FRITZ WEBER
ALPENKRIEG
ARTUR-KOLLITS CH-VERLAG . KLAGENFURT - WIEN
/Vf j v]
Alle Rechte, einschließlich der Rechte zur Verfilmung und
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40866
Copyright by Artur Kollitsch, Klagenfurt
Druck: Gutenberghaus M-H. Sterneck, Kommandit-Gesellschaft, Klagenfurt
Klischees: J. Balazs, Graz
DEN ZAHLLOSEN HELDEN,
DIE FÜR ÖSTERREICH-UNGARNS EHRE
KÄMPFTEN UND STARBEN
Krepti
Im Frühling 1915.
Alle Toten war
Ueber Gräbern
Daß sie vollen«
rufst du ins Land.
Jeglicher Baum ist gedüngt mit dem Tun
derer, die unter den Wurzeln ruhn;
denen der Schnitter die Ernte zerschlug,
ehe sie trug.
Josef Wein heb er
1.
Lautlos schwebt ein großer, dunkler Raubvogel im
blaßgrünen Morgenhimmel, und es ist, als lösche sein
Flügelschlag das letzte Flimmern dar Gestirne aus.
Tief unten dampft der Atem der Erde — er achtet
es nicht. Felszacken, wuchtige Finger aus hartem Ge-
stein greifen nach ihm — er überwindet sie in mächtiger
Kehre. Gipfel ragen, Eiswüsten drohen — was sind
sie ihm? Stark und sicher tragen ihn seine Schwingen.
Er ist allem entrückt was atmet und hofft und glaubt
und fürchtet. Selbst im pfeifenden Niedersturz nach
seinem Opfer noch zielt Auge und Fang mit unerbitt-
licher Sicherheit. Er ist wie das Schicksal . . .
Da und dort hängt rosiges Gewölk im Unendlichen —
erster Widerschein des Lichts, erste Verheißung des jun-
gen Tages. Heller wird der Himmel, sanftes, sammtenes
Blau friedlich ausgespannt, und die Bergspitzen glühen
aller Lichttrunkenheit übervoll. Firnschnee, eben noch
bleich und wächsern wie die Stirn eines Toten, ergießt
sich als flüssiges Gold in das Schattendunkel der Hoch-
wälder. Wasser blinken auf und zeichnen ihr silbernes
Geäder ins graue Antlitz der Erde.
Ein Vogelschrei gellt schneidend durch die Stille.
Die Augen der Kreatur tief unten im Erdgebundenen
suchen ängstlich nach dem Einsamen, der wie das Schick-
sal seine Kreise zieht. Fällt jetzt der Schatten seiner
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Schwingen ein? Kommt die Nacht wieder, die eben wich,
und krallt ihre Fänge in das zuckende Herz? Kommt
das jähe, kalte Entsetzen, der Sturz ins Bodenlose?
Aber der große, dunkle Vogel läßt sich fallen, als
wäre er seiner Ungebundenheit müde. Eine himmel-
anragende Felsnadel ist das Ziel seiner Laune. Un-
beweglich. hockt er, mit lässig hängenden Schwingen,
den Blick starr auf den brennenden Saum einer fernen
Bergkette gerichtet.
Strahlen zucken herauf, blitzende Speere, ins satte
Blau des Frühlingshimmels geschleudert, und die Son-
nenscheibe erscheint über dem Rand der Welt, sieg-
reich, mit lodernder Uebergewalt, als hübe Gott selbst
eine ungeheure Monstranz in die atemstille Weihe die-
ses Morgens.
Der Tag ist da.
2.
Heiß und staubig dehnen sich die Straßen der vene-
zianischen Ebene, welk und verstaubt hängen die Blät-
ter an den Hecken.
Es ist Frühsommer, Ende Mai, aber die jagende
Hast der Menschen scheint selbst der allmächtigen Natur
die Zügel entrissen zu haben. Hinter den Hecken arbei-
ten die Bauern noch auf ihren Feldern; die alten, denen
das Treiben nicht gefällt, die mürrisch werden, wenn
sie an ihre Höfe denken, auf denen es jetzt von Sol-
daten wimmelt. Aber die Burschen und Mädels drücken
sich gerne von der Arbeit, hocken an den Straßenrän-
dern, sehen die Marschkolonnen, die endlose Kette der
Wagen und Karren an sich vorüberziehen.
Scherzworte fliegen hin und her. Noch ist es früh
am Tag, da marschiert man gerne. Die Tragtiere tän-
zeln mit ihren Lasten, sie sind ausgeruht und über-
mütig. Aber der Staub über den Straßen wird immer
dicker, die Hitze drückender. Wenn es gegen Mittag
geht, lassen Menschen und Tiere die Köpfe hängen.
„Heda, wohin?"
Ein Fluch, eine müde Geste nach den Bergen, die
silbergrau am Rand der Ebene aufragen.
„Wird Krieg sein?"
8:
„Ach wol Es ist nur, daß die verdammten Austriaei
endlich hergehen, was sie versprochen haben. Addio."
„Wird Krieg sein?”
„Frag nicht so dumml Oder glaubst du, daß wir
den Kram umsonst herumschleppen? Natürlich wird es
Krieg geben."
Tausendfach fallen solche Wechselreden zwischen de-
nen, die an den Straßenrändern lungern und den mar-
schierenden Soldaten. Wer wird schon daraus klug? Die
unten reden, aber sie wissen nichts, und die oben wissen
alles, aber sie schweigen. Es wäre überhaupt besser,
wenn alle den Mund hielten. Die Oesterreicher haben
ihre Spione, das ganze Land wimmelt von ihnen. —
Unsinn! Was nützen ihnen schon die Spione, wenn sie
keine Soldaten mehr haben? Jedes Kind sieht, daß es
da keinen Widerstand gibt. Alle Straßen und Eisen-
bahnen Italiens sind voll Soldaten. Das ist der Ge-
nickfang für die Barbaren im Norden. Haben sie nicht
Stück für Stück nachgegeben, widerwillig nur und mit
zusammengebissenen Zähnen, aber doch! Rovereto, Riva,
Görz, Trient, das alles könnte man heute haben. Aber
bis zum Brenner zurück wollen sie nicht. Man wird es
ihnen beibringen müssen. Italien entscheidet den Welt-
krieg . . .
Staubig und heiß die Landstraßen, auch in den Ber-
gen noch, entlang den wasserlosen Torrenten und kahlen
Hängen, auf denen die Sonne brütet. Und die Nächte
kalt, feucht, unheimlich. Manchmal kommen wandernde
Zivilisten, hochräderige Karren mit Hausrat beladen,
Weiber, Kinder darauf. Warum das alles? Fürchtet man
einen Angriff der Oesterreicher?
Nichts da, Platz muß sein in den Grenzdörfem —
das ist klar. Willst du zuschlagen, mußt du ausholen
können. Jetzt wird es sicher ernst.
Die Hochtäler sind gestopft voll Menschen, Maulesel
und Fuhrwerke, an den schmalen Sträßchen wird ge-
arbeitet. Aber das alles ist erst der Vortrab, denn
Italien hat offiziell noch nicht mobilgemacht. In den
Lagern längs der Grenze bauen sie Baracken, als wollte
man jahrelang hierbleiben. Schwere Batterien stehen
hier, die Geschütze mit Buschwerk und Reisig bedeckt,
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ungeheure Munitionsstapel in ihrer Nähe, Feldbahnen,
um die Eisenmäuler rasch und sicher füttern zu können.
Das alles riecht nicht gerade nach Spaziergang, aber man
muß sich eben vorsehen. Russische Gefangene sollen so-
gar drüben stehen, von den Oesterreichem zur Waffe
gezwungen, weil sie selbst keine Laus mehr einzusetzen
haben.
Auf Grenzpatrouille kann man sehen, daß das alles
Unsinn ist. Die Gegend leer, wie ausgestorben. Hin und
wieder ein bißchen Stacheldraht vor erbarmungswürdi-
gen Holzkästen, die Stützpunkte sein wollen. Dann ein
paar Forts, nach denen die Offiziere stundenlang mit
ihren Gläsern schauen. Sie steigen immer deutlicher aus
ihrer Verborgenheit, weil die Oesterreicher die Wäld-
chen lichten, in denen ihre Betonwerke liegen. Gut so!
Es wird ein Vergnügen sein, ihnen die Dächer einzu-
schlagen, die Panzerkuppeln, die Drahtverhaue.
Da und dort aber wird man sich erst heranarbeiten
müssen, viele Kilometer weit durch das unwegsame, rauhe
Barbarenland. Die am Tagliamento und östlich davon
haben es leicht, die können gleich loslegen, aber hier
wirft einem die Natur allein Prügel in den Weg. Ringsum
schauerliche Berge, Winterschnee noch auf ihren Häup-
tern, ewiges Eis und tückische Nebel. Das müssen die
Alpin! schaffen. Wozu hat man sie denn, sie, die von
allen Seiten gehätschelt und bevorzugt werden? Die
Bersaglieri am Isonzo und die Alpin! hier — für die
andern wird es nur ein munteres Marschieren sein.
Jeden Tag ist Alarm. Manchmal kommen Autos voll
mit Generalstäblern. Die gehen dann mit Patrouillen
vor, stehen halbe Tage lang an Waldrändern, hinter
Steinblöcken, haben ihre Karten entfaltet und zeichnen.
Gräben werden ausgehoben, Hindernisse gelegt. Alles
ziemlich weit hinten und dem Feind verborgen. Wozu
das? Um die vielen Arme zu beschäftigen? Oder weil
es doch wahr ist, daß die Oesterreicher 300.000 Mann
an der Grenze haben?
Höchste Alarmbereitschaft. Neue Truppen kommen.
Sie haben keine Baracken mehr, nur Zeltlager weit vorne.
Sie sind vorzüglich ausgerüstet und voll Kampfeslust
Ihre Offiziere sind jung, es weht ein scharfer Wind.
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Milizregimenter marschieren ab, und die Straßen sind
wieder voll Gedränge, Fluchen, Staub und Widerwär-
tigkeit.
Aber dann tritt Ruhe ein — die atembeklemmende
Ruhe vor dem Sturm . . .
3.
Axtschläge hallen, Bäume stürzen krachend nieder.
Allenthalben entstehen Hütten und leichte Unterstände,
es riecht nach Harz und Lohe, nach Holzfeuer und
Teerpappe.
Vor wenigen Tagen erst hat Kaiser Franz Josef den
unbeschränkten Ausbau der Befestigungen im Südwesten
befohlen. Bis dahin wurde immer Vorsicht gepredigt
und allen Leuten eingeschärft, ja den früheren Bundes-
genossen nicht zu provozieren. Italien, so hieß es, sucht
nach einem Vorwand zum Losschlagen. Dieser Vorwand
darf unter keinen Umständen gegeben werden.
Was überhaupt möglich war, ist geschehen. Eine
„Linie" zieht sich vom Ortler bis zur Adria, freilich
an den meisten Stellen vorerst nur auf der Karte; und
an anderen im Gelände nur schwach markiert, mit wenig
Geschick und ohne Erfahrung angelegt. Die Männer, die
diese „Stützpunkte" bauen, waren voll des Eifers und
der Hingabe, stammten vielfach aus den Ländern, die
es zu schützen galt, aus Tirol und Kärnten. Gleich den
Aerzten, die man nach den Verlusten in Rußland und
Serbien eiligst zur Dienstleistung einberief, hatten die
meisten dieser Landsturm-Ingenieure und -Baumeister
an der Südwestfront keine militärische Ausbildung, ge-
schweige denn nennenswerte Kenntnisse in der Forti-
fikation. Man gab ihnen Pläne, die in jagender Hast
entworfen waren, und sie begannen ihre Tätigkeit.
Eisenschienen, Zement, Wellblech, Stacheldraht —
alles das gab es nur in kläglichen Mengen. Landsturm-
arbeiter, in Südtirol vielfach italienischer Nationalität,
Weiber, halbwüchsige Burschen und Mädchen aus den
Grenzdörfem bauten an den Stützpunkten und Draht-
verhauen.
Von felsgesprengten Gräben und Kavernen, die allein
den Gebirgskrieg erträglich gestalten, mußte mangels an
11
Kräften zunächst überhaupt abgesehen werden. Die
„Stützpunkte" waren Holzkästen, deren feindwärts ge-
kehrte Wände man mit Erde und Rasenziegeln „mas-
kierte" und die man mit füllkugelsicheren Decken ver-
sah, Nachdem diese Stützpunkte eine Reihe regelmäßi-
ger Schießscharten aufwiesen, also wie etwas niedrig
geratene mittelalterliche Bastionen aussahen, brauchte
man nicht einmal ein Fernglas, um sie auf viele Kilo-
meter Entfernung auszunehmen.
Wie wenig solcher Stützpunkte aber gab es über-
haupt! Sie entstanden dort, wo das Gelände keinerlei
natürliche Deckung bot. Breite Täler, wie die Val Lu-
gana, mußten unbesetzt und unbefestigt bleiben, weil
es an Kräften fehlte. Man verließ sich darauf, daß die
Feuerwirkung aus den umliegenden Höhenstellungen aus-
reichen würde, um ein Vorrücken des Feindes zu ver-
hindern.
Nicht viel besser stand es mit den permanenten Be-
festigungen, den Sperrforts und Werk-Linien. Die mei-
sten von ihnen waren so veraltet, daß sie für ihre Be-
satzungen mehr Gefahr als Schutz darstellten. Außer
den Werken am Tonalepaß und der Sperre Lavarone—
Folgaria gab es nur hochaufgezogene Steinbauten mit
unmodernen Geschützen und schwacher Panzerung, die
man als Scheiben für die italienische Artillerie bestehen
ließ. Sie wurden zum Großteil gleich in den ersten
Kriegstagen geräumt und ihre Rohre durch Baumstämme
ersetzt.
