um den
Turm. Unter Hellem Geknatter zersprangen in dem nieder-
brennenden Gotteshaus Patronen und Handgranaten. Die
ganze Nacht hindurch währte der Brand und erleuchtete
weithin das Land...
Go kam das Strafgericht über Eessen, weil das Dörflein
seine Verträumte Stille vergessen und sich dem furchtbaren
Gespenst des Rrieges in die Arme geworfen hatte...
Die Belgier hatten die nächtliche Erleuchtung des Schlacht-
feldes benutzt, um aus den Häusern von Dixmude heraus
einen Vorstoß zu machen, wahrscheinlich hatten sie den
ss
Überfall auf die marschierenden Truppen der 43. Reserve-
Division tags zuvor beim Rückmarsch mit den Bewohnern
von Eessen verabredet. Es bekam ihnen aber schlecht. Manch
einen streckten die Rugeln der deutschen Vorposten in die
wiesen, die andern flohen zurück in den Schutz der Nacht
und der Häuser von Dixmude.
Am Morgen des 2). Oktober war es klar, daß die Bel-
gier Dixmude als eine starke Brückenkopfstellung nach Norden,
Osten und Süden ausgebaut hatten. Das XXII. Reservekorps
beschloß den konzentrischen Angriff, den die 43. Reserve-Di-
vision von Osten und Süden unmittelbar gegen die Stadt, die
44. Reserve-Division im Norden über die Straße nach Beerst
und Reyem hinweg gegen die große Rserschleife nordwestlich
der Stadt führen sollten. Das Reserve-Infanterie-Regiment
ror erhielt den südlichen Abschnitt mit dem Schloß als
Hauptrichtungspunkt, das Regiment ro), unterstützt von den
Jägern, hatte beiderseits der Eessener Straße geradeaus ge-
gen die Stadt zu stoßen. Unbedingt sollte der Stadtrand bis
zum Abend erreicht werden. Am Ranaldamm sollten beide
Angriffsregimenter zusammentreffen und ihr Augenmerk dar-
aus richten, daß der Gegner die Brücke nicht zerstörte, über
die der Angriff am nächsten Morgen weiterzutragen war.
Im Morgengrauen stellten sich die Regimenter zum An-
griff bereit, indessen der Gegner nach unruhiger Nacht sich
gerade Ruhe zu gönnen schien. Die Marschbewegungen voll-
zogen sich ohne besondere Verluste und wurden viel mehr als
durch den Feind durch die scheußliche Unübersichtlichkeit des
Geländes gestört. Jeden Augenblick stellte sich den Rom-
pagnien ein neuer Wassergraben entgegen, der erst mit allem
möglichen Behelfsmaterial überbrückt werden mußte. Das
regennasse Gras behinderte den Aufmarsch auf das empfind-
lichste, und die zahllosen Heckenlinien erschwerten die Orien-
tierung.
Endlich um )o Uhr ging es vorwärts, ohne daß der Geg-
ner im Anfang sonderlich Notiz davon nahm. Heftiges Ar-
tilleriefeuer begleitete das Vorrücken der deutschen Ver-
bände. Aber bald ließen die Hecken und Wasserläufe die
Verbindung der Truppen untereinander abreißen. Teile ge-
rieten plötzlich in starkes Maschinengewehrfeuer und mußten
zurück. Das brachte neue Verwirrung unter die anderen, die
nur das Geschieße vernahmen, ohne etwas vom Gegner zu
09
erkennen, roi kam bis mittags überhaupt nicht vorwärts,
ror rückte langsam südlich der Stadt vor und kam unter
fortschreitendem Gefecht bis vor das Schloß. Am besten ge-
lang es noch weiter im Süden bei dem dort eingesetzten Re-
serveregiment 204, das um 1 Uhr die große Straße von
Dixmude nach Bixschote erreichte und nach kurzem Gefecht
das Dorflein woumen besetzte. Am Bahndamm blieben
die Rompagnien liegen . . .
Als die Division erkannte, daß der Angriff sich zu ver-
zetteln drobte, zog sie das als Divisionsreserve zurück-
gehaltene Regiment roz heran, setzte es auf den Südteil der
Stadt zum Angriff an und befahl gleichzeitig der nördlichen
Stoßtruppe (roi und 15. Jäger) den energischen Vorstoß in
Dixmude hinein. Es ging gegen r Uhr am Nachmittag, als
der allgemeine Angriff seinen Anfang nahm...
Die Leute vom I. Bataillon roi hatten seit zwei Dagen
keinen warmen Bissen im Leib. Zwei Nächte lang lagen sie
im Regen. Das Brot war längst aufgegessen, neues wurde
nicht ausgegeben. Mit Obst und Wasserrüben füllten sich
die Freiwilligen die Mägen, die wenige Wochen vorher noch
an ein Frühstück mit Eiern, Schinken und echtem Bohnen-
kaffee gewohnt waren. Noch am frühen Morgen hatten die
Feldküchen, die den ersehnten heißen Raffee bringen sollten,
in Eessen kehrtmachen müssen, weil das Artiüeriefeuer zu
stark war.
Dabei unterhielt der Gegner andauernd ein lebhaftes In-
fanteriefeuer auf die nordwestlich von Eessen im freien Feld
eingegrabenen Rompagnien. Das ging immer wie Wellen
über das Land, plötzlich beginnend, nach den Seiten sich aus-
dehnend, über die Front schwerfällig hinüber sich wälzend,
nach seitwärts verklingend, um auf der anderen Seite wie-
der aufzuflackern. Die Opfer waren nicht allzugroß. Aber
die Unregelmäßigkeit der Überfälle, die Unsichtbarkeit des
Gegners, die Nässe und der Hunger schufen eine schlechte
Stimmung, die. keiner dem anderen eingestand, die aber doch
alle gleichmäßig erfaßte...
plötzlich gegen Mittag heult es hoch heran durch die Luft
und zerberstet mit jähem Rrach unmittelbar vor den Gräben,
Dreck, Eisen und Gestank um sich schleudernd. Ein paar
70
Leute brechen zusammen und wälzen sich. Der Ruf nach dem
Sanitäter gellt, von allen Schreien im Rrieg der schreck-
lichste. Und schon heult es zum zweitenmal, wieder spreizt
sich der graue Schleier, und Eisen johlt durch die Luft. Ein
Zünder rast mit Hellem Triller schräg davon, daß hundert
überraschte Augen dem unsichtbaren Spuk nachschauen. Und
dann Schlag auf Schlag. Eine feindliche Batterie schießt sich
auf die Gräben ein.
Bald saust der zweite Volltreffer. Entsetzlich schreit ein
Verwundeter. Mit angststarrem Blick läuft ein blutjunger
Freiwilliger hin und her, weiß nicht, ob es ihn getroffen hat
und bricht auf einmal ohne einen Laut tot zusammen. Ein
paar springen auch aus dem Graben, sehen mit scheuem
Blick um sich, machen ein paar geduckte Sätze nach rück-
wärts, bis sie der zornige Ruf des Rompagnieführers er-
reicht. Verlegen um sich schauend, kriechen sie wieder in den
Graben und ziehen die Röpfe Ln die Erde. Hei, wie das
prasselt!
Immer dichter wird das Feuer. Von niemand bemerkt, ist
eine halbe Compagnie aus den Gräben verschwunden und
nach Eeffen in den Schutz der Häuser gelaufen. Ein Offizier
führt sie wieder nach vorn.
Endlich, endlich kommt der Befehl zum Angriff. Nun
muß sich alles wenden. Raum werden die Rommandos ab-
gewartet. Sprung auf — marsch, marsch! Reiner bleibt
zurück im Graben. Im Handumdrehen fahren die heulenden
ELsentöpse über die Röpfe hinweg mit gierheiserem Zischen
und zerbersten weit im Rücken der Stürmenden. Mit langen
Sätzen geht es voran. Dort sind schon die ersten Häuser
von Dixmude.
Aber das . . . was ist das-
Zwei, drei, vier stürzen kopfüber aufs Feld, ohne daß man
einen Schuß hört. Das muß von ganz weither kommen —
oder . . . jetzt wieder. Halt nein, von dort hinten . . . aus
dem Gehöft dort an der Straße! Nur nicht lange über-
legen . . . jede Sekunde kostet Menschenleben. Zwei Grup-
pen machen kehrt. Ein kurzes Gefecht vor der Straße. Auf-
gepflanzte Seitengewehre. Ein heiseres Hurragebrüll. Zwei,
drei Gestalten stolpern mit langen Sätzen über die Rüben-
felder. Eine Handvoll Gewehrschüsse kracht. Die Gestalten
71
laufen nicht mehr und versinken im Feld. Schon lodert der
Brand aus den Luken . . .
Und dann geht der Angriff weiter.
Es dauert nicht mehr sehr lange, da schlagen sich die vor-
deren Reihen der 20)er und der Jäger in den ersten Häusern
von D ix müde mit den Belgiern herum. Hinter Mauerecken
und Düngerhaufen versteckt, lauern sie auf jede Bewegung
Ln den Nachbarhäusern, wo einer über die Straße zu lau-
fen versucht, krachen die Schüsse von allen Seiten. Da er-
starrt jede Bewegung unter dem Lauern von hundert heiß-
hungrigen Gewehrläufen. Ab und zu ertönt ein Schrei,
wenn plötzlich in irgendeinem Hause Freund und Feind auf-
einanderstoßen. Messer und Rolben arbeiten dann . . .
Aber das Verhängnis vollzieht sich draußen. Alles ist mit
feindlichen Gewehrläufen gespickt. 'Rein Haus, kein Damm,
kein Stellwerk am Bahngleise, keine Hecke, kein Erdloch
ohne das Lauern des heimtückischen Todes. Die nachrücken-
den Reserven werden zusammengeschossen, bleiben liegen,
müssen zurück. Der unsichtbare Feind ist überall und nir-
gends. Viel stärker ist die Besetzung des Ostrandes der
Stadt, als man vor dem Angriff angenommen. Die Ar-
tillerie ist ohne Verbindung, verzettelt ihr Feuer, die paar
Ln die vordere Linie mitgenommenen Geschütze werden von
belgischen Maschinengewehren niedergehalten. Major Vogel
von Falkenstein, der Rommandeur der Jäger, wird
von einer Rugel getroffen und sterbend nach Eessen zurück-
getragen ...
Als die Sonne untergeht, ist das Schicksal der Ln den Ost-
rand Eingedrungenen entschieden. Sie müssen zurück. Die
Munition geht aus.
Die rückläufige Bewegung überträgt sich unheimlich schnell
auf die Reserven. Es gibt kein Halten mehr. Ein paar
überlebende Offiziere sammeln, was sie gerade greifen kön-
nen, nehmen ein paar Maschinengewehre und gehen wieder
vor. Nutzlos. Das rasende Feuer schlägt abermals unter
sie. Die Flucht beginnt zum zweitenmal.
Ein Glück, daß der Gegner nicht über seine Stellung vom
Morgen hinaus nachfolgt. Die Nacht hindert ihn daran.
Am Rande von Eessen sammeln Offiziere von roi und von
den Jägern die gänzlich aufgelöst weichenden Truppen und
lassen sie sich eingraben. Ringsum brennen Gehöfte und
72
streuen flackernde Lichter umher. Stumpfsinnig liegen In-
fanteristen und Jäger in ihren Löchern . . .
Die ganze Nacht hindurch brodelt das Gewehrfeuer . . .
Das I. Bataillon von roi zählte 30 Tote, 169 Verwundete
und 1S7 Vermißte.
Das Reserve-Infanterie-Regiment roz rückte mittags in
beschleunigtem Marsch heran und entfaltete sich westlich
Eeffen zum Angriff auf den Südteil von Dixmude. Fünf
Feldartilleriebatterien waren südwestlich von Eeffen in Feuer-
stellung gegangen und schleuderten ihre Geschosse in die
Stadt.
Die ). und 2. Compagnie vom I. Bataillon wurden von der
Division als letzte Reserve ausgeschieden. Das II. Bataillon
schob sich eingreifbereit hinter das vor dem Nordteil der
Stadt Ln schwere Rämpfe verstrickte Regiment ro). Das III.
Bataillon mit der 3. und 4. Rompagnie des I. Bataillons
trug den Angriff von Süden her vor.
Zunächst ging es gut vorwärts. Bald wurden die Reste
der morgens schon eingesetzten Bataillone von ror erreicht,
die Ln unfruchtbare Feuergefechte verwickelt im Bogen süd-
östlich vor der Stadt lagen. An dem von Eeffen nach dem
Schloß führenden Wege gingen die Compagnien zum ersten-
mal in Stellung.
Ietzt wurde es drüben lebendig. Ein heftiges Maschinen-
gewehrfeuer prasselte aus der Reihe riesiger Pappeln, die die
Straße von Dixmude nach Süden einsäumen. Die ersten
Verluste entstanden. Der Schutz der eigenen Artillerie ver-
sagte. Entweder hatten die Batterien die Verbindung ver-
loren oder die Munition ging aus. Aber das hielt den An-
griff nicht auf. Von Norden her vernahm man das rol-
lende Rnattern der Gewehrsalven. Die gleichzeitig dort an-
greifenden Bataillone von ro) und die 15. Iäger schienen
sich der Stadt zu nähern. Langsam schob sich der Schlachten-
lärm dort oben Ln westlicher Richtung.
Da wollten die Angreifer im Süden ihren Bameraden nicht
nachstehen. Schon begann die Dunkelheit. Aber bis unter
der ständigen Behinderung durch die feindlichen Feuerüber-
fälle die Sturmformationen geordnet waren, wurde es 7 Uhr.
Die Oktobernacht breitete sich aus.
73
Endlich das Signal.
Die Kompagnien wußten noch nicht, welch schauriges
Schicksal inzwischen die Kameraden im Norden ereilt hatte.
Sie wähnten immer noch, daß es für sie gelte, den nördlichen
Angriff zu ergänzen und den Kompagnien von ro) auf dem
Marktplatz von Dixmude die Hand zu reichen.
Vorwärts!
wie eine Wolke brach der Schwarm los. Matt blinkten
im Feuerschein aus dem Rücken die aufgepflanzten Seiten-
gewehre. Gedämpft klangen die Kommandos.
Ein paar Wasserläufe wurden durchschritten, was mach-
ten die nassen Füße! Sie sollen schon warm werden vom
Vorwärtslaufen. Verirrte Belgierkugeln streckten hier und
da aus Reih und Glied einen Infanteristen zu Boden. Laut-
los fielen die Körper vornüber, und die Helme kullerten über
die wiese.
Nur weiter!
Jetzt traten die riesigen Pappeln aus der Dunkelheit und
wuchsen zu ungeheuren Gespenstern empor, die langsam auf
die Anrückenden zuzuschreiten schienen. Dahinter mußte bald
der Bahndamm kommen, der ganz gewiß von den Belgiern ...
Hinlegen!
wie niedergemäht verschwinden die Reihen. Ein jähes
Aufblitzen zuckt am Fuß der Pappeln, wiederholt sich in ra-
sender Geschwindigkeit. Als läge dort ein nächtliches Raub-
tier aus der Lauer und fletschte die Zähne, indes seine Augen
Blitze schossen. Ein belgisches Maschinengewehr.
Und jetzt ein zweites . . .
Das rasselt und beißt und bellt und pfeift eine schaurige
Melodie durch die zuckende Nacht und weckt immer neue
Raubtiere. In wenigen Minuten ist ein Lärm im Gange,
als sei ein heimlicher Dieb inmitten eines ungeheuren Hunde-
zwingers geraten.
Der Bahndamm ist Kopf an Kopf besetzt von Belgiern,
die in sinnloser Furcht vor einem Angriff das Vorgelände
mit einem Geschoßhagel bedecken.
Aber das schlimmste ist, daß die belgische Artillerie mit
wüsten Schlägen Ln das Konzert einstimmt. Es dauert nicht
lange, bis der erste Volltreffer in eine der Kompagnien fällt,
74
die hinter der ersten Linie in Rompagniekolonnen anrücken.
Ein zweiter folgt schnell. Inmitten des verworrenen Feuers
sind deutlich menschliche Schreie zu vernehmen.
Ungeschwächt rattern die Maschinengewehre vom Bahn-
damm. Und dann mischen sich von links aus der Richtung
des Schlosses ein paar Geschosse ein und jetzt auch von rechts
aus dem Rirchhof von Dixmude.
Oberst Frhr. Raitz von Frentz wird verwundet. Die
beiden Bataillonsführer, die Majore Gras pourtales
und von Weyrauch, ereilt das gleiche Schicksal. Die
Compagnien versuchen einen Vorstoß. Aber der Feuerschleier
ist so dicht, daß ein Aufrechtstehen fast den sicheren Tod be-
deutet. Reihenweise mäht der Tod die Angreifer nieder. Die
anderen scharren sich in die Erde.
Ein Offizier nach dem anderen fällt aus. Nutzlos scheint
das ohnmächtige Ausharren im Salvenfeuer eines Gegners,
der nicht einmal sein Ziel sehen kann und nur aufs Gerate-
wohl das ganze Gelände überschüttet. Er muß ja treffen.
Bis in die tiefe Nacht hinein bleiben die Rompagnien in
der Hölle liegen. Dann beginnen einzelne zu weichen.
Andere folgen. Niemand ist da, der sie anhält. Die Belgier
erkennen die Rückbewegung und verdoppeln ihr Feuer. Der
Rückzug wird zur nächtlichen Flucht.
Dicht westlich Hoogmolen werden die Reste des I. und III.
Bataillons gesammelt. Man erkennt allmählich die un-
geheuren Verluste. Viele Verwundete sind zurückgeblieben.
Der Maschinengewehrzug hat seine sämtlichen Gewehre ein-
gebüßt . . .
Der erste große Angriff auf Dixmude war gescheitert. Ge-
scheitert, weil man die Stärke des eingeschanzten Gegners
unterschätzt hatte, und weil die junge Truppe dem Angriff
auf einen kriegserfahrenen Gegner Ln bester Verteidigung^
stellung noch nicht gewachsen war. Entsetzlich verschwen-
derisch gingen die jungen Freiwilligen mit ihrem Blut um.
weil sie es nicht besser verstanden. Mit einem unvergleich-
lichen Angriffswillen stürzten sie todesbereit in dichten Mas-
sen gegen verschanzte Maschinengewehre und unsichtbare
Hecken- und Häuserschützen an. Reiner wollte hinter dem
andern zurückstehen, keiner langsamer sein als der andere.
75
Weit voran die Offiziere, angezündet von der Begeisterung
der Jugend.
So boten sie dem Tod eine willkommene Ernte.
Am Morgen des rr. Oktober begann ein großes Ordnen
der gänzlich durcheinandergeratenen Verbände. Erst jetzt
stellte sich die ganze Schwere der Verluste heraus, und noch
manche furchtbare Einzelheit aus der Nacht wurde bekannt.
Die Belgier hatten an zahlreichen Stellen nächtliche Ge-
genangriffe unternommen. Sie fühlten sich unbehaglich
unter dem zunehmenden Druck der deutschen Regimenter, die
sich von Nordosten bis zum Süden dicht um die zum
Brückenkopf ausgebaute Stadt geklammert hatten. Zumal
im Norden, wo die 44. Reserve-Division stellenweise bis dicht
an den Kserkanal vorgedrungen war, hatten sie große Be-
sorgnisse für den kommenden Tag.
Die zahlreichen Nachtangriffe hatten die jungen deutschen
Regimenter noch mehr verwirrt. Bedenklich war, daß noch
am späten Abend die Rückwärtsbewegung einiger Infanterie-
verbände sich bis auf die Feldartillerie übertrug. Die III.
Abteilung des Feldartillerieregiments 43 war am Spätnach-
mittag zur unmittelbaren Unterstützung des Infanterie-
angriffs bis dicht an die große Straße etwa Soo Meter west-
lich Eessen vorgerückt. Gegen )o Uhr abends kamen ein-
zelne Leute vom Regiment ro) und von den 15er Jägern
von vorn zurück und brachten alarmierende Nachrichten mit.
Die Nervosität der Artilleristen wurde noch vermehrt, als
die vorderen Linien der Infanterie, kurz nach )o Uhr, bis
an die Chaussee unmittelbar vor den Batterien zurückwichen,
so daß die Geschütze ohne jede Deckung in das lebhafte Strich-
feuer der feindlichen Infanterie gerieten. Die Bitte des Ab-
teilungskommandeurs, die Infanterie möchte wieder vor-
gehen, wurde nicht berücksichtigt. Im Gegenteil, ein großer
Teil der fast führerlosen Truppen ging ohne jede Ordnung
hinter die Batterien zurück. Noch wartete die Abteilung, ob
die Division nicht in Erkenntnis der heiklen Lage sofort
verfügbare Reserven vor die Feuerstellungen schieben würde.
Als aber nichts dergleichen erfolgte, und vielmehr die feind-
lichen Gewehrschüsse deutlich die bedrohliche Nähe des Geg-
ners anzeigten, entschloß sich die Abteilung zum Stellungs-
76
Wechsel nach rückwärts. Er vollzog sich in Ordnung und
Ruhe, war aber immerhin ein bedrohliches Zeichen der Ner-
vosität und des Mangels an Zusammenhalt zwischen den
Schwesterwaffen.
Trotz der schweren Verluste und der zahlreichen nächtlichen
Gefechtskrisen gewann die Führung am Vormittag des
LZ. Oktober den Eindruck, daß die Lage nicht so gefährlich
war, wie man noch in der Nacht angenommen hatte. Es
stand fest, daß der Gegner im ganzen Ln die Verteidigung ge-
drängt war und nur örtliche Entlastungsangriffe unternahm.
Die Fortschritte der 44. Reserve-Division und des im Nor-
den bis zum Meere kämpfenden III. Reservekorps ermutigten
die Regimenter. Zahlreiche Versprengte fanden sich wieder
ein. Zudem verhielt sich der Gegner einigermaßen ruhig.
Seine Verluste waren ebenfalls schwer, und die sinnlose Mu-
nitionsverschwendung zwang zur Ergänzung der Vorräte.
Mancher kühne Streich des Vortages machte die Runde
durch die niedergedrückten Freiwilligenverbände und ließ die
Köpfe wieder mutiger erheben, wer außerdem weiß, daß am
Hellen Tage im Kriege nichts so schlimm aussieht wie in der
Dunkelheit der Nacht, der wird verstehen, daß die Kom-
pagnien schon zwölf Stunden nach dem furchtbaren würgen
des flandrischen Todes Ln ihren Reihen wieder nur den Ge-
danken hatten, hinter dem rechten und linken Nachbarn nicht
zurückzubleiben. Die Tatsache der schweren Schlappe brannte
im Herzen.
Jedoch glaubte die Division, an diesem Tage der geschwäch-
ten Truppe keinen großen Angriff zutrauen zu dürfen. Dazu
veranlaßte sie vor allem die Überzeugung, daß man es rings
um Dixmude mit dem schwer befestigten Angelpunkt der
feindlichen Hauptstellung zu tun hatte. Die Erfahrungen des
r). Oktober lehrten, daß der Angriff auf diese Stellung nicht
ohne gründliche Vorbereitung möglich war. Dixmude war
im Süden und Osten zu einer regelrechten Feldbefestigung
ausgebaut. Die Belgier benützten dabei ihre vor Antwerpen
gewonnenen Erfahrungen Ln ausgiebiger weise. Ein Gra-
ben verlief hinter dem andern, verdeckt durch Hecken und
Sträucher, gesichert durch ein Gewirr von Drahthindernissen,
durch das nur ein Eingeweihter sich hindurchfand. Jede
Welle im Gelände war zu einem Stützpunkt ausgebaut und
mit einander flankierenden Maschinengewehren gesichert. In
77
den Fenstern der Randhäuser, in Blockhäusern an der Bahn-
linie nisteten die todspeienden Maschinengewehre Ln unüber-
sehbarer Zahl, jeden Augenblick feuerbereit. Das stark ver-
sumpfte Gelände östlich des Ranals bereitet zumal der 44.
Reserve-Division bei ihrem Vorgehen die zeitraubendsten
Schwierigkeiten. Indessen konnte man drüben jenseits der
User bei klarem Blick einen feindlichen Graben hinter dem
anderen erkennen, alle dicht besetzt mit Schützen, die sozusagen
von sicherem Balkon herab das Gelände östlich des Wassers
beherrschten. Flatterminen und das Fernfeuer englischer Mo-
torbatterien, die jeweils ihre Stellung wechselten, rissen
große Lücken Ln die Reihen der Angreifer. Soviel man durch
Gefangene feststellen konnte, befanden sich gegenüber etwa
4000 Belgier, die nach und nach durch zwei französische Ma-
rine-Infanterieregimenter verstärkt wurden. Die Belgier
schlugen sich mit jener Zähigkeit und Verbissenheit, mit der
eine tapfere Truppe den letzten Rest ihres Heimatlandes ver-
teidigt. Aufgefundene Befehle verrieten, daß sie sich des
furchtbaren Ernstes ihrer Lage bewußt waren. In einem
Befehl an die 4. belgische Division hieß es: „Von unserem
widerstand kann das Geschick selbst des ganzen Feldzuges ab-
hängen. Ich beschwöre Offiziere und Soldaten, ungeachtet
aller Anstrengungen, die ertragen werden müssen, mehr zu
tun als ihre bloße Pflicht. Das Heil des Vaterlandes und
jedes einzelnen hängt davon ab. Also widerstand bis zum
äußersten." Die Truppe handelte vollkommen im Sinne
dieses Befehls.
Das XXII. Reservekorps beschränkte sich also am rr. Ok-
tober auf die Vorbereitung eines neuen großen Angriffs, der
für den rz. geplant wurde. Überall wurden die Verbände
wiederhergestellt. Die Infanterie hob Gräben aus, in denen
sie ein Mindestmaß von Schutz gegen das andauernde Streu-
feuer fand. Beide Ranonenabteilungen der Divisionsfeld-
artillerie wurden auf Weisung des Artillerieführers zug- und
geschützweise in der vorderen Linie eingebaut, um den An-
griff mit direkter Schußwirkung vorwärtsbegleiten zu kön-
nen. Die Maschinengewehre wurden sorgfältig verteilt. Die
Munitionsvorräte wurden ergänzt, da zahlreiche Compagnien
sich bis zur letzten Patrone verschossen hatten. Das Ge-
neralkommando zog schwere Artillerie heran, die sich zur Be-
schießung der Stadt bereitstellte. Das Armeeoberkommando,
7S
das auch am 22. Oktober immer noch an der Auffassung fest-
hielt, daß man es in den augenblicklichen Linien nur mit
einem verhältnismäßig schwachen Gegner zu tun habe, be-
fahl für den 23. Oktober den allgemeinen Angriff, der mit
kräftigem Zufassen auf der ganzen Linie über die Äser hin-
übergeführt werden sollte . . .
Der rz. Oktober begann mit herrlichem Herbstwetter. Die
43. Reserve-Division gab folgenden Angriffsbefehl: „Die 44.
Reserve-Division wird heute hinter der bereits über die Äser
gelangten 6. Reserve-Division vom III. Reservekorps über
die Äser nördlich Dixmude gehen und dann nach Süden in
den Rücken der Stadt stoßen. Die 43. Reserve-Division
greift um 9 Uhr vormittags nach starker Artillerievor-
bereitung an. Reserve-Infanterie-Regiment 201 geht mit
dem Reserve-Jägerbataillon 15 von Osten Dixmude vor,
Reserve-Infanterie-Regiment 203 von Süden. Reserve-In-
fanterie-Regiment 202 unterstützt den Angriff im Süden,
zündet das Schloß an und stößt dann von dort gegen die
Ranallinie."
Über die unerhört wilden Rämpfe, die an diesem Tage die
über die Äser gedrungene 6. Reserve-Division und die hinter
ihr übergehende 44. Reserve-Division durchfochten, wird an
anderer Stelle zu sprechen sein. Die Unterstützung im Sü-
den blieb aus. Zunächst schritt der Angriff der 43. Reserve-
Division gut fort. Aber die Belgier und Franzosen waren
aus der Hut. Die Befestigungen waren zu stark. Nutzlos
vergossen die Regimenter abermals ihr Blut. Ein nennens-
werter Fortschritt wurde nicht erzielt, auch die geringen An-
fangsgewinne wurden wieder eingebüßt. Am Nachmittag
verbreitete sich das Gerücht, der Gegner habe die Stadt ge-
räumt. Es war ein kurzer Traum, der mit Blut bezahlt
werden mußte. Ungebrochen hielt der Gegner überall in
seinen alten Stellungen stand.
Der Abend des 23. Oktober fand alle Angriffsabteilungen
der 43. Reserve-Division nach schweren Verlusten in ihren
Ausgangsstellungen vom Morgen.
Der zweite Angriff auf Dixmude war abgeschlagen . . .
Ein für den 24. Oktober geplanter Angriff mußte auf-
geschoben werden, da es der schweren Artillerie an Munition
79
fehlte. Ein Ersenbahnzug, der die Granaten heranbringen
sollte, war im Etappengebiet entgleist, überall blieben die
Truppen durch ständige Patrouillen in engster Gefechtsfüh-
rung mit dem sehr unruhigen Gegner. Das Schloß, Ln dem
Franktireurs festgestellt wurden, wurde im Laufe des Tages
von Pionieren mit Handgranaten gründlich ausgeräuchert
und in Brand gesteckt. Ein rasch aufflackerndes heftiges Ge-
fecht war die Folge. Sehr unangenehm machte sich das
Feuer der schweren feindlichen Artillerie bemerkbar.
Es war nicht möglich, die vorn liegenden Truppen aus-
reichend zu verpflegen. Schlechtes Wetter setzte wieder ein,
die Munition war knapp. Krankheiten griffen rasch um sich.
Die Leute waren durch die Anstrengungen der nun schon
sechs Tage währenden Schlacht außerordentlich ermüdet. Je-
doch wirkten die Nachrichten von neuen Fortschritten des
III. Reservekorps und der 44. Reserve-Division ermutigend.
Dort hatte das III. Reservekorps mit allen Hauptkräften die
Wasserlinie überschritten, während die 44. Reserve-Division
mit dem rechten Flügel gefolgt war, mit dem linken kräftig
diesseits des Kanals unterstützte. Gute Nachrichten kamen
auch von den linken Nachbarn, wo das XXIII. Reservekorps
bis Luyghem und dicht vor Bixschote gelangt war, indes XXVI.
und XXVII. Reservekorps Ln der Linie Langemarck—östlich
Zonnebeke—Reutel—Kruiseik Schritt um Schritt mit dem
Gegner rangen.
Das Generalkommando drängte bei der 43. Reserve-Di-
vision auf energisches Vorgehen gegen die Stadt, wohl wis-
send, daß die ganze feindliche Front ins Wanken kommen
mußte, wenn man aus ihr diesen harten Stein brechen
würde . . .
Und so begann der dritte und furchtbarste Angriff auf
Dixmude.
Der Name Dixmude wird in den Herzen deutscher
Mütter stets einen schrecklichen Klang behalten. Dies stille
flandrische Städtchen, in wundervoller Anmut der langsam
abwärts gleitenden Rser vorgelagert, wandelte sich Ln ein
starrendes Bollwerk, das Tausende aus den Besten der deut-
schen Jugend durch sein trotziges Halt zum Sterben zwang.
Die flandrischen wiesen tranken soviel junges Blut, daß sie
So
von ihrem Überfluß der Rser abgaben, die sich langsam rot
zu färben begann. Die Hecken wandelten sich in Friedhofs-
mauern, hinter denen in zerschmetterten Reihen Freund neben
Freund in schier unabsehbarer Zahl den letzten Schlaf be-
gann.
Fürchterlich strafte der Kriegsgott das Städtlein für seine
Verwandlung. Der Brand tobte durch die Straßen, die Gie-
bel zerrissen im jähen Anhieb heranheulender Eisengefäße
und prasselten herab aus die zerlöcherten Straßen. Geschrei
von Lebenden und Sterbenden vermischte sich mit dem lär-
menden Tod der Stadt zu einer schauerlichen Musik, zu einem
vernichtungstrunkenen Inferno. Schwarzer Gualm stieg in
dichten Ballen gen Himmel, sich windend unter der Last
regengeschwollener Wolken. Am Tage wälzte sich der Gualm,
in der Nacht loderte die Glut. Tag und Nacht aber währte
das gräßliche Thaos des Lärms von Menschen, Tieren,
Schüssen, Schlägen, Bersten, Heulen und Jammern . . .
Das Städtlein schrumpfte zusammen und duckte sich unter
dem Anprall, aber aus tausend Wunden blutend gab es seine
Mauern nicht preis. Und selbst als die wilden Angreifer
mitten in seinem Leib wühlten, raffte es sich zu einem letz-
ten Krampf auf und spie die Vermessenen wieder aus. Die
meisten aber erwürgte es ... .
Dixmude, Dixmude . . . manches Klagelied ward um dich
gesungen ....
*
Die Nacht vom 24. zum 25. Oktober verlief einigermaßen
ruhig. Beide Gegner waren erschöpft.
Aus trüben Regenschleiern erhob sich der Morgen. Die
Kompagnien waren bis zum äußersten erschöpft, der Hunger
nagte in den Eingeweiden, Mäntel und Uniformen starrten
vor Dreck. In die trostlosen Farben der Ermattung ver-
sunken, breitete sich ringsum das niedergehämmerte flan-
drische Feld. Die Gräben standen voll Wasser, der Abtrans-
port der Verwundeten wurde fast zur Unmöglichkeit. Die
Toten lagen unmittelbar neben den Lebenden, und manche
Kugel bohrte sich in einen Leib, der kein Empfinden mehr
dafür hatte. Die Regimentskommandeure hielten einen
neuen Angriff bei dem Zustand der Bataillone für ausge-
schlossen. Aber das Generalkommando drängte, die Truppen
- BerrMelburg, Flander«
S;
Lm Norden und Süden verlangten unbedingt die Wegnahme
des Brückenkopfes, um ihre eigenen Erfolge nicht unwirksam
zu machen.
Und so wurde mittags der Angriff befohlen.
wieder hatten rv) und die Jäger den Nordstreifen, roz
den Südstreifen, die Feldartillerie war auf die Sturmtruppen
aufgeteilt.
Um i Uhr nachmittags begann die gesamte Artillerie ihr
Feuer zu verdichten. Inzwischen waren Mörser eingetroffen,
die ihre schweren Eisentöpfe seit dem Morgen in die Stadt
hineinwarfen. Offenbar stand der Gegner unter dem stärk-
sten Eindruck der Beschießung, denn er wagte sich kaum zu
regen. Es war aber auch möglich, daß er alle Rräfte für den
zu erwartenden Beginn des Angriffs aufbewahrte.
Gleichzeitig mit dem verstärkten Einsetzen des Artillerie-
feuers arbeiteten sich die Rompagnien der Stürmer im Zwi-
schengelände zwischen den feindlichen Infanteriestellungen
vor. Auf dem Bauche kriechend, das Gewehr am Riemen, zog
sich die Rette über die durchnäßten wiesen. Schon erhob sich
ein lebhaftes Geplänkel vor den belgischen Vorstellungen.
Unterdessen krachte in der Stadt der Hexenkessel der Ein-
schläge. Den verworrenen Schleier der Granaten und
Schrapnells zerrissen die aufbrüllenden Schläge der schweren
Mörser, deren Geschosse gleich riesigen brummenden Bienen
weit aus dem Osten durch die Luft herantändelten. Jedes-
mal, wenn eines davon niederfiel hinter den Häusern, stob
eine jähe Rauchwolke, vermischt mit dem roten Staub der
Ziegel und dem Gelb der einstürzenden Mauern, aufwärts.
Als schlüge ein Riese mit einem ungeheuren Hammer ein
Loch Ln die Erde und als ergösse sich aus dem Spalt ein gif-
tiger Spuk, so sprang das empor, ballte sich, dehnte sich,
reichte sich die Hände, verwob ineinander und wälzte sich Ln
trüber Schwerfälligkeit davon. Bald lag über der unglück-
lichen Stadt eine einzige, brodelnde, lärmdurchzuckte, blitz-
durchwühlte Dunstwolke.
Go mochte der Anblick sein, der sich Lots Weib bot, als
sie den Blick gen Sodom und Gomorrha lenkte.
Unterdessen lagen die Schützen des Reserve-Infanterie-Re-
giments LO) und der 15. Jäger schon vor den ersten bel-
gischen Gräben und schössen sich mit dem Gegner herum. Die
Rugeln pfiffen hinüber und herüber, und mancher ließ das
Sr.
Gewehr fallen und drehte sich auf die Seite. Die Belgier
standen jedoch so unter dem Eindruck des Feuers auf Dix-
mude, daß ihre Gegenwehr immer zaghafter wurde.
Da begann die deutsche schwere Artillerie ihr Feuer auf
die feindlichen Infanteriestellungen zu lenken. Nur ein paar
4r-ZentLmeter-Mörser schleuderten Ln regelmäßigen Abständen
ihre Riesentöpfe auf die Stadt. Im Augenblick verstumm-
ten die Gewehre.
Die Reihen der Angreifer erhoben sich vom Boden. Aber
da ratterte schon wieder von irgendeiner Flankenstellung her
ein Maschinengewehr und warf eine ganze Anzahl von Leu-
ten zu Boden. Der Rest drang weiter. )5o Meter trennten
noch von den ersten Häusern der Stadt, drei oder vier bel-
gische Gräben, angefüllt mit Toten und Verwundeten, waren
überschritten.
Aber der Ostrand der Stadt war immer noch stark besetzt.
Die deutsche Artillerie mußte ihr Feuer mehr nach der Mitte
verlegen, weil sie sonst die eigenen Truppen gefährdete. Die
Belgier erkannten schnell diese Lage und warfen alles, was
noch vorhanden war, in die Randhäuser. Aus Fenstern und
Kellerlöchern starrten die Gewehrläufe. Jede Bewegung im
Vorfeld weckte ein irrsinniges Geknatter. In den Haus-
türen und den winkeln der Gartenmauer hockten krachende
Maschinengewehre und peitschten ihre Kugelreihen unter die
auf die Erde gepreßten Angreifer ....
Die Dämmerung sinkt langsam herab, und immer noch lie-
gen die Kompagnien, dem rasenden Feuer des Gegners ausge-
setzt, vor den Häusern der Stadt. Nutzlos verbluten sie.
Das Artilleriefeuer ist verzettelt und hat die Verbindung mit
den Angreifern verloren. Ohne einen regelrechten neuen An-
griff ist nichts zu machen. Hier liegenbleiben ist unmöglich.
Entweder werden die schwachen Linien Ln der Nacht über-
rannt, oder spätestens am Morgen schießt der Gegner alles
aus sicherer Position zusammen.
Zähneknirschend kriechen die Gruppen zurück. Die Ver-
wundeten werden mitgenommen, die Toten bleiben einsam
zurück, wenige Minuten nach sechs Uhr sind alle Verbände
wieder in den alten Stellungen. Seit sechs Tagen hat es
nun keine richtige Verpflegung gegeben. Und jetzt beginnt
es auch wieder zu regnen. Endlos fällt das vom Himmel
6*
83
herunter und tötet den letzten Rest der Widerstandskraft.
Stumpfsinn Lg hockt alles in den Gräben.
Es weckt auch keine große Bewegung, als um 7 Uhr der
Befehl der Division überbracht wird, der Angriff auf Dip-
müde sei unter allen Umständen sofort zu wiederholen und
unbedingt durchzuführen.
Die z. und 4. Rompagnie, die der Befehl trifft, machen sich
ohne ein Wort fertig und stolpern in Dunkelheit und Regen
nach vorn, geradenwegs aus Dixmude zu. Bald sehen die
Zurückbleibenden die letzten im Dunkel untertauchen . . .
was dann kam, war grauenhaft . . .
Die von der r. und r. Rompagnie sahen nicht sehr viel
davon. Die Nacht verhüllte alles, und der Lärm da vorn
konnte auch gerade so gut von einem Feuerübersall her-
rühren. Das Geschrei der Menschen, denen das kalte Eisen
in den Leib fuhr, drang nicht bis hierher. Die Häuser von
Dixmude verschlangen es in ihren Mauern. Der Flammen-
schein aus dem Marktplatz konnte auch von irgendeinem
Granateinschlag herkommen. Die verzerrten Gesichter der
ineinander verbissenen Rämpfcr sah niemand von draußen.
Es währte auch nicht sehr lange.
Daß keiner zurückkam, nahm zunächst auch nicht groß
wunder. Vielleicht war der Angriff gelungen, und jeder
Mann wurde gebraucht da vorn. Aber sie hätten doch
wenigstens einen Melder zurückschicken können, der die Re-
serven zur Unterstützung nach vorn führte, vielleicht hatten
sie einen abgesandt, und der hatte sich in der Finsternis
Verlaufen.
Entsetzlich langsam zerrannen die Stunden. Eine merk-
würdige Stille herrschte jetzt da vorn. wie auf einem
Friedhof . . .
Unterdessen war alles schon zu Ende.
Die 3. und 4. Rompagnie waren im ersten Anlauf mitten
in die Stadt eingedrungen und schlugen sich im Handum-
drehen mit den Belgiern aus dem Marktplatz herum. Die
Dunkelheit schied kaum Freund und Feind. Im Flackerschein
des Brandes stießen die Gegner auseinander. Messer und
Gewehrkolben verrichteten blutige Arbeit. Die Belgier
stiegen in die oberen Stockwerke und eröffneten ein Gemetzel
von oben herab. Das Blut stoß auf der Straße und sam-
melte sich in den Gossen. Oberleutnant Dugend sank zu
S4
Boden und wurde schwer verwundet von den Feinden fort-
geschleppt. Oberleutnant von Weiher brach zusammen,
lag die ganze Nacht in seinem Blut und wurde am Morgen
von seinen Leuten gerettet. Dein Offizier mehr war da. Regel-
los schlug sich alles durcheinander. Das Geschrei verklang all-
mählich . . .
Nach und nach kehrten im ganzen etwa 25 Mann von
beiden Dompagnien zuruck. Sie sprachen nicht und jammerten
nicht. Es war alles zu Ende . . .
Mitternacht war schon vorüber, als die Belgier zum
Gegenstoß aus Dixmude vorgingen. Inzwischen war das
II. Bataillon von ro) aus belgischen Gräben nördlich der
Chaussee von Eessen nach Dixmude vorgerückt, um das
!. Bataillon zu unterstützen. Bei der Dapelle de bon secours,
dicht neben der Straße, erfuhren die Reserven von den
Ereignissen beim I. Bataillon. Der Bataillonsführer ließ
die Ausgangsgräben des l. Bataillons besetzen und wartete
auf den belgischen Gegenstoß.
Das III. Bataillon bekam Befehl, unter allen Umständen
Eessen-Dappel, halbwegs von Eessen nach Dixmude, gegen
jeden belgischen Angriff zu halten. Die 10. Dompagnie erhielt
einen Volltreffer, der drei Mann tötete und 15 verwundete.
Der belgische Angriff kam nur halb zur Entwicklung und
wurde ohne große Mühe abgewiesen . . .
* »
*
Mitten im strömenden Regen, wohl gegen 10 Uhr abends,
wurden bei dem im südlichen Angriffsabschnitt liegenden
Reserve-Infanterie-Regiment roz die schweren Mißerfolge
des Schwesterregiments und der Jäger bekannt. Nicht viel
später kam der Befehl, das Regiment solle sofort zum Nacht-
angriff aus die Stadt von Süden her antreten, um die
gefährdete Lage im Nordabschnitt zu entspannen.
Niemand sah diesem Angriff im Dunkeln, bei strömendem
Regen, durch ein Gewirr von Wasserläusen, Hecken, wegen
und Dämmen mit großem Vertrauen entgegen. Aber er war
befohlen und wurde also ausgeführt.
Es dauerte bis 1 Uhr nachts, ehe die Bewegung angetreten
werden konnte. Immer noch rann der Regen. Dein Faden
mehr war trocken. Undurchsichtig dehnte sich die flacht, nur
ein paar irrende Lichtrefiexe huschten hier und da über die
§5
Gestalten. Reiner sprach ein Wort. Die Gewehre waren
entladen, die Seitengewehre aufgepflanzt. Seltsam geister-
haft blinkten ihre Flächen im Lichtschimmer. Gerät klapperte,
einförmig stapften die Schritte. Ab und zu klang gedämpft
ein Führerwort.
In Gruppenkolonne schritten die Rompagnien auf und
neben der Straße von Süden gegen die Stadt vor.
Da war keiner, der nicht eine ganz bestimmte Vorstellung
von dem Rommenden hatte. Aber man sprach nicht davon.
Hin und wieder peitschte nach einem gellenden Schlag eine
Rugel durch die Bäume. Und der Regen rann und rann.
Uber der Stadt zuckten die Lichter. Deutlich vernahm man
das heimliche Rnistern der Brände. Die Nacht macht alle
Ohren hellhörig.
Zehn Minuten schon dauerte der Marsch. Es ging vor-
wärts, als rückte man in nächtliche (Quartiere nach einer an-
strengenden Übung. Alles war so unwirklich. Vielleicht war
alles nur ein Traum.
wenn einer im Glied den Ropf hob und auf das pfeifen
einer Rüge! horchte, taten wohl die anderen es ihm nach.
Aber dann trottete alles wieder weiter.
Das merkwürdige Gefühl der Unwirklichkeit wurde noch
durch die seltsamen Umstände vermehrt, unter denen das
I. Bataillon den Angriffsbefehl erhalten. Er war von einem
Oberstleutnant überbracht worden, dessen Name und Her-
kunft niemand kannte. Auf einmal war er wieder fort-
gewesen, verschluckt von der Nacht. Jeder wollte ihn gesehen
haben, keiner wußte, wie er aussah, plötzlich aber tauchte
er wieder auf, und sofort erkannten ihn alle. Indem er
neben den vorrückenden Rolonnen schritt, traf ihn eine ver-
irrte Rugel. Lautlos sank er zusammen. Niemand fand
seinen Leichnam. Er mochte hinter eine Hecke oder in einen
Wassergraben gefallen sein. Oder ob er gar kein Mensch
gewesen; . . .
Da erwacht in jähem Anprall die Hölle. Die Belgier
mußten etwas gemerkt haben. Maschinengewehre bellten aus
unsichtbaren Stellungen los und mähten gleich einer un-
geheuren Sense über die Straße. Und schon krachten auch
die ersten Granaten, als wären vom Nachthimmel ein paar
betrunkene Teufel herabgesprungen.
Die vorn marschierenden Offiziere fielen. Die Compagnien
stoben von der Straße herunter. Jede Sekunde brachte neue
Verluste. Die Gruppen verloren den Zusammenhalt. Rufe
gellten durch das Dunkel.
Dazwischen zerrissen die Granaten und fegten die Schläge
der Maschinengewehre . . .
Nach Verlust von fast sämtlichen Offizieren sammelten sich
im Laufe der Nacht in den alten Stellungen die Reste der
Angriffstruppen. Das I. Bataillon allein zählte 24 Tote,
1O2 Verwundete und 34 Vermißte . . .
§angemarck
Als die jungen Regimenter singend durch Belgien mar-
schierten, hatten sie von den englischen Landtruppen nur
die Vorstellung, die Natur habe sie mit so langen Beinen
ausgerüstet, damit sie schneller davonlaufen könnten. Die
Unterschätzung des Gegners ist ein Erbfehler der Deutschen,
jugendlicher Übermut tat das übrige. „Engländerfang" war
der sachmäßige Ausdruck für den bevorstehenden Feldzug.
Daß bis spätestens Weihnachten alles beendet war, schien
Gewißheit. Der Begriff des Söldnerheeres war dem durch
die allgemeine Wehrpflicht erzogenen Deutschen so fremd,
daß er sich kaum vorstellen konnte, wie eine solche Truppe
für einige Pence pro Tag für ihr Vaterland tapfer kämpfen
konnte. Witze wurden gerissen und Zukunstspläne ge-
schmiedet. Ohne einen erbeuteten Tennisschläger wollten die
wenigsten nach Hause kommen. Es gab auch ältere Offiziere
und erfahrene Leute, die sich ihre eigenen Gedanken machten
und denen der Rampswert englischer Truppen aus Rolonial-
feldzügen geläufig war. Teils mochten sie die allgemeine
Stimmung durch Unken nicht beeinträchtigen, teils hörte
man nicht aus sie. Es hat nur wenige Stunden gedauert
um die Regimenter durch eine blutige Unterweisung eines
anderen zu belehren. Die englischen Rampsverbände, die
gleich zu Beginn des Rrieges aus das Festland hinüber-
geworsen wurden, rekrutierten sich aus Formationen, die fast
alle schon in den Rolonien Verwendung gesunden hatten«
Die Ausnutzung des Geländes im Angriff und in der Ver-
teidigung, die Zuhilfenahme künstlicher Deckungen und die
Irreführung des Gegners durch falsche Bewegungen, die
kalte Ruhe im Gefecht und das überlegte Abschießen des
Gegners aus unsichtbarer Stellung waren Begriffe, die ihnen
Ln Fleisch und Blut übergegangen waren. Mit einer Zähig-
keit klammerten sich die Truppen an das Gelände, die stets
neue Tricks erfand und nachts überraschend durch einen
SS
Handstreich zurücknahm, was tagsüber die deutschen Frei-
willigen mit Hekatomben von Menschenleben gewonnen.
Gportgeist und Iägerinstinkte schufen Voraussetzungen für
das Gefecht, die kein opferbereiter Idealismus aufzuwiegen
vermochte. Gst lagen die deutschen Sturmtruppen stunden-
lang vor einem vermeintlichen englischen Graben und ent-
deckten beim Sturmangriff, daß er nur aus einer Reihe aus-
gehobener Grabenstücke bestand, die mit Rübenköpfen gar-
niert war. In die Verwirrung, die jedem Angriff folgt,
prasselte dann das Feuer aus dem dahinterliegenden richtigen
Graben. Jede englische Stellung war unter dem Gesichts-
punkt des Verteidigungsgefechts angelegt und sah alle Mög-
lichkeiten des gedeckten Rückzuges und der schweren Schädi-
gung des vordringenden Gegners voraus. Schulterwehren,
Flankendeckungen, Unterstände, Brustwehren waren An-
gelegenheiten, die in der deutschen Truppenausbildung als
ein notwendiges Obel mit sichtlichem Unbehagen gestreift
wurden, die aber dem Engländer vertraut waren wie das
tägliche Brot. Die taktische Überlegung und der Grundsatz:
„wie schade ich dem Gegner am meisten in jeder Phase des
Gefechts", stand obenan, während der Deutsche dem Grund-
satz huldigte: „welches ist der kürzeste weg zum Erreichen
des Angriffszieles." Noch im Augenblick der Niederlage
verließ den Engländer das Gefühl des spitzfindigen Menschen-
verstandes nicht. Die deutschen Angreifer erstaunten oft über
die große Zahl von Toten in den englischen Gräben, bis sie
entdeckten, daß diese Toten zum großen Teil noch sehr be-
weglich waren, war der Engländer einmal gefangen und
sah er die Unabänderlichkeit seines Schicksals ein, so fand er
sich schnell in die neue Lage und seine einzige Sorge war,
nicht in Berührung mit seinen gefangenen Bundesgenossen
zu gelangen, die er im Grunde seines Herzens für Geschöpfe
minderer Art hielt. Der Rrieg war für ihn mit dem Augen-
blick der praktischen Unmöglichkeit beendet und beschwerte
fortan weder sein Gewissen noch sein Gemüt.
Zwei besondere taktische Spezialitäten der Engländer seien
noch erwähnt, während der deutsche Soldat nur zu schießen
gewohnt war, wenn er ein Ziel sah, wandte der Engländer
bei nächtlicher Dunkelheit ein Verfahren indirekten Gewehr-
feuers an, das unseren Regimentern außerordentlich zu
schaffen machte, weniger durch die praktischen Ergebnisse,
die minimal waren, als durch die Beanspruchung der Nerven.
Nichts ist für eine Truppe, deren Ausbildung unter Mangel
an Zeit und Material gelitten, gefährlicher als der nächtliche
Feuerüberfall. Die Dunkelheit vergrößert die Gefahr-
momente ins Unendliche, die von der Tagesanstrengung er-
matteten Nerven geraten in einen Zustand der Überreizung,
der der beste Nährboden der Panikstimmung ist. Gerüchte
schwirren, Mißtrauen schleicht umher, das Auge sieht den
Führer nicht, und die Waffe findet kein Ziel. Und wenn die
Anforderungen des nächsten Tages herantreten, finden sie
eine übernächtige, zermürbte Truppe, die ihrer eigenen
Stärke mißtraut.
Häufig lagen deutsche Sturmabteilungen im Angriff vor
Waldrändern. Entsprechend den Paragraphen des Exerzier-
reglements ließen die Schützen fein säuberlich den unteren
Waldrand aufsitzen und erstaunten über die geringe Wirkung
ihres Feuers, wenn endlich unter schweren Verlusten die
ersten Baumreihen erkämpft waren, wurde festgestellt, daß
der Gegner sich in den Baumkronen eingenistet hatte und
aus dem Laubdach seine wohlgezielten Rugeln mit aus die
Äste aufgelegtem Gewehr abfeuerte. Sogar Maschinen-
gewehre wurden dort oben eingebaut. Die Baumschützen
ruhten nicht eher, bis die erbitterten Angreifer sie einzeln aus
den Ästen herabgeschossen. So fanden die Engländer täglich
neue taktische Mittel, die Deutschen aufzuhalten, zu beun-
ruhigen, ihnen Verluste beizubringen, die Führung zu be-
einträchtigen. Jede neue Erfahrung kostete die Angreifer
Ströme von Blut . . .
An anderer Stelle ist schon über die Beschaffenheit des
Rampfgeländes gesprochen worden, das den Verteidigern alle
Vorteile, den Angreifern eine Summe gewaltiger Er-
schwerungen darbot. Der Briegserfahrung des Gegners, dem
taktischen Geschick der Engländer und dem fanatischen Ver-
teidigungswillen der um den letzten Fleck ihres Heimatbodens
ringenden Belgier hatten die deutschen Freiwilligen nichts
entgegenzustellen als eine heroische Opferbereitschaft und
einen unvergleichlichen willen zum Sieg. Die Mängel der
Ausbildung machten sich an allen Ecken und Enden bemerk-
bar. Der übermenschliche Grad jugendlicher Begeisterung und
das Gefühl, daß die Augen ganz Deutschlands auf seinen
jungen Söhnen ruhten, die Verwachsenheit mit der Heimat
90
und die im Blut liegende hohe Auffassung vom Soldaten-
beruf halfen die fürchterlichsten Nackenschläge überwinden
und befähigten die durch ein mehrwöchiges Blutbad ge-
gangenen Truppen noch in der Mitte des November zu
jenen denkwürdigen Massenstürmen, in denen die Scharen
der Todgeweihten hinjauchzten in den Streit gleich den
Söhnen der Antike. Niemals ist das starre Gesicht des
Todes heiliger gewesen denn damals, als die flandrischen
Kanäle sich rot färbten vom Blut, und als sich hinter den
Hecken die Leichen der Erschlagenen auftürmten zu Hügeln,
wer die ewige Verklärung dieses verschwenderischen Opfers
nicht zu fassen vermöchte, der müßte verzweifeln angesichts
solchen Grauens . . .
Das XXVI. Reservekorps unter der Führung des Generals
der Infanterie Freiherrn von Hügel trat am ro. Ok-
tober 9 Uhr früh aus der Linie Staden—Moorslede zum An-
griff in Richtung auf den Raum zwischen Bixschote rechts
und Zonnebeke links an. Sein rechter Flügel schloß am Rand
des Houthulster Waldes an das XXIII. Reservekorps,
sein linker Flügel im Süden bei Moorslede an das gegen
Beeelaere vorgehende XXVII. Reservekorps. Vor dem Zen-
trum des Korps an der Bahnlinie von Thourout nach
Zypern, umsäumt von den Wiesengründen des Kortebeek und
des Haanebeek, lag das Dörflein Lange marck.
Bei Tagesanbruch gruppierten sich die Bataillone der im
rechten Abschnitt vorrückenden 51. Reserve-Division in
weitem Gürtel um das vom Gegner schwach besetzte Oost-
nieuwkerke. Der Feind wartete den konzentrischen Angriff
nicht ab, räumte den Ort und ging auf einige Erdwellen
beiderseits von westroosebeke in vorbereitete Vorposten-
stellungen zurück. In Zwei Kolonnen folgte die Division.
Gegen )o Uhr empfing die Spitze der Marschkolonnen dies-
seits von westroosebeke feindliches Artilleriefeuer und schritt
zur Entwicklung von Angriffsformationen. Die Infanterie
wartete, bis die Feldartillerie westlich von Oostnieuwkerke
in Feuerstellung gegangen war und den Kampf gegen die
feindlichen Batterien aufgenommen hatte.
Kurz nach )r Uhr erhoben sich die Schützenlinien zum An-
griff. Der nördliche Flügel erhielt lebhaftes Flankenseuer
91
von rechts, wo der linke Flügel des XXIII. Reservekorps an
der Eisenbahn südwestlich von Staden noch stark zurückhing,
und mußte angehalten werden. Sein Stocken übertrug sich
auch auf Mitte und linken Flügel. Die Feldartillerie schob
einen Teil ihrer Geschütze bis in die Linien der Sturm-
infanterie. Mit ihrer Unterstützung kam endlich zwischen z
und 4 Uhr neuer Fluß in die Bewegung. Um 4 Uhr war
Westroosebeke nördlich und südlich umflügelt und wurde vom
Gegner fluchtartig geräumt. Die 5). Reserve-Division nahm
sofort die Verfolgung in Richtung aus Poelkappelle auf.
Drei Offiziere und )oz Mann vom 41. französischen Linien-
regiment wurden von den nachdringenden Truppen des
Reserve-Insanterie-Regiments 235 gefangengenommen. Als
die Dunkelheit anbrach, hatte das Reserve-Iägerbataillon
Nr. rz die Bahnstation von Poelkappelle erreicht, die vom
Orte selbst etwa eine halbe Stunde Ln nordwestlicher Richtung
entfernt liegt. Die Jäger trieben sofort starke Sicherungen
gegen den Südrand des Houthulster Waldes vor, der noch
völlig im Besitze des Gegners war und alle möglichen Über-
raschungen für den in der Lust hängenden rechten Flügel des
XXVI. Reservekorps enthalten konnte. Das XXIII. Reserve-
korps hatte an diesem Abend den Ostrand des großen Wald-
komplexes erreicht und verzichtete daraus, in der Dunkelheit
einzudringen. Die Hauptkräfte der 5). Reserve-Division be-
zogen Ortsbiwak in Poelkappelle und rüsteten für den
nächsten Tag zum Angriff aus den Kortebeek-Abschnitt und
das etwa noch drei Kilometer von ihnen getrennte Lange-
marck . . .
Inzwischen war auch im linken Teil des Korpsabschnittes
die 5r. Reserve-Division mit dem Gegner ernstlich an-
einandergeraten. wie ihre Schwester-division hatte sie
zwei Angriffskolonnen formiert. Die linke Kolonne umfaßte
die Reserveregimenter 23S und 240, die rechte nördliche
Kolonne rz? und 2ZY. Beide Kolonnen hatten Richtung auf
den Raum zwischen passchendaele, Zonnebeke, Broodseinde
und Keiberg, das Zentrum des Hügelkranzes im Osten von
Rpern. Frühmorgens erhielt die Spitze der Nordkolonne
beim Heraustreten aus Moorslede scharfes Infanteriefeuer
und entwickelte sich sofort zum Schützengesecht. Die nach-
rückenden Regimenter füllten die Reihen auf. Den ganzen
Vormittag währte das langsam vorwärtsschreitende Gefecht,
sr
das rechts von den rz§ern im Anschluß an die 51. Reserve-
division, links von den rz?ern geführt wurde. Die Süd-
kolonne hatte sich beiderseits der von Moorslede nach Reiberg
und Broodseinde führende Straße entwickelt.
Stundenlang brodelte das Infanteriefeuer, ohne daß man
recht vorwärtskam. Endlich um r Uhr mittags erhoben sich
die Gchützenlifsien der Nordkolonne zum Sturm und ge-
wannen in raschem, erbittertem Gefecht das Dorf pas-
schendale, wobei rzy rechts und rzr links des Ortes durch-
stießen. Anschließend kam auch die Bewegung der Süd-
kolonne in Fluß. Geyen Abend erreichte sie mit rz9 eine
Reihe einzelner Gehöfte im Ostrand von Broodseinde,
wahrend 240 aus dem linken Flügel die Waldstücke südöstlich
von Broodseinde durchschritt.
Die ganze Front des XXIII. Reservekorps hatte den
engsten Rontakt mit dem Gegner hergestellt und grub sich in
flüchtigen Gräben ein, soweit nicht Häuser und Straßen-
gräben genügend Deckung boten. Die Verluste waren überall
gering gewesen, die Stimmung war durch die Erfolge des
Tages und besonders durch die Gefangennahme der Fran-
zosen aus dem Nordflügel die denkbar beste. Die Regimenter
brannten darauf, am nächsten Tage die Entscheidung zu er-
zwingen und von dem Höhenkranz herab den ersten Blick
auf Rpern zu werfen.
Die Nacht verlief ruhig mit Postengang, Feldwachen und
Patrouillen, just wie die Felddienstordnung es vorschreibt.
In der Nacht ergingen die Angriffsbefehle für den ri. Ok-
tober. Ziel war die Überwindung des Uerabschnittes im
Norden der Stadt Rpern. Im engen verband mit den
Nachbarkorps sollte das XXVI. Reservekorps die Entschei-
dung herbeiführen. Seit dem Abend des ro. brandete links
rings um Becelacre die Schlacht und entwickelte sich nachts
zu einer ernsten Rrise. Rechts wurde das XXIII. Reserve-
korps immer noch durch den Houthulster Wald auf-
gehalten. Die 46. Reserve-Division hatte dort Befehl, nörd-
lich des Waldes durchzustoßen und sodann durch eine
Schwenkung nach Süden die Vereinigung mit der 5). Re-
serve-Division zu vollziehen. Die 51. Reserve-Division selbst
sollte den Angriff gegen den Ranalabschnitt ohne Rücksicht
93
auf die ungeklärte Lage im Houthulster Walde führen, der
im Verlaufe der Angriffsbewegung unmittelbar Ln ihren
Rücken gelangen mußte. Im Zentrum des Angriffsgeländes
lag Langemarck, von der Natur zu hartnäckiger Ver-
teidigung eingerichtet. Bahndämme, Straßengräben und
wafferläufe boten vorzügliche Deckung, verstreute Gehöfte
und Erdwellen gaben den feindlichen Maschinengewehren die
besten Schußfelder. Der Kortebeek-Abschnitt diesseits und
der Haanebeek-Abschnitt jenseits des Dorfes waren die
reinsten Menschenfallen. Nur an wenigen weit sichtbaren
Stellen überschreitbar, mußten sie den Angreifer mitten vor
die Gewehrläufe des versteckten Verteidigers zwingen. Fiel
aber Langemarck, so war der Ausgang aus dem Hügelkranz
nach Westen hin erkämpft und der weg bis zur Rser im
Norden von Zypern frei. Längs der von Langemarck schnur-
stracks zur Rser führenden Bahn waren es noch etwa vier
Kilometer bis zum Wasser.
Der Angriff auf Langemarck war Aufgabe der 5). Reserve-
Division. Die Division erhielt Befehl, vier Angriffs-
kolonnen aus den einzelnen Regimentern zu formieren. Alle
vier Kolonnen sollten von Poelkappeüe aus um § Uhr vor-
mittags die Bewegung antreten und von rechts nach links
auf Südrand Bixschote Weidendreft-Steenstraate, nördlich
um Langemarck auf Het Sas und südlich um Langemarck auf
pilkem Richtung nehmen. Die schwere Artillerie erhielt
Befehl, Ln der Nacht zwischen Poelkappelle und westroofe-
dere Ln Stellung zu gehen und von Helligkeit an bis zum
Angriffsbeginn ihre ganze Feuerkraft auf Langemarck zu
vereinigen.
Der Angriffsstoß der 5). Reserve-Division sollte im linken
Unterabschnitt des Korps von der 52. Reserve-Division durch
energischen Umfaffungsangriff auf Broodseinde unterstützt
werden. Dabei waren die Höhen nördlich des Dorfes zu
stürmen, die rechte Flanke des vor der 5). Reserve-Division
liegenden Gegners einzudrücken und in starker Staffelung
hinter dem linken Flügel der 5). Reserve-Division zu folgen.
