Nr. 6o3. Der Geschäftsträger in Petersburg Freiherr von Lu¬ cius an das Auswärtige Amt.l) Telegramm. Entzifferung. Nr. 2i3. St. Petersburg, den i4- September 1912. Sasonow sprach sich sehr besorgt über Bulgarien aus. Krieg sei viel¬ leicht bis Frühjahr auf schiebbar, aber kaum ganz vermeidbar. König und Regierung seien in Bulgarien ebenso verständig wie in Serbien, könn¬ ten aber wenig gegen Volksstimmung machen und setzten eigene Existenz aufs Spiel1 2). Mächte würden eventuell wohl alles tun, um Krieg zu lokalisieren. Er habe volles Vertrauen zu den Erklärungen des Grafen Berchtold, die Türkei sei aber „incivilisable“. Minister hat bulgarischem Gesandten 3 8) gesagt, daß er nicht mit italie¬ nisch-türkischem Krieg, der bald beendigt sei, oder der politischen Zer¬ 1) Die Große Politik. Bd. 33. Nr. 12 144» S. io3. 2) Am gleichen i4- September wies Graf Berchtold den österreichischen Geschäfts¬ träger in Berlin, Freiherrn von Flotow, an, dem Staatssekretär von Kiderlen davon Kenntnis zu geben, daß die österreichischen Informationen nicht nur von Sofia, son¬ dern auch von den anderen Balkanzentren recht beunruhigend lauteten: „Wie wir schon seit längerem sicherstellen konnten, stehen die Balkanstaaten bereits seit Monaten in engeren Wechselbeziehungen zueinander und haben einen gemeinsamen Aktionsplan gegenüber der Türkei in Aussicht genommen.“ Über die Zusammenhänge zwischen der steigenden Kriegslust der Balkanstaaten und ihrem Vertrauen auf die unter der Protektion Rußlands abgeschlossenen Bündnisse war man sich auch in Paris voll¬ kommen klar; vgl. Iswolskis streng vertraulichen Privatbrief an Sasonow vom 12. Sep¬ tember (Der Diplomatische Schriftwechsel Iswolkis 1911—1914, ed. Fr. Stieve, II, 249 ff.). Es heißt darin u.a.: „Poincare ist persönlich der Ansicht, daß der serbisch¬ bulgarische Geheimvertrag sowohl auf die Bulgaren als auf die Serben aufreizend; wirkt. Schon in St. Petersburg hat er unmittelbar nach Kenntnisnahme von dem Wort¬ laut des Vertrages zu mir gesagt, daß dieser seiner Meinung nach ein ,Kriegsinstruu ment' sei (vgl. dazu auch Kap. CCLXI, Nr. 12 058, Fußnote2). Die Rußland ein¬ geräumte Rolle des Schiedsrichters kompliziert seiner Meinung nach die Lage noch mehr. Die Bulgaren seien überzeugt, daß die russische Regierung, auch wenn sie augenblicklich ihr Veto einlegen würde, im Fall eines Krieges zwischen Bulgarien und der Türkei, und besonders im Falle einer bulgarischen Niederlage, doch durch die öffentliche Meinung Rußlands zum Eingreifen veranlaßt werden würde.“ Daß man auch in russischen Kreisen jene Zusammenhänge durchschaute, beweist der vertrauliche Brief des russischen Botschafters in Konstantinopel M. von Giers an Sasonow vom 29. August: „Ich brauche nicht mehr auf die gefahrdrohenden Nachrichten hinzu¬ weisen, die aus den Balkanstaaten hierher dringen. Durch den geheimen Abschluß von Bündnissen ermutigt und von ihrer Übermacht überzeugt, haben die Balkanstaaten nur den einen Gedanken, den günstigen Zeitpunkt nicht vorübergehen zu lassen und so bald als möglich sich in den Kampf zu stürzen. Diese Bestrebungen haben unter meinen Augen fast stündlich in der immer größer werdenden Nervosität meiner hiesigen Bal¬ kankollegen Bestätigung gefunden. Sie alle und besonders der bulgarische Gesandt© richten beständig die Frage an mich: ,Wann wird Rußland endlich zu handeln an¬ fangen?' ... Es ist möglich, daß die allgemeine Spannung so groß werden wird, daß man sich nicht mehr die Frage stellen wird, ob sich auch Rußland in Bewegung setizt, und daß man wider dessen Willen zu den Waffen greift.“ Vgl. Aktenstück Nr. 598, S.208. 8) General Paprikow. 2 l3