Jetzt, da der Krieg kaum mehr zweifelhaft ist, legt
man die letzte Hand an diese „Linie". Die Waldmasken
rings um die Werke verschwinden, Almhütten und an-
dere Bauten im Vorfeld werden gesprengt. Um die ver-
schiedenen Vorfelder wirklich freizulegen, wären um-
fangreiche Schlägerungen nötig gewesen. Auch dazu fehlt
es an Kräften. Es gelingt zur Not, da und dort den
Wald zu lichten. Die gefällten Stämme bleiben liegen.
Der Feind verwendet sie später zu seinen Zwecken.
Niederdrückend für jeden Wissenden aber ist der
Mangel an Streitkräften. Die Alpenländer bieten alles
auf, was noch ein Gewehr tragen kann. Halbe Kinder
und Greise dienen unter den 30.000 Tiroler Stand-
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schützen, auf deren Schultern die Last der ersten Ab'
wehr ruhen wird. Freiwillige Schützen aus Kärnten,
Steiermark, Salzburg und Oberösterreich, ein paar Land-
sturmbataillone und die Gendarmen und Finanzer der
Grenzgebiete, das ist mit den Standschützen und Werks-
besatzungen zusammen alles, was das Fünfzig-Millionen-
Reich in diesen kritischen Maitagen des Jahres 1915
gegen Italien ins Feld zu stellen vermag.
Aber eines ist diesem Kern der Alpenfront-Truppen
zu eigen: Es sind durchwegs Deutsche, die hier zum
erstenmal im großen Völkerringen ihren Boden ver-
teidigen! Mag ihre Bewaffnung kläglich sein, mögen sie
niemals bei Paraden geglänzt haben — das Auge zielt
anders, die Hand zittert nicht, wenn es um die Heimat
geht. Es bedarf nicht der Hinweise auf die große Ueber-
lieferung aus früheren Kämpfen. Keine Ruhmredigkeit,
keine phantasievollen Aufrufe bringen hier die Geister
in jene Rotglut, in der man Völker leicht zu schmieden
vermag. Das Blut spricht. Und es spricht eine gewaltige
Sprache!
4.
Vierhundertfünfzig Kilometer lang war der Grenz-
zug zwischen Ortler und dem Adriatischen Meere. Ihn
überall militärisch zu halten, erschien unmöglich. Man
mußte sich auf eine andere Linie einigen.
Die Hand Conrad von Hötzendorfs hat diese Ab-
wehrfront lange Jahre vor dem Ernstfall gezeichnet. In
den Augen dieses großen Soldaten und Staatsmannes
bot das Bündnis mit Italien niemals Sicherheit. Es war
ihm allzu künstlich und papieren, zu sehr gegen die
Entwicklung Italiens gerichtet. Ein diplomatisches Kunst-
stück vielleicht, oder eine Verlegenheit, auf keinen Fall
aber dem Volksempfinden entsprechend. Man mußte die
Tatsache „in der Schule lernen", mußte sich ihrer immer
erst entsinnen, wenn man an die geschichtliche Ent-
wicklung Mitteleuropas dachte.
Die Wirklichkeit schritt hüben und drüben über
dieses Bündnis hinweg, ehe auch nur ein Schatten des
späteren Geschehens auftauchte. Als ein Ausdruck die-
13
ser Wirklichkeit wuchsen Befestigungen aus dem har-
ten Felsboden der Alpen, hüben und drüben. Die Ita-
liener umgaben in erster Linie Oesterreichs Südtiroler
Bastion mit einem Kranz von Sperrwerken und Tal-
sperren, die sich namentlich auf der Hochfläche der
Sieben Gemeinden und ihrer weiteren Umgebung zu
einem dichten Befestigungsnetz häuften.
Conrad kämpfte einen jahrelangen Kampf gegen die
widerstrebenden Parlamentarier in Wien, um den Aus-
bau Südtirols zu erreichen. Solange dieser weit nach
Italien reichende Zipfel in österreichischer Hand war,
gab es für einen Krieg an der Südwestgrenze nur einen
Plan, eine Möglichkeit: Angriff in der Richtung Venedig.
Der Beharrlichkeit Conrad von Hötzendorfs gelang es
denn auch, in acht Jahren die Sperren von Lavarone
und Folgaria zu erbauen und damit die Grundlage sei-
nes Offensivplanes zu sichern.
Das Jahr 1915 und die drohende Kriegserklärung
Italiens zwangen zu einem vorläufigen Fallenlassen aller
Angriffsabsichten. Es galt eine reine Verteidigung. Dazu
mußte die Front im Alpenbogen möglichst verkürzt wer-
den, ohne lebenswichtige Teile abzutrennen. Von den
450 Kilometern des Grenzzuges fielen durch diese Kür-
zungen ungefähr 100 weg.
Eine weitere Sorge bildete die Sicherung der Puster-
tal-Bahn vor einem feindlichen Zugriff. Es war dies
nur eine eingleisige Strecke, aber neben der Westbahn-
linie über Innsbruck—Brenner die einzige Verbindung
zwischen Südtirol und dem Inneren der Monarchie. Ihr
wundester Punkt lag bei Toblach. Dort schob sich die
italienische Grenze bis auf 12 Kilometer Entfernung an
die Bahn heran, und es war vorauszusehen, daß die
Italiener alles aufbieten würden, tun diese 12 Kilometer
durch einen Vorstoß zu überwinden. Artilleriefeuer
allein genügte nicht, wie die späteren Ereignisse be-
wiesen. Der Zugverkehr im Pustertal war wohl zeit-
weise unterbrochen, wurde aber immer wieder aufge-
nommen.
Gegen einen Vorstoß an diesem heiklen Punkt
konnte man nur eine Mauer aus Fleisch und Blut
setzen. Die beiden Werke der Sperre Sexten stammten
14
aus den achtziger Jahren und wurden voraussichtlich
überrannt*
Nicht viel weniger kritisch war die Lage an der
Kärntner Grenze, namentlich in der Gegend des Plöcken-
Passes. Auch hier bedurfte es nur eines schwachen Tag-
marsches Raumverlust und der Feind stand im Drautal,
hatte seine Hand an der Schlagader der Alpenfront.
So schien dieser Feldzug aus rein militärischen Er-
wägungen heraus vom ersten Tag an verloren zu sein.
Wenn er es nicht war, ja wenn er schließlich zur Krö-
nung der Ruhmesgeschichte einer Armee wurde, die mehr
als siebentausend Schlachten bestanden hat, so ist das
auf die Wiedergeburt einer alten Weisheit zurückzu-
führen: Daß es immer der Mann ist, der den Kampf
entscheidet und nicht die Waffe, nicht die Ueberzahl,
nicht die Ungunst der allgemeinen Lage.
5.
Das letzte Spiel der Diplomaten. Man sucht gar
nicht mehr nach gedrechselten Worten, die meist nur
darauf angelegt sind, dem andern die Schuld an den
kommenden Dingen in die Schuhe zu schieben. Es dreht
sich nur um einen guten Abgang. Am 26. April hat sich
Italien mit dem Londoner Abkommen schriftlich ver-
pflichtet, binnen Monatsfrist in den Krieg einzutreten.
Nur wenige Tage Frist also. Frankreich und England
drängen, die schwer geschlagenen Russen senden einen
Hilferuf nach dem andern. Vielleicht war die allgemeine
Lage noch nie so günstig wie jetzt. Wenn die Mittel-
mächte die bei Gorlice geschlagenen, unaufhörlich gegen
Osten zurückflutenden Armeen des Zaren aus den Fän-
gen lassen müssen, hat Italien zum zweitenmal ent-
scheidend in den Weltkrieg eingegriffen, ohne einen
Schuß abzugeben. So war es im Spätsommer 1914 ge-
wesen, als seine Neutralitätserklärung die französischen
Divisionen an der Alpengrenze freimachte und sie in
die Marneschlacht warf. Damals wurde Frankreich ge-
rettet, heute wird es Rußland sein.
Der 23. Mai ist da, Pfingstsonntag. In Wien, in
Budapest, in allen Gauen der Doppelmonarchie flattern
15
Siegesfahnen: Jeder Tag bringt ja neue Siege über die
Russen, unerhörte Mengen an Gefangenen kommen aus
Galizien und Polen, die Eisenbahnwagen sind zum Ber-
sten voll mit den erdbraunen Uniformen. Jetzt erst
wird dem Hinterland klar, wie gewaltig die mosko-
witisdie Flut war, die sich hinter den Karpathen staute.
Wieder einmal wird mit größtem Eifer das Fähnchen-
spiel auf den Landkarten betrieben, alle Stammtische
sind daran, Nikolaj Nikolajewitsch und seine Horden
so zu zerschmettern, daß keine Kosakenlaus mehr übrig-
bleibt, und jeder Monturdepot-Verwalter wird als Held
und Befreier gefeiert. Wer beachtet da die kleinen No-
tizen in den Zeitungen, die in steigendem Ausmaß von
der drohenden italienischen Gefahr berichten? Kein
Grund zur Beunruhigung! Die Verhandlungen gehen
weiter. Und im übrigen wird Italien es nicht wagen.
Heute, nach Gorlice weniger denn je. Ja, vor einem
Monat noch! Aber jetzt, da bald die letzten Russen
auf den Kartoffeläckern der österreichischen Bauern ar-
beiten werden?
Pfingstsonntag. Wie angenehm, nach dem kargen
Mittagessen die Zeitung zur Hand zu nehmen und neue
Gefangenenzahlen, neue Mengen erbeuteter Geschütze in
sich hineinzuschlingen! Natürlich auch heute das unver-
meidliche Italien. Aber die sollen sich nur hüten! Drei-
hunderttausend Mann stehen an den Grenzen, um ihnen
gleich zu Beginn ein Gorlice zu bereiten . . .
Plötzlich wird es sonderbar in den Straßen der
großen Städte, die ja fiebernder als das flache Land
am Zeitgeschehen hängen. Rufe gellen: „Extraausgabe!
Extraausgabe!“ Ein neuer Sieg über die Russen? Der
Zar gestürzt? Großfürst Nikolajewitsch von seinen Sol-
daten erschlagen? Warum drängen sich denn die Men-
schen so zusammen, reißen den abgehetzten Zeitungs-
jungen die Blätter aus der Hand? Die werden es doch
wohl erwarten können! Morgen ist auch noch ein Tag...
Aber da, ein druckfeuchtes Blatt — anders als sonst!
Balkendick schreien die Lettern: AN MEINE VOELKER!
Kein Sieg also, sondern der Dank des alten Kaisers
an die, die zäh und opferwillig durchhielten, bis Gott
16
Abgestürztes Flugzeug (ösferr. Albatros)
Italienische
Fliegerbombe
(Blindgänger)
Einschlag einer
Fliegerbombe
den großen Triumph aus seinen gütigen Händen strö-
men ließ . . .?
Und dann — maßlose Bestürzung: Wort um Wort
das Manifest des Kaisers, voll der Bitterkeit, all der
persönlichen Enttäuschung übervoll:
„Der König von Italien hat Mir den Krieg erklärt
Ein Treubruch, dessengleichen die Geschichte nicht
kennt, ist von dem Königreiche Italien an seinen beiden
Verbündeten begangen worden.
Nach einem Bündnis von mehr als dreißigjähriger
Dauer, währenddessen es seinen Territorialbesitz mehren
und sich zu ungeahnter Blüte entfalten konnte, hat Uns
Italien in der Stunde der Gefahr verlassen und ist
mit fliegenden Fahnen in das Lager Unserer Feinde
übergegangen.
Wir haben Italien nicht bedroht, sein Ansehen nicht
geschmälert, seine Ehre und seine Interessen nicht an-
getastet; Wir haben Unseren Bündnispflichten stets ge-
treu entsprochen und ihm Unseren Schirm gewährt, als
es ins Feld zog.
Wir haben mehr getan: Als Italien seine begehr-
lichen Blicke über Unsere Grenzen sandte, waren Wir,
um das Bundesverhältnis und den Frieden zu erhalten,
zu großen und schmerzlichen Opfern entschlossen, zu
Opfern, die Unserem väterlichen Herzen besonders nahe
gingen.
Aber Italiens Begehrlichkeit, das den Moment zu
nützen sollen glaubte, war nicht zu stillen.
Und so muß sich das Schicksal vollziehen.
Dem mächtigen Feinde im Norden haben in zehn-
monatigem gigantischen Ringen und in treuester Waffen-
brüderschaft mit den Heeren Meines erlauchten Verbün-
deten Meine Armeen siegreich standgehalten.
Der neue heimtückische Feind im Süden ist ihnen
kein neuer Gegner.
Die großen Erinnerungen an Novara, Mortara, Cu-
stozza und Llssa, die den Stolz Meiner Jugend bilden,
und der Geist Radetzkys, Erzherzog Albrechts und Te-
getthoffs, der in Meiner Land- und Seemacht fortlebt,
bürgen Mir dafür, daß wir auch gegen Süden hin die
Grenze der Monarchie erfolgreich verteidigen werden.
2
17
Ich grüße Meine kampfbewährten, siegerprobten
Truppen, Ich vertraue auf sie und ihre Führer! Ich
vertraue auf Meine Völker, deren beispiellosem Opfer-
mute Mein innigster väterlicher Dank gebührt.