Für die 52. Reserve-Division, die schon am Abend des 20. Ok-
tober im Ostteil von Broodseinde und nördlich des Ortes
mit dem Engländer heftige Kämpfe ausgefochten hatte, be-
deutete also der Morgen des 2). Oktober zunächst die Wieder-
holung der Rampfarbeit des Vortages.
04
In der Nacht hatte der Gegner genügend Zeit und Muße
gehabt, sich auf diesen Angriff vorzubereiten.
Der Aufmarsch zum Angriff vollzog sich nach Hellwerden
bei unsichtigem Wetter ohne größere Störung durch den ab-
wartenden Gegner.
Rurz nach zehn Uhr traten die vordersten Schützenlinien
der 5). Reserve-Division aus dem Westrand von Poelkappelle
heraus und entwickelten sich gegen Langemarck, das unter
den Einschlägen der schweren Granaten sich in eine schwarze
Rauchwolke verwandelte. Ohne Aufhören rauschten die Flug-
bahnen der Geschosse von Osten heran, zischten über die
Röpfe der Angreifer hinweg und zerbarsten mit dumpfen
Aufschlag in den Häusern. Offenbar wirkte das Feuer gut.
In Poelkappelle stauten sich die Rolonnen der Reserven.
Eine Rompagnie nach der anderen nahm die Gewehre in die
Hand. Ein paar Rommandos, ein Abschiedsgruß, das Ge-
klapper der Stiefel füllte die Straßen. Am Ortsrand Ent-
wicklung. Richtung die Front von Langemarck. Vorwärts
Ln langen Sprüngen.
Eine Viertelstunde später prasselten die Rugeln aus der
Häuserfront von Langemarck gegen die Schützenlinien. Das
Vorgehen stockte. Die ersten Verluste entstanden. Gruppen-
weise arbeiteten die Angreifer sich vor. Rechts und links
rückten die Regimenter auf, entwickelten ihre Spitzen-
bataillone und nährten das Gefecht mit den nachrückenden
Reserven. Das ungeheure Panorama der Schlacht entrollte
sich in seiner ganzen Furchtbarkeit und seiner grauenhaften
Pracht. Die Feldartillerie zog ihre Geschütze nach vorn in
die Reihen der Infanterie und bekämpfte auf kürzeste Ent-
fernung Häuserblocks und Maschinengervehrnester. Die grau-
blauen Gestalten der Franzosen, die bei Langemarck an die
Engländer anschlössen, flohen aus den vorgeschobenen Stel-
lungen zurück. Manch einer brach im Feuer der deutschen
Schützenketten zusammen, der Rest zerstreute sich. Die An-
greifer begannen sich zu vermischen, da die aus Poelkappelle
heraustretenden Reserven im Drang nach vorwärts ein-
schwärmten, wo gerade die Lage des Rampfes es zu er-
fordern schien. Sobald eine Gruppe den Boden verließ,
§5
ratterten die französischen Maschinengewehre und streckten
einen nach dem andern auf das Feld.
Und jetzt begann auch das wüste Bonzert der feindlichen
Artillerie, alarmiert durch den Lärm des Gewehrseuers. In
das Platzen der Schrapnells mischte sich der klirrende Brach
der Granaten und das wilde Geheul der umherjagenden
Eisensplitter . . .
Einzelne Gruppen müssen zurück, weil feindliche Batterien
mit direktem Schuß ihre Granaten über sie schütten. Die
Rückbewegung steckt an, ganze Bompagnien beginnen zu
weichen. Offiziere setzen sich an die Spitze, die Bommandos
gellen. Abermals springen die Schützenlinien vor, un-
bekümmert um die Verluste. Hauptmann Schröter von der
5. Bompagnie 235 stürzt mit einem Aufschrei zusammen und
laßt aus dem Schlachtfeld nach wenigen Minuten sein Leben.
Die Truppen versuchen, durch seitliches Ausweichen dem ver-
heerenden Artilleriefeuer zu entgehen. Nutzlos. Die vor-
züglich geleiteten Batterien folgen mit dem Feuer nach
kürzester Zeit.
rzd hat das II. und III. Bataillon zum Angriff entwickelt
und geht rechts von dem schwer ringenden und blutenden
235 sprungweise vor. Um 11 Uhr morgens schon muß der
Regimentskommandeur seine letzten Reserven einschieben,
und der Tag ist noch lang! wenn die Verluste im bisherigen
Tempo weitergehen, ist beim höchsten Stand der Sonne kein
Offizier mehr da. weit ihren Bompagnien vorausstürzend,
reißt sie das Feuer des unsichtbaren Gegners zu Boden. Um
die Mittagsstunde beginnt auch hier die fast führerlose
Truppe unruhig zu werden. Die Division schiebt das !. Ba-
taillon rzz ein. Die rzzer müssen schon beim Ein schwärmen
manchen Mann auf dem Felde zurücklassen. Das rasende
Hecken- und Häuserseuer läßt nicht im mindesten nach.
Aber Langemarck kommt näher! Das Gefecht er-
klimmt seinen Höhepunkt. Schlimmeres ist kaum denkbar.
Mit wütender Hartnäckigkeit beißt sich der Gegner in den
Häusern am Ostrand fest und überschüttet das Vorfeld mit
einem Hagel von Bügeln, Schrapnells und Granaten. Irr-
sinnig lärmt der Thor der Einschläge. Die deutsche Artillerie
vermag die feindliche hinter Langemarck im Haanebeekgrund
nicht zu fassen, das Gelände läßt keine Gicht zu. Die fran-
zösische Artillerie hat es einfacher, sie braucht nur auf das
96
Gelände vor Langemarck ihre Rohre zu richten. Aus den
hin- und herziehenden grauen Pulverschwaden tritt wie ein
breiter Riese die Gasanstalt von Langemarck.
Mit unerträglicher Langsamkeit schleicht der Tag vorüber.
Die letzten Reserven stnd aus die zusammenschmelzenden
Schützenlinien verteilt. Die Division erkennt die Gefahr
und versucht immer neue Angriffe. Im Gewirr der Schlacht
dringen die Befehle nur teilweise bis nach vorn. wie sie
eintreffen, werden sie ausgeführt. Es nutzt nichts. Vor
Langemarck verbluten die Regimenter.
Rurz nach Mittag versagen im Zentrum vor Langemarch,
wo seit dem Morgen das Reserveregiment rzs in immer
neuen Angriffen sich abmüht, die Dräfte. Die führerlose
Truppe zögert, sich einzugraben. Mutige, die das Dommando
übernehmen, fallen. Hin. und herlaufende Gruppen werden
zusammengeschoffen. Entsetzlich schnell füllen sich die wiesen
mit Toten und Verwundeten. Langemarck speit Feuer aus
allen Ecken und Enden. Erst einzelne, dann ganze Linien
gehen zurück. Die Bewegung steckt an. Dein Führer ist da,
der Halt gebietet. Die Lage im Zentrum wird außerordentlich
ernst. In die weichenden schlägt das Feuer schwerer feind-
licher Artillerie. Ein paar Volltreffer rauben den letzten
Rest von Zusammenhalt. An ewigen Stellen wird das
Zurückweichen zur Flucht.
Die Division wendet sich an das Dorps. Das Dorps stellt
seine letzte Reserve, ein Bataillon Infanterie und eine
Batterie, zur Verfügung. Die Anrückenden werden in den
Strudel mit hineingezogen. Generalstabsofsiziere vom General-
kommando eilen aus das Schlachtfeld, greifen an Truppen,
was ihnen entgegenkommt, führen die gänzlich Nieder-
gebrochenen wieder ein Stück nach vorn, vermögen aber
nicht die alten Linien wieder zu erreichen. Als einer der
letzten Offiziere von rz§ bricht Leutnant Schröder von
der 7. Dompagnie zusammen. Die 9. Dompagnie ist gänzlich
zersplittert. Zurückgehende Gruppen von ihr finden verlassen
Ln einem Rübenseld die Leiche des Regimentskommandeurs
Obersten von Gilsa.
Der Regimentsstab von rz6 beobachtet mit schwerer Sorge
das Zurückfluten großer Teile von 235. Oberst wilhelmi
stellt sich persönlich den weichenden entgegen. Durz später
trifft ihn eine Dugel und streckt ihn verwundet zu Boden.
7 Beumelburg, Flandern
97
Poelkappelle füllt sich mit Versprengten. Mit verlegenen
und vor Schreck noch verzerrten Gesichtern stehen sie umher,
bis ein paar Offiziere sie sammeln und mit ihnen die alten
Graben am Westrand besetzen.
Das I. Bataillon von 230 war am Morgen auf dem Rück-
marsch nach westroosebeke, um dort als Divisionsreserve
Aufstellung zu nehmen. Es dauerte nicht lange, bis es wieder
nach vorn mußte. Auf der Nahtstelle zwischen 236 und 235,
unmittelbar vor Langemarck, wird das Bataillon ein-
geschoben. Am Dorfrand versuchen die Rompagnien sich im
Feuerhagel einzugraben. Hauptmann Gchöler fällt. Die
Schützenlinien werden langsam aufgefressen von der Schlacht.
Unterstützungen können über das freie Feld unmöglich heran.
Aber die tapferen Rompagnien halten aus...
So waren, als die Division sich bei Poelkappelle schon
rüstete, mit ihren letzten Rräften den nachstoßenden Gegner
in den alten Stellungen des Vormittags zu empfangen, vorn
vor Langemarck immer noch schwache Rräfte, die sich ver-
zweifelt mit dem weit überlegenen Feinde herumschlugen und
nicht daran dachten, auch nur einen Fußbreit des blutig
errungenen Bodens aufzugeben. Starke Teile von 230 und
auch noch einzelne Gruppen von 235, insbesondere die führer-
lose 7. Rompagnie, lagen Ln rasch ausgehobenen Gräben und
in den ersten Häusern von Langemarck, abgeschnitten von
ihren Reserven, aber immer noch beherrscht von dem willen,
den Ort zu nehmen.
An ein einheitliches Vorgehen war nicht zu denken. Die
7. Rompagnie von 235 versuchte einen überfall auf die Gas-
anstalt von Langemarck, mußte nach schweren Verlusten
zurück, nahm aber in ein paar Gehöften rechts der Gas-
anstalt eine Handvoll Engländer gefangen.
Im Schutze der Nacht erkannten die vor Langemarck
gebliebenen Teile von 236 und 235 ihre aussichtslose Lage
und gingen unter Mitnahme aller Verwundeten und der
Gefangenen geordnet zurück bis Ln die Stellungen vor Poel-
kappelle. Unterwegs stießen sie Ln der Dunkelheit auf ein
Feld von Toten. Der Gegner bemerkte den Rückzug nicht
und beschränkte sich darauf, mit einzelnen Feuerüberfällen
das Gelände abzustreuen . . .
Auf dem rechten Flügel der 51. Reserve-Division focht an
diesem Tage das Reserveregiment 234, verstärkt durch das
9S
Reserve-Jägerbataillon 23. während 234 in raschem Fort-
schreiten den Angriff gegen das am Südwestzipfel des Hout-
hulster Waldes gelegene Dörflein Mangelaare vortrug, über-
nahmen die Jäger gestaffelt hinter dem rechten Flügel die
Sicherung gegen den Waldkomplex, der gleichzeitig im
Norden von der 46. Reserve-Division umgangen wurde. Der
Gegner mochte sich selbst im Walde nicht behaglich fühlen
und räumte kampflos den ganzen bewaldeten Raum in dem-
selben Maße, wie er nördlich und südlich zurückgedrängt
wurde. Um die Mittagsstunde nahm 234 Ln prachtvollem
Angriff das Dorf, indes die Jäger hart nördlich davon
gruppenweise vorgingen. Heftiges Infanteriefeuer störte
aus verstreuten Gehöften und kleinen Waldstücken jede
Bewegung und brachte den Angreifern schwere Verluste.
Die Jäger ließen sich nicht verblüffen und machten sich
energisch an die Säuberung des Feldes. In erbitterten
Einzelgefechten fiel ein Gehöft nach dem andern, ein Wald-
stück nach dem andern. Der weg zum Rortebeek-Abschnitt
wurde frei.
Unter wütendem Artilleriefeuer und im Angesicht der am
jenseitigen Bahndamm eingeschanzten feindlichen Schützen
wurde der Rortebeek erreicht und überschritten. Bis an die
Hüfte gingen Infanteristen und Jäger durch das Wasser,
erklommen den jenseitigen Rand, arbeiteten sich durch das
nasse Wiesengelände vor. In zähem Ringen wurden etwa
hundert Meter jenseits gewonnen. Der Bahndamm kam in
Sicht. Links lärmte die Schlacht in krampfhafter Erbitte-
rung vor Langemarck, rechts rannten die Bataillone des
Nachbarkorps in vielfachem Ansturm gegen Bixschote.
Aber das Feuer nahm überhand. Am Spätnachmittag
mußte das Gelände südlich des Rortebeek aufgegeben werden.
Die Schützenlinien gingen in guter Ordnung bis etwa halb-
wegs nach Mangelaare zurück und nisteten sich dort ein.
Neun Uhr abends kam erneuter Angriffsbefehl zur Ent-
lastung der zurückgeschlagenen Nachbarverbände im Abschnitt
von Langemarck. Ein Stück drangen die ermüdeten Rom-
pagnien vor und gruben sich dann ein.
Die 234 verloren bei den rastlosen Rämpfen des Tages
etwa zwei Drittel ihres Bestandes. Die Jäger zählten
2 Offiziere, )7 Mann tot, 3 Offiziere, SS Mann verwundet.
24 Jäger wurden vermißt. Unter den Toten befand sich der
7*
90
Kommandeur des Bataillons, Major von Winterfell
Inmitten seiner Jäger schlief er am Rortebeek den Letzten
Schlaf.
^ *
Die 52. Reserve-Division hatte am rz. Oktober morgens
zwei Angriffskolonnen gebildet. Die nördliche, bestehend aus
den Reserveregimentern 237 und rzy, hatte im unmittelbaren
Anschluß an den linken Flügel der 51. Reserve-Division längs
der Bahnlinie von Roulers nach Kpern mit starker Staffe-
lung nach rechts vorzugehen, die südliche, bestehend aus 240,
23S und dem Reserve-Jägerbataillon 24, sollte beiderseits
Broodseinde angreifen, den Ort nehmen und mit Nachdruck
nach Zonnebeke und in die Wälder zwischen Zonnebeke und
Reute! hineinstoßen. Ihr Linker Flügel hatte den Anschluß
an das westlich Becelaere in schweren Kampf verstrickte
XXVII. Reservekorps aufrechtzuerhalten.
Seit einhalb sieben Uhr morgens marschierten die Regi-
menter auf, 237 entwickelte gegen acht Uhr das I. Bataillon
als Vorhut gegen den Nordtei! von Broodseinde. III. und
II. Bataillon folgten Ln Marschordnung mit etwa Soo Meter
Abstand. Schon eine halbe Stunde später war das Bataillon
in ein verlustreiches Jnfanteriegefecht verwickelt. Das
Regiment ließ das III. Bataillon den rechten Flüge! des !.
verlängern und zog das II. Bataillon hinter die Mitte der
Kampflinie. Rechts von 237 rückte 230 auf. Das Feuer-
gefecht ratterte in größter Heftigkeit über die Felder und
ließ die Schützenlinien unter starken Verlusten nur mit
äußerster Langsamkeit sich vorarbeiten. Den ganzen Vor-
mittag über bot sich das gleiche Bild, vorspringende Gruppen,
ausrückende Reserven, einschwärmende Verstärkungen, zurück-
gehende Leichtverwundete, über das Feld verstreute Gefallene.
Die Feldartillerie der Division tat ihr möglichstes. Die
Unsicherheit des Gegners brachte sie um den größten Teil
ihrer Wirkung.
Aber gleichwohl ging es vorwärts. Kurz nach 2 Uhr
mittags begann der Feind die Vlerven zu verlieren und wich
mit aufgelösten Verbänden in der Richtung nach Gt. Julien
zurück. Die vorn liegenden Bataillone von 237 nutzten den
Augenblick und schickten sich zum Nachstoß an.
WO
Die inzwischen bei der 51. Reserve-Division, insbesondere
beim Reserveregiment 235, eingetretene schwere Rrise ver-
eitelte die Auswertung des Erfolges. Der rechte Flüge! der
239er wurde unmittelbar in die Rückwärtsbewegung der
235er hineingezogen und sammelte sich erst bei Poelkappelle.
Ein wütendes feindliches Artillerieseuer schlug in die Zurück-
gehenden hinein. Die 237er hingen mit ihrem rechten Flügel
in der Lust, wehrten sich aber mit allen Rrästen gegen die
drohende Gefahr. Der Gegner, der den hartnäckigen wider-
stand erkannte, konzentrierte sein Feuer aus die ßüchtig ein-
gegrabenen Linien. Die Verluste nahmen einen erschreckenden
Umfang an. Fast zwei Stunden hielt das Regiment in dieser
Hölle aus und ging erst zurück, als die Gefahr am rechten
Flüge! sich zur Ratastrophe zu entwickeln drohte. Soo Meter
hinter der erreichten Linie wurde kehrtgemacht. In aller
Eile gruben die Compagnien sich ein . . .
Inzwischen war bei der südlichen Angriffskolonne der
52. Reserve-Division ein wilder Dampf um Broodseinde im
Gange. Die 238er hatten das Zentrum unmittelbar im An-
gesicht des Ortes. Sie sollten sich daraus beschränken, den
Gegner zu feste!n und die Umgehungsbewegung des durch die
24. Jäger verstärkten Regiments 240 im Norden des Dorfes
abwarten. Gegen n Uhr vormittags stieß Oberst von
wartenberg mit 240 und den Jägern vor und kam gut
vorwärts. Der Gegner, der gleichzeitig den Angriff im Zen-
trum erwartete, lenkte ein verheerendes Artillerieseuer aus
die Gräben der 238er. Zahlreiche Volltreffer schlugen ein. Go
ging das den ganzen Vormittag, bis endlich um dreieinhalb
Uhr nachmittags die Division den Befehl gab, auch im
Zentrum Broodseinde anzugreifen. Die Division hoffte,
dadurch ihren schwer ringenden Nordsiügel zu entlasten.
Der Angriffsbefehl wirkte wie eine Erlösung. Raum gellte
das Signal, da schlugen sich schon die Gruppen des !. Batail-
lons mit den Engländern in den Randhäusern von Brood-
seinde herum. Hart nördlich des Ortes hielt der hartnäckige
Gegner sich in einigen Grabenstücken, obwohl seine linke
Flanke durch den Angriffsstoß der 240er seit Stunden schon
eingedrückt war. Mit wütender Erbitterung stürmten die
238er gegen die feuerspeienden Gräben, wurden zurück-
geschlagen, warfen sich aus die Erde und eröffneten, von der
Feldartillerie unterstützt, ein heftiges Feuer auf den Feind.
Das vertrug dieser nicht lange. Nach einer halben Stunde
winkte über den Gräben ein weißer Tuchlappen . . .
Schon wollten die Freiwilligen aufspringen, um die Beute
einzuheimsen. Rommandorufe der Führer hielten sie zurück.
Man kennt den Rummel und ist gewitzigt. Alles blieb im
Anschlag liegen, das Feuer wurde eingestellt. Die Engländer
bekehrten sich. Zögernd stieg erst einer, dann ein zweiter,
dann eine ganze Gruppe aus den Gräben, hielten die Arme
hoch und kamen mit mißbehaglichen Gesichtern auf die deut-
schen Linien zu. Linnen weniger Minuten waren -so Ge-
fangene gemacht . . .
Inzwischen breitete sich schon die Dunkelheit aus, während
das Gefecht noch keine klare Entscheidung herbeigeführt hatte.
Die um vier Uhr nachmittags nördlich zurückgegangenen rz?er
hatten gegen sechs Uhr einen neuen Vorstoß unternommen,
waren nach kurzer Zeit in die am Mittag zum erstenmal er-
reichten Linien gelangt und hatten sich dort eingegraben.
Die 240er und die Jäger hatten Broodseinde nördlich um-
flügelt und kämpften bei anbrechender Dunkelheit beiderseits
der Bahnlinie. Das Zentrum der rz9er war bis mitten in
Broodseinde hineingelangt, nachdem das Engländernest am
Nordrand gefallen war . . .
Aber am Südrand hielt sich immer noch ein hartnäckiger
Gegner, der aus Grabenstücken und Häusern jeden Verkehr
vom Ostrand nach rückwärts verhinderte. Offenbar waren
die Engländer an der Straße von Reiberg nach Broodseinde
eingenistet.
Bei Stockdunkelheit erfolgte der Angriff. Im Sturmschritt
wurde die Straße genommen. Im Geländeeinschnitt am
Nordrand der Straße postierten sich ein paar Gruppen und
überschütteten die feindlichen Gräben nördlich davon, so gut
es in der Nacht ging, mit einem Hagel von Geschossen. Die
Engländer blieben die Antwort nicht schuldig. Auf kürzeste
Entfernung peitschten die Rugeln hin und her, und obwohl
niemand ihnen genaue Richtung geben konnte, fanden genug
ihr Opfer. Die rzSer erkannten, daß es so nicht weiter
ging. Man mußte noch näher heran. Im Handumdrehen
wurden ein paar Häuser besetzt. Aus den Fenstern und aus
Dachluken wurde das Feuer auf die Gegner gelenkt, deren
Reihe sich durch eine zuckende Rette von kleinen Mündungs-
flammen verriet. Jetzt endlich merkte Tommy, was die
Stunde geschlagen. Von Norden und Süden umfaßt, unter
ein verheerendes Rreuzfeuer genommen, entwichen die Gra-
benbesatzungen Ln der Dunkelheit und zogen sich durch den
Südteil des Dorfes zurück. Sobald die rzSer merkten, daß
das Feuer nachließ, setzten sie zum Sturm auf die Graben-
stücke an. Ein lautes Gebrüll erschütterte die Nacht, wie
nächtliche Raubtiere fielen die Schützen über die Gräben her.
Die Enttäuschung war nicht gering, daß der gute Fang ent-
wichen war. Aber eine große Anzahl von Simulanten, die sich
unter die zahlreichen Toten gemischt und erst auf energisches
Anklopfen sich wieder zum Leben bekannten, entschädigte die
Angreifer einigermaßen. Die Engländer glaubten nichts
anderes, denn daß ihr letztes Stündlein gekommen sei, waren
aber nicht unangenehm überrascht, als die gefürchteten Bar-
baren ihnen nicht ohne weiteres an den Hals sprangen, um
ihnen die Rehle durchzubeißen. Schließlich ertrugen sie ihr
Schicksal mit lässiger Miene und steigendem Vertrauen in
die Menschenähnlichkeit der deutschen Bestien . . .
In diesem Augenblick war über den Besitz von Brood-
seinde entschieden. Aber die rzSer gaben sich auch jetzt noch
nicht zufrieden und nutzten die Dunkelheit und die Ver-
wirrung der Engländer zu neuen Streichen. Das I. Ba-
taillon, nicht achtend der Anstrengungen des vierzehnstün-
digen Gefechts und der schweren Verluste, stieß in einem Zuge
bis an das Straßenkreuz im Südosten von Broodseinde
vor und bemächtigte sich einer Reihe von Gehöften in der
Richtung auf Zonnebeke. Dabei gelang der ). Rompagnie
unter Leutnant Mattenklott ein fetter Fang. Ohne
einen einzigen Schuß fielen ihr, gänzlich verwirrt und durch
das nächtliche Erscheinen der Deutschen völlig überrumpelt,
)>5 Tommys mit 3 Offizieren in die Hände. Die reiche Beute
erregte allgemeine Begeisterung. Die Engländer knirschten
vor Wut, daß sie sich so vor den lächerlichen Germans bla-
miert, fanden sich aber auch hier mit der ihnen eigenen Ge-
lassenheit und Anpassungsfähigkeit schnell in ihre neue
Rolle. Das I. Bataillon traf durch Vortreiben starker Si-
cherungen Ln Richtung nach Zonnebeke und Becelaere Vor-
sorge, daß sich das Mißgeschick der Engländer nicht an ihm
selbst wiederholte.
Gegen Morgen gab es noch ein großes Hallo, als drei schwer-
beladene englische Bagagewagen in gänzlicher Unkenntnis der
Z03
Lage unvermutet mit Langen Gesichtern der Bemannung Ln
den deutschen Linien landeten. Die Nacht verlies mit wech-
selnder Beschießung, sehr unangenehm machten sich Gewehr-
feuerüberfälle aus südwestlicher Richtung bemerkbar.
Ein klarer Oktoberhimmel wölbte sich über dem un-
ruhigen, in hundert Feuern schillernden Schlachtfeld. In
schreckhafter Wildheit begannen hier und da die Maschinen-
gewehre ihr Gebell. Dann war wohl eine nächtliche Pa-
trouille dem wachsamen Gegner zu nahe gekommen. Die
Nompagnien hatten sich Ln Erdlöchern und Höfen eingenistet-
umhüllten sich mit Zeltbahnen und Decken, brannten auch
wohl heimlich ein Feuerchen an und schmorten irgendeinen
eßbaren Raub. Manch einer hockte zusammengekauert in
einer Ecke und konnte weder Schlaf noch Hunger finden,
weil er derer gedachte, die auf dem Feld verstreut draußen
Lagen.
Ich hatt' einen Nameraden . . .
Q *
G
So endete jener denkwürdige ri. Oktober vor Lanyemarck
und bei Droodseinde. Schwere Rückschläge und gefährliche
Gefechtskrisen entstanden wenige hundert Nieter getrennt von
übermütigen Handstreichen. Tiefste Niedergeschlagenheit und
die entsetzliche Dumpfheit des kaum überwundenen Todes
grenzten dicht an ungebrochene Siegeszuversicht und die
jauchzende Hingebung an den befreienden Sturmangriff, wie
Tote und Lebende in Reihen vermengt lagen, so vereinten
sich Sieg und Niederlage, Angriff und Rückzug, Verfolgung
und Flucht. Die jungen Truppen hatten in wenigen Stun-
den verstanden, sich der Taktik des Gegners anzupassen, und
als erst zum erstenmal das Gefühl der Überlegenheit ein-
trat, gab es kein Halten mehr. Dort aber, wo die feindliche
Feuerwirkung ein Vorgehen unmöglich machte, hielt sie bis
Zur Grenze des Menschenmöglichen die Disziplin, und wo sie
zerbrach, da fand sie sich wieder, sobald das Grauen des Massen-
todes überwunden war . . .
Das XXVI. Reservekorps kam in der Nacht zum rr. Ok-
tober zu der Überzeugung, daß ein neuer Frontalangriff
gegen Langemarck mit den am Vortage stark geschwächten
Kräften am rr. Oktober nicht durchführbar sei. Der Ge-
danke lag nahe, mit dem Südflügel des Rorps, der bei
Z04
Broodseinde erfolgreich gefochten, den Versuch zu machen,
die englische Front in Richtung auf St. Julien einzustoßen
und dann gegen Langemarck und den Haanebeek-Abschnitt
von Südosten her einzuschwenken. Eine solche Operation
aber gestattete die gefährliche Lage des rechten Flügels des
XXVII. Reservekorps nördlich Becelaere und bei Reute!
nicht. Zudem hatte sich die 5r. Reserve-Division aus dem
Güdflügel im Verlaus der Rämpfe soweit nach Süden ge-
zogen, daß aus der Nahtstelle zwischen 5r. und 51. Reserve-
Division eine akute Gefahr entstand. Noch in der Nacht
ergingen Befehle an die Division, ihre Verbände so weit
nach Norden zu gruppieren, daß ihr linker Flügel den Nord-
rand von Broodseinde, ihr rechter den Güdrand von poel-
kappelle berührte.
Das Armeeoberkommando machte sich die Auffassung des
Generalkommandos des XXVI. Reservekorps zu eigen,
glaubte aber, aus die Wegnahme von Langemarck am rr. Ok-
tober unter keinen Umständen verzichten zu können. Hier
mußte der entscheidende Vorstoß gegen den Norden von
Rpern geführt werden, hier mußte für das schwerblutende
XXVII. Reservekorps Entlastung geschaffen werden und hier
mußte Vorsorge getroffen werden, daß die Erfolge des nörd-
lich kämpfenden XXIII. Reservekorps vor Bixschote und vor
dem Rpernkana! bei Merckem und Luyghem nicht gefährdet
wurden. Da aber das Armeeoberkommando von der man-
gelnden Stoßkraft des XXVI. Reservekorps vor Langemarck
selbst überzeugt war, erhielt das XXIll. Reservekorps den
Befehl, seinen linken Flügel, die 46. Reserve Division, in
fast südlicher Richtung abzuzweigen und mit ihren Verbän-
den Huer über den Dortebeek Abschnitt gegen den Rücken von
Langemarck vorzustoßen. Die Regimenter des XXVI. Re
serveksrps sollten die engste Gefechtsfühlung mit dem Geg-
ner aufrechterhalten und in dem Augenblick zum neuen An-
griff schreiten, in dem der Angriff der 46. Reserve-Division
sein Ziel erreichen würde. Da das Armeeoberkommando
größte Eile hatte, war der Angriff der 46. Reservedivision
schon aus sieben Uhr morgens angesetzt. Im Lause des
Vormittags sollte dann Langemarck genommen werden...
Unterdessen vollzog die er. Reserve-Division möglichst un-
auffällig die befohlene Umgruppierung, Die III. Abteilung
des Reserve-Feldartillerie-Regiments 52 und das Fuß-
105
artilleriebataillon 26 waren beauftragt, die Nordbewegung
von ihrer Feuerstellung im Osten von Reilberg aus zu
decken. Der Gegner schien nichts von dem Abmarsch zu mer-
ken und beschränkte sich darauf, mit Artilleriefeuer Straßen
und Stellungen abzustreuen. So wurden die Verluste ziem-
lich niedrig gehalten. Immerhin zog sich die Bewegung fast
über den ganzen Tag hin, da mehrfach erkannte feindliche
Angriffsabsichten zum Einhalten zwangen. So kam es, daß
die 5r. Reserve-Division für die Angriffsabsichten aus
Langemarck an diesem Tage gänzlich ausfiel und die erste
Bresche in den Plan des Armeeoberkommandos legte. Am
Abend, als die Bewegungen endlich ihren Abschluß fanden,
hielt 237 den rechten Flügel der Division im Raume westlich
passchendaele und südlich Poelkappelle, daran schloß sich süd-
lich 240, dann die 24. Jäger und die eine Hälfte von 23S
bis zum Wäldchen beim Straßenkreuz nördlich Broodseinde.
Die andere Hälfte von rzS blieb Ln Broodseinde selbst, 230
wurde als Divisionsreserve zurückgezogen . . .
Seit S.15 morgens feuerte die schwere Artillerie im Ab-
schnitt der 51. Reserve-Division auf Langemarck und St. Ju-
lien. Der Gegner blieb keinen Augenblick die Antwort schul-
dig. Poelkappelle und Reiberg lagen bald unter einem Wirbel
von schweren Einschlägen. So verging der Vormittag unter
heftiger beiderseitiger Beschießung. Stunde auf Stunde
wurde der Angriff der 46. Reserve-Division erwartet. Im-
mer wieder horchten die Führer nach Nordwesten, ob nicht
der Ranonendonner den Übergang über den Rortebeek-Ab-
schnitt ankündigte. Nichts wurde beobachtet, und die ein-
treffenden Meldungen widersprachen einander. Man kam zu
keinen Entschlüssen.
Bis zum Abend war keine Veränderung eingetreten. Die
Regimenter der 5). Reserve-Division beschränkten sich auf
den Ausbau ihrer Stellungen. Der Gegner zeigte von nach-
mittags an eine verdächtige Regsamkeit. Raum war die 52.
Reserve-Division des Abends mit ihrer Umgruppierung fertig,
als die Engländer zu einem kräftigen Vorstoß ansetzten.
Eine Stunde lang prasselte das Feuer. Dann trat Stille
ein. Der Gegner hatte eine große Zahl von Toten und
Verwundeten zurückgelassen, ohne eine Handbreit Boden zu
gewinnen.
Die Stille dauerte nicht sehr lange. Eine unruhige Nacht
hob an. Die Engländer machten einen energischen Versuch,
das Gesetz des Handelns an sich zu reißen . . .
Die 46. Reserve-Division, die am 22. Oktober den Befehl
erhielt, durch Angriff in den Rücken von Langemarck dort
die Entscheidung zu erzwingen, schritt im Laufe des 21. Ok-
tober unter ständigen leichten Gefechten am Nordrand des
Houthulster Waldes vorüber und erreichte abends das Dorf-
lein Nachtegaal am Nordwestzipfel des Waldes. In Nachte-
gaal und den Gehöften von Aschhoop bezog die Division
Ortsbiwak und bereitete sich für den nächsten Morgen zum
Angriff auf Bixschote vor. In der Nacht kam dann der
Befehl, der die Angriffsrichtung der Division nach Süden
auf den rechten Flügel der vor Langemarck festliegenden 51»
Reserve-Division abdrehte, während bei Nachtegaal die
Nacht sehr ruhig verlief, quoll aus der linken Flanke von der
Front des XXVI. Reservekorps ununterbrochen der heftigste
Gefechtslärm. Es waren die Stunden, in denen die 5).
Reserve-Division nach dem schweren Rückschlag am Tage
neue Teilvorstöße unternahm und in denen die rzSer von
der 5r. Reserve-Division in und bei Broodseinde erbitterte
Machtkämpfe mit den Engländern durchfochten.
Die Regimenter der 40. Reserve-Division, 2)3, 214, 2)0
und das Reserve-Iäger-Bataillon )S, brannten darauf, ihren
Kameraden zu Hilfe zu eilen. Die Führer, die einen Blick
auf die Karte warfen, erkannten die ungeheuren Schwierig-
keiten des Geländes, die in dem quer zur Angriffsrichtung
verlaufenden breiten Kortebeek-Abschnitt ihren Gipfel fan-
den. Der ungefähr parallel zum Kortebeek verlaufende, etwa
fünfhundert Meter bis ein Kilometer von diesem südlich ent-
fernte Damm der Bahnlinie von Langemarck nach Bixschote
bot dem Gegner eine ausgezeichnete Verteidigungslinie. Das
diesseits abfallende und jenseits allmählich ansteigende Ge-
lände unterstützte die Verteidigung ebenfalls.
2)3 und die )S. Jäger führten den Angriff in erster Linie.
Um sieben Uhr vormittags — ursprünglich sollte um 7 Uhr
schon der Kortebeek erreicht sein, aber die Vorbereitungen
hatten sich hinausgezögert — drangen die ersten Schützen-
linien gegen Mangelaare in direkt südlicher Richtung vor,
io?
den Houthulster Wald in der linken Flanke. Etwa einen
Kilometer nördlich von Mangelaare erhielten die Spitzen
Feuer und warteten das Ausrücken stärkerer Verbände ab.
Mittlerweile setzte sich das Reserveregiment r-5 rechts
neben rrz. Inzwischen hatte aber der Gegner schon be-
merkt, daß irgendeine verdächtige Bewegung gegen seine
Flanke bei Langemarck im Gange war. Die rr§er hatten
kaum Nachtegaal verlassen und eine Höhenwelle südlich da-
von erreicht, als ein heftiges Artilleriefeuer aus der Rich-
tung von Bipschote aus sie niederschlug. Da die Äolonnen
noch nicht entwickelt waren, forderte die Beschießung große
Gpfer. Die Bataillone suchten so schnell wie möglich ein
südlich gelegenes Waldstück zu erreichen und deckten sich dort
gegen die feindliche Sicht. Um r Uhr endlich wurde der Vor-
marsch aus dem Walde heraus angetreten, um in Höhe des
Regiments rrz und der Jäger zu gelangen. Rings verstreut
Lagen einzelne Gehöfte. Fast aus jedem Haus pfiffen die
Äugeln. Als sich das Gerücht verbreitete, die Schießerei
rührte nicht vom Gegner, sondern von Franktireus her, gin-
gen die Compagnien mit äußerster Erbitterung und ohne der
Verluste zu achten vor. überall waren aber die Bewohner
geflohen. Das Vieh lies noch aus der weide, die Speisen
standen halb gegessen aus dem Tisch. Alle Spuren verrieten,
daß der Gegner noch in der Nacht hier genistet und erst beim
Morgengrauen kopflos das Gelände geräumt hatte. Bei den
Gehöften von Draaibank endlich stießen die gruppenweise
vorgehenden r-5er aus die ersten Linien des Gegners, der
aus unsichtbaren Stellungen hinter Hecken und Häusern
plötzlich ein mörderisches Feuer aus die Angreifer eröffnete.
Nach einem kurzen Augenblick der Verwirrung suchten die
Truppen, so gut es ging, Deckung und nahmen den Feuer-
kamps aus.
Gegen z Uhr nachmittags traf der Befehl der Division
zum überschreiten des Äortebeek und zum geplanten Durch-
stoß westlich Langemarck bei den Regimentern ein.
Verschiedene Versuche mißlangen. Neue Reserven der
anderen Regimenter schwärmten ein, um die stark gelichteten
Reihen auszufüllen. Abermals bliesen die Hörner zum
Sturm. In raschem Anlauf ging es hinunter zum Rsrte-
beek» Aus kümmerlichen Stegen und Brettern, bis an die
ros
Hüsten im Wasser und überumgestülpteFahrzeuge wurde der
Bachlaus überwunden. Dann aber vermischten sich alle Ver-
bände zu einem unentwirrbaren Rnäuel. Erbarmungslos
prasselten die Granaten dazwischen. Jeder Trupp stürmte,
wo er sich besand, jeder Mann, der Mut genug batte, ergriff
den Befehl über die um ihn Befindlichen. Rein Haus, das
der Gegner nicht bis zum letzten Augenblick verteidigte, kein
Graben, den er nicht hielt, bis die Deutschen mit ihren Ba-
jonettspitzen an ihn heranreichten. Von rechts und links und
von vorn peitschten aus Heckenrändern und Erdlöchern die
Gewehrschüsse und streckten einen nach dem anderen auf kür-
zeste Entfernung mit unsichtbarer Hand ins Gras.
Um vier Uhr nachmittags war ein erbittertes Ringen mit
englischen Truppen im Gange. In wütendem Ansturm
drangen die r)5er unter Führung ihres Obersten von
Gertzen in die englischen Gräben. Bis zum letzten Augen-
blick streckten die Rugeln der Engländer kaltblütig die Stür-
mer nieder. Mit tierischem Gebrüll vollzog sich ein wildes
Gemetzel. Von Hecke zu Hecke wälzte sich der Rampf um jeden
Schrittbreit Boden. Obwohl fast alle Offiziere gefallen,
kämpften die Freiwilligen mit einer Hartnäckigkeit, als
wollten sie Rache nehmen für den gestrigen Tag. Zumal die
4. und 5. Rompagnie von ri5 zeichneten sich durch eine todes-
verachtende Tapferkeit aus, die den Gegner fast lähmte. Rein
Durcheinander, kein Gegenangriff, keine Verluste hielten das
zähe Vorwärtsschreiten aus.
Mit besonderer Erbitterung tobte die Schlacht bei Be-
ginn der Dunkelheit aus dem rechten Flüge! der Division am
Ostrande von Bipschote. Ein Sturmangriff folgte dem
andern. Major Ryll von den r-5ern stürzte voran als einer
der ersten Offiziere. Der Angriff prallte mit einem starken
englischen Gegenstoß zusammen. Bajonette und Rolben be-
gannen ihre blutige Arbeit. Major Ryll sammelte um sich,
was er erreichen konnte, es waren Truppen von vier oder
fünf verschiedenen Regimentern. Schauerlich war dies ver-
bissene Ringen im letzten Grau des davonschleichenden Ta-
ges. Geschrei und Geheul, Rrachen und Bersten, Splittern
und pfeifen lärmten durcheinander. Brennende Gehöfte er-
leuchteten mit flackernden, glutroten Bränden das wirre Hin
und Her.
Die Freiwilligen klammerten sich am Rande von Dixschote
fest und ließen keinen Schrittbreit des erkämpften Bodens
los.
Oberst von Oertzen baute unterdessen mit rasch zu-
sammengesuchten Rräften der Regimenter 215, 214 und der
)S. Jäger den Erfolg des rechten Flügels bei Bixschote weiter
nach links aus. Der Haanebeek, dem Rortebeek südwestlich
vorgelagert und in der Mitte zwischen Langemarck und Bip-
schote den Bahndamm schneidend, wurde überschritten, Feld-
wachen besetzten jenseits liegende Gehöfte und hielten den zu-
rückweichenden Gegner unter Feuer.
Die Verbandplätze waren überfüllt mit Verwundeten. In
Alarmquartieren lagen die Compagnien bereit. Die Feld-
küchen kamen nicht heran. Längst war alles Brot aufge-
gessen. Von Wasserrüben und ein paar Früchten nährten
sich die durchnäßten und übermüdeten Freiwilligen. Es war
ein trostloser Heraufzug des Morgens . . .
Die Teilerfolge der 46. Reserve-Division verstärkten die
Ansicht der höheren Führung, daß in der Truppe noch ge-
nügend Angriffsgeist steckte. Die Artillerie ergänzte ihre
Munitionsvorräte und eröffnete am frühen Morgen des
23. Oktober das Feuer auf die alten feindlichen Stellungen
vor Langemarck und hinter dem Rortebeek-Abschnitt.
In der Nacht hatte die 51. Reserve-Division zur Verstär-
kung ihres rechten Flügels das Reserveregiment rz§ von der
52. Reserve-Division erhalten. Mit diesem Regiment und
einigen Batterien des Reserve-Feldartillerie-Regiments 52
verstärkte die Division ihre rechte, aus 24oern und den 23.
Jägern bestehende Angriffskolonne unter dem Befehl des
Generals von Wechmar, während in der Nacht 230 aus
seiner Stellung als Rorpsreserve zur Bahnstation von
Poelkappelle vorrückte, folgte vorn in der Dunkelheit ein
feindlicher Angriff dem andern. Um 3 Uhr nachts schien die
Lage bei den 233ern westlich Poelkappelle ernst zu werden.
Die 239er schickten sich bereits an, dort einzugreifen, aber
eine halbe Stunde später flaute das Feuer wieder ab. Zu-
rückkommende Verwundete berichteten, daß der Feind bereits
zum drittenmal angegriffen habe, aber jedesmal mit blu-
tigen Röpfen zurückgeschlagen worden sei.
Das Detachement Wechmar vollzog in der Dunkelheit
seine Aufstellung. Angriffsrichtung war die von Nordosten
nach Südwesten hart nördlich an Langemarck vorübersüh-
rende Bahnlinie von Staden nach Boesinghe am Rpernkanal.
Beiderseits hatte das Detachement, unterstützt von der Feld-
artillerie, anzugreifen, sobald die Aufstellung beendet war.
Das außerordentliche Durcheinander der Formationen von den
vergangenen Schlachttagen verhinderte schnelle Ordnung.
Erst bei Helligkeit vermochten die Führer ihre Truppenteile
zu sammeln und die befohlenen Angriffsräume zu erreichen.
wieder sollte der linke Flügel des XXIII. Reservekorps (46.
Reserve-Division) mit dem rechten Flügel des XXVI. Re-
servekorps (Detachement Wechmar) zusammenwirken. Aus
dem gleichzeitigen Angriff wurde leider nichts, da das De-
tachement Wechmar seine Aufstellung zu spät beendete, wäh-
rend die 46. Reserve-Division sofort bei Hellwerden aus den
am Vorabend erreichten Stellungen südlich des Rortebeek zum
Angriff vorbrach. So konnte die feindliche Artillerie ihr
Feuer erst links und dann später nach rechts konzentrieren,
und die Infanterie fand Gelegenheit, sich flankierend zu un-
terstützen.
Mit dem rechten Flügel am Lixschote angelehnt, begann
die 4b. Reserve-Division einen verzweifelten Ramps gegen
den übermächtigen Gegner. Nach und nach wurden alle
Truppen ins Feuer geworfen. Die )S. Jäger und Teile des
Reserveregiments 213 prallten unter Führung des Majors
von Loefen mittags Ln wütendem Ansturm bis zur Mühle
von Bixschote vor und singen dort 150 Engländer, weiter
rechts, wo 2)4, 2)5 und 2)6 jenseits des Rortebeek um jeden
Schrittbreit Boden rangen, erschallte das wilde Schlacht-
gebrüll der Gegner, die, in Hecken und Waldstücke verstrickt,
einen erbitterten Rampf durchführten. Mit aufgepflanztem
Seitengewehr erhoben sich die Freiwilligen und boten ihre
Leiber dem mörderischen Gewehrfeuer aus 30 Meter Ent-
fernung. Erst wenn das heisere Gebrüll gegen sie anschlug,
hielten die Engländer die Hände hoch und warfen die Ge-
wehre fort. Aus den einzelnen Gehöften wurden die Ver-
teidiger herausgezogen, und auch dann noch tobte das ver-
bissene Ringen Mann gegen Mann, bis ein Bajonettstich
oder ein Rolbenschlag den einen oder den anderen nieder-
streckte. Überall löste sich das Gefecht in eine Reihe von
ELnzelakten, überall aber herrschte der gleiche Geist des Vor-
wärtsdringens, koste es, was es wolle.
Das Regiment rz§ war bereits so zusammengeschmolzen,
daß aus sämtlichen drei Bataillonen ganze vier Gefechtskom*
pagnien gebildet werden mußten, die von Hauptmann
Henkes, Oberleutnant Hofmann, Oberleutnant
Heinrich und Hauptmann Dl in ne geführt wurden.
Major von Valentine sammelte noch etwa roo Ver-
sprengte und führte sie nach vorn. Den anderen Regimentern
erging es nicht viel bester. Fast sämtliche Offiziere bedeckten
das Feld. Major von Valentini brach an Überan-
strengung seines Herzens zusammen und mußte zurück-
geschleppt werden.
Aber die führerlosen Truppen zögerten nicht. Als am
Nachmittag die schwere deutsche Artillerie ihr schauriges
Konzert begann und lohende Brände in den Gehöften jen-
seits des St. Ieanbaches weckte, erhob sich alles, was noch
laufen konnte, zu neuem Angriff. Unteroffiziere und Frei-
willige führten die Kompagnien. An zwei Stellen wurde der
Gt. Ieanbach überschritten, indes die lodernden Flammen von
jenseits das ganze Gelände mit glutroter Pracht übermalten.
Aus brennenden Häusern wurden über ioo Engländer her-
vorgeholt. Aber die Bataillone schmolzen zusammen. Der
Brand erleuchtete ihre Reihen so, daß sie dem Gegner ein
deutliches Ziel boten. Vor der glühenden Windmühle von
Birschote wurden die rizer und iS. Jäger regelrecht zusam-
mengeschossen. Beim Zurückgehen über den hell erleuchteten
freien Platz brach einer nach dem andern zur Erde nieder.
Die weiter rechts über den St. Ieanbach vorgedrungenen
Regimenter verloren dort mehr als zwei Dritte! ihres Ge-
fechtsbestandes. Als der Feind sich endlich zum Angriff auf
die verbluteten Bataillone entschloß, gaben die im Abschnitt
noch vorhandenen Kommandeure das grausige Spiel aus und
führten die Reste ihrer Truppen wieder über den Kortebeek
zurück. Der Feind unterließ den Angriff.
Beim Fackelschein der Brände krochen die Verwundeten
zurück. Die Toten allein blieben aus dem Feld . . .
Endlich um 10 Uhr vormittags konnte General von
Wechmar seinem Detachement den Befehl zum Angriff
geben. Das Vorwärtsschreiten des linken Flügels der 46. Re-
servedivision südlich Mangelaare am Kortebeek mahnte zur
Eile. Die Schützen des Detachements drangen in raschem Vor-
gehen beiderseits der Bahnlinie bis an den Rortebeek. Dort
empfing sie ein rasendes Schnellfeuer, das zum Eingraben
zwang. Als sich in das Gebell der Maschinengewehre am
Nachmittag auch noch das Feuer schwerer und leichter Ar-
tillerie mischte, hielt die stark geschwächte Truppe nicht mehr
stand. Erst gingen einzelne Teile zurück, dann folgte das
Ganze. Mit Mühe gelang es, die Compagnien in den alten
Stellungen bei der Bahnstation von Poelkappelle anzuhal-
ten. Die Division befahl, unter allen Umständen diese Linie
zu verteidigen, zumal inzwischen auch das Zentrum der 5).
Reserve-Division von Langemarck abermals bis vor Poel-
kappelle zurückgewichen. Auch der linke Flügel der 40. Re-
serve-Division konnte sich unter diesen Umständen südlich
des Rortebeek nicht mehr halten. Zum zweitenmal wurde
der Rückzug angetreten.
Die Truppen hatten ihr Bestes getan. Eine furchtbare
Zahl von Toten bedeckte das Feld. Aber es war unmöglich,
den widerstand des eingegrabenen Gegners zu brechen . . .
Am Abend des rz. Oktober waren alle Gewinne des Tages
und dazu noch ein Teil des am Vortage Erreichten einge-
büßt. Der Gegner schien sich dagegen noch verstärkt zu
haben und rüstete zu entscheidenden Gegenangriffen. Bei
dieser Lage schienen neue Angriffe ein aussichtsloses Be-
ginnen. Der linke Flügel des XXIII. und des XXVI. Re-
servekorps hielten die allgemeine Linie Südrand Mange»
laare—Station Poelkappelle—Waldrand Poelkappeüe—Stra-
ßenkreuz nördlich Broodseinde . . .
Unbezwungen rauchten die Trümmer von Langemarck...
8 Beumelburg, Lander«
11)
Bixschote
Am Ostrand des Houthulster Waldes, in der lauschigen
Stille der Bäume, nicht weit entfernt von einem der wun-
dervollen im Walde verteilten Schlösser, entspringt unter
langen Gräsern und in dem Dämmerlicht der Buchen der
Steenebeek. Südlich Terrest tritt das fröhliche Bächlein
aus dem geheimnisvollen Raunen der Bäume, wo es bei
jedem Schritt über sein eigenes Geräusch erschrocken, und
eilt in munterer Geschäftigkeit über wiesen und Äcker bis
zu der von Llercken im Norden quer durch den Wald nach
Station Poelkappelle führenden großen Straße. Durch eine
dunkle Röhre quirlt das Gewässer unter der Straße hindurch
und befindet sich jenseits auf einmal wieder mitten im Wald.
So geht es eine halbe Stunde, die abgekürzt wird durch die
Begrüßung mit einem zweiten, viel größeren Jagdschloß und
durch den ab und zu nach Norden frei über das Vorland
streifenden Blick. Endlich ist der große Wald zu Ende, und
abermals legt sich quer vor das in langen Windungen voll
geruhsamer Behaglichkeit dahinfließende Wasser eine Straße,
gesäumt von langen Pappeln gleich riesigen Zinnsoldaten,
die ab und zu bedächtig ihre Häupter zueinander neigen, um
sich irgend etwas zuzuflüstern, was der gestrenge Herr Feld-
webel nicht hören darf. Just wie das Bächlein über das
wichtige Gehabe der Langen auflachen und einen übermütigen
Gruß nach oben senden will, fällt es mit einem kolossalen Er-
schrecken ein paar Stufen hinunter, daß seine Wellen vor
Angst ihre weißen Hälse aus der Oberfläche Herausstrecken.
Aber der Schreck nimmt kein Ende. Abermals wird es
Stockfinsternis. Und wie endlich ein schmales Lichttor sich
öffnet und immer größer wird, daß die Wellen einander schon
wieder erkennen können, und wie dann plötzlich sich rings
der Blick auftut, erschaut das Bächlein ein Bild, so unge-
wohnt, so verwirrend, so gänzlich im Widerspruch mit allem
Dagewesenen, daß es wie gelähmt einhält und schließlich ohne
))4
ein Wort und ohne einen Blick nach den gleichmäßig hin
und her sich neigenden Pappeln wie ein ertappter Dieb auf
geradem Wege gegen Westen davonschleicht. Es ist schreck-
lich, was so die Pappeln alles vertragen können, ohne da-
vonzulaufen!
Folgendes Bild aber bot sich dem erschrockenen Steenebeek.
Vorausschicken muß man, daß es bereits stark auf den Abend
ging, und daß die Sonne längst hinter Dixmude zur Ruhe
gegangen, und daß es (aber das verstand das Bächlein nicht!)
der r). Oktober des Jahres war. Auf der Straße,
durch deren dunklen Bauch das Bächlein mit angehaltenem
Atem sich gewunden, standen riesengroße Rästen mit vier
Rädern und verbreiteten einen seltsamen Geruch, der aber
dem Bächlein nicht ganz unbekannt schien. So roch es
manchmal wohl, wenn es just um die Mittagsstunde dicht an
dem Gemäuer eines Gehöftes vorübergetändelt, indessen
Mägde und Rnechte ungeduldig auf den Rochlöffel Ln der
Hand der Bäuerin geschaut. Viel schlimmer war, daß auf
diesen Rästen ein kurzer Baumstamm saß, der, (o Schreck!)
ab und zu eine Handvoll Funken Ln die Luft warf und sich
im übrigen nicht schämte, ganze Wolken von schwarzem
Rauch emporzustoßen. Und erst das Gedränge um diese son-
derbaren Rästen! Und erst dies Gewirr fremder Laute, die
das Bächlein noch niemals gehört, obwohl ihm doch nichts,
aber auch nicht das geringste in dieser ganzen Gegend von
seinen gemächlichen Landreisen her unbekannt war! Aber
es kam noch viel schlimmer! Dicht neben der Straße (ah,
das Bächlein sah es wohl, wenn man sich auch offenbar Mühe
gab, es zu verbergen!) standen zu vieren aneinandergelehnt
ganze Reihen von Hölzern, deren Spitzen verdächtig im
Abenddämmern blinkten, als wollten sie sagen: „Mach, daß
du von dannen kommst, oder ich gebe dir eins!" Diese Höl-
zerreihen standen dort so herausfordernd, so dreist, so sieges-
gewiß und selbstherrlich, daß das Bächlein vor Zorn hätte
weinen mögen. Schließlich aber, in einer Regung von
Vernunft, drückte es sich eng an das Ufer und schlich lautlos
vorüber, damit es nur die Hölzer nicht mehr sah.
Aber es kam noch schlimmer.
Mitten auf dem Pfad des Bächleins standen (und das war
wahrhaftig noch nie dagewesen!) zwei schwarze, dicke Säulen
und stemmten sich in unglaublich herausfordernder Manier
8»
)?5
den erschrocken durcheinandereilenden Wellen entgegen. Und
als die Wellen ihre Röpfe hoben und einander auf die
Schultern stiegen, um zu erkennen, woher diese ungeschlach-
ten Säulen stammten und was sie zu ihrer Entschuldigung
sagen würden, da senkten sich aus einem grauen Rlotz, der
mitten auf den Gäulen ruhte, zwei fürchterliche Fangarme,
reichten ein blitzendes Gefäß herab und schnappten mit die-
sem Gefäß durch einen entsetzlich raschen Griff eine Hand-
voll der neugierigen Wellen und hoben die Zappelnden
empor. Schreckensstarr erkannten die unten Gebliebenen,
wie die Fangarme die geraubten Wellen Ln einem Rlumpen
verschwinden ließen, der oben auf dem Rlotz saß. Noch war-
teten sie eine weile, ob nicht ihre entführten Schwestern
durch das Ungeheuer hindurchgleitend am Fuße der Gäulen
wieder auftauchen würden. Als aber das Ungeheuer ein
schreckliches Gebrüll des Behagens ausstieß, machten sie sich
traurig aus den weg.
Noch sahen sie im Vorübergleiten eine lange Reihe von
niedrigen Häusern, die sich kerzengerade durch die wiesen
zogen, noch sahen sie hier und da ganze Gruppen solcher Un-
geheuer beieinanderstehen, glimmende kleine pfähle mit den
Fangarmen ab und zu gegen den oberen Rlotz führen, aus
dem dann jedesmal eine dicke Rauchwolke herausquoll, noch
hörten sie rechts und links und überall dies Gewirr fremder
Laute. Dann zogen sie traurig davon, um sich von den
ungewohnten Ereignissen dieses entsetzlichen Tages im dunk-
len Schoße der Mutter Nacht auszuruhen. Den Pappeln
überließen sie es, weiter dies seltsame Treiben zu beobachten.
Sie hatten es ja auch einfacher aus ihrer Höhe herab...
-Sk »
Die 45. Reserve-Division des XXIII. Reservekorps ging in
zwei Angriffskolonnen im Laufe des r). Oktober rechts von
der 40. nördlich des Houthulster Waldes vorüber. Die
rechte Rolonne hatte als Richtungspunkt die Rirche von
Sankt Pieters, die linke die Häuser von Nieuwe Stede. Vor
der rechten Rolonne war der Gegner, der weiter nordwestlich
in der Richtung aus Dixmude vom XXII. Reservekorps hart
bedrängt wurde, während des ganzen Tages nicht sichtbar ge-
worden. Am Spätnachmittag, als der Gchlachtenlärm vor
Dixmude eine gewaltige Stärke erreichte und der Himmel
NS
sich schon zu röten begann im Widerschein der Brände, traf
die rechte Rolonne der Befehl, zur Unterstützung der auf
dem linken Flügel des XXII. Reservekorps schwer kämpfen-
den 43. Reserve-Division hart nordwestlich in Richtung auf
das Dörflein woumen an der Straße Dixmude—Bixschote—
Rpern vorzugehen und sobald als möglich dort entlastend ein-
zugreifen. Die Regimenter begannen sich sofort zu ent-
wickeln und drangen mit vorgetriebenen Sicherungen quer
über die Felder gegen die Straße vor. Richtung gab der
Brand von Dixmude und der rollende Schlachtendonner zur
Rechten. Es kam jedoch nicht zum Angriff. In der Nacht
wurden die Regimenter südwärts abgebogen, um im Ver-
bände der 45. Reserve-Division deren schwere Aufgabe für
den rr. Oktober lösen zu helfen.
Die linke Rolonne hatte es am r). Oktober nicht so ein-
fach. Zwischen Llercken und Terrest stießen ihre Spitzen
schon mittags aus feindliche Postierungen, und die jungen
Regimenter bekamen die ersten Unterweisungen Ln den Ge-
räuschen einherjagender Gewehrkugeln und zerplatzender
Schrapnells, wenige Minuten später hielt auch der Schlach-
tentod seine erste Auswahl unter ihnen. Das Vorposten-
gefecht dehnte sich immer weiter aus. Schließlich ließ Ge-
neralleutnant von wasielewski, der die linke Rolonne
befehligte, seine beiden Regimenter entwickeln, um den feind-
lichen widerstand zu brechen. Das gab dem Gegner endlich
das Signal zum Rückzug längs der Straße nach Merckem
und über diese hinweg. Die Regimenter drängten scharf nach
und blieben dem Gegner aus den Fersen.
Die Reserveregimenter roy und rn bildeten die nördliche,
rio und rzr die südliche Rolonne.
während rii mit I. und II. Bataillon im Verbände der
Nordkolonne nachmittags gegen woumen vorgeschoben
wurde, um dort zusammen mit ro§ den linken Flügel der 43.
Reserve-Division zu entlasten, befand sich das III. Bataillon
bei der Südkolonne im Vorgehen gegen Merckem. Dort
waren die Rräfte der Südkolonne allzu stürmisch hinter dem
Gegner her, der Straße und Bahndamm nicht ohne Ramps
aufgeben wollte. Um 5 Uhr nachmittags, als die Nord-
kolonne bereits zur Ruhe und zum Aufstellen von Sicherun-
gen überging, vollzog sich bei und nördlich Merckem ein er-
bittertes Gefecht, das erste ernste Gefecht, das die jungen
))7
Truppen zu bestehen hatten. Ihre Belehrung wurde gleich
so gründlich vollzogen, daß das III. Bataillon rn binnen
einer halben Stunde zwölf Tote und an zwanzig Verwundete
verlor und vom Regimentskommandeur Obersten von
Rege nach den Gehöften von Roonehoek zurückgezogen
werden mußte. Die Feldartillerie legte vor die entblößte
Frontstelle einen Feuerriegel, bis Nachbartruppen die Lücke
schloffen.
Ein sonderbares Durcheinander war dazu aus der Naht-
stelle zwischen Nord- und Südkolonne entstanden, während
das II. Bataillon r)i als Südflügel der Nordkolonne schon
zur Ruhe übergegangen war, tauchten plötzlich Schützenlinien
Ln feldgrauer Uniform westwärts auf, die mit dem Rücken
nach den ruern zu standen. Es dauerte eine ganze weile,
bis das Rätsel sich löste und die vorn vorgehenden Truppen
sich als der nördlich abgekommene Nordflügel der Süd-
kolonne offenbarten. Schon waren allzueifrige Posten der
r))er dabei gewesen, das Feuer auf den vermeintlichen Geg-
ner zu eröffnen, der seinerseits nicht wenig überrascht war,
in seinem Rücken plötzlich biwakierende und nach allen Re-
geln der Kriegskunst gesicherte Kompagnien vorzufinden. Man
rauchte, soweit Vorrat vorhanden war, eine Friedenszigarre
und trennte sich mit dem Gelöbnis, in Zukunft die befohlenen
Gefechtsstreifen zwecks Vermeidung eines Bruderkrieges
sorgfältiger respektieren zu wollen.
Nord- und Südkolonne waren also am Abend des r). Ok-
tober mit ihren Spitzen in Gefechtsfühlung mit dem Gegner
geraten, die Südkolonne allerdings stärker als die Nord-
kolonne. An zahlreichen Stellen, so einige Kilometer südlich
von woumen und vor Merckem, war die große Straße
Dixmude—Zypern erreicht, aber nirgends überschritten. Vom
Rpernkanal, der sich etwa eine Wegstunde nordwestlich von
Merckem mit der von Westen herankommenden Rser ver-
einigt, war man also noch ein gut Stück entfernt. Durch
die nördliche Abdrehung der Nordkolonne auf woumen und
die für die kommende Nacht befohlene Güdschwenkung der
links von der 45. Reserve-Division vorgehenden 46. Reserve-
Division auf Langemarck zu (von der an früherer Stelle ge-
sprochen ist), wurde die 45. Reserve-Division derart ausein-
andergezogen, daß der dünne Schützenschleier für einen star-
ken Angriff unmöglich ausreichte. Dabei gab das General-
es
kommando am Abend noch den Befehl, das Reserve-Regiment
ri) sei in der Nacht als Rorpsreserve auszuscheiden, da für
den nächsten Tag schwere Rämpfe zu erwarten seien. Das
XXII. Reservekorps vor Dixmude und das XXVI. vor
Langemarck hofften, am rr. Oktober die Entscheidung zu er-
zwingen, und die Armee erwarte, daß das XXIII. Reserve-
korps in ihrer Mitte unbedingt die Linie Noordschoote—Bix-
schote durchbrechen werde, wenigstens wurde die Nord-
kolonne der 45. Reserve-Division, die auf woumen angesetzt
war, der Division zurückgegeben, so daß nach der Südschwen-
kung der 40. Reserve-Division und nach Ausscheiden des
Reserve-Regiments rn als Rorpsreserve zum Angriff auf
Noordschoote-Bixschote im ganzen drei Infanterie-Regimen-
ter, ein Jägerbataillon und ein Feldartillerie-Regiment zur
Verfügung standen.
Das war wahrhaftig keine Rleinigkeit, und die in der Nacht
zum rr. notwendig werdenden Umgruppierungen der Regi-
menter und der damit verbundene Mangel an Ausruhen
machten der 45. Reserve-Division ernste Sorgen. Schließ-
lich aber waren die Regimenter alle noch ziemlich unver-
braucht und vom besten Geist beseelt. Einen starken Trost
gewährte auch die Aussicht, daß das Dörflein Bixschote am
linken Flügel des Angriffsabschnitts gleichzeitig noch von
dem rechten Flügel der 40. Reserve-Division berannt werden
sollte. Bei Bixschote aber war der stärkste feindliche wider-
stand zu erwarten und nicht im Zentrum bei Merckem und
nordwestlich davon bei Luyghem und Drie Grachten.
wer den nächtlich in ihre neuen Stellungen rückenden Re-
gimentern erzählt hätte, was ihnen der Tag bringen würde,
der ganz langsam im Osten über dem Houthulster Waldmeer
den trüben Fimmel rötlich zu färben begann, der hätte
mancher Mutter Sohn an das kühle Grab denken lassen...
