Nr. 55a. Der russische Botschafter in Paris an den russischen Außenminister. *) Telegramm Nr. 192. Paris, den 15./28. Dezember 1911. Ich habe schon vor einigen Tagen mit Louis ein ernstes Gespräch über die geplante österreichische Anleihe gehabt, worüber Ihnen Demidow morgen den Bericht bringen wird. Auf meinen Antrieb wird hier dagegen bereits eine Zeitungskampagne geführt, die mit einem Artikel von Chéradame im „Petit Journal“ vom 26. Dezember begann. Es ist sehr zu wünschen, daß die russischen Zeitungen dieser Frage ihre Aufmerk¬ samkeit zuwenden. Iswolski. darüber, daß Sasonow ihn bezüglich der Balkanverhandlungen nicht von vornherein eingeweiht hatte (vgl. sein Telegramm an Louis vom 8. April, Französisches Gelb¬ buch a. a. O., I, 20), sah sich zu einer kategorischen Sprache gegenüber dem Alliier¬ ten genötigt. Ein Telegramm an Louis vom 21. April (Französisches Gelbbuch a.a.O., I, 23) besagte: „Ainsi que yous l’indiquait mon télégramme du 9 avril, il est ¡indispen¬ sable que le Gouvernement russe formule ses vues sur les diverses hypothèses spéci¬ fiées dans son questionnaire du i4 février. La conclusion de l’accord serbo-bulgare et la récente démonstration de l'escadre italienne devant les Dardanelles ne nous permet¬ tent pas d’accepter que M. Sazonoff se dérobe davantage à une conversation dont il a pris lui-même l’initiative.“ Es kam dann noch zu einer Erörterung der Frage, was die beiden Alliierten tun sollten, falls Österreich-Ungarn zu einer Wiederbesetzung des Sandschaks schreite; doch wurde selbst russischerseits anerkannt, daß kein Grund zum Verdacht bestehe, daß Österreich zur Zeit ein solches Projekt verfolge. Poin¬ caré konnte nicht umhin, bei diesem Anlasse zu betonen: ,,I1 ne suffit pas que la vigilance des Agents français et russes s’exerce à Vienne; il n’est pas moins nécessaire qu’elle s’applique à dépister les intrigues des Etats balkaniques, dout l’activité turbu¬ lente risque d’entrainer, par contre-coup, une action de l’Autriche-Hongrie dans le Sandjak. L’appel à l’Europe devrait se produire aussitôt que le statu quo de la Péninsule serait menacé par le fait d’un des Etats slaves; ce serait trop tard de n’en appeler à l’Europe que, pour répondre à une action subséquente du Cabinet d© Vienne.“ (Telegramm an Louis vom i3. Mai 1912, Französisches Gelbbuch a.a.O., I, 2Ö). Die Richtigkeit dieser Bemerkungen vermochte Sasonow nicht abzustreitert, aber er zeigte deutlich, daß ihn die Haltung des französischen Alliierten nicht be¬ friedigte (Telegramm Louis’ vom 24. Mai, Französisches Gelbbuch a. a. O., I. 27), und so setzte er den Meinungsaustausch nicht weiter fort. An seine Stelle trat ein neuer Meinungsaustausch zwischen Frankreich, Rußland und England über die Be¬ rufung einer Konferenz zum Zweck der Beendigung des türkisch-italienischen Krie¬ ges. Auch diese Konversation (vgl. darüber Bd. XXX, Kap. GOXXXIX) ließ zunächst lebhafte Meinungsverschiedenheiten zwischen Sasonow und Poincaré erkennen, führte aber doch zu dem Akkord vom 2Ö. Juni 1912. *) Iswolski. Bd. I. Nr. 17p, S. 199. 164