Den Allmächtigen bitte Ich, daß er Unsere Fahnen
segne und Unsere gerechte Sache in seine gnädige Obhut
nehme. Franz Joseph.“
Wohl noch nie hat ein Monarch sich in ähnlicher
Weise an sein Volk gewendet, am wenigsten der strenge,
verschlossene Kaiser, der jetzt 85 Jahre alt ist und
durch fast sieben Dezennien das Schicksal einer Groß-
macht in seinen Händen hält. Furchtbare Schläge haben
ihn getroffen, die Nächsten sind ihm alle gewaltsam ent-
rissen worden, mächtige Wellen der Unzufriedenheit, der
mühsam unterdrückten Empörung brandeten gegen ihn
an. Stürmisches Geschehen stand am Anfang und Ende
dieses langen Lebens. Er aber ging aufrecht durch diese
schäumende Welt. Kaum einer, der ihn je erschüttert
gesehen hat, kaum einer, dem er sein Innerstes er-
schlossen hätte. Was nach außen hin in Erscheinung trat,
war der letzte, höchste Sinn eines ritterlichen Lebens:
Ehre.
Und nun setzte er seine Unterschrift unter diesen
Aufschrei eines zu Tod getroffenen Herzens! Nun sank-
tionierte er eine flammende Anklage, dieses Manifest
eines persönlich gekränkten Monarchen, den man schon
längst jenseits alles Persönlichen wähnte!
Wie ein zündender Blitzstrahl trafen seine Worte.
Einerlei, wie viele an den Grenzen standen! Einerlei,
ob jetzt das Ende da war oder nicht! In Galizien und
Polen, in Serbien und Montenegro lagen die Besten zu
Hunderttausenden unter dem Rasen. Nur mit rücksichts-
loser Tatkraft hatte man neue Armeen aus der Erde
gestampft, sie bewaffnet und ins Feld gestellt. Das
Hinterland litt jetzt schon an Hunger und Entbehrung,
der Mangel an vielem war nicht gering.
Trotzdem trafen die Worte des alten Kaisers mit
einer Wucht, die aus den Herzen der Gleichgültigsten
Funken schlug. Zehn Monate währte schon der Krieg,
aber es war, als hätte er jetzt ein zweitesmal begonnen.
18
Der Pfingstsonntag von 1915 sah Oesterreich-Ungarns
Völker einig wie noch nie.
6.
In den ersten Nachmittagsstunden des 23. Mai trägt
der Draht den Alarmruf: Kriegt bis zu den letzten
Posten an der Südwestfront. Da und dort sammeln
Soldaten sich um ihre Führer, hören die Worte des
Kaisers, die Aufrufe der Generale.
Arbeitsschweiß glänzt noch in den erhitzten Gesich-
tern, Erde klebt an den Händen. Dann klirren die
Krampen und Schaufeln, die Aexte und Steinbohrer auf
einen Haufen zusammen. Das bißdien Werk dieser
Wochen und Monate ist fertig, muß fertig sein . . .
Wie merkwürdig, daß nun wirklich Krieg sein sollte
hier in diesen Ländern, die unantastbar schienen in der
majestätischen Erhabenheit ihrer Berget War nicht das
Leben an sich schwer genug, der Kampf gegen Kälte,
Schnee und Fels nicht so hart, daß es eines ganzen
Mannes Mut und Entschlossenheit brauchte, um ihn zu
bestehen? Lohnte es sich überhaupt, das Unmögliche zu
versuchen und die müden, abgerackerten Leiber einem
neuen Gegner zu opfern?
Vier Uhr nachmittags. Zwei Stunden noch! Denn
diese Kriegserklärung war allen den tobenden Worten
der letzten Monate widersprechend wie das Mahnschrei-
ben eines Rechtsanwalts abgefaßt. Es hieß darin, daß
sich Italien erst „ab 6 Uhr abends“ als im Kriegszustand
mit Oesterreich-Ungarn befindlich erachte.
Zwei Stunden Zeit also; zwei Stunden lang soll noch
Friede herrschen in den stillen Alpentälern, in welchen
eben der letzte Winterschnee zerrinnt. Dann werden
alle Brücken abgebrochen sein, alle Bande entzwei, die
die Bewohner der armen Dörfer hüben und drüben
seit Jahrhunderten verbinden. Niemandsland wird dann
zwischen den Gipfeln liegen und die Gewalt soll ent-
scheiden, wer Herr sein wird über diesen kargen Boden.
Nicht überall entlang dem Alpenbogen sind auch die
Grenzen der Völker und Gefühle so haarscharf gezogen
wie die „Linie“, an der man den andringenden Feind
2*
19
aufhalten wollte. In den Dolomiten hat der Krieg viel-
fach seine Schatten vorausgeworfen, hat Häuser und
ganze Dörfer als ihm verfallen gezeichnet, eh* der erste
Schuß sich in den Wänden der umliegenden Berge brach.
Sie liegen jenseits der „Linie“, waren aufgegeben wor-
den, weil es militärische Rücksichten erforderten.
Aus diesen Siedlungen, Weilern und einsamen Ge-
birgshöfen bewegen sich kleine, traurige Züge landein,
verschwinden über Joche und Pässe hinter den schütter
besetzten Stellungen. Ladinische und deutsche Berg-
bauern, rührend in ihrer Treue zu Oesterreich, zu Tirol.
Weiber und Kinder schleppen armseliges Hausgerät, trei-
ben ein paar Schafe und Kühe mit sich. Das angstvolle
Brüllen des Viehs begleitet ihren schweren Gang. Die
Menschen schweigen, ob es auch gleich um die Heimat
geht. Aber der Glaube ist stärker als die bange Sorge
um Haus und Hof. Leer und verlassen liegen bald die
Dörfchen in den letzten friedlichen Stunden dieses trau-
rigen Pfingstsonntags.
Dann wird es still in den Tälern, auf den Hängen
und Gipfeln. Flimmernd liegen die weißen Bänder der
Straßen zu den Füßen der Männer, die in den Werken
und Stellungen Wacht halten. Kein Fuhrwerk, kein Fuß-
gänger. Nur Sonnenglanz und Maienfrieden . . .
Die sechste Stunde naht. Blaue Bergschatten decken
die Schluchten, rücken langsam die Matten und Hoch-
wiesen hinan. Keine Glocke schreit Krieg ins Land,
kein Schuß zerreißt die große, feierliche Stille. Es ist,
als hätte niemand den Mut, einzubrechen in den Got-
tesfrieden dieser Gegenden, die bisher nur den reinsten
Freuden der Menschen gedient haben. Noch nie ist es
hier so leer, so beklommen still gewesen . . .
Die südlich heiteren Täler der Etsch und Brenta aber
sind nicht so verstummt wie die strengen Landschaften
der Dolomiten und der hämischen Grenze. Millionen-
fältig summt und surrt, schrillt und wispert es hier,
Insekten schwirren durch den Frühsommerabend und
der schwere Duft der Magnolien liegt über den Gärten.
Schlösser warten, Dörfer, den Kommenden aufgetan.
Und unter Maisstroh versteckt die heimlich genähte
Trikolore . . .
20
Nur wenige Menschen sind hier geflüchtet, die
Gendarmen und Finanzer, und die, denen es nun nicht
mehr geheuer ist. Weit zurück liegen die Patrouillen
der Oesterreicher, nirgends durchfurchen Schützengräben
das blühende Tal. Buben rennen die Straße entlang,
auf der erst vor einer Stunde die letzten drei Zoll-
beamten mit entsicherten Gewehren schritten. Erhitzte
Mädelgesichter erscheinen in den Fenstern. Die Män-
ner halten sich noch versteckt. Man kann nicht wissen.
Vielleicht kommen die verhaßten Austriaci noch einmal
zurück und holen einen; denn man gehört ja sozusagen
zu ihnen . . .
Getrappel, harter Hufschlag. In einer Staubwolke
galoppieren Reiter, reißen ihre Pferde herum, werden
von den Buben und Mädels mit jubelndem Geschrei
begrüßt. Die Ersehnten sind dal Sie haben es eilig,
heute noch möglichst weit nach Norden vorzustoßen.
Kein Feind war noch zu sehen, keine Schüsse wurden
gewechselt. Ist das ein Hinterhalt? Werden die Bar-
baren in der Nacht kommen? Halten sie sich in den
Bergschluchten versteckt, um plötzlich mit Gebrüll und
wehenden Fahnen hervorzubrechen?
Nein, nichts, nur weitert Hinterdrein kommt In-
fanterie, Alpini. Sie werden gegen Ueberfälle sichern.
Immer mehr Menschen tauchen auf, umdrängen die
Vorhuten der italienischen Armee, bieten den staub-
bedeckten Soldaten Wein und Früchte an, geleiten sie
jubelnd in ihre Quartiere. Die neue Zeitl Die neue
Zeit! Von vielen Häusern weht die Trikolore . . .
Weiter im Norden aber, in den verlassenen Dör-
fern der Dolomitenfront plätschern die Auslaufbrunnen
unaufhörlich, unaufhörlich . . . Aber niemand tritt an
ihren Rand, keine Hand taucht einen Eimer in ihr alt-
ehrwürdiges Becken. Leer und verödet, aus toten Fen-
steraugen starren die Häuser auf die überquellenden
Brunnen nieder.
Und hoch im Raum schwebt lautlos ein großer,
dunkler Raubvogel über den blaßblauen Abendhimmel.
Stark und sicher tragen ihn seine Schwingen. Er ist
wie das Schicksal . . .
21
Zusammenstoß
l.
Sieghafte Frühlingssonne liegt über den Lessinischen
Alpen und das macht sie bezaubernd. Diese Berge und
Kuppen zwischen Etsch und Brenta können sich sonst
nicht mit den Wundern der Dolomiten, mit den him-
melan ragenden Riesen des Ortler, des Adamello und
der Presanella vergleichen. Selten nur hat sich ein schön-
heitsdurstiger Wanderer hierher verirrt. Zu einsam ist
es in den ärmlichen Hochtälern, deren Bewohner seit
eh und je im Kampf gegen Hunger und Pelagra stehen.
Rinder weiden sonst auf den Matten der Hochflächen
von Folgaria und Lavarone, Schafe und Ziegen höher
hinauf, tiefer hinein in die grenzenlose Wildnis des
Col Santo, des Monte Maggio und Majo, des Monte
Kempel und der Meletta. Jetzt sind auch diese An-
zeichen friedlichen Lebens verschwunden. Keine Her-
denglocke, kein Hirtenlied nach den seltsamen alten
Weisen, die aus einer weit, weit zurückliegenden Er-
innerung steigen, klingt auf.
Die Menschen, die hier wohnen, sind nicht schön.
Ein furchtbarer Lebenskampf hat sie zu kleinen, knochi-
gen Wesen verkümmern lassen. Große, weltgeschichtliche
Ereignisse, die waffenklirrend durch das Tal der Etsch
und der Brenta zogen, haben sie hier an den Rand
gespült: Kelten und Alemannen, italische Bauern und
Soldaten, die vor den gewaltigen Germaneneinbrüdien
in Oberitalien flüchteten. Und alle sie wurden nach und
nach von der Armseligkeit dieser Landschaft zerbrochen.
Die „Sieben Gemeinden", die „Dreizehn Gemein-
den" zeugen heute noch vom alemannischen Kern der
Bevölkerung. Bisele und Ghertele, Verle und Kempel,
Gschwendt und Lusern — das sind germanische Namen.
Vor wenigen Jahrzehnten noch hieß Asiago Schiegen;
Lafraun und Vielgereut, Persen und das Val di Cembra,
das Cimbemtal, weisen in ähnliche Richtung. Inmitten
dieses latinisierten Völkergemisches gab es bis zum Welt-
krieg sogar noch deutsche Sprachinseln wie das Dorf
Lusern, mühsam gehalten durch das Geld des Deut-
24
sehen Schulvereins, eigentlich nur mehr Museumsstücke
aus der Vergangenheit.
Leben ist hier erst wieder erwacht, seit hüben und
drüben immer mehr Soldaten kamen und die Festungs-
werke wie Pilze aus dem Boden schossen. Vordem zo-
gen nur die Täler den Fremdenstrom an, das Heilbad
von Levico in der Val Sugana und das weinreiche Tal
der Etsch. Die Soldaten aber zogen auf die einsamen
Hochflächen, errichteten Lager und Zeltstädte, hielten
Uebungen ab. Jetzt kam auch für die Einwohner dieses
Erdenwinkels eine neue Zeit, hüben und drüben. Sie
waren geschickte Mineure, Maurer und Betonarbeiter.
Viele von ihnen hatten in Deutschland, Innerösterreich
und Italien gearbeitet, wußten von Kanalbauten, neuen
Straßenzügen und Tunnelierungen zu erzählen, an denen
sie, fern der Heimat, in den Sommern gearbeitet hatten.
Jetzt aber brauchte man nicht so weit zu gehen. Auf
den Hügeln und Bergen wurde der Fels aufgebrochen.
Straßen entstanden, die irgendwo im Grünen endeten:
Armierungsstraßen. In Wien und Rom entwarf man
Pläne, kämpfte mit den Volksvertretern um das Geld,
sie auszuführen. Und die Bewohner der armseligen Dör-
fer und Weiler in den hessischen Alpen arbeiteten im
Schweiße ihres Angesichtes, tun ihre Heimat — in einen
wohlvorbereiteten Kriegsschauplatz zu verwandeln, hü-
ben und drüben ...