Früh am Morgen, als jede Bewegung der Nacht erstarrte,
stimmte aus den dunklen winkeln des Houthulster Waldes
die deutsche Artillerie ihr schauriges Ronzert an. Das brüllte
gleich dem grölenden Gesang einer Riesenschar, die über
Nacht ihren Rausch ausgeschlafen und mit hungrigem Rachen
in die Morgenkühle hineinstarrt. Das zischte und heulte
auf unsichtbaren Lögen über die naßgetauten wiesen und
N9
Felder, als würden schreiende Geister aus nächtlichem Schlaf
gezerrt und vom Teufel mit Hohngebrüll in rasender Fahrt
durch die Luft davongeriffen. Das krachte jenseits der Bahn
und auf beiden Ufern des Ranals, als schlüge dort eine be-
trunkene Musikantengesellschaft mit wirrem Haar und über-
nächtig blöden Augen ihre Instrumente kurz und klein, wie
rissen die Saiten Ln aufquetschendem Todesschrei, wie bar-
sten die Trommelfelle unter dem dumpfen Rrach der Hölzer!
Scheußlich ist das, aus wirrem Schlaf, durchnäßt von
Nebel und Regenschleiern, durchfröstelt von der Rühle, mit-
ten aus irgendeinem Traum von weit her emporzufahren
und plötzlich die Erkenntnis dieses dahinpeitschenden Lärms
in sich aufzunehmen, gleich der schaurigen Offenbarung des
unvermittelt hereinbrechenden Jüngsten Tages. Da ist dem
Aufspringenden zumute wie dem Bauer, dem mitten im trun-
kenen Wirbel der Hochzeit, im Geschrei der Besoffenen, im
Gegröhl der Weiber, in der Gluthitze des Weins und im irr-
sinnigen Lärm der verrückt gewordenen Musikanten ein lei-
chenblaß hereinstürzender Rnecht ins rote Gesicht brüllt: „Der
Hos brennt! Der Hof brennt!" Da empfindet der einzelne mit
zusammenschnürender Gewalt das Gefühl des Feldherrn, dem
mitten im Trubel des Siegessestes mit verbundener Stirn, ver-
wirrtem Haar, verschweißtem Gesicht, übergössen von Dreck
und Blut und in den Augen das starre Aufreißen des Nicht-
begreifenkönnens, ein Verwundeter entgegenschreit: „Sir, die
Armee wälzt sich in ihrem Blut — der Feind ist vor den
Toren!" Da sträubt sich das Haar, da windet sich das Ge-
hirn wie bei einem Betrunkenen, der zwischen Bewußtlosig-
keit und Erkennen, zwischen Schlafen und wachen, zwischen
brennenden Häusern und zuckenden Blitzen, zwischen Todes-
geschrei und irrem Stammeln von Gebeten einhertaumelt,
unfähig zu begreifen, ein blöder Wanderer zwischen hohn-
lachenden Elementen . . .
Furchtbar ist dieser jähe Schritt aus dem Traum auf dem
brüllenden Tanzboden der Schlacht . . .
Um 7 Uhr morgens begann der Angriff.
Die 45. Reserve-Division hatte die Regimenter rzo und
r)r in vorderer Linie entwickelt und roo Ln Reserve ge-
iro
nommen. Nach kurzem Präludium der Feldartillerie wurde
die Angriffsbewegung angetreten.
Um ir Uhr befand sich Reserve-Regiment rio in erbitter-
tem Gefecht vor dem Ostrand von Merckem. Der ganze Vor-
mittag war unter starken Verlusten vor Bahn und Straße
vorübergegangen, weiter südlich beiderseits der großen
Straße nach Zypern, die bei Steenstraate den Kanal erreicht,
und hart nördlich von Bixschote fochten die Bataillone der
r-rer einen erbitterten Kampf gegen eingeschalten Gegner.
Ganz langsam gewannen beide Regimenter Boden. Aus dem
rechten Flügel schob die Division das Reserve-Jägerbataillon
17 gegen Luyghem ein, während das Reserveregiment roy
immer noch für den Brennpunkt des Kampfes bei Bixschote
zurückgehalten wurde. Alles kämpfte mit Front nach Süd-
westen, während aus Südosten der Lärm der Schlacht um den
Kortebeek und Langemarck heranquoll . . .
Es war zwischen drei und vier nachmittags, als die Jäger
und der rechte Flügel von rio im Vorgehen aus Luyghem so-
viel Luft geschaffen hatten, daß das Zentrum des Regiments
den entscheidenden Angriff auf Merckem wagen konnte. Mit
wildem Gebrüll stürzten die Kompagnien vor. Ganze Grup-
pen wurden zusammengeschossen. Lange Reihen von Leichen
zeigten den grauenvollen weg. Kaum waren die Häuser
erreicht, als die Bajonette schon gegeneinander klirrten. Ein
kurzer Kamps. Die Engländer wichen fluchtartig nach
Westen über den Rpernkanal zurück, auf dessen anderem Ufer
die schußbereiten Maschinengewehre ihrer Hauptstellung den
Gegner erwarteten.
Unterdessen war auch bei den Jägern und dem rechten
Flügel von rio die Entscheidung erzwungen. Unter dem
Feuerschutz der Feldartillerie hatten die Kompagnien sich auf
Sturmentfernung herangearbeitet. Aus den Häusern von
Luyghem spie der Gegner Feuer, obwohl ihm die deutsche
Artillerie die Giebel über den Köpfen zusammenschoß. Mehr-
fach wurde zum Sturm angesetzt, immer wieder mußten die
Schützenlinien unter schweren Verlusten zurückgeholt wer-
den, da auch die Feldartillerie in Unkenntnis der Fortbe-
wegung des Angriffs ihr Feuer nicht rechtzeitg vorverlegte.
Es war zum Verzweifeln. Die Engländer gossen einen
Hagel von Schrapnells über das Vorfeld. Jede Mi-
nute brachte Verluste. Entweder die Truppe stürmte trotz
des eigenen Artilleriefeuers, oder sie mußte zurück. Der
jetzige Zustand war unerträglich. Sie tat das erstere. Um
7 Uhr durchschritten die Rompagnien im Nahkampf vas
brennende Dörflein. Endlich begriff auch die Feldartillerie
und folgte von da an mit ihrem Feuerhagel der Bewegung
der Infanterie. Das II. und Teile des I. Bataillons mit
den Jägern sammelten sich in Luyghem so rasch es ging zu
einzelnen Stoßtrupps und brachen ohne Aufenthalt vom
Westrand aus gegen die Gehöfte von Drie Grachten vor. Ein
unsäglich schwieriges Gelände fing sie auf. Wassergraben
hinter Wassergraben, Hecke neben Hecke, und dahinter über-
all der verschanzte Gegner. Gleich Bienenschwärmen pfiffen
die Äugeln. Es war unmöglich. Die Überreste der An-
greifer gingen zurück an den Rand von Luyghem und be-
schränkten sich von dort aus auf lebhaftes Feuergefecht mit
dem bei Drie Grachten verschanzten Gegner. Erst die Nacht
machte dem erbitterten Rampf ein Ende.
Das III. Bataillon L)o stieß unterdessen mit Teilen des I.
aus Merckem hervor, um vor Dunkelheit noch den Ranal zu
gewinnen. Etwa 500 Meter vor dem großen Aanal zog sich
quer zur Angriffsrichtung der Martje, ein schmaler Stich-
kanal, immerhin aber noch so breit, daß er ohne Schnell-
brückenmaterial nicht zu überwinden war. Ein verheerendes
Artilleriefeuer schlug aus die Schützenlinien vorm Martje-
Ranal nieder. Das Gefecht stand still und ging Ln einen er-
bitterten Feuerkampf über, der noch tief in der Nacht das
Feld mit Lärm erfüllte.
Noch aber trotzte Bixschote dem Ansturm.
östlich Nachtegaal, unmittelbar am Rand des Houthulster
Waldes, lagen die ruer als Aorpsreserve alarmbereit. Am
Südausgang von Roonehoek standen die zusammengesetzten
Gewehre der royer, die als Divisionsreserve aus den Befehl
zum Eingreifen warteten. Der den ganzen Tag über in un-
erhörter Heftigkeit anhaltende und kaum vom Fleck sich fort-
bewegende Gefechtslärm ließ sie das Bevorstehende ahnen.
Noch aber wußten sie nicht, ob der Befehl sie an den Nord-
flügel bei Bixschote rufen würde. Um r Uhr mittags wuß-
ten sie es. Bixschote!
irr
Das Reserveregiment rir unter dem Obersten von
Basedow focht seit morgens in Richtung aus das feuer-
starrende Dorf einen aussichtslosen Rampf. Die Rräfte reichten
nicht. So oft der Versuch gemacht wurde, von Norden gegen
das in einer gelinden Senkung liegende Dorf vorzudringen,
schlug aus der Front der Häuser und jenseits von den ver-
schanzten Erdwellen ein irrsinniger Feuerhagel herüber und
riß die Stürmer zu Boden. Als die Sonne am höchsten
stand und für wenige Minuten aus den Oktoberwolken her-
vortrat, hatte Oberst von Basedow seine letzten Re-
serven eingesetzt, ohne damit mehr zu erreichen als eine
kräftige Fortführung des stillstehenden Feuergefechts.
Da endlich kamen die royer.
Das III. Bataillon griff ohne weiteres in den Rampf ein.
Ein Gefühl der Erlösung ging durch die spärlichen Reihen
der rirer. Das II. Bataillon folgte kurz hinter dem I.,
um je nach Erfordernis der Lage auf dem rechten oder dem
linken Flügel der 2) rer einzugreifen. Das I. Bataillon
verblieb einstweilen als letzte Reserve bei der Division.
Und nun vorwärts gegen Bixschotel
Es half den Engländern nichts, daß sie ihr Feuer ver-
doppelten und von rechts und links an Geschützen zu Hilfe
nahmen, was sie erreichen konnten. Sprungweise eilten die
Stürmer an den Ostrand des Dorfes. Das III. Bataillon
der royer geriet dabei in einen furchtbaren Feuerüberfall
englischer Batterien, der die Compagnien fast die Hälfte ihres
Bestandes kostete. Aber die Bewegung stockte auch dann
nicht. Das II. Bataillon schob sich nach eigenem Ermessen
links neben das III. in die vordere Linie, als es dessen Ver-
luste erkannte. Rein Mann zögerte, ob das Feuer auch wie
ein todbringender Orkan aus dem Dorf herausfuhr.
Die 10. Rompagnie war die erste, die mit aufgepflanztem
Seitengewehr und Hurragebrüll eindrang. Die andern
schloffen sich an. Mittlerweile hatte das Generalkommando
seine Reserve, die ruer, auf die Nahtstelle zwischen 45. und
46. Reserve-Division unmittelbar bei Bixschote geworfen, so
daß alles im Gefecht war, was irgendwie zur Verfügung
stand. Ein fürchterliches Durcheinander von Truppen etwa
sechs verschiedener Regimenter entstand dort. Rompanie-
führer hatten Leute von rzo, rn, r-r, r)3, r)5 und 2)0 um
sich geschart. Aber es ging weiter!
-rz
Um 6 Uhr dreißig war Bixschote genommen!
An der brennenden Mühle begegneten sich die Leute sämt-
licher Regimenter. Tatkräftige Führer bemühten sich um
Ordnung, ein schier unmöglicher Versuch bei der Dunkelheit,
der Vermischung der Verbände, dem feindlichen Feuer. Eine
starke Feldwache von etwa -ro Mann aller Regimenter unter
ein paar Offizieren drang bis zu einigen Gehöften südwärts
vor, wurde nachts um i Uhr von den Engländern überfallen
und mußte nach schweren Verlusten zurück. Ein heftiges
Artilleriefeuer wühlte Stunde aus Stunde in den Däusern
und rief Brände hervor. Schauerlich war diese Höllennacht
Ln Bixschote, die vom Rrachen der Einschläge, vom Blitzen
der krepierenden Granaten, vom gellenden pfeifen der Ge-
wehrkugeln, dem Geschrei der Führer und dem Stöhnen der
Getroffenen widerhallte.
Andere Teile des III. Bataillons von roy sammelten sich
bei der Rirche, drangen westlich aus dem Dorf heraus in
Richtung auf Steenstraate vor, lagen etwa 50 Meter vom
Gegner entfernt Ln den Straßengräben, hinter sich den bro-
delnden Hexenkessel von Bixschote.
Das fürchterliche Durcheinander der Verbände führte im
Laufe der Nacht zu einer verhängnisvollen Wendung.
Es ist heute noch nicht aufgeklärt, wie der eigentliche
Verlaus der Dinge war. Anscheinend war die 45. Division
der Auffassung, durch das Einschieben der Rorpsreserve, der
riier, auf ihrem linken Flügel gehe Bixschote in den Strei-
fen dieses Regiments über und wollte die Regimenter roy
und r)r zu neuem Vorgehen hinter der vorderen Linie
ordnen. Jedenfalls erhielt roy bestimmt den Befehl, den
Ort zu verlassen und sammelte seine Versprengten aus den
Anhöhen nördlich davon. Die r-rer schlossen sich dieser
Bewegung an, mochten wohl auch teilweise der Ansicht sein,
das Zurückgehen der royer bedeute die Aufgabe des Dorfes,
das am nächsten Morgen bei Helligkeit ja noch viel mehr zur
Menschenfalle werden mußte als in der Dunkelheit der
Nacht. Die r-ier waren aber nur zum geringsten Teil im
Ort selbst, sondern hauptsächlich östlich davon. Die übrigen
Regimenter, deren Angehörige sich mit den Verbänden der
45. Reserve-Division in Bixschote vermischt hatten, hatten
in Bixschote überhaupt nichts zu suchen und verzogen sich
während der Nacht in den Abschnitt ihrer 40. Reserve-Di-
zrH
vision am St. Ieanbach und dem Rortebeek. wenn man
dazu noch bedenkt, daß kaum noch Offiziere vorhanden waren,
und daß die vorhandenen selbst in gänzlicher Unkenntnis
der Entschlüsse der höheren Führer waren, daß die deutsche
Feldartillerie ununterbrochen nach Bixschote hineinfeuerte,
daß die Dunkelheit und die heftige Erregung des Rampf-
lärms der beste Nährboden für Gerüchte und Unkenrufe sind,
so wird man eine gewisse Erklärung dafür finden, daß gegen
Morgen das ganze Dorf von deutschen Truppen entblößt
war. Nur ein paar Versprengte jenseits des Ortes an der
Straße nach Steenstraate waren geblieben. Sie bezahlten
ihr Ausharren am nächsten Morgen mit Tod oder Gefan-
genschaft.
Durch Mißverständnisse, Nervenschwäche, unklare Be-
fehlsführung und Überanstrengung gingen in der Nacht die
Früchte des opfervollen Tages verloren. Die Engländer
waren aufmerksam genug, noch in der Nacht nachzurücken
und Bixschote wieder zu besetzen. Umsonst war alles Blut
geflossen. Umsonst waren unerhörte Leistungen vollbracht.
Die später allen Truppen geläufige Erfahrung begann ihre
bittere Laufbahn, daß es schwerer ist, eine Stellung zu halten
als sie zu nehmen.
Unbezwungen, obwohl schon am Boden liegend und unter
den Füßen des Angreifers zitternd, reihte sich Bixschote zu
seinen brennenden Schwestern Langemarck und Dixmude...
Äser
Ein neues Blatt wird ausgeschlagen.
Von soviel unerhörtem Heldenmut muß hier geschrieben
werden, daß die Feder kaum neue Worte zu bilden vermag,
um das Sterben und Siegen der Regimenter aufzuzeichnen.
Unmöglich scheint es, so lange Jahre nach diesem fürchter-
lichen Zusammenprall von starrem Siegwillen erfüllter Re-
gimenter die lebendigen Farben des Blutes und des Feuers
zu finden, um abermals die Not und die Größe jener Tage
und Stunden nachzubilden, die im Geiste erlebt werden müs-
sen, um das Geschehene ganz zu begreifen, was hilft das
Abwägen von Zahlen und Ziffern, das Vergleichen von Orts-
namen und Zeitangaben, das Bemessen des gewonnenen Bo-
dens und die Nachprüfung der Entschlüsse der Führer, wenn
Ln den Herzen sich nicht das grauenvoll majestätische Bild
des lebendigen Geschehens entrollt; wer nicht aus dem
Herzen heraus dies alles zu begreifen vermag, dem wird es
auf ewig verschlossen bleiben.
Oft sinkt die Feder ermattet nieder und sträubt sich gegen
die ewige Wiederholung von Angreifen, Bluten und Ster-
ben. Gleichwie jene zu Hunderten und Tausenden nieder-
sanken auf den flandrischen Feldern und mit ihrem Herzblut
das Wasser der Ranäle färbten, so wehrt sich der Geist ge-
gen die anstürmenden Bilder und will im Gefühl der Ohn-
macht dem Lärm und dem Grauen sich entziehen. Aber dann
leuchtet aus Dunkel und Schicksalsbefangenheit die gleißende
Flamme der Tat und durchbricht die kalten Nebel der
dumpfen Ermattung mit ihrem hellen, vorwärtsrufenden
Lichtstrahl. Aus dem gigantischen Wechsel von Aus und
Nieder hebt sich immer aufs neue der Berg des Geschehens,
über den damals, den Tod im Angesicht und die Zukunft im
Herzen, unsere besten Söhne gewandelt, wer will da nicht
folgen bis zum Ende- wer will, von der dumpfen Last des
nachträglichen Vergeblich niedergedrückt, sich sträuben gegen
das Miterleben der Dinge, wie es sich jenen dargeboten, als sie
vom Gipfel des Lebensempfindens jäh hinabstürzten in den
Tod-
* »
Von den Rämpfen im Rüstenabschnitt nördlich Dixmude
wird im folgenden zu reden sein. Von jenen Rämpfen, dre
zwölf Tage lang Ln unerhörter Wildheit über die wasser-
reichen flandrischen Felder sich wälzten und den verträumten
Lauf der Rser zu einem menschenfrefferischen Flußbett ver-
wandelten. Von jenen Rämpfen, in deren lärmendem Ver-
lauf die Wagschale des Sieges mählich sich zu neigen begann
nach der Seite der Angreifer. Bis ein verzweiflungsvoll
heroischer Entschluß dem Rönig der Belgier eingab, lieber
sein Land dem Meere zu vermachen als den unwiderstehlichen
Stürmern. Bis die Elemente sich erhoben, aufgeschreckt aus
träger Ruhe durch das Toben der Menschen. Bis das
Meer aufstand, erzürnt über den neuen Geist der Unrast und
des krachenden Lärms, und sich geräuschlos zwischen die
Rämpfer schob. Bis an einem Tage, den sicheren Sieg vor
Augen, die Deutschen zähneknirschend vom Feind lassen und
bis zu den Rnien und den Hüften im Wasser zurückwaten
mußten durch die endlos gedehnte Fläche.
Damals nahm die Göttin, unbekümmert um die Ströme
vergossenen Blutes, schweigend den Regimentern den Sieges-
zweig aus der Hand, den sie bereits mit den Fingern be-
rührt. Damals wurde entschieden, daß die Schlacht zu keinem
Durchstoß der feindlichen Front führen würde. Damals er-
trank in den wassern von Flandern die Hoffnung, den Rrieg
binnen kurzem zu beenden.
Von diesen Rämpfen und ihrem Ende wird hier zu reden
sein.
» *
Bis zum 10. Oktober hatte das von Antwerpen her in
breiter Front den Belgiern folgende III. Reservekorps unter
General von Beseler seine Aufgabe, die in der Ver-
schleierung des Aufmarsches der neuen 4. Armee bestand, er-
folgreich beendet und schob sich dann, der 4. Armee unterstellt,
127
in den Rüstenabschnitt, um dort an dem allgemeinen Angriff
der Armee gegen Zypern und die Rserfront teilzunehmen.
Die Bewegung wurde rasch und den kampsyewohnten
Grundsätzen der vorzüglichen Regimenter entsprechend voll-
zogen. Am rc>. Oktober war alles in den neuen Gefechts-
räumen. Schon am r). wurde der Angriffsbefehl erlassen.
Es war der Tag, an dem das XXII. Reservekorps links vom
III. Reservekorps gegen Dixmude anrannte, an dem das
XXIII. Reservekorps zwischen Merckem und Bixschote, das
XXVI. beiderseits Langemarck und das XXVII. westlich Beee-
laere mit dem verschanzten und ständig verstärkten Gegner
rang. In kurzen entschlossenen Vorstößen, die von den Bri-
gaden des III. Reservekorps den ganzen r). Oktober über
unternommen wurden, gelang es, an zahlreichen Stellen den
Kanal zu erreichen, an anderen etwa ein Kilometer östlich
davon Fuß zu fassen. Der Übergang glückte an diesem Tage
nirgends. Die 4. Ersatz-Division stand auf dem rechten Flü-
gel unmittelbar vor westende. Ihre iz. Ersatz-Brigade, in
den Dünen am Strande vrteilt, hatte schwer unter dem
Feuer englischer Schiffsgeschütze zu leiden und mußte jede
Vorwärtsbewegung einstellen. Die Flachgranaten großer
Kaliber faßten von der offenen Flanke in die Bataillone und
störten jeden Nachschub mit Streufeuer. Lombartzyde und
Nieuport lagen unmittelbar vor der Front, stark besetzt und
einen heißen Kampf verheißend. Die 5. Reserve-Division
hatte mit ihren Spitzen auf der Straße von St. Pierre-
Tappelle her den Raum westlich Schoore erreicht und konnte
bereits das Wasser des Kanals erblicken. Aber hinter dem
Kanal drohten die Maschinengewehre, und einzelne Granat-
salven verrieten das Kommende mit dröhnendem Aufschlag
auf den wiesen von Mannekensvere. Die 0. Reserve-Di-
vision lag mit ihrem rechten Flügel wohl 5—600 Meter vom
Kanal entfernt und berührte mit dem linken die große nach
Osten ausholende Kanalschleife zwischen Schoorbakke und
Tervaete. Dort hatten sich die Bataillone der ir. Reserve-
Brigade verschanzt. Von Tervaete nach Süden bis an den
Nordrand von Dixmude schloffen sich dann die Regimenter
der 44., dem XXII. Reservekorps zugehörigen Reserve-Di-
vision an. Die Aufgabenverbindung zwischen dem III. Re-
servekorps und der 44. Reserve-Division war so eng, daß mit
Absicht bei der Schilderung der Angriffe auf Dixmude die 44-
zrS
Reserve-Division nicht einbegriffen wurde, um ihre Taten
hier mit aufzuzählen.
Die Absicht des Generals von Beseler war, am rr. Ok-
tober in aller Frühe die Ranalfront bei der großen Rser-
schleife einzudrücken, den Einbruchserfolg nach rechts und
links zu erweitern und im Laufe des Tages die feindlichen
Linien ins Wanken zu bringen. Auch die 44. Reserve-Divi-
sion ließ im Laus der Nacht dem Generalkommando des
III. Reservekorps mitteilen, daß sie am Morgen den Ranal
in ihrem Abschnitt überschreiten werde.
Die Nacht verlies mit Geplänkel und Postenstehen.
* *
*
Am frühen Morgen des rr. Oktober schickte sich der Geg-
ner zu einer heftigen Gegenwehr an. Vom Meere her unter-
stützt, begann aus der ganzen Front eine wilde Ranonade, die
bis tief ins Hintergelände schlug. Die Belgier verfügten
offenbar über zahlreiche schwere Artillerie. Aus den wiesen
vollführten im Morgengrau die dunklen Schleier der Ein-
schläge einen unheimlichen Tanz und machten eine gewaltige
Musik dazu. St. Pierre Tappelle und Schoore zerbarsten
unter dem wilden Anhieb der Granaten. Mit krachendem
Lärm und Geprassel stürzte der Rirchturm von St. Pierre
Tappelle zusammen.
Im Norden, dicht an der Rüste, nahm das Tacken der Ma-
schinengewehre und das helle peitschen der Gewehrschüße
seinen Ansang. Bald brodelte es vor Lombartzyde und in
der Richtung der viereckigen Türme von Nieuport. Mit
träger Beharrlichkeit wälzte die Schlacht sich immer weiter
nach Süden, so daß schließlich das heulende und prasselnde
Ronzert wie eine undurchdringliche Wolke aus Schall und
Rauch sich über den ganzen Abschnitt legte. Mit unbeküm-
merter Zähigkeit machte sich die englische Artillerie daran,
jedes ihren Rohren erreichbare Dach zusammenzuschießen.
Und sie tat gründliche Arbeit. Aus den Dämmen und Dei-
chen lagen die erhitzten Gewehrläufe und spien Rüge! aus
Rüge! über die wiesen und Ranäle . . . Die deutsche Ar-
tillerie blieb keine Antwort schuldig . . .
Der Angriff begann überall zur befohlenen Stunde.
irs
V Beumelburg, Flandern
Südlich Schoore, im Nordteil der großen Rserschleise, lag
das Reserve-Infanterie-Regiment 20 unter seinem Romman-
deur Oberst vonwesternhagen unmittelbar am Wasser.
In der Nacht war, so gut es ging, aus dem Hintergelände
Gchnellbrückenmaterial zusammengetragen worden. Mehr als
Bretter, ein paar Fässer und Türen war nicht aufzutreiben.
Aber es genügte schon. Rurz vor acht Uhr, die Schläfrigkeit
des gegenüberliegenden Gegners ausnutzend, ging es den
Damm hinauf, zum Wasser hinunter, hinein, hinüber. Im
Handumdrehen waren ein paar Rompagnien drüben und brei-
teten sich rechts und links zu einer Brückenkopfstellung aus.
Das erste Loch!
Oberstleutnant von Rümmer, Rommandeur des an-
schließenden Reserveregiments 24, bat die Division sofort
um Genehmigung, seinerseits anzugreifen. Eine Stunde
später waren auch Teile von 24 über das Wasser. Das zweite
Loch!
Da aber erwachte der Gegner und fuhr jäh in die Höhe.
Ein wütendes Gewehrfeuer spie von allen Seiten auf die
Übergegangenen. Da aber das Wasser beiderseits von einem
Treideldamm eingesäumt war, gelangten immer neue Grup-
pen hinüber. Sie hockten diesseits der Böschung, und so-
bald sie den Versuch machten, über den westlichen Damm hin-
über zu klettern, kämmten die feindlichen Maschinengewehre
über die Angreifer, daß ihnen Höhren und Sehen verging.
Unterdessen bemühten sich die Hinübergelangten, weiter
vorzudringen. Unmittelbar am Ranalufer war die erste
feindliche Stellung, wenige hundert Meter dahinter die
zweite, dazwischen ein Gewirr von Gräben, Hindernissen,
wafferläufen und Hecken. In zäher Langsamkeit, jeden
Schrittbreit Boden nur mit Blut verkaufend, gingen die
Belgier von fünfzig zu fünfzig Metern kämpfend zurück.
Aber bis zum Bahndamm, der zweiten feindlichen Haupt-
stellung, mochten es wohl vier bis fünf Rilometer sein, und
noch waren erst in weiter Ferne die Pappeln der Straße
von Schoorbakke nach pervyse zu sehen. Dort, wo am
Horizont die roten Dächer der Häusergruppen durch das
Grün blickten, das mußte pervyse sein, wo Bahndamm und
Straße sich kreuzten. Jeder Reservist konnte sich an den
Fingern abzählen, daß, wenn das Gefecht im bisherigen
130
Tempo und mit den bisherigen Verlusten weiterging, ntchr
ein Gewehrlauf und nicht eine Bajonettspitze das Nest er-
reichen würden. Zudem war weder rechts noch links irgend
etwas von einem Übergang benachbarter Truppenteile zu
erkennen.
Und dann mischte sich die feindliche Feldartillerie ein!
Belgier und Engländer erkannten, daß sie mit ihren Ma-
schinengewehren die Übergangsstellen wegen der Dämme nicht
richtig fassen konnten. Den Haubitzen gelang das besser.
Haushohe Fontänen sprangen aus dem Wasser auf, und
zwischen den Böschungen lärmte der zerreißende Krach der
Granaten. Die kümmerlichen Stege zersplitterten wie Kinder-
spielzeug. Da schwammen die Reservisten durch das Wasser
und suchten sich die Stellen aus, wo die feindliche Artillerie
eine Lücke Ln ihrem Feuervorhang ließ.
So verging unter andauernden schweren Kämpfen der
Vormittag des rr. Oktober bei trübem Herbstwetter.
Generalleutnant von Schickfus und Neudorff,
der Kommandeur der hervorragenden 6. Reserve-Division,
versuchte, den Erfolg der beiden Reserveregimenter ro und
r4 kräftig auszunutzen und schob alle irgendwie verfügbaren
Teile der Division hinter die Übergangsstelle. Aber das feind-
liche Artilleriefeuer nahm immer mehr zu und verhinderte
das übersetzen größerer Verbände.
Bei anbrechender Dunkelheit waren im ganzen etwa zwei-
einhalb Bataillone drüben. Erst ein einziges Maschinen-
gewehr hatte mit unsäglicher Mühe nach jenseits getragen
werden können. Diese kleine Truppe wehrte sich verzweifelt
gegen die konzentrische Feuerwirkung des Gegners, der alles
daransetzte, die lästigen Eindringlinge zu beseitigen. Das
Feuer wurde unerträglich. Eine Zeitlang erwogen die Regi-
menter die Zurückziehung ihrer übergegangenen Teile. Aber
die Division bestand auf unbedingtem Festhalten am jen-
seitigen Ufer, weil die 5. Reserve-Division, die tagsüber
überall dicht an den Kanal herangekommen war, für die
kommende Nacht den Übergang an drei Stellen plante. Das
Unternehmen wäre von vornherein zur Aussichtslosigkeit
verurteilt worden, wenn die 6. Reserve-Division ihren
Tagesgewinn wieder preisgegeben hätte.
ö*
131
So blieben die Bataillone drüben, und die Division be-
reitete durch Verstärkung und Heranführen der Artillerie
den Übergang neuer Verbände vor . . .
Die Nacht zum rz. Oktober verging stürmisch. Das
tastende Suchen flackernder Leuchtkugeln erhellte die Ranal-
böschungen und das westliche Vorgelände mit gespensterhaften
Reflexen. Ab und zu brüllte plötzlich der Gefechtslärm in
wilder Heftigkeit los. In das Rlatschen der einschlagenden
Rugeln vermischte sich der jähe Donnerschlag vom Nacht-
himmel herabfallender schwerer Granaten. Blutrot leuchteten
ihre Feuergarben. Bleich floß die Rser zwischen ihren zer-
wühlten Ufern hin. Manch ein Rörper trieb aus ihrem
Grunde langsam zum Meere. Im Ostteil des Rserbogens,
im Zentrum der 6. Reserve-Division, war nach mehrfachen
vergeblichen Versuchen die Herstellung eines Lausbrückenstegs
gelungen. Bei Nacht vermochte die feindliche Artillerie ihn
nicht zu entdecken. Schattengleich glitten die Gestalten hin-
über, eine hinter der anderen. Munition wurde nach vorn
gebracht und etwas zu essen für die wehrlos dem feindlichen
Feuer ausgesetzten Truppen in der ersten Linie. Das Streu-
feuer der Artillerie auf dem schmalen jenseitigen Streifen
machte das Vorbringen der Munition zum verzweifelten
wettlauf mit dem Tode. Aber es gelang. Sobald wieder
das bleichgrelle Licht der Leuchtkugeln aufflammte, warf sich
alles zu Boden. Atemlos verstrichen die Sekunden in un-
erträglicher Langsamkeit, wenn der Flackerschein ver-
glommen, ging es weiter durch das Gewirr der Gräben und
Wasserläufe bis nach vorn, wo das Gekläff der Gewehre die
Anwesenheit der vordersten Truppen verriet.
Immer wieder setzte der Feind zu nächtlichen Infanterie-
angriffen an. Der raffelnde Schleier der Granaten kündigte
ihn jedesmal an. Im Schein der tanzenden Leuchtkugeln er-
kannten die eingeschanzten Reservisten undeutlich die heran-
quellenden feindlichen Reihen. Heraus aus den Läufen, was
an Patronen noch da ist! Die Dunkelheit verschlang alles.
Neu aufglühende Leuchtkugeln verrieten im Vorfeld hier
und da einen reglosen dunklen Punkt. Die Gefallenen. Der
Rest war geflohen, wenn nur dies entsetzliche Artilleriefeuer
nicht wäre, gegen das es kein wehren gab! Eingraben war
unmöglich wegen des Grundwassers. Ein paar kümmerliche
Löcher, das war alles. Eine furchtbare Nacht. . .
Gleichwohl brachte die S. Reserve-Division noch in der
Nacht weitere zwei Bataillone über das Wasser und zog ihre
Feldartillerie bis dicht an den Ostrand des Ranals.
Vor der 4. Ersatz-Division an der Rüste und bei der
5. Reserve-Division zwischen Mannekensvere und Schoore
hatte der Tag trotz schwerster Rämpfe keine Veränderungen
gebracht. Auch die 44. Reserve-Division links von der 6.
hatte keinen Erfolg. Die famose 6. Reserve-Division blieb
an diesem Tage die erste und einzige, die den Ranal
bezwungen . . .
In der Nacht kam General von Beseler zu der Über-
zeugung, daß der Versuch, mit der 4. Ersatz-Division im
Rüstenabschnitt die Rser zu erreichen und zu überschreiten,
ein aussichtsloses Beginnen sei. Die feindlichen Geestreit-
kräfte verstärkten sich von Tag zu Tag und machten fast
schon den Aufenthalt in den flachen Dünen zur Unmöglich-
keit. Aus Brügge schleunigst angeforderte 15-cm-Ranonen-
batterien zur Bekämpfung der Schiffe trafen erst im Laufe
des rz. Oktober in Ostende ein und konnten am 24. den
ersten Schuß abfeuern. Ihre Wirkung war gut, aber im
Vergleich zu den vom Gegner herangezogenen Rräften viel
zu gering. Es gab momentane Erleichterungen, aber nicht so
viel Entlastung, daß der geplante Angriff auf westende und
Bad Nieuport erfolgversprechend hätte begonnen werden
können.
Beselers Plan war, die 4. Ersatz-Division noch in der
Nacht hinter die 5. Reserve-Division zu ziehen und an der
Rüste nur schwache Sicherungen zur Beschäftigung und Be-
obachtung des Gegners zu belassen. Die 5. Reserve-Division
sollte dann den Übergang in Richtung auf Ramscappelle er-
zwingen und die 4. Ersatz-Division hinter sich herziehen, so
daß die feindliche Rüstenfront von Nieuport bis nach Bad
Nieuport hinterrücks aufgerollt werden konnte. Der Plan
war kühn, denn der Gegner, der von See her und von den
Türmen Nieuports aus eine ausgezeichnete Beobachtung
hatte, konnte die Entblößung des deutschen Rüstenflügels sehr
bald erkennen und durch einen kräftigen Angriffsstoß längs
der Rüste Leselers Absicht Ln einer weise zu seiner
eigenen machen, die für das III. Reservekorps verhängnisvoll
werden mußte. Aber Beseler war kein Mann zögernder
Entschlüsse. Die Befehle ergingen, die Linksschiebung der
4. Ersatz-Division begann mit der 0. Ersatz-Brigade unver-
züglich im Schutze der Nacht.
während das III. Reservekorps auf diese weise den neuen
Angriff vorbereitete, verlangte das Armeeoberkommando
noch in der Nacht von Beseler die Hergäbe der 4. Ersatz-
Division, um sie hinter dem bei Becelaere schwer gefährdeten
XXVII. Reservekorps als Armeereserve einzusetzen. Der
Gedanke war ziemlich verzweifelt, denn bis die Division
längs der ganzen Front der Armee von der Rüste bis nach
Becelaere marschiert, konnten im Süden längst folgenschwere
Ereignisse eingetreten sein, während sich im Norden das
Fehlen jedes einzelnen Gewehrlaufes bemerkbar machen
mußte. Zudem trafen beim III. Reservekorps gerade in diesem
Augenblick zuverlässige Nachrichten ein, daß die Belgier
aus dem Raume von St. Georges gegenüber Mannekensvere
im Abmarsch nach Nieuport begriffen seien. Diese Meldun-
gen bestärkten beim III. Reservekorps die Auffassung, daß die
Entscheidung aus seinem Frontteil nahe bevorstünde und
durch festes Zupacken herbeigeführt werden müsse. Die
9. Ersatz-Brigade war schon im Raume von Mannekensvere
und Schoore im Abschnitt der 5. Reserve-Division angelangt.
Ein nochmaliges Abändern der Befehle Ln dieser Nacht
mußte die stark angestrengte Truppe über Gebühr Ln An-
spruch nehmen. Das Armeeoberkommando versagte sich den
Gründen Beselers nicht und ließ ihm die 4. Ersatz-Di-
vision, allerdings unter der betonten Voraussetzung, daß
baldigst im Norden ein durchschlagender Erfolg erzielt werden
müsse, der auch das Zentrum und den Südflügel der Armee
entlasten würde. Einige Landwehrformationen wurden an
Stelle der 4. Ersatz-Division hinter das XXVII. Reservekorps
im Süden geschoben. Beseler änderte seine Vorbereitungen
Ln dem Punkte, daß er die an der Rüste verbliebenen Teile
der 4. Ersatz-Division, die 13. und 33. Ersatz-Brigade, dort
beließ, um mit ihnen bei dem zu erwartenden Durchstoß
zwischen Nieuport und pervyse kräftig von Nordosten gegen
Nieuport nachdrücken zu können. In dieser Nacht wurde
beim Generalkommando des III. Reservekorps kein Auge zu-
1Z4
getan. Aber am Morgen des rz. Oktober waren alle Vor-
bereitungen getroffen, die Truppen über ihre Aufgaben im
klaren, die Munitionsvorräte ergänzt.
Der Kampf konnte beginnen.
Die 5. Reserve-Division hatte ihre Leistungsfähigkeit über-
und die Stärke des Gegners unterschätzt. Nirgends gelang
Ln der Nacht zum rz. der Übergang.
Am frühen Morgen wurden schwere Minenwerfer gegen
das Kanalufer und die feindlichen Linien jenseits eingesetzt.
Mit gemächlicher Fahrt trudelten die dicken Kaliber in hohem
Logen durch die Luft und fielen mit donnerndem Aufschlag
auf den Kanalböschungen nieder, tiefe Löcher reißend und
gewaltige Mengen von Erde und Rasen in die Höhe
wirbelnd. Dichter Oualm legte sich über die ganze Stellung.
Es schien, daß alles lautlos den verheerenden Hammerschlägen
dieser Liester lauschte und an den Fingern sich die Minuten
abzählte, die zwischen Leben und Sterben noch freigegeben.
So oft aber die Minen ihr grausiges Spiel einstellten und
einzelne Patrouillen über die östliche Kanalböschung kletter-
ten, empfing sie ein verheerendes Schnellfeuer von allen
Seiten, dem sie sich nur durch schleunigste Flucht hinter den
Damm entziehen konnten. An manchen Stellen lagen die
Gewehrläufe der Gegner, nur durch das Wasser getrennt,
auf den Treideldämmen sich gegenüber. Mit Kopfschuß er-
ledigten sich die Schützen von hüben und drüben auf kürzeste
Entfernung, bei der ein Fehlschuß fast ausgeschlossen war.
Blitzende und knatternde Reihen von Läufen säumten auf
ganze Strecken die Böschungen hüben und drüben. Sobald
einer getroffen, ließ er sich auf der dem Feind abgekehrten
Seite hinübergleiten, und Sanitäter schafften ihn quer über
das Feld zurück zu den Verbandplätzen in Schoore und Man-
nekensvere. Auch dieser weg war abermals ein Gang mit
dem Gevatter Tod. Ringsum spritzten die grauen Einschläge
der belgischen Feldartillerie auf, und die Wölkchen der
Schrapnells sprangen wie weiße wattefetzen dicht über der
Erde. Bald glichen ihre Scharen ganzen Herden weißer
Lämmer. Manch einer, der am Kanal mit einem leichten
135
Schuß davongekommen, mußte hier auf dem Rückweg daran
glauben, umfangen schon von der Wiedersehenshoffnung mit
denen daheim. Manch einer, der seinen Rameraden in einer
Zeltbahn durch das Gras schleppte, bezahlte die Treue mit
dem Leben . . .
Um io Uhr morgens drang die 9. Reservebrigade am
linken Flügel der 5. Reserve-Division bis zum Ranaldamm
vor. Damit war das Wasser überall erreicht. Aber noch
nirgends überwunden. An vielen Stellen zimmerte die Truppe
sich aus allem möglichen Behelfsmaterial Schnellbrücken
zusammen. Die meiste Aussicht für den Übergang schien bei
der 9. Reservebrigade zwischen Schoore und Schoorbakke zu
bestehen, weil hier schon die Front der bereits über die Äser
gedrungenen Teile der 0. Reserve-Division begann. Einige
Male wurde der Versuch von den tapferen Regimentern
unternommen. Aber jedesmal prasselte aus den Häusern von
Schoorbakke in ihre rechte Flanke ein so verheerender Feuer-
hagel, daß jede Bewegung hinter den Ranaldämmen erstickte.
Das sofort angeforderte Feuer der schweren Mörser schaffte
gegen Abend etwas Luft. Aber der Übergang gelang auch
dann nicht . . .
Unterdessen hatte die 6. Reserve-Division in der nach
Westen offenen Kserschleise den ganzen rz. Oktober über
entsetzlich zu leiden. Verzweifelt wartete sie darauf, daß ihre
rechten und linken Nachbarn, die 5. und die 44. Reserve-
Division, ihrem Beispiel vom Vortage folgen würden.
Nichts geschah. An eine Verpflegung der vorn liegenden
Schützenlinien war überhaupt nicht zu denken. Sie lagen
gänzlich abgeschnitten in ihren Löchern, wehrlos dem Feuer-
orkan ausgesetzt, den der wütende Gegner vom Morgen bis
zum Abend über sie ausgoß. Mit der Anspannung der
äußersten Rräste bäumten sich Belgier und Engländer gegen
den in ihr Fleisch gebohrten Pfahl. Niemand konnte die
Verwundeten zurückbringen. Sie blieben in ihrem Blut
liegen. Niemand konnte die Toten beiseiteschaffen. Bald
lag zwischen je zwei Lebenden ein Toter in der Schützen-
linie. Niemand konnte mit dem Nachbar Verbindung auf-
nehmen. Aus gut Glück focht jeder Trupp für sich allein,
Stunde auf Stunde, den ganzen Tag über, den Hunger in
den Gedärmen, Dreck im Gesicht und an den Händen, Granat-
es
einschlage und hüpfende Schrapnells vor, neben und über
sich, ohrenbetäubenden Lärm ringsum, den Tod vor An-
gesicht, das Leben gleich einer weit, weit entfernten Insel
hinter sich. Aber das schlimmste war, daß die Munition
ausging. Das andauernde Gefecht verschlang riesige Ulengen
von Patronen, deren Ergänzung ganz ausgeschloffen war.
Das Heranschaffen war ein Spiel mit dem Tode, deffen Aus-
gang kaum zweifelhaft. Die paar Stellen, an denen der
Übergang mit Stegen und Lausbrücken hergestellt und über
Nacht verstärkt war, lagen unter einem derartigen Artillerie-
feuer, daß kein Mensch hinüber oder herüber konnte. Neue
Stellen waren nicht erkundet, das wenige vorhandene
Brückenmaterial ging zum Teufel. Die größten Teile der
Reserveregimenter r6, 35, ro und 24 waren wohl drüben,
aber die Schlacht fraß sie langsam auf, immer eine ganze
Handvoll mit einem Bissen. In der Nacht hatten das Gene-
ralkommando und die Division den Rückzug untersagt mit
Rücksicht auf die Angriffsabsichten der Nachbardivisionen.
Nun war es Tag, ein Rückzug im Angesicht des Gegners
war sicherer Tod, kaum einer würde das Ufer erreichen, und
wenn doch einer bis zu der Böschung gelangte, so riß ihn
dort die Rugel ins Wasser hinunter. Der versprochene
Übergang der Nachbartruppen aber blieb aus. Entsetzlich
langsam kroch dieser blutige Tag über das Feld . . .
Mittags um ein Uhr erreichte das am linken Flügel der
6. Reserve-Division stehende Reserveregiment 35 den West-
rand von Tervaete. Das Dörflein liegt am südlichen Fuß
der großen Rserschleife teilweise noch aus dem östlichen User.
Seine letzten Häuser stoßen schon an den Ranal. Unmittel-
bar hinter ihnen setzt die Straße von Reyem über Tervaete
nach Stuyvekenskerke und pervyse mit einer Drehbrücke
über das Wasser. Sie war zerstört, aber ihre Wiederher-
stellung schien nicht allzu schwierig. Pioniere von der
1. Rompanie des Pionier-Bataillons 3 standen hinter dem
wütend beschossenen Ort bereit, um sofort mit der Aus-
besserung der Brücke beginnen zu können, wenn die In-
fanterie die Lrückenstelle einigermaßen fest im Besitz haben
würde. Aber der Gegner wich nicht vom jenseitigen Ufer-
rand und zwang die 35er, sich in den letzten Häusern von
Tervaete festzusetzen und von dort aus den Feuerkampf zu
führen.
137
Mo einen Übergang für die Feldartillerte schaffen, ohne
deren unmittelbare Mitwirkung den in der Rserschleise fest-
gebannten Bataillonen kein Vor und kein Zurück möglich
war)
Der Divisionsbrückentrain wurde bis nach Reyem vor-
gezogen und wartete mit angeschirrten Pferden aus Befehl
zum Heranfahren an die Rser. Noch war man sich über die
geeignetste Stelle nicht schlüssig. Pioniere erkundeten mit
zahlreichen Patrouillen längs des Wasserlaufes. Die kanali-
sierte Nser hatte fast überall die ansehnliche Breite von ro
bis 3O Metern, das Pontonieren war also an sich schon keine
Kleinigkeit, aufs äußerste aber erschwert durch das anhaltende
feindliche Artilleriefeuer. wie würde das erst werden, wenn
der Gegner die deutsche Absicht erkannte und ein konzen-
trisches Scheibenschießen auf die Brückenstelle eröffnete) Die
rechts und links der User sich hinziehenden Treideldämme
mußten durchstoßen oder durch Anfahrten für Fahrzeuge
passierbar gemacht werden. Das erforderte Zeit und Opfer
und mußte dem Gegner frühzeitig die Brückenstelle verraten.
Schließlich war doch klar, daß er nur darauf wartete, wo
die Deutschen den Versuch zur Herstellung einer Brücke
machen würden, um sich mit voller Wut auf die Vermessenen
zu stürzen.
Der Wechsel zwischen Ebbe und Flut, der selbst hier, etwa
15 Kilometer von der Rüste entfernt, immer noch Schwan-
kungen im Wasserstand von etwa einem halben Meter ver-
ursachte, war eine weitere Erschwerung für das Pontonieren.
Endlich entschied man sich für eine Stelle etwa Soo Meter
nordöstlich von Tervaete, wo die von Reyem herankommende
Straße zum erstenmal das Wasser berührt, um dann längs
des Ranals nach Lervaete hineinzulaufen. Man hatte hier
den Vorteil der befestigten Anfahrt für die Artillerie und
die Fahrzeuge und war dabei noch an einem Punkte, der
dem Gegner soweit wie möglich abgekehrt lag. Die ). Kom-
panie des Pionier-Batls. 3 und die 1. Res.Romp. des r. pio-
nier-Batls. 24 unter Oberleutnant Lorvers wurden mit
dem Bau der Pontonbrücke beauftragt, sobald das feindliche
Feuer ein Heranziehen des Lrückentrains aus Reyem gestatten
würde. Bis dahin war aber noch gute weile. Einstweilen
konnte sich kaum ein einzelner Mann, geschweige denn die
13S
unförmige, an den Verlauf der Straße gebundene Masse
eines Brückentrains, diesseits Reyem zeigen. Die Pontons
wären im Handumdrehen Ln Siebe verwandelt worden. Und
damit ist schlecht Brücken bauen . . .
So brachte der rz. Oktober nirgends eine wesentliche Ver-
änderung der zum äußersten gespannten Lage beim III. Re-
servekorps. Beselers Hoffnung, an diesem Tage die Ent-
scheidung zu erzwingen, wurde getrogen. Die Verlustziffern
schwollen zu schreckenerregender Höhe an. Die Armee ver-
langte eine rasche Entscheidung. Die Truppen litten unsäglich
bei schlechtem Wetter, Mangel an Munition, Mangel an Ver-
pflegung und unter dem Druck eines wahnsinnigen Feuers,
wenn nicht in kürzester Zeit die 6. Reserve-Division durch
ihre Nachbarn aus ihrer verzweifelten Stellung befreit
wurde, so mußte auch dieser unter furchtbaren Opfern er-
kaufte Gewinn wieder verlorengehen . . .
Abermals begann eine Nacht mit dem schemenhaft grün-
lichen Flattern der Leuchtkugeln, dem glühenden Purpur der
Brände und dem gelben Aufflammen der Granateinschläge,
umsäumt von zuckenden Blitzen der Gewehrläufe. Ein stern-
klarer Himmel stand schweigend und kalt darüber . . .
Ä *
In dieser Nacht vollzog sich das Werk.
Auf der Straße von Reyem rasselten die schattenhaften
Gestalten der Pontonwagen heran. Ab und zu bäumten die
Pferde in den Strängen, wenn rechts oder links mit dumpfer
Erschütterung und rotem Aufflammen eine Granate einschlug
oder wenn geradeaus auf der Straße der klirrende Lärm auf-
brüllte. Im Trab wurde die Brückenstelle erreicht.
Eine seltsame Erregung vibrierte Ln der Nacht. Und doch
war keine ängstliche Hast. Alles vollzog sich wie aus dem
Exerzierplatz. Jedesmal, wenn die dicht am Ranal stehenden
Geschütze mit grellen Flammen und in die Nacht hinauf-
fahrendem Donnerschlag ihre Geschosse absandten, tauchte im
Blitzlicht des Mündungsfeuers die emsige Schar der schwarzen
Gestalten auf. Die wagen wurden entladen und rasselten
zurück. Balten schichteten sich zu Stapeln. Gleich unförmigen
Leibern von Ungeheuern blähten sich die Pontons im Grase,
139
eines neben dem andern. Und die Trupps begannen die
Arbeit. Still rauschten die Pontons durch das Ufergras ins
Wasser, Gestalten sprangen hinein, ein paar gedämpfte
Kommandos, mit kräftigem Stoß glitt der schwerfällige
Keil zum andern Ufer. Spaten und Kreuzhacke bauten die
Anfahrt. Aus vierzig keuchenden Lungen drang der Atem
der Anstrengung. Dann schob sich das erste Ungetüm vor die
Brückenstelle. Emsige Hände legten Balken darüber. Gedämpft
stieß Holz aus hohl klingendes Metall. Und dann die Bretter.
Alles wie am Schnürchen, alles mit planmäßiger Eile, ohne
jede Überhastung. Als wachse die Brücke in stetem Tempo
hinüber zum andern Ufer, fuhr Ponton aus Ponton in die
Brückenlinie, schoben die Balken, fünf immer Ln einer Reihe,
sich darüber, klapperten die Bretter. Alles Glieder in einer
fließenden Bewegung, alles durchdacht, alles erprobt, alles
bewährt, alles wie daheim auf dem Wasser-übungsplatz . . .
plötzlich drei-, vier-, fünf-, sechsmal dies scheußliche Gekläff
in der Lust, sechs grelle Blitze, die die Augen für eine halbe
Minute blenden, wie aus einem ungeheuren Behälter goß
sich ein Regen von Lleistücken prasselnd aus dreißig Meter
Höhe und durchlöcherte mit lautem Knall den Bretterbelag.
Einen Augenblick Stockung. Es hat Verwundete gegeben.
Stöhnend wurden ein paar über die Brückenbahn zurück-
geschleppt. Kein Ponton war durchlöchert, die Brücke hielt.
Aber eine verfluchte Sache, im Exerzierschritt zu Pontonieren,
wenn jeden Augenblick . . .
Ganz fern rumpelte das, als ob ein Riesenweib eine Anzahl
gewaltiger blecherner Milchkannen mit einem Fußtritt um-
werfe. Drei Sekunden lang ein mit ungeheurer Geschwindig-
keit heransahrendes, vom feinen Zirpen zum heiseren Gebrüll
anschwellendes Zischen. Urplötzlich ein Aufhören und gleich-
zeitig vierfaches Blitzlicht . . . Blenden . . . Verglimmen . . .
Blaffen . . . Niederprasseln . . . Klatschen . . . Ruhe . . .
wer hat da gelärmt; Vorbei. Alles auf der Brücke macht
eine tiefe, tiefe Verbeugung, und vom Balkentrupp, der
gerade das erste Lrückenglied betreten . . . Hand vor Hirn,
links zwei drei vier . . . läßt einer den Balken fallen, daß
der Nebenmann mit einem Fluch zur Seite springt. Einen
Balken von acht Meter Länge und S X )r cm Stirnmaß
verträgt schmerzlos keine Zehe. . .
140
Ob nun der Gegner die Brückenstelle erkannt hat; Aber
wie denn, mitten in der Dunkelheit; Das ist doch unmöglich!
Ob er vielleicht Geräusche gehört; Ob er am Tage die
Pionierpatrouillen beobachtet; Ob er in seinem eigenen Hirn
kombiniert hat, daß die Deutschen es wohl am ehesten hier
an dieser Stelle versuchen würden;
Müßige Fragen. Links zwei drei vier ... der Balken-
trupp ... der Rödeltrupp ... der Brettertrupp ... die
Belageindecker . . . hoch aufgerichtet steht der Offizier auf
der Lrückenspitze. Bald vermag er mit einem großen Sprung
das andere Ufer zu erreichen. Aber er wird es nicht eher
betreten, bis seine Brücke hinübergewachsen.
Irrlichter schillern Ln der Nacht, als sei dort vorn ein
brodelnder Sumpf. Mit langgezogenem Hellem Singen fahren
verirrte Rugeln hoch über den Ranal. In der Dunkelheit
der Felder springen mit sonorem Gebrüll und schrillem Rrach
die Granaten umher. Ruhig und zielbewußt hämmern die
Abschüsse der Feldartillerie längs des Ranalufers. Als lägen
dort im Dunkel der Hecken bissige Hunde, die ab und zu in
die Nacht hinaufbellten aus traumwirrem Schlaf, indes ihr
Giftatem eine feurige Lohe hervorstieß . . .
Ein Offizier von der Feldartillerie fragt an, ob seine
Batterie über die Brücke fahren kann. Bei der Anfahrt der
Geschütze setzt ein so heftiger überfall mit Schrapnellfeuer ein,
daß die Batterie schleunigst von der Straße hinweg wieder
ins Feld muß. Ein paar Gäule bleiben Ln ihrem Blut liegen
und werden ausgeschirrt. Einer zweiten Batterie geht es
ähnlich. Unbedingt ahnt der Gegner den Brückenschlag an
dieser Stelle. Oder ob er nur auf die Straße zwischen Reyem
und Tervaete hält; Auch möglich — aber Feuer ist Feuer,
jede Granate krepiert zu ihrer Zeit, und jedes Schrapnell hat
einen Zeitzünder. Sie fragen nicht viel, was darunter ist . . .
Gegen Morgen — den Pionieren verging die schillernde
Nacht wie im Fluge — immer noch bei völliger Dunkelheit,
schreiten lange Infanteriekolonnen zu einem über die Brücke.
Aus dem Dunkel tauchen sie, ziehen wortlos vorüber,
klappern über den Holzbelag, tief vornüber gebeugt, treten
ans andere Ufer, das Dunkel verschlingt sie. Ob es Menschen
sind, ob Schatten ... die Brücke fragt nicht danach. Raum
daß die Überfälle mit Schrapnells eine Unterbrechung
Hervorrufen.
141
Die Artillerie überzusetzen gelingt nicht, das starke Feuer
macht die Pferde verrückt, die Gefahr, daß ein Unglück die
ganze Brücke ruiniert, ist zu groß. Vielleicht gegen Morgen.
Endlich muß ja die blöde Schießerei einmal aufhören . . .
Die Pioniere stehen unterstrom im Ponton, den Staken
in der Hand. Und während die Augen den geisterhaften
Marsch über die Brücke zu begreifen suchen, während die
Ohren halb unbewußt auf die seltsam verworrenen hundert-
fältigen Geräusche dieser Nacht hinlauschen, rechnen die
Gedanken mit sorgfältiger Überlegung aus, wer morgen am
Tage die Brückenwache haben wird.
Das wird, bei Gott, kein Rinderspiel werden . . .
Am frühen Morgen des 24. Oktober hatte die 6. Reserve-
Division ihre gesamte Angriffsinfanterie über den Ranal
gesetzt, ohne daß nach vorn Gelände gewonnen war. Auf
dem engen Raum im Innern der Rserschleife drängten sich
die Bataillone. Nun hieß es angreifen oder sterben.
Endlich, endlich war auch dem rechten Nachbar, der
5. Reserve-Division, im ersten Morgengrauen der Übergang
an drei Stellen geglückt. Der überraschte Gegner erkannte
die Veränderung zu spät und büßte es, daß er sich am Vor-
tage unter dem heftigem Gewehrfeuer der Angreifer vom
Ranaldamm Ln die Gräben nördlich Schoorbakke und süd-
östlich St. Georges zurückgezogen hatte. Wider Erwarten
hatten die übergehenden Teile der 5. Reserve-Division im
Anfang keine allzu großen Verluste. Ob die Rraft des
Gegners schon nachließ)
In den ersten Morgenstunden war die Schlacht auf der
ganzen Front wieder im vollen Gange. Im Zentrum, bei
der 0. Reserve-Division, schritt der Angriff langsam von
fünfzig zu fünfzig Meter vorwärts. Die Mitte der Division
hatte als Richtungspunkt die Häuser von pervyse mit ihren
roten Dächern. Auf der von der 6. Reserve-Division nachts
gebauten Pontonbrücke gingen am Vormittag starke Teile
der §. Ersatz-Brigade über und verbreiterten nach rechts die
ELnbruchsstelle der 5. Reserve-Division. Nach kurzem er-
bittertem Rampfe fiel mittags Schoorbakke in deutsche Hand.
14r
Das beseitigte eine unangenehme feindliche Flankenstellung
und verschaffte der 5. Reserve-Division spürbare Entlastung.
Am Mittag kam auch vom linken Nachbar, der 44. Reserve-
Division, die erfreuliche Nachricht, daß sie seit acht Uhr
morgens einige Bataillone über den Ranal gebracht habe,
die im erbitterten Ramps um die Häuser von Stuyvekens-
kerke stehen. Nun war die Rser schon aus einer Breite von
etwa acht Rilometer von Mannekensvere bis westlich
Rasteelhoek überwunden, und alles deutete darauf hin, daß
die Rraft des Gegners zu erlahmen begann.
Im Abschnitt der 5. Reserve-Division wurden morgens
einige Leute gefangengenommen, nach deren Aussagen die
4L. französische Infanterie-Division seit dem 20. Oktober
aus der Gegend von Reims im Anrollen war und mit ihren
Spitzen am heutigen Morgen bereits vor Nieuport stand.
Soviel die Gefangenen wußten, sollte die Franzosendivision
noch im Laufe des Vormittags im Rüstenabschnitt angreifen.
Mit einem Schlage wurde durch diese Nachricht die ge-
fährliche Lage des III. Reserve-Rorps offenbar. An der
Rüste standen nur noch die 13. und 33. Ersatzbrigade der
4. Ersatz-Division, während die Schwefterbrigade, die §., im
Abschnitt der 5. Reserve-Division bei Schoorbakke focht. Die
Schützenlinien an der Rüste waren zudem durch das heftige
Feuer der englischen Seestreitkräfte so behindert, daß sie sich
kaum bewegen konnten. Die Entblößung des Nordflügels
hatte Beseler nur unter der Voraussetzung vorgenommen,
daß die Entscheidung vor der Front der 5. und 6. Reserve-
Division binnen ganz kurzer Frist zum Reifen kam. Sie
war am 23. nicht erfolgt und schien sich heute, am 24., lang-
sam zu entwickeln. Aber niemand konnte sagen, ob sie schon
unmittelbar bevorstand. Vielleicht hatte der Gegner durch
Gefangene oder durch Einheimische die Umgruppierung der
4. Ersatz-Division erfahren. Vielleicht ermattete sein wider-
stand im Zentrum nur Ln der sicheren Voraussicht, längs der
Rüste durch einen mit überlegenen Rräften ausgeführten
Anyriffsstoß die Front des III. Reservekorps umzubiegen.
Das III. Reservekorps hatte nur die beiden Möglichkeiten,
entweder aus dem Zentrum Rräfte fortzunehmen und nach
Norden zu werfen, oder den Ersatzbrigaden zu vertrauen und
die Schnelligkeit der Entscheidung in der Mitte zu fördern.
143
Besel er entschied sich für die letztere, zumal, wenn der
französische Angriff tatsächlich noch am Vormittag erfolgte,
die Auswirkung der eingeleiteten Gegenmaßnahmen zuviel
Zeit in Anspruch genommen hätte. Die gesamte verfügbare
schwere Artillerie erhielt Befehl, ein kräftiges Zerstörungs-
feuer auf den Raum östlich Nieuport zu legen.
Es waren böse Stunden für das HI. Reservekorps. Jeden
Augenblick wurde der Angriff aus Nieuport erwartet, indes
in der Mitte und aus dem linken Flügel die deutschen Linien
unter schweren Verlusten schrittweise sich in der Richtung
nach dem Bahndamm vorarbeiteten. Die wage der Schlacht
stand auf der Rippe. Stunden mußten entscheiden.
Aber ob die Franzosen durch das Feuer der schweren
deutschen Artillerie niedergehalten wurden, oder ob sich die
feindliche Führung gezwungen sah, Reserven zum Ausgleich
der bedrohlichen Lage zwischen St. Georges und Stuyvekens-
kerke zurückzubehalten: der Angriff gegen den Nordslügel er-
folgte nicht, und die Besorgnisse des III. Reservekorps wichen
allmählich einer zuversichtlicheren Auffassung.
Den ganzen Dag über lag die Brücke an der Straße von
Reyem nach Dervaete unter schwerem Artillerieseuer. Noch
immer konnte die Artillerie nicht hinübergebracht werden,
obwohl die Infanterie ein über das andere Mal ihre Unter-
stützung verlangte. Immer wieder wurden protzen und
Geschütze bespannt. Rurz vor der Anfahrt zur Brücke
krachten die Granaten in die Gespanne und warfen Gäule
und Fahrer mit zerrissenen Leibern durcheinander. Es ging
nicht.
Unermüdlich klapperten die Infanteriekolonnen über die
Bretter. Die Pioniere standen steil aufgerichtet in den Pon-
tons, die Staken Ln der Hand. Alle zwei Stunden wurde
abgelöst. Mit exakter programmgebundenheit folgte Feuer-
überfall aus Feuerüberfall. Bretter wurden ausgewechselt,
Verwundete zurückgetragen. Neue Rolonnen gingen über.
Mittags, just bei einer Ubergangspause, brach es in heiß
ausheulendem Schwung von oben herab mitten aus die
Brücke. Eine jähe Rauchwolke wirbelte empor, splitternder
144
Rrach zerriß die Luft. Balken und Bretter fuhren in wirren
Fetzen davon. Das Menschengeschrei vernahm keiner.
Als der (Qualm sich verzog, wurde das Unheil offenbar.
Zwei gähnende Löcher starrten aus der Brückenbahn. Zwei
Pontons versanken schwerfällig wie ertrinkende Ungeheuer
im Wasser und rissen die Brückenbahn mit Ln die Tiefe. Ein
paar Rörper trieben langsam stromab und färbten mit ihrem
Blut die Kser . . .
* *
Nach Wiederherstellung der Brücke gelang in später
Abendstunde das Übersetzen von drei Feldartilleriebatterien.
Auch die 5. Reserve-Division baute eine Pontonbrücke. Das
Schrapnellfeuer verhinderte dort aber das Hinüberziehen der
Geschütze.
Das Armeeoberkommando, das sich unterdessen überzeugt
hatte, daß vor der Front des XXII., XXIII., XXVI. und XXVII.
Reservekorps eine entscheidende Wendung nicht zu erwarten
war, setzte seine ganze Hoffnung auf die Fortführung des
Angriffs des III. Reservekorps. Beseler erhielt den Befehl,
im Morgengrauen des 25. Oktober unter allen Umständen
aufs neue anzugreifen und im Lause des Tages auf breiter
Front die große Straße von Nieuport über Ramscappelle
und pervyse nach Dixmude zu erreichen. Die Straße verlief
ungefähr im Zuge der Bahnlinie. So rückte der Front-
abschnitt vor der 5. und der 6. Reserve-Division, dessen feste
Eckpfeiler im Westen Ramscappelle und im Süden pervyse
bildeten, in den Brennpunkt der Schlacht. Ein verzweifeltes
Anrennen der Regimenter gegen Bahndamm und Straße
und gegen die Häuserreihen der beiden jenseits hervor-
schauenden flandrischen Dörfer begann, das Ln der Geschichte
des ganzen Rrieges seinesgleichen nicht findet.
Entsetzliche Schwierigkeiten bot das durch anhaltenden
Regen aufgeweichte Gelände. Die Geschütze blieben im
Schlamm stecken und vermochten sich weder vorwärts noch
rückwärts zu bewegen. Ein Eingraben war unmöglich. So-
fort sammelte sich das Grundwaffer Ln den Löchern und
durchnäßte die Reservisten vollkommen. Eingekeilt zwischen
Bahndamm und Rana! lagen die Bataillone einem ver-
heerendem Feuer ausgesetzt, das keine Minute lang aufhörte.
IS DeuMLlbxrg, Mandern
145
Die Verluste nahmen Ln erschreckendem Umfang zu. Wasser
und Kälte taten das übrige. Das waren schon keine Menschen
mehr, die nun seit sechs Tagen ohne Unterbrechung auf
diesem engen Raum von Angriff zu Angriff schritten. Vom
Kirchturm von pervyse aus hatte der Gegner eine vor-
zügliche Beobachtung über den ganzen Abschnitt und nutzte
diese Gelegenheit gründlich aus.
Und dennoch schritt der Angriff über das blutgetränkte
Feld weiter! Und dennoch reifte die Schlacht langsam zur
Entscheidung!
Der Gegner mußte die am 23. bei Nieuport zum Angriff
auf den deutschen Küstenflügel bereitgestellte 42. französische
Infanterie-Division schleunigst gegenüber der 5. und 6. Re-
serve-Division einsetzen. Dadurch wurde wenigstens die
Gefahr der nördlichen Umflügelung beseitigt. Ein fran-
zösisches Infanterieregiment und ein Iägerbataillon rückten
nach pervyse mit dem Auftrag, die stark geschwächte 6. Re-
serve-Division über den Kanal zurückzuwerfen und dann die
5. von der Flanke zu fassen. Eine falsche Rechnung!
Im Laufe des Vormittags zogen 5. und 0. Reserve-
Division unter unsäglichen Schwierigkeiten ihre ganze Feld-
artillerie über den wasserlauf und setzten sie zu direkter
Schußwirkung ein. Nun endlich fiel auch der Kirchturm von
pervyse. Unter dem Anhieb der Granatensalven zerlöcherte
er wie ein Sieb und stürzte ein. Eine breite Rauchwolke
blähte sich an seiner Stelle und verzog sich schwerfällig nach
Süden.
Sehr zu schaffen machte den Bataillonen das Feuer der
schweren feindlichen Artillerie, die im Südwesten hinter der
Bahn links von Dixmude nach Furnes aufgestellt war.
Haushoch bäumten sich die Einschläge und schleuderten zer-
splitternde Eisenmaffen Hunderte von Metern weit über das
Feld. Der fürchterliche Krach betäubte die Ohren, wenige
Minuten später begannen schon die frisch aufgeworfenen
Trichter sich langsam mit Grundwasser zu füllen.
Am Mittag schritt die 6. Reserve-Division (zum wievielten
Male!) zum Angriff. Aus einer verzweifelten Stimmung
heraus gingen die Mannschaften mit einer Erbitterung und
Rücksichtslosigkeit vor, die durch nichts zu erschüttern war.
14-
Schlimmeres als der Aufenthalt auf diesem Hexentanzplatz
konnte ja nicht mehr kommen.
wenige Stunden später drang auch die 5. Reserve-Division
nach Artillerievorbereitung vor. Der heftige Gefechtslärm
zur Linken verriet, daß auch die 44. Reserve-Division, die
sich mit ihren übergegangenen Infanteriekräften eng an den
Ranal klammerte, sich den nördlichen Divisionen anschloß.
Da entbrannte die Schlacht zu infernalischem Getöse.
Blutend aus hundert Wunden, eingedeckt von einem irr-
sinnigen Geschoßhagel, taumelnd zwischen Tod und Leben,
schritten die zusammenschmelzenden Bataillone Schritt für
Schritt gegen Westen vor. Verzweifelt wehrte sich der
Gegner und scheute keinen Bajonettkamps. Aber die Wut
der Deutschen und der unzähmbare Drang, aus dem Dreck
herauszukommen, behielten die Oberhand.
Um 6 Uhr abends war von der 6. Reserve-Division alles,
was noch ein Gewehr halten konnte, im guten Fortschreiten
auf pervyse. Auch die 5. gewann Boden gegen Ramseappelle.
Mit ingrimmiger Freude stellten die Reservisten fest, daß
die schwere feindliche Artillerie hinter dem Bahndamm von
Dixmude nach Furnes ihr Feuer einzustellen begann. Sie
rüstete zum Rückzug!
Da trat auf dem linken Flügel der 6. Reserve-Division
eine schwere Rrisis ein, die einen Augenblick lang das ganze
Ergebnis zu gefährden drohte. Die Verbindung mit der
44. Reserve-Division war in der Hitze des Gefechts verloren-
gegangen. Befehlsüberbringer konnten sich kaum durch den
Dreck und das Feuer hindurcharbeiten. Das Wetter war
unsichtig. Zudem dunkelte es schon stark. Ein jäher Schreck
erfaßte die gegen pervyse gewendete 0. Reserve-Division, als
aus ihrer linken Flanke, ja, beinahe aus dem Rücken, ein
prasselndes Infanteriefeuer in ihre gelichteten Reihen schlug.
Die 44. Reserve-Division war am Mittag bis zur Rlooster-
hoek Fe. vorgedrungen und hatte sich dort festgesetzt. Aus
nicht erkennbarem Grunde, offenbar aber unter dem Eindruck
des heftigen Artillerieseuers, gingen die Bataillone zum
Ranal in die alten Stellungen zurück. Der Feind erkannte
sofort die vorzügliche Gelegenheit, besetzte die Rloosterhoek
Fe. aufs neue und richtete mit größter Schnelligkeit eine
io*
147
Front gegen die 6. Reserve-Division ein. Die Verwirrung
bei dieser dauerte nicht sehr lange. Zähneknirschend mußte
sie die Aussicht auf Eindringen in pervyse fahren und ihre
linke Hälfte die Front scharf nach Süden herumwerfen
lassen. Die Bewegung vollzog sich unter stärkstem Feuer in
musterhafter Ordnung. Eine Stunde später war die Krise
für diesen Tag überwunden. Aber das Vordringen gegen
pervyse stand still, der Gegner fand Zeit, aufs neue zur Ver-
teidigung des Ortes zu rüsten und weitere Truppenverbände
heranzuziehen. Die Gewißheit einer neuen Nacht in diesem
Hexenkessel tat sich auf. Die furchtbare Überanstrengung der
Bataillone zeigte die ersten Folgen.
Auch das Generalkommando war sehr besorgt durch diese
Wendung. Beseler war sich klar darüber, daß im Ringen
um die Stellung zwischen Nieuport und Dixmude die Ent-
scheidung bei pervyse fallen mußte. Die 5. Reserve-Division
war durch die drohende Flankierung des stark befestigten und
besetzten Nieuport gebunden. Die 44. Reserve-Division
führte den Stoß nicht mit der Heftigkeit, die zum entschei-
denden Erfolg geführt hätte. So bildete pervyse den
Schlüsselpunkt. Mit der Einstellung des Angriffs auf
pervyse versank auch die Hoffnung auf die Gesamtentschei-
dung an diesem Tage. Der Zustand der Truppen gab Anlaß
zu den ernstesten Befürchtungen.
Das Armeeoberkommando fragte am Spätabend an, was
im Abschnitt los sei. Der Angriff werde bei Tagesgrauen
fortgesetzt, antwortete das Generalkommando . . .
Und so geschah es.
Der r6. Oktober war der siebente Tag der Schlacht. Eine
ganze Woche fast ununterbrochener Kämpfe, und die Ba-
taillone hatten noch nicht einmal ausgewechselt werden
können! Aber sämtliche Truppen rangen immer noch im
Gefühle der unmittelbaren Entscheidung des ganzen Krieges.
Das verlieh ihnen eine unerhörte Ausdauer.
Das Generalkommando befahl für den r6. Oktober: die
6. Reserve-Division bricht so früh wie möglich überraschend
in pervyse ein, breitet sich nach rechts und links am Bahn-
damm aus und zwingt dadurch den vor der 44. Reserve-
Division stehenden Gegner zum Rückzug. Die 5. Reserve-
14S
Division, verstärkt durch die 9. Ersatz-Brigade, führt den
Angriff im engsten Anschluß an die 6., den Schwerpunkt auf
ihren linken, an die 6. lehnenden Flügel legend und nach
Norden gegen Nieuport sich staffelnd. Die 4. Ersatz-Division
mit den ihr noch verbliebenen Ersatz-Brigaden fesselt den
Gegner durch örtliche Angriffe gegen die Front vor Nieu-
port und bis zur Rüste hin. Die ganze schwere Artillerie
konzentriert ihr Feuer auf die Einbruchsstelle der 6. Re-
serve-Division. 10 Uhr Angriffsbeginn.
Überall ging es vorwärts. Die 5. Reserve-Division geriet
Ln ein heftiges Flankenfeuer aus der Richtung von Nieu-
port. Da zu befürchten war, daß der Feind von dort her
einen Gegenangriff unternehmen würde, da aber das
Generalkommando die Division nicht zum Schaden des gegen
Ramscappelle gerichteten Angriffs schwächen wollte, erhielt
die 4. Ersatz-Division Befehl, ihre abwartende Stellung auf-
zugeben und ihrerseits frontal gegen Nieuport anzugreifen.
Um 1 Uhr begann dieser Angriff. In diesem Augenblick
dampfte von der hohen See ein starkes englisches Schiffs-
geschwader heran und richtete ein kräftiges Artilleriefeuer auf
die Ln den Dünen vorgehenden Schützen. Sofort nahmen
die bei Middelkerke eingebauten deutschen Ranonenbatterien
die Abwehr auf. Einige Treffer ließen dicke Rauchwolken
auf den Schiffen aufquirlen, ein Zerstörer trieb kampf-
unfähig im Wasser. Das wurde den Engländern zu bunt.
Die ganze Flotte machte kehrt und nahm den unschädlich ge-
machten Zerstörer in Schlepptau mit. Inzwischen hatte aber
die 4. Ersatz-Division den Angriff auf Befehl des General-
kommandos eingestellt und beschränkte sich darauf, den
Gegner durch lebhaftes Feuer zu fesseln.
Um 3 Uhr erreichte das Reserveregiment 48 von der
5. Reserve-Division mit seinen Spitzen den Bahndamm von
Ramscappelle. Im Bajonettangriff wurden die Belgier zu-
rückgetrieben. Auf ihrem Rückzug in den Schutz der ersten
Häuser streckte das Feuer der 48er manch einen in das von
wafferläufen durchzogene Gras. Das II. Bataillon stieß
ganz am rechten Flügel der Division bis zum Ranal
du Nord, einem wasserlauf kurz vor dem Bahndamm. Un-
mittelbar gegenüber standen die Belgier. Noch zögerten sie,
ob sie den Rückzug über das freie Feld bis zum Lahn-
149
dämm antreten oder ob sie mit ihrem Feuer die Deutschen
zusammenschießen sollten. Aber es war schon zu spät. Die
7. Rompagnie der 48er war schneller. Auf dem Bauche lie-
gend, jagte sie ihre Äugeln unter die unschlüssigen Belgier,
die sich wie eine Hammelherde zusammenknallen ließen. Das
dauerte nur ein paar Minuten. Dann hoben die über-
lebenden die Hände hoch. Dre Deutschen winkten ihnen zu:
„Herüberkommen." Bis an die Brust wateten etwa 100
Belgier durch den Ranal und ließen sich gefangennehmen.
Dann gingen die Deutschen ihrerseits auf Brettern, Balken
und allen möglichen Gegenständen oder auch quer durch den
wafferlauf hinüber. Auch hier drangen einzelne Streifen
bis zum Bahndamm vor und setzten sich dort fest. Das II.
und III. Bataillon überschritten den Ranal, das I. blieb als
Reserve kurz dahinter liegen. Die Feldartillerie rückte so
nahe wie möglich auf. Ein brodelndes Gewehrfeuer von
hüben und drüben, untermischt von krachenden Granat-
einschlägen, folgte dem kühnen Angriff. Der Gegner saß fest
in den Häusern von Ramscappelle eingenistet. Ein weiteres
Vorgehen mit den fast aufgeriebenen Bataillonen war aus-
geschlossen. Die Bataillone konnten Gott danken, daß der
Gegner nicht seinerseits angriff.
westlich St. Georges, rechts vor sich das feuerspeiende
Nieuport, links vor sich den prasselnden Bahndamm von
Ramscappelle, lag das Reserveregiment 9 gestaffelt hinter 48.
Auf dem linken Flügel der 6. Reserve-Division blieb die
Lage immer noch kritisch. Die 44. Reserve-Division kam
auch heute noch nicht vorwärts. Ein furchtbares Schauspiel
bot sich den am linken Flügel kämpfenden Reserveregimentern
35 und 20 dar. Teile der 44. Reserve-Division prallten um
die Mittagsstunde in einem todesmutigen Angriffsstoß in
dichten Rolonnen vor, gerieten aus drei Seiten in ein ver-
heerendes Feuer aus Geschützen, Gewehren und Maschinen-
gewehren und wurden regelrecht zusammengeschossen. Reste
dieser Bataillone retteten sich in den Abschnitt der 6. Re-
serve-Division. Die Lücke zwischen dieser und der 44. Re-
serve-Division wurde dadurch nur größer.
Aber das Generalkommando erneuerte am Nachmittag den
Befehl zum Angriff auf pervyse.
150
Die Lage war jetzt so, daß ein Angriff der 5. Reserve.
Division über den Bahndamm hinweg wegen der Flanken-
stellung von Nieuport ganz ausgeschlossen schien. Besel er
wollte sich darum darauf beschränken, die Stadt von Norden
und Süden so einzuklammern, daß der Feind sie räumen
mußte. Im Süden war die Umklammerung durch den
rechten Flügel der 5. Reserve-Division bereits ausgeführt.
Im Norden erhielt die 4. Ersatz-Division Befehl, den Rück-
zug der englischen Seestreitkräfte ausnutzend, sofort längst
der Rüste gegen Nieuport-Bad anzugreifen. Die Truppen
gingen sogleich an ihre Aufgabe, schoben sich durch ein Gewirr
von Gräben, Wasserläufen und Hecken, erreichten den Zu-
sammenfluß von Rserkanal und Rser und sprengten den dort
stehenden Leuchtturm. Unmittelbar vor ihrer Front lagen
die großen Schleusen, die Meer und Ranal voneinander
trennen. Sie zu erreichen, war nicht möglich. Jeder Ver-
such wurde mit einem krachenden Schnellfeuer beantwortet.
Immer noch trotzte Nieuport der Umklammerung. Bei
toten belgischen Offizieren vorgefundene Befehle verrieten,
daß der Gegner jede Absicht eines Angriffs längs der Rüste
aufgegeben und alle Rräfte an die Verteidigung gesetzt hatte.
Es ging auf Tod und Leben.
pervyse! Niemals in dieser zwölftägigen Schlacht hing
die Entscheidung mehr von diesem waffenstarrenden Dörflein
mit seinen roten Ziegeldächern ab als an diesem Tage. Un-
bedingt sollte die 6. Reserve-Division ohne Rücksicht aus die
Lage ihres linken Flügels pervyse noch am Spätnachmittag
nehmen. Der linke Flügel der 5. Reserve-Division sollte sie
unterstützen.
Und es wurde angegriffen. Die Bataillone vergaßen die
achttägige Schlacht und rangen wie am ersten Tage. Meter
auf Meter wurde genommen und mit Blut bezahlt. Der
Bahndamm wurde nicht erreicht. Unter raffelndem Gewehr-
feuer und dem zuckenden Einschlag Hunderter von Granaten
nahte heimlich die Nacht . . . abermals eine Nacht . . .
Oktoberwind hauchte über die nassen Felder, angefüllt mit
den Leichen der Erschlagenen. Die Haubitzen brüllten mit
lang emporschlagenden Feuerschweifen durch die Dunkelheit.
Regenschauer wehten über die fröstelnden Schützenlinien. Das
)51
ohnmächtige Gespenst der Ermattung hielt heimlich Ein-
kehr . . .
Um )o Uhr abends meldete die 4. Ersatz-Division eine
feindliche Sprengung vor ihrer Front. Offenbar, meinte sie,
zerstörte der Gegner die Übergänge über den Rserkanal un-
mittelbar bei den großen Schleusen an der Rüste. Die Di-
vision schloß daraus, daß der Gegner den Angriffsgedanken
endgültig begraben habe und sich auf weiteren Rückzug vor-
bereite.
Rein Mensch machte sich sonderliche Gedanken über diese
Sprengung.
* *
wie die 4. Ersatz-Division erwartet hatte, räumte der
Gegner am 27. Oktober das Zentrum der vor ihr liegenden
Front und ging bis nach Lombartzyde hinein zurück. Dort
und rechts und links des Ortes setzte er sich in stark ver-
schanzten Stellungen fest.
Aus einem besonderen Grunde vermochte die Division
nicht, dem weichenden Gegner nachzudrängen. Ein furcht-
bares Unheil kam über die tapferen Bataillone.
Am Vormittag erschien von hoher See her ein feindliches
Geschwader von Rriegsschiffen, um Rache zu nehmen für
den Rückzug am r6. Oktober. Ein großer Teil der Schiffe
hatte Turmgeschütze mit einer Reichweite bis zu rz Rilo-
metern. Die deutschen )5-Zentimeter-Ranonen vor Middel-
kerke waren infolge der übermäßigen Beanspruchung am
Vortage gefechtsunfähig. )o- und -z-Zentimeter-Ranonen
stellten alles dar, was an Gegenwehr gegen die englische Ar-
mada aufgeboten werden konnte. Ihre Granaten erreichten
die schwimmenden Gegner überhaupt nicht.
Nach einem stundenlangen Feuerorkan aus der Seeflanke
her, den die Bataillone völlig wehrlos und abgestumpft durch
die furchtbaren Anstrengungen der neuntägigen Schlacht über
sich ergehen ließen, waren am Nachmittag den Reservisten
die Seelen aus den Leibern gehämmert. Die Bataillone
brachen auseinander. Aber sie hatten die Rraft nicht mehr
152
zu einer Flucht. Sie schlichen zurück. Das Armeeober-
kommando stellte der 4. Ersatz-Division sofort in und um
Ostende liegende Marine-Infanterie und das I. Seebataillon
zur Verfügung, die eigentlich zur Abwehr landender eng-
lischer Truppen bestimmt waren. Aber die Not schrie zum
Himmel. Acht Bataillone der 4. Ersatz-Division wurden
zurückgezogen und in der Gegend von Middelkerke gesam-
melt. Ein Bataillon harrte aus. Es wurde verstärkt durch
das I. Seebataillon und ein Bataillon Marine-Infanterie.
wenn der Gegner noch einen Funken Angriffskraft be-
sessen hätte, so hätte er jetzt angegriffen. Aber er lag selbst
blutend am Boden . . .
Unterdessen dauerte das Ringen der 5. und 6. Reserve-
Division den ganzen Tag über an. Raum ein Schritt-
breit Boden wurde gewonnen. Es ging nicht mehr. Ent-
setzlich war der Zustand der Truppen. Im allgemeinen war
man auf roo—500 Meter an den Bahndamm heran, der
von der 42. französischen Division besetzt worden war. . .
Aus Einzustellen der Front machten sich beängstigende
Rückschläge bemerkbar. Noch verhinderte die deutsche Ar-
tillerie, daß sich solche Rückschläge zu schlimmen Folgen aus-
wuchsen . . .
So zog abermals eine Nacht über das niedergehämmerte
Land. Stumpfsinnig lagen die Schützen in den nassen
Löchern. Das Aufspringen der Einschläge, das pfeifende
Hin- und Herheulen, das zitternde Verflackern der Leucht-
kugeln und das pausenlose Gerassel der Gewehrschüsse rührte
sie nicht mehr. Raum war noch ein Unterschied zwischen
Lebenden und Toten, wer dachte noch daran, wann es an-
gefangen und wann es aufhören würde; Es mußte wohl so
sein, wie es war ...
Das war nun die neunte Nacht, wieviele noch;
Am Morgen des rS. Oktober traf beim Generalkommando
des III. Reservekorps der dringende Befehl des Armeeober-
kommandos ein, daß die im Rüstenabschnitt zur Verstärkung
eingesetzten Teile der Marine-Infanterie sofort aus der
Front zu lösen und nach Ostende in Marsch zu setzen seien.
153
Das Armeeoberkommando hatte durch Agentennachrichten er-
fahren, daß die Engländer die Absicht hätten, am zo. Ok-
tober früh bei Ostende etwa ir ooo bis 15000 Mann zu
landen, die die deutsche Front von rückwärts einstoßen soll-
ten. Die nach Middelkerke zurückgezogenen Teile der 4. Er-
satz-Divsion mußten den alten Abschnitt wieder übernehmen,
die Marine-Infanterie rückte Ln Eilmärschen nach Oftende.
Um 9 Uhr morgens erschienen abermals feindliche Rriegs-
schiffe und lenkten ihr Feuer auf die ganze Front der 4. Er-
satz-Division und den rechten Flügel der 5. Reserve-Division
südöstlich Nieuport. Das dauerte bis etwa 10.30 Uhr. Ein
Volltreffer der Abwehrbatterien von Middelkerke machte ein
Schiff kampfunfähig. Es wurde abgeschleppt. Die übrigen
zogen es vor, sich außer Schußweite zu begeben und streuten
von dort aus den Rüstenstreifen ab.
Um r Uhr mittags beobachteten die vorn liegenden Trup-
pen, daß starke feindliche Infanteriekolonnen aus Nieuport
heraus nach pervyse marschierten. Patrouillen und Flieger
meldeten übereinstimmend, der Feind sei im Begriff, im
Raume von Nieuport seine Linien westlich des Ranals zu-
rückzunehmen, offenbar, um genügend Reserven zur Ver-
teidigung zwischen Ramscappelle und pervyse frei zu haben.
Mit den bloßen Augen war auch zu erkennen, daß die am
Südrand von Nieuport stehenden feindlichen Batterien im
Laufe des Mittags zurückgezogen wurden und hinter der
Bahnlinie verschwanden. Noch weiter südlich an der Straße
nach Furnes waren starke feindliche Rräfte mit Einschanzen
beschäftigt und wurden unter ein heftiges Artilleriefeuer ge-
nommen.
Immerhin blieb Nieuport selbst noch besetzt. Aber das
stets nach vorwärts drängende Generalkommando glaubte,
durch scharfes Nachdrücken die rückläufige Bewegung des
Gegners zur Aufgabe der Stadt gestalten zu können und gab
der 4. Ersatz-Division und dem rechten Flügel der 5. Re-
serve-Division entsprechende Befehle.
Just als die 4. Ersatz-Division den Angriff vorbereitete, er-
schienen abermals die feindlichen Schiffe auf See und er
öffneten ein fürchterliches Dauerfeuer, das jede Bewegung
niederhielt. Nicht viel fehlte, daß sich die schlimmen Er-
eignisse des Vortages wiederholt hätten. Aber die Front
154
hielt stand. Das Generalkommando kam zu der Überzeugung,
daß die 4. Ersatz-Division im Süden viel besser zu verwen-
den sei, und daß im Rüstenabschnitt Postierungen genügten,
da der Gegner seinerseits nicht mehr an einen Angriff dachte.
Es wurde also beschlossen, alle Rräfte mit Ausnahme der
33. Ersatz-Brigade vom Meere fortzuziehen. Aber es war
unmöglich, bei Helligkeit die Bewegung durchzuführen. Man
mußte bis zum Anbruch der Nacht warten. In der Nacht
sollte dann die 13. Ersatz-Brigade über St. Pierre Lappelle in
die Mitte hinter die 5. und 6. Reserve-Division rücken und
sich dort mit der schon vorher dort eingeschobenen 9. Ersatz-
Brigade unter dem Rommando des Stabes der 4. Ersatz-Di-
vision vereinigen . . .
Den ganzen Lag über rangen die Regimenter auf dem lin-
ken Flügel der 5. Reserve-Division, bei der 6. und bei der
44. Reserve-Division schrittweise gegen einen stets sich ver-
stärkenden Gegner. Nach ausgiebiger Artillerievorbereitung
erfolgte Angriff auf Angriff. Aber die Bataillone waren
schon derart ausgesogen, daß das Erreichte in keinem Ver-
hältnis zu den Opfern stand. Hier und da kamen die be-
fohlenen Angriffe schon gar nicht mehr zur Ausführung. Von
einem einheitlichen Vorgehen war keine Rede mehr. Alles
verzettelte sich. Das Generalkommando sah am Nachmittag
ein, daß auf diese Art eine Entscheidung nicht herbeizu-
führen war. Den Truppen wurde unbedingtes Festhalten
des erkämpften Bodens befohlen. Im übrigen wollte man
die Verstärkung des Zentrums mit der 4. Ersatz-Division, die
Ergänzung der Artilleriemunition und eine durchgreifende
Ordnung der Verbände abwarten. Einstweilen setzte das Ge-
neralkommando fest, daß der Durchstoß bei pervyse am
nächsten Lage mittags um ein Uhr nach kräftiger Artillerie-
vorbereitung durchzuführen sei. General Beseler machte mit
allem Nachdruck die Regimenter darauf aufmerksam, daß un-
bedingt bis zum 30. Oktober die Entscheidung erkämpft sein
müsse. Darüber, was den General zu dieser kategorischen
Fristfestsetzung nach nunmehr zehntägiger Schlacht veranlaßte,
machte sich niemand sonderlich Gedanken . . .
So ging es in die zehnte Nacht . . .
Der Rampf mit dem Grundwasser war entsetzlich. Die
Regimenter hatten den Eindruck, daß die starken Regenfälle
)55
der letzten Tage bei längerer Andauer überhaupt das Le-
schreiten des Bodens unmöglich machen würden. Die Ge-
schütze steckten vielfach bis an die Achsen im Schlamm. Die
wiesen wurden zum Sumpf. An zahlreichen Stellen schwoll
das Naß sogar so hoch, daß es ganze Felder schon mit einem
Spiegel bedeckte. Rein Mensch konnte mehr erkennen, wo
die hüftetiefen Ranäle waren. Manch einer versank, durch
den Schlamm watend, plötzlich vor den Augen seiner Ra-
meraden und ertrank. Schier unerträglich war die Not der
Verwundeten, in deren Wunden das kalte Schmutzwaffer
floß. Meldegänger und Rrankenträger fanden sich nicht
mehr durch das Gelände. Die großen Wasserlachen gaben
der Gegend ein ganz anderes Gesicht. Nichts Trockenes war
mehr an den Reservisten, die, auf dem freien Feld liegend,
von Trichterrand zu Trichterrand vorwärts krochen, un-
fähig, sich zu erheben . . .
In der Nacht stieg der Nebel in dichten Schleiern aus den
Wasserspiegeln und schlug alles Ln seinen Mantel. Bald
wandelte er sich zum Rieseln. Dabei herrschte eine empfind-
liche Rälte. Nun war überhaupt jede Orientierung aus-
geschlossen.
Und der Angriffsbefehl für morgen mittag war schon da!
Daraus würde wohl nicht viel werden, wer sollte denn
noch angreifen) Dies ausgezehrte, dreckbespritzte, durch zehn
Tage Schlacht niedergehämmerte Häuflein) Ja, wenn man
wenigstens wüßte, daß ein Angriff diese entsetzliche Lage
bessern würde! Aber es blieb ja alles beim alten. Eine
feindliche Stellung hinter der anderen, jeder Sturm ein
Tauschhandel, ein paar Meter Erde für eine Handvoll Men-
schen. Und dahinter dasselbe. Immer so fort. Die da
hinten, die hatten gut befehlen!
wie die Zähne klapperten in der Rälte . . .
* »
*
Vormittags traf beim Generalkommando des HI. Reserve-
korps eine Meldung der 6. Reserve-Division ein, worin mit
Rücksicht auf den Zustand der Truppen, die zunehmende
Durchnäffung des Geländes und die nicht ausreichende ar-
tilleristische Angriffsvorbereitung gebeten wurde, den für
156
mittags gegebenen Angriffsbefehl zurückzuziehen, wenn
schon die tapfere 6. Reserve-Division eine solche Bitte aus-
sprach, dann mußte es vorn furchtbar sein. Beseler zögerte
einen Augenblick. Dann lehnte er das Gesuch der Division
ab ... .
Und es wurde zur befohlenen Stunde angegriffen.
Seit 10 Uhr wirkte die schwere Artillerie auf die feind-
lichen Stellungen. Inzwischen hatte der Gegner Nieuport
geräumt. Aber das Feuer der Schiffe war so stark, daß die
deutschen Verbände nicht zu folgen vermochten. Ein paar
Patrouillen hielten die Berührung mit dem hinter den Ranal
gewichenen Gegner aufrecht.
Endlich stieg gegen Mittag auch der Nebel.
Nach elf Uhr meldete das XXII. Reservekorps, daß seine
44. Reserve-Division langsam vorwärtsdringe. Eine Stunde
später glaubte man, vor der ö. Reserve-Division eine rück-
wärtige Bewegung des Gegners gegen pervyse zu erkennen.
Und dann war die Angriffsstunde gekommen.
was noch lebte, sprang auf und drang vor. Aber das war
schon kein Angreifen mehr, das war ein Taumeln. Einige
Rompagnien gerieten Ln ein Gewirr von Drahthindernissen,
das im Nebel nicht erkannt worden war. Grauenhaft war
ihr Schicksal, wie auf dem Scheibenstand wurden sie ab-
geschossen. So würgte sich der Angriff über das nasse Feld
vom Mittag bis zum Abend. Lei beginnender Dunkelheit
war nichts erreicht.
Und Beseler befahl zum nächsten Male für sieben Uhr
abends den Angriff.
Er kam nicht zur Ausführung.
Da erging im Laufe der Nacht der Befehl an die Di-
visionen, daß bis zum Morgen des 30. Oktober das Angriffs-
ziel zu erreichen sei, koste es, was es wolle . . .
Dies war die elfte Nacht . . .
Nach Mitternacht vollzog sich in tiefster Dunkelheit ein
fürchterliches Ringen aus dem linken Flügel der 6. Reserve-
Division, wo einige Rompagnien im Zustande rasender Ver-
zweiflung aus dem knietiefen Wasser heraus bis auf den
Bahndamm vor pervyse wollten. Sie rangen zwischen
Wasser- und Feuertod mit ihrer letzten, zu plötzlicher Wild-
heit emporschlagenden Lebensenergie. Es war, als seien
Bestien in finsterer Nacht ineinanderverbissen, als sprühten
Funken und Feuerblitze aus ihrem geifernden Rachen, und
als durchwühlte die Nacht das knirschende Rrachen ihrer
Zähne und das dumpfe Gebrüll ihrer Lungen . . .
Rechts und links horchte aus Stumpfheit und Erstarrung
jeder auf. Aber die Schwärze ertränkte alles. Reiner ver-
nahm das Klatschen der Rörper ins Wasser. Reiner be-
obachtete auch, wie sich die bleiche Fläche immer weiter
dehnte, wie wafferfleck mit wafferfleck sich verband, wie
langsam und leise und Ln tückischer Heimlichkeit das gur-
gelnde Meer über die wiesen leckte. Alle kielten es noch
für Grundwasser . . .
Eine Stunde nach Mitternacht erstarb das jähe Gebrüll der
Schlacht. Die Schatten der Angreifer tauchten vom Bahn-
damm zurück in die Nacht. Und in das Wasser.
Es stieg ihnen langsam bis über die Rnie. Und es war
rechts und links und rückwärts, soweit die matte Fläche in
der Nacht schimmerte . . .
Nur geradeaus dehnte sich breit von der einen Seite zur
anderen der dunkle Strich des Bahndamms...
Um 5 Uhr morgens, es war der 30. Oktober, meldete die
44. Reserve-Division, daß sie mit ihren Spitzen im Laufe
der Nacht den Bahndamm erreicht habe. Zwar störe das an-
steigende Grundwasser bis nach Dixmude hin außerordentlich.
Aber die Truppen seien im Gefühl, endlich den Bahndamm
erreicht zu haben, ziemlich guten Mutes und erwarteten das
Vorgehen der 6. und 5. Reserve-Division in ihrer rechten
Flanke. Bis zum Mittag gedenke die Division den Erfolg
so auszubauen, daß der Gegner, wenn er nicht abgeschnitten
werden wolle, aus Dixmude heraus müsse. Allgemein habe
man den Eindruck, daß die feindliche Widerstandskraft über-
raschend schnell abnehme . . .
Z5S
Eine Stunde später traf eine Meldung der 4. Ersatz-Di-
vision aus dem Raume zwischen der 5. und 6. Reserve-Di-
vision ein, daß die Truppen teilweise bis zu den Hüften im
Grundwaffer ständen und überall auf trockene Stellen zurück-
gingen, um nicht zu ertrinken ...
* »
Um 6 Uhr 30 griff die 6. Reserve-Division zum letzten-
mal an.
Generalmajor v. Iak 0 bL, Führer der 1). Reservebrigade,
setzte eine aus allen greifbaren Truppen zusammengeballte
Stoßabteilung von etwa neun schwachen Rompagnien zum
Stoß längs der Straße von Schoorbakke nach pervyse an.
Und es vollzog sich den ganzen Tag über ein schauriger
Rampf. Die Rompagnien glaubten immer noch um die Ent-
scheidung zu kämpfen, indessen Ln ihrem Rücken längst das
Meer den Befehl übernommen hatte.
Nach einer Stunde ist der Bahndamm überschritten.
Nur weiter!
Die Häuser von pervyse liegen fünfzig Meter vor den
Stürmern. Vorwärts! Schon schießen sich die ersten mit
dem Gegner inmitten der Häuser herum . . .
Bajonette und Rolben arbeiten. Geschrei ringsum. Der
Bahndamm im Rücken verschließt den Blick auf den Wasser-
spiegel. pervyse muß fallen! Nach zwöf Tagen die Rache!
Armes pervyse! Ein wirres Dröhnen und Stampfen ist in
den Straßen. Hinüber und herüber pfeifen die Rugeln und
suchen sich durch Fensterspalte und Rellerlöcher ihr Opfer.
Gestalten springen von Haus zu Haus. Maschinengewehre
schleudern Hände voll Rugeln in die Ausgänge. Rolben
krachen. Iah verschlingt der Hieb den Todesschrei . . .
Das nimmt und nimmt kein Ende . . .
Und das Meer, das Meer steigt . . .
Und der Tag, der Tag will sich zum Abend neigen . . .
Auf dem äußersten linken Flügel das Reserveregiment 35.
Bis zu den Lnien im Wasser stapfen die Leute gegen den
159
feuerspeienden Bahndamm. Auf hundert Meter sind sie
heran. Das Feuer ist irrsinnig, der Sturm ausgeschlossen.
Das Wasser, das Wasser steigt . . .
Unschlüssigst breitet sich aus. Es ist unmöglich, sich hin-
zulegen. Es ist aber auch unmöglich, zurückzugehen. Sobald
die Leute mit dem Schießen nachlassen, verdoppelt der Geg-
ner sein Feuer.
Aber das Wasser . . . das Wasser . . .
wird das feindliche Feuer jetzt nicht schwächer-
Ganz deutlich ist es zu spüren. Nun noch einige kräftige
Salven . . und dann vorwärts, das Bajonett aufgepflanzt..
Noch fünfzig Meter . . . noch vierzig ... der Gegner
schießt nicht mehr . . .
Da ein jäh aufwirbelnder Rrach aus hundert Gewehren..
ein Lrrlichterndes Zucken... ein rauschendes pfeifen, Auf-
schreien, Umsinken, Stöhnen, Durcheinanderwälzen. Entsetz-
lich ist der Anblick. Auf vierzig Meter. Freihändig stehen
die Gegner auf den Damm und feuern . . . feuern . . .
feuern. Jeder Schuß trifft.
Das Wasser ... das Wasser!
Die zehnte und die zwölfte Rompagnie sind aufgerieben.
Aus dem Wasser, das sich ganz rot färbt, ragt hier und da
ein Rörper, ein Gewehrlauf, ein Arm. wo ein Verwundeter
mit den Wellen ringt, bäumt sich der Spiegel. Viel Ge-
schrei ist nicht zu hören. Gottlob geht alles sehr schnell . . .
Die am weitesten vorn gewesen, werfen sich verzweifelt mit
aufgepflanztem Bajonett gegen den Bahndamm. Von oben
herab trifft sie der tödliche Stich und Hieb. Mit dumpfem
Stöhnen sinken die Rörper zurück ins Wasser. Ein paar
werden gefangengenommen . . .
Bald ist nichts mehr zu sehen.
Überall das Wasser... das Wasser ...
* *
*
Oberleutnant Buchhol; schießt sich mit einer Handvoll
Leuten den ganzen Tag Uber in den Häusern von pervyse
mit den Franzosen herum. Er denkt nicht an Zurückgehen.
Am Mittag werfen die Franzosen an einer Häuserecke
einen Zettel herüber: „wenn Sie sich nicht sofort untergeben,
ISS
werden wir sie von Artillerie beschießen mit 15 Ranonen
Untergeben sie Sich, das ist besser für ganze Menschheit. Der
französische Oberst."
Buchholz dankt für das schlechte Deutsch und bleibt bis
in die Nacht . . .
* »
Im Rüstenabschnitt feuert seit früh morgens die feind-
liche Schiffsartillerie. Eine Rompagnie, die Nieuport be-
setzen soll, stößt am Rande auf schweres Maschinengewehr-
feuer. Der Gegner ist also zurückgekehrt . . .
*
Um 9 Uhr morgens stürmt Reserveregiment 48 von der
5. Reserve-Division Ln einem wütenden Anprall den West-
rand von Ramscappelle, unmittelbar hinter dem Bahndamm.
Unter schweren Verlusten weicht der Gegner auch weiter süd-
lich über den Damm zurück. Die Reserveregimenter 12 und
52 erklimmen die Gleise. Verzweifelt wehrt sich der Gegner.
Er hatte gerechnet, das Meer werde die Deutschen in der
Nacht zurückrufen. Und nun kämpften sie diesseits des
Wassers!
Um 11 Uhr melden Flieger, daß starke feindliche Rolonnen
von pervyse auf Furnes zurückgehen.
Die Schlacht neigt sich zum Ende. Noch einmal erwacht
beim Generalkommando, das seit einem Tage die Bedeutung
des steigenden Wassers kennt, der Gedanke, jenseits des
Wassers die Entscheidung ausnutzen zu können. Der Ge-
danke ist ein ungeheures Wagnis. Aber warum, warum soll
man dem Meere nicht einen Streich spielen-
Die Truppen vorn glauben immer noch, daß die Flut in
ihrem Rücken nur von dem anhaltenden Regen herrühre.
Sie wähnen sich im Begriffe, zu siegen. Mitten im fürchter-
lichen Rampfe tritt jene aufatmende Entspannung aus tage-
langer Erstarrung ein, die der langsam sich neigende Sieg
einflößt. . .
*
Um r Uhr nachmittags greifen die Franzosen, etwa zwei
Bataillone stark, zwischen Ramscappelle und pervyse den jetzt
von den Deutschen besetzten Bahndamm an.
1§)
11 Beumelburg, Flandern
Mit ingrimmiger Genugtuung über die Vertauschung der
Rollen werden sie von den Deutschen unter furchtbaren
Verlusten abgewiesen. Nicht viel von ihnen bleibt übrig . . .
* s
*
Die zwölfte Nacht. Die Zeit erfüllt . . .
In ihrem Beginn entschloß sich das Generalkommando
zur Fortsetzung des Kampfes und traf schon alle Vor-
bereitungen für die Verfolgung. Es kam darauf an, alle
nachfolgenden Kolonnen soweit nach Süden ausholen zu
lassen, damit sie unter Umgehung des Wassers die vorn
kämpfende Truppe möglichst schnell wieder erreichen konnten.
Ein Wagnis sondergleichen . . .
Eine halbe Stunde vor Mitternacht plötzlich eine Meldung,
die allem ein Ende setzte. . .
Der Generalstabsoffizier der 6. Reserve-Division teilte mit,
daß der wafferstand im Abschnitt der Division die Fort-
setzung des Kampfes unmöglich mache ...
Mit unsäglichen Schwierigkeiten versuchte das General-
kommando, sich ein Bild von der Lage des ganzen Korps
zu machen. Die meisten Regimenter waren ja durch das
Wasser schon abgeschnitten. Es stellte sich heraus, daß im
Küstenabschnitt schon alles zurückgegangen war. Es bestand
keinerlei Verbindung mehr mit dem Gegner. Sofort wurde
angeordnet, daß die dort stehenden Verbände auf den Süd-
flügel des III. Reservekorps rücken sollten, weil im Norden
ihre Aufgabe hinfällig geworden. Von Nieuport bis nach
Ramscappelle zogen sich die Truppen im Schutz der Dunkel-
heit auf wenige vorhandene trockene Stellen zurück. Auch
hier keine Fühlung mehr mit dem Gegner. Die 5. Reserve-
Division war die einzige, die noch einigermaßen trockenen
Boden unter den Füßen hatte. Aber auch in ihrem Rücken
schloß das Meer langsam die Zange. Die 4. Ersatz-Division
war schon am Nachmittag auf trockene Geländestrerfen ge-
wichen. Die 0. Reserve-Division lag noch mit einzelnen
Trupps in pervyse und am Bahndamm, aber der Divisions-
stab sah sich außerstande, diese schwachen Postierungen ohne
1§r
Verbindung mit ihren Reserven jenseits der Wasserfläche zu
belassen.
» *
*
Eine Stunde nach Mitternacht erging vom Generalkom-
mando aus an sämtliche Divisionen der Befehl, soweit
zurückzuweichen, wie es der Stand des Wassers erfordere.
Der Befehl teilte den Truppen mit, daß es sich nicht um
Grundwasser handele, sondern daß der Rönig der Belgier
auf Drängen des englischen Oberkommandierenden sich ent-
schlossen habe, durch Sprengung der großen Merschleuse bei
Nieuport weite Strecken seines Landes unter Wasser zu
setzen . . .
Noch in der Nacht vollzog sich der Rückzug, unbemerkt
vom Feinde, unter Mitnahme aller Verwundeten und
Geschütze . . .
Die Rompagnien waren zu sehr überanstrengt, als daß
ihnen die ganze Schwere dieses Schlages zum Bewußtsein
gekommen wäre. Sie wateten durch das Wasser, ohne einen
Blick zurückzuwerfen aus dies unter der Sintflut versinkende
Feld des Grauens. Die barmherzige Nacht erfüllte alles mit
ihrem dunklen Schleier und verbarg auch die Arme der
Toten, die aus dem Wasser starrten. Der Gegner feuerte
kaum. Die erste ruhige Nacht . . .
Am trüben Morgen des 31. Oktober sammelte sich die
5. Reserve-Division nördlich der Straße Mannekensvere—
St. Pierre Tappelle. Hier hatte sie auch am 19. Oktober
gestanden. Aber wer erinnerte sich dessen noch-
Die 4. Ersatz-Division stand bei Schoore, die 6. Reserve-
Division im Raum zwischen Schoore und Reyem. Nach-
truppen der Divisionen besetzten die Linie von St. Georges
bis nach Stuyvekenskerke dicht am Ufer der Mer.
Aber die Äser war jetzt zu einem Meer geworden, dessen
trübe Fläche sich bis jenseits zum Bahndamm zwischen Rams-
cappelle und pervyse dehnte, alles verhüllend, hier und da
eine dunkle Insel umgehend.
11*
163
Diese Inseln breiteten sich schweigend gleich Flecken auf
einem ungeheueren Leichentuche . . .
*
Noch am gleichen 15age erhielt das III. Reservekorps von
dem Armeeoberkommando den Befehl, Ln kleinen Marsch-
gruppen südwärts zu rücken und sich hinter der Front des
XXIII. und XXVI. Reservekorps bei Langemarck und BLp-
schote eingreifbereit aufzustellen.
Der Angriff im Raume zwischen Dixmude und dem Meere
wurde aufgegeben.
Am i. November begannen die Marschbewegungen . . .
1§4
Choral
Nach dem vergeblichen und verlustreichen Angriff des
XXII. Reservekorps auf Dixmude, der am Abend des 25. Ok-
tober mit jener fürchterlichen Metzelei auf den Straßen des
Städtleins und am Güdausgang endete, nahm sich die Armee
zwei Tage lang Zeit, um einen neuen Angriff gründlich vor-
bereiten zu können. Am 28. Oktober wurde erneut ange-
griffen. Die Belgier hatten inzwischen ihre Ln der voraus-
gegangenen Rämpfen aufs äußerste geschwächten Truppen
ablösen lassen. Senegalneger wurden am Morgen des 20. in
aller Eile eingesetzt, da man die unmittelbare Fortsetzung
des deutschen Angriffs vom 25. fürchtete. Auch der 2S. brachte
nicht den erwarteten Erfolg. Die Verluste der deutschen
Regimenter waren zu groß gewesen. Südlich der Stadt
wurden einige Teilerfolge erkämpft. Im allgemeinen blieben
die Stellungen unverändert. Am 2§. beschloß die 4. Armee,
den verlustreichen Angriff auf Dixmude einzustellen. Es
wurde befohlen, die feindlichen Lrückenkopfstellungen unter
einem kräftigen Störungsfeuer zu halten und den Ostrand
der Stadt mit schweren Minenwerfern zu beschießen.
Die Armee glaubte, diesen Entschluß mit Rücksicht auf die
Lage bei der 44. Reserve-Division und beim III. Reserve-
korps (nördlich Dixmude bis zum Meere) fassen zu dürfen.
Inzwischen schien nämlich dort die Entscheidung zu reifen.
Die 44. Reserve-Division hatte die Hoffnung, durch Angriffs-
stoß nördlich der Stadt die Belgier zur Aufgabe des ganzen
Brückenkopfes zu zwingen, welches Ende diese Absicht hatte,
ist an früherer Stelle geschildert, wo von dem verzweifelten
Ringen des Rorps Beseler mit dem Meere gesprochen ist.
So war der ganze Nordflügel der 4. Armee, das III. und
das XXII. Reservekorps, am 1. November Ln den alten
Stellungen des 20. Oktober wieder angelangt. Unter un-
säglichen Opfern war die Schlacht der Entscheidung entgegen-
geführt worden. Rurz vor dem Sieg ging alles wieder ver-
loren. Die 44. Reserve-Division wollte auch am 30. Oktober,
als das Rorps Beseler vom Meere zurückgetrieben wurde,
den Angriff nicht aufgeben, da sie einstweilen im Norden
von Dixmude noch einigermaßen trockenen Boden unter den
Füßen hatte. Sie wußte wohl, daß sie keine Schlachtent-
scheidung mehr herbeiführen konnte, aber sie wollte zum
mindestens den Versuch machen, Dixmude in deutsche Hand
zu bringen. Am Zi. Oktober und 1. November wurde in
direkt südlicher Richtung in den Rücken des Brückenkopfes
angegriffen. Aber das Wasser kam immer tiefer ins Land.
Am Nachmittag begann sich der Spiegel zwischen den Bahn-
linien nach Nieuport und nach Furnes zu dehnen. In der
Nacht mußte die Division hinter die Äser zurück. Hell schien
der Mond, als die Rompagnien ohne Störung durch den
völlig ermatteten Gegner abzogen. Dixmude blieb in
Feindeshand.
Unterdessen hatten die übrigen Rorps im Zentrum und
aus dem linken Flügel ebenfalls harte Rämpfe zu bestehen.
Seit jenem furchtbaren Zusammenprall von Bixschote, Lange-
marck und Becelaere verschob sich aber das Schwergewicht
der Entscheidung nach Norden zum III. Reservekorps, das
als einziges noch im fortschreitenden Angriff verharrte.
Wohl gelang, wie an früherer Stelle geschildert worden ist,
am 24. Oktober noch jener wilde Angriff auf das Dörflein
Reute! im Norden von Becelaere und den Polygon-Wald.
Aber es handelte sich hier um einen örtlichen Erfolg, nicht
um eine Schlachtentscheidung. Das Armeeoberkommando
befahl am 24. Oktober abends dem XXIII., XXVI. und XXVII.
Reservekorps, ihre in den Rämpfen vom ro. bis 24. er-
reichten Stellungen unter allen Umständen gegen jeden feind-
lichen Angriff zu halten und dabei jede sich bietende Gelegen-
heit auszunutzen, um dem Gegner weiteren Boden zu
entreißen.
In der Tat erwies die Regsamkeit des Feindes sehr bald
die Berechtigung dieses Defensivbefehls. General French
hatte nach und nach seine ganzen Reserven in die Schlacht
geworfen. Sein ursprünglicher großer Angriffsplan mit dem
Ziele des Durchstoßes durch Belgien war ihm gründlich ver-
dorben worden. Aber die außerordentlich starken Verluste
der mit Todesverachtung angreifenden jungen deutschen
Regimenter weckten in ihm den Plan, durch andauernde An-
griffe den ermüdeten Gegner zu erschüttern und Ln zäher
Arbeit allmählich das zu erreichen, was in einmaliger
Schlachtentscheidung nicht erreichbar war. Die französische
Heeresleitung billigte Frenchs Absichten vollkommen und
speiste ihn, soweit es ihr möglich war, mit französischen
Reserven. Man darf nicht vergessen, daß damals die ganze
Welt die Entscheidung des Feldzuges noch von dem Ausgang
der Schlacht um Rpern erwartete.
Bald merkten die deutschen Reservekorps, daß hinter den
täglichen und nächtlichen Angriffen des Gegners ein System
lag, daß der Gegner den Versuch machte, allmählich von sich
aus bestimmenden Einfluß auf den Gang der Schlacht zu
nehmen. Sie hatten diesem Versuche nichts entgegenzustellen
als ihre Leiber. Das Armeeoberkommando fürchtete be-
sonders für die Nahtstelle zwischen dem XXVI. und XXVII.
Reservekorps und stellte dort die 37. Landwehrbrigade, die
2. Reserve-Ersatzbrigade, Teile der Marinedivision und Teile
der zS. Landwehrbrigade auf. Dem Gegner kam sehr zu
statten, daß er nach wie vor im Besitze der Höhenstellungen
war und darum über eine ausgezeichnete Beobachtungs-
Möglichkeit verfügte. Besonders heftige Angriffe richteten
sich am 26. und 27. Oktober gegen die deutsche Front bei
Poelkappelle und passchendaele. Nach und nach mußten hier
die sämtlichen Armeereserven eingeschoben werden. Am
26. Oktober fiel der Führer der Landwehr, Generalleutnant
von Meyer. Überall gelang es, die deutschen Linien, die
teilweise unter den hartnäckigen Angriffsstößen ins Wanken
kamen, wiederherzustellen. Ebenso schlimm war die schwere
Krise, die schon am 24. Oktober bei der sächsischen 53. Reserve-
Division in der Gegend von Zonnebeke eingetreten war. Nur
durch das energische Eingreifen der Divisionsfeldartillerie,
die hinter die zurückgehenden Schützenlinien einen dichten
Sperrfeuergürtel legte, gelang es, ernste Folgen zu ver-
hindern. Auch die Stellung der 54. Reserve-Division, der
Württembergs, wurde von einem fürchterlichen Stoß ge-
troffen. Schon verbreiteten sich Gerüchte, Beeelaere sei um-
zingelt und genommen. Aber die württembergischen Regi-
menter gingen mit dem Bajonett vor und trieben den
Gegner zurück. Am 28. Oktober schien der Feind durch seine
verlustreichen Angriffe erschöpft, es kam nur zu unbedeuten-
den Aktionen. Auch der ry. ging verhältnismäßig ruhig
vorüber.
Bei Dadizeele traf als Reserve die 6. bayerische Reserve-
Division ein. Das Armeeoberkommando schöpfte neue
Hoffnung.
In der Lücke zwischen dem linken Flügel der 4. Armee
und dem rechten Flügel der um Arras, La Bassee und
Armentieres ringenden 6. Armee standen bis zum zo. Oktober
nur Kavalleriekräfte und einige Jägerbataillone unter dem
Befehl des Generals der Kavallerie von der Marwitz.
Ihre Aufgabe war ursprünglich nicht Teilnahme am Angriff
der 4. und 6. Armee, sondern nur Sicherung und Aufrecht-
erhaltung der Verbindung zwischen beiden Armeen. Aber die
fortgesetzten, weit über den Südflügel der 4. Armee hinunter-
reichenden englisch-französischen Angriffe zwangen die Kaval-
leristen zu Gegenstößen. Unter dem Kommando des General-
leutnants Ritter von Stetten griffen die bayerische,
die 3. und 7. preußische Kavallerie-Division, verstärkt durch
die Jägerbataillone 4, 9 und 10 am 25. Oktober im engsten
Anschluß an das Vorgehen des XXVII. Reservekorps die
Linie Kruiseik—Zandvoorde an, stürmten am folgenden Tage
im Nahkampf das Dörflein Kruiseik und lagen am ry. Ok-
tober vor Gheluvelt.
Inzwischen waren im Hauptquartier der 4. Armee unter
Teilnahme des Chefs des Großen Generalstabes, Generals
von Falkenhayn, neue Entschlüsse gereift. Die Oberste
Heeresleitung hatte sich davon überzeugt, daß die 4. Armee
allein gegenüber einem übermächtigen und täglich sich noch
verstärkenden Gegner ihre ursprüngliche Aufgabe, den Durch-
stoß auf Calais und Dünkirchen, nicht zu lösen vermochte.
Auch die 6. Armee des bayerischen Kronprinzen konnte nicht
auf eine entscheidende Wendung rechnen. Bei dem allgemeinen
Erstarren der Westfront glaubte die Oberste Heeresleitung
nach wie vor, an dem Gedanken des Angriffs gegen den
feindlichen Nordflügel festhalten zu müssen. Hinzu kam, daß
zur gleichen Stunde Beseler längs der Küste guter Hoffnung
war, und daß darum alles daran gesetzt werden mußte, den
Gegner vom Einschieben neuer Reserven vor der Front des
III. Reservekorps abzuhalten. Darüber hinaus erschien es
wichtig, den auf dem rechten Flügel der 4. Armee von Br-
seler in südwestlicher Richtung vorgetragenen Angriff durch
einen auf dem linken Flügel Ln nordwestlicher Richtung anzu-
setzenden Stoß zu ergänzen. Am r?. Oktober ergingen die
entsprechenden Befehle. Man entschloß sich, zwischen 4. und
6. Armee hinter dem Schleier derMarwLtz schen Ravallerie-
Divisionen eine neue Armeegruppe bereitzustellen, die am
30. Oktober die Güdostfront von Apern anzugreifen hatte.
Die Hauptkräfte mußte die 0. Armee stellen, in deren Ver-
band die Armeegruppe auch verbleiben sollte. Das II. baye-
rische Armeekorps und das XV. Armeekorps bildeten den
Grundstock. Zu ihnen traten die bei Dadizeele stehende
0. bayerische Reserve-Division und die bisher zur 5. Armee
gehörende r6. (1. württembergische) Infanterie-Division.
Die 6. Armee mußte an schwerer Artillerie abgeben, was
irgend verfügbar war. Den Befehl Uber die Armeegruppe
(Gen.Rdo. XIII. lwürttemb.^! A.R.) erhielt General der In-
fanterie von Fabeck, sein Chef des Gen.-Stabs war Oberst-
leutnant von Loßberg. DerAufmarsch der neuen Verbände
vollzog sich in bester Ordnung, der befohlene Angriffstermin
konnte eingehalten werden. Gleichzeitig befahl das Armee-
oberkommando der 4. Armee zur Unterstützung der Gruppe
Fabeck für den 30. Oktober den allgemeinen Angriff der
4. Armee. Da auch Beseler am Morgen des 30. Oktober die
Entscheidung im Norden als unmittelbar bevorstehend ansah,
schien die Todesstunde der trotzigen Stadt Zypern und das
Ende der Rserfront gekommen.
Auf der Front der aus Bayern, Preußen, Elsaß-Lothrin-
gern und württembergern zusammengesetzten Gruppe Fabeck
begann mit dem 30. Oktober ein grauenhaftes Ringen. Ver-
zweifelt wehrten sich Engländer und Franzosen gegen die
schnell erkannte ungeheure Gefahr. Im Norden gegenüber
Besel er half ihnen das Meer, im Süden gegenüber Fabeck
waren sie auf sich selbst angewiesen. Im ganzen dazwischen
liegenden Raum von Dixmude bis Gheluvelt bissen sich die
Regimenter der 4. Armee mit wilder Wut Ln immer neuen
Vorstößen fest und verhinderten jede Ausscheidung von Re-
serven. Der neue Angriff galt Rpern unmittelbar. Gelang
er, so hatte French keine Möglichkeit mehr, die Linie Zypern—
Nieuport zur Ausgangslinie für seinen immer noch geplanten
Angriff zu machen, der Gedanke des nördlichen Durchstoßes
mußte dann aufgegeben werden. Darum wurde aus feind-
licher Seite alles ins Gefecht geworfen, was irgendwie ver-
wendbar war. Die 7. englische Division, die wegen Über-
anstrengung gerade aus der Front herausgezogen war, wurde
sofort wieder Ln die Schlacht geschoben.
Um 4 Uhr vormittags hatte die 39.Infanterie-Division des
Generals der Infanterie von Rathen (XV. Armeekorps)
im blutigen Nahkampf die Höhenstellungen von Zandvoorde
genommen. Das II. bayerische Armeekorps stürmte Schloß
und Dorf Hollebeke. Das württembergische Füsilier-Regiment
Raiser Franz Joseph von Österreich, Rönig von Ungarn
(4. württembergisches) Nr. irr drang aus dem rechten Flügel
der r6. Infanterie-Division in wambeke ein, und die 51. In-
fanterie-Brigade auf dem linken Flügel der Division ge-
langte bis kurz vor Messines. Die Einnahme von Gheluvelt
auf dem rechten Flügel der Armeegruppe, die im Verein mit
dem linken Flügel der 4. Armee (XXVII. Reservekorps) er-
reicht werden sollte, gelang nicht.
Von wytschaete bis Messines zieht sich ein Höhenrücken,
dessen nach Osten gerichtete Ausläufer den Engländern eine
vorzügliche Flankierung des Angriffs gegen die Gruppe F a -
beck ermöglichten, wytschaete und Messines mußten fallen.
General vonFabeck erteilte dem II. bayerischen Armeekorps
für den 3). Oktober den Befehl zur Einnahme von wyt-
schaete, schob dort die 6. bayerische Reserve-Division ein und
setzte die r6. Infanterie-Division auf Messines an» Das XV.
Armeekorps des Generals der Infanterie von Deimling
behielt den Streifen Gheluvelt—Hollebeke. French hatte am
30. Oktober erkannt, daß die Gefahr riesengroß war und
füllte die dünnen Reihen seiner 7. englischen Division im
Raume von Hollebeke mit rasch herbeigeführten indischen
und französischen Truppen auf.
Und die Schlacht tobte weiter mit einer Erbitterung, die
entsetzlich war. Nach einem beiderseitigen Artillerieduell, das
mit rasender Heftigkeit den ganzen Vormittag andauerte,
begann der allgemeine Angriff.
Um ir Uhr rangen die 54. Reserve-Division (linker Flügel
des XXVII. Reservekorps, 4. Armee) und die 30. Infanterie-
Division (rechter Flügel des XV. Armeekorps, Armeegruppe
Fabeck) mit rasch herangezogenen englischen Reserven um
den Besitz von Gheluvelt. General von Deimling wurde
durch Artilleriefeuer verwundet, Generalmajor wild von
Hohenborn stürmte seiner 30. Infanterie-Division in
vorderster Linie voran. Gegenstoß auf Gegenstoß führte der
Engländer, stundenlang wogte der Ramps hin und her,
immer aufs neue durch rasendes Artilleriefeuer vorbereitet.
Zwischen 3 und 4 Uhr nachmittags war Gheluvelt gefallen.
Jenseits versuchte der Engländer, durch einen letzten Massen-
angriff das Schlachtenschicksal zu wenden. Umsonst. 17 eng-
lische Offiziere, 1000 Mann wurden gefangen, 3 Geschütze
und zahlreiche Maschinengewehre erbeutet . . .
Unterdessen bluteten das ll. bayr. Armeekorps, die 6. baye-
rische Reserve-Division (ohne das bei Gheluvelt eingeschobene
Reserveregiment 16) und die rd. Infanterie-Division im
Rampf um den Höhenzug wytschaete—Messines. Nachts
um r Uhr (). November) traten die Bayern zum Nahkampf
um wytschaete an. Das Ringen war furchtbar. Morgens
um 5 Uhr war der Ort genommen. Als aber Teile des in-
zwischen eingetroffenen XVI. französischen Armeekorps ein-
griffen, gingen Ort und Höhenrand wieder verloren. Seit
morgens 10 Uhr 30 (3). Oktober) kämpften die württem-
berger um Messines. Um 11 Uhr war das Infanterie-
Regiment Raiser Friedrich (Nr. 125) am Nordostrand an-
gelangt. Schrittweise ging es in den Ort hinein. Um jedes
Haus wurde gerungen, während ein paar Häuser weiter
die Infanterie und die Pioniere sich mit dem Gegner herum-
schlugen, schoben die Artilleristen ihre Geschütze Ln das Dorf
und feuerten aus nächster Entfernung in die Häuser. Bald
war der Marktplatz erreicht. Nachts lies die Stellung von
Norden nach Süden mitten durch das Dorf hindurch. Reinen
Augenblick ruhte Ln der Dunkelheit der Rampf.
Am Nachmittag des ). November drangen die Bayern
zum zweiten Male in wytschaete ein. Abermals warf ein
furchtbarer feindlicher Gegenstoß sie zurück. Die Engländer
schoben zwei neue Divisionen ein. In Messines dauerten
den ganzen Tag über die Nahkämpse an.
Um 7 Uhr morgens, am r. November, entspann sich ein
Artillerieduell von damals noch nicht dagewesener Wildheit
um wytschaete. Die 6. bayerische Reserve-Division trat zum
Sturm an. Noch östlich des Ortes traf sie ein Gegenstoß.
Mit den zurückflutenden Engländern drangen die Bayern Ln
das Dorf ein. Abermals trafen sie auf neue feindliche
171
Truppen. Ein Häuserkamps von fürchterlicher Erbitterung
begann. Zum dritten Male führte der Engländer neue Rräfte
heran. Inzwischen griffen bei den Bayern Teile der neu
herangekommenen 3. Infanterie-Division ein. Das Grena-
dier-Regiment Graf Gneisenau warf sich mit Bajonett und
Rolben in den Ort. Um 5 Uhr war das Ringen entschieden.
Lichterloh brannte das Dorf. Auf der ganzen Front tobten
ELnzelkämpfe weiter. Vom Nordwestrand aus tat sich den
Stürmern im Abenddämmern der Blick auf das Gelände
um Rpern auf . . .
Überall war der Engländer in die Verteidigung gedrängt.
Bei Hollebeke und wytschaete waren die deutschen Linien
so nahe an Rpern herangeschoben, daß der Raum um die
Stadt unter direkter Beobachtung lag und für die Bewegung
größerer Truppenmassen nicht mehr in Frage kam. Gleich-
wohl hatte der Angriff der Armeegruppe Fabeck nicht den
erwarteten entscheidenden Erfolg erzielt. Die feindlichen
Reserven waren zu stark. Da sich inzwischen auch das Schick-
sal des III. Reservekorps im Rüstenabschnitt vollzogen hatte,
und der ursprünglich geplante Flankenangriff auf den Raum
zwischen Rpern und Dixmude nicht mehr ausführbar war,
sahen sich die 4. Armee und die Armeegruppe Fab eck vor
neue Entschlüsse gestellt.
* »
Inzwischen hatte die 4. Armee die durch die Verände-
rungen im Norden erforderlich gewordenen Umgruppierungen
vorgenommen. Am 3. November war die Armee zu einem
neuen Angriff auf ihrer ganzen Front von Dixmude bis
Gheluvelt bereit. Der Abschnitt zwischen dem Meere und
Dixmude fiel infolge der Überschwemmung für jedes neue
Vorgehen aus, er wurde von der 3S. Landwehrbrigade, der
4. Ersatz-Division und von Teilen der 43. Reserve-Division,
die alle unter dem Befehl des Generalkommandos des XXII.
Reservekorps vereinigt worden waren, gesichert. Der linke
Flügel der 43. Reserve-Division, der südlich Dixmude bis in
die Gegend von woumen reichte, hatte Befehl, sich dem
Angriff der südlich folgenden Armeeteile anzuschließen. Die
Hauptlast des neuen Angriffs sollte auf den Schultern des
XXIII. Reservekorps (Noordschoote—Lixschote), des durch
die 44. Reserve-Division (früher hart nördlich Dixmude)
verstärkten III. Reservekorps (beiderseits Langemarck), des
XXVI. und XXVII. Reservekorps (Poelkappelle—Gheluvelt)
liegen. Bis zum )o. November waren nirgends größere
Erfolge errungen. Bei Bixschote und Langemarck hatten sich
die deutschen Linien unmittelbar an den Rand der Dörfer
herangeschoben. Das war alles. Schlechtes Wetter, Unmög-
lichkeit einer geregelten Ablösung, die Verluste der ver-
gangenen Schlachttage und die Überlegenheit des gut ein-
geschanzten Gegners verhinderten entscheidende Gefechts-
handlungen.
Aus dem rechten Flügel der Armeegruppe Fabeck wurde
am S. November die Gruppe Lin sin gen (Gen.Rdo. II. A.R.)
gebildet. Ihr unterstanden das XV. Armeekorps des Generals
der Infanterie von Deimling und das neu herangeführte
Rorps Plettenberg (Gen.Rdo. des Gardekorps mit 4. In-
fanterie-Division und der Gardedivision des Generalleutnants
von winckler). Dem Rest der Armeegruppe Fabeck
wurde der Streifen westlich des von Tomines auf Rpern zu
führenden Ranals zugewiesen (mit Hollebeke, St. Eloi, wyt-
schaete und Messines), die neue Gruppe Linsingen hatte
zwischen dem Ranal und Gheluvelt in Richtung auf die um
Schloß Hooge sich dehnenden großen Wälder anzugreifen.
Am 11. November focht die neue Gruppe, in erster Linie
die Division winckler (zusammengesetzte Gardedivision),
beiderseits der von Gheluvelt nach Apern führenden Straße
einen fürchterlichen Rampf. Das 1. und 3. Garde-Regiment
zu Fuß, die Raiser Franz Garde-Grenadiere und das Rönigin
Augusta Garde-Grenadier-Regiment verstrickten sich mit dem
Gegner zu einem unentwirrbaren Rnäuel in den dichten
Wäldern und bahnten sich schrittweise ihren blutigen weg.
Die Umklammerung Aperns wurde immer dichter. Aber die
verzweifelte Gegenwehr des Feindes verhinderte auch dies-
mal die Entscheidung. Am 17. November erstarrte der Rampf
im Wald, Feuer, Morast und Regen, ohne daß einer der
beiden Gegner sich unbestrittener Besitzer des Hcihenkranzes
im Gsten, im Südwesten und Süden der trotzigen flandrischen
Stadt nennen konnte. Die Engländer sind seitdem Zyperns
nicht mehr froh geworden. In den Trümmern der Stadt
begruben sie den Traum von der Vernichtung des deutschen
Nordflügels und dem Marsch an den Rhein.
Z7Z
Vier Jahre später wurde er in anderer Form Wirklichkeit,
als sie jemals angenommen . . .
Der Angriff der Armeegruppe Linsingen war nur als
südliche Flankierung des neuen für den 10. November ge-
planten Stoßes der 4. Armee gedacht. Unter Zusammen-
ballung aller Rraft wollte die seit dem )y. Oktober in einer
der männermordendsten Schlachten der Weltgeschichte kämp-
fende Armee zum letztenmal den Versuch machen, die heiß
umstrittene Palme des Sieges zu ergreifen. Jedermann
wußte, daß dies der letzte Versuch war. Jedermann war von
dem Gefühl der schicksalhaften Bedeutung des Tages erfüllt.
Aus Blut und Wunden, aus den dunklen Stunden des
Todes und der Ohnmacht standen die jungen Regimenter
abermals auf und erklommen jene steile Höhe des Ruhmes,
dessen unsterblicher Glanz sich um die beiden Namen Dix-
mude und Langemarck breitet . . .
Alles bisher Dagewesene schien eine Vorbereitung, jedes
gebrachte Opfer nur eine Einsaat für diesen 10. November.
Jenen in zweiundzwanzigtägiger Schlacht alt gewordenen
jungen Menschen war der Tod ein vertrauter Genosse ge-
worden. Losgelöst von dem vergangenen Leben klebte ihr
Herzblut an den Schollen des flandrischen Bodens, schon ehe
der 10. November ihre zerschossenen Leiber umherstreute
über das Land. . .
» *
Dixmude, Dixmude ... im grauen Mantel der Dämme-
rung birgt sich die Nacht. Denkst du noch an die wackeren,
die du in der Nacht des 25. Oktober verschlungen in un-
bändiger Gefräßigkeit- Denkst du an die Compagnien, die
das mörderische Feuer aus deinen Häusern im Süden rings
um den Rirchhof niedergestreckt- Denkst du noch an die
Ohnmacht der Stürmer, die dreimal bis dicht an deine
Mauern gelangt und dreimal unter den verheerenden
Peitschenschlägen der Maschinengewehre und dem rasenden
Tanz der Granaten, blutend aus hundert Wunden, umkehren
mußten- Denkst du noch an die dumpfe Verzweiflung jener,
denen du den besten Freund geraubt- Denkst du noch an die
fressenden Schmerzen in den zerschmetterten Gliedern, an das
174
Brennen der verdurstenden Nehlen, an das zähneklappernde
Frieren des durchnäßten Rörpers, an das wahnwitzige Spiel
mit Leben und Tod rings um deine tollgewordenen Mauern;
Denkst du noch daran;
Siehe, es ist, als ob die verwesenden Leichen der Ge-
fallenen ihre Häupter aus den Furchen höben und den starren
Blick gen Osten lenkten, wo im ersten dumpfen Morgengrau
die Nacht ihren Mantel abzuwerfen sich anschickt,
wehe, wenn sie ihn abgeworfen!
wehe dir, Dixmude . . .
Es war um Mitternacht, als die Nompagnien des Reserve-
Infanterie-Regiments ro) und der )5. Reservejäger im Ab-
schnitt des Nordteils von Dixmude die Sturmstellungen
bezogen. Die 43. Reserve-Division hatte befohlen, überall
auf kürzeste Entfernung an die feindlichen Linien heran-
zugehen und nach Möglichkeit feindliche Vorstellungen noch
im Laufe der Nacht unauffällig zu nehmen, damit der ent-
scheidende Angriff am Morgen überraschend erfolgen könne.
Maschinengewehre und Minenwerfer wurden auf kürzeste
Entfernung eingebaut, um rasch und nachdrücklich in das
Gefecht eingreifen zu können. Der Feind verhielt sich ziemlich
ruhig und schien von dem bevorstehenden Angriff nichts zu
ahnen.
Am frühen Morgen stellte sich heraus, daß das Erreichen
der befohlenen Sturmausgangsstellungen nur zum geringsten
Teile gelungen war. Die Division ordnete an, daß dies
unter dem Schutze der Artillerie bis 10 Uhr zu geschehen
habe. Rurz vor neun begann die Feldartillerie mit dem
Vorbereitungsfeuer. Um zehn waren die Bataillone überall
auf Sturmentfernung heran. Der Gegner glaubte immer
noch an ein Angriffsunternehmen von eng begrenzter
Bedeutung.
Unmittelbar vor dem Regiment ro) lag die Bahnstation
von Dixmude. Östlich von ihr macht der Bahndamm eine
von Nordosten nach Südwesten verlaufende Schleife. Diese
Schleife mußte das Regiment zunächst gewinnen, um von
ihr aus in den Ort eindringen zu können . . .
)75
Die deutsche Artillerie beginnt ein Höllenfeuer. Es wird
ernst. Blitzartig fährt der Gegner aus seiner Lethargie und
alarmiert seine Reserven. Noch ehe der Angriff erfolgt,
rattern aus allen Ecken und Enden die Maschinengewehre.
Sie proben die Schußfertigkeit. Der Tod wetzt die Sense.
Das III. Bataillon von ro) geht Ln lichten Wellen beider-
seits der Bahn vor, rechts schließen die Jäger an, links
Teile von ror. Das I. und II. Bataillon folgen mit Teilen
von roz als Gefechtsreserven. Die Hauptmasse von roz ist
von der Division zurückbehalten.
Die Feldartillerie hat jetzt den Gipfel ihres Schnellfeuers
erreicht. Der Feind zieht die Röpfe ein. Rauschend fahren
die Granaten über den Bahndamm und wirbeln in der Stadt
Staub, Dreck, Steine und Eisen auf. Die schweren Minen
wecken fürchterliche Donnerschläge. Aber dennoch prasselt
aus der Flanke Gewehrfeuer, und hier und da speit auch
ein Maschinengewehr aus der Häuserreihe seine Rugeln.
Gleichgültig, der Bahndamm muß erreicht werden.
wenige Minuten nach i Uhr hat Major Freiherrvon
wedekind mit dem stark gelichteten III. Bataillon den
Bahndamm erreicht. Die Reserven schließen auf. Das I. Ba-
taillon verlängert die Linie nach links entlang dem Bahn-
damm.
Unvermindert brüllen die deutschen Batterien.
Der Befehl für das III. Bataillon hatte gelautet, am
Bahndamm zu warten, bis neue Weisungen ergingen. Aber
auf einmal gibt es kein Halten mehr. Die Aussicht, den
überraschten Gegner zu überrumpeln, ist zu verlockend. Der
Geist der ersten Angriffstage erwacht aufs neue. Die Rom-
pagnien reißen nach vorn aus.
Aus allen Ausgängen von Dixmude prasselt den Angreifern
ein rasendes Infanteriefeuer entgegen. Der Bahndamm im
Süden der Stadt ist stark besetzt und flankiert die am Bahn-
hof vorüberlaufenden Schützen mit knatternden Maschinen-
gewehren. Die feindliche Artillerie ist erwacht und schleudert
ihr Sperrfeuer auf das Gelände hart östlich der Stadt. Ein
Höllenlärm, der jede Befehlsführung unmöglich macht. Ver-
luste über Verluste. Aber dennoch kein Einhalten. Lieber
Ln Dixmude sterben als abermals geschlagen zurückkehren.
Die Not der vergangenen zweiundzwanzig Schlachttage
schreit nach einem Ende . . .
176
Ern Verhängnis ist, daß die eigene Artillerie nach wie vor
die Stadt in einem irrsinnigen Tempo befeuert. Und nun
beginnt zu allem Überfluß noch die französische Artillerie,
offenbar in dem Glauben, der Ort sei bereits verloren, ihr
Sperrfeuer zurückzuverlegen. Dixmude wird ein Hexen-
tanzplatz. Aber gleichgültig ... die 20-er halten die Beute
schon in den Zähnen. Rechts und links fallen die Schützen.
Die Sterbenden noch feuern die Lebenden an. Die Ver-
wundeten verschmähen Hilfe, damit die Front nicht ge-
schwächt wird, damit die Rache gelingt ... die Rache an
Dixmude. . .
Um r Uhr tobt ein entsetzlicher Nahkampf auf dem Markt-
platz von Dixmude, demselben Marktplatz, auf dem in der
Nacht des 25. Oktober deutsche Helden abgeschlachtet wurden.
Die Rache ist da. Deutsche und französische Artillerie über-
bieten sich in ihrem Feuer. Aber Häuserblock nach Häuser-
block wird gesäubert. Ein feindlicher Trupp nach dem anderen
wirft die Gewehre fort und hebt die Hände. Zwischen In-
fanteristen und Jägern arbeiten die Pioniere mit Hand-
granaten. Blut fließt in Strömen. Das Geschrei der Ge-
troffenen vermischt sich mit dem Stöhnen der Sterbenden.
Ein entsetzlicher Tag der Rache . . .
Unterdessen lag das Reserve-Infanterie-Regiment 202 süd-
östlich der Stadt in einem unerträglichen Flankenfeuer vom
Rserdamm her. Das XXII. Reservekorps entschloß sich, um
durch das Zurückbleiben der 202er die Erfolge der 15. Jäger
und der 20-er nicht wirkungslos zu machen, auf dem linken
Flügel des Regiments 202 die Rorpsreserve, bestehend aus
einigen Bataillonen der 43. Reserve-Division und einigen
der 4. Ersatz-Division, unter dem Befehl des Obersten Teetz-
mann einzusetzen, mit dem Auftrag, gegen den Rserdamm
südlich Dixmude vorzugehen und den linken Flügel der
202er gegen den Südausgang der Stadt vorzutragen.
Das Eingreifen der Rorpsreserve erfolgte sofort. Jetzt
kam auch in die schwer blutenden Bataillone des Regiments
2O2 neue Bewegung. Das deutsche Artilleriefeuer klappte
hier besser. Rechtzeitig wichen die Einschläge seitwärts und
rückwärts aus. Am Bahndamm im Süden der Stadt, von
dem aus der Gegner den Angriff der 2v)er im Norden so
übel flankiert hatte, entspann sich ein kurzer wilder Rampf
Mann gegen Mann. Er war rasch entschieden. Zwischen
Beumelburg, Flandern
177
brennenden und zusammenstürzenden Häusern kämpften die
rorer unter schweren Verlusten mit Bajonett und Nolben
im Güdteil der Stadt . . .
plötzlich, während ro) und ror und die Jäger mitten in
der Stadt unter dem Feuerhagel beider Artillerien ohne
Renntnis voneinander sich mit den Franzosen herumschlagen,
flackert heftiger Gesechtslärm im Nordausgang auf. Einige
Augenblicke der Verwirrung. General von Seydewitz,
der Rommandeur der ro-er, sendet Patrouillen. Gottlob, es sind
Teile der 4. Ersatz-Division, die bis zur Stadt vorgedrungen.
Und weiter geht die Schlacht mit Messern, Rolben, Pa-
tronen und Handgranaten. Verwundet bricht General von
Seydewitz mitten unter seinen Leuten zusammen.
Die Rorpsreserve unter Oberst Teetzmann ist bis an
die Rser gedrungen, hat den Gegner vom Ranaldamm verjagt
und drängt ihn nach Norden Ln den Rücken der Stadt. . .
Dixmude, Dixmude ... die Stunde schlägt . . .
Das II. Bataillon von ro) ist dem III. gefolgt und greift,
wie gerade jeder ankommt, in den Nahkampf auf dem Markt-
platz ein. Das I. hat sich am Bahnhof gesammelt und stößt
von dort quer durch die brennende Stadt zu den westaus-
gängen. Jetzt brodelt der Rampf in allen Ecken und Enden
von Dixmude.
Die Bataillonskommandeure versuchen, auf dem Markt-
platz die Truppen zum Stoß bis zu den Rserbrücken im
Westen der Stadt zu sammeln. Aber der Gegner, der das
verzweifelte Spiel immer noch nicht aufgibt, jagt seine
Rugeln aus den Häusern aus der Westseite mitten unter
die Herbeieilenden. Ein neues Gemetzel hebt an. Aus den
Häusern quillt das Geschrei. Die wütenden Schützen dringen
bis in die Reller hinter den verbissenen Gegnern her, und
noch auf den Speichertreppen kreuzen sich die Bajonette. . .
Endlich, als die Gefahr des Abgeschnittenwerdens drohend
ihr Haupt erhebt, räumen die letzten französischen Marine-
füsiliere und Infanteristen die Stadt. Das deutsche Feuer
schlägt unter sie. Mancher wird bei dem Versuch, die Rser-
brücke zu überschreiten von einer Rugel gefaßt. Das Wasser
spritzt aus und verschlingt ihn, ohne zu fragen, ob er tot
ist oder noch lebendig.
Die deutsche Artillerie legt ihr Sperrfeuer über den Ranal.
Die französischen Batterien führen mit ihren Granaten in
dem armen Städtlein einen irren Tanz der Wut und der
Ohnmacht auf.
Die Nacht kommt schnell und lautlos herbei.
Dixmude brennt. Rrachend stürzen glühende Mauern ein
und schütten ihre Steine gleich Lavaströmen auf die zer-
wühlte Straße . . .
Die Rache ist über Dixmude gekommen . ..
17 Offiziere und -400 Engländer und Franzosen wurden
am 10. November bei und Ln Dixmude gefangen. Die Ver-
luste des Gegners an Toten und Verwundeten waren un-
geheuer.
Das tapfere III. Bataillon des Reserve-Infanterie-Regi-
ments ro) zählte 29 Tote, 30 Verwundete, )7 Vermißte.
Das I. und II. Bataillon nicht viel weniger. Die 15. Reserve-
jäger büßten 32 Tote und 6) Verwundete ein. Unter den
Toten waren die beiden Führer der 4. und der 2. Rompagnie,
Hauptmann Frhr. von Stenglin und Hauptmann
Frhr. von puttkamer. Ähnlich schwer waren die Ver-
luste des Reserveregiments 202. Auch die Rorpsreserve des
Obersten Teetzmann hatte furchtbar geblutet.
Die Rache war teuer zu stehen gekommen.
Aufgellende Signalhörner schreien dann durch die langsam
weichende Nacht und wecken ein unheimliches Erschrecken auf
der ganzen Front.
Geräuschlos klettern Schatten über die Brustwehren der
Gräben, sammeln sich zu Gruppen und dringen vor, das
Bajonett gefällt, die Gewehre entladen.
Die Regimenter 205, 206, 207 und 208 der 44. Reserve-
Division unter dem württembergischen Generalleutnant
Eugen von Dorrer sind zuerst am Feind, wie die 2oöer
ungefähr zwanzig Meter vor dem feindlichen Graben an-
gelangt sind, erwachen die Maschinengewehre aus der rechten
Flanke und beginnen ein wildes Ronzert. Die ersten beiden
Reihen der Stürmenden werden niedergemäht, kaum einer
18»
179
kommt davon. Die Nachfolgenden springen vor, über die
Toten hinweg. Mit wildem Gebrüll geht's in den Graben,
die Bajonette bohren sich von oben herab in die Leiber. Der
Rampf ist kurz. Aber unerträglich ist das Flankenfeuer.
Hauptmann von Hirsch läßt laden und feuern. Einige Zeit
ratterndes Feuergefecht, indes der Morgen langsam die Um-
risse des Feldes erkennen läßt. Ein irrsinniger Feuerhagel
überfällt von vorn, rechts und links die Angreifer. Sie
müssen zurück. In den Ausgangsstellungen sammeln die Of-
fiziere ihre Leute zum zweiten Angriff. Der Gegner besetzt
seinen alten Graben wieder . . .
Und schon rollt das Gewehrfeuer über den ganzen Ab-
schnitt . . .
Aber rechts von den roüern, bei den ro5ern, hat es besser
geklappt. Das I. Bataillon links, das H. rechts an der
Straße von Bixschote nach Steenstraate, bricht das Regiment
zur befohlenen Minute vor. Die Maschinengewehre werfen
die vordersten zu Boden. Neue stürmten darüber hinweg,
gelangen bis an die feindlichen Gräben. Ein wütender Ge-
genstoß des offenbar auch seinerseits einen Angriff planenden
Gegners trifft das I. Bataillon. Aber das II. erkennt die Ge-
fahr, schwenkt nach links ein. Unter schweren Verlusten
weicht der Feind. Das II. Bataillon läßt nicht locker und
bleibt den weichenden auf den Fersen. Jetzt sind die ersten
im feindlichen Graben. Ein wilder Nahkampf entspinnt sich um
jedes Maschinengewehr. Bis auf fünf Meter lassen sie nicht
nach mit ihrem Gebell. Die wütenden Brandenburger machen
die Bedienungsmannschaft mit Rolben und Messern nieder.
Da packt die Franzosen das Grauen. Ropflos fliehen sie
aus den Gräben, gejagt von dem Gewehrfeuer der 205er.
I. und II. Bataillon setzen hinter ihnen her. Stehend frei-
händig wird gefeuert. Tote und Verwundete bedecken das
Feld. Ganze Gruppen heben die Hände hoch, fassungslos er-
schüttert durch die Wildheit des Angriffs.
Um o Uhr 50 ist der Apernkanal bei Steenstraate erreicht.
Aber die Bataillone sind so zusammengeschmolzen, daß seine
Überschreitung nicht mehr gelingt. Von drüben her schlägt
das rasende Schnellfeuer der französischen Reserven unter sie.
Der Regimentskommandeur, Oberst Frhr. von Schlei-
nitz, bricht, durch den Hals getroffen, zusammen. Der Adju-
tant, Leutnant Frhr. von Wachtmeister, trägt ihn
zSo
auf den Schultern zurück. Der Oberst vermag dem Brigade-
kommandeur, General von Diringshofen, den Sieg
noch zu melden und die herrliche Tat des II. Bataillons unter
dem Hauptmann Blos zu loben. Vorn sammeln die Bom-
pagnien die Gefangenen ein. Von Minute zu Minute werden
ihrer mehr. Fast sind schon tausend gezählt.
Die ersten Linien muffen vom Banal zurück. 400 Meter
davor graben sie sich ein und halten einem rasenden Ar-
tilleriefeuer stand . . .
Die Runde von dem Erfolg des Gchwesterregiments ver-
breitet sich rasch bei den zurückgeschlagenen roüern. Nun gibt
es kein Halten mehr. Mit notdürftig geordneten Verbän-
den geht das Regiment, stark untermischt schon mit anderen
Regimentern, zum zweitenmal vor. Ein wildes Ringen wogt
eine Viertelstunde lang um den französischen Graben. Ver-
zweifelt wehrt sich der Gegner. Das Gewehrfeuer in den
Waldstücken südlich Bixschote verrät alles.
Die Flucht beginnt. Die ro6er hinterher. Mit langen
Sprüngen erreichen sie die weichenden, wer nicht sich um-
wendet und die Hände hebt, bricht im Feuer der stehenden
Verfolger zusammen. In einer halben Stunde sind roo Ge-
fangene gemacht. Sie zittern noch unter dem Eindruck des
jähen Schreckens. Guer durch ein Waldstück im Süden von
Bixschote dringt die Verfolgung. Jenseits zieht sich schon
der Banal vorüber. Beim Heraustreten der dichten Massen
der Verfolger aus den Bäumen bricht von drüben die Hölle
los. Entsetzlich sind die Verluste. Hauptmann von Hirsch
führt den größten Teil der überlebenden zurück. Eine Schar
von etwa 50 Böpfen bleibt unter dem Befehl des Leutnants
willer südlich des Wäldchens und jagt den noch diesseits
des Banals stehenden Rest des Gegners bis dicht vor die Häu-
ser von Het Gas. Die Brücke von Het Sas liegt unter dem
rasenden Schnellfeuer von Freund und Feind, von Ge-
wehren, Maschinengewehren und Geschützen. Es ist nicht
möglich, über das Wasser zu gelangen. Ströme von Blut
kostet der Versuch . . .
Erneut dringt der Gegner, der unter schwersten Verlusten
über die Brücke zurückgegangen, vor. Die ro6er zählen
kaum noch ein paar Gewehre. Sie müssen zurück in das
Wäldchen, das vom Lärm der Einschläge schauerlich verhüllt
ist. Auch von links dringen neue feindliche Massen an. Im
iS)
Wäldchen liegen acht Mann unter Leutnant Lang und ver-
teidigen sich mit wohlgezielten Schüssen nach drei Seiten.
Etwa achtzig Franzosen dringen bis dicht an sie heran und
stellen zwei Maschinengewehre auf. Aber das Wäldchen
bleibt Ln den Händen der roöer. Das Regiment verfügt zu
dieser Stunde noch über 150 Gewehre . . .
wer das Lied zuerst angestimmt- An welcher Stelle, zu
welcher Stunde es gesungen wurde- Ob es ein Trupp ge-
sungen, den der Feind von allen Seiten eingekreist, ein
Trupp, der durch die Gewalt des Liedes den heranschleichen-
den Tod bannen wollte wie seinerzeit Volker von Alzey in
Röntg Etzels Burg- Ob es ein Trupp sang, der, den flie-
henden Feind vor sich, plötzlich von der erhabenen Größe
des Augenblicks überkommen wurde-
Niemand weiß es. Die furchtbare Erregung verschlang
alles. Vielleicht, daß der Tod auch den zerschmettert, der
das Lied angestimmt. Vielleicht, daß er noch irgendwo lebt...
Aus der tiefen Not des Sterbens rang sich das Lied gleich
einem Lhoral, schwoll über das zerrissene Feld, hob den Ropf
der Verwundeten noch einmal zur Höhe und erfüllte die
Lebenden mit der heiligen Bereitschaft zum freudigen Opfer-
tod .. .
In Flanderns blutigen Gefilden sang sterbend und
kämpfend die Schar der Söhne Deutschlands dieses letzte Be-
kenntnis ihres willens und Lebens . . .
Zum Himmel, der angefüllt war von dem berstenden Lärm
der Granaten und dem tausendfältigen Heulen und pfeifen
der ELsensplitter, zum Himmel, der sich mit dem Rauch bren-
nender Gehöfte langsam zu verhüllen begann, stieg das
Lied...
„Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der
Welt. . .
Der Winter kroch über die Felder Flanderns. Längst
schlief die Schlacht. Die Kanäle wurden zu Eis. Die schwar-
zen Ruinen von Dixmude, Bixschote und Langemarck ver-
suchten, sich durch weiße Schneehauben den Anschein eines
trostlosen Lebens zu geben . . .
-Sr
Der Tod von Rpern ging zur Ruhe. Er schritt noch ein-
mal gebeugten Hauptes über das Land. Nnd wo die kleinen
Kreuze aus dem Schnee ragten, da verweilte er Ln tiefem
Nachsinnen. Die da, unter den Kreuzen, die waren stärker
gewesen als er . . .
Der Tod war alt und müde geworden.
Noch einen Blick warf er zurück auf Apern, strich sich mit
der knöchernen Hand über den Schädel, lächelte ein ver-
zerrtes Lächeln und legte sich dann mitten zwischen die
Kreuze, die aus dem Schnee ragten.
So lag er fast drei Jahre lang, und nur ab und zu bewegte
er sich langsam. Gegen Ende des dritten Jahres aber, im
Sommer 1017, sprang er, der langen Ruhe überdrüssig, plötz-
lich auf und schrie und brüllte in toller Raserei und gab das
Signal zu jener mörderischen Flandernschlacht von )0)7, die
als die blutigste Materialschlacht des Weltkrieges in die Ge-
schichte eingegangen ist.
Von ihr ist im folgenden die Rede.
Steenbeek
Um zwei Uhr nachts ist der letzte Fliegerangriff aus das
Dorf erfolgt. Zehn Minuten hat man sie surren hören, dann
kam der Segen herunter. Es rauscht ein wenig, schwillt
mächtig an, Flammen brechen hervor aus dem Dunkel und
dann ein wildes Geraffel.
Und dann wieder Stille.
Alles schläft weiter. Es ist ein Spektakel heute nacht an
der Front, der unbehaglich stimmt. Im (Quartier einer
Rompagnie soll es zwei Leichtverletzte gegeben haben.
Den Roch stößt der Rüchenunteroffizier an. Es muß Feuer
gemacht werden für den Fall, daß heute morgen wieder
Alarm ist, wie gestern und vorgestern. Die Leute sollen vor
dem Abrücken Ln die Alarmstellung warmen Raffer empfan-
gen. So geht das nun seit fast acht Tagen.
Das Feuer knistert. In der Bataillonsschreibstube brennt
Licht. Zwei Telephonisten hocken halb schlafend, ein Vize-
feldwebel schreibt eine Postkarte. Die Meldeläufer der Rom-
pagnien liegen auf Strohpritschen an der Seitenwand, das
Roppel umgeschnallt.
Schwarz ist die Nacht, kein Stern am Himmel, feucht und
warm.
Das mächtige Rlangzittern von Südwesten her dauert 'un-
vermindert an. Auf einmal mischen sich deutlichere Schläge
hinein, ein schwaches Aufflammen geht ihnen voraus. Nun
scheint es näher zu kommen und seine Rraft zu verdoppeln.
Ieder ELnzelklang verliert sich Ln einem gleichmäßigen Rol-
len, das die Finsternis erschüttert von einem Ende zum
andern.
Nach zehn Minuten ist es klar.
Trommelfeuer . . .
Im Osten beginnt sich der Himmel blaß zu verfärben. Es
mag fünf Uhr morgens sein.
IS4
Trommelfeuer. .
Ein Motorradfahrer knattert über die Straße. Schwarz
ist sein Lederzeug. Funken entsprühen dem Auspuff, hin
und wieder knallt eine Fehlzündung wie ein Gewehrschuß.
Man sieht, wie der Vizefeldwebel den Tintenstift beiseite-
legt, sorgsam die Postkarte einsteckt und an das Telephon
geht. Die Telephonisten richten sich schlaftrunken auf.
Trommelfeuer . . .
Der Telephonist, der den Kopfhörer umlegt, wendet sein
Gesicht halb in die Stube und sagt ein Wort, das man
draußen von der Feldküche aus nicht verstehen kann.
Die Esse der Feldküche glüht und knistert, Oualm steigt
aus dem kurzen Schornstein. Das Wasser wirft schon Bla-
sen, und der Küchenkorporal mißt die Kaffeeportionen ab.
Der Vizefeldwebel nickt, als er das Wort vernimmt, das
ihm der Telephonist zuspricht. Der zweite Telephonist weckt
die Meldegänger. Sie richten die Oberkörper vom Boden,
blinzeln in das Kerzenlicht, vernehmen ebenfalls das Wort,
das der Vizefeldwebel wiederholt, und machen sich wortlos
auf. Sie treten vor die Türe, dehnen die Glieder und stecken
sich eine Zigarette an. Der Schein des Streichholzes be-
leuchtet einen Augenblick ihre schlaftrunkenen Gesichter»
Dann gehen sie.
Fünf Minuten später tritt der Adjutant in die Schreib-
stube. Er telephoniert, zündet sich eine Zigarette an und setzt
sich dann steif auf die roh gezimmerte Bank an der Hinter-
wand des Zimmers. Man kann deutlich sein Gesicht sehen.
Es ist bleich und ernst, und die Augen schauen bewegungslos
in das Dunkel, das draußen ist.
Eine Ordonnanz geht zur Feldküche und holt Kaffee.
Alarm Nummer drei, verrät er dem Küchenkorporal und
dem Koch. Sofortiges Abrücken Ln die vorgeschobenen Be-
reitschaftsräume.
Der Koch wirft noch ein paar Hände voll Kaffeesatz in den
Kessel, der Trunk darf heute ein bißchen stärker werden. Der
Kompagniefeldwebel schickt einen Läufer: sofort nach der
Kaffeeausgabe einen zweiten Kessel kochen zum Füllen der
Feldflaschen.
„Als ob wir das nicht wüßten," murmelt der Korporal.
Trommelfeuer . . . pausenlos, dumpf, gewaltig.
Der Adjutant macht eine mühsame Bewegung und erhebt
sich. Er ist ein baumlanger Mensch. Er fährt sich mit dem
rechten Unterarm über die Stirn und streicht seine schwarzen
Haare nach hinten.
Die Meldegänger kehren von den Compagnien zurück und
melden Ausführung ihrer Befehle. Dann sitzen sie alle um
einen Tisch aus zwei ungehobelten Brettern, trinken Kaffee
aus dem Rochgeschirrdeckel, schneiden sich Brot in große
Stücke und schieben die Würfel langsam und nacheinander
zwischen die Zähne.
Dann kommt der Kommandeur und alles erhebt sich. Er
dankt und nimmt den Stahlhelm ab. Er spricht mit dem
Adjutanten. Dann füllt er behutsam seine Zigarrentasche aus
einer Riste, die in der Tischschublade liegt. Zehn Stück
wandern in das Etui. Nummer elf und zwölf, für den Vor-
marsch bestimmt, steckt er Ln die äußere Lrusttasche seiner
Bluse.
Die Rompagnieführer kommen, um zu melden. An der
Rüche klappern die Kochgeschirre.
Das Regiment fragt, ob das Bataillon abmarschbereit sei.
Es sollen am Ortsausgang noch Handgranaten empfangen
werden.
Der Ortskommandant schickt eine Ordonnanz mit einem
Schreiben, worin er die Bestrafung dreier Musketiere ver-
langt, die gestern vom Felde Rartoffeln gestohlen haben. Der
Vizefeldwebel zwinkert den Telephonisten zu, der Adjutant
lächelt ein wenig. Der Kommandeur brummt, daß man ihn
nicht zu dem Festessen eingeladen hat. Laut sagt er, Dieb-
stahl sei eine verwerfliche Sache und Diebesgut gedeihe nicht.
Der blaffe Schein am Himmel ist stärker geworden.
Das Trommelfeuer rollt und rollt und rollt. . .
Der Karte nach liegt man bei Vijfwegen südöstlich vom
Houthulster Wald, aus dem ein wildes Konzert deutscher
Batterien hervorschlägt. Der ganze Wald scheint verhext.
Man kann nicht weit sehen Ln dem scheußlichen Nebel, aber
bis zu den schattenhaften Umrissen der Mühle am Fünf-
wegekreuz reicht der Blick schon. Vor der Mühle hält der
Regimentsstab und wartet auf weitere Befehle. Die großen
ASL»
Flügel stehen seit langem still. Einer davon ist bis zum
Rumpf abgerissen von einer schweren Granate.
Die Kompagnien hocken in Grabenstücken. Hier läuft die
dritte deutsche Reservestellung durch die Mulden nach west-
roosebeke hinauf. Man kann das Dorf nicht sehen, aber der
Höllenlärm niederprasselnder Granaten, der durch den Nebel
von Süden heranbricht, verrät seine Lage.
was soll man machend Die einen setzen das unvollstän-
dige Frühstück fort und kramen umständlich ihr Brot aus
dem Brotbeutel. Andere schlafen noch ein bißchen, denn sie
haben robustere Gemüter, denen der gefräßige Gchlachtlärm
dort vorn nichts anhaben kann, wieder andere hocken auf
ihrem Tornister und dösen vor sich hin. Es ist ja auch kein
Platz und keine Stunde, um seines Lebens recht froh zu
werden.
Vor einer Stunde, den Vorkommandos der Eingreif-
division noch begegnend, sind die Bataillone des Gegenstoß-
regiments der vorn kämpfenden Division aus diesen Stel-
lungen hier aufgebrochen. Es ist acht Uhr morgens. Jetzt
werden sie schon mitten drin sein. Die nächsten sind wir.
Hinter uns warten andere. Hinter denen abermals andere,
die noch auf der Bahn sind. Hinter diesen noch andere, die
irgendwo in einem ruhigen Etappenort Stoßtrupp üben und
elastische Verteidigung nach dem neuen Rezept: vorn dünn
und hinten dick. Alle kommen an die Reihe.
Der Kommandeur zieht die erste Zigarre aus der Leder-
Lasche. Die beiden Vormarschzigarren sind verpafft. Er
berechnet im Stillen seine Tageseinteilung, die nach Zigarren
zählt, und zeigt ein besorgtes Gesicht. Die Trommelei dort
vorn und der frühe Einsatz der Stoßregimenter machen
durchaus nicht den Eindruck, als ob der Zigarrennachschub ge-
sichert sei.
Der Houthulster Wald wird immer verrückter. Es ist klar
daß die deutschen Batterien alle im Sperrfeuer liegen, seit
Stunden nun schon. Eine ganz große Sache ist also im
Gange, d i e große Sache.
Links neben der Bereitschaftsstellung krachen in regel-
mäßigen Abständen immer zwei Donnerschläge und ein
schwaches Leuchten bricht durch den Nebel. Dort steht ein
Mörserpaar, das vielleicht den Bahnhof von Rpern beschießt
oder die Kanalbrücke. Schattenhaft taucht eine Munitions-
)S7
kolonne auf, schwere wagen mit vier Pferden bespannt. Sie
fahren durch die Mulde und der Nebel frißt sie, wie er sie
von sich gegeben.
Es ist nun ganz deutlich zu vernehmen, wie über unsere
Köpfe hinweg ein ruheloses wandern schwerer Granaten
zieht, aus dem grollenden Gepolter vorn seinen Ursprung
nehmend und über uns hinweg seinen weg in die (Quartiere
der höheren Stäbe suchend. Abschuß und Einschlag gehen
unter im Lärm, und nur dieses hochgewölbte Einherwandern
ist zu erfassen.
was ist das jetzt) Die dumpfen Schläge der beiden Mör-
ser sind nicht mehr zu hören, ein rasselndes Zerkrachen schallt
unaufhörlich herüber, Helles Singen wie von gespannten
Gtahldrähten. Dunkelgeballte Schatten stehen im Nebel und
schwach leuchten rötliche Feuer. Im Galopp kommt die Mu-
nitionskolonne zurück. Die Fahrer schwingen die peitschen
über dampfenden Gäulen. Näher springen die dunklen
Schatten im Nebel, schärfer ist das heulende Gezisch, lauter
das Krachen und Splittern.
Man kann sehen, wie am linken Flügel des Bataillons alle
Gestalten im Graben verschwinden. Eine haushohe schwarze
Rauchsäule springt empor, zwanzig Meter vor dem Graben.
Ein Hagel von ELsenstücken fährt heulend durch die Luft,
trillernd hinterher der abgesplitterte Zünder.
Vier, fünf Kanoniere stürzen fassungslos herbei. Ihre
Gesichter sind schwarz verbrannt. Sie schreien und gestiku-
lieren mit den Händen. Der Ruf „Sanitäter" geht durch das
Bataillon.
Drüben in der Mörserstellung haust der hämmernde Tod.
Neue Artilleristen bringen zwei Schwerverwundete. Sie
hängen mit aschgrauen Gesichtern und geschlossenen Augen
in den Armen der Träger. Man schafft sie in den Graben,
die Sanitäter machen sich an die Arbeit. Der Bataillonsarzt
kommt hinzu. Sie geben keinen Laut von sich.
Aber es sind noch mehr in der Batteriestellung, noch viel
mehr.
Vier Artilleristen machen sich aus, gehen durch den Gra-
ben, warten am Ende eine weile. Dann verschwinden sie im
Nebel.
Ein Surren in der Lust, wie von riesigen Heuschrecken.
Köpfe fahren empor. Ein Schrei läuft von Kompagnie zu
ISS
Kompagnie. Schon spritzt ein wildes, Helles Geknatter von
oben herab. Zwei mächtige Schatten mit breiten Flügeln
wehen pfeilschnell hintereinander über die Gräben. Die bun-
ten Kokarden unter den Flügeln leuchten wie die Augen
glotzender Insekten. Fortgewischt frißt sie der Nebel, das
Surren fährt empor, verliert sich vier Sekunden lang, kehrt
zurück aus einer steil gebäumten Kurve und abermals weht
zwiefach das pfeifende Knattern über die Gräben.
An die Grabenwand gepreßt liegt alles. Stumm rauscht
zum drittenmal das riesige Vogelpaar durch den Nebel, vier-
zig Meter über dem Graben, wendet dann zur Windmühle,
streift in einer engen Spirale zwei-, dreimal um das Ge-
mäuer. Hundert Köpfe lugen über den Grabenrand. Nun
müssen sie den Reginrentsstab entdeckt haben.
Ein heilloses Geprassel schlägt auf die Erde nieder. Pferde
Laufen davon, Menschen liegen am Boden. Kettenbomben,
immer ein Dutzend.
Und jetzt Maschinengewehrfeuer. Bis auf zwanzig Meter
stoßen die grausamen Habichte nieder, streifen fast den Erd-
boden, erheben sich Ln tollen Kapriolen in die Luft, fahren
abermals nieder.
Dann sind sie auf einmal fort.
Sanitäter eilen zum Regimentsstab.
Und noch einer kommt. Schwarz taucht sein Umriß aus
dem Nebel, eine hohe Gestalt zu Pferde. Einsam trabt er
von der Straße heran, die nach westroosebeke führt. Hinter
ihm und um ihn das tolle Geprassel, das ihn nicht zu be-
rühren scheint.
Hundert Augen sind auf ihn gerichtet. Er reitet geraden-
wegs auf die Mühle zu und hält dort, Umschau haltend.
Vierzig Meter zur Rechten und sechzig zur Linken stehen
zwei schwarze Fontänen auf. Zwiefacher Donner erschüttert die
Luft. Geprassel klatscht gegen die Mühle. Ein Flügel löst
sich und bricht ächzend hernieder.
Das Pferd des einsamen Reiters versucht zu bäumen. Mit
eisernen Schenkeln zwingt er es nieder. Dann scheint er zu
entdecken, was er sucht.
Langsam reitet er auf den verwundeten Regimentskom-
mandeur zu und übergibt, sein Pferd mit der Kandare Ln
Haltung bringend, dem Adjutanten einen Briefumschlag.
Der Adjutant legt die Hand an die Mütze.
iSo
Der einsame Reiter wendet sein Pferd und trabt an»
Hinter der Mühle frißt ihn der Nebel . . .
Der Houthulster Wald dröhnt und klirrt. Die vier Ar-
tilleristen sind nicht mehr zurückgekehrt. Immer noch schlägt
das Feuer in die Batteriesteüung. Die Mühle tut einen
ächzenden Aufschrei. Gualm und Feuer springen aus ihrem
Gebälk. Rrachend zersplittern die beiden letzten Flügel.
Die Bataillonskommandeure werden zum Regiment ge-
rufen.
*
Langsam, in Rolonnen zu Einem, über die Trichter-
ränder hinweg, durch Reste zerrissener Gräben, die mit
Toten angefüllt sind.
Gellend pfeifen Maschinengewehrkugeln herüber, was
machts schon. Respekt verlangen nur die gewaltigen Ein-
schläge, die aus wassergefüllten Rratern ausspritzen. Dann
stockt die Rolonne. Manche werfen sich in die Trichter,
andere begnügen sich damit, eine Verbeugung zu machen.
Vorn ein grauer Vorhang aus Rauchschwaden. Es klirrt
und splittert darin, als würden Rnallerbsen unaufhörlich auf
einem Blechboden ausgeschüttet. Hin und wieder tanzen
Leuchtkugeln über den Schwaden. Jagdflieger fegen darüber,
heben sich, senken sich. Man vernimmt das Rnattern ihrer
Maschinengewehre nicht.
Es geht langsam bergab. Der Steenbeek kann nicht weit
sein. Die Trümmer von Poelkappelle sind schon passiert.
Irgendwo soll ein Betonklotz liegen mit der Gefechtsstelle
des B.T.R. (Bereitschafts-Truppen-Rommandeur). Es sind
viele solcher Rlötze da. Manche sind zerschmettert. In anderen
liegen eng zusammengepfercht zwanzig, dreißig Gchwerver-
wundete. Sie liegen ohne einen Laut von sich zu geben. Die
mächtigen Fontänen der Einschläge tanzen ringsum.
Eine Straße, oder der kümmerliche Rest einer Straße. Es
muß die Verbindung zwischen Langemarck und Zonnebeke
sein. Ob Langemarck in dieser Stunde noch in deutschem
Besitz, weiß kein Mensch. Links jedenfalls soll der Eng-
länder bis Grafenftafel und an den Rand von Zonnebeke ein-
gebrochen sein, eine herrliche Schweinerei.
Am zerwühlten Straßenrand hockt die Besatzung eines
Maschinengewehres. Sie starren in den Schwaden dort
vorn im Grunde des SLeenbeek und halten ihr Gewehr schuß-
bereit. Es sind Scharfschützen, zum Schutz der Artillerie ein-
gesetzt. Solange das englische Sperrfeuer noch vor ihnen
liegt, müssen sie abwarten, wenn aber das hundertfache
Zischen erst über ihre Röpfe dahinfährt, und der Schwaden
da vorn lebendig wird von khakibraunen Gestalten, dann
gibt es Arbeit.
Von Trichter zu Trichter springend kommen zwei Melder
von vorn zurück. Der Rommandeur spricht sie an und fragt
nach der Lage.
„ . . " antworten sie und lachen. Ihre Gesichter sind
schwarz und von Dreck beschmiert. Schweiß läuft Ln Hellen
Streifen über ihre Stirn. Ihre Augen flackern und ihre Be-
wegungen verraten eine heiße innere Spannung. Sie kom-
men aus dem Sperrfeuer. Sie zeigen mit der Hand die
Richtung zum B.T.R., bezweifeln aber, ob der Letonklotz
noch in deutscher Hand. Vielleicht. Jedenfalls ist vorwärts
davon bis nach pilckem und zur Struyveferme alles ver-
loren. Der alte Gefechtsstand des L.T.R. ist Ln die Luft ge-
flogen, zS-Zentimeter-Granate. Sie müssen zum Regiment
nach Poelkappelle.
Der Kommandeur brummt etwas. Dann zieht er umständ-
lich seine Zigarrentasche hervor. Jeder der beiden erhält
einen Glimmstengel. Das will allerhand besagen. Der „Alte"
nickt. Die beiden strahlen und machen sich davon, in langen
Sprüngen über das Trichterfeld setzend.
Die Compagnien gehen jetzt gefechtsmäßig ausgebreitet
vor. Es ist wahnsinnig schwer, den Zusammenhalt zu wahren.
Aber schließlich weiß jeder Rompagnieführer Bescheid, und
man kann sich nicht verlaufen, wenn man nur auf den
Schwaden dort vorn zuhält.
Ein wenig lichtet sich der Nebel. Es sieht aus, als ob es
regnen wolle. Zwei Leichtverwundete kommen mit einem
englischen Gefangenen zurück. Er geht Ln der Mitte, an
jedem Arme hängt ein Deutscher. Es ist kein Spaziergang,
den sie zu machen haben.
Es scheint, daß der zuckende Vorhang des Sperrfeuers nun
vorwärts schreitet und näher kommt. Elf Uhr zeigt das
Zifferblatt. Sonderbar, wie rasch die Zeit vergangen ist»
Es ist kaum zu begreifen.
19-
Ganz plötzlich steht man vor dem Betonklotz des B.T.K.,
-sin viereckiger, grauer Rasten, zur Hälfte im Erdboden, zur
Hälfte über das braune Trichterfeld aufragend. Seine Decke
trägt die Spuren zahlreicher Einschläge. Der Eingang halb
zugeworfen.
Eine stickige Luft drinnen, Gestank von zusammengepferch-
ten, verschweißten Menschen, Rarbol, Pulver, Tabak. Das
ganze Ding wackelt unter dem Rrach der schweren Einschläge
ringsum wie ein Boot. Der dumpfe Druck betäubt einen
fast. Eine Rerze brennt traurig. Der Raum drei Meter
lang, zwei Meter breit. Zwanzig Menschen drinnen, davon
zehn schwerverwundet. Und andere zehn wollen von draußen
herein. Und alle paar Minuten bringen sie neue Verwun-
dete. Und draußen rast der Hagel des Sperrfeuers, die Ma-
schinengewehrgarben pfeifen über die Trichterränder.
Schützenlinien kommen auseinandergestreut vom Steenbeek-
grund zurück. Schon vernimmt man die Paukenschläge der
Handgranaten, das Geschrei der Maschinengewehrführer, die
ihre Gewehre neben dem B.T.R. in Stellung bringen.
Die Verwundeten jammern.
Der abzulösende Kommandeur versucht so etwas wie eine
regelrechte Stellungsübergabe zu machen. Aber es ist ja Un-
sinn. Jede Minute können die Tommys erscheinen.
In der Ecke steht eine pulle Pflaumenschnaps.
„Für bessere Zeiten!" schreit der abzulösende Kommandeur
und zeigt auf die Flasche.
„Danke!" schreit der neue und bietet dem anderen um-
ständlich eine Zigarre an.
Dann verschwindet, was von dem früheren L.T.K. noch
über Beine verfügt.
Sie kommen nicht weit. Vom Eingang des Betonklotzes
kann man sehen, wie eine Granate mitten unter sie schlägt
und den ganzen Trupp zu Boden wirft. Die Sanitäter, die
eilig hinlaufen, finden den Kommandeur mit einem schweren
Lungenschuß. Die übrigen fünf Mann tot. Sie liegen in
einem Knäuel durcheinander.
Man schleppt den Verwundeten in den Betonklotz zurück.
Die Maschinengewehre neben dem Gefechtsstand feuern sich
schon die Läufe heiß. Mit kalkweißem Gesicht sitzt er dann
an der wand und läßt sich den Rock öffnen. Ein Röcheln
dringt aus seiner Brust.
Der neue Kommandeur greift nach dem Pflaumenschnaps.
Der Adjutant öffnet die Flasche. Aus einem Trinkbecher tut
der Verwundete einen kräftigen Schluck und lächelt ein
wenig.
Dann tastet er mit zitternder Hand nach der Zigarre in
seiner Brusttasche. Sie ist zerrissen und verbrannt. Der Gra-
natsplitter ist mitten durch sie hindurchgefahren . . .
Selbst den ältesten Frontsoldaten vergeht das Lachen,
wahrhaftig, man kann immer noch hinzulernen.
Den Betonklotz überläßt man den Verwundeten, was le-
bendig ist, wird jetzt draußen gebraucht.
Es ist eine scheußliche Schwüle. Die meisten Leute haben
den Kragen geöffnet. Sie liegen rechts und links vom
Bunker in den Trichtern, die Gewehre vor sich, und feuern
Ln den brodelnden Schwaden, der vor ihnen ist.
weiter rechts — es muß dicht bei Langemarck sein —
gehen die Tommys in mehreren Kolonnen zu Einem durch
das Trichterfeld vor. Sie sind schon weit über den Beton-
klotz hinausgelangt. Von Gegenwehr ist nichts zu merken.
Sie halten an, richten Maschinengewehrnester ein und be-
ginnen mit ihren Lewisgewehren die Trichterkämme abzu-
streichen.
Im Vordergrund tanzen die weißen Wölkchen der Hand-
granaten mit den grauen Fahnen der Drisanzgeschoffe um die
wette. Hin und wieder flitzt eine Handvoll Khakigestalten
einige zwanzig Meter weit vor. Man sieht, wie die Ge-
schoßgarben der Maschinengewehre über sie herfallen und wie
sie im Erdboden verschwinden. Aber es kommen immer neue
heran.
Kein Wort ist zu verstehen, kein Rufen und Schreien
dringt durch den Höllenlärm. Mit wilden Armbewegungen
verständigt man sich.
Der Einschlag einer mächtigen Granate schmeißt ein paar
Zentner Dreck auf eines der beiden Maschinengewehre neben
dem Bunker. Sich schüttelnd springen drei Mann aus. Die
Tommys vorn wittern sofort die Sache und werden dreister.
Das Trichterfeld füllt sich zusehends.
13 Beumelburg, Flandern
193
Das zweite Gewehr hat Ladehemmung. Mit einem Fluch
springt der Gewehrführer auf und ballt die Fäuste nach den
Tommys hinüber.
Nun fährt von rechts ein scharfes Rnattern heran. Die
Engländer bei Langemarck versuchen zu flankieren, wenn
man doch nur die Artillerie benachrichtigen könnte! Der Ad-
jutant stößt den Artillerieverbindungsoffizier Ln die Seite und
streckt den Arm nach rechts. Der Artillerist zuckt die Achseln
und feuert weiter aus dem Infanteriegewehr, das er einem
Toten abgenommen, was ist zu machen) Man kann nichts
als schießen, schießen, schießen.
Solange noch Munition da ist.
Ein Gefreiter springt auf und schreit nach Patronen, wild
sieht er um sich, das Gewehr Ln beiden Fäusten. Drei
Mann sammeln, von Trichter zu Trichter kriechend, die Pa-
tronen aus den Taschen der Gefallenen und Verwundeten, die
mit stieren Gesichtern auf den Ausgang dieses Rampfes war-
ten. Helfen kann ihnen jetzt niemand. Der Lunker ist
proppenvoll, sie liegen schon übereinander.
Gott sei Dank, das Maschinengewehr feuert wieder.
Der Lärm des Artilleriefeuers ist unvermindert. Rurz-
schüffe der deutschen Artillerie mehren sich.
Hallo . . . nun kann's losgehen!
Der Gefreite zeigt wild lachend nach links. Ein Trupp
von etwa fünfzehn Gestalten setzt über die Trichter und
stürzt auf den Lunker zu. Zwei Sekunden der Lähmung.
Dann ein schriller Schrei. Gewehrläufe fahren herum,
zuckende Hände greifen nach Handgranaten. Leichenblaß steht
ein kleiner Rerl auf und schnallt zitternd sein Roppel ab»
Ein Rippenstoß trifft ihn, daß er zusammenbricht. Der Ad-
jutant steht vor ihm, seine Zähne sind gefletscht vor Wut.
Noch ein Schrei. Der Gefreite schwenkt wie verrückt die
Arme. Auf einmal hält er für eine Sekunde ein, dreht sich
dann um und klatscht schwer Ln den Trichter.
Nun sind die von links fast heran.
Das Maschinengewehr hat abermals Ladehemmung. Aus»
Eiskalt läuft es über den Rücken.
was ist das)
Rund gewölbte Stahlhelme . . . feldgraue Uniformen . . »
194
Der Adjutant hebt beide Arme hoch. Gerade beginnt das
Maschinengewehr wieder zu feuern. Zwei Schuß . . . dann
verstummt es jäh.
Sie sind heran. Alles springt auf. Man liegt sich in den
Armen. Man lacht, man weint. Ein entsetzlicher Druck
weicht und macht einer wilden Rampfgier Platz. Vierzehn
Mann, vierzehn Gewehre. . . Rest des Stellungs-
bataillons, zwei Offiziere, ein paar Ordonnanzen, ein Vize-
feldwebel, zwei Pioniere, ein Sanitätsgefreiter. Und ein
leichtes Maschinengewehr!
Aber keine Munition, nicht einen einzigen Schuß . . .
Eben haut ein schwerer Einschlag auf den Betonklotz, der
sich in grauen Dunst hüllt. Markerschütterndes Gebrüll aus
dem Innern. Der Rauch verzieht sich. Eine Ecke der
Deckenwand ist aufgerissen. Vier oder fünf Verwundete
kriechen auf allen Vieren aus dem Eingang . . .
Bei den Tommys drüben ist ein Geschrei. Sie sind so
dicht heran, daß man schon ihre Gesichter erkennt.
Munition! Munition!
Vier Läufer sind unterwegs, um Patronen herbeizu-
schleppen. Rein Mensch weiß, ob sie zurückkehren werden.
Man wird sich mit Zähnen und Nägeln verteidigen, ja, das
wird man! Heute ist alles möglich, es liegt so in der Luft,
es ist wie ein Blutrausch.
Unten am Steenbeek bauen die Tommys schon Laufstege.
Maulesel schleppen Maschinengewehre herbei und Patronen-
gurte in Hülle und Fülle. Man kann keinen Schuß aus sie
abfeuern, man braucht jede Rugel für die Röpfe, die vierzig
Meter entfernt aus den Trichtern auftauchen.
Herr Gott, laß Abend werden!
Es regnet leise.
Auf die englischen Jagdflieger, die immer wieder herab-
stoßen, achtet schon kein Mensch mehr.
Ob denn weiter rückwärts keiner ahnt, was hier los ist;
Ob denn kein deutscher Infanterieflieger . . .
Rechts bei Langemarck ist ein deutscher Gegenangriff im
Gange. Man kann alles deutlich mit bloßem Auge verfolgen.
Deutsche Stoßtrupps gehen vor. Aber ein rasendes Sperr-
feuer legt sich sofort vor ihre Nase. Englische Flieger stür-
zen darauf zu. Ein Rnattern, prasseln, Zucken und Lärmen
195
ist dort drüben, daß einem Hören und Sehen vergeht, wie
man das Feld nach zehn Minuten wieder überschauen kann,
ist von den deutschen Stoßtrupps nichts mehr zu sehen, gar
nichts. Die Tommys tragen ihre Lewisgewehre unbelästigt
weiter vor. Sie sind nun schon weit im Rücken der paar
Menschen hier bei dem Bunker.
Der Herrgott denkt nicht daran, Abend werden zu lassen.
Links bei Sankt Julien gehen englische Tanks vor. Sie
kommen aus den Dorftrümmern und kriechen wie mächtige
schwarze Raser über das Feld. Drei, vier, sechs Schützen-
linien tauchen hinter ihnen auf. Alles geht wie am Schnür-
chen. Von Gegenwehr ist nichts zu merken. Das deutsche
Artilleriefeuer liegt viel zu weit vorn. Es braucht nur eines
von diesen Biestern nach links zu schwenken, um hier alles zu
erledigen. Mit Fäusten und Fußtritten kann man sich nicht
gegen sie verteidigen.
wenn schon . . . irgend etwas muß ja geschehen. Ein
Wunder vielleicht.
Es ist wie auf einer Insel, einer sehr sonderbaren Insel.
Aber da man nun einmal darauf ist, so ist nichts dagegen
zu machen.
Der Lärm der Schlacht ist nicht um einen Deut schwächer
geworden.
Ein großartiges Sterbegeläute, eine wundervolle Toten-
messe.
Nun bricht unter einem furchtbaren Rrach, der alles über-
tönt, der Betonklotz ein. Ein Flamme schießt hoch. (Qualm
verzieht sich. Schwarze Trümmer rauchen. Dreißig Se-
kunden lang klatschen Dreck und Zementstücke nieder. Da-
zwischen ein grauenhaftes Gemisch aus Menschenfleisch und
blutigen Uniformfetzen.
Ausgelitten, alle miteinander, ohne Ausnahme, an fünf-
undzwanzig Verwundete . . .
» Ä?
warum greifen sie nicht anz was hält sie noch ab- Ob
sie vielleicht denken, wir feuern nur deshalb nicht mehr, weil
wir uns unsere Patronen bis zum letzten aufbewahren wollen-
wenn sie nur recht hätten! Für jede Patrone gäben wir
einen Tag unseres Lebens, für jede Handgranate eine Woche!
196
Aber wir wissen ja, warum sie noch zögern. Ihre Flieger
haben unsere Stellung genau aufgezeichnet und übermitteln
ihre Feststellung nach rückwärts. Nicht lange, und das fürch-
terliche Sperrfeuer, das jetzt noch ein paar hundert Meter
hinter uns liegt, wird einen grausamen Sprung nach rück-
wärts tun.
Die Tanks drüben bei Sankt Julien fahren kreuz und
quer durch das Trichterfeld, riesige Igel, die nach Mäusen
suchen.
Vorwärts Langemarck, am Steenbeek, baut sich eine eng-
lische Batterie auf. Dahinter steht abgesessene Kavallerie
. . . weiß Gott, es ist kein schlechter Witz . . . regelrechte
Kavallerie!
Und wir müssen das alles mit ansehen, als habe man uns
zwanzig Minuten vor unserer Hinrichtung noch eine groß-
artige Revue zugedacht, freundschaftliche Ermunterung für
den Sprung ins Jenseits.
Nach dem schwarz geschossenen Bunker darf man über-
haupt nicht hinsehen. Es könnte einem übel werden bei
dem Anblick.
*
Als am nächsten Morgen der Gegenstoß die deutschen
Truppen wieder bis an den Steenbeek heranführte und
Langemarck befreite, fand man neben dem verbrannten
Bunker ein erschütterndes Bild.
Freund und Feind lag durcheinander in den Stellungen, in
denen der Tod sie überrascht. Alles deutete auf einen wilden
Nahkampf hin, der stellenweise mit Nägeln und Zähnen
geführt war. Hier und da befanden sich die Gegner in
körperlicher Umschlingung, die Waffe noch in der Hand.
Die meisten toten Tommys lagen rings um den baum-
langen Adjutanten, dem der Stich eines Seitengewehrs Ln
die Brust gedrungen. Mit beiden Händen hatte er, den Tod
im Herzen und endlich der Kampfgier entsagend, in den
Stahl gegriffen, der ihm das Ende gegeben. Sein Leichnam
verharrte knieend, rückwärts an den Trichterrand gelehnt.
Schwarz hingen die Haarsträhnen Ln sein bleiches Gesicht,
das er weit zurückgebeugt. Sein erstarrter Blick war auf
den Gegner gerichtet, der mit zerschossener Stirn über ihm lag.
197
Der Rommandeur lag auf dem Gesicht. Ein Rolbenschlag
hatte ihm den Schädel zerschmettert. Neben ihm fand man
den Stummel einer zu dreiviertel gerauchten Zigarre.
Außerdem fand man im Dreck eine Meldekarte, auf der
folgendes geschrieben war: „B.T.R. ... Inf.-Div., Soo Meter
südlich Langemarck, 6.30 nachmittags. Feindliche Infanterie
rechts über Straße Langemarck—Zonnebeke vorgedrungen.
Links feindliche Tanks an Straße Sankt Julien—Poel-
kapelle bei Straßenkreuz )roo Meter nördlich Sankt Julien.
Vor uns baut Engländer Laufstege über Steenbeek. Neuer
Angriff jederzeit zu erwarten. Eigenes Sperrfeuer liegt
hinter uns! Munition verschossen . .
Doodemolen
Irgendwo Ln dem zertrümmerten Trichterfeld zwischen dem
Hanebeek und dem paddebeek. Die Dorftrümmer zur Linken
im Grunde müssen wohl Zonnebeke sein, weiter rückwärts
auf mählich ansteigender Höhe passchendaele.
Die Nacht ist ein wenig ruhiger gewesen als sonst. Nur
zweimal ist Sperrfeuer angefordert worden, einmal abends
um )) Uhr drüben am Nonnebosschen und dem Polygon-
wald, einmal nachts um 3 Uhr zur Rechten vor Sankt Julien
und im Steenbeekgrund.
Gegen Morgen ist Ablösung gewesen. Das Bereitschafts-
bataillon hat die Vorfeldzone besetzt, das Stellungsbataillon
rückt nach passchendaele als Regimentsreserve, das Reserve-
bataillon aus passchendaele ist in den Bereitschaftsraum vor-
gezogen worden. Der Bereitschaftsraum ist zwischen Grafen-
stafel und Nieuwmolen, hart an der Bahnlinie.
Die Befehlsstelle des Rampftruppenkommandeurs, des
R.T.R., ist bei Doodemolen.
was heißt Doodemolen) Eine Mühle soll hier gestanden
haben) Es ist nichts davon zu sehen. Vielleicht früher ein-
mal, vor hundert Jahren) wer hat ihr den Namen Toten-
mühle gegeben) warum ist sie verschwunden, so daß nicht
einmal ein Sockel von ihr zu finden ist wie bei ihren übrigen
Schwestern im flandrischen Trichterfeld, bei Wallemolen,
Nieuwmolen, Grotemolen und Rleinmolen)
Seit 4 Uhr morgens, nach vollzogener Ablösung, wird im
1T.R. geschlafen.
Nur der Leuchtkugelposten steht draußen neben dem Ein-
gang und späht über die Trichter und das unruhige Feld,
aus dem hin und wieder die feurigen Bündel der Einschläge
aufzucken. Ab und zu rattert ein Maschinengewehr aus der
109
Finsternis des Vorfeldes eine Serie von zwanzig Schüssen,
ein anderes antwortet. Weiße Leuchtkugeln erhellen mit
flackerndem Licht den Raum, wo sich die Gegner, durch kein
Hindernis voneinander geschützt, auf hundert Meter Ent-
fernung in ihren Trichter gegenüberliegen.
Die Melder der Kompagnien kommen, um die erfolgte
Übernahme der Vorfeldzone zu melden. Sie werden vom
Adjutanten abgefertigt und kehren sofort nach vorn zurück.
Denn es will schon Morgen werden über den hochgelegenen
Trümmern von passchendaele. In der nächsten Nacht wird
man sich wiedersehen, wenn alles gut geht. Bei Doodemolen.
Dann verschwinden sie lautlos in den Trichtern vor dem
Betonklotz.
Um S Uhr wird der Leuchtkugelposten abgelöst. Es ist
nun schon taghell. Der Abgelöste übergibt die Pistole und
die Leuchtpatronen, macht seinen Kameraden, der noch ein
wenig verschlafen ist, auf das stärkere Feuer aufmerksam,
das nun links am V?onnebosschen kleine Wölkchen auswirft,
und verschwindet im Bunker.
Der neue Posten hockt am Trichterrand, ohne sich zu
bewegen und schaut nach vorn.
über Nieuwmolen steht schon die Sonne. Sie glitzert auf
seinem Stahlhelm und auf dem Griff der Pistole. Es wird
ein erstickend heißer Tag heute werden.
Nach einer halben Stunde klettert aus dem Bunker ein
Mann, der die Morgenmeldung zum Regiment nach pas-
schendaele bringen muß. Er rückt den Stahlhelm zurecht, das
Koppel, den Gasmaskenriemen und saßt seinen derben Knoten-
stock fester an. Er sieht rechts und links, dann nach oben,
wo schon ein paar morgendliche Leobachtungsflieger an der
Arbeit sind.
Der Leuchtkugelposten hockt am Trichterrand, ohne sich
umzusehen.
„Heiß wirds heute. Hast Du noch eine Zigarette;"
Der Leuchtkugelposten zieht sein Etui und gibt dem Kame-
raden einen Glimmstengel. Das Etui stammt von ihr, ein
Geschenk zum letzten Weihnachten. Er steckt es wieder ein
und schaut unentwegt nach vorn.
roo
Beim Nonnebosschen scheint tatsächlich ein Angriff im
Gange zu sein. Die Engländer schießen Sperrfeuer. Sonst
ists überall ruhig, was man hier so ruhig nennt.
Der Melder hat die Zigarette Ln Brand gesetzt, macht
zwei tiefe Züge durch die Lunge, spuckt einmal aus und
verschwindet in den Trichtern hinter dem Bunker. In der
Nacht wird er zurückkehren, wenn alles gut geht. Nach
Doodemolen.
Nach abermals einer halben Stunde kriecht eine neue
Gestalt aus dem Bunkerloch. Er hat einen Spaten in der
Hand und einen Sandsack. Gähnend hält er die Hand vor
den Mund und streckt dann die Glieder.
„Verdammte . . ." murmelt er.
Der Leuchtkugelposten regt sich nicht.
Der Sperrfeuerlärm am Nonnebosschen ist eingeschlafen.
Der Engländer bearbeitet den Busch in regelmäßigen Pausen
mit einigen schweren Granaten. Haushoch spritzt der schwarze
Dreck Ln die Höhe.
Der Mann mit dem Spaten und dem Sandsack geht an
die Arbeit. Er lockert mit dem Spaten den Fußpfad, den
im Laufe der Nacht die Leute vom K.T.K., die Melder, die
zurückgehenden und die ablösenden Kompagnien in der Nähe
des Bunkers und bis zu seinem Eingang getreten haben.
Rückwärts auf den Knien kriechend fährt er mit dem Santz-
sack über die gelockerte Erde, um alle Spuren zu verwischen,
und um den Fußpfad der braunen Farbe des Trichterfeldes
gleich zu machen. Dann verschwindet er im Bunker.
Der Leuchtkugelposten hockt unbewegt am Trichterrand
und schaut nach vorn.
Seit mehr als einer Stunde überquert mit ruhigem,
sonorem Propellergeräusch ein englischer Beobachtungsfiieger
den Abschnitt der Vorfeldzone. Hin und her, hin und her.
Man könnte meinen, er täte es zu seinem Vergnügen, und
es ist eigentlich verwunderlich, daß es ihm nicht zu lang-
weilig wird.
Ein Mann steckt den Kopf aus dem Bunker.
roz
„was willst Dm" fragt der Leuchtkugelposten, ohne seine
Stellung zu verändern.
Der Mann schaut den Posten an. Der Posten wendet den
Ropf. Er sieht in ein blutjunges Gesicht, kaum der leiseste
Bartflaum ist um das Rinn. Der Posten, ein alter Front-
soldat von Verdun und der Somme, lächelt ein wenig, väter-
lich halb und traurig. Der junge Ramerad ist noch nicht
lange bei der Rompagnie. Aus dem Elternhaus direkt Ln die
Flandernschlacht! Seine Augen sind groß und fast flehend
auf den Posten gerichtet. Er will ja weiter gar nichts, nur
ein wenig in der Sonne sitzen, aus dem dunklen, feuchten
Loch voll Schweiß, Enge und Tabak heraus. Er sieht den
Posten an, als erwarte er sein Todesurteil.
Der Posten weist mit der Hand auf den Flieger, ohne ein
Wort zu sprechen. Der kleine Rerl seufzt und verschwindet
im Bunker.
Hoch über dem Leobachtungsflieger kreisen zu seinem
Schutz drei glitzernde GopwLth-Iagdeinsitzer.
Es ist neun Uhr. Der Tag beginnt glühend heiß zu
werden. Seit langem der erste wolkenlose Himmel.
Es scheint, als ob es die Sonne und die Hitze Freund und
Feind gleichermaßen antue. Mit Ausnahme einiger Feuer-
überfälle, die abwechselnd auf passchendaele, auf die Kreuzung
der Bahn mit der Straße nordwärts Broodseinde, auf
Sankt Julien und Zonnebeke niederprasseln, bleibt es ziemlich
ruhig. Geradezu auffallend ruhig. So ruhig, wie es sich für
die Flandernschlacht keineswegs schickt.
Der englische Beobachtungsflieger ist nun seit mehr als
zwei Stunden an der Arbeit. Hin und her, hin und her,
von Sankt Julien nach Zonnebeke, von Zonnebeke nach
Sankt Julien. Ununterbrochen tönt sein Surren.
Das Trichterfeld ist völlig ausgestorben. Zur Linken, wo
aus einer Erdwelle ehemals die Rapelle von Grafenstafel
gestanden, sieht man allerdings die grauen Tupfen einiger
deutscher Uniformen. Aber das hat nichts zu bedeuten. Es
sind Tote, die schon seit einer Woche dort liegen. Es kann
auch noch länger her sein.
Lor
Der Leuchtkugelposten entsinnt sich genau, wie es damals
zuging. Ein Feuerüberfall schlug auf Grafenstafel nieder.
Fünf graue Gestalten sprangen aus einem Bunker, dessen
Eingang vielleicht eingestürzt, und versuchten Ln rasender
Flucht über die Trichter nach hier hinüber zu gelangen. Sie
hatten des Fliegers nicht geachtet, der beobachtend über
Grafenstafel gestreift. Er unterbrach sein Geschäft nur für
drei Minuten und spie aus sechzig Meter Höhe vielleicht
hundert Maschinengewehrkugeln Ln den Rücken der Laufen-
den. Dann war alles erledigt. Bei Doodemolen . . .
Am Nonnebosschen liegt abermals Sperrfeuer. Auch
Maschinengewehre knattern gedämpft und abgerissen. Weiße
Wölkchen in den Trichtern verraten Handgranaten. Man
muß wohl darauf achten. Sobald Sperrfeuerzeichen hoch-
flattern, muß dem Adjutanten Meldung gemacht werden.
Vor vier Tagen, beim letzten Einsatz im Vorfeld ging es
auch so im Handumdrehen los. Damals nahm es seinen
Anfang bei Sankt Julien. Mitten aus dem gewöhnlichen
Artilleriefeuer heraus, mittags um zwölf Uhr, zu einer ganz
ungewohnten Zeit, sprang eine einzelne rote Leuchtkugel hoch.
Ehe man bis drei zählen konnte, waren es ihrer nach rechts
und links schon zehn, dann dreißig, dann hundert. Ein
irrsinniger Feuerhagel brach los. Schon knatterten die Ma-
schinengewehre, die Handgranaten brüllten, das Sperrfeuer
rollte.
Fünf Minuten später waren sie schon hier vor dem R.T.R.
Es gab einen wilden Tag bei Doodemolen. Erst am Spät-
nachmittag gelang es dem Bereitschaftsbataillon, das Vor-
feld bis zum Hanebeek wieder zu nehmen.
Jawohl, vier Tage ist es her. Seitdem liegen die Leichen
der Tommys dreißig Meter vor dem Bunker. Man kann
sie von hier aus nicht sehen. Aber den Meldegängern, die
von vorn kommen, wo die Compagnien in waffergefüllten
Trichtern liegen und sich mit Zeltbahnen gegen Flieger und
Regen schützen, den Meldegängern dienen sie als unentbehr-
liches Richtungsmittel, um Doodemolen nicht zu verfehlen...
Der Leuchtkugelposten runzelt die Stirn. Es gefällt ihm
nicht, was er sieht.
Er weiß wohl, daß von neun bis zehn Uhr morgens, wenn
nicht gerade Großkampftag ist, sogenannte Sanitätspause
roz
besteht, während derer niemand auf die Verwundeten schießt,
die in langen Reihen die vordere Stellungszone verlassen.
Es ist ein stilles übereinkommen, das selbst der krassesten
Form des Krieges, die hier betrieben wird, noch einen
Schimmer von Barmherzigkeit verleiht.
Aber es behagt seinem Instinkt nicht, daß die Reihe
humpelnder Gestalten, die aus dem Hanebeekgrund steigt,
ihre Richtung genau dorthin nimmt, wo etwa hundert Meter
zur Linken des R.T.R. sich der nächste Nachbarbunker be-
findet. Gewiß, in dem Bunker ist neben einem vorgeschobenen
Teil des Bereitschaftsbataillons auch der Bataillonsarzt
untergebracht, und viele Verwundete werden eine eilige
Behandlung nötig haben . . .
Der Posten flucht leise durch die Zähne.
Tatsächlich hält der Verwundetentrupp direkt an dem
Bunker. Man sieht, wie sich die Gestalten in den Trichtern
niederlassen.
Der englische Leobachtungsflieger überquert zum aber-
hundertsten Male die Stellung. Es ist ihm nicht anzumerken,
ob ihm die Versammlung von Menschen dort drüben auffällt.
Schließlich weiß er ja auch, daß Sanitäterpause ist. Er fliegt
darüber hinweg und kehrt erst über Zonnebeke wieder um.
Der Leuchtkugelposten ballt die Faust.
Heuchler, denkt er, natürlich hast du alles beobachtet, wer
kann denn die Funkwellen sehen, mit denen du den schweren
Batterien, die mit dir verbunden sind, haargenau die Stelle
angibst, wo du einen Bunker vermutest- wozu treibst du
dich denn seit zweieinhalb Stunden hier herum- Du wartest
doch nur auf solche Gelegenheit, wir werden ja sehen, wenn
die Uhr zehn schlägt. . .
Vier Leichtverwundete kommen von vorn direkt auf den
R.T.R. zu. Als sie noch zwanzig Meter entfernt sind, richtet
der Posten sich aus.
„Achtung!" ruft er, „weitergehen, nicht hierherkommen —
Flieger!"
Die Verwundeten heben die Röpse. Sie sagen nichts und
sie halten auch nicht ein.
„Wasser", keucht einer von ihnen, als sie näher heran sind.
„Rann nicht in den Bunker", antwortet der Posten und
schüttelt den Ropf. Der Flieger ist gerade über ihnen.
„Schäm Dich", sagt ein anderer.
„Es sind zwanzig Menschen unten", sagt der Posten.
„So laß uns warten."
„Unmöglich. Der Flieger tut ja nichts anderes als das
Verhalten der Verwundeten zu beobachten, um die Bunker
zu finden."
„Er denkt nicht daran."
„wir müffens ausfressen. Ihr seid dann hinten."
„So gib uns eine Zigarette."
Der Posten gibt jedem eine Zigarette aus seinem Etui.
Sie bedanken sich und keuchen weiter durch die Trichter.
Einer von ihnen ist so schwach vom Blutverlust, daß er sich
kaum noch auf den Beinen halten kann. Ob er noch bis zur
Verwundetensammelstelle in passchendaele aushalten wird;
Der Posten sieht ihnen nach, wie sie davonhumpeln, wenn
sie Glück haben, sind sie morgen im Lazarettzug und in zwei
Tagen daheim. Daheim — wie das klingt!
wenn sie Pech haben, laufen sie noch diesseits passchen-
daele in einen Feuerttberfall. Denn die Sanitätspause gilt
nur hier vorn. Dann ist es nichts mit daheim, und sie
sterben, das Gesicht auf Doodemolen gerichtet.
Nun sind sie fort.
Der Posten wendet den Blick nach links. Auch der Trupp,
der vor dem Sanitätsbunker gelegen, ist nun aufgebrochen.
Sie beeilen sich, denn es geht schon auf zehn.
Dann beobachtet er wieder das Sperrfeuer am Nonne-
bosschen, das abermals im Begriffe ist einzuschlafen.
Er sitzt regungslos am Rand des Trichters und man könnte
ihn für einen Toten halten.
Der Deobachtungsflieger surrt Ln fünfzig Meter Höhe
von Sankt Julien nach Zonnebeke, von Zonnebeke nach
Sankt Julien.
Die drei Einsitzer sind hoch über ihm und üben sich in
allen möglichen Kunststücken. Sie spielen miteinander wie
junge Ratzen. Die Sonne glitzert auf ihren Metallrümpfen.
Um zehn Uhr wird der Leuchtkugelposten abgelöst. Sein
Nachfolger ist jener junge Musketier, der vor einer Stunde
aus dem Bunker geschaut.
ro5
Der alte Posten erklärt ihm allerlei, zumal, was es mit
dem Flieger dort zu tun hat. Dann lächelt er auf einmal.
„Siehst du", sagt er und klopft dem kleinen Kerl auf die
Schulter, „nun kannst du auch in der Sonne sitzen".
Dann schaut er noch einmal nach dem Flieger, der gerade
über Sankt Julien ist, und verschwindet im Bunker.
Der neue Posten hockt sich zurecht.
Mit großen Augen betrachtet er das Gelände, das ihm
noch immer an jedem Morgen neu und unbekannt und fast
unwirklich erscheint.
Als er an Doodemolen denkt, überläuft ihn ein Schauer,
obwohl es schon eine scheußliche Hitze ist. Ach, die Sonne
ist gar nicht so, wie er sie sich vorgestellt hat.
Angefangen hat es Punkt zehn Uhr und fünfzehn Minuten»
Abschuß, Heranheulen und Einschlag folgen sich in ge-
dankenschneller Geschwindigkeit. Aber das scheint nur dem
Ohr so, denn die von jenseits Rpern herüberfliegende Granate
ist nur um ein weniges langsamer auf ihrem Flug als der
Schall. In Wirklichkeit braucht sie eine ganze Zeit lang für
ihre zwölf Kilometer lange Reise.
wie der erste schwarze Baum aus dem Trichterfeld links
des K.T.K. aufsteigt, kann noch niemand sagen, was damit
bezweckt ist und ob es einen Zusammenhang hat mit dem
Flieger, der unentwegt über dem Vorfeld surrt.
Aber schon als der zweite Baum sich erhebt, und der
Flieger seine gewohnte Strecke von Sankt Julien bis nach
Zonnebeke aufgibt und nun in ganz geringer Höhe über
Doodemolen Kreise zu ziehen beginnt, merkt man, daß hier
eine Verabredung vorliegt, und daß nun ein furchtbares
Schauspiel anheben wird.
Immer paarweise heult es heran und spritzt zwiefach senk-
recht in die Höhe, während ein dumpfes Krachen Lust und
Boden erschüttert.
Nach dem ersten halben Dutzend von Einschlägen kriecht
der Artillerieverbindungsoffizier aus dem Bunker und hockt
sich neben den Leuchtkugelposten. Er nimmt sein Glas vor
die Augen und schaut nach dem Nachbarbunker hinüber.
Er sieht nichts.
Der Flieger sieht auch nichts.
Es kommt nun darauf an, ob er die Geduld verliert, denn
er hat ja keinen anderen Anhalt für die Anwesenheit eines
Betonklotzes auf diesem Fleck als die Tatsache, daß er vor
einer Stunde dort eine Ansammlung von Verwundeten
beobachtet hat. wie leicht kann er sich getäuscht haben, wie
schwer ist es, im einförmigen Braun der Trichter die Stelle
wiederzufinden.
Das Gelände dort drüben ist schwarz von Rauch. Un-
unterbrochen krachen die Explosionen.
„Ich möchte jetzt nicht dort drüben sein", sagt der Leucht>
kugelposten.
Der Artillerist setzt das Glas ab und sieht in das junge
Gesicht.
Der Posten hat das Wort eigentlich nur so vor sich hin
gesprochen. Jetzt errötet er unter dem Blick des Artillerie-
offiziers.
Der Artilleriebeobachter sieht ihn einen Augenblick lang
an. Dann nickt er und setzt das Glas wieder vor die Augen»
„Ich schätze bisher etwa sechzig Schuß. Es sind wohl
zo-em-Granaten. wir könnten uns das nicht leisten", sagt
er dabei.
Nach einer weile hört das Feuer auf.
„Er kann nichts finden", sagt der junge Posten und atmet
erleichtert auf.
„Er wartet, bis sich der Dunst etwas verzogen hat, damit
er besser beobachten kann", antwortet der Artillerieoffizier.
während die schweren Granaten schweigen, vernimmt man
von rechts im Abschnitt Sankt Julien ein heftiges Feld-
artiüeriefeuer. Es klingt dünn und beinahe kümmerlich nach
den dumpfen, berstenden Einschlägen zur Linken.
„Achten Sie gut darauf", sagt der Beobachter, „bei Sankt
Julien ist heute dicke Luft. Man hat bei englischen Ge-
fangenen Befehle gefunden, daß die Engländer unbedingt
noch vor dem nächsten Großangriff über den Steenbeek hin-
über wollen."
„Zu Befehl!" antwortet der junge Musketier.
Eine weile beobachten sie, der eine nach rechts, der andere
nach links.
ro?
Aus einmal stößt der Artillerieoffizier einen leisen Fluch
aus und setzt das Glas ab.
„Sie sind verloren", sagt er.
Der Leuchtkugelposten fährt herum.
„Gehen Sie einmal durch das Glas", fährt der Offizier
fort, „dort hinüber. Haben Sie es; was sehen Sie;"
„Etwas Helles, Herr Leutnant."
„Für was halten Sie es;"
„Ich weiß nicht, Herr Leutnant."
„Es ist ein Stück der Betondecke des Bunkers, die durch
einen Einschlag freigelegt ist. Sie wissen drinnen natürlich
nichts und glauben sich nach wie vor geborgen. Gleich be-
ginnt das Feuer wieder, passen Sie auf. Der Flieger weiß
jetzt Bescheid."
„Rann man denn nichts dagegen tun;" würgt der kleine
Musketier stockend hervor und gibt das Glas zurück.
„Höchstens hinüberlaufen und ihnen sagen, daß sie sich
schleunigst aus dem Bunker machen."
„Soll ich laufen;" fragt der Meine und zeigt ein eisernes
Gesicht.
.Der Artillerist lächelt.
„wie alt sind Sie;" fragt er.
„Siebzehn Jahre, Herr Leutnant."
„wie lange an der Front;"
„Seit ... seit vorgestern . . . Herr Leutnant . . ."
wieder wird er dunkelrot im Gesicht. Der Artillerie-
offizier legt ihm die Hand auf die Schulter.
„Sehen Sie mal", sagt er ruhig, „erstens kämen Sie ver-
mutlich zu spät, denn es wird sofort losgehen. Und zweitens
wäre es der sichere Tod der ganzen Bunkerbesatzung, wenn
"sie jetzt ins Trichterfeld gingen. Rönnen Sie die drei Flieger
sehen dort oben; Die würden sofort herunterstürzen und mit
ihren Maschinengewehren alles erledigen. Es ist ja auch
nicht gesagt, daß der Bunker gleich mit den ersten Salven
eingeschossen wird. Vielleicht erscheint bis dahin ein deutsches
Kampfgeschwader und vertreibt den Engländer."
„Glauben Herr Leutnant daran;" stößt der Posten hervor
und sieht dem andern flehend ins Gesicht.
Der Artilleriebeobachter zuckt die Achseln.
aoS
„Hören Sie", sagt er „es geht schon los."
Zweimal heulte es heran, zweimal spritzt es haushoch auf,
zweimal kracht es mit furchtbarer Gewalt.
„7lm übrigen, junger Ramerad", sagt der Offizier laut,
fast schreiend, damit ihn der andere in dem Lärm versteht,
„man soll immer glauben, immer . . . selbst wenn man bei
Doodemolen liegt . .
Bei Sankt Julien uiid weiter rechts im Grunde des
Steenbeek ist ein schweres Gefecht im Gange.
Die Sperrfeuersignale flattern rot gestirnt in der Luft.
Maschinengewehre rasseln ihre heftige Musik.
Schon setzt auch die deutsche Feldartillerie ein.
Englische Tanks wälzen sich, von grauen Rauchschwaden
umzogen, aus den Ruinen des Meilers und breiten sich
fächerförmig aus. Deutsche Schützenlinien gehen zurück.
Den Tanks folgen zahlreiche khakibraune Trupps mit Ma-
schinengewehren. Das englische Sperrfeuer verdichtet sich
zur Feuerwalze, die langsam vorwärtsschreitet.
Alles verzettelt sich zu Einzelkämpfen von Trichter zu
Trichter. Die weißen Wölkchen der Handgranaten flattern.
Es brodelt wie in einem feurigen Ressel.
Man sieht deutsche Reserven vorgehen. Jenseits der
Feuerwalze bleiben sie liegen. Immer wieder tanzen die
Leuchtsignale.
Noch bleibt es hier bei Doodemolen ruhig.
Rein Zweifel, zwischen Langemarck und Sankt Julien sind
die Tommys über den Steenbeek gelangt. Zwei Flieger-
geschwader, im ganzen etwa sechzig Maschinen, unterstützen
den Angriff. Von den Tanks ist nichts mehr zu sehen. Der
graue Dunst verwebt sich immer dichter. Das Sperrfeuer
raffelt wie eine gellende Glocke.
Jetzt hat man den Eindruck, als sei ein neuer Gegenangriff
im Gange. Aber wer vermag zu erkennen, ob er Erfolg hat;
Es scheint hin und her zu gehen in verwickelten Trichter-
kämpfen.
Ein deutsches Geschwader taucht in großer Höhe auf. Im
Handumdrehen ist eine tolle Luftschlacht ausgebrochen, hoch
über dem klirrenden Schlachtfeld.
ros
Veumslburg, Flandenr
Aus und nieder stoßen die kleinen, schnellen Maschinen.
Vielleicht ist es das Richthofengeschwader. Die winzigen
Fokkerdoppeldecker brummen wie Bienen und sind von einer
verblüffenden Behendigkeit. Sie feuern Rauchspurmunition,
die von ihnen absprüht und hundert lange weiße Striche
durch den Luftraum zieht.
Ein Nieuport glimmt plötzlich rot aus, saust senkrecht
abwärts und hinterläßt eine gewaltige schwarze Rauchsäule,
die wie eine dunkle Pinie über dem Felde steht.
Ein Fokker wirbelt nieder, sich immer um seine eigene
Achse drehend.
Das Sperrfeuer kracht ohne Pause. Vereinzelt tanzen noch
die roten Leuchtsignale.
Aber es bleibt ruhig bei Doodemolen. Nicht die geringste
Veränderung tritt ein. Niemand sieht etwas von den tausend
Augen, die nun in einer heißen Erwartung nach dort drüben
gerichtet sind. Niemand spürt die tausend Gehirne, die jetzt
fieberhaft arbeiten, und die gespannten Nerven, die dem
Gefecht entgegenfiebern.
Nein, noch bleibt es ruhig bei Doodemolen.
» *
Der englische Deobachtungssiieger zur Linken über dem
Nachbarbunker tut, als ginge ihn die Geschichte da bei Sankt
Julien nicht im geringsten an. Er hat seine eigene An-
gelegenheit, die ihn fesselt.
Unaufhörlich schlagen jetzt die zo-cm-Granaten ein.
Nach einer Viertelstunde etwa kann man ganz deutlich
einen zerspringenden, Hellen Rrach vernehmen.
„Aus . . ." schreit der Artilleriebeobachter.
Der junge Musketier, der nach Sankt Julien hinüber-
schaut, fährt abermals herum und erschrickt furchtbar. Einen
Augenblick lang glaubt er, dem Artillerieoffizier sei etwas
passiert. Dann begreift er das Geschehene . . .
Ein heftiger Feldartilleriefeuerüberfall geht in diesem
Augenblick über die Umgebung des RH nieder. Nun
wird auch endlich Doodemolen lebendig. Die Sprengstücke
fahren heulend umher.
r-o
„Aufpassen!" schreit der Beobachter, „auf Gperrfeuer-
zeichen von vorn aufpassen!"
Ja, ja, er will ja aufpassen, gewiß . . . aber dort drüben,
dort drüben . . . verstohlen schaut er hinüber.
Eine mächtige schwarze Wolke verzieht sich. Sieh da, sieh
da . . . die schweren Einschläge springen nicht mehr in die
Höhe . . .
Das Sperrfeuer knattert drüben bei Sankt Julien, die
Jagdgeschwader fegen umeinander wie ein Insektenschwarm.
Auf Doodemolen hämmert der Feuerüberfall . . .
Jetzt sieht man ein schwarzes Loch zur Linken, wo der
Nachbarbunker gewesen. Der englische Beobachter fliegt so
niedrig, daß man meint, ihn mit den Händen herunterholen
zu können.
Sind das nicht Menschen- Natürlich, drei Gestalten laufen
durch die Trichter. Sie stolpern, sie fallen, sie schwenken die
Arme, sie stürzen weiter.
Jawohl, sie kommen hierher, der einstürzende Bunker hat
also doch nicht alle begraben . . .
Eine Gruppe von vier Granaten spritzt über den K.T.K.
„Kopf weg!" schreit der Artillerieoffizier.
Die Splitter heulen.
Drüben bei Sankt Julien rast die Schlacht in voller
Stärke.
Jetzt kann man die drei schon erkennen. Der eine hält
seinen linken Arm mit dem rechten fest. Der andere kann
kaum noch laufen. Der dritte schreit wie besessen, man kann
es an seinem geöffneten Mund sehen.
warum tut ihnen der Flieger nichts- was will der
Flieger überhaupt noch-
„Herr Leutnant!" schreit der Kleine und springt auf, „ich
will ihnen entgegen . . ."
„Nein . . ." antwortet der Artillerieoffizier und faßt ihn
am Arm mit einem wilden Griff . . . „Achtung ... der
Flieger. . . sehen Sie denn nicht . .
Nein, er sieht nicht, der Kleine. Abermals krachen vier
Einschläge. Der Artilleriebeobachter wirst beide Arme Ln
die Luft und springt auf. was will er nur, denkt fiebernd
der Kleine. Aber schon schlägt der andere schwer zu Boden
und greift mit beiden Händen nach dem Gesicht.
14*
2))
Des Kleinen Augen weiten sich starr, über die Brust des
Toten quillt ein Blutstrom.
Die drei vom Nachbarbunker sind dicht heran. Aber halt
... es sind nur noch zwei . . der dritte ist liegengeblieben.
Einer von den beiden bricht in die Knie. Er kann nicht
mehr.
Ruhig kreist der englische Beobachter.
Der Kleine schaut wild um sich. Er vergißt Doodemolen
und Sankt Julien und alles. Schon stürzt er vorwärts
durch die Trichter.
Jetzt ist er bei den beiden. Er spürt Riesenkräfte, den
Zusammengebrochenen nimmt er auf seine Schultern. Das
Blut läuft ihm über die Hände, warm und feucht. Er beißt
die Zähne zusammen, der andere hängt sich an ihn. Sie
stolpern auf den K.T.K. zu. Vier Schritt sind sie vom
Eingang entfernt.
Ein irrsinniges Geknatter ist ringsum. Undeutlich, wie
einen Schatten nur, nimmt der Kleine in seinem fiebernden
Gehirn das Bild eines herabstoßenden Fliegers auf, der sich
sofort wieder hochbäumt.
Er spürt einen wilden und wehen Schmerz in seiner Brust
und möchte einen Schrei tun . . .
Zu dritt fallen sie Ln den Lunker hinein . . .
Der Flieger zieht einen triumphierenden Kreis dreißig
Meter über Doodemolen . . .
* M
Vierundzwanzig Menschen sind in dem Lunker. Es riecht
entsetzlich nach Schweiß und Hitze. Sie hocken dicht anein-
andergedrängt. Viele rauchen, die meisten starren vor sich
hin. Alle haben das Koppel umgeschnallt, die Gasmaske um-
gehängt und die Gewehre zwischen den Knien.
Der Ausdruck ihrer Gesichter ist grundverschieden.
Am gleichmütigsten erscheint jener Gefreite, der heute
morgen als Leuchtkugelposten draußen gesessen und den der
Kleine abgelöst hat. Er hat sich mit seinem Messer, das zu
jeder Verrichtung dient, einen Kanten Brot abgeschnitten
und legt Speckscheiben darauf.
rzr
Jetzt, wie die drei Mann in den Bunker fallen, erhebt er
sich mit gerunzelter Stirn. Er steigt über die Beine der
Hockenden hinweg bis zum Eingang und wirft einen Blick
hinaus.
Hundertfach klirrt das zertrommelte Feld vom Sperrfeuer.
Rauchschwaden wehen. Ruhig zieht der englische Beobachter
seine Kreise.
Der Gefreite stößt einen leisen Fluch durch die Zähne, wie
er den Flieger sieht. Er wartet einen Augenblick, bis der
Engländer sich ein wenig entfernt. Dann springt er mit
einem Satz hinaus, eilt die vier Schritte zu dem Artillerie-
offizier, der aus dem Gesicht liegt, und dreht das Gesicht mit
beiden Händen nach oben. Er ist tot, ein Blick genügt.
Dann springt er zurück und verschwindet wieder im
Bunker.
Drinnen hilft er, dem Kleinen, der leichenblaß an der
wand hockt, den Rock über der Brust aufschneiden. Dann
hebt er behutsam das Hemd auf. Die Maschinengewehrkugel
hat von rückwärts das linke Schulterblatt durchschlagen
und ist schräg nach rechts vorn durch die Lunge gefahren.
Der Einschuß ist glatt und blutet kaum. Der Ausschuß ist
ein blutiges Loch von fast Handflächengröße. Das Blut
quillt unaufhaltsam.
Der Oberkörper des Kleinen ist jetzt nackt, das Blut läuft
Ln die Hose hinein. Er läßt den Kops nach der Seite hän-
gen, und man sieht, daß er mit einer Ohnmacht kämpft.
Der Gefreite nimmt die Verbandpäckchen, die man ihm
reicht, legt zwei stillende Wattebausche mitten auf das runde
Loch in der rechten Brust. Drei Rippen liegen bloß, die
mittlere von ihnen ist völlig zersplittert. Der Kleine folgt
jeder seiner Bewegungen mit den Augen. Zwischen seinen
zusammengepreßten Lippen zeigt sich eine schmale Blutspur.
Der Gefreite wickelt ein Päckchen nach dem anderen um
die Brust und überkreuz zwischen den Schultern. Der
Rleine hat noch kein dunkles Haar aus der Brust. Es gibt
einen faustdicken Verband. Aber vorn, wo das Loch ist, färbt
es sich dennoch immer wieder rot.
„Nicht wahr . . ." flüstert der Kleine, „es ist nicht tödlich
... ich komme noch bis nach Hause damit."
Der Gefreite lächelt.
„Ich habe drei Lungenschüffe, zwei auf einmal vor Verdun,
einen an der Somme. Man sieht nichts als sechs Löcher-
narben an meiner Brust. Die Hauptsache ist jetzt still sitzen."
Daß keiner seiner drei Schüsse so ausgesehen hat wie die-
ser, verschweigt er.
Der Rleine ist ganz getröstet. Die Schmerzen, oh, die sind
gar nicht so schlimm.
Neben ihm sitzt der Verwundete, den er aus den Schultern
hereingeschleppt. Still greift er nach des Rleinen blasser und
kraftloser «Zand und streichelt ganz leise darüber, immer
wieder.
Der Rleine, der nun halb in Ohnmacht gesunken, hat ein
Gefühl, als sitze neben seinem Bett daheim die Mutter und
streichle ihn, weil er nicht einschlafen kann. Er muß wohl ge-
träumt haben, einen schweren Traum. Die Mutter hat ihn
stöhnen und rufen gehört und ist still herbeigekommen. Nun
sitzt sie neben ihm. Er möchte ihr noch etwas sagen. Aber
die Augenlider sind ihm so schwer. Und es ist ja nun auch
alles gut. O ja, jetzt kann er gut schlafen, wenn er so ge-
streichelt wird. . .
Seine Augen sind geschloffen. Er weiß nichts mehr von
Doodemolen . . .
Zehn Minuten später beginnt der englische Leobachter
seine Batterie auf den neu entdeckten Betonbunker einzu-
schießen. Nach dem ersten Dutzend fährt eine ;o-Zentimeter-
Granate unter die Vorderwand des Kastens. Eine dumpfe
Explosion erfolgt. Der Eisenbeton zerreißt nicht. Aber der
ganze Bunker stellt sich schräg. Alle Insassen rutschen und
fallen durcheinander. Das Kerzenlicht verlöscht. Dumpfe
Finsternis herrscht.
Der Eingang ist nicht mehr zu sehen. Der Rasten hat sich
auf den Eingang gestellt . . .
Vierundzwanzig eingeschlossene Menschen müssen im Fin-
stern von den paar Kubikmetern Luft leben, bis sie ersticken
werden. Abgeschnitten von allem Geschehen draußen, ver-
nehmen sie nichts als die dumpfen Schläge der schweren Gra-
naten, die durch den Beton dringen. Eine gräßliche Falle
hat sich geschloffen.
Zehn Sekunden lang herrscht völlige Lähmung.
,7«
Dann brüllt der Gefreite durch die Finsternis.
„Ruhig bleiben . . . zwei Mann an den Eingang mit
Spaten! Die Rerze anzünden! In zehn Minuten haben
wir Luft . .
Sie tasten sich im Dunkeln zurecht. Als einer endlich die
Rerze findet und anzündet, beleuchtet ihr Schein lauter ver-
zerrte Gesichter.
Der Gefreite und noch ein Mann sind schon an der Arbeit.
Jedermann weiß, daß es Wahnsinn ist, auf diese Art ins
Freie gelangen zu wollen.
Sie graben eine Viertelstunde, dann quillt waffer über
ihre Spaten. Der Gefreite wischt sich den Schweiß aus der
Stirn und hört mit der Arbeit auf.
Der andere ruft: „Grundwasser."
Alles schweigt. Die Luft ist entsetzlich schlecht. Die Hitze
quält fürchterlich.
» *
Der Rleine träumt, er sei aus dem Bett gefallen. So hat
er sich gewälzt. Aber das macht gewiß die große Hitze im
Zimmer.
warum hat die Mutter auch nicht wie sonst das Fenster
geöffnet; Ah, er weiß schon. Es ist so viel Lärm aus der
Straße heute nacht. Ein Fest wird gefeiert, gestern abend
hat der Vater noch davon gesprochen.
Schade, daß die Mutter nicht mehr neben ihm sitzt und
seine Hand streichelt. Aber sie muß ja doch auch schlafen, die
Mutter. Das wäre ja zuviel verlangt, und so klein ist er ja
schließlich auch nicht mehr.
wenn ihm nur jemand diese schwere Bettdecke fortziehen
wollte . . .
Doodemolen ist lebendig geworden.
Das wüste Geraffel des Sperrfeuers klirrt an allen Ecken
und Enden. Die roten Leuchtkugeln steigen auf aus den
Rauchschwaden.
Nur beim R.T.R. regt sich nichts mehr.
Um drei nachmittags greifen die Engländer an. Ihre
Trupps steigen über die Trichter und bringen die Lewis-
gewehre in Stellung. Der Hagel der Geschosse peitscht über
das Feld.
Vereinzelt antworten deutsche Maschinengewehre.
Nach zehn Minuten streifen die Trupps der Angreifer um
den R.T.R. herum. Die wenigen Leute, die aus der deut-
schen Vorfeldzone zurückgekommen sind, ziehen sich zu einem
Häuflein zusammen und verteidigen die Erdwelle hinter dem
R.T.R. Das Reservebataiüon geht aus passchendaele vor
und verstärkt die Linie.
Eine Stunde lang krachen die Handgranaten.
Dann setzt systematisch das deutsche Vergeltungsfeuer ein,
das den Gegenstoß des Stoßregiments einleitet.
Um vier Uhr dreißig Minuten steigen die deutschen Stoß-
trupps aus den Trümmern von passchendaele, das unter
einem lärmenden Granatenhagel liegt. Eine deutsche Jagd-
staffel unterstützt den Angriff.
Die Engländer müssen zurück. Sie lassen eine Menge von
Toten liegen rings um den Bunker. Das Trichterfeld ist ge-
fleckt und gesprenkelt von ihren khakibraunen Uniformen.
Der Gegenstoß dringt in einem Schwung bis zum Hane-
beek, die ganze Vorfeldzone wird wieder besetzt. An einigen
Stellen gelingt es, kleine deutsche Abteilungen zu befreien,
die sich, von allen Seiten eingeschlossen, in der Hoffnung auf
den Gegenangriff bis jetzt gehalten haben.
Noch zweimal greift der Engländer an. Aber er hat keinen
Erfolg mehr. Seine Artillerie rächt sich furchtbar. Erst als
gegen zehn Uhr abends die Dunkelheit über das Trichterfeld
kriecht, ermattet langsam die wilde Schießerei.
Statt dessen erwacht wieder links vor dem Nonnebosschen
das Gefecht. Die Tommys versuchen einen überraschenden
Angriff. Sie bleiben ohne Erfolg.
In der Nacht kommen Pioniere und machen sich an dem
umgestürzten R.T.R.-Bunker zu schaffen. Die Infanterie
behauptet, noch abends um neun Uhr auf ihr Klopfzeichen
Antwort erhalten zu haben.
r)6
Das Wasser wird in tiefer gelegene Trichter geleitet. Erst
versucht man, mit Seilen den Rasten aufzurichten. Er ist
viel zu schwer. Dann beginnt man mit Graben.
Oft werden die Helfer durch das Sperrfeuer gezwungen,
von der Arbeit abzulassen. Sie kauern dann ringsum Ln
den Trichtern und warten. Dann geht es wieder an die
Arbeit.
Um drei Uhr morgens ist ein schmaler Gang freigelegt,
durch den ein einzelner Mann in den Lunker hineinkriechen
kann.
Der erste, der es wagt, kommt nach drei Minuten zurück.
Er ist ganz verstört und sagt kein Wort. Dann läßt er sich
eine Rerze geben und ein paar Seile. Dann kriecht er aber-
mals hinein.
Drei Rörper ziehen sie heraus. Sie versuchen mit Schnaps
und Atempumpen alles mögliche. Es ist umsonst.
Noch Zwei andere werden herausgeschafft. Es ist nichts
zu machen. Vorsichtig leuchtet man ihnen mit einer Taschen-
lampe ins Gesicht. Der eine ist ein Gefreiter mit dem
Eisernen Rreuz Erster. Er kann noch nicht lange tot sein,
denn sein Gesicht ist noch nicht blau angelaufen wie bei den
ersten drei, und seine Züge sind von einer ausdrucksvollen
Lebendigkeit.
Der andere ist ein kleines Rerlchen, das noch keine Bart-
stoppeln um das Rinn trägt. Er hat gewiß nicht lange ge-
litten, denn er war schon vorher schwer verwundet. Sein
Gesicht ist so ruhig, als schlafe er.
Die Pioniere geben die zwecklose Arbeit auf. Nach einer
Viertelstunde rücken sie ab.
Die Nacht wird so ruhig wie die vorangegangene. Nur
zweimal wird Sperrfeuer an gefordert, einmal um vier Uhr
drüben am Nonnebosschen und dem Polygonwald, einmal um
fünf Uhr zur Rechten bei Sankt Julien.
Gegen Morgen rückt ein vorgeschobenes Bataillon der
neuen Eingreifdivision an, um die Vorfeldzone zu besetzen.
Die Reste des Steüungsbataillons rücken nach passchendaele
als Regimentsreserve. Ein zweites neues Bataillon besetzt
den Bereitschaftsraum zwischen Grafenstafel und Nieuw-
2-7
molen, hart an der Bahnlinie. Die Ablösungen vollziehen
sich ohne große Verluste.
Die Befehlsstelle des R.T.R. wird hundert Meter nach
rechts verlegt, wo noch ein dritter Bunker frei ist. Er liegt
so nah bei Doodemolen wie der andere.
was heißt Doodemolen- Eine Mühle soll hier gestanden
haben- Es ist nichts davon zu sehen. Vielleicht früher ein-
mal, vor hundert Jahren- wer hat ihr den Namen Toten-
mühle gegeben-
Neben dem neuen R.T.R. steht der Leuchtkugelposten und
spät über die Trichter und das unruhige Feld, aus dem hin
und wieder die feurigen Bündel der Einschläge aufzucken...
Schreiboom
Seit Langemarck nicht mehr in unserer Hand, gibt es bei
Schreiboom wahrhaftig nichts zu lachen.
Schreiboom ist — oder besser: war! — ein stattliches Ge-
Höst an der nördlichen Verbindungsstraße zwischen Lange-
marck und Poelkappelle, dort, wo die Straße kaum tausend
Meter nordöstlich Langemarck einen gelinden Loden in öst-
licher Richtung einschlägt, nicht weit von der Stelle, wo sich
der Lroenbach mit der Bahnlinie kreuzt.
Früher, als die vordere Linie noch jenseits von Lange-
marck am Steenbeek entlang verlief, galt Schreiboom ge-
wissermaßen als das letzte Überbleibsel friedlicher Romantik,
wo man nachts von den vorgezogenen Feldküchen seine
dampfende Suppe bezog, und das man früh morgens aus-
atmend passierte, wenn man aus irgendeinem Grunde über
Schaap Balie und Vijfwegen nach Staden zum Divisionsstab
mußte.
Schon damals war eine solche Auffassung eigentlich recht
übertrieben, denn es war nicht zu erkennen, inwiefern die
Trümmer von Schreiboom etwa weniger schwer beschossen
wurden als irgendein anderer Punkt zweitausend Meter hin-
ter dem Vorfeld, oder ob vielleicht der Aufenthalt in dem
Betonbunker, den man in die Trümmer eingebaut, angeneh-
mer war als irgendwo Ln den über das freie Feld verstreuten
Unterständen. Das jedenfalls war sicher, daß Schreiboom auf
die englischen Flieger jederzeit eine besondere Anziehungskraft
ausübte, weil ihnen der stärkere Verkehr dort nicht entging.
Sie vergalten ihre Beobachtungen freigebig und reichlich mit
schwerem Flachfeuer von jenseits des Rserkanals her.
Zudem lag zwischen Schreiboom und der Lahn ein deut-
sches Feldartillerienest, aus drei vorgeschobenen Batterien be-
stehend. Auch daran nahm der Engländer Anstoß und be-
funkte den Raum nächtens mit Gas und am Tage mit Lri-
sanzmunition, daß den deutschen Artilleristen Hören und
rry
Sehen verging, wie oft mußten sie ihre Geschütze vorüber-
gehend stehen lassen und Ln den Trümmern von SchreLboom
einen kümmerlichen Schutz suchen.
Das alles war einmal. Seit dem letzten Augustdrittel
kracht das morgendliche englische Vernichtungsfeuer diesseits
von Langemarck, und die deutschen Batterien, soweit sie ihre
Rohre haben bergen können, hocken in einem neuen Sumpf-
nest hinter der Straße von Poelkappelle nach dem Houthul-
ster Wald. Von dort her zischen ihre Eisentöpfe haarscharf
über SchreLboom hinweg und schlagen Schwärme von Fun-
ken aus den rauchenden Steinhaufen, die einst Langemarck
hießen.
SchreLboom hat eine Metamorphose durchgemacht, die sehr
zu seinen Ungunsten ausgefallen ist. Geradezu schauderhaft
aber ist es geworden, seit der Regen eingesetzt hat.
Der Loden zwischen dem Steenbeek und dem Broenbeek
erhebt sich kaum um einen einzigen Meter über den Spiegel
der Bachläufe. Die Bachläufe sind von aber tausend Granat-
einschlägen zerfetzt und verquollen und als solche überhaupt
nicht mehr zu erkennen. Das ganze Zwischengelände ist ein
einziger Trichtermorast, braun, klebrig, verschlammt und un-
gangbar. Nur der höher gelegene Bahnkörper und der festere
Unterbau der Straße gestatten noch einen bescheidenen Ver-
kehr zwischen dem Vorfeld und der Hauptwiderstandslinie.
Mit geschwollenen Füßen, bis auf die Haut vom Regen
durchnäßt, verdreckt und verschmiert, liegen die Postierungen
am Ostrand von Langemarck. Nicht einmal das Brot im
Brotbeutel bleibt trocken. Die Gewehre und leichten Ma-
schinengewehre verschlammen, wenn man sie auch vorsichtig
aus die Ränder der Trichter legt. was nützt es, wenn die
Zeltbahnen das Wasser von oben abhalten. Es kommt von
allen Seiten und von unten, und man müßte jeder Gruppe
ein Ponton mitgeben, wenn man sie gegen dieses nasse Elend
einigermaßen schützen wollte.
Das alles könnte man wohl noch ertragen, wenn der Eng-
länder nicht wäre. Aber seit die Tommys Grund haben, zu
befürchten, daß die Deutschen auf die wiedereroberung von
Langemarck den größten wert legen, lassen sie keinen Morgen
ohne Angriff und vorausgehende wilde Trommelei ver-
streichen. Sie haben allmählich begriffen, daß nicht so sehr
der einmalige Großangriff den Verteidiger zermürbt wie die
rro
ständige Wiederholung mehr oder weniger ernst gemeinter
Vorstöße. Oft genügt es ihnen sogar, eine halbe Stunde zu
trommeln und dann ihr Feuer vorzuverlegen, als ob sie die
Absicht hätten, anzugreifen. Sie wissen, daß dann drüben bei
den Deutschen der ganze Apparat der Abwehr in Bewegung
gerät, mit unsäglichen Mühsalen Ln Schlamm und Sperr-
feuer verbunden.
So sieht es bei Schreiboom jetzt aus, seit Langemarck
daran glauben mußte, seit der Regen in Strömen vom Him-
mel fällt und seit der R.T.R. den Ln die Trümmer eingebau-
ten Betonbunker bezogen.
* *
Der Musketier Müller III aus einem jener lieblichen Dör-
fer des hessischen Rheingaus stammend, in denen man srank-
furterisch spricht und abends seinen Schoppen Apfelwein
trinkt, hätte wohl Grund gehabt, darüber zu philosophieren,
wieso er dazu gekommen, hier vorwärts Schreiboom als Mit-
glied eines vorgeschobenen Halbzuges seiner Rompagnie im
nassen Trichter zu hocken. Aber so viel lehrreiche Philo-
sophie auch Ln Friedenszeiten aus den Rrieg verwendet wird,
so ungeeignet erscheint er selbst dazu, wenn man mitten
darin ist.
Schließlich hätte sich der Musketier Müller III, wenn er
wirklich dazu aufgelegt gewesen wäre, zu seiner Beruhigung
auch sagen können, daß alles eine logische Rette darstellte, von
der aktiven Dienstzeit in Mainz über den schönen Sommer
1014 daheim Ln die Lothringer Schlacht, von dort an die
Marne, in die Champagne, vor Verdun, an die Aisne, aber-
mals vor Verdun. Ein Zwischenspiel Ln den Vogesen zur
Auffrischung der Abwehrnerven, kurzerhand an die Somme,
rein Ln die Rartoffeln, 'raus aus den Rartoffeln, wieder rein
in die Rartoffeln, wieder 'raus aus den Rartoffeln. Dann ein
fast beschaulicher Winter vor St. Guentin, ein Frühjahrs-
Lntermezzo bei Arras zur Angewöhnung, aus den Lhemin des
Dames als Generalprobe und schließlich nach Flandern.
Durchaus nichts Verwunderliches dabei.
Im Gegenteil. Es wäre wohl Grund vorhanden, über die
weise Einrichtung einer Westfront nachzudenken, die jeder
Abwehrschlacht einen besonderen Stempel aufdrückte, durch
LLZ
den sie sich vor der vorausgegangenen auszeichnete. Go
wurde man aus höchst einfache weise der Notwendigkeit ent
hoben, festzustellen, in welcher Schlacht das Schlamassel eigent
lich am schlimmsten war, denn es blieb einem über die Cham-
pagne, Verdun und die Somme die tröstliche Gewißheit, daß
es immer noch schlimmer kommen konnte, als es bis dahin
gewesen. Ein Grund mehr, sich über nichts aufzuregen.
Der Musketier Müller III kramte nach einer trockenen Zi-
garette Ln seiner Brusttasche. Nicht etwa um sie anzuzünden
und gemächtlich zu rauchen. Das würde die Tommys in
den Trichtern vierzig Meter gegenüber in eine nicht geringe
Aufregung versetzt haben. Nein, nur um sie ein wenig zwi-
schen die Lippen zu nehmen und so zu tun als ob.
Aber auch die Phantasie hat vorwärts Gchreiboom in reg-
nerischer, von Feuerüberfällen durchzitterter Nacht ihre
Grenzen, was hätte den Musketier Müller III sonst davon
abhalten können, sich einzubilden, er säße daheim in seinem
hessischen Dorf beim samstäglichen Regelabend und jenes Ge-
polter rühre vom Rollen der Rugeln und vom Durchein-
anderpurzeln der Hölzer Her-
Sie sagten daheim einmal, als er aus Urlaub gewesen, die
Jugend lerne durch den Rrieg wenigstens auf billige weise
ein gut Stück Welt kennen. Der Musketier Müller III
denkt, es ist eigentlich wenig Unterschied zwischen den Trich-
tern vor dem Douaumont, denen bei peronne und denen vor
Schreiboom. Höchstens, daß die letzteren mehr Wasser ent-
halten. Und was das billige Reisen betrifft, so ist es aller-
dings nicht zu bezweifeln, daß die Fahrkarte ins Jenseits
niemals unter so geringen Umständen zu beziehen war wie
heute.
Die kalte Zigarette schmeckt nicht. Am besten, man packt
sie wieder ein, ehe sie naß wird.
wenn es nicht so elend kalt wäre in dieser Augustnacht, so
möchte man wohl jetzt ein wenig dusseln. Denn es steht
schon in der Bibel, daß ein jeglicher Tag seine eigene Sorge
habe — warum soll man also schon zwei Stunden vor der
Dämmerung damit anfangen-
Er hockt sich zurecht, zieht die Rnie dicht an den Leib und
tastet der Vorsicht halber im Dunkeln nach den Stieseln. Der
Schlamm steht immerhin noch unterhalb des oberen Stiefel-
rrr
randes, wenn das Wasser oben hineinläuft, werde ich schon
wach werden, denkt der Musketier Müller III. Dabei gibt er
sich Mühe, nicht auf die allmähliche Zunahme der Feuchtigkeit
aus seinem Gesäß zu achten und auf die kalten Tropfen, die
langsam vom Rand des Stahlhelms in den Rragenrand ihren
weg nehmen.
Schließlich denkt er, kann man es nicht immer so haben,
wie man gern möchte, man müßte ja geradezu übermütig
dabei werden.
Richtig zum Bewußtsein ist der Musketier Müller III erst
gekommen, als er, das leichte Maschinengewehr im Arm, los-
stürmte über den Trichterrand und mitten unter den Tom-
mys vorwärtslies.
In diesem Augenblick erst fiel ihm aus, daß über dem gan-
zen Abschnitt von Schreiboom ein irrsinniger Sperrfeuer-
hagel niederprasselte, vom dünnen Gemecker einiger Ma-
schinengewehre untermischt.
Alles Vorausgegangene ist nur undeutlich in seiner wirren
Vorstellung. Ein Trupp Tommys steht plötzlich wie aus der
Finsternis gewachsen vor dem Trichter des Halbzugs. Ihre
flachen Stahlhelme glitzern matt unter dem Widerschein der
Einschläge. Sie zögern eine Sekunde lang, ob sie nicht wis-
sen, ob sie erwartungsvoll lauernde Lebendige vor sich haben,
die Handgranaten abzugsbereit Ln der Faust, zum Gegen-
sprung niedergeduckt, oder ob sie auf einen Trichter voll
Toter gestoßen sind.
Die Sekunde ist schnell vorüber.
Die Tommys stürzen sich auf die schwache Trichterbe-
satzung. Man vernimmt würgende Laute, die nicht über den
Trichterrand hinausdringen. Ein kurzes Gewühl Mann gegen
Mann, Leib an Leib, daß man den keuchenden Atem des
Gegners spürt und das glimmende Weiße in seinen Augen
sieht.
Im Handumdrehen ist alles fertig.
Die Tommys steigen über den Trichterrand und stapfen
in lockerer Angriffswelle weiter. Richtung auf Schreiboom,
wo das Sperrfeuer klirrt und die Splitter heulen. Alles ist
noch stockfinster.
rrz
Mitten unter ihnen, sein Maschinengewehr im Arm, Mus-
ketier Müller HI aus Rheinhessen.
Es ist ganz kalt in seinem Hirn, eiskalt. Er hat keine Zeit ge-
habt, sich irgendwie aufzuregen. Er stapft über den schlammigen
Loden und achtet haarscharf darauf, daß er seinen Nachbarn
zur Rechten und zur Linken nicht zu nahe kommt. Dabei
macht er sorgfältig sein Gewehr schußfertig.
Er vernimmt gedämpfte englische Kommandos und beob-
achtet, wie seine Nachbarn darauf reagieren, damit er keine
Fehler macht. Er sieht undeutlich, daß sie zu zwei und zwei
ihre Lewisgewehre zwischen sich tragen, und daß andere
Sandsäcke mit Handgranaten um den Hals gehängt haben.
Sie gehen genau aus Schreiboom zu, dessen Lage der Mus-
ketier Müller III auch im Dunkeln kennt. Er weiß, daß sie
in einer Minute jetzt auf die Sicherungslinie vor dem R.T.R.
stoßen müssen. Dort ungefähr muß der Rompagnieführer mit
seiner Stoßtruppe liegen, wenn sie nur ein paar weiße
Leuchtkugeln abschössen, damit sie das Verhängnis sähen, das
sich ihnen hier stumm und unsichtbar durch die Trichter naht,
aber nein, dann wäre er selbst ja der erste, der daran glauben
müßte.
Alles bleibt still. Entweder sie haben keine Leuchtkugeln
mehr, oder sie halten das Sperrfeuer, das auf Schreiboom
tobt, für einen gewöhnlichen Feuerüberfall. Der Musketier
Müller III überlegt, ob er vielleicht laut losschreien soll: die
Tommys sind da!
Aber verdammt — irgendwie hängt jeder noch an seinem
bißchen Leben. Vielleicht ist es auch anders zu machen.
Die Tommys halten einen Augenblick im Vorgehen ein.
Deutlich ist ein gedämpftes deutsches Rommando zu ver-
nehmen, höchstens zwanzig Meter entfernt.
Die Tommys versammeln sich zum Nahangriff.
In diesem Augenblick setzt der Musketier zu einem mäch-
tigen Sprung an und hetzt über das Trichterfeld, sein Gewehr
fest umklammernd, geradenwegs in der Richtung, aus der er
das Sprechen vernommen.
Halblautes englisches Rufen ist hinter ihm. Schüsse peit-
schen, hell flammt die Explosion einer Handgranate.
Die Tommys stürzen vorwärts, zehn Schritt hinter dem
Musketier. Einer ihrer Anführer stößt heiseres Hurra-
gebrüll aus.
L24
Mit einem Satz fällt der Musketier Müller III mitten
unter seine Leute, die ihn entgeistert anstarren.
Aber schon liegt sein Maschinengewehr schußfertig vor
ihm auf dem Trichterrand. Sein Helles Gehämmer fährt
unter die verdutzten Tommys, die sich zehn Schritt vor dem
Trichter hinwerfen.
Das Gebrüll der Handgranaten wechselt hinüber und
herüber.
Vor Schreiboom erwacht die Hölle.
» *
*
Zwei Stunden lang geht es hin und her mit Handgranaten
und dem Geknatter der Maschinengewehre.
Die Nacht will nur langsam aus den Trichtern weichen,
und als es endlich hell wird, beginnt es wieder zu regnen.
Die Tommys haben etwa ein Dutzend ihrer Lewisgewehre
in Stellung gebracht und befeuern jeden deutschen Uniform-
zipfel, den sie zu Gesicht bekommen.
Das alles wäre in bester Ordnung, wenn sie nicht zur
Rechten längs des Bahndamms beim Nachbarbataillon ein
beträchtliches Stück vorwärtsgekommen wären, also daß sie
dem kleinen Trupp hier vor Gchreiboom schon fast im
Rücken sitzen und den offenbar ahnungslosen R.T.R. un-
mittelbar aus der Flanke bedrohen. Sollte es ihnen aber
gelingen, sich bei Schreiboom einzunisten, so ist die Falle
geschloffen, denn nach links durch die leichte Senke auf die
Poelkappeller Straße zu laufen, wäre glatter Selbstmord.
Der Musketier Müller III sieht alles mit eigenen Augen,
der Rompagnieführer braucht ihm keinen langen Vortrag zu
halten. Ein schmutziger Meldezettel mit eingezeichneter
Stellungsskizze genügt. Er schiebt ihn in den Rockärmel,
schaut noch einmal hinüber zum Tommy, schnäuzt sich auf
ländliche weise, nimmt einem der Gefallenen den derben
Rnotenstock ab und verschwindet mit einem mächtigen Satz
Ln den Trichtern nach Schreiboom zu.
Dann beginnt er zu überlegen.
Zwischen ihm und Schreiboom kracht ein Sperrseuerriegel,
den unbeschädigt zu durchschreiten keiner armseligen Maus
gelingen dürfte. Nach links zu setzt sich die Feuerwand ins
Ungemeffene fort, man könnte vielleicht bis Zonnebeke laufen,
um ein offenes Loch zu finden.
LL5
15 Beumelburg, Flandern
Von rechts her pfeifen die Bügeln der Lewisgewehre wie
hastige Bienenschwärme. Aber siehe da, das Sperrfeuer hört
in der Nähe des Bahndamms auf, offenbar hat dort die
Feuerwalze schon einen Sprung nach vorwärts gemacht.
Der Musketier Müller III schwankt einen Augenblick
zwischen Artilleriefeuer und Maschinengewehrfeuer. Er ent-
scheidet sich für das letztere, aus dem einfachen Grunde, weil
es sich weniger unangenehm anhört. Man muß auch etwas
für seine Nerven tun.
Seine Wanderung längs der Sicherungslinie nach rechts
hinüber gleicht einer Varietenummer, wird ihm das Bugel-
gezwitscher zu arg und verrät ihm sein Ohr, daß er mitten
in einer Maschinengewehrgarbe läuft, so befiehlt er seinen
Beinen einen kühnen Satz Ln den nächsten Trichter. Das
aufspritzende Wasser stört ihn nicht im geringsten.
Dann wartet er, bis sich das Lewisgewehr drüben beruhigt,
und windet sich wie eine Eidechse ein paar Trichter weiter.
Dann versucht er abermals einen Satz.
Einmal saust er mit dem Bopf zuerst in einen gewaltigen
Trichter. Er vernimmt einen erstaunten Ausruf, der ihn
äußerst unbehaglich stimmt, wie er seinen Bopf vom Dreck
befreit und sich umwendet, sieht er einen baumlangen Tommy
vor sich.
Blitzartig durchfahren zwei Überlegungen sein Hirn.
Die erste: er, der Musketier Müller III, hat, so leichtsinnig
wie nur ein alter Frontsoldat sein kann, für den Gang zum
B.T.R. außer seinem Stecken keine Waffe mitgenommen.
Sie behindert zuviel im Laufen.
Die zweite: der Tommy hat auch keine, sonst könnte er
nicht so lange ein so dummes Gesicht schneiden.
Dann feixt der lange Tommy verlegen und zuckt mit den
Achseln.
Schau an, denkt der Musketier Müller III, ich kriege
Oberwasser, der lange Junge will gut Wetter machen.
Er legt dem Engländer die Hand auf die Schulter und
sagt mit toternster Miene „prisoner".
Der Tommy schüttelt grinsend den Bops, zeigt nach rechts
hinüber und meint: „^.11 germans llilleä, alles kaputt."
Die Rugeln der Lewisgewehre pfeifen kreuz und quer über
den Trichter.
Müller III räuspert sich. Seine Stimme wird lauter,
rrs
„Nichts zu machen, mein Junge! ^Iloug partirl Tommys
alle kaputt. Vite, vite, wenn du etwas französisch verstehen
solltest. Meinst du, ich wollte deinetwegen hier mich ein-
motten lassen; Soll ich dir Beine machen, mein Sohn;"
Drohend hebt er seinen Rnotenstock.
„l^ix, nix", antwortet der Lange.
„Ov on", sagt Müller III und strengt seine englischen
Kenntnisse an.
„^11 rigbt", meint der Lange und steht vorsichtig auf.
warte, mein Sohn, denkt der Musketier, mich sollst du
nicht aufs Glatteis führen, wenn du meinst, ich ließe mich
von dir wie ein australisches Schaf Ln eure Feuerlinie
hinüberführen, dann irrst du dich ganz gewaltig.
Sie klettern behutsam und scheinbar Ln bestem Einver-
nehmen durch die Trichter. Müller III tut so, als merke er
nicht, daß ihre Richtung genau nach der englischen Front
zeigt, wie ein Luchs späht er um sich.
Endlich sieht er, was er erwartet. Mit einem Freuden-
schrei springt er aus einen gefallenen deutschen Infanteristen
zu und nimmt ihm das Gewehr ab.
„vawueä", flucht der lange Tommy.
„Rehrt marsch, mein Sohn", sagt Müller III und zeigt
mit der Hand nach rückwärts, „ein bißchen dalli, oder ich
vergesse mich und schieß dir ein Loch in den Hosenboden".
Dann ändern sie die Richtung. Müller III läßt den Langen
immer vor sich her von Trichter zu Trichter balancieren und
folgt ihm mit anfeuernden Rufen, wenn es ihm zu langsam
geht.
Das Sperrfeuer knattert jenseits von Gchreiboom. Viel-
leicht greift gerade jetzt der Engländer vorn wieder an.
Unterwegs spürt Musketier Müller III einmal einen
leichten Schlag gegen seine Brust und es scheint ihm einen
Augenblick lang, als sei ihm das Atmen erschwert. Aber
dann denkt er nicht mehr daran.
Rreuz und quer pfeifen immer noch die Rugeln der
Lewisgewehre.
Endlich kommt das sonderbare paar bei Schreiboom an.
Der Tommy macht ein sehr verdrießliches Gesicht. Müller II!
kann es sich nicht versagen, seinem Pflegebefohlenen zu
zeigen, was er selbst längst schon mit gemischten Empfin-
16«
22?
düngen festgestellt hat. Er öffnet das Gewehrschloß. Nicht
eine einzige Patrone ist darin.
Der Tommy ballt die Faust. Müller III lacht.
Unten beim RH gibt er seine Meldung und seine
lebendige Beute ab. Der Hauptmann klopft ihm aus die
Schulter und sagt „Bravo". Dann heftet er seinen Blick
auf Müllers Brust und sagt: „Aber Menschenkind!"
In diesem Augenblick erst spürt der Musketier den
Schmerz und fühlt, wie es ihm vor den Augen zu schwimmen
anhebt. Er sieht noch, wie zwei Sanitäter sich um ihn
bemühen und hört, wie der Lataillonsarzt einen glatten
Lungenschuß konstatiert.
Ein Heimatschüßchen, ein Lungenschüßchen, denkt Mus-
ketier Müller III, und sieht auf einmal das schmucke Dörflein
in Rheinhessen vor sich. Man muß nur Glück haben, nein,
bin ich ein Glückspilz! Ich muß doch einmal aus dem
Ralender nachschauen, ob ich etwa ein Sonntagskind bin
. . . die Schmerzen werden heftiger . . . dann verliert er
das Bewußtsein.
Das Feuer, das eine halbe Stunde später auf Schreiboom
liegt, muß sogar einen Ohnmächtigen aufwecken. Der Bunker
schaukelt wie ein übermütiges Boot auf stürmischer See,
man könnte fast seekrank dabei werden.
Musketier Müller III, der das Gefühl hat, als habe er
mindestens vierundzwanzig Stunden geschlafen, spürt einen
bitteren Geschmack im Halse. Nur langsam setzten sich seine
Gedanken in Bewegung. Es könnte sein, denkt er, daß wir
eine ganz gewaltige Rirchweih hinter uns haben, und daß
wir des Guten dabei zuviel getan. Vielleicht bin ich neben
dem Saal in einer Ecke eingenickt. Aber das ist doch sonst
nicht mein Fall. Übrigens kann ich so lange doch nicht
geschlafen haben, denn man hört nebenan aus dem Saale
noch deutlich den Spektakel der Tanzbeine, der umfallenden
Tische, der rollenden Fässer und das Gekreisch der Mädchen.
Sakrament, das muß ein sauberes Fest sein.
Er hält an dieser Vorstellung mit einer gewissen Zärtlich-
keit fest, obwohl ihm seine Beobachtungen längst gesagt
haben, daß es mit der Rirchweih und dem Gejuchz dei
Mädchen nichts ist.
rrS
Er braucht nur in das ernste und bleiche Gesicht dev
Hauptmanns zu sehen, der gerade damit beschäftigt ist, eine
Meldung zu schreiben. Er braucht sich nur aus der stockenden
Unterhaltung der Gefechtsordonnanzen und Unteroffiziere
ein Bild zu machen, um sich davon zu vergewissern, daß man
in jeder Minute auf das Eintreffen der Tommys vor dem
R.T.R. rechnet.
Dieses Bewußtsein, oft schon erlebt und durchgemacht,
erscheint ihm heute geradezu peinlich, warum nur- was
ist denn dabei- wird es nicht eine Erlösung sein, wenn sie
endlich ankommen, wenn man aufspringt und die Trichter
besetzt, um ihnen die Rugeln um die Ohren zu jagen und
die Handgranaten vor die Füße zu werfen-
Müller III fühlt kalten Schweiß auf seiner Stirn.
Hoho, denkt er, das wäre mir neu. Mit solchen Sachen
habe ich mich doch noch nie befaßt.
Er hebt den Arm, um sich den Schweiß abzuwischen.
Ein stechender Schmerz. Er schließt einen Augenblick die
Augen. Dann öffnet er sie wieder und sieht an sich hinab.
Ein Infanterist stürzt herein, atemlos. Vor Dreck und
Schlamm ist kaum noch etwas von ihm zu sehen. Der Haupt-
mann nimmt seine Meldung entgegen und nickt. Dann be-
fiehlt er, die Sandsäcke mit Handgranaten umzuhängen.
Niemand spricht ein Wort.
Müller sieht seinen eigenen halb nackten Oberkörper und
den dicken Verband kreuz und quer über der Brust.
Mein Lungenschüßchen, mein Heimatschüßchen, denkt er
wehmütig.
Dann packt ihn die Wut. Nun werden sie gleich an-
kommen, die Tommys, sie werden den R.T.R. umzingeln,
denn es ist ja ausgeschlossen, daß die Handvoll Männer hier
ihnen lange widerstand leisten kann. Dann wird einer ein
paar Handgranaten hereinlangen, man hört noch das ge-
dämpfte Abziehen» Und dann ade, mein Heimatschüßchen!
Schluß, aus, nicht einmal Zeit genug wird bleiben, um
Dankeschön zu sagen.
Der Hauptmann spricht ein Rommando. Der Feuerlärm
draußen ist so stark, daß man kein Wort versteht. Aber das
ist auch gar nicht nötig. Jedermann weiß, was es zu be-
deuten hat. Alles steht auf und macht sich fertig.
rr-
Nur Müller III bleibt sitzen. Seine Zähne sind gefletscht
vor ohnmächtiger Wut. Seine ganze Energie kämpft jetzt
um alles, um das Höchste, um die Heimat, die ihm plötzlich
so greifbar nahe gerückt war, und die ihm nun entrissen
werden soll, auf immer entrissen. Er macht eine furchtbare
Anstrengung, sich zu erheben.
Siehe da, es geht!
„Rönnen Sie laufen-" schreit ihm der Hauptmann zu.
„Jawohl, Herr Hauptmann!" antwortet Müller III.
„So versuchen Sie, diese Meldung zum Regiment nach
Poelkappelle zu bringen, wenn Sie nicht mehr weiter können,
geben Sie sie jemand mit. Verstehen Sie mich) Ich kann
sonst niemanden hier entbehren."
„Zu Befehl, Herr Hauptmann."
Müller III, in dessen Vorstellungen die Heimat mit wilder
Gewalt sich erhebt, steht steif aufgerichtet wie ein Holz. Er
nimmt die Meldung und steckt sie Ln die Hosentasche. Dann
macht er drei Schritte und kämpft dabei mit zusammen-
gebissenen Zähnen gegen das wahnsinnige Stechen in der
Brust. Alles flimmert ihm vor den Augen. Nur nicht
schlapp machen jetzt, denkt er fieberhaft, nur nicht schlapp
machen — es geht um Daheim!
Das heftige Rlirren des Sperrfeuers verstummt. Ein
Rauschen hebt an, ein vielstimmiges Singen. Die englische
Feuerwalze ist angetreten. Nun müssen sie kommen.
Die Besatzung des Bunkers stürzt ins Freie und verteilt
sich in die Trichter. Schon vernimmt man Maschinen-
gewehre.
Müller III greift seinen Rnotenstock und einen Revolver,
der liegengeblieben ist. Das Lücken ist eine furchtbare An-
strengung.
,Mx. nix", ruft eine fremde Stimme aufgeregt neben ihm
und jemand will ihm die Waffe entreißen.
Müller III richtet sich auf und tritt einen Schritt zurück.
Sie sind allein im Bunker.
„Hallo, mein Sohn . . . paß auf, diesmal ist das Ding
geladen!"
Er feuert einen krachenden Schuß gegen die Decke.
„Hände hoch!" brüllt Müller III und hält die Waffe im
Anschlag.
rzo
,,^u riM", antwortet der lange Tommy und hebt seine
Arme auf.
Draußen lärmen die Handgranaten.
„Nun aber los", Freundchen, diesmal soll dir noch ver-
geben sein. Zum drittenmal aber ist es aus mit dem Spaß-
machen, verstanden-"
Müller fuchtelt dem Langen mit der Waffe unter der
Nase. Dann läßt er ihn vorausgehen.
*
Sie brauchen zweieinhalb Stunden für den weg zum
Regiment, der in der Luftlinie kaum zweitausend Meter
beträgt. Sie müssen zweimal durchs Sperrfeuer.
Wohl zehnmal müssen sie in einem Trichter hocken bleiben,
weil Müller III nicht mehr kann. Das Blut läuft ihm aus
dem Mund. Er ringt nach Luft, sein Gesicht ist wächsern,
die Augen ganz groß. Die Wunde in der Brust beginnt
wieder zu bluten.
Der Tommy hat sich in sein Schicksal gefunden, seit er
gesehen hat, daß alle englischen Angriffe in der Sicherungs-
linie abgeschlagen worden sind. Er ist mit Müller III ganz
gut Freund geworden. Er hilft ihm, den Verband in Ord-
nung bringen, stützt ihm den Oberkörper, wenn er nach Luft
ringt. Und schließlich trägt er ihn beinahe.
Endlich kommen sie zum Regimentsgefechtsstand. Müller III
gibt seine Meldung ab und wird dann auf eine Tragbahre
gelegt. Vorn trägt ein Sanitäter, hinten, an Müllers Ropf-
ende, der lange Tommy.
Müller III ist Ln einem Zustand zwischen Bewußtsein und
Fieberphantasien. Immerfort spricht er von daheim. Dann
wieder summt er ein Liedchen vor sich hin. wenn eine
schwere Granate irgendwo in der Nähe einschlägt, lacht er
laut und winkt mit der Hand: „Auf wiedersehen!" Seine
Augen glänzen im Fieber, seine Hände zucken unaufhörlich.
„Höre, mein Freund", wendet er sich an den Tommy, der
ihm aufmerksam und respektvoll zuhört, „wenn du einmal
an den Rhein kommen solltest — verstehst du- — dann mußt
du mich besuchen. Gleich neben der Rirche, das dritte Haus:
Müller, Rlempner und Installateur. Daß du mir nicht
vorbeigehst, mein Junge, hörst dur"
2Z1
Der Tommy nickt eifrig, obwohl er natürlich kein Wort
verstanden hat.
An der Verwundetensammelstelle müssen sie sich trennen.
Müller III kramt in seinen Taschen und ist ganz aufgeregt.
„Hier", sagt er, „das zum Dank für deine treue Hilfe".
Damit reicht er dem Tommy sein gefülltes Zigarettenetui.
Der Lange lehnt höflich ab.
Müller III zeigt auf seinen Verband, dann auf seinen
Mund, indem er die Bewegung des Rauchens macht. Dann
schüttelt er verneinend den Ropf.
Der Engländer versteht, Müller III will ihm klar machen,
daß er aufs erste doch nicht rauchen kann. Er läßt sich den
Inhalt des Etuis in die Hand schütten und verstaut die
Zigaretten in der Brusttasche seines Rhakirockes.
„Also das dritte Haus neben der Rircher" lallt Müller III.
Dann laden sie ihn Ln das Sanitätsauto.
Am nächsten Morgen liegt er im Lazarettzug. Drei Tage
später ist er in Deutschland. Sein Lungenschuß heilt glatt
und schnell. Dann gibt es vierzehn Tage Heimaturlaub.
Mitte Oktober ist er wieder im Feld. Das Regiment liegt
noch in Flandern.
Schreiboom ist um diese Zeit nicht mehr in deutscher Hand.
Aber von der Vorfeldstellung bei Schaap Balie aus kann
Müller HI noch deutlich den Fleck sehen, wo einstmals der
R.T.R. gestanden.
Poelkappelle
In den letzten Tagen des August ließ die englische In-
fanterietätigkeit merklich nach. Die schweren Mißerfolge des
16., des rr. und des r?. August machten der englischen Heeres-
leitung klar, daß sie in der bisherigen weise niemals zu
einer Entscheidung gelangen werde. Erreicht war sozusagen
nichts, wenn man nicht die Eroberung eines Geländestreifens
von etwa zwanzig Kilometer Breite und ein bis vier Rilo-
meter Tiefe als Erfolg gelten lassen will. Man war dem
flandrischen Höhenzug zwischen weftroosebeke und Gheluveld
zwar ziemlich nahe gekommen, aber schon jetzt begann bei
der Eigenart dieser Materialschlacht die Erkenntnis sich zu
verbreiten, daß auch mit der Erreichung dieser Höhen die
Schlacht noch nicht entschieden sei. Im Gegenteil: dann erst
war daran zu denken, die Offensive gegen die deutsche
U-Lootbasis vorzutragen.
Die Engländer saßen in einem schwierigen Dilemma.
Stoppten sie die Flandernschlacht ab, die ihnen bisher schon
ungeahnte Verluste gebracht, so waren alle bisherigen An-
strengungen wertlos und vergebens. Hielten sie aber an ihrem
offensiven Ziel, der Wegnahme der U-Bootbasis, fest, so
mußten sie unter allen Umständen noch vor Beginn der
regnerischen Herbstperiode auf die Anhöhen hinauf, um dann
im nächsten Frühjahr den Rampf fortzusetzen.
während diese Fragen zu einer Entscheidung drängten,
verlor das äußere Bild der Flandernschlacht keineswegs an
Furchtbarkeit. Ein gewaltiger Einsatz von Artillerie hatte
dafür zu sorgen, daß den Deutschen nicht etwa der Gedanke
kam, die Schlacht sei bereits zu ihren Gunsten entschieden.
So wurde auch weiterhin ein starker Verbrauch bei den
deutschen Kampftruppen bewirkt, der den Alliierten an
anderen Frontabschnitten zugute kam.
Als man Anfang September auf englischer Seite umfang-
reiche Ablösungen erkannte, die sich fast auf die ganze bis-
rz3
herige Angriffsfront erstreckten, war das deutsche Armee-
oberkommando sich darüber klar, daß der Gegner die Schlacht
fortzusetzen gedachte. Bald brachten auch Gefangenenaus-
sagen die Bestätigung. Trotz anhaltenden schlechten Wetters
waren die deutschen Flieger auf dem Posten und stellten eine
starke Vermehrung der englischen Truppenlager hinter der
Angriffsfront, besonders vor dem Abschnitt der Gruppe
Rpern, fest.
Viele Anzeichen sprachen dafür, daß die Fortsetzung des
Angriffs erst in einiger Zeit zu erwarten war. Die Eng-
länder gaben sich Mühe, aus den bisherigen Ereignissen
taktische Folgerungen zu ziehen und sich mehr als bisher
auf die Eigenarten der Flandernschlacht und die deutsche
Abwehrtaktik einzustellen.
Sie hielten an dem Grundsatz der schrittweisen Nieder-
hämmerung der deutschen Front fest, aber sie hatten erkannt,
daß die Stärke der deutschen Abwehr im offensiven Gegen-
stoß aus einem Raume tief hinter der vorderen Stellungs-
zone lag. Fast regelmäßig waren die beträchtlichen englischen
Anfangsgewinne durch das Vorgehen der deutschen Eingreif-
divisionen verlorengegangen. Endlich waren die Engländer
dahinter gekommen, wie unverhältnismäßig dünn die Deut-
schen ihre vordere Linie besetzten, und in welchem Miß-
verhältnis dazu der ungeheure Aufwand zur Eroberung dieses
Streifens stand. Es handelte sich eigentlich gar nicht um ein
„Erobern", sondern lediglich um ein „Besetzen". Die Schwie-
rigkeit begann erst mit dem Hineintragen des Angriffs in
die deutsche Hauptwiderstandslinie und darüber hinaus. Nicht
mit den Besatzungen des deutschen Vorfeldes war der ent-
scheidende Rampf auszutragen, sondern mit den Bereit-
schaften und Reserven, die zum Gegenstoß vorgingen, um
das verlorene Gelände wiederzunehmen.
Ihre Gegenmaßnahmen teilten die Engländer nun in zwei
Gruppen, deren erste die Vorbereitung des Angriffs und
deren zweite seine Durchführung betraf. Zunächst war man
sich klar darüber, daß die einzelnen Angriffsstöße schneller
hintereinander stattfinden mußten, um die Deutschen zu ver-
hindern, jedesmal die erforderliche Anzahl neuer Eingreif-
divisionen heranzuführen und in ihre Aufgaben einzuweisen.
Sodann war das vorbereitende Artilleriefeuer viel mehr als
bisher auf alle Punkte zu konzentrieren, die hinter der deut-
234
sehen Front der Durchführung der Abwehr dienten, Bereit-
schaftslager, Befehlsstellen, Anmarschwege usw. Endlich
wurde jede englische Brigade zu drei Bataillonen in der
weise zum Angriff angesetzt, daß das erste Bataillon an-
greifend bis vor die deutsche Hauptwiderstandslinie gelangen
sollte, daß dann das zweite durch das erste hindurchgehend
den Kampf um diese Linie durchführen, und daß schließlich
das dritte Bataillon, seinerseits durch das zweite hindurch-
gehend, die Abwehr des deutschen Gegenstoßes aushalten
mußte. Die Feuerwalze der Artillerie hatte pünktlich nach der
Uhr jedes der drei Bataillone im Vorgehen zu begleiten.
Tanks und Jagdflieger wurden hauptsächlich der zweiten
und dritten Angriffswelle zugeteilt. Bis zum Beginn der
geplanten neuen Angriffsserie hatte die Artillerie planmäßig
die gesamte deutsche Abwehrzone zu bekämpfen.
Das einzige, was die deutsche Heeresleitung gegen diese
zu erwartende Steigerung der englischen Angriffsintensität
unternehmen konnte, war die Bereitstellung möglichst aus-
geruhter Eingreifdivisionen und die Organisierung eines
möglichst umfangreichen Materialnachschubs. Beide Not-
wendigkeiten waren durch die besondere Lage der deutschen
Armee eng begrenzt. Schon seit Anfang August war alles,
was an kampfkräftigen und bewährten Divisionen auf den
übrigen Frontabschnitten irgend ausgespart werden konnte,
nach Flandern gebracht worden. Viele Divisionen waren
schon zum zweiten- und drittenmal eingesetzt, andere durch
die schweren Kämpfe so mitgenommen, daß sie an eine
ruhigere Front geschickt werden mußten.
Verhängnisvoll machte sich der Mangel an gründlicher
Erholung hinter der Front bemerkbar. Es ging aus tak-
tischen Gründen nicht an, die abgekämpfte Truppe außerhalb
der Zone des Fernfeuers und der Bombenangriffe in guten
Oartieren unterzubringen. Iw Gegenteil, die Notwendigkeit,
den Gegenstoß möglichst rasch durchzuführen, zwang dazu,
die Eingreifdivisionen noch näher als bisher an die Kampf-
front heranzuziehen. Die schnellere Aufeinanderfolge der
englischen Angriffsstöße verkürzte zudem die Ruhezeit immer
mehr. Raum war die Truppe abmarschiert, da rief sie schon
wieder der Befehl nach vorn. Oft mußten die Bataillone
rZ5
mitten aus der Ablösung heraus zum Gegenangriff vorgehen.
Das Ende August angebrochene schlechte Wetter vermehrte
die Strapazen noch um ein Beträchtliches, die Abgänge an
Kranken wurden immer fühlbarer.
Es ist schwer zu begreifen, daß unter diesen Umständen
die innere Kampfkraft der Truppe nicht mehr litt, und daß
jeder Angriffsstoß der Engländer stets aus eine abwehrbereite
Verteidigung traf. Allerdings muß man auch in Rechnung
setzen, daß selbst der Großkampf durch die stete Gewöhnung
schließlich zum Alltäglichen werden kann. Mit der zunehmen-
den Abstumpfung und Gleichgültigkeit nimmt auch jene be-
sondere innere Verfassung zu, die auf die furchtbaren Er-
scheinungen des Schlachtfeldes beim Großkampftag fast auto-
matisch und gelassen reagieren läßt. Man ist nun einmal
drin, und man macht sich ebensowenig Kummer über die
Möglichkeit, Ln den nassen Trichtern umzukommen, wie über
die fast noch bescheidenere Möglichkeit, unversehrt wieder
hinauszugelangen. Das Sterben hat seine Schrecken ver-
loren, seit es zu jeder Tages- und Nachtstunde als ständiger
Begleiter neben einem steht.
Der Frontinstinkt findet in jenem Zustand der „Wurschtig-
keit" seinen besten Nährboden, der Elan wird zur Geduld,
der Mut zur Gelassenheit, die Tapferkeit zur Widerstands-
fähigkeit gegenüber allen Ereignissen äußerer und innerer
Art.
Die Flandernschlacht zeigte ein Erstehen jenes neuartigen
Soldatentyps, Leute, die fluchten, wenn sie im Ruhequartier
von den hundert Paragraphen militärischer Disziplin gezwickt
wurden, die durchaus keinen wert daraus legten, alle paar
Tage aufs neue Ln das Schlamassel hineingeschickt zu werden,
um Orden oder anerkennende Worte im Heeresbericht zu er-
kämpfen, die aber vorn im Trichterfeld das Gerippe jeglicher
Verteidigung ausmachten. Sie standen mit ihren Kompagnie-
führern, die mit ihnen im Dreck lagen, gewissermaßen aus
du und du, aber sie betrachteten verächtlich jeden Ortskom-
mandanten in der Etappe. Sie hielten untereinander eine
Kameradschaft, wie sie aufopfernder und treuer nicht gedacht
werden kann, aber sie sahen als ihr Recht an, den Feld-
bäckereikolonnen die warmen Brote und die sorgsam ge-
züchteten Kaninchen und den Kommandanturen das frische
Gemüse und die unreifen Kartoffeln zu „klauen". Sie
wußten, aus wessen Schultern im entscheidenden Augenblick
das Schicksal der Front lag, und im gleichen Maße, wie sie
sich dieser Pflicht mit Selbstverständlichkeit und ohne jegliches
Pathos unterzogen, waren sie auch vom Bewußtsein ihrer
Bedeutung durchdrungen. So entstand das unverwüstliche,
hundertmal bewährte, durch nichts aus der Fassung zu
bringende „Frontschwein" . . .
Groß waren nach wie vor die Schwierigkeiten der
Materialversorgung, in erster Linie des Munitionsnach-
schubs. Tage mit 250000 Schuß für die Artillerie allein
bei der Gruppe Rpern, mit 400000 Schuß gegen die ganze
englische Angriffsfront zwischen Bixschoote und der Lys
zählten Anfang August noch als etwas Außergewöhnliches.
Im September bedeuteten sie schon das Normale. Das be-
dingte eine ungeheure Anspannung der Munitionserzeugung
in der Heimat sowohl wie des Transports und der Lagerung
an der Front. Zudem galt es, in Erwartung der neuen
Großangriffsserie Bestände anzuhäufen. Auch der Ersatz der
unbrauchbar gewordenen Geschütze bereitete ernste Sorgen.
Mehrfach mußte nach Großkampftagen die Artillerie fast
ganzer Divisionen neu beschafft werden. Die schweren Ver-
luste an Pferden machten sich immer mehr bemerkbar, je
mehr der Engländer sein Feuer auf alle Nachschubwege
lenkte.
Von den Schwierigkeiten der Verpflegung, die im Jahre
1917 allgemein waren, soll hier gar nicht gesprochen werden.
Um die Rampskraft der Truppe am entscheidenden Punkt zu
erhalten, mußte an anderen Fronten und in der Heimat noch
mehr gedarbt werden. Satt sind die Flandernkämpfer wohl
geworden — wenn das Essen bis in die Rampfsteüung hinein
gelangte, was durchaus nicht immer der Fall war — aber
zum Fett-Ansetzen langte es auch da nicht.
Vom 17. September an war täglich mit der Fortsetzung
des englischen Angriffs zu rechnen. Das Vorbereitungsfeuer
verdichtete sich zu wiederholten Trommelfeuerwellen auf die
ganze Angriffsfront, die zur Verschleierung der Angriffs-
absichten dienten. Das Wetter hatte seinen regnerischen
Charakter verloren.
Endlich am ro. September morgens 5.30 flammte das
237
Trommelfeuer nach bewegter Nacht zwischen Langemarck
und Hollebeke. Zwanzig Minuten später stiegen die roten
Sperrfeuersignale, im dichten Nebel nur schwer zu erkennen.
Die englische Feuerwalze tat ihren ersten Schritt. In vier
Wellen stieg die erste Angreiferstaffel aus den Trichtern.
Die Angreifer wurden erwartet. Aber der Nebel ver-
hinderte vielfach den wirksamen Einsatz der Maschinen-
gewehre. wo es gelang, gingen die deutschen Vorfeld-
besatzungen auf die Hauptwiderstandslinie zurück. Andere
wurden im ersten Anlauf überrannt, niedergemacht oder
gefangengenommen.
Nach einer halben Stunde wurde fast überall um die
Hauptwiderstandslinie gekämpft. Die Bereitschaften der
Regimenter traten in Tätigkeit, sie stießen auf die zweite
englische Angriffsstaffel, die von vielen Tanks begleitet war.
Jagdflieger tauchten trotz Nebel und schlechter Sicht auf.
Das Sperrfeuer krachte unvermindert von beiden Seiten.
Der Hauptstoß der Engländer richtete sich gegen die
Höhenlinie zwischen passchendale, Zonnebeke und Gheluveld.
Hier hatten die feindlichen Artilleriemaffen am Vortage eine
noch nicht dagewesene Menge von Munition ausgeschüttet.
Die bayer. Ers.-Div. und die 9. Res.-Div. schätzten Ln ihren
beiden Abschnitten etwa 60000 Schuß, davon vier Fünftel
in einigen Trommelfeuerwellen zusammengefaßt.
Der Rampf um die Anhöhen wurde den ganzen Tag über
erbittert geführt. Als die vorgeschobenen Regimenter der
ELngreifsdivisionen aus Richtung Reiberg und Beceleare
gegen die Trümmer von Zonnebeke und das Nonnebosschen
vorgingen, gelang es am Abend unter größten Anstrengungen
und bei außerordentlich schweren Verlusten eine Linie zurück-
zuerobern, die etwa anderthalb Rilometer östlich der alten
Linie verlief. Der Hanebeekgrund, westhoek, ein großer
Teil des Polygonwaldes, das Nonnebosschen und der heiß
umstrittene Herenthagepark blieben in der Hand des Feindes.
Die englische Front war bis hart westlich Zonnebeke und
Gheluveld vorgerückt. Zwar beherrschten die deutschen
Truppen noch die Höhenlinie, aber ein zweiter Mißerfolg
in diesem Umfange mußte den Angreifer an den Rand des
Höhenzuges gelangen lassen.
weniger kritisch entwickelten sich die Dinge beiderseits
Langemarck und südlich bis nach Zonnebeke. Es gelang den
Angreifern nicht, über den Broenbach hinauszukommen, nur
ostwärts Langemarck erzielten sie einige Gewinne, indem sie
die deutsche Hauptwiderstandslinie bei Schreiboom erreichten.
Im Zentrum der Gruppe Rpern, vorwärts Poelkappelle und
passchendaele, erschienen die Engländer gegen Mittag am
Strombeek, mußten aber unter dem Druck der Eingreif-
division bis in eine Linie zurück, die ungefähr fünfhundert
Meter östlich der Straße Langemarck—Zonnebeke verlief.
Am Nachmittag stand die deutsche Front überall, wenn
auch nach bedenklichen und in dieser Höhe nicht erwarteten
Verlusten. Es zeigte sich, daß die deutschen Truppen durch
das schwere Artilleriefeuer, das seit dem letzten großen
Angriffsstoß am r?. August fast ununterbrochen über sie
niedergegangen war, stark mitgenommen waren. Die neue
englische Angriffstaktik hatte sich bewährt. Nicht überall
war es gelungen, die Eingreifdivisionen mit der erforderlichen
Schnelligkeit einzusetzen. Zudem hatten die Engländer in dem
dichten Nebel einen guten Bundesgenoffen gefunden. Auch
die Tatsache, daß sie fast überall mit frischen Truppen an-
gegriffen hatten, trug zu ihrem Erfolge bei. Von großer
moralischer Wirkung mußte auch der Verlust so furchtbar
umkämpfter Abschnitte wie des Nonnebosschens und des
Herenthagesparkes sein, zu deren wiedereinnähme die Rräfte
unter keinen Umständen ausreichten.
Neue Angriffsstöße waren Ln rascher Folge zu erwarten.
Das Armeeoberkommando hatte Anlaß zu ernster Sorge.
Fünf Tage vergingen unter fortdauernd starkem Artillerie-
feuer, aber ohne infanteristische Rampfhandlungen. Das gute
Wetter hielt an und erleichterte den Engländern das Vor-
ziehen ihrer Batterien bis nahe an die alten deutschen
Stellungen. Mit Recht vermutete das Oberkommando der
4. Armee, daß sich der nächste Angriffsstoß in erster Linie
gegen die Bodenwelle zwischen Zonnebeke und Gheluveld
richten würde, die zu erkämpfen den Engländern trotz großer
Opfer am ro. September nicht gelungen war. Die pessi-
mistischen Erfahrungen des letzten Großkampftages hatten
die deutsche Führung veranlaßt, mit größerem Nachdruck als
bisher an dem Ausbau einer Reservestellung hinter dem
Höhenzug zu arbeiten. Man mußte auf alles gefaßt sein.
239
Am Abend des 25. September glaubte das Generalkom.
mando der Gruppe Rpern aus verschiedenen Anzeichen aus
das unmittelbare Bevorstehen des neuen Angriffsstoßes
schließen zu können. Noch vor Mitternacht ließ die Gruppe
die feindlichen Stellungen in ihrem Abschnitt mit Ver-
nichtungsfeuer belegen, das mehrfach wiederholt wurde.
Gleichzeitig gab die deutsche Artillerie während der ganzen
Dauer der Nacht ein kräftiges Streufeuer auf die feindlichen
Anmarschwege ab.
wenige Minuten vor 4 Uhr setzte die englische Artillerie
aus breiter Front mit voller Wucht ein. Die vordere deutsche
Stellungszone lag unter einem furchtbaren Feuerhagel. Eine
halbe Stunde später ließ das Feuer ebenso plötzlich nach, ohne
daß ein Infanterieangriff erfolgte. Punkt 5.45 begann eng-
lisches Trommelfeuer zwischen wijdendrift, nordwestlich
Langemarck, und dem Ranalknie von Hollebeke. wenige
Minuten später brach die englische Infanterie auf der ganzen
Front zum Angriff vor. Der Stoß richtete sich gegen den
linken Flügel der Gruppe Dixmude, die gesamte Gruppe
Rpern und die nördliche Hälfte der Gruppe WLjtschate.
Die iS. Inf.-Div. aus dem linken Flügel der Gruppe Dix-
mude und die beiden nördlichen Divisionen der Gruppe
Rpern, die roS. Inf.-Div. und die -o. Ers.-Div., konnten
nach schweren Rämpfen, die den ganzen Tag über andauerten,
ihre Stellungen halten, ohne daß die Eingreifdivisionen in
Anspruch genommen werden mußten. Rritisch wurde die Lage
jedoch im Zentrum des Angriffs, wo ein erbitterter Rampf
um Zonnebeke, den Weiler Molenaarelsthoek, den Polygon-
wald und den park polderhoek geführt wurde. Die rz. Res.-
Div. und die 5O. Res.-Div. (rechter Flügel Gruppe WLjtschate)
setzten ihre ganze Rraft ein, die Engländer wenigstens Ln der
Hauptwiderstandslinie auszuhalten. Aber die feindliche Über-
macht war zu groß. In den Mittagsstunden war der Angriff
zu ihren Ungunsten entschieden. Die Engländer nisteten sich
in einer Linie ein, die vom Westrand von Zonnebeke hart
westlich Molenaarelsthoek verlief, östlich am Polygonwald
vorüberging, den Weiler Reutel berührte und von dort unter
Ausschluß des Polderhoekparkes zum Westrand von Gheluveld
hinüberführte. Der ganze Polygonwald und polderhoek
blieben in der Hand des Feindes. Der Engländer war bei
Reute! unmittelbar aus die Höhenlinie gelangt und hatte
von dort Einblick aus das Plateau von Leceleare.
In dem Bestreben, das Erreichte unter allen Umständen
festzuhalten, legte der Feind den ganzen Tag Uber einen
außergewöhnlichen Feuerriegel vor seine Angriffstruppen.
Die am Nachmittag aus dem Raume von Aeiberg und
Beceleare vorgehenden Staffeln der deutschen Eingreisdivi-
stonen, Teile der 4. bayer. Inf.-Div., der 234. und rz§. Inf.-
DLv., gerieten mitten in diesen Feuerhagel und erlitten
schwere Verluste. An den Feind gelangend, fehlte ihnen die
Rraft zu energischem Vorgehen. Es blieb bei der von den
Engländern am Mittag erreichten Linie. Den neu ein-
gesetzten Bataillonen fiel dann die Aufgabe zu, um 0.30
abends erneut einsetzende englische Massenangriffe abzu-
wehren, deren Ziel die beiden Dörfer Zonnebeke und Ghelu-
veld auf den Flügeln des Einbruchs waren. Noch bei
Dunkelheit dauerten die Rämpfe fort. Der Feind kam trotz
verzweifelter Anstrengungen nirgends Uber die mittags ge-
wonnene Linie hinaus.
In den Rämpfen um Zonnebeke zeichnete sich besonders
das FUsilierregiment 34 unter seinem Kommandeur, Oberst-
leutnant Rraehe, aus. Nachdem der Gegner nach stunden-
langem Trichterkampf schließlich Ln das rauchende und zer-
schossene Dorf eingedrungen, traten um 4 Uhr nachmittags
die Bereitschaftskompagnien der 34er zum Gegenstoß an und
warfen den Engländer durch das Dorf hindurch in den Grund
des Zonnebaches. Massen feindlicher Infanterie wälzten sich
unter dem Eindruck des energischen Vorgehens dieser kleinen
Truppe in eiliger Flucht zurUck und erlitten schwere Verluste.
Eine Ausnutzung dieses Erfolges war leider unmöglich, weil
rechts und links die deutsche Front weit zurUckhing.
Die Gruppe Rpern verfeuerte an diesem Tage fast 300 000
Schuß Artilleriemunition, eine bisher niemals erreichte Ziffer.
Von dem Verbrauch an Geschützen macht man sich eine Vor-
stellung, wenn man hört, daß im Bereich der ebengenannten
Gruppe seit dem 3). Juli 1775 Feldartiüerie- und 1250 Fuß-
artilleriegeschUtze ersetzt werden mußten. Diese Gesamtzahl
entspricht etwa der Friedensstärke der Feldartillerie von
2) Armeekorps.
* »
IS Veurvelöur-, Flandern
24)
Die Mißerfolge des ro. und ro. September veranlaßten
die deutsche Führung zu einer Revision ihrer Abwehrtaktik.
Grundlegend dafür war die Erfahrung, daß die Eingreif-
divisionen zu spät an den Feind kamen, um ihn noch mitten
in der Organisation seines Ansturms zu treffen und das
Durcheinander seiner Verbände auszunutzen. Andererseits
schien es völlig unmöglich, die Eingreifregimenter vor dem
Nachmittag nach einem früh morgens erfolgten Angriffs-
stoß nach vorn zu bringen. Man hätte sie sonst mitten im
feindlichen Artilleriefeuer versammeln müssen, wodurch ihre
Stoßkraft im voraus entscheidend vermindert worden wäre.
Hinzu kam die Tatsache, daß am Großkampftage selbst
die Grundlagen für die systematische artilleristische Vor-
bereitung des Gegenstoßes gewohnheitsmäßig nicht zu be-
schaffen waren. Vorbedingung dazu war nämlich die genaue
Renntnis der eigenen und der feindlichen Linie. Eine solche
war aber frühestens für den Morgen nach dem Großkampf-
tag zu beschaffen.
Diese Erwägungen führten zu der — wie sich später her-
ausstellte — bedenklichen Maßnahme, die Eingreifdivisionen
am Tage des Angriffsstoßes überhaupt zurückzuhalten und sie
erst am folgenden Tage zum systematischen Gegenangriff ein-
zusetzen. Vorbedingung eines solchen Verfahrens war na-
türlich, daß die Gtellungsdivisionen genug Rampskraft be-
saßen, um den ersten Stoß des Gegners in der Hauptwider-
standslinie abzufangen, eine Voraussetzung, die nicht immer
im vollen Umfange zutraf.
Um andererseits die Abwehrkraft der Stellungsdivisi'onen
zu vermehren, wurden verschiedene Maßnahmen getroffen.
Die vordere Rampfzone wurde reichlicher mit Maschinen-
gewehren ausgestattet. Man glaubte, die im Hintergelände
eingebauten Maschinengewehre unbedenklich für diesen Zweck
verwenden zu können, da der Gegner erfahrungsgemäß nicht
mehr aus einen Durchbruch, sondern nur auf ein etappen-
weises Vorwärtsdrücken seiner Front zielte. Aus dem glei-
chen Grunde verlegte man auch die Maschinengewehre der
Bereitschafts- und Reservebataillone nach vorn. Sogenannte
M.G.Latterien von vier bis acht Gewehren wurden gebildet,
die unter straffer Führung auf etwa zweihundert Meter
Frontbreite im Angriffsfall tätig werden sollten. So hoffte
man, durch eine außergewöhnliche Massierung der Ma»
242
schinengewehre in der vorderen Stellungszone zu erreichen»
daß eine genügende Anzahl von Gewehren bei Beginn des
feindlichen Angriffs in Tätigkeit treten könnte.
Die zweite Maßnahme zur Steigerung der Abwehrkraft
der Stellungsdivisionen bestand darin, daß man die Bereit-
schaften und Reserven der Regimenter schon vor Beginn des
Angriffs näher an die vordere Linie anschließen ließ. Man
hoffte dadurch, den ersten Gegenstoß zeitlich so nahe auf den
Angriff selbst folgen zu lassen, daß er den Gegner noch
mitten in der Einrichtung des Gewonnenen treffen würde.
Schließlich schob man von jeder Eingreifdivision hinter jedes
Regiment einer Stellungsdiviston ein Bataillon als Sicher-
heitsbesatzung bis in die Artiüerieschutzstellung vor.
Diese Taktik, deren Grundsatz in einer zeitlichen Vorver-
legung des ersten Gegenstoßes und einer Zurückverlegung des
systematischen Gegenangriffs bestand, sollte beim nächsten
Großkampftag zum erstenmal erprobt werden.
Die Engländer ließen sich wider Erwarten zehn Tage Zeit,
um ihren neuen Angriff vorzubereiten. Mehr und mehr
geriet man in die Periode herbstlicher Stürme und Regen-
fälle.
Ein furchtbares und in seiner Dauer bisher einzigartiges
Artilleriefeuer bereitete den Tag vor. Bis weit ins Hinter-
gelände wurde jede Spur einer Stellung ausgelöscht. Nur
eine Anzahl von Betonbunkern hielt noch stand. Regenschauer
und tiefhängende Wolken fuhren, vom Sturm gejagt, über
den Trichtermorast zwischen Merkem und der Lys.
Eine Menge neuer feindlicher Batteriestellungen war fest-
gestellt worden. So entdeckte man Batterienester bei wieltje,
am Bellewaarde-Teich, bei Schloß Hooge und am Ziüebeker
See. Ein Trommelfeuerüberfall löste den andern ab. Die
Nächte waren mit schwerem Gasbeschuß aus die deutschen
Batterien ausgefüllt, wenn auch die deutsche Artillerie alles
tat, um den Gegner niederzuhalten, so ist doch in diesen
Tagen die Menge des englischen Munitionsaufwandes aus
das sechs- bis achtfache des deutschen bei einer zwei- bis drei-
fachen Überlegenheit an Geschützzahl zu schätzen.
Trotz des schlechten Wetters setzten die Engländer zahl-
reiche Fliegergeschwader ein. In Staffeln bis zu zwölf Flug-
18«
L4Z
zeugen stießen Aufklärungsgeschwader tief in das deutsche
Hintergelände vor. Bombenangriffe, die bisher mit Vorliebe
nachts unternommen wurden, um den Jagdflugzeugen des
Gegners zu entgehen, gelangten jetzt am hellichten Tage unter
stärkstem Jagdfliegerschutz bis nach Brügge, Gent und Zee-
brügge und störten den deutschen Nachschub empfindlich, zy
feindliche Fesselballone wurden vor der Front der 4. Armee
festgestellt. 63 belgisch-französisch-englische Divisionen stan-
den zwischen dem Meer und der Lys, davon etwa ein Dritte!
als Stellungsdivisionen, zwei Drittel als sturmbereite, gut
ausgeruhte Angriffstruppe dahinter.
Am L5. September hatte eine Zusammenkunft zwischen
alliierten Ministern und Heerführern in Boulogne statt-
gefunden. Foch, seit dem 15. Mai Chef des Generalstabes
der französischen Armee, entwickelte den Plan, zunächst die
englische Offensive in Flandern fortzusetzen, schlug jedoch
vor, zu ihrer Förderung einen gemeinsamen belgisch-englisch-
französischen Angriff aus dem Raume von Dixmude heraus
anzusetzen. Robertson versteifte sich auf das alte englische
Vorhaben, unter allen Umständen noch vor dem Winter über
den flandrischen Höhenzug hinaus bis nach Meenen und
Roeselare zu gelangen. Die Ansicht der Engländer drang
durch.
So begann unter Sturm, Regen, Dunst und einem unge-
heuerlichen Trommelfeuer auf breitester Front der schwarze
Tag des 4. Oktober.
Die 4. Garde-Inf.-Div. hatte für diesen Morgen einen
großangelegten Gegenangriff zur wiedernahme des am
rd. September verlorenen Geländes südlich Zonnebeke bis
zum Polygonwald geplant. Die ganze Nacht über schwankte
die Führung, ob der Angriff trotz des schweren englischen Ar-
tilleriefeuers, das leicht als Angriffsvorbereitung zu erkennen
war, unternommen werden oder ob sie alle Rräfte zur Ab-
wehr bereithalten sollte. Gegen Morgen gelangte sie zu der
umgekehrten Auffassung, indem sie jetzt das englische Feuer
als normales Zerstörungsfeuer, nicht aber als unmittelbare
Einleitung des Infanterieangriffs einschätzte. Der Angriffs-
befehl für die 4. Garde-Inf.-Div. wurde aufrechterhalten.
Um 5.3O morgens setzte die deutsche Artillerie mit ihrer
Feuervorbereitung ein. Das englische Feuer hatte an Wucht
244
verloren. Um 6 Uhr, im ersten Morgengrauen, erhob es sich
aber schlagartig zu einer furchtbaren Stärke. Noch war
man des Glaubens, es handele sich lediglich um englisches Ab-
wehrfeuer gegen den beginnenden deutschen Angriff. Aber
bald belehrte die Breitenausdehnung dieser rasenden Trom-
melei vom Houthulster Wald bis an den Ranal südlich Kpern
darüber, daß der erwartete schwere feindliche Vorstoß be-
gonnen hatte. Der deutsche Angriff unterblieb.
Eine Stunde lang prasselte der Feuerorkan. Um 7 Uhr trat die
englische Infanterie dicht maffiert, beinahe Mann neben Mann,
zum Sturm an. Der Stoß richtete sich in gleicher Heftigkeit
gegen die ganze Gruppe Zypern von Langemarck bis zum
Polygonwald und gegen den rechten Flügel der Gruppe wijt-
schate von dort bis über Gheluveld hinaus.
Auf beiden Flügeln der angegriffenen Front gelang es, den
andrängenden Feind abzuwehren. Im Norden wich die 6.
bayer. Inf.-DLv. den ganzen Tag über um keinen Trichter
zurück. Im Süden waren es die hessischen Infanterie-
regimenter 117 und 115 (25. Ins.-DLv.), die den Gegner nicht
vorwärtskommen ließen. Im ganzen mittleren Abschnitt kam
es dagegen zu ernsten Romplikationen.
Vorübergehend in Poelkappelle eingedrungene Engländer
wurden um die Mittagszeit vom Inf.-Regt. iS§ (von der
iS?. Inf.-DLv.) wieder hinausgeworfen. Zwischen Poel-
kappelle und passchendaele gelang es unter schweren Ver-
lusten, den Engländer bis zum Nachmittag Ln einer Linie
aufzufangen, die vom Westrand Poelkappelle zum Strom-
beek, an diesem entlang bis Ln die Gegend westlich Walle-
molen, von dort bis zur Rreuzung der Eisenbahn mit der
Straße passchendaele—Zonnebeke verlief. Damit war der
Engländer nur noch kaum zweitausend Meter von passchen-
daele entfernt.
Die schwerste Einbuchtung entstand in jenem Abschnitt, wo
am frühen Morgen der Angriff der 4. Garde-Inf.-Div. hatte
stattfinden sollen, im Süden von Zonnebeke. über Zonnebeke
hinweg tauchten schon eine Stunde nach Angriffsbeginn die
englischen Stoßtrupps auf dem Höhenrücken bei Broodseinde
auf und drangen, von ihrer Feuerwalze kräftig unterstützt,
unverzüglich gegen Reiberg vor. Am Mittag gelang es
dann, mit Hilfe der Divisionsreserven und der vorgezogenen
Bataillone der Eingreifdivision einen Gegenangriff zu orga-
245
irisieren. Unter unsäglichen Mühen und schweren Einbußen
vermochten die Bataillone den Feind bis aus Broodseinde zu«
rückzudrücken. Zum zweitenmal drang der Engländer um
6 Uhr nachmittags bis in Gegend Reiberg vor. Abermals
trieb ihn der deutsche Gegenstoß auf Broodseinde zurück. Ein
dritter Angriff kurz vor Mitternacht wurde rasch erstickt.
weiter südlich stießen die englischen Compagnien aus dem
Polygonwald heraus bis auf die rZöhen von In de Ster vor.
Dort wurden sie aber aufgehalten.
Am späten Abend verlief die vordere Linie vom Broen-
bachgrund bei Roekuit durch den Ostteil von Poelkappelle am
Strombeek entlang überReerselaarhoek und Nieuwmolen östlich
an Broodseinde vorüber aus das Plateau tausend Meter
westlich Veeselare, von dort an den Westrand von Gheluveld.
passchendaele, Veeselare und Gheluveld waren gehalten, die
Anhöhen von Broodseinde und In de Ster verloren, die
deutschen Verluste, besonders auch an Gefangenen, waren er-
schreckend groß.
Am y. Oktober erfolgte der erwartete vierte Angriffsstoß
jener Serie, die mit dem ro. September eingesetzt hatte. Es
galt Ln erster Linie der Verbreiterung der mit der Zeit im
Zentrum der flandrischen Schlachtfront entstandenen Aus-
buchtung nach Norden zu.
Vormittags 6 Uhr lag die Front von Merkem, westlich des
Houthulster Waldes, bis nach Zandvoorde, südöstlich Zypern,
unter Trommelfeuer. Der nachfolgende Angriff drang zwi-
schen Draaibank und Roekuit bis über Mangelare vor und
erreichte den Südwestrand des Houthulster Waldes. Bahn-
hof Poelkappelle, an der Rreuzung der Straße Houthulst—
Poelkappelle mit der Bahn gelegen, wurde gehalten. Der
Ostteil des Dorfes wurde vorübergehend verloren, nachher
aber wiedergewonnen.
Mittags wurde die 240. Ins.-Div., als Angreisdivision
hinter dem rechten Flügel der Gruppe Rpern, gegen die Ein-
bruchsstelle bei Poelkappelle eingesetzt. Ihr Vorgehen traf
um 7 Uhr abends mit einem neuen schweren englischen Mas-
senangriff zusammen und blieb in der Abwehr liegen.
Erbittert wurde vor passchendaele gerungen, wo die 105.
Inf.-Div. und der rechte Flügel der rzz. Inf.-Div. vor-
24s
übergehend einige hundert Meter Gelände einbüßten. Die
oft bewährten Regimenter der 45. Res.-Div. warfen den
Gegen bis zum Abend in seine Ausgangsstellungen zurück.
Mitte und linker Flügel der rzz. Inf.-Div. verloren nach
zwei vergeblichen Angriffen des Feindes beim dritten einige
hundert Meter kostbaren Höhengeländes zwischen Brood-
feinde und Reiberg.
Elf englische und einige französische Divisionen hatten an-
gegriffen. Bis zu sechsmal wurden die Angriffe im Laufe des
Tages nach jedesmaligem Trommelfeuer vorgetrieben.
wenn auch abermals wertvolles Gelände in die Hand des
Gegners gefallen war, so stellte sich der 0. Oktober dennoch
als ein schöner deutscher Erfolg dar. Die Verluste an Men-
schen und Material waren gegenüber dem 4. Oktober um ein
Beträchtliches gesunken. Die Wiedereinführung der alten
Abwehrtaktik hatte ihren Zweck erfüllt.
*
Schon nach drei Tagen brüllte die Flandernschlacht aber-
mals mit furchtbarer Rraft. Der Engländer hatte es eilig,
sein Ziel zu ereichen. Das schlechte Wetter und der steigende
Wasserstand trieben zur Hast.
Durch verschiedene Anzeichen waren die Deutschen aus das
Bevorstehen des neuen Angriffs für den ir. Oktober auf-
merksam gemacht worden. Ein kräftiges Gasschießen in der
Nacht vom 11. zum ir., genannt „Mondnacht", brachte den
Engländern starke Verluste.
Gleichwohl setzte um 0.30 das nun fast alltäglich gewor-
dene rasende Trommelfeuer zwischen Draaibank und Zand-
voorde gegen die Gruppen Dixmude, Rpern und WLjt-
schate ein.
Eine Stunde später begann der Infanterieangriff. Vom
Bahnhof Poelkappelle aus drangen die Engländer beiderseits
der Straße bis in die Gegend von Schaap Balie vor, so daß
sie nun unmittelbar südlich des Houthulster Waldes lagen.
Dorf Poelkappelle ging endgültig verloren, der Gegner stand
am Abend beinahe halbwegs westroosebeke vor dem Weiler
Spriet.
Nachmittags 6.30 erfolgte in dieser Linie ein neuer schwere
englischer Angriff. Er wurde abgeschlagen.
L47
Vijfrvegen
Die meisten jener Divisionen, die nur mit geringen Unter-
brechungen seit drei Monaten an der Flandernschlacht teil-
nahmen, kannten den Großkampf schon von Verdun und
der Somme her. was ihnen neu war, ist schnell gesagt:
die Eigenart des Geländes, das kaum eine Deckung zuließ
und zu dem Kampf der Waffen den ebenso furchtbaren
Kampf mit Wasser, Schlamm und Regen fügte, und die
Konzentrierung des feindlichen Angriffs aus verhältnis-
mäßig wenige Maffenstöße Ln breitester Front. In Flandern
gewann die Materialschlacht ihre ausgeprägteste und in die-
sem Umfange nur einmal erreichte Form.
Die Schlacht war ursprünglich in dieser Form keineswegs
beabsichtigt. Aber es ist der Sinn der großen Material-
schlachten, daß sie durch die Anhäufung aller Kampfmittel
auf beiden Seiten zu immer neuen Fortsetzungen herausfor-
dern. Verdun brauchte noch Monate lang Zeit, um sich zu
beruhigen und zu normalen Verhältnissen zurückzukehren,
auch nachdem der Entschluß zum Abbruch der Angriffstätig-
keit gefaßt war. Die Somme und Flandern wurden letzten
Endes nicht durch den willen der alliierten Heeresleitung,
sondern durch den Winter beendigt.
In der ersten Woche der Flandernschlacht stellten die Eng-
länder noch Kavallerie bereit, um nach vollzogenem Durch-
bruch sie rasch einsetzen zu können. Am 3). Juli hatten sie
ihre Kavallerie sogar bis dicht hinter die Sturminfanterie
vorgezogen, um diese nur ja bei der Hand zu haben. Im Ver-
lauf von zwei Monaten paßte sich die Mentalität ihrer Füh-
rung und ihrer Truppen so sehr den Vorgängen der Ma-
terialschlacht an, daß sie nicht einen einzigen Schritt über die
Erreichung ihres eng gesteckten räumlichen Zieles hinaus-
gegangen wären, so oft sich ihnen bei der zahlenmäßigen
Schwäche der deutschen Verteidigung auch Gelegenheit dazu
bot. Es wäre reizvoll, zu untersuchen, welche Möglichkeiten
r4S
sich an solchen Großkampftagen der Materialschlacht um die
kritische Mittagsstunde einer Truppe geboten hätten, die mit
der Gturmgewalt der ersten Rriegstage, aber mit den Er-
fahrungen der drei Rriegsjahre vorgestoßen wäre.
Aber es scheint ein psychologisches Grundgesetz zu sein, daß
die langandauernde Materialschlacht den offensiven Gedan-
ken erstickt. Die Phantasie gelangt mit ihren Vorstellungen
nicht über das Trichterfeld hinaus, Ln das der Mensch durch
ein grausames Schicksal mit allen Fasern seines Denkens
und Fühlens gebannt ist. Es ist wie ein dumpfer Zwang,
der Angreifer und Verteidiger immer auf die wenigen zer-
trommelten, mit Leichen angefüllten paar (Quadratkilometer
Raum hinstarren läßt, ohne die er nicht bestehen zu können
glaubt, und deren Besitz ihm aller noch so großen Opfer wert
erscheint.
* K
K
Reine Schlacht des Rrieges war so blutig wie die Flan-
dernschlacht, wenn man Dauer der Schlacht und Breite des
Angriffsabschnitts berücksichtigt. Neben der ungeheuren
Massierung von Artillerie und der zeitlichen Ausdehnung des
Vorbereitungsfeuers trug zu diesem Umstand besonders die
neue Beweglichkeit der Abwehrtaktik bei, der sich die An-
griffstaktik wohl oder übel anpassen mußte.
Der erste Angriff erzeugt den Gegenstoß der Bereitschaf-
ten, der Gegenstoß prallt mit dem zweiten Angriff zusam-
men. Der zweite Angriff wird in mehreren Wellen geführt.
Er trifft auf das Vorgehen der Stellungsreserven. Uber
den zweiten Angriff geht der dritte hinweg, abermals in meh-
reren Wellen. Ihm begegnen die Sicherheitsbesatzungen Ln
der Artillerieschutzstellung. Der vierte Angriff stößt gegen
die zum Gegenstoß vorgehenden Compagnien der vorgescho-
benen Teile der Eingreifdivisionen. Einen halben Tag geht
es so in verzettelten Rämpfen hin und her. Schon sind die
Verbände stark vermischt. Die Artillerie ist ohne genaue
Renntnis über den Verlaus der vorderen Linie. Das ra-
sende Abriegelungsfeuer des Angreifers allein ist der einzige
Ausdruck einer straffen Organisation. Aber auch die an-
greifende Infanterie ist längst ohne Zusammenhang damit.
In dieser Verwirrung, die fast regelmäßig um die Mit-
tagszeiteintritt, trifft der systematische Gegenangriff der Ein-
r4§
greifdivision, aus der Tiefe heraus geführt und seit morgens
schon in der Entwicklung, von eigener Artillerie unterstützt.
Er hat zuerst das Abriegelungsfeuer des Feindes zu durch-
schreiten. Dann walzt er sich über den inzwischen entstan-
denen „Schützenbrei" zwischen Artillerieschutzstellung und
Hauptwiderstandslinie nach vorwärts und gelangt unter stän-
diger Auseinandersetzung mit dem Gegner bis in das alte
Vorfeld. Hinter diesem Gegenangriff sammeln sich indessen
in der Schutzstellung die Reste der Stellungsdivision. In
der Regel behält noch der Stab der Stellungsdivision das
Kommando im Abschnitt, weil er naturgemäß mit den Ver-
hältnissen besser vertraut ist.
Der Feind erwartet selbstverständlich den Gegenangriff der
Eingreifdivision. Rann er ihm nicht rechtzeitig begegnen, so
liegt es daran, daß er selbst mit der Einrichtung des eroberten
Geländestreifens noch nicht fertig ist. Aber hinter den zurück-
gehenden Truppen, die seine erste Angriffsstaffel gebildet,
steht schon die zweite Staffel bereit, um den Rampf mit der
Eingreifdivision aufzunehmen. In den späten Nachmittags-
stunden erfolgt nach neuem Trommelfeuer, ganz im Stile des
Morgenangriffs, der zweite Großangriff des Tages, abermals
aus verschiedenen Stößen zu mehreren Wellen bestehend, aber-
mals zunächst auf die Kampftruppen der Eingreifdivision, dann
auf ihre Bereitschaften, dann auf ihre Reserven stoßend.
Und dies alles Ln der Bewegung.
Je nach der Schwere dieser zweiten Angriffsserie und
nach dem Zustand, in dem sich die Truppen der Eingreif-
division befinden, kann es am Spätabend oder Ln der Nacht
noch erforderlich werden, die im Laufe des Tages wieder ge-
sammelten und organisierten Verbände der alten Stellungs-
division nochmals zu verwenden.
Die Nacht dient dazu, den Rnäuel von Truppen, der sich
gebildet hat, auseinanderzuwirren. Es gibt, im Gelände ver-
streut, jetzt Rompagnieführer, die Leute von zehn Bataillonen
um sich versammelt haben, ohne zu wissen, wo sich der
R.T.R. befindet, wo die Artillerie steht, wer den Befehl im
Abschnitt führt, was für morgen geplant ist, woher die
Leute zu effen bekommen sollen, wer Munition bringt, wer
sich um die Verwundeten bekümmert. Sie suchen mühsam
nach rechts und links Verbindung zu bekommen und treffen,
L5O
wenn sie Glück haben, auf ebensolche Schützentrupps, womög-
lich mit ein paar Maschinengewehren.
Dem Angreifer geht es nicht viel besser. Er weiß nicht,
ob er nicht morgen früh schon in die Rolle des Verteidigers
gedrängt sein wird. Der ungeheure Verbrauch an Munition
verlangt Ersatz, denn der Tag nach dem Großangriff ist ge-
wohntermaßen nicht sparsamer damit als der Angriffstag
selbst. Die Artillerie muß staffelweise Stellungswechsel vor-
nehmen, wenigstens die zur unmittelbaren Unterstützung der
Infanterie bestimmten Batterien. Patrouillen müssen den
Verlauf der eigenen und der feindlichen Linie feststellen,
denn die Artillerie braucht bis zum Morgen die Schußunter-
lagen. Aus dem Vortreiben von Patrouillen entwickeln sich
bei der auf beiden Seiten herrschenden Nervosität Kämpfe
mit Sperrfeuer und allem Drum und Dran und neuer Ver-
wirrung.
Endlich kommt die Morgendämmerung. Der Vorsicht hal-
ber wird von beiden Seiten ein ungeheurer Munitionsauf-
wand betrieben. Man will dem Gegner verwehren, in die
noch nicht beendete Ordnung der Abwehrzone hineinzustoßen.
Das Feuer wird desto heftiger, je mehr der Verdacht Raum
gewinnt, es könne sich beim Gegner vielleicht doch um ernst-
gemeinte Angriffsabsichten handeln. Die kostbare Munition,
unter unsäglichen Schwierigkeiten nachts herangebracht,
wird in den Morgenstunden schon wieder verschossen, womög-
lich noch auf die alten Ziele, weil man die neuen noch nicht
hat. Sperrfeueranforderungen entstehen aus Nervosität. Das
ganze tiefgestaffelte Stellungssystem gerät schon wieder in
Bewegung. Die über Nacht aus der Etappe eiligst mit Last-
autos herangefahrenen Kampftruppen der neuen Eingreif-
division müssen unverzüglich in den Ausstellungsraum rücken.
Erst gegen Mittag stellt sich heraus, daß mit einer Er-
neuerung des Angriffs für heute nicht zu rechnen ist. Aber
schon tritt der Grundsatz in Tätigkeit, durch fortgesetztes
schweres Feuer und Einzelangriffe den Gegner nicht zur Ruhe
kommen zu lassen, um ihn für den nächsten Großangriffstag
mürbe zu machen.
Im gleichen Maße wie diese neuartige Abwehr- und An-
griffstaktik, die sich auf den Erfahrungen der Sommeschlacht
aufbaute und während der Flandernschlacht eine geradezu
klassische Ausprägung erfuhr, zu einer außerordentlichen Be-
weglichkeit innerhalb der tiefgegliederten Schlachtcnzone
führte, mußte sie auch zu einer Steigerung der Verluste auf
beiden Seiten beitragen.
Die Verluste waren Ln der Tat furchtbar schwer. Es gab
Divisionen, die mit einer Gewehrstärke von 4000 Mann als
Eingreifdivision nachmittags antraten und Ln der übernächsten
Nacht nach Einbuße der Hälfte ihres Bestandes wieder aus
der Front gezogen werden mußten. Im Monat Oktober, der
im wesentlichen die zweite Serie der englischen Großangriffe
umfaßt, bezifferte sich der Gesamtverlust der Gruppe Rpern,
zu der jedesmal drei Stellungsdivisionen und drei Eingreif-
divisionen auf etwa acht Kilometer Breite gehörten, auf
3S51 Tote, )5ror Verwundete und 10395 Vermißte. In
der Zeit vom 29. September bis 9. Oktober verlor die
ro. Inf.-Div. 257 Tote, S7S Verwundete und 2586 Ver-
mißte, die )95. Inf.-Div. Ln den sieben Tagen vom 7. bis
-3. Oktober gar 94 Offiziere und 323) Mann insgesamt.
Besonders bedenklich stimmten die unverhältnismäßig hohen
Einbußen an Frontoffizieren, Rompagnieführer und Ba-
taillonskommandeuren. Es gab Regimenter, die an einem ein-
zigen Tage neben ihrem Kommandeur noch zwei Bataillons-
kommandeure und bis zu neun Kompagnieführern abschreiben
mußten. Jedermann aber, der den Großkamps kennt, weiß,
wieviel von der Besetzung dieser Befehlsstellen abhängt. Dem
Typ dieser einzigartigen Menschen einen besonderen Ab-
schnitt zu widmen, ist eine Ehrenpflicht dessen, der eine Dar-
stellung jener mörderischen Schlacht geben will.
Der Großkampf konzentriert sich um einzelne widerstands-
punkte im Angriff sowohl wie in der Verteidigung. Die un-
geheuerliche Massierung der Feuerwirkung zwingt zur Zu-
sammenfassung der Abwehr auf eng beschränktem Raum in
einzelnen Nestern. Selten reicht die Wirksamkeit eines sol-
chen Nestes über die nächsten zweihundert Meter zur Rechten,
zur Linken und nach vorwärts hinaus. Alles andere ist ab-
geschlossen, dem Blick und der Waffenwirkung entzogen.
Jedes Nest ist im Leben wie im Sterben auf sich allein ge-
252
stellt, und es ist Sache eines einzelnen Mannes, hier inmitten
einer tobenden Hölle von Eisenstücken, eines fürchterlichen
Lärms, inmitten menschlicher Begrenztheit und Todesver-
wandtschaft mit kühlen Nerven das Rommando zu führen.
Dieser Mann ist der Rompagnieführer in der Hauptwider-
standslinie. Seine vorgeschobenen Postierungen hocken im
Vorfeld. Er weiß nicht, ob auch nur einer von ihnen das
rasende Angriffsfeuer im Morgengrauen und den Ansturm
der Massen überstehen wird. Rechnen darf er damit nicht.
Seine Aufgabe ist es, den Augenblick des Angriffs rechtzeitig
zu erfassen, seine leichten Maschinengewehre bereit zu halten,
seine beiden Züge — der dritte ist im Vorfeld — beieinander
zu versammeln, daß er möglichst jeden Mann sehen kann, und
im übrigen das Beispiel eines todverachtenden Mannes zu
geben, der im entscheidenden Zeitpunkt nichts kennt als den
willen zum Siegen.
Er weiß, daß alle diese Leute da in den Trichtern, deren
Gesichter von der Anspannung des Nahkampfes verzerrt
sind, auf ihn schauen. Er weiß, daß er in diesem Augenblick
ernten wird, was er in den Zeiten der Ausbildung und der
Ruhe an Vertrauen, Tatkraft und Männlichkeit in sie hin-
eingesät hat. Er kennt aus hundert Gefechten jeden seiner
Leute mit der inneren Zuverläßlichkeit, die sich nur Ln den
Tagen dieser vertrauten Nachbarschaft mit dem Tode offen-
bart. Jedem gehört ein Stück seines Herzens. Aber er hat
wohl darauf zu achten, daß dies Herz nicht ins Wanken ge-
rät, wenn erst dieser, dann dieser, dann dieser die Arme hoch-
wirft und hinsinkt in den Morast. Nein, in sein Gesicht
darf kein Zucken kommen, in seine Stimme kein Zittern, seine
Hand muß ruhig sein, mag sie am Abzugsbügel den Zeige-
finger krümmen, oder mag sie eine Weisung geben, wo die
Stimme nicht mehr durchdringt.
Alles muß er zu gleicher Zeit sehen, das Verhalten seiner
Leute, die Bewegungen des Feindes. Er muß veranlassen,
daß der Artillerie die richtigen Zeichen für Vor- oder Zurück-
verlegen des Feuers gegeben werden, daß die Fliegertücher
ausgelegt werden, wenn der Infanterieflieger herankommt.
Er muß versuchen, eine Meldung zum RH gelangen zu
lassen, und muß für Munitions- und Verpflegungsnachschub
sorgen. Er muß das Feuer der Maschinengewehre lenken,
wenn der Gegner Flankenbewegungen macht. Er muß
253
hart sein können gegen alle Merkmale menschlicher Schwäche,
die zum Vorschein kommen.
Hier ist er und dort bei seinen Leuten, klettert Uber die
Trichter, dem Feuer des Gegners voll ausgesetzt, verteilt
seine Zigaretten, spricht Mut zu, lacht und flucht derb, wo es
nötig ist.
Trifft ihn dann das Geschoß — fast jeden trifft es einmal —
so hockt er bleich, verschweißt, blutend und verdreckt im Trichter
und gibt seine Rommandos, während die Sanitäter ihn ver-
binden. Halb im Fieber schon verläßt ihn das Gefühl der
Verantwortung keinen Augenblick. Und wenn nachts endlich
die Schlacht sich beruhigt, und sie legen ihn auf die Trag-
bahre, um ihn nach hinten zu bringen, dann steht ihm das
Wasser in den Augen. Denn was soll aus seinem Häuflein
werden, wenn er nicht mehr dabei ist; wer soll mit ihnen
reden, an ihren Sorgen teilnehmen, ihre Wunsche kennen;
Beim R.T.R. läßt er die Träger noch einmal halten. Der
Rommandeur kommt heraus, drückt ihm die Hände. Sprechen
können sie beide kaum. Jeder weiß, was er verliert. Sie
kennen sich besser als Mann und Frau, als Vater und Sohn,
und doch haben sie beide gewußt, daß einmal Abschied ge-
nommen werden mußte. Diesmal ist es noch gut gegangen,
wer ist der nächste; Gibt es ein wiedersehen; Oder wird
er, der Rompagnieführer, daheim schon erfahren, daß „der
Alte" Ln Flandern gefallen; Nichts da, so oder so. „Auf
wiedersehen, Herr Hauptmann," „Ade, mein Lieber."
Bei der Bagage hinten wird noch das Dringendste an
Rompagniegeschäften erledigt. Der Schnurrbart des Etats-
mäßigen zuckt verdächtig, der Schreibstubenunteroffizier
macht ein eisernes Gesicht. Der Rompagnieführer drückt bei-
den die Hand und lächelt zuversichtlich. Mit dem Sanitäts-
auto geht es weiter.
Der Regimentskommandeur schreibt ihm nach daheim, daß
er selbstverständlich seine alte Compagnie wieder bekommt.
„Der Alte" beim Bataillon lebt auch noch und ist fidel wie
immer, obwohl sie ihm zweimal, am Hanebeek und bei pol-
derhoek, seinen Bunker zusammengepfeffert.
Aber am schönsten sind doch die Briefe aus der Compagnie,
wie sie ihn vermissen, und daß der Unteroffizier R. das
Eiserne Rreuz Erster bekommen. Daß es in Flandern im-
mer noch nicht trockener geworden ist, und daß der Ba-
254
taillonskommandeur ihnen hoch und heilig versichert habe,
die Compagnie wird ihm freigehalten. Auch Trauriges, der
ist gefallen, und der und der. -Bei einem nächtlichen Bom-
benangriff ist der Feldküchenunteroffizier tödlich getroffen
worden. Es ist nicht mehr schön draußen, und kalt wird es
auch schon, und er soll möglichst bald wieder kommen.
Diese Briefe liest er heimlich immer wieder, wie es
dann endlich wieder hinausgeht, fällt der Abschied von Da-
heim gar nicht schwer. Es geht ja von Daheim nach Da-
heim, aus der einen Familie in die andere.
Der Schwerpunkt des Abwehrkampfes liegt beim R.T.R.,
in der Person des Rampftruppenkommandeurs. Er haust
irgendwo zwischen Hauptwiderstandslinie und Artillerieschutz-
stellung, in einem Betonbunker, in einem Reller unter einem
zertrümmerten Haus, oft auch im freien Felde, wenn ihn
das feindliche Artilleriefeuer dazu zwingt. In seiner Nähe
sind die Stoßkompagnien des Bereitschaftsbataillons unter-
gebracht. Sie unterstehen seinem Befehl vom Augenblick des
Angriffs an, er hat sie zum Gegenstoß anzusetzen, wie es die
Lage vorn erfordert. Nicht weit von ihm entfernt stehen
die vorgeschobenen Batterien der Feldartillerie.
Der Artillerieverbindungsoffizier, dem R.T.R. zugeteilt,
hält die Verbindung mit ihnen und der übrigen Abschnitts-
artillerie aufrecht.
Der R.T.R. regiert in seinem Abschnitt unumschränkt. Re-
gimentsstab, Lrigadestab, Meldekopf der Division sind weit
entfernt. Der Großkampf zwingt zu engster Abgeschlossen-
heit auf schmalem Raum. Er gestattet nicht mehr als die
fünfhundert Meter Frontbreite, nicht mehr als siebenhundert
Meter Tiefe vom Vorfeld bis zum R.T.R. einheitlich zu be-
herrschen. Hier spielt sich alles ab.
Alle Fäden des Gefechts laufen beim R.T.R. zusammen.
Alles wendet sich an ihn. Die vorn Rämpfenden verlangen
von ihm Unterstützung. Die von hinten Aufrückenden wollen
durch ihn eingesetzt und in ihre Aufgabe eingewiesen wer-
den. Die Artillerie ist auf seine Meldungen mit ihrer
Feuerverteilung angewiesen. Die höheren Gefechtsstäbe
müssen durch ihn orientiert werden, um die Beschlüsse fassen
L55
zu können, die erforderlich sind. Der Abschub der Verwun-
deten, das Heranschaffen von Verpflegung und Munition, der
verwickelte Nachrichtendienst, die Beobachtung des Gegners,
alles liegt auf seinen Schultern.
Das wichtigste aber ist die selbständige Beurteilung der
Lage im Großkampf. Aus den Meldungen der einzelnen
R.T.R. entsteht erst das Gesamtbild. Es ist verhältnismäßig
leicht, sich aus drei exakten Meldungen Uber je 500 Meter
Frontbreite ein Bild vom Stand des feindlichen Angriffs und
der eigenen Verteidigung im Divisionsabschnitt zu machen.
Es ist jedoch ungeheuer schwer, mitten aus dem Getümmel,
der Verwirrung, dem Lärm, der Truppenvermischung, dem
wahnsinnigen Artilleriefeuer ringsum, eine exakte Meldung
Uber 5oo Meter Frontbreite zu machen.
Nichts ist so schwer, als unter dem unmittelbaren und
furchtbaren Eindruck eines Ereignisses ein knappes Bild zu
entwerfen, das zwei Stunden später als Grundlage dient, um
Uber das Leben vieler Hunderter Menschen zu entscheiden.
Man darf nicht um Hilfe rufen, wenn die eigenen Rräfte zur
Abwehr ausreichen. Man darf nicht versäumen, mit allem
Nachdruck die Hilfe zu fordern, ehe es zu spät ist. Man darf
nicht vergessen, daß die Hilfe frühestens in Stunden zur
Stelle sein kann. Man darf nicht außer acht lassen, daß in
vielen Fällen die Meldung Überhaupt nicht nach hinten ge-
langt.
Alles hängt von der Beurteilung des R.T.R. ab, mag
auch auf dem weiten weg der Meldung nach rückwärts bis
zur Division jede höhere Befehlsstelle ihre eigene Ansicht
hinzufügen. Es gibt nur einen R.T.R. im Regimentsab-
schnitt, drei Regimentsabschnitte Ln der Division. Diese drei
R.T.R. sind es, die dem Bamps sein Gepräge geben.
Um die Lage im Abschnitt richtig zu beurteilen, ist mehr
erforderlich, als gute Augen, Unerschrockenheit, Verantwor-
tungsgefühl, Vorstellungskraft und kaltes Blut. Instinkt
und Erfahrung erst bilden den rechten Rampftruppenkom-
mandeur, den Herren des Schlachtfeldes, den Prellbock der
Abwehrfront, den Vater seines Bataillons, „den Alten" im
Bunker.
Er sitzt nicht irgendwo hinter der Front, das Getöse des
Großkampfes von ferne vernehmend, auf der Generalstabs-
karte mit roten und blauen Stiften den Gang des Gefechtes
25-
einzeichnend und in kühler Gelassenheit seine Entschlüsse fas-
send. Nein, er ist mitten darin. Der Tod und das Gebrüll
der Schlacht umgeben ihn wie jeden Musketier seines Ba-
taillons. Das feindliche Artilleriefeuer, das seine Bedeutung
kennt, konzentriert sich um seinen Bunker. Die feindlichen
Flieger suchen nach ihm als dem Nervenzentrum des
Rampfes. Das Gewehr ruht Ln seiner Hand, wenn es not
tut, ebenso sicher wie in der Hand seiner Begleiter. Das
Gehämmer der Maschinengewehre, die Paukenschläge der
Handgranaten sind das Großkampfkonzert, das er im vor-
dersten Sitz des Gchlachtenparketts mitanhört.
was die Truppe als Erfahrung und Gewohnheit empfin-
det, muß sich bei ihm auf taktische Maßregeln übertragen.
Jede neue Erscheinung des Großkampfes muß ihn vorbe-
reitet finden, und was sich an menschlichen Mängeln geltend
macht, muß von ihm zuerst und am nachdrücklichsten über-
wunden werden. Denn er steht nicht nur, wie seine Rom-
pagnieführer, für den Haufen Trichter vorwärts und seitwärts
ein, sondern für den ganzen Verlauf des Gefechts im Re-
gimentsabschnitt. Er bleibt, wenn seine Compagnien zer-
trümmert Ln die Bereitschaft zurückgezogen werden, um die
Gefechtshandlungen der vorgeschobenen Reserven zu leiten.
Er lenkt endlich die am Nachmittag eintreffenden Stoßtrupps
der Eingreifdivision, denn sein Leben gehört nicht nur seinem
Bataillon, es gehört seinem Abschnitt.
Nichts Menschliches ist ihm fremd. Der höhere Rang hebt
ihn keinen Zoll über seine Musketiere hinaus, wird er
besonders ausgezeichnet, so wissen alle, der ?our 1e merite
gehört dem Bataillon, kein würdigerer als „der Alte" ist
berufen, ihn für sie zu tragen.
Am besten kennen ihn neben seinen Offizieren im Stabe
die Melder und Nachrichtenleute. die den Verkehr zwischen
Rompagnien und Bataillon, zwischen Bataillon und Regiment
vermitteln. Sie haben schon vor Verdun und an der Somme
in seinem Unterstand gelegen. Sie gehören zu seiner engsten
Familie und sind stolz darauf. Stirbt einer von ihnen den
Soldatentod, so schreibt „der Alte" persönlich nach Hause an
die Frau, die Mutter, den Vater. Nicht viele Zeilen, nur
ein paar eindrucksvolle Worte. Ein neuer tritt an seine
Stelle, die Tradition setzt sich fort vom Toten auf den
Lebendigen. Es ist keiner in dieser männlichen Familie, der
17 Benmelburg, Flandern
r57
nicht das Herz aus dem rechten Fleck hat, und der für „den
Alten" nicht durch Tod und Hölle ginge.
Es gibt keine Redensarten hier. „Der Alte" spricht nicht
ein Wort zuviel und trägt sein Gemüt nicht auf der Zunge,
sondern im Herzen, wohin es gehört.
Bisweilen nur, wenn die Division aus der Front gezogen
und hinten in kümmerlichen (Quartieren ein paar Tage zwischen
Großkampf und Großkampf verbringt, wenn er mit seinen
Rompagnieführern, dem getreuen Adjutanten und Ordonnanz-
offizier im sogenannten Rasino sitzt, seine Zigarre raucht und
ein Glas wein trinkt — dann fängt er auf einmal an zu
plaudern. Von seiner Jugend, seinen Streichen, der Strenge
des Vaters, von seiner Dienstzeit, seinen Vorgesetzten, seinen
Leuten. Von allen anderen Dingen, nur vom Rrieg nicht
und dem Rampf um die Trichter. Und zum Schluß, ehe er
sagt: „Meine Herren, es ist Zeit, das Lager aufzusuchen,
morgen früh ist . . . Besichtigung" — zum Schluß erzählt
er noch einen uralten Witz aus seiner Fähnrichszeit, den sie
alle längst kennen. Aber sie lachen und freuen sich, denn sie
wissen nun, daß es „dem Alten" gut geht.
woran er denkt, wenn er dann allein in dem weiß über-
zogenen Bett liegt, das ihm die Ortskommandantur zur Ver-
fügung gestellt, und das fast ebenso behaglich ist wie das des
Ortskommandanten selbst — woran er dann denkt, das
freilich weiß keiner.
Nein, es ist nicht mehr schön Ln Flandern, auch bei Vijf-
wegen nicht.
Vijfwegen liegt dicht an der Bahnlinie Rpern—Lange-
marck—Staden, genau südöstlich des Houthulster Waldes.
Fünf Wege stoßen dort zusammen, einer führt nach Staden,
einer nach westroosebeke, einer nach Schaap Balie und zwei
in den Wald hinein. Früher stand eine Mühle beim Fünf-
wegekreuz. Aber das ist nun schon lange her.
Man kann, wenn man auf der Rarte die Bahnlinie be-
trachtet, den Verlauf der Schlacht ablesen wie auf einem
(Quecksilberthermometer. Im Juli verlies die Front vor
Boesingen, der R.T.R. war in PLlckem, das Regiment in
Langemarck, die Brigade in Vijfwegen, die Division Ln
Staden. Im September war die vordere Linie bei Lange-
marck, der R.T.R. bei Schreiboom, das Regiment in Schaap
Balte, die Brigade in Stadenberg. Heute, Ende Oktober, ist
die Front vor Schaap Balte, das Regiment in Stadenberg.
Bei Vijfwegen liegt der R.T.R.
Zur Rechten der Romplex des Houthulster Waldes. Früher
wimmelte es hier von Batterienestern. Die Infanterie
kannte den verwunschenen Wald nur vom Durchmarschieren
und vom Aufenthalt in der Bereitschaft her. wie ein Igel
mit seinen Borsten, so starrte der niedergetretene Wald mit
seinen Rohren. Die Bäume zersplitterten, verbrannten, zer-
rissen, niemand kümmerte sich darum. Die stählernen Rohre
traten ihre Erbschaft an. Es wurde ein Wald aus Feuer-
schlünden, der nachts unter infernalischem Getöse seine
grauenvollen Blüten trieb.
Auch das hat sich verändert. Im Südwestteil des Waldes
und an seiner Südsront entlang bis nach Schaap Balie hat
sich der Infanteriekamps eingenistet mit seinem dünnen
Gefechtslärm, seiner blutigen Hast, seiner gefräßigen Ruhe-
losigkeit. Die Batterien sind Schritt für Schritt rückwärts
gekrochen, viele haben den Wald schon nach Osten verlassen.
In dem Mannekenhof, ehemals Stand des Artilleriegruppen-
kommandeurs, sitzt heute der R.T.R. wo der R.T.R. sitzt,
da ist es vorüber mit Waldidylle, Bachgrund, wiesengrün
und Raninchenjagd. Der RH braucht ein niedergehäm-
mertes Feld, braun, klebrig, zäh, gleichförmig, damit nur ja
den Menschen, die hier einander den Besitz der Granatlöcher
streitig machen, nicht der Gedanke kommt, es liege hier
eine groteske Verwechslung zwischen Waldfrieden und
Trichterfeld vor.
Zur Linken, von Vijswegen aus, schaut man durch eine
sanfte Mulde nach Tiendenberg und westroosebeke. Es gab
eine Zeit, da man, auf der Anhöhe von westroosebeke stehend,
am Horizont rings um Zypern diese furchtbare Schlacht
brodeln sah wie das graue Meer, weit von landeinwärts
erblickt. Dann hatte man das beklemmende Gefühl, das sich
mitfühlender Menschen stets bemächtigt, wenn sie ihre Mit-
menschen einem bitteren Schicksal unterworfen wissen, das
man ihnen nicht abnehmen kann. Rriegsberichterstatter
wurden auf diesen bevorzugten Punkt der flandrischen Bühne
geführt, sie schrieben dann gefühlvolle und schön stilisierte
17*
259
Berichte, wobei sie bisweilen die Entfernung bis zur Front
ein wenig unterschätzten. Sie wurden gewissermaßen der
Empfindung teilhaftig, auf einem Feldherrnhügel zu stehen,
von dem aus die Schlacht gelenkt wird. Ihre Berichte ge-
wannen durch solch heroische Vorstellungen an Schwungkraft.
Gelangten sie einige lochen später in einem Bündel ver-
alteter Liebesgabenzeitungen an die Front, so pries sich der
Frontsoldat glücklich, aus berufenem Munde zu erfahren, wie
denn der Rrieg eigentlich hier aussah.
Heute ist es nichts mehr mit dem Feldherrnhügel, mit den
Rriegsberichterstattern und ihren schwungvollen Berichten.
Die Flandernschlacht ist langweilig geworden, seit sie keine
Sensationen mehr bringt, nur noch Verlustziffern. Italien,
der Übergang über den Tagliamento, das sind ergiebigere
Themen, da kann man vollklingende Töne anschlagen, da
gibt es Landschaft, Bewegung, Plastik, Siegesgefühl. Das
Thema Flandernschlacht ist unzeitgemäß, veraltet. Selbst der
Heeresbericht beschränkt sich auf das wichtigste.
Und überdies ist auf dem Feldherrnhügel von westroose-
beke nichts mehr zu sehen. Der R.T.R. ist dort, seit die
Front unweit des Weilers Spriet verläuft und seit um
passchendaele und eben diesen Hügel schwer gerungen wird
in Schlamm und Morast. Und wo der R.T.R. ist, da ist es
vorbei mit schönen Berichten und lyrischen Ergüssen. Die
Meldezettel, die von solch einem R.T.R. aus durch Melde-
läufer zum Regiment gebracht werden, sind der krasseste Typ
einer trockenen, unliterarischen, schwunglosen und phantasie-
armen Darstellung. Nein, das Lyrische hört schon weit
hinter dem R.T.R. auf.
Von Vijfwegen geradeaus, an der Bahn entlang, auf
Gchaap Balie zu, ist überhaupt nichts zu sehen, denn das
Braun der Trichter, das Glänzen der Wasserlachen, das Auf-
spritzen schmutziger Schlammfontänen und der graue Dunst
der Pulverschwaden bedeutet hier keine Sehenswürdigkeit
mehr. Das gehört so dazu und verdient nicht, besonders
vermerkt zu werden.
Man müßte schon auf die Windmühle klettern — wenn
sie noch da wäre! —, um nur einige tausend Meter weit
über die Ebene schauen zu können, die sich zwischen dem Wald
zur Rechten und dem Höhenzug zur Linken ausdehnt. Dann
könnte das Auge vielleicht bis nach Langemarck und nach
Poelkappelle gelangen. Aber zu sehen gibt es auch da nichts.
Beide Dörfer unterscheiden sich durch nichts von dem
Trichterfeld ringsum. Vielleicht wird später einmal ein
Geologe einige Gteinreste und Merkmale menschlicher Be-
hausungen ausgraben, damit man sagen kann: hier hat einst
Langemarck gestanden, hier lag einst Poelkappelle, so un-
gefähr verlief die Straße zwischen beiden, dort überquerte
die Eisenbahn den Steenbeek.
Dann man sich überhaupt vorstellen, daß einmal hier
wieder Ruhe einkehren wird; Daß die Fontänen aufhören
zu tanzen, die Einschläge nicht mehr krachen, die Maschinen-
gewehre nicht knatterny Daß man ausgerichtet und ruhigen
Blickes über diese Einöde schreitet, die vom Lärm und von
Geschrei der Verwundeten verlassen ist, und die dann allein
vom Schweigen des Todes erfüllt sein wird)
So wenig die Vorstellungskraft reicht, sich dies Land aus-
zumalen, wie es vor einem halben Jahre noch blühend im
Sonnenschein lag, so wenig vermag die Phantasie heute
schon jenen fernen Tag tödlicher Ruhe zu erfassen. Der
grausige Prozeß der Vernichtung hält den Menschen um-
fangen und verwehrt ihm den Schritt nach rückwärts und
den Schritt nach vorwärts.
Ob Vijfwegen, ob Wallemolen, ob polderhoek oder Zille-
beke — es ist im Grunde alles dasselbe. Man hockt im
Trichter, man schießt, man wirft Handgranaten, man stirbt.
Alles ist Flandern, alles ist endlos, alles scheint ewige Wieder-
holung, obwohl es doch vor drei Monaten erst anhob und
obwohl es doch irgendwie einmal enden muß.
Zwecklos, an den Tag zu denken, als es anfing — er kehrt
nicht wieder, und es ist gut, daß er nicht wiederkehrt. Zweck-
los, den Tag zu berechnen, an dem es aufhören wird wer
wird ihn erleben)
passchendaele
Mit dem rr. Oktober begann die dritte und letzte Serie
der englischen Angriffsstöße im flandrischen Schlachtgebiet.
Seit dem ir. Oktober, dem letzten Stoß der zweiten Serie,
rann der Regen Ln Strömen. Die Herbstregenperiode hatte
eingesetzt. Tiefhängende Wolken überzogen den Trichter-
morast, die Tage wurden immer kürzer. Die Beobachtungs-
Verhältnisse verschlechterten sich zusehends. Der Abtransport
von Material, die Bereitstellung der Angriffstruppen, die
Beweglichkeit der Verbände und der Zustand der Truppe
litten unter so ungünstigen Bedingungen, daß an eine ent-
scheidende Wendung der Schlacht nicht mehr zu denken war.
Sie war bereits entschieden.
wenn gleichwohl bis zur Mitte des November die Wucht
der Materialschlacht kaum eine Abschwächung erfuhr, so lag
es daran, daß die Engländer unter allen Umständen noch vor
dem Winter die Eroberung jenes Höhenzuges von west-
roosebeke bis Gheluveld vervollständigen wollten. Sie lagen
vor passchendaele in so ungünstigen und unhaltbaren Stel-
lungen, daß ihnen keine Anstrengung zu hoch erschien, den
festeren Boden und die bessere Sicht des Höhenrückens zu
gewinnen. Mehr wollten sie nicht mehr.
So wurde passchendaele mit den beiden nordwestlich
gelegenen Weilern Mosselmarkt und Goudberg zum Brenn-
punkt der abschließenden Flandernkämpfe, ehe der Winter
zum Einhalten zwang. An westroosebeke dachten die Eng-
länder schon bald nicht mehr. Ihr letztes bescheidenes stra-
tegisches Ziel, die Erreichung der Linie Roeselare—Meenen,
war längst aufgegeben.
Sie wußten bereits, daß die ganze furchtbare, ein Viertel-
jahr nun schon andauernde Schlacht mit der Eroberung eines
Geländestreifens von fünfundzwanzig Kilometer Breite bis
zu acht Kilometer Tiefe enden würde, und daß ihre un-
L6L
erhörten Opfer an Menschen und Material günstigstenfalls
mit ähnlichen Opfern aus deutscher Seite ausgewogen würden.
Sie wußten, daß sie zwar die Deutschen verhindert hatten,
der hart mitgenommenen französischen Westfront in diesem
Jahre eine Entscheidung aufzuzwingen, aber sie waren sich
auch klar darüber, daß sie selbst ihre offensive Rrast im
Rampfe um ein Ziel verbraucht hatten, dessen Erreichung am
Ende der Schlacht kaum näher stand als am Anfang. Zudem
bewiesen die Ereignisse in Italien, daß die Deutschen noch
Energie und Mittel genug besaßen, um an anderen Fronten
kräftige Schläge auszuteilen. Der flandrische Aderlaß war
nicht tödlich gewesen.
So blieb den Alliierten als einziger positiver Gewinn der
Flandernschlacht die Gewißheit, daß man durch eine unter
schwersten Anspannungen erfolgte Bindung der Deutschen die
Rrise im eigenen Lager überwand, die zwischen der Nieder-
lage der Russen, dem Einsetzen des unbeschränkten U-Boot-
krieges und dem französischen Mißerfolg im April auf der
einen Seite und dem erhofften Einsetzen der amerikanischen
Hilfe auf der anderen Seite entstanden war. Im Jahre 19)S
stellte sich heraus, daß dieser Gewinn entscheidend dazu bei-
trug, den Rrieg zugunsten der Alliierten zu beenden. Im
Zeitpunkt des Nachlassens der Flandernschlacht hatten sie
keinen Anlaß, ihn als entscheidend zu betrachten. Sie mußten
vielmehr damit rechnen, daß die Deutschen nach Nieder-
ringung Rußlands, durch die Ergebnisse des U-Bootkrieges
ermutigt und durch die Erfolge Ln Flandern und in Italien
Ln ihren Berechnungen bestärkt, im Frühjahr 19)9 zur Ent-
scheidung ausholen würden.
Nicht nur das schlechte Wetter, auch die schweren Verluste
der letzten Angriffsserie hatten die Engländer veranlaßt,
nach dem )r. Oktober abermals eine längere pause eintreten
zu lassen. Bezeichnend dafür war, daß sie um die Mitte des
Oktober neun neue Angriffsdivisionen einsetzen mußten, und
daß die Alliierten von ihrem Plan, den Angriff bei Rpern
durch einen Vorstoß aus dem Raume von Dixmude zu
unterstützen, Abstand nahmen.
Durch Gefangenenaussagen war die deutsche Führung auf
eine neue Abwandlung der englischen Angriffstaktik auf-
merksam geworden. Die jämmerlichen Bodenverhältnisse
und die Erschwerung der Gicht hatten bei den letzten An-
griffen fast regelmäßig dazu geführt, daß die vorgehenden
Schützenwellen dem Voranschreiten der Feuerwalze nicht zu
folgen vermochten. Ramen sie an den Feind, so war die
Walze bereits über den zu bekämpfenden Gegner hinweg-
gegangen und verlor dadurch an Wirksamkeit.
Das neue Verfahren sah vor, daß die angreifenden Ver-
bände mit geringen seitlichen Zwischenräumen in Rolonne zu
Einem vorgingen und sich erst dicht am Feinde nach der
Breite entwickelten. Auch die Reserven, die zur Bildung der
Hinteren Angriffswellen dienten, hatten bis zu ihrem un-
mittelbaren Eintreten in den Rampf die gleiche Ordnung
innezuhalten.
Ein großer Nachteil für die Engländer bestand darin, daß
ihnen das schlechte Wetter nicht erlaubte, wie früher in den
Pausen zwischen den Angriffstagen die deutsche Artillerie
systematisch zu bekämpfen. Dieser Umstand kam der deutschen
Abwehr sehr zunutze.
Auf deutscher Seite hielt man an den alten Grundsätzen
beweglicher Abwehr fest, die sich nun ein Vierteljahr lang
allen englischen Anstrengungen zum Trotz bewährt hatten.
Das Vor- und Zurückverlegen des eigenen Artilleriefeuers
je nach den Bewegungen der Rampftruppe zwischen Vorfeld
und Hauptwiderstandsltnie war den Batterien so in Fleisch
und Blut übergegangen, daß man, entsprechend der vorzüg-
lichen Zusammenarbeit zwischen Artillerie und Infanterie, zu
einer immer dünneren Besetzung der vorderen Abwehrzone
übergehen konnte. Der Nachteil, der darin bestand, daß sich
die Truppe mit der Zeit allzusehr an die elastische Verteidi-
gung gewöhnte und auf die rechtzeitige wiedereroberung der
vorderen Zone nicht mehr den nötigen Nachdruck legte, mußte
durch Energie der Führung und Lereithaltung kampfkräftiger
Reserven ausgeglichen werden.
Der 2). Oktober verlief unter normalem Störungsseuer.
Am Abend erst nahm die Artillerietätigkeit zu und gewann
dann im Verlaufe der Nacht dauernd an Heftigkeit.
Gegen Morgen setzte rieselnder Regen ein, der die Dämme-
rung verzögerte. Seit 6.ro Uhr lärmte das Trommelfeuer
264
auf der ganzen Front zwischen dem Houthulster Wald und
der Lys. Um 7 Uhr waren überall die Infanterieangriffe
im Gange.
Fünf bis sieben Angriffswellen traten als erste Staffel an,
langsam unter fortwährendem Maschinengewehrfeuer das
deutsche Vorfeld erreichend. Geschlossene Verbände in Reihen-
kolonnen folgten ihnen dichtauf und boten der deutschen
Feldartillerie vorzügliche Ziele.
Der Hauptstoß brandete wie erwartet gegen den Raum
nördlich passchendaele. Es gelang den Engländern dort, bis
an die Hauptwiderstandslinie heranzukommen. Sie brauchten
für diesen Fortschritt Ln fünfhundert Meter Tiefe zwei
Stunden Zeit. Gegenstöße der Bereitschaften warfen sie bis
zum Nachmittag wieder an die Grenze des Vorfeldes zurück.
Neue Angriffe brachen zusammen. Der Einsatz der Eingreif-
divisionen erübrigte sich.
Nicht weniger heftig lief der Feind beiderseits der Straße
Rpern—Meenen gegen die Trümmer des Dorfes Gheluveld
an. Mehrere Male trieb er seine Wellen vor. Jedesmal
zwang das deutsche Sperrfeuer zum Umkehren. Rein Trichter
ging verloren.
Als einziger Gewinn blieb den Engländern ein Trichter-
streifen von fünfhundert Meter Tiefe und einigen Rilo-
metern Breite südlich des Houthulster Waldes, zwischen
Mangelare und Schaap Balie. Auch diesen mußten sie noch
am späten Abend unter den Stößen der Bereitschaften der
r6. Res.-Div. zum großen Teile wieder aufgeben. Die eng-
lischen Verluste waren außergewöhnlich schwer.
In der Nacht ruhte die Infanterietätigkeit vollständig.
In dem fürchterlichen Schlammbrei der Rampfzone, der
tagsüber durch Regen und Artilleriefeuer entstanden war,
hatten Freund und Feind alle Hände voll zu tun, ihre Ver-
bände notdürftig zu ordnen. Vor passchendaele war der
Sumpf so aufgeweicht, daß ein Frontalangriff gegen die
hochgelegenen Trümmer unmöglich erschien. Der Feind
mußte seine Angriffe nördlich und südlich des Ortes fortsetzen.
Im Verlaufe der Nacht zum rz. Oktober wurde der Regen
zum Landregen. Die Truppen hatten Entsetzliches auszu-
stehen. Fast nirgends konnte warme Verpflegung heran-
geschafft werden. Der Abtransport der großen Menge von
Verwundeten ging nur mit äußerster Langsamkeit vonstatten.
r§5
Auch am nächsten Morgen fiel der Regen ohne Aushören.
Ein englischer Angriff war unter solchen Verhältnissen aus-
geschlossen. Mit verquollenen Füßen, frierend, keinen trok-
kenen Faden am Leibe, hungernd und bewegungslos lagen
Freund und Feind einander Ln den Trichtern gegenüber.
Zur Untätigkeit gezwungen, verlegte sich der Engländer
darauf, die Dorftrümmer von passchendaele mit einigen
Tausend Schuß schwerer Raliber zu befunken. Die letzten
Mauerreste wurden umgewühlt. Ein paar Bunker, in die
Reller eingebaut, brachen ein und begruben ihre Insassen.
Die gewaltigen Donnerschläge der Explosionen übertönten
jeden anderen Laut an der Front. Eine Wolke von grauem
Dunst ballte sich aus dem flachen Höhenrücken zusammen und
kroch langsam Ln die Niederungen hinab.
wer am Abend den Trümmerhaufen betrat, erkannte nicht
einen einzigen Stein wieder, passchendaele war nicht mehr.
was ihm am rr. Oktober nicht gelungen, versuchte der
Engländer abermals am ro., der nichts war als eine grausige
Wiederholung des rr. mit allen Zutaten an Regen, Sturm,
Morast, Trommelfeuer, schwersten Verlusten, anfänglichen
Teilerfolgen. Die Bilanz blieb die gleiche.
Die 40. Inf.-Div. verlor beiderseits Merkem einige hundert
Meter Trichterfeld. Ihre Nachbardivisionen, die Rrise er-
kennend, konzentrierten ihr Artilleriefeuer vor der gefähr-
deten Division. Die Engländer mußten viel Blut lassen und
von weiteren Angriffen Abstand nehmen. Auf dem rechten
Flügel der neu eingeschobenen Gruppe Staden (Gen.Rdo.
Garde-RD erkämpften sich die Gegner gegenüber dem Ins.-
Regt. 124 (27. Inf.-Div.) etwa hundert Meter Trichterfeld
nach viermaligem Vorgehen. Abends wurden sie wieder
hinausgetrieben.
Schwer wurde wieder nördlich passchendaele gerungen.
Drei Angriffe zu mehreren Wellen trieben die Engländer
vor. Beim ersten nahmen sie der 11. bayer. Inf.-Div. das
Vorfeld ab, mußten es aber sofort den gegenstoßenden Bereit-
schaften wieder abtreten. Der zweite Angriff um 11 Uhr
vormittags brach im Abwehrfeuer zusammen. Der dritte
drang im Abschnitt des bayer. rr. Inf.-Regts. gegen den
ros
Weiler Mosselmarkt vor und wurde hinter der Hauptwider-
standslinie zum Stehen gebracht.
5 Uhr nachmittags setzten die Reservebataillone aller drei
Stellungsregimenter zum Gegenangriff an. Zwei Stunden
lang ging es hin und her durch das Schlammfeld. Bei
Anbruch der Dunkelheit saß der Feind nur noch im rechten
Regimentsabschnitt in einem Teile des Vorfeldes fest.
Vor Gheluveld hatte man zunächst geglaubt, es handle sich
nur um Scheinangriffe, die den Zweck verfolgten, die Auf-
merksamkeit vom Zentrum des Schlachtfeldes bei passchen-
daele abzulenken. Diese Annahme offenbarte sich als ein
blutiger Irrtum. Zwei englische Divisionen ließen ihre
Wellen stundenlang sich gegen den Höhenrücken abmühen.
Um die Mittagsstunde erschienen die Engländer unmittelbar
am Rande von Gheluveld. Das Inf.-Regt. von der
24. Inf.-Div. drängte im Gegenstoß den Feind noch über die
alte Linie zurück, geriet aber dabei in das eigene Artillerie-
feuer und mußte seinen Gewinn wieder aufgeben. Gheluveld
blieb in deutscher Hand.
Nach abermals vier Tagen, am 30. Oktober, holten die
Engländer zum neuen Schlage aus. Sturm fegte über die
Trichter, untermischt von rauschenden Regengüßen. Graue
Wolkenfetzen segelten gleich wehenden Tüchern über das
Schlammseld.
Schlagartig entfesselte sich kurz vor 7 Uhr vormittags das
Trommelfeuer nach blutiger Gewohnheit. Die Wucht der
Insanterieangriffe konzentrierte sich auf den Raum zwischen
Poelkappelle und passchendaele und auf die alte wetterecke
bei und nördlich Gheluveld.
Östlich Poelkappelle wies die dort eingesetzte 3. Marine-
division den Gegner restlos ab. Auch die links von ihr
stehende 5. bayer. Res.-Div. behauptete ihren Trichterstreifen
gegen alle Angriffe, mußte aber am Nachmittage ihren linken
Flügel nordwestlich passchendale auf Goudberg zurückbiegen,
weil es den Engländern gelungen war, in den Abschnitt der
dort kämpfenden 238. Inf.-Div. einzudringen.
wieder traf der Hauptstoß auf Mosselmarkt und pas-
schendaele. Die Rampfbataillone der 236. Inf.-Div. bereiteten
den aus dem Sumpfgrund des Raavebeek heraufsteigenden
267
feindlichen Angriffswellen zweimal einen blutigen Empfang.
Beim drittenmal war ihre Kraft erschöpft. In den beiden
nördlichen Regimentsabschnitten der Division fiel die Haupt-
widerstandslinie in englische Hand. Um 9 Uhr früh wurde
bei strömendem Regen Ln Moffelmarkt und mitten in den
Trümmern von passchendaele gekämpft.
Das Ringen war schauerlich und erbittert. Der Gegenstoß
der Bereitschaften der rzS. Inf.-Div. traf mitten hinein und
verstrickte sich in das wüste Hin und Her durch die Schutt-
haufen. Zäh hielten die Engländer ihren Gewinn fest. Schon
öffnete sich ihnen vom Ostrand des Dorfes aus der Blick
in die Ebene von Roeselare.
In diesem kritischen Zeitpunkt erschien als vorgeschobene
Staffel der Eingreifdivision das Inf.-Regt. )?r auf dem
wassertriefenden Schlachtfeld. Östlich passchendaele entwickelte
es zwei Bataillone zum Gegenangriff. Ohne besondere
Artillerievorbereitung schritt der Angriff aus das rauchende
Dorf zu, traf Ln vollem Schwung auf die ermatteten eng-
lischen Stoßtrupps und trieb sie ohne Aufhalten über den
Westrand zurück und in die Sumpffelder hinab. Überall
wurde die alte Hauptwiderstandslinie erreicht, das Vorfeld
blieb den Engländern.
passchendaele hatte zum ersten Male die Infanterieschlacht
gespürt.
Es dauerte nicht zwei Stunden, bis der Engländer seinen
neuen Angriff organisiert hatte. In sechs Wellen, der
Feuerwalze folgend, trotz Sturm und Regen von Jagd-
fliegern begleitet, krochen die Angreifer aus dem Sumpf und
drängten die tödlich ermatteten Verteidiger, Stellungs-
bataillone der Regimenter 465 und 404 von der rzS. Inf.-
Div., abermals bis zum Rand der Höhe zurück. Das letzte,
noch in Reserve gehaltene Bataillon der 172er bot ihnen hier
Halt. Die deutsche Artillerie feuerte aus ihren Rohren zum
Teil mit direktem Schuß in die englischen Reserven.
Nachmittagsdämmerung sank schon herab, als die Eng-
länder zum dritten Male gegen den Trümmerhaufen von
passchendaele anrannten. Der Angriff richtete sich gegen den
ganzen Abschnitt der rzS. Inf.-Div. und den nördlichen Teil
der links anschließenden 3. Garde-Inf.-Div. Aus dem ersten
mächtigen Anstoß entwickelten sich wechselvolle Einzelgcfechte
kleiner Gruppen ohne festen Zusammenhang miteinander.
ros
Noch in der Dunkelheit lärmte der Rampf um die Trichter.
Der Feind lag unmittelbar südwestlich von passchendale und
vor Moffelmarkt. Die Höhenlinie blieb deutsch.
Eine neue Regennacht hob an. Mit schwerstem Feuer ließ
der Engländer seine Rache an passchendaele aus.
Das grausige Finale dieser verzweifelten Schlacht beginnt.
Schon ist es November geworden. Der erste Frost härtet
den Boden und vermehrt die Splitterwirkung der Granaten.
Jedermann weiß, daß es um passchendaele gehen wird, ob-
wohl das Dorf nichts mehr ist als ein geographischer Begriff.
Ströme von Blut sind geflossen von Boesingen bis Schaap
Balte, vom Bellewaardeteich bis nach Gheluveld, von wieltje
bis nach passchendaele. Niemals hat der Tod solche Orgien
gefeiert wie Ln diesem Vierteljahre des Grauens. Nach vielen
Millionen zählen die Granaten, nach vielen Zehntausenden
die Toten, denen die Schlacht nicht einmal ein Grab gegönnt.
Und dennoch schreit diese Schlacht nach einer Fortsetzung,
dem nahenden Winter zum Trotz. Schon stehen die Batte-
rien bereit, schon türmt sich die Munition zu Stapeln, schon
rücken die Sturmtruppen Ln ihre Angriffsräume. Die rasen-
den Wellen des Trommelfeuers rollen vorwärts und rück-
wärts und stauen sich um das Dorf, das einstmals die perle
des flandrischen Landes war.
Die Divisionen sind nicht mehr das, was sie früher waren,
beim Verteidiger nicht und beim Angreifer nicht. Das eherne
Gesetz der Materialschlacht sorgt für Gleichheit im Nerven-
verbrauch, in der Ermattung, in den blutigen Verlusten.
Es wäre sonst undenkbar, daß einzelne energische Angriffe
kleiner Trupps ganze Regimentsabschnitte einreißen, und
daß umgekehrt vier Maschinengewehre, noch feuerbereit und
rücksichtslos eingesetzt, die Angriffswellen einer ganzen Divi-
sion zum Umkehren zwingen.
Man beginnt den Ginn für die Bedeutung dieses ver-
wüsteten, verschlammten, elenden Streifens Land im Ver-
hältnis zum wert des menschlichen Lebens zu verlieren,
dieses Landes, das keine Ratte freiwillig bewohnen möchte
und dem Hunderttausende von Menschen seit vier Monaten
zum Leben und zum Sterben ausgeliefert sind.
was nützt es dem Angreifer, durch jeden Stoß fünfhundert
Meter vorwärts zu gelangen? Er kommt niemals an den
jenseitigen Rand dieses verfluchten Trichtermeeres. Niemals
sieht er einen grünen Streifen, ein Haus mit einem Dach,
einen Garten, eine Bank. Der Tod und die Verwüstung
schreiten an jedem Tage mit ihm und lasten sich nicht von
den Fersen schütteln, während die Wohnorte der Menschen
und des Lebens immer tiefer hinter ihm versinken.
was treibt den Verteidiger, den mit Leichen angefüllten
Raum vor der Hauptwiderstandslinie unter neuen grausamen
Opfern wiederzuerobern? Beim nächstenmal wird er ihn aufs
neue verlieren und ebenso viele Menschen werden darin
sterben. Bald wird durch die Menge der Toten kein Durch-
kommen mehr sein. Ist es nicht bester, dem Gegner diese
Stätte des Grauens zu überlassen?
Aber die Macht der Gewohnheit ist stärker als solche
Reflationen des denkenden Gehirns. So wie der Angriff
den Gegenstoß erzeugt, so erzeugt ein Schlachttag den andern.
Das Trichtermeer, einmal der Erde aufgezwungen und in
Wallungen gebracht, frißt sich in zäher, nimmermüder Be-
harrlichkeit weiter und nagt an den Rändern des Landes,
wo noch Leben gedeiht. Anfangs glaubt jeder, das Gesetz
des Handelns zu beherrschen, zum Schluß spüren beide, daß
sie die Herrschaft längst verloren, und daß es der mörderische
und gefräßige Zwang der Schlacht ist, der beiden seine Gesetze
diktiert.
Darum wird weiter gerungen werden um passchendaele,
obwohl es fast gleichgültig ist, wer die Trümmer beherrscht.
*
Die Tage sind schon so kurz, daß der Zeitpunkt des ersten
Infanterieangriffs dauernd verschoben werden muß. Es ist
nun einmal zur Gewohnheit geworden, daß im ersten Morgen-
dämmern angegriffen wird.
Aber heute, am 6. November, machen es die Engländer
absichtlich anders.
Das feindliche Störungsfeuer in der Nacht ist nicht stärker
als sonst, plötzlich morgens um 5 Uhr, bei voller Dunkel-
heit, erhebt sich der Lärm des Trommelfeuers. Er umfaßt
L70
nicht wie früher die ganze Angriffsfront, sondern er konzen-
triert sich auf den Güdrand des Houthulster Waldes und
den Raum von Gheluveld. Bei passchendaele zeigt sich nichts
Besonderes.
Es erscheint also als durchaus möglich, daß der Engländer
an beiden Stellen größere Patrouillenvorstöße plant, die er
noch bei Dunkelheit ausführen will.
Aber schon eine halbe Stunde später umfaßt der Feuer-
orkan die gesamte Front vom Llankaartsee bis nach Zand-
voorde.
Sollte also ein Großangriff bevorstehen- Es sind noch
anderthalb Stunden bis zur Morgendämmerung. Vor der
Dämmerung anzugreifen wäre taktischer Unsinn, weil alle
Verbände sofort durcheinandergeraten müssen. Ein Trommel-
feuer bis zum Beginn der Dämmerung, also von anderthalb
Stunden Dauer, wäre aber nach den bisherigen Erfahrungen
ganz ungewöhnlich.
Um 6 Uhr hat man den Eindruck, daß besonders der
nördliche Teil der Angriffsfront unter Feuer liegt. Mag
sein, daß der Engländer gegen den Houthulster Wald an-
treten wird. Bei passchendaele ist immer noch nichts Außer-
gewöhnliches zu erkennen.
Um 6.30 Uhr endlich deckt der Engländer seine Rarten
auf. Uber dem Abschnitt der 4. und der 11. Inf.-Div. vor
passchendaele, der ersteren von der Gruppe Staden, der
letzteren von der Gruppe Rpern, tobt die Hölle. Nun weiß
jedermann, was hier gespielt wird.
Goudberg, Mosselmarkt und Dorf passchendale versinken
unter dieser feurigen Granatensaat rettungslos. In den
Dorftrümmern wühlen die schweren Raliber mit urweltlichem
Getöse und lang emporfahrenden Flammen. Draußen im
Trichterfeld hämmert der klirrende Platzregen der Feld-
geschütze. Man mag den Blick nicht hinlenken aus diese
grandiose Vernichtungsraserei und kann ihn doch nicht davon
lassen. Schon sind die Eingreifdivisionen im Alarm, denn
heute wird es heiß hergehen um passchendaele.
Es regnet noch nicht, aber die Flammenstrahlen der Ex-
plosionen beleuchten schon tiefhängende Wolken, die wasser-
beladen gleich trägen Untieren über dem höllischen Lrodem
schwimmen.
271
Die deutsche Artillerie gibt ruhiges Gtörungsfeuer. Sie
wartet. Es kann nicht lange dauern, bis die Leuchtkugeln
vorn ihren flehenden Tanz beginnen.
Einzelne englische Flieger nehmen ihre Plätze in diesem
furchtbaren Theater ein. Sie drängen sich zwischen Wolken
und Feuermeer, grell beleuchtet und von unsichtbarem Eisen
umschwirrt. Die Nacht verschlingt sie abwechselnd und speit
sie wieder hervor. Es kann nur noch nach Minuten zählen,
bis der Vorhang sich hebt und die Akteure die Bühne be-
treten.
Bleich kündet die Dämmerung sich an. Zwielicht vermischt
sich mit den gelben Stichflammen, die aus den Trichtern auf-
zucken. Die Umrisse der Höhe enthüllen sich grau und nackt.
Hemmungslos prasselt der eiserne Hagel.
plötzlich um 6.50 Uhr geschieht ein Wunder.
Das Chaos verstummt jäh, der Tanz der grauen Schleier
wird mit einem Male beendet. Es ist so still, daß man das
Surren der Flieger vernehmen kann.
Endlich begreift man, daß die deutsche Feldartillerie un-
bekümmert um das Verstummen der Engländer ihr ruhiges
Störungsfeuer fortsetzt. Nach einigen Minuten verstummt
auch sie.
Ein paar Maschinengewehre hämmern ihre dünne Musik.
Da niemand ihnen antwortet, verstummen sie.
Alles ist verstummt, alles ist tot.
wenige Minuten fürchterlicher Nervenanspannung hüben
und drüben.
Dann bricht es ebenso plötzlich wieder los. Es klingt, als
feuerten alle Rohre auf einmal. Die Uhr zeigt punkt 7 Uhr.
Sekunden nur später lärmt auch das deutsche Sperrfeuer.
Die Artillerie hat auf Leuchtkugelzeichen nicht erst gewartet.
Der rechte Flügel der 4. Inf.-Div. — es stehen dort die
Regimenter 140 und 14 — weist alle englischen Angriffe ab,
ohne einen einzigen Trichter aufzugeben. Auf dem linken
Flügel, der vor Goudberg und Moffelmarkt liegt, und im
ganzen Bereich der links anschließenden 11. Inf.-Div., also
unmittelbar vor passchendaele, dringt der Engländer mit
starken Infanteriewaffen ins Vorfeld ein. Die Bereitschaften
r?r
treten zum Gegenstoß an. Nach zwei Stunden ist das Vor-
feld fast völlig vom Feinde gesäubert.
Aber das wilde Feuer läßt nicht nach. Es ist erst i z Uhr
vormittags, das Wetter einigermaßen trocken. Die Gruppe
Rpern hat schon Teile der Reserveregimenter 7 und )o von
der bayer. Res.-Div. aus den Eingreifräumen gegen passchen-
daele vorrücken lassen, wo die Bataillone Ln schwer beschosse-
nen Stellungen auf Befehle warten. Der Tag ist noch lange
nicht entschieden.
Gegen Mittag bricht der erwartete neue englische Angriff
los. Er wird von kanadischen Bataillonen ausgeführt, die,
geschickt die Sumpfstrecken des Raavebeekgrundes umgehend,
rechts und links von den Dorftrümmern sich entfalten.
Die deutschen Truppen leisten verzweifelten widerstand,
aber der Gegner wirft immer neue Wellen ins Gefecht. Von
Trichter zu Trichter geht es rückwärts. Die englische Feuer-
walze liegt splitternd und krachend auf dem Höhenrücken
und schließt die schwachen Besatzungen im Vorfeld von den
Reserven ab. Sie werden nacheinander erledigt oder gefangen-
genommen. Die wenigsten entrinnen.
Schon wird zum zweiten Male Ln passchendaele gekämpft.
Inf.-Regt. 5) und Gren.-Regt. io, beide von der 11. Inf.-
Div., werfen ihre letzten Reserven ins Feuer. Die Division
setzt das Reservebataillon des Füs.-Regts. zS zum Gegenstoß
an. Das Bataillon kann die Straße westroosebeke—pas-
schendaele wegen des furchtbaren Abriegelungsfeuers nicht
überschreiten und bleibt in den Trichtern hinter der Straße
liegen.
Hin und her geht es durch passchendaele.
Zuerst scheint es, als erlahme die Rraft der Angreifer.
Aber die Bereitschaften des Gren.-Regts. )o treffen bei dem
Versuche, den Ort wieder zu nehmen, auf einen neuen eng-
lischen Angriff, der aus dem westteil hervorbricht.
Angriff und Angriff, über den Trümmern zusammen-
prallend, verfilzen sich zu einem Gemenge blutiger Einzel-
kampfhandlungen, die sich gleichzeitig im ganzen Trümmer-
komplex abspielen. Von einer einheitlichen Gefechtsführung,
von einer zusammenhängenden Linie ist keine Rede mehr.
Das Feuer beider Artillerien schlägt wahllos dazwischen.
Am Nachmittag ist passchendaele verloren.
18 Beumelburg, Flandern
'73
Hier und da wehrt sich noch ein deutscher Trupp seiner
Haut, aber die Übermacht erschlägt sie alle. Die Front ver-
läuft nun mitten durch Goudberg hindurch, östlich an Moffel-
markt vorüber und umspannt passchendaele mit einem großen
Bogen, der vom Nordrand des Dorfes zum Ostrand und
Südrand führt. Das rechte Stellungsregiment der )). Inf.-
Div., die 38er Füsiliere, liegt fast südlich gegen das Dorf
gekehrt. Die Kanadier sitzen konzentrisch umfaßt in den
Trümmern. Sie werden ihres Daseins nicht froh, obwohl
ihnen mancherlei Beute, darunter auch einige Geschütze, Ln
die Hände gefallen ist.
Die Verluste aller an der Abwehr beteiligten Regimenter
der 4. und 11. Inf.-Div. sind außerordentlich schwer. Zu
allem Überfluß beginnt es wieder zu regnen. Das Durchein-
ander der Verbände ist unbeschreiblich, die neue vordere
Linie kann kaum ermittelt werden. Tiefe und breite Lücken
klaffen an vielen Stellen.
Schon um 3 Uhr nachmittags stellt die Gruppe Rpern der
11. Inf.-Div. ihre gesamten noch greifbaren Reserven zur
Verfügung, um unter allen Umständen noch vor dem Abend
das Dorf wiederzunehmen. Es sind ein Bataillon des bayer.
Res.-Inf.-Regts. 7 und zwei Bataillone des Inf.-Regts. 5).
Teile des Garde-Füsilier-Regiments, von der 3. Garde-Inf.-
Div. entnommen, sind schon früher eingesetzt worden.
Ein zeitraubendes Hin und Her zwischen den Befehlsstellen
beginnt. Die Gruppe drängt auf äußerste Eile, die Division
mahnt zu umsichtiger Vorbereitung, da man es mit einem
starken Gegner zu tun habe, der seinen Gewinn unbedingt
behalten wolle.
Die Bataillone liegen unterdessen untätig im schwersten
Feuer und haben große Verluste. Die Befehlsverbindungen
reißen fortwährend ab. Als schließlich die zum Gegenangriff
eingeteilten Verbände ihre Aufgaben kennen, spricht die
Division die Befürchtung aus, der Angriff werde in die
Dunkelheit geraten und sich verzetteln. Die Gruppe ist
gegenteiliger Ansicht, sie hält die Dämmerung für die gün-
stigste Gelegenheit, das Angriffsziel zu erreichen.
Unterdessen umschließt der Kranz des Gefechts das zer-
trümmerte Dorf nach wie vor mit seinem Lärm, seinen
beißenden Farben und seinen Eisensplittern. Mehrere Ver-
suche der Kanadier, gegen Osten vorzudringen, werden ab-
274
geschlagen. Sie bleiben in der Zange. Jeder kämpft aus gut
Glück. Alles wartet auf das angekündigte Eintreffen der
Gegenangriffstruppen.
Abermals drängt die Gruppe auf sofortige Durchführung
des Angriffs. Die Hauptkraft des Stoßes sei auf den Raum
nördlich des Dorfes zu legen. Von dort nach Süden sich
wendend müsse das Dorf abgeschnitten werden. Fünfzehn
Stoßtrupps vom Sturmbataillon Rohr sind auf Lastauto
mobilen herangebracht worden, sie stehen zur Verfügung.
Neue Verzögerung. Die im rechten Nachbarabschnitt bei
der 4. Inf.-Div. zum Gegenangriff angesetzten Bataillone
der bayer. Res.-Regimenter 7 und )o sind noch nicht an-
griffsbereit. Das Vorgehen soll aber unbedingt in beiden
Divisionsabschnitten gleichzeitig erfolgen. Aus passchendaele
drohen neue englische Vorstöße.
Zwei Bataillone des bayer. 3. und 13. Inf.-Regts. (11.
bayer. Inf.-Div.) sind soeben Ln den Bereitschaftsräumen
eingetroffen. Die Gruppe Zypern unterstellt sie sofort der
1). Inf.-Div., aber sie müssen erst ihre Aufgaben kennen-
lernen, ehe der Angriff erfolgen kann.
Rostbare Zeit geht immer wieder verloren. Der Regen
fällt ohne Aufhören. Bald werden sich die Truppen kaum
noch bewegen können, die Verluste sind andauernd hoch.
Schon beginnt es zu dämmern.
Endlich um 7 Uhr abends ist überall die vollzogene Be-
reitstellung gemeldet. Der Angriffsbefehl wird erteilt.
Aber die Artillerievorbereitung klappt nicht. Die Feld-
artillerie hat zum Teil schon um die Mittagszeit die für den
Gegenangriff bestimmte Munition verschossen, weil der Be-
fehl über die Verschiebung des Angriffs auf den Abend sie
nicht erreicht hat. Viele Batterien wissen überhaupt nicht,
daß der Angriff für den Abend angeordnet ist.
Die Zeitspanne zwischen Ausgabe und Eintreffen des An-
griffsbefehls ist zu kurz. Manche Bataillone haben den Be-
fehl noch gar nicht erhalten, während ihre Nachbarn schon
die Trichter verlassen und vorgehen. Die Nacht und der
Regen vermehren das Durcheinander.
Mit unverminderter Rraft tobt das englische Abriege-
lungsfeuer.
Die 11. Inf.-Div. wendet sich an die Gruppe Zypern.
Schließlich, um )) Uhr abends, hebt die Gruppe den An-
L75
griffsbefehl auch formell auf; praktisch war es bereits lange
vorher geschehen.
Die Folge dieses verhängnisvollen Hin und Her ist nun
ein gänzliches Durcheinander unter den Dampftruppen, deren
Ordnung sich im Laufe der Nacht unter den schwersten Be-
dingungen und großen Verlusten abspielt,
passchendaele bleibt in der Hand der Ranadier.
So endet der 6. November hier mit einem Rückschlag der
deutschen Waffen, obwohl sich alle beteiligten Truppen mit
großer Tapferkeit geschlagen haben, wieder gießt jener
furchtbare Regen vom nächtlichen Himmel, der schlimmer
fast als das Granatfeuer der Engländer das verwüstete
Schlachtfeld beherrscht.
Noch weiß niemand, ob die Danadier versuchen werden,
sich im Morgengrauen des bang erwarteten 7. November
aus der gefährlichen Zange zu befreien, die passchendaele mit
glühenden Schlünden umspannt. Sicher ist, daß, wenn sie
an diesem Morgen noch nicht angreifen, sie es spätestens in
einigen Tagen tun werden. Das Armeeoberkommando rechnet
sogar damit, daß die Engländer, durch die Eroberung von
passchendale ermutigt, durch einen doppelten Angriff von
Poelkapelle her östlich und aus passchendaele nördlich den
letzten Teil des Höhenzuges bis nach westroosebeke hin
zu nehmen bemüht sein werden.
Gleichzeitig ergehen aus deutscher Seite alle erforderlichen
Befehle, um die Wiedereroberung des Dorfes Ln die Wege
zu leiten. Man glaubt indessen, diese Absicht nicht vor dem
Einsatz frischer Truppen, das heißt also frühestens in drei
bis vier Tagen, durchführen zu können. Inzwischen gelangt
man aber zu der Auffassung, daß es besser ist, den Engländer
in passchendaele zu belassen, weil man ihn dort konzentrisch
umfaßt und seinen Angriffsversuchen am wirksamsten be-
gegnen kann.
Angespannte Tage vergehen. Neue Eingreifdivisionen
werden herangeführt, die am härtesten mitgenommene ii>
Inf.-Div. wird durch die 44. Res.-Div. abgelöst. Am S. No-
vember läßt die Gruppe Npern durch rS schwere Batterien
von 4 Uhr nachmittags an das vernichtete Dorf befeuern,
rrö
um die inzwischen entstandenen englischen Stellungsbauten
zu zerstören. Die feindliche Artillerie antwortet mit einem
wilden Vergeltungsfeuer, das stundenlang über dem Abschnitt
um passchendaele tobt und bald nach rechts und links über-
greift. Eine Zeitlang hat man den Eindruck, als handele
es sich um die Vorbereitung eines Ln den Abendstunden ge-
planten neuen Maffenangriffs. Alarmbefehle ergehen, die
Bereitschaften werden vorgezogen. Aber im Anfang der
Nacht ermattet das scharfe Artillerieduell.
Am 9. November brüllt von morgens 5 Uhr an bis um
S Uhr das englische Trommelfeuer zwischen Sheluveld und
Zandvoorde im Abschnitt der Gruppe WLjtschate. Die deutsche
Führung läßt sich nicht beirren. Sie behält den Blick auf
passchendaele und Moffelmarkt gerichtet. Tatsächlich er-
folgen Ln dem beschossenen Abschnitt keinerlei Infanterie-
angriffe, es war nur ein blutiges Ablenkungsmanöver.
Aber auch bei passchendaele bleibt es still, die englischen
Vorbereitungen sind noch nicht beendet.
In der Frühe des 10. November, bei regnerisch-stürmischem
Wetter, unternehmen die beiden rechten Stellungsdivisionen
der Gruppe Staden zwei größere Patrouillenvorstöße zur Er-
weiterung des deutschen Vorfeldes. Zwei Rompagnien des
Inf.-Regts. 400 (rzy. Inf.-Div.) erobern einen englischen
Betonbunker und machen achtzehn Gefangene. Patrouillen
der Regimenter iro und irz von der 27. Ins.-Div. machen
es ihnen gleich und nehmen ein englisches Maschinengewehr
mit einigen Gefangenen.
Die beiden Unternehmungen sind gerade beendet, als ein
Trommelfeuer von furchtbarer Heftigkeit über die linke
Flügeldivision der Gruppe Staden, die bewährte 4. Inf.-
Div., und die neu eingesetzte rechte Flügeldivision der
Gruppe Wern, die 44. Res.-Div., losbraust. Es ist kurz vor
7 Uhr morgens und der Regen rieselt Ln zähen Fäden.
Zwanzig Minuten lang heult der Orkan von Goudberg
bis südlich passchendaele. Die Engländer glauben, sich die
Bekämpfung der deutschen Artillerie ersparen zu können. Fast
ihre sämtlichen Rohre sind aus die vordere deutsche Nampf-
zone bis zu zwei Lilometer Tiefe gerichtet.
277
Im ersten Dämmerlicht treten die Truppen der ). kana-
dischen Division, die am 6. November so erfolgreich ge-
kämpft, und der ). und r. englischen Division, alles vor-
zügliche Sturmtruppen, zum Infanterieangriff an.
Die Vernachlässigung der deutschen Artillerie rächt sich
bitter. Im konzentrischen Feuer der Artillerie beider an-
gegriffenen Divisionen, unterstützt von den flankierenden
Batterien der Gruppen Staden und WLjtschate, ja, selbst
unter Teilnahme des schweren Flachfeuers der Gruppe Dix-
mude, brechen die englischen Massenangriffe fast überall
unter ungeheuren Verlusten zusammen.
Im mittleren Regimentsabschnitt der 4. Inf.-Div. wirft
das Inf.-Regt. 49 die ersten feindlichen Wellen aus einer
schmalen und flachen Einbruchsstelle hinaus und macht noch
sechzig Gefangene. Die von der Gruppe Staden der 4. Inf.-
Div. sofort nach Erkennen des Angriffs zur Verfügung ge-
stellten Bataillone der 199. Inf.-Div. brauchen nicht einge-
setzt zu werden.
Der Angriff aus den rechten Flügel der Gruppe Wern,
gegen die 44. Res.-Div., erfolgt zeitlich fast eine halbe Stunde
später. Vielleicht denkt der Engländer dadurch die Batterien
dieser Division abzulenken und zum Einschwenken gegen die
Front der 4. Inf.-Div. zu veranlassen. Aber er verrechnet
sich gründlich. Im gleichen Augenblick, Ln dem seine Ko-
lonnen aus passchendaele heraus antreten, werden sie vom
Sperrfeuer glühend empfangen und zu Boden gezwungen,
wo sie im zähen Vorwärtsarbeiten einige Vorteile erreichen,
werden sie bis -o Uhr vormittags überall durch die deutschen
Bereitschaften wieder geworfen.
Der Tag währt noch lang. Es ist noch zu früh, das Ge-
heul der Granaten und das Geknatter der Maschinengewehre
verstummen zu lassen. Die grausige Monotonie immer wie-
derholter Massenangriffe gegen ein und dasselbe Ziel ist be-
reits zur Gewohnheit geworden. Man rechnet mit dem Er-
folg nur noch als mit einem Zufall. Der Zufall muß durch
die Wiederholung herausgefordert werden.
Kurz vor der Mittagsstunde erkennen die deutschen Be-
obachtungsstellen im Raume von Mosselmarkt starke feindliche
Bereitstellungen. Abermals klappt die Arbeit der deutschen
Batterien wie am Schnürchen. Last die gesamte Artillerie
der Gruppe Zypern, Teile der Gruppe wijtschate zur Linken
und einzelne Batterien der im eigenen Abschnitt stark bean-
spruchten Gruppe Staden vereinigen ihr Vernichtungsfeuer
über Mosselmarkt und seiner Umgebung zu einem wüsten
Hagel.
Gleichwohl machen englische Infanteriewellen eine Stunde
später einen schwächlichen Versuch, aus dem beschossenen
Raum heraus vorzugehen. Aber das Rückgrat ist ihnen be-
reits gebrochen. Im Sperrfeuer flattern die Angreifer vor
dem deutschen Vorfeld auseinander. Nur hier und da mischt
sich ein Maschinengewehr in den Lärm.
Um r Uhr nachmittags wird es nach kurzer Trommelei im
Nordteil von passchendaele lebendig. Zahlreiche starke An-
griffswellen rücken gegen das Inf.-Regt. roS von der 44. Inf.-
Div. vor. Artillerie- und Maschinengewehrfeuer schlägt sie
im rechten Teil des Regimentsabschnitts nieder. Links wer-
den die deutschen Sicherungen bis auf die Hauptwiderstands-
linie zurückgedrückt. Es dauert nicht lange bis das Be-
reitschaftsbataillon der roSer in strömendem Regen den Ge-
genstoß unternimmt und den Feind in einem einzigen
Schwung noch über die alte Linie hinaus zurücktreibt.
Das Res.-Inf.-Regt. roS hat an diesem Tage die schwerste
Last zu tragen. Unmittelbar vor passchendaele liegend zieht
es immer wieder den Hauptsturm der Kanadier und der r. eng-
lischen Division auf sich. Schon um 4 Uhr nachmittags
bricht der Gegner nach neuem Vorbereitungsfeuer aus den
Dorftrümmern hervor und unternimmt seinen vierten tief-
gegliederten Angriff gegen das Regiment. Im rasenden
Feuer der Artillerie und der Maschinengewehre erstickt die
Bewegung der ersten Wellen, die rückwärtigen kehren schleu-
nigst um und verschwinden im Dorf.
Noch einmal um 5 Uhr südlich von passchendaele, noch
einmal Ln der Nacht nördlich davon versuchen die Kanadier
sich Erleichterung zu verschaffen. Sie gewinnen nicht einen
einzigen Schrittbreit Loden.
Die Schlacht ist beendet.
Nicht lange, und der erste Schnee fällt vom grauen Him-
mel Ln die wassergefüllten Trichter. Zuerst vermischt er sich
mit Schlamm und verschmilzt mit der breiigen Masse. Eines
Morgens aber bleibt er liegen und überzieht die Stätten
des Grauens mit seiner weißen Decke.
Es geht nicht von heute aus morgen. Es dauert Tage und
Wochen, bis die wilde Raserei des Feuers, das diesen Land-
streifen vernichtet, allmählich einschläft.
Noch oft steigen die farbigen Leuchtkugeln auf. Noch oft
klirrt die stählerne Musik des Sperrfeuers am Houthulster
Wald, östlich Poelkappelle, ringsum passchendaele, vor Lece-
laere und bei Gheluveld. Aber es gibt keine geschlossenen In-
fanterieangriffe mehr, die dritte und letzte Serie der An-
griffsstöße ist beendet. Der Winter tritt seine Herrschaft an.
Gräben entstehen und Hindernisse. Erst sind es wenige
und schüchterne Versuche, die der immer noch wachsame Orkan
des Artilleriefeuers wieder zerreißt. Dann fügen sie sich dich-
ter zusammen, bilden Reihen, Linien und Netze.
Schließlich legen sie ihren Gürtel rings um den flandrischen
Tod, der sich müde und satt gelärmt hat.
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