Nr. 5o3. Vertrauliches Schreiben des russischen Geschäfts¬ trägers in London an den Außenminister.1) London, den 21. Oktober 3. November I9°9* Am 17./30. Oktober habe ich Ihnen telegraphisch über den Eindruck berichtet, den der serbische Außenminister während seines Londoner Besuches aus seinen Unterredungen mit Grey und Hardinge über die Stellung Italiens in der internationalen Politik gewonnen hat. Im all¬ gemeinen ist ihm dasselbe gesagt worden, wie mir von seiten Hardings. Milowanowitsch gegenüber scheint aber Grey ganz besonders auf die Möglichkeit hingewiesen zu haben, daß von seiten Österreichs ein Schritt erfolgen könne, um den nachhaltigen und günstigen Eindruck abzuschwächen, den der Besuch des russischen Kaisers am italienischen Hofe überall hervorgerufen hat. Diese Befürchtungen scheinen Milowanowitsch übertrieben zu sein; es erscheint ihm unwahrscheinlich, daß Aehrenthal sich zu irgendeinem aktiven Schritt entschließen wird. Der serbische Minister hat mir nicht gesagt, weshalb er nach London gekommen ist; Hardinge jedoch, den ich gestern gesehen habe, er¬ klärte mir, er und Grey fänden Milowanowitsch etwas unruhig, viel¬ leicht auch ein bißchen unternehmungslustig. Es sei ihnen unverständ¬ lich, weshalb er hier in London die Frage aufgeworfen habe, daß der Endpunkt der zukünftigen adriatischen Eisenbahn mehr nach Süden verlegt werden solle. Man habe ihm geantwortet, daß England kein direktes Interesse an dieser Angelegenheit habe, die eher Rumänien interessiere, mit dem sich ja Serbien verständigen solle. Außerdem habe der serbische Minister den Wunsch geäußert, man solle die zukünftige Lage des Sandschaks von Novibazar genau bestimmen, um eine mög¬ liche Besitzergreifung durch Österreich zu verhindern. Hardinge sagte mir nicht, was Grey erwidert hat, doch scheint die Antwort negativer Natur gewesen zu sein, da er mir gleichzeitig mitteilte, daß Tittoni sich mit einem ähnlichen Ersuchen an den englischen Botschafter in Rom gewandt hätte. Tittoni, der dem zwischen Italien und Rußland in Racconigi getroffenen Abkommen über die Erhaltung des Status quo auf dem Balkan Rechnung trägt — einem Abkommen, dem England und Frankreich beigetreten sind — scheint es für möglich zu halten, auch die anderen Staaten, d. h. Österreich und Deutschland, aufzu¬ fordern, diesem Abkommen beizutreten. Hardinge nannte Tittoni einen „äußerst nervösen“ Menschen und gab io9 *) Benckendorff Bd. I, Nr. 106, S. i4{).