Es gab Brot und die. Spionage blühte. Die harm-
losen Hirten und Bauarbeiter von früher hatten gleich
erkannt, daß' der Boden immer heikler wurde. Jeder
Spatenstich, jedes Pumpenhaus, jede Kaserne — ganz
abgesehen von einer „Fortezza", einem „Werk“ —
hatte seine Bedeutung, und die Offiziere, denen man
Berichte und Bilder von der Gegenseite anbot, ließen
sich nicht lumpen. Hin und wieder flog ein Schwindel
auf; denn soviel „Werke“ konnte weder Italien noch
Oesterreich bauen, als man ausspähen und sich dafür
bezahlen lassen wollte. Aber die Offiziere wußten ver-
dammt Bescheid und ließen einen ins Loch sperren,
wenn man im Kreuzverhör nicht standhielt. Ein Klum-
pen Gips, nach bekannten Mustern geformt, in einer
Sandgrube aufgebaut, mit Farnen und Grashalmen als
25
„Wald“ im Hintergrund, dann photographiert und das
schönste Bild von einer neuen „Fortezza“ war fertig.
Nur schade, daß die Offiziere immer noch etwas wissen
wollten und daß man dann plötzlich die Antwort schul-
dig bleiben mußte . . .
Aber jetzt ist schon längst alles klar. Und als die
Axt in diesen Frühjahrswochen von 1915 die Wäldchen
niederlegte, in denen die „Werke“ standen, ergab sich
nur für die Mannschaften und unteren Offiziere ein
neues Landschaftsbild. „Oben“ wußte man alles . . .
Da standen die sieben Werke von Lavarone—Fol-
garia und bleckten miC den Mündungen ihrer Turm-
haubitzen die feindlichen Brüder auf der Gegenseite
an: Cima di Vezzena, am Rand der Val Sugana kühn
über einer gewaltigen Felswand erbaut, 1908 Meter hoch
gelegen, ein Aussichtspunkt, von dem aus man an schö-
nen Wintertagen bis Venedig sah; vierhundert Meter
tiefer Verle, dann Lusern mit seinen beiden Nah-
kampfwerken Viaz und Oberwiesen, Gschwendt, dem
die Sperrung des Astico-Tales oblag; und drüben bei
Folgaria die drei Werke San Sebastiane, Sommo und
Serrada. Noch eines war geplant, auch im Bau begrif-
fen, aber nicht mehr fertig geworden: Valmorbia. Es
hätte die Vallarsa sperren und damit die Kette zwi-
schen Brenta und Etsch schließen sollen. Der Krieg
war hier zu früh gekommen.
Und drüben, auf italienischer Seite, das Fort Verena,
unangreifbar, mit den Mündungen seiner Langrohrkano-
nen von einer Felswand drohend, desgleichen Campo-
longo, die Talsperre Barcarola, auch Casaratti genannt,
das mächtige Werk Punta Corbin, der unvollendete
Campomolon. Dahinter eine Fülle von alten und neuen
Befestigungen, Asiago und Ärsiero, die beiden Grenz-
städte, umschließend — alle erbaut, um das Gespenst
eines Einbruchs der Oesterreicher in die Ebene zu ban-
nen. Nur hundert Kilometer weit ist es von hier nach
Venedig, drei Tage flotten Marsches, nur die Hälfte
dieses Weges zur Hauptstrecke Verona—Vicenza—Tre-
viso. Keine Lira ist hier zuviel aufgewendet worden, um
diesen Griff an die Kehle Italiens zu verhindern.
Hüben und drüben ist alles auf höchste Bereit-
26
schaff gebracht. Aber wie anders ist das Bild auf öster-
reichischer Seite, wie verschieden von jenem, das der
große Soldat Conrad von Hötzendorf in all den Jah-
ren der Vorbereitung erträumt hatt Kein menschen-
wimmelnder Waffenplatz, kein Sammelpunkt für die
herrlichen Alpenregimenter, mit denen man den töd-
lichen Stoß führen wollte. Diese Regimenter sind längst
in Galizien verblutet oder jagen hinter den bei Gor-
lice geschlagenen Russen her. Verödet sind die Hoch-
flächen von Lavarone und Folgaria, keine Angriffs-
armee steht bereit. In den Werken und Stützpunkten
wartet eine dünne Kette von Verteidigern auf die bit-
tere Stunde, in der eine erdrückende Uebermacht ihr
den Raum entwinden wird, der dem kühnen Geist Con-
rads als Sprungbrett hätte dienen sollen.
Kämpfen? Gewiß. Aber der Kampf ist aussichtslos.
Graf Cadoma weiß, was die Hochflächen bedeuten. Er
wird mit einer Wucht vorstoßen, die jeder Beschrei-
bung spottet. Und wird auf das Feuer einiger 10-cm-
Haubitzen, auf eine Handvoll Landstürmer und bewaff-
neter Tiroler Bauern treffen, wird diesen Widerstand
in wenigen Stunden zerbrechen . . .
Der Krieg scheint hier entschieden, eh' der erste
Schuß fällt.
2.
Aus dem Werk Verle ist ein Mann desertiert. Aller
Wahrscheinlichkeit nach war es nicht Verrat, was ihn
zur Fahnenflucht bestimmte, sondern Angst, quälende
Angst vor den kommenden Ereignissen. Er wollte dem
Untergang entgehen, der diesem und allen andern Wer-
ken droht. Seine Phantasie hat sich an den Schicksalen
der belgischen Forts erhitzt, auf die er immer wieder
zu sprechen kam. Nun ist er fort, hinüber zu den
italienischen Finanzern, die wie zum Hohn noch immer
im Grenz Wirtshaus Vezzena sitzen. Hat sein Gewehr
mitgenommen, ein deutsches Mausergewehr älteren Mo-
dells, mit denen die Werksbesatzungen jetzt bewaffnet
sind, seit man die „Mannlicher“ gegen Rußland braucht.
Eine Patrouille mit einem Fähnrich an der Spitze
zieht aus, um etwas über den Deserteur zu erfahren.
27
Noch ist ja Frieden und die italienischen Finanzer sind
gesprächig* Mit Hohn berichten sie seit Monaten, wie-
viel schwere Geschütze man habe, um aus den öster-
reichischen Werken Schutthaufen zu machen, wie stark
die Alpini-Bataillone sind, die diese Schutthaufen stür-
men werden.
Grenzpatrouille. Die dreißig Mann gehen neben dem
Werk durchs Hindernis, marschieren in langer Kette
über die Almwiesen gegen Vezzena, kommen zu dem
Wirtshaus, zu der Kapelle, hinter der die italienischen
Finanzer in der Sonne liegen.
Der Fähnrich spricht und die Zollwächter sind hohn-
voll und freundlich wie immer. Ja, ja, natürlich sei der
Kerl dagewesen und habe sein Gewehr abgegeben. Hier
ist esl
Sie holen den Schießprügel, der durch sein tieber-
fangrohr plump und veraltet aussieht, reichen die
„Beute” grinsend zurück. Mit solchem Krempel wol-
len die Oesterreicher Krieg führen? Lächerlich! Da
sollen sie lieber gleich alle kommen und ihre soge-
nannten Gewehre abliefern. Addio!
Der Fähnrich zieht weiter, die Grenze entlang gegen
Norden, über den bewaldeten Marcairücken, den Gras-
hang der Levespitze hinan. Dort oben hat man im
Herbst vergangenen Jahres einen Stützpunkt zu bauen
versucht. Als aber klar wurde, daß man nie Verbin-
dung wird halten können mit diesem vorgeschobenen
Posten, hat man dieses Beginnen als sinnlos einge-
stellt. Doch die Levespitze ist ein guter Aussichtspunkt.
Man sieht von dort weit ins Italienische hinein. Viel-
leicht kann man heute wieder neue Lager an den auf-
steigenden Rauchsäulen erkennen.
Da kommen von drüben Italiener, ein Offizier mit
dreißig Mann. Sie haben die österreichische Patrouille
abgezählt und genau die gleiche Zahl aufgeboten. Die-
sen Scherz wiederholen sie seit Wochen.
Aug' in Aug' stehen die Patrouillen einander ge-
genüber. Die Kaiserschützen aus Verle sehen gut aus.
Es sind noch „aktive Diener”, prächtige Gestalten, jung,
schneidig, und geben den Alpin! drüben nichts nach.
Alte Feindschaft, Soldaten für- und gegeneinander eigens
28
geschaffen. Zwei Welten, zwei Völker schauen in diesen
sechzig Männern einander in die harten Augen. Heute
vielleicht, morgen, übermorgen werden sie sich über
Korn und Kimme wiedersehen . . .
Weiter oben arbeiten italienische Sappeure an einem
Schützengraben. Sie blicken ängstlich um sich, ob auch
der Alpinioffizier mit seinen Leuten verschwunden ist,
werfen dann ihre Schaufeln weg, kommen näher. „Der
Teufel, wann fangt ihr denn endlich an, daß diese
Schinderei zu Ende ist?“ fragen sie. „Für die paar
Centesimi und den dreckigen Fraß soll man den gan-
zen Tag schuften. In Wien war's besser, als man noch
für die Stadtbahn Steine behaute. Habt doch die Rus-
sen aus dem Fell gewickelt, wir wissen das. Wir sind
nicht so dumm, zu glauben, was unsere Zeitungen uns
vorschwätzen. Oesterreich schlägt uns die Knochen
krumm, und wenn erst gar die Deutschen kommen,
ist es ganz aus. Der Satan hol' die Salandra und Son-
ninol Wenn sie Krieg haben wollen, mögen sie selbst
auf diesen lausigen Berg da steigen und ihre Schützen-
gräben bauen. Na, wir werden uns keine Haare aus-
raufen wegen diesen Eseln, die sich da heiser schreien I
A rivederla!“
Der Fähnrich geht mit seiner Patrouille ins Werk
zurück. Als er den Drahtverhau erreicht, winken die
Standschützen: Alarm 1 Krieg istl
Krieg . . .
So oft hat man das Wort gehört, aber jetzt steht
es neu, fremd, furchtbar in seiner Wirklichkeit vor dem
inneren Blick: Kriegt Und vor einer Stunde noch sprach
man mit dem Feind.
Haben die Alpin! auch noch nichts gewußt? Oder
verstellten sie sich bloß, um die verhaßten Austriaci
vielleicht in einen Hinterhalt zu locken?
Der Fähnrich blickt nach dem Waldrand hinüber.
Dort ist niemand mehr. Die Leute, die an der Frei-
legung des Vorfeldes arbeiteten, sind eingezogen worden,
der gleichmäßige Schlag der Aexte ist verstummt. Schwarz
und schweigsam steht der Wald. An seinem Rand lie-
gen gefällte Bäume, mit den Aesten noch, wirr durch-
einander wie Gefallene . . .
29
3.
Als der Abend einfällt und die Sonnenstrahlen nur
mehr die höheren Berge vergolden, donnern die ersten
Schüsse auf der Hochfläche von Lavarone. Werk Verle
feuert auf eine Gruppe von Leuten, die die Grenze über-
schritten haben und am österreichischen Mandriol einen
Graben auszuheben versuchen. Zwei Schrapnel lagen ge-
nügen, um die Italiener zur Flucht zu veranlassen. Und
droben, auf dem sonnbeschienenen Hang liegen die bei-
den ersten Opfer . . .
Die Antwort läßt nicht lange auf sich warten. Zwei
schwere Granaten aus italienischen Rohren schlagen in
den Wald auf dem Marcairücken ein. Mächtig stehen
die beiden Rauchtürme vor dem Abendhimmel, zer-
fließen langsam im blässer werdenden Blau.
An allen Scharten der Panzerstände, der Stützpunkte
drängen sich Männer und starren dieses Schauspiel an.
Wird es nun losgehen? Werden plötzlich Tausende aus
den Wäldern quellen und das Gelände mit wimmelndem
Leben und hundertfachem Sterben füllen?
Die Telephone spielen. Cima di Vezzena, Lusern,
Gschwendt, die Beobachter auf dem vorgeschobenen
Stützpunkt Basson — sie alle melden, daß weit und
breit kein Feind zu sehen ist. In den Werken nimmt
das gewohnte Dasein seinen Gang, nur die Bedienungen
der Haubitzbatterien haben strenge Bereitschaft.
Altvertraute Landschaft und doch so furchtbar ver-
ändert! Dunkel stehen die Wälder, Nebelschwaden er-
heben sich aus den wasserdurchrauschten Mulden beider-
seits des Assatales, aus den Urwäldern der Brusolada,
des Rio Torto und Val morte. Die Nacht fällt ein.
Die erste Kriegsnacht entlang der ungeheuren Front
zwischen der Schweizer Grenze und dem Meere am
blauen Golf von Panzano, an dieser Front, die nur aus
Lücken besteht, aus Erwartung und Sorge. Was wird
morgen sein? In den Wäldern und Tälern, auf den Hoch-
flächen und Bergspitzen, überall lauert das Verhäng-
nis, das in den letzten Wochen mit Riesenschritten näher
kam und an das doch niemand diesseits der Grenze
glauben wollte.
30
In der letzten Dämmerung gehen Patrouillen ins
Vorfeld- Es ist fast sicher, daß sie nicht mehr wieder-
kommen werden. Muß denn dieser wohl vorbereitete
Feind nicht die erste Nacht zu einem verwegenen Ueber-
fall benutzen? Muß er nicht trachten, diesen Raum, der
seinen Rücken bedroht, durch einen Handstreich zu neh-
men; durch einen Handstreich, der ins Nichts stößt, dem
auch bei größter Unerfahrenheit kaum ein paar Men-
schenleben zum Opfer fallen können? Wohl, die Werke
sind da, sie sind gut besetzt und scharf auf der Lauer.
Aber sie waren als Rückgrat einer starken Widerstands-
linie gedacht, und diese Widerstandslinie ist kaum ange-
deutet. Lima di Vezzena hat keine Geschütze. Verle
deckt mit seinen vier Rohren in der Front und zweien
in der rechten Flanke einen Raum von sechs Kilometern,
wenn man Lusern mit der gleichen Feuerkraft nach
beiden Seiten einsetzt. Gschwendt hat das Asticotal zu
sperren und die drei Werke auf Folgaria müssen eben-
falls ungeheure Räume sichern. Die gesamte „mobile
Artillerie“ auf der Hochfläche von Lavarone besteht aus
vier veralteten 10-cm-Haubitzen, die mit Ochsen be-
spannt sind. Zwei davon schauen in die Val Sugana, in
ein Tal, dessen Sohle drei Kilometer breit ist. Es kommt
also nicht mehr als ein Geschütz kleinen Kalibers auf
den laufenden Frontkilometer; und auf etwa 20 Meter
ein Gewehr. Der Stützpunkt Fasson, für rund tausend
Schützen gebaut, zählt zwei Dutzend Verteidiger, Gen-
darmen, Finanzer und die Beobachtungspatrouillen der
Festungsartillerie inbegriffen. Der Feind weiß das alles,
muß es wissen. Er muß kommen, schon in dieser ersten
Nacht, er kann eine Gelegenheit wie diese nicht unge-
nützt vorübergehen lassen.
Atemlos lauschen die Männer im Vorfeld in die
Dunkelheit. Es ist so still wie immer. Hin und wieder
geistert der Lichtkegel eines Scheinwerfers über die
Hügel der Hochfläche. Das ist der einzige Unterschied
zwischen gestern und heute. Sonst wispert es im Grase,
raschelt durch das Unterholz am Waldsaum von den
vielen kleinen Kreaturen, die hier zu Hause sind, und
nur der Aufschrei eines Nachtvogels durchbricht dann
und wann das feierliche Schweigen.
31
Neben den Geschützen kauert die Bedienung, an die
harte Panzerwand gedrückt so gut es geht. Zigaretten
leuchten auf, Worte fallen. Noch schwingt das Wort
„Krieg" in den Gemütern nach. Aber dann, nach Stunden
vergeblichen Wartens fallen die müden Augen zu, schläft
einer nach dem andern ein. Nur auf den Kommando-
ständen halten die Diensthabenden Wache. Griffbereit
hängt die Handlampe, die Maschinengewehre sind hoch-
gekippt, Patronengurten eingezogen.
Aber die Zeit rieselt als ein unendlicher Regen
kleiner Geräusche durch die Stille und langsam verebbt,
was groß und flammend vor dem inneren Blick stand:
Der Krieg ...
4.
Im Osten wird es grau. Von den Bäumen trieft
Nebelfeuchte. Eine Vogelstimme erwacht, eine zweite,
dritte.
Dann ein dumpfer Laut, wie Unkenruf: das ver-
einbarte Zeichen. Die Männer im Vorfeld erheben sich
todmüde, gehen durch das taunasse Gras zurück. Vor
ihnen taucht das Werk aus der ersten Dämmerung, ein
großer flacher Klumpen, wie ein Hünengrab. Der Draht-
verhau, drei Zonen auf soliden Eisenstäben, starrt als
ein unbezwinglicher Stachelwald. Aber seitwärts, wo die
Hindernisse der nächsten Stützpunkte anschließen, sind
Gassen freigehalten. Spanische Reiter schließen sie.
Scharrende Stiefel durch den harten Schotter, ein
Postenanruf. Dann kreischen die Panzertüren des Zwin-
gers und das vertraute Betongewölbe hat die vermeint-
lich Todgeweihten aufgenommen. Keinem ist ein Haar
gekrümmt worden. Es war eine Nacht wie andere auch.
Eine Viertelstunde vergeht. Es ist halb drei Uhr
morgens.
Da flammt es mehrmals im dämmerigen Nebel der
Ferne auf, daß die Männer in den Panzerständen un-
willkürlich den Blick heben. Dumpfes Poltern . . .
Abschüsse . . .
Heulend schwillt es aus dem blassen Himmel, wächst
in schwindelnder Eile zu fürchterlichem Fauchen an,
32
Blick vom
Rauchkofel
gegen Wolayer-
Paß (Karn.
Kamm)
1
Vorgeschobene Feldwache aas den Köderköpfen. Links Hoher Trieb (Karnisdher Kamm)
Arfillerie-Untersfände auf dem Kleinen Nabois
wirft eine turmhohe Rauchwolke, rötlichen Feuerschein
und Gesteinsbrocken gegen das Firmament Aufbrüllen
der Explosion und rollendes Echo folgen.
Tiefe Stille.
Aber in den Kasematten und Panzertürmen, in den
Gängen und Poternen schreckt hundertfaches Leben hoch,
starrt aus übernächtigen Augen ins Leere. Hände tasten
nach den Lichtschaltern, Fragen werden laut.
Was war das?
Die Antwort heult nieder, schlägt markerschütternd
in den Beton, prasselt als ein Regen von Trümmern und
Sprengstücken auf das Werk: Jetzt, jetzt ist der Krieg
da, jetzt hat sich seine harte Stimme aufgemacht und
schreit in das Ohr der so jäh Geweckten: Vernichtungl
Aber die Panzer sind stark, die Decken sind gut.
Laßt ihn schreien!
Alle sieben Werke bekommen Eisen. Durch die
Scharten der Kuppeln kann man sehen, wie beim Nach-
bar die Rauchtürme hochschießen und Trümmer und
Fetzen fliegen — ein aufregendes Schauspiel zwischen
dem Donnerlärm der Einschläge im eigenen Gehäuse.
Dieses Wuchten freilich wischt immer für Augen-
blicke jede Besinnung, jede Teilnahme aus. Teufel, wie
das niederkracht, wie die Betondecke schwingt, wie das
Ganze als eine ungeheure Glocke dröhnt! Aber sie hält,
diese Glocke, sie spottet dem niedersausenden Stahl. Die
Kuppeln sind mächtig, sind Meisterstücke der Konstruk-
tion; mit den Vorpanzern verzahnt, sitzen sie als starke
Buckel auf dem Batterieblock. Ebenso wuchtig sind die
Stirnpanzer der „Traditoren“, der Flankiergeschütze zu
den Nachbarwerken, und die Maschinengewehr- und
Scheinwerferstände — alles aus zähestem Chromnickel-
stahl, tief in Eisenbeton verankert.
Die Italiener schießen gut. Ihre Achtundzwanzig-
zentimeter-Haubitzen sind seit vielen Wochen feuer-
bereit, die Schußelemente wurden zehnmal überprüft,
zahlreiche Beobachter können den kleinsten Fehler be-
richtigen. Das Gelände bietet reichlich Gelegenheit, die
Wucht der niedersausenden Geschosse dadurch zu er*
höhen, daß man die Batterien in größeren Höhen ein-
3
33
baute als die Ziele liegen. Auf der Porta di Manazzo
und dem Verena-Campolongorücken stehen sie, fünf-
hundert Meter über den österreichischen Werken Verle,
Lusem und Gschwendt. Nur Cima di Vezzena liegt an-
nähernd in ihrem Mündungshorizont. Selbst im Folgaria-
Absdmitt, wo die Verhältnisse für den Verteidiger gün-
stiger liegen, kann sich der Angreifer dieses Vorteils
durchwegs bedienen: Auch seine Batterien, die auf dem
Monte Toraro und Campomolon eingebaut sind, feuern
hier mit zwei- bis vierhundert Meter Ueberhöhung gegen
die Werke San Sebastiane, Sommo und Serrada.
Wie eine Kiellinie festgelaufener Schlachtschiffe müs-
sen die Werke, von einem Flugzeug betrachtet, aus-
sehen. Sie antworten nicht auf das italienische Feuer,
sie finden kein Ziel in dem Bodennebel, der ihre nähere
Umgebung deckt. Gegen die schweren Batterien aber
sind sie so gut wie machtlos. Der Feind hat wohl dar-
auf geachtet, an der Portäegrenze der Werksgeschütze
zu bleiben und sich dadurch jeder ernstlichen Belästigung
zu entziehen. Was machen schon die paar lQ-cm-Gra-
naten, die Verle vielleicht gegen die Porta di Manazzo
feuern wird? Wahrscheinlich hört man ihre Einschläge
gar nicht.
Immer mehr kommt der junge Tag herauf und die
Sicht wird besser. Jetzt erst ist man so richtig einge-
schossen. Jetzt sind die Rohre gleichmäßig warm und
ihre Streuung sehr klein. Es ist eine frisch-fröhliche
Arbeit, den verhaßten Oesterreichem einen Zuckerhut
nach dem andern aufs Dach zu hauen. Der Krieg hat
doch mehr Reize als man dachte. Kein Exerzieren, keine
Schinderei mehr. Auf den Kuppeln der Verena und des
Campolongo sitzen sie und sehen rauchend und plau-
dernd zu, wie drüben die Geschosse einschlagen und
rings um die Werke immer mehr Grasnarbe weggerissen
und weißer Schotter sichtbar wird. Sollen nur schwitzen,
die Austriaei, sollen nur erkennen, wo die Macht und
daher das Recht ist! Gegen Abend werden sie schon
mürbe sein. Dann wird man sie halbtot aus ihren zer-
trümmerten Betonkisten ziehen können, sofern sie über-
haupt noch am Leben sind . . .
Z4
5.
In den beschossenen Werken hat man sich nach
Ueberwindung der neuen Eindrücke an das Fauchen und
Donnerkrachen der einschlagenden Granaten gewännt.
Die Besatzung ist auf Alarmposten, alle Panzerscharten
sind geschlossen, Glühlampen verbreiten ein gleichmäßig
trübes Licht Die Motoren laufen und ihr Gestampf zieht
als ein leises Beben durch alle Räume. An den Signal-
stationen gegen Cima di Vezzena und Lusern drängen
sich die Köpfe Neugieriger. Alle wollen einmal durch das
Fernrohr den Einschlag der „schweren Teufel“ sehen, die
diese furchtbaren Schläge zu eigenen Häupten führen.
Wie lange dauert das schon? Sind Minuten ver-
flossen seit dem plötzlichen Erwachen um halb 3 Uhr
früh, oder Stunden, oder Tage? Es beginnt jene zeit-
lose Ewigkeit, die ein volles Jahr nicht von den Ge-
mütern weichen soll; jenes völlige Gleichgültigsein gegen
die Zeit, das vielleicht nur noch ein Leben in der Polar-
nacht mit sich bringt. Wer weiß, daß heute Pfingst-
montag ist? Wer weiß, ob draußen Tag oder Nacht
herrscht, ob es regnet, schneit, ob die Sonne scheint?
Der Lebensraum ist mit eins so winzig geworden: der
Kasemattblock, der Batterieblock, die Nahkampfanlage,
der Kehlkoffer . . . Unendlich fern liegt schon die
Kontereskarpe, weil selten jemand aus dem Hauptwerk
dorthin kommt, weil die dort Eingeschlossenen eine Insel
für sich sind.
Es dauert erst eine halbe Stunde. Die Bedienungen
neben den Turmhaubitzen kauern regungslos auf dem
Boden, jeden Augenblick bereit, die ersten Kommando-
rufe auszuführen. Jetzt müssen sie doch bald kommen.
Dann geht auch der beklemmende Atemdruck unter im
Dröhnen der eigenen Geschütze, dann wird alles gleich
besser sein. Hier klingt das Niederheulen der Feind-
geschosse besonders grausig, hier wuchten die Einschläge,
die stürzenden Betontrümmer nacheinander wie ein
schwerer und viele leichtere Hammerschläge. Manchmal
kracht es so beängstigend nahe, daß unwillkürlich die
Blicke über das weiße Rund der Kuppel wandern, unter
der man hockt.
3*
35
Aber nichts, nichts unterbricht dieses bange Warten
von Einschlag zu Einschlag. Die Beobachter auf den
Panzerständen suchen vergeblich das lichter werdende
Gelände nach einem Ziel ab. Außer den unerreichbaren
Zuschauern auf Verena und Campolongo ist kein Mensch
zu sehen.
Achtung! Jetzt haben sie auf Verenetta wieder abge-
feuert. Man sah deutlich die gelbe Abschußflamme, den
Dunst, der über dem Kamm des Bergrückens aufsteigt.
Knapp hinter dieser Kammlinie müssen die beiden Acht-
undzwanziger stehen, deren Einschläge immer knapp auf-
einander folgen.
Dumpf dringt das Rollen des Abschusses an das
Ohr der Männer in den Kuppeln des Werkes Verle.
Jetzt, in wenigen Bekunden wird das Winseln aus dem
Raum quellen, das so blitzschnell alle Tonhöhen bis
zum ohrenzerreißenden Heulen durchläuft Dann kommt
der Schlag . . .
Grellrot flammt es vor den Augen der Bedienung
des zweiten Turmes. Schneidender Schmerz in den Ge-
hirnen, das Bewußtsein kaum mehr streifend. Dann
Nacht, tiefe Nacht, Schweigen . . .
Die ganze Besatzung des Werkes hört und sieht,
daß Außergewöhnliches geschehen ist. Bis in die letzten
Winkel ist der Schlag gegangen, hat Türen aufgerissen
und gleich einem Erdbeben Gegenstände umgestürzt.
Das Licht ist erloschen. Kurzschluß, sämtliche Lampen
aus. Im Maschinenraum reißen tastende Hände die Auto-
maten aus den Kontakten, um einen Kabelbrand in der
Akkumulatorenkammer zu verhindern.
„Licht! Licht!“ Und dann gellende Schreie: „Sanität!
Sa—ni—tät!!“
Getrappel, Stoßen und Fluchen in den finsteren
Gängen, über die Treppen; Türen, die ins Schloß fal-
len. Die Alarmglocke schafft noch mehr Verwirrung,
da nun alles auf seine Posten drängt, nach den Ge-
wehren und der Ausrüstung sucht. Nur wenige be-
wahren ihre Ruhe.
Endlich flammen die ersten Taschenlampen auf und
Sanitäter mit Sauerstoffmasken dringen in den ver-
36
Luft-Minenwerfer
Kaverne einer Gebirgskanone am
Javorcek (Abschnitt Flitsch)
10-cm-Haubitze in der Schleife
Baracken des Infanterie-Bataillons II/57j
auf den Köderköpfen (Karnischer Kamm)
Stellungen am Ravelnik (Flifscher Becken)
Schneetunnel am Findenigkofel (Karnlscher Kamm)
qualmten Batteriegang ein. Der Großteil der Bedienun-
gen ist in die Munitionskammern geflüchtet und hat
sich dort eingeschlossen, um dem giftigen Ekrasitrauch
zu entfliehen.
Vor dem Aufstieg zur zweiten Haubitze zeigt ein
Haufen Schutt und verbogenen Eisens, daß hier das
Unglück geschehen ist. Und oben, im Turm, bietet sich
den Rettern ein Bild furchtbarer Zerstörung: Der Vor-
panzer ist durchschlagen, ein kreisrundes Loch läßt das
Tageslicht einfallen. Die Haubitze steht schief, das Po-
dium ist aufgerissen, die Bedienung liegt gräßlich ver-
stümmelt zwischen Zahnstangen, Blechplatten und an-
deren Teilen. Keiner ist mehr am Leben. Ihre Körper
sind brandgeschwärzt, ihre Gesichter bis zur Unkennt-
lichkeit zerdrückt und verkohlt. Von einem ist nur der
Oberkörper da, während der halbe Rumpf und die
Beine seitwärts im Schacht verklemmt sind.
Nach halbstündiger Beschießung dieser Treffer! Der
Eindruck ist niederschmetternd, alles Vertrauen in die
Widerstandskraft des Werkes dahin. Was nützen die
stärksten Kuppeln, wenn ihre Vorpanzer wie schwaches
Blech durchschlagen werden?
Das Licht flammt nun wieder auf, aber es zeigt
nur den mißtrauisch gewordenen Augen die ersten Spu-
ren der Zerstörung auch im Kasemattblock: Lange
Sprünge an den Betonwänden, wahrscheinlich nur im
Verputz, aber unheilverkündend in diesen kritischen
Augenblicken.
Auch die italienischen Beobachter haben die Bedeu-
tung des Durchschlags nach bloß halbstündiger Beschie-
ßung erkannt. Es ist ihnen nicht entgangen, daß der
Treffer im Turm saß, daß dicker Qualm aus der Rohr-
scharte quoll und mithin die Achtundzwanziger den
österreichischen Werken gewachsen waren. Wie schwach
mußten die Eindeckungen sein, wenn einer der wich-
tigsten Teile der ganzen Befestigung, die Panzerbatterie,
so wenig geschützt war. Sie verdoppeln ihren Eifer.
Das Feuer wird hastiger, auch 21-cm-Mörser arbeiten
mit. Es sieht so aus, als ob die italienische Infanterie
noch am gleichen Tag ihren ersten Vorstoß wagen würde.
37
6.
Stunde für Stunde nimmt die Zerstörungsarbeit
ihren Fortgang. Um sechs Uhr morgens antwortet Werk
Verle aus den drei heil gebliebenen Turmhaubitzen,
mehr um der Besatzung das Vertrauen wiederzugeben,
als um des Zieles willen. Bald darauf setzt ein zweiter
Treffer in den Vorpanzer auch das dritte Geschütz vom
rechten Flügel her außer Gefecht — diesmal ohne blu-
tige Verluste, weil die Bedienung nun immer aus dem
Turm gezogen wird, wenn die Batterie nicht feuert.
Dennoch ist der Eindruck, den dieser zweite Zufalls-
treffer hinterläßt, von größter Bedeutung: Niemand un-
ter den Dreihundert, die in dem Betonkasten einge-
schlossen sind, hofft mehr den Tag zu überleben.
Zwei Zufallstreffer — sie sind nicht anders zu be-
zeichnen — und trotzdem eine schwere Anklage gegen
das hirnlose System jenes Parlamentarismus, mit dem
Kriegsminister und Generalstabschef jahrzehntelange Ge-
fechte um jede Krone austragen hatten müssen. Diese
Vorpanzer waren aus dem Zwang zur Sparsamkeit her-
aus so kurz und schwach geraten, daß sie jetzt den
Kampfwert modernster Panzerwerke in Frage stellten.
Die wahnwitzigen Blutopfer der galizischen Schlachten
fanden hier und überall ihre Fortsetzung, und immer
wieder stieß der Soldat auf die Spuren jener Volks-
verräter, die aus Dummheit und bösem Willen alles
hintertrieben hatten, was Wehrkraft hieß.
Die Wirkung der beiden Durchschläge auf die mora-
lische Widerstandskraft der Werksbesatzungen war ver-
heerend. Es sind erstklassige Soldaten, fast durchwegs
Söhne der Alpenländer und den besten Jahrgängen ent-
stammend, denen man die Verteidigung dieser wichtigen
Sperre anvertraut hat. Sie blicken dem Untergang schwei-
gend und mit zusammengebissenen Zähnen ins Auge,
nirgends wird ein zaghaftes Wort laut; und trotzdem
fühlt jeder, daß Mannesmut hier vergeblich ist, daß es
nur mehr einen würdigen Tod gilt.
Der Kommandant des Werkes Verle bricht vollends
zusammen. Er ist nicht mehr sichtbar, er liegt mit einem
Weinkrampf im Keller und läßt sich Coffein-Einspritzun-
38
gen machen. Um die Mittagsstunde rafft er sich auf und
sendet ein längeres Phonogramm an das Landesverteidi-
gungskommando in Innsbruck. Das Werk sei nicht zu
halten, heißt es darin, jeder Mann, der falle, werde um-
sonst geopfert.
Gegen Abend trifft die Antwort ein: Verle ist bis
auf zwei Unteroffiziere und vierzig Mann zu räumen.
Den Bitten der Offiziere gelingt es, die beiden Unter-
offiziere durch Fähnriche zu ersetzen. Das ist alles, was
der gänzlich verstörte und dennoch eigensinnige Mann
zugibt. Und so gehen in der Dämmerung 260 Artilleristen
und Kaiserschützen, der Kommandant, ein Leutnant und
ein Fähnrich aus dem Werk und überlassen den Rest
der Besatzung ihrem Schicksal — einem Schicksal, das
kaum mehr zweifelhaft erscheint . . .
Und trotzdem nehmen die Freignisse einen Verlauf,
der nicht mehr allein von dem Mut und der Kampf-
kraft dieser winzigen Schar gemeistert wird. Zum ersten-
mal greift die Starrheit der Kriegsführung des Grafen
Cadoma rettend oder hindernd — je nachdem, von
welcher Seite man die Lage betrachtet — in den Feld-
zug ein: General Brusati, der die 1. italienische Armee
führt, hat den strengen Befehl, solange in strategischer
Defensive zu verharren, als die 4. Armee unter General
Nava angriffsweise gegen das Pustertal bei Toblach ope-
riert. Der italienische Generalissimus hält es nämlich
für ohneweiters möglich, daß die Mittelmächte trotz
Westfront, Rußland und Balkan einen Vorstoß aus Tirol
heraus unternehmen könnten 1
So entsteht für die italienische Armee jene heikle
Lage, die sie den ganzen Feldzug hindurch nicht mehr
los wird: Immer ist der Tiroler Zipfel in österreichischer
Hand, ja er wird durch die Offensive von 1916 noch
beträchtlich erweitert und bedroht alle Operationen Ca-
domas vom Rücken her. Ein einziger entschlossener An-
griff im Frühjahr 1915 hätte die Italiener zum Erfolg
führen müssen. So aber schlugen sie elf Schlachten am
Isonzo, erkämpften mühsam Graben um Graben, brachten
ungeheure Menschenopfer, ohne die Gefahr loszuwerden,
daß ihnen jederzeit alles wieder entrissen und ihre
Armee vernichtet werden konnte, wenn dem Feind ein
39
Gegenstoß aus Südtirol gelänge. Und daß dieser Stoß
im entscheidenden Augenblick gelungen wäre, darüber
kann kein Zweifel sein.
General Brusati muß sich also mit kleinen örtlichen
Angriffen begnügen. Er versucht es und erleidet eine
Niederlage um die andere. Diese Schlappen eines vier-
mal, ja stellenweise zehnfach stärkeren Gegners haben
dem Verteidiger ein solches Gefühl absoluter Ueber legen-
heit gegeben, daß auch spätere Zusammenstöße großen
Stils daran nichts mehr ändern konnten. Was das bei
dem ständigen Mangel an Streitkräften und Ausrüstung
auf Seite des Verteidigers bedeutet hat, ist schwer zu
schildern: es war das Um und Auf unserer Kriegfüh-
rung an der Alpenfront, wenigstens im ersten Jahr.
Vorläufig aber sind diese Erfahrungen noch nicht
Geschichte, vorläufig fechten die Soldaten der Tiroler
Front noch mit dem Gespenst der Aussichtslosigkeit vor
Augen. Das schwere Feuer auf die Sperrwerke und Stütz-
punkte kann nur als ernsthafter Angriffsversuch gedeutet
werden. Man glaubt, einen Feind vor sich zu haben, der
sich des Vorteils der Anfangserfolge bewußt ist; einen
Feind, der den letzten Mann und die letzte Patrone ein-
setzen wird, um die Südtiroler Bastion in die Hand zu
bekommen.
Drei Tage und drei Nächte täuscht Werk Verle volle
Kampfkraft vor. Es feuert gegen jedes Ziel, es beweist
Stunde für Stunde, daß sich an seiner Kampfkraft nichts
geändert hat. Das reizt den Feind und löst eine immer
wütender werdende Beschießung aus; aber es hindert ihn,
seine Infanterie vorzuschicken, ja sich überhaupt zu zei-
gen. Die Behauptung der Hochfläche, ohne die es keine
Offensive von 1916 mehr gegeben hätte, hängt in die-
sen drei Tagen an einem sehr dünnen Faden: an den ,
gesunden Nerven der beiden Fähnriche, die mit vierzig
Mann das „schwächste Glied der Kette“ zu halten haben.
In der Nacht vom 26. auf den 27. Mai kehrt die
ganze Besatzung in das Werk zurück. Nur der Kom-
mandant fehlt. Er hat sich geweigert, „diesen Selbstmord
zu verüben“, wird verhaftet und vor ein Kriegsgericht
gestellt. Das Verdienst, die Lage wiederhergestellt zu
haben, gebührt dem Leutnant i. d. Res. Julius Papak,
40
der aus eigenem Antrieb alle die unsinnigen Befehle auf-
hebt, das Werk wieder voll besetzt und es ein Jahr mit
größter Umsicht und Tapferkeit befehligt. Er wird in
der Geschichte der Verteidigung Südtirols immer einen
Ehrenplatz einnehmen.
7.
Kaum ist diese Scharte ausgewetzt, als eine zweite
Katastrophe droht: Lusern. Und auch hier ist es nicht
die Besatzung, sondern die Unfähigkeit des Kommandan-
ten, die auf ein Haar den Zusammenbruch der ganzen
Linie heraufbeschwört.
Auch dieses Werk, der rechte Nachbar Verles, hat
böse Tage hinter sich. Pausenlos hageln die schweren
Granaten des Feindes nieder, reißen tiefe Löcher in die
Eindeckungen, zerhämmern die Nerven der dreihundert
Mann, die in dem Betonsarg eingeschlossen sind. Der
Kommandant, ein Tscheche namens Nebesar, ist kein
Verräter, wie man ihm später zur Last legen wollte.
Er wird bloß unter der Gewaltprobe dieser Beschießung
völlig kopfscheu. Seine „Maßnahmen“ streifen an Irr-
sinn: Niemand darf schlafen, kein Mann von seinem
Alarmposten sich entfernen. Die Kanoniere hocken Tag
und Nacht neben den Geschützen, die Kaiserschützen
stehen am Maschinengewehr und warten und warten . . .
Er selbst, der Mann, der das alles verantwortet, sitzt
mit unheimlicher Ausdauer in seiner Panzerkuppel und
starrt ins menschenleere Vorfeld hinaus. Nichts ist zu
sehen, nirgends zeigt sich auch nur eine Spur, die auf
Angriffsabsichten des Feindes schließen ließe. Das hin-
dert ihn nicht, Infanterieansammlungen hinter jedem
Waldrand zu vermuten und seine eigene Hilflosigkeit
zu überschätzen. Seine Äugen sind von Detonationen
und gewaltsamem Ankämpfen gegen den Schlaf ent-
zündet, seine Kräfte beginnen zu versagen. Wenn er am
Plantisch einnickt, reißt ihn der nächste Ächtundzwanziger
wieder hoch, zwingt ihn zu Wachsein und Denken. All-
mählich kann er Phantasie und Wirklichkeit nicht mehr
unterscheiden.
Die übrigen Offiziere des Werkes, ein Leutnant und
zwei blutjunge Kadetten, sehen wohl das Unmögliche
41
dieses Verhaltens ein, werden aber von dem Oberleut-
nant Nebesar nicht angehört Dagegen sind in den bei-
den Nahkampf anlagen Viaz und Oberwiesen ähnliche
Nervenkrüppel als Kommandanten und bestärken Nebesar
!n der Ansicht, daß das der Untergang sei. Die Tele-
phonkabel zu den Nachbarwerken Verle und Gschwendt
sind längst zerschossen — so treibt Lusern wie ein steuer-
loses Schiff der Katastrophe entgegen.
Als der fünfte Tag der Beschießung, der 28. Mai
heraufdämmert, sind Kommandant und Besatzung voll-
kommen fertig. Statt sich aber ablösen zu lassen, handelt
Nebesar auf eigene Faust Zuerst äußert sich sein Wahn,
daß das Werk knapp vor einem Massenangriff des Fein-
des stehe, in einem rasenden Feuer gegen den Wald
von Brusolada: Siebenhundert Geschosse sausen durch
die glühenden Rohre der Turmhaubitzbatterie, Rauch-
wolken steigen über den Baumkronen empor, ohne daß
jemand erfahren kann, welchen Sinn dieses mörderische
Beginnen habe. Eine Anfrage aus Werk Verle, mittels
Blinklicht gegeben, wird mit der verworrenen Antwort ab-
gefertigt, im Walde von Brusolada stünde der Feind
und Lusern bitte um Feuerunterstützung. Als keine Unter-
stützung kommt, weil die Beobachter mit bestem Willen
kein Ziel entdecken können, schießt Nebesar noch bis
Mittag weiter, läßt dann die Kuppeln abdrehen und
schweigt.
Aber in diesen Stunden des Schweigens gehen in
Lusern fürchterliche Dinge vor sich: Auf Befehl des Kom- -s
mandanten wird das Werk — für die Uebergabe bereit-
gemacht. Auch das geschieht keineswegs planmäßig, son-
dern mit sinnloser Zerfahrenheit. Nebesar läßt die Ge-
schützverschlüsse ausheben und in die Trinkwasserzisterne
werfen. Die Schalttafeln im Maschinenraum werden zer-
schlagen, die Wasserjacken der Maschinengewehre durch-
löchert — alles Schäden, die später ohne viel Mühe aus-
geglichen werden konnten, was natürlich den Italienern
ebenso möglich gewesen wäre. Nicht ein entscheidender
Schlag gegen die Kampfkraft des Werkes wird geführt,
weder die Kuppeln gesprengt, noch die Rohre, die Mo-
toren, die Munition. Nebesar scheint auch jetzt noch zu
schwanken. Er macht alles halb, weil er eines ganzen
42
Gedankens, eines wirklichen Entschlusses nicht mehr
fähig ist. Auch die Vorbereitungen, die er für Viaz und
Oberwiesen befiehlt, sind ähnlich sinnlos.
Zwischen drei und vier Uhr nachmittags geht die
Besatzung von Lusern in kleinen Gruppen aus dem
Werk. Sie nimmt ihre Gewehre mit, einen Teil ihrer
Effekten und — Unmengen Proviant aus den Magazinen,
als sollte jetzt ein wochenlanger Marsch folgen. Und
dann tritt das Fürchterliche ein: Ueber dem Ver-
de ck von Lusern flattern plötzlich vier
weiße Fahnenl
Bestürzung hüben und Verblüffung drüben sind in
gleicher Weise groß. Was tun, wenn dieser wichtigste
Punkt der Lavarone-Linie in Feindeshände fällt? Weit
und breit gibt es keine Streitkräfte, die man zum Ge-
genangriff ansetzen könnte. Der Zusammenbruch ist dal
Die übrigen Werke werden eingeschlossen und praktisch
außer Gefecht gesetzt werden; denn wenn die Kette ein-
mal zerrissen ist, gibt es nur mehr einen ehrenvollen
Untergang.
Und da — qualvoller Auftakt: Der Feind stellt das
Feuer gegen Lusern ein. Atemlose Spannung. Was wird
jetzt geschehen? Verle und Gschwendt sind entschlossen,
die weißen Fetzen auf dem Nachbarwerk nicht gelten
zu lassen, sondern auf alles zu feuern, was ihm in die
Nähe will. Dazu sind sie berechtigt, sie haben ja kein
Zeichen der Bereitschaft zu einem ähnlichen Verhalten
gegeben.
Plötzlich wimmelt es im Vorfeld von Lusern. Die
Italiener gehen in dichten Schützenketten gegen das
Werk vor. Ueber ihren Köpfen ballen sich die ersten
rot-weißen Schrapnellwolken. Die Traditorenbatterien
von Gschwendt und Verle arbeiten. Gschwendt muß in-
direkt schießen, aber Verle sieht das Ziel. In rasender
Eile feuern die beiden 8-cm-Kanonen, sie vermögen bis
zu vierzig Schuß in der Minute abzugeben.
Der Feind stockt in seinem Vordringen, zögert, bleibt
am Boden liegen. Das Flankenfeuer trifft ihn hart, er
ist alles eher denn kampfgestählt und hart im Ertragen
von Verlusten. Auch haben sich die Leute, die da von
zwei Seiten her wütend beschossen werden, einen harm-
43
losen und ruhmreichen Schlußeffekt vorgestellt, aber
nicht Kampf, Blut und — vielleicht — eine nieder-
trächtige Kriegslist des Feindes*
Kein Zweifel mehr, das ist es! Vor den ersten
Schwarmlinien der Italiener ist ein Leutnant mit einer
Patrouille durch das Hindernis von Lusern gedrungen
und erscheint im Kehlgraben. Aber die weißen Fahnen
sind schon weg, sie wurden teils von Verle umge-
schossen, teils durch eine schneidige Standschützen-
patrouille aus den Nachbarstützpunkten niedergeholt.
Und als der Leutnant sich anschickt, das geräumte Werk
zu besetzen, kracken aus dem Kehlkoffer Schüsse.
Die Italiener gehen wieder zurück. Sie melden, daß
die weißen Flaggen offenbar nur eine List gewesen seien,
um dem Werk eine Atempause zu verschaffen. Das Werk
sei besetzt und es würde bei einem Nahangriff sicher
erbitterten Widerstand leisten.
Und — wie ein Alp allmählich weicht — jubelndes
Gefühl des Glücks, der Befreitheit: der Feind räumt
das Vorfeld, verschwindet aus dem Gesichtskreis der ihn
mit atemloser Spannung verfolgenden Beobachter.
Es ist halb fünf Uhr nachmittags. Wenn diese heikle
Lage in der Abenddämmerung eingetreten wäre, hätte
sie vielleicht keine so glatte Lösung gefunden.
Die ersten Sprengwolken schwerer Geschosse fliegen
über Lusern hoch. Der Feind feuert mit verdoppeltem
Eifer, es ist, als ob er die „Atempause“ wettmachen
wollte. Aber den Verteidigern ist jedes Anzeichen recht,
wenn es nur besagt, daß die Italiener zur Tagesordnung
übergegangen sind, daß sie den wahren Stand der Dinge
nicht erkannt haben.
Und so scheint es in der Tat gewesen zu sein: Sie
haben nicht gewußt, wie es um Lusern steht, sonst hät-
ten sie ganz andere Anstrengungen gemacht, um es in
die Hand zu bekommen.
Einige Stunden später ist der Großteil der von
Oberleutnant Nebesar getroffenen Anordnungen rück-
gängig gemacht. Die Besatzung des Werkes geht ohne
Wimperzucken wieder zurück, sie beginnt trotz schwer-
stem Feuer mit den Aufräumungsarbeiten. Aus Verle
und Gschwendt kommt Unterstützung. Nach den ersten
44
Fort Hensel bei Malborgeth (Kanaltal)
Artilleriestellung am Grat zur Polinikscharte, Abschnitt Flocken (Karnlscher Kamm)
Maßnahmen zur Verteidigung gegen Nahangriffe kommt
eine tagelange, ungemein mühevolle Arbeit: Die Ge-
schützverschlüsse müssen bei künstlichem Licht aus dem
eiskalten Wasser der Zisterne getaucht werden. Statt
der Marmortafeln im Maschinenraum begnügt man sich
mit Holz, auf welchem die Schalter montiert werden,
und die Wasserjacken der Maschinengewehre werden
gelötet.
Lusern hat seine Krise überstanden. Wie heldenhaft
die Besatzung war, wenn sie von Männern geführt
wurde, das bewiesen die nächsten zwölf Monate, in
denen das Werk, völlig zusammengeschossen und vom
Feinde eisern umklammert, allen Verlusten zum Trotz
gehalten wurde, bis die Offensive vom Mai 1916 es be-
freite. Die Kadetten Deutschmann und Wolfrum und
später der Kaiserschützenoberleutnant Schaufler haben
als Führer der Besatzung von Lusern den Beweis ge-
liefert, daß es immer auf den Mann ankommt, der einer
Situation gegenübersteht, und nicht auf die Mittel, deren
er sich dabei bedienen kann.
Sehr schwer hergenommen wurde in diesen ersten
Tagen des Krieges auch das dritte Werk in der Lava-
rone-Reihe, Lima di Vezzena. Es klebt 1908 m hoch
auf dem Rest eines Berggipfels, dessen eine Hälfte vor
Jahrtausenden von der Brenta unterwaschen und ab-
gebrochen sein muß, im Rücken eine Wand, frontwärts
eine stark geneigte Fläche. Keinerlei Geschütze stehen
dort oben zur Verfügung, nur fünf Maschinengewehre
decken das kleine Fort, das eigentlich nur ein befestig-
ter Beobachtungsposten ist. Fünfzig Artilleristen und
Kaiserschützen bilden seine Besatzung. Aber an ihrer
Spitze steht ein Mann von großer Entschlossenheit
und unerschütterlicher Nervenruhe: der Fähnrich Kurt
Schwarz. Ihm war es zu verdanken, daß dieser wich-
tige Punkt bis zur Entscheidungsschlacht im Mai 1916
allen Mühsalen und Verlusten zum Trotz behauptet
werden konnte.
Zu Beginn des Krieges war der gedeckte Zugang
zum Werk Cima di Vezzena noch nicht fertig. Der
Weg, der in die Wand hineingehauen war, endete in
einen Ausstieg etwa sechzig Schritte vor dem Werk
45
und diese sechzig Meter mußten von den Wasser- und
Proviantträgem steil aufwärts im Laufschritt zurückge-
legt werden. Da der Feind immer näherrückte und
schließlich Scharfschützen hinter Schutzschilden auf jeden
lauerten, der diesen Weg nahm, war es jedesmal ein
aufregendes Spiel, nach und aus dem Werk Lima di
Vezzena zu kommen.
8.
In der Nacht vom 30. auf den 31. Mai unternehmen
die Italiener nach siebentägigem Feuer zum erstenmal
den Versuch, sich in den Besitz der Hochfläche zu setzen.
Dieser Angriff war typisch für ihre damalige Kamp-
fesweise: Mit untauglichen Mitteln, zögernd, offenbar
durch blutleere Befehle gehemmt, stießen einige Kom-
panien aufs Geratewohl vor und verschwanden ebenso
rasch wie sie gekommen waren.
Die Beschädigungen der Werke Lima di Vezzena und
Verle, die weißen Fahnen auf Lusern, die spärliche Be-
satzung in den Stützpunkten der Zwischenräume — alles
das scheint den verantwortlichen General im Abschnitt
Marcairücken—Mandriol zur Ueberzeugung gebracht zu
haben, daß es im Sinne jenes Befehles der italienischen
Heeresleitung, der eine Wegnahme aller unverteidigten
Punkte anordnete, gelegen sei, wenn er nun gegen den
Nordteil der Lavarone-Stellung vorstoße.
Nur mit dieser Annahme ist das Verhalten der
italienischen Infanterie vor dem Angriff zu erklären:
Nach stundenlanger Feuerpause erschallen plötzlich ge-
gen 11 Uhr nachts laute Kommandorufe vor dem Werk
Verle. Sofort flammen die Scheinwerfer auf, schwirren
Leuchtraketen in den Himmel, knattert Gewehrfeuer.
Taghell ist das Vorfeld beleuchtet. Und in dieser Helle
zeigen sich Menschenhaufen, die planlos aus dem Wald
hervorbrechen und unter mörderischem Geschrei an-
rücken.
Werk Verle könnte sich der Angreifer mit einigen
Kartätschschrapnells erwehren; seine beiden intakten
Turmhaubitzen würden genügen, eine Vielzahl von dem,
was da kommt, in wenigen Minuten zu zersieben. Aber
46
da meldet Cima di Vezzena, daß auch im Intervall ein
Angriff drohe. Man vernehme deutlich — Blechmusik.
Am Hang unter dem kleinen Nachbarwerk waren zwei
unbesetzte Stützpunkte. Man hatte bei bestem Willen
nicht die zwanzig oder dreißig Mann aufgebracht, die
diese Lücke geschlossen hätten. Daher muß Verle sein
Haubitzfeuer zunächst dort hinauf richten und den
Schutz der eigenen Haut den Maschinengewehren in
Front und Flanke überlassen.
Gleichwohl drohte keine Gefahr. Kaum züngelten
die Mündungsflammen der sieben Maschinengewehre, die
Verle aus seinen Frontpanzem heraus betätigen konnte,
als der Feind im Vorfeld sich zu wilder Flucht wandte.
Es war auch zwecklos, auch nur einen Mann zu opfern.
Noch standen die Drahtverhaue, noch war die Kampf-
kraft des Werkes ungebrochen. Auch die hundertfache
Zahl der Angreifer wäre an diesen Umständen ge-
scheitert.
Mittlerweile fegen die ersten Schrapnells von Werk
Lusern heran, krepieren über den Flüchtenden. Und
Verle selbst sendet eine Granate nach der andern ge-
gen den Cima-Hang, zuerst ins Vorfeld der bedrohten
Stützpunkte, dann auf diese selbst, denn Fähnrich
Schwarz erklärt mit größter Bestimmtheit, daß er von
dorther Musik höre; der Feind müsse sich in den leer-
stehenden Holzkästen eingenistet haben.
Etwa eine halbe Stunde lang gehen Kampflärm und
Gefechtsfieber weiter. Dann verstummt das Getöse ganz
von selbst, denn es war klar, daß der Feind sich längst
zurückgezogen hatte. Die übrige Nacht atmet wieder jene
Stille, die alle Nächte vor Kriegsbeginn erfüllt hat.
Kaum daß ein Postenschuß das große Schweigen zer-
reißt. Erst als es Tag wird, nehmen die Italiener ihr
schweres Artilleriefeuer wieder auf, doch ist es spär-
licher als vor dem ersten Zusammenstoß, gleichsam ab-
klingend, um die Werke nicht in zu großen Hoffnun-
gen zu wiegen.
Es scheint den Italienern bereits damals klar ge-
wesen zu sein, daß man mit den vorhandenen Kali-
bern — 28 und 21 cm — für einen ernsthaften Angriff
auf die Sperre kein Auslangen finden konnte. Und wenn
47
auch das Feuer noch etwa sechs Wochen lang mit wech-
selnder Stärke fortgeführt wurde, nämlich bis der An-
greifer zum entscheidenden Schlag seine Kräfte sam-
melte, so waren diese täglichen Beschießungen doch nur
mehr eine lästige Störung, an die man sich allmählich
gewöhnte.
In dieser Zeit wurden die Werke der Lavarone-
Folgaria-Linie wieder auf ihre volle Kampfkraft ge-
bracht, wurden in Verle die zerstörten Geschütze aus-
gewechselt und die schwachen Vorpanzer durch Aus-
betonierung der Ringgalerien verstärkt. Um diese Ar-
beiten, wie um die Gesamtbefestigung der Hochfläche
machten sich zwei unermüdliche Männer verdient: der
Geniestabshauptmann Rudolf Schneider und der Forti-
fikationswerkmeister Gottschlick. Viele von denen, die
das kritische erste Jahr in diesem Frontabschnitt ver-
brachten, verdanken die Erhaltung ihres Lebens diesen
beiden Männern.
Die Beute aus dem ersten Gefecht war nicht ge-
ring. Hunderte Gewehre und Tornister lagen im Vor-
feld. Sie wurden allmählich von Patrouillen gesammelt
und geborgen. In dem beschossenen Stützpunkt unter
Cima di Vezzena aber fanden sich tatsächlich die In-
strumente der Musikkapelle des Alpini-Bataillons ßas-
sano, die, einem unverständlichen Befehl gehorchend,
tapfer zu diesem ersten Tanz aufgespielt hatte. Sie
wurden als eine seltene Trophäe zwischen den beiden
Werken Cima di Vezzena und Verle aufgeteilt und
bildeten den Stolz der Besatzungen durch lange Zeit.
48
Scottihütte unterhalb des Wischberggipfels
Kavernen auf der Mosesscharte
Flifscher Becken. Im Hintergrund der Rombon.
lipilg
Blick in das Flitscher Becken vom Svinjakhang
Um den Col di Lana
i
Die Dolomiten!
Gott ließ hier ein Wunder aus seinen Meeren stei-
gen. Jahrmillionen lebten und starben Muscheltiere in
diesen Meeren, sanken leblos als ein ununterbrochener
Regen hinunter in dunkle Tiefen, häuften sich, wurden
Masse, wurden Stein. Und Nacht war immer um sie,
Jahrmillionen lang.
Bis dann eines ungeheuren Tages der alte Leib der
Erde sich streckte zu neuem Gebären und hinaufdrückte,
was unten war, und hinunterriß, was das sengende Licht
der Sonne gesehen hatte. Da entstand am Rand des
dampfenden Meeres ein neuer Wall festen Bodens:
Kalkgipfel, Massen jungen Gesteins, den ewigen Was-
sern entboren.
Stürme und Frost, glühende Hitze, stürzender Regen
und nagende Bäche rissen tiefe Schluchten und schmale
Täler in den neuen Gebirgszug. Er alterte rascher als
das harte Urgestein der Zentralalpen, er wurde rissig,
zackig, ragte in Nadeln und senkrechten Wänden auf
zum ewigen Firmament. Und nach weiteren Aeonen um-
fing das Menschenauge diesen Schauplatz der Zer-
störung, dieses stumme Gedicht der Vergänglichkeit und
— fand es schön, schöner als die üppigen Ebenen, die
Nahrung und Wärme boten. Wie klein der Mensch gegen
diese himmelanragende Größe! Wie nichtig seine Kraft
gegen die Urgewalt der Natur, die diese Gipfel schuf!
Wie fromm, sich im Spiegel dieser Welt zu schauen!
Die armen Hirten, die in grauen Zeiten hier lebten,
erschauerten vor der unerbittlichen Grausamkeit ihrer
Welt. Böse Geister schlummerten in den Schrunden und
auf den Felszachen, immer bereit, zu erwachen und die
Kreatur in der Tiefe ihren Haß und ihre Bosheit fühlen
zu lassen. Selbst als der Gekreuzigte in diesen Tälern
seinen Einzug hielt, war er nur ein starker Helfer ge-
gen den finsteren Spuk, der Blitz und Donner, Lawine
und Sturm mit verheerender Gewalt rasen ließ, wie es
den Dämonen droben gefiel. Sein Symbol wurde höher
4
49
und höher getragen, als gelte es, den Feind zurückzu-
drängen, ihn zu verfolgen und einzuschließen dort, wo
des Menschen Fuß nicht mehr weiter konnte, wo er an
die Grenzen des Unberührbaren stieß: Von den höch-
sten Höfen der Bergbauern wanderte das Kreuz auf die
Almen, daß es Vieh und Leut* bewahre, und höher
hinauf auf die Joche, auf die Gipfel, die erreichbar
waren, die man den bösen Geistern ablisten konnte.
Da waren sie gebannt durch das Zeichen des Glau-
bens, waren in die Enge ihrer Felsnadeln und Wände
und Eiswüsten zurückgetrieben, zur Freude der schwachen
Menschen, die unten tief mit dem kargen Boden um ihr
Leben rangen.
Jahrhunderte gingen über diese reinliche Scheidung
hinweg: Hier das Reich des warmen Lebens, dort oben
das der Wesenlosen, der Geister und Dämonen. Es gab
Hirten, die aus Uebermut eindrangen in das andere
Reich. Aber da war alles anders, war grauenerfüllt und
unheimlich. Stimmen äfften die Stimme des Menschen
nach, machten sie groß und übergewaltig, spielten Fang-
ball damit von Wand zu Wand, so daß der einsame
Wanderer schaudernd schwieg, daß er kaum zu atmen
wagte, um den Zorn der Wesenlosen nicht herauszu-
fordern. Aber das nützte nichts. Es flüsterte und mur-
melte, klopfte und klagte aus den Tiefen der Schluch-
ten, es lachte und läutete mit den Wassern, die durch
die Adern der Gletscher jagten, es schrie gellend aus
der Kehle unsichtbarer Raubvögel und warf Steine nie-
der mit dem Tritt flüchtiger Gemsen. Mancher kam
nicht zurück. Den hatten die Geister für sich behalten.
Wer aber wiederkehrte, der schwor, den Frevel kein
zweites Mal zu wagen.
So blieb es durch viele Jahrhunderte: Fromme
Bräuche gingen von Geschlecht zu Geschlecht, das Leben
der Menschen tief unten zu schützen. Auf den erreich-
ten Gipfeln standen die Wetterkreuze, zogen den Blitz
der Dämonen an sich, machten ihn unschädlich und hal-
fen gegen Steinschlag und Lawine — viele Jahrhunderte
lang. Bis dann die kamen, die den bösen Geistern ihr
letztes Geheimnis entrissen, die ihre Hochburgen stürm-
ten und eine neue Zeit pflanzten auf den Dolomiten-
50
gipfeln. Sie freuten sich der Wildheit der Natur, die sie
besiegen wollten, sie machten nicht halt bei den Wetter-
kreuzen, die das Reich der Menschen und des Gekreuzig-
ten begrenzten gegen die andere, die dämonische Welt.
Und wenn auch da und dort einer solches Beginnen mit
dem Leben bezahlte — es fanden sich immer neue, die
Seil und Pickel des Gefallenen aufrafften und ihr Leben
einsetzten, um das Reich der Bergschönheit bis zum
letzten Turm, bis zur letzten Felsnadel zu erobern.
Noch nicht hundert Jahre sind es her, seit man
die Gipfel der Zentralalpen erstmalig zu besteigen ver-
suchte. An die Dolomiten wagte man sich erst viel später.
Damit aber war ein Paradies entdeckt, von dem man
bisher kaum eine Ahnung gehabt hatte. Die Zahl derer,
die das Wunder sehen wollten, wuchs von Jahr zu Jahr.
Es war mühsam, auf den elenden Karrenwegen vorwärts-
zukommen, auf Maultieren und Saumpferden über die
Joche zu reiten. Man mußte das neue Paradies allen
Bergfreunden erschließen, mußte Straßen und Unter-
künfte bauen . . .
Und da tauchte mit zwingender Gewalt auch ein
zweites neues auf, lenkte seinen Eisentritt in die stil-
len Täler: Krieg!
War Tirol nicht oft heiß umkämpft worden? Hatte
es nicht mehr als einmal furchtbar geblutet, nicht weil
es reich war und fremde Eroberer reizte, sondern weil
es die Tore von Norden nach Süden, von Osten nach
Westen in seinen Bergen und Pässen hegt? Aber damals
hatte man um diese Tore gerungen, war in den Haupt-
tälern geblieben. Die Dolomiten blieben verschont, sie
waren eine unbekannte, wilde und arme Gegend. Kaum
daß der Kreuzberg bei Sexten manchmal ein Streif-
kommando sah.
Aber jetzt, jetzt war das anders! Krieg im Zeit-
alter der Technik heißt Fronten bilden von Meer zu
Meer, heißt alles überwinden, was dem Griff an die
Kehle des Feindes hindernd ist. Die Dolomiten waren
Grenzland zweier alter, unversöhnlicher Rivalen. Sie
mußten früher oder später zum Kampfplatz werden.
Diese drohende Gefahr veränderte in den letzten
zehn Jahren vor Ausbruch des Weltkrieges das Wesen
der Dolomitentäler zusehends. Es war noch nicht lange
her, seit die ersten Touristen den hohen Ruf dieser
Landschaft als Reiseziel verkündet hatten, und schon
begann das Gepräge immer militärischer zu werden.
Während die Kraftwagen aller Herren Länder über die
neuerbaute Dolomitenstraße fegten, gab es diesseits und
jenseits der Grenze fast jedes Jahr größere und klei-
nere Manöver, standen Posten da und dort, die ein
Halten der Wagen und Wanderer verboten, Tafeln, die
das Photographieren streng untersagten. In den großen
Hotels elegante Reisende, in den Festungswerken und
Hochlagern Soldaten. Europa nahm auch hier langsam,
aber sicher sein wahres Antlitz an, das strenge, herbe
Gesicht, das eine neue Zeit ankündigte.
2.
Hätten die Pläne Conrad von Hötzendorfs sich er-
füllt, so wäre der Krieg in den Dolomiten trotz allem
eine geringfügige Episode geworden. Einige Wochen
Grenzschutz, vielleicht ein verzweifelter Versuch der Ita-
liener, ins Pustertal vorzubrechen; dann aber hätte der
geplante Stoß aus dem Südzipfel Tirols heraus diese
Front zum Einsturz gebracht, wahrscheinlich eh* sie sich
hätte schließen können. Denn der Anmarsch der italieni-
schen Streitkräfte mußte sich in den wilden, unwegsamen
Tälern des Cordevole, des Boite und zahlreicher an-
derer Einbruchstellen stark verzögern. Jedenfalls wäre
es nie zu dem jahrelangen Belagerungskrieg gekommen,
wie er sich tatsächlich später abspielte.
So aber stand die Sache des Verteidigers im Mai
1915 auch hier schlecht, ja fast aussichtslos. Wenn die
Felsmauern der Dolomiten auch wunderbare natürliche
Hindernisse darstellten, so wehrten sie sich doch nicht
aus eigenem. Italien hatte in seinen Alpinibataillonen
vorzügliche Hochgebirgstruppen, indes der Großteil des
österreichischen XIV. Korps, dem der Kampf in Tirol
hätte anvertraut werden sollen, längst auf den galli-
schen Schlachtfeldern zugrunde gegangen und die zweite
Garnitur dieser herrlichen Regimenter auch jetzt auf
dem nördlichen Kriegsschauplatz unentbehrlich war. Erst
52
nach und nach konnten einzelne Truppenkörper dieses
Korps an die Alpenfront gebracht werden. Den Grund-
stock der Verteidigung bildete auch hier das „letzte
Aufgebot" Tirols, die Standschiitzen, die man im Früh-
jahr 1915 eiligst bewaffnete und uniformierte.
Was diese Freiwilligentruppe leistete, wie sie sich
schlug, das wird immer ein Ruhmesblatt in der Ge-
schichte der Alpenländer bleiben. Jeder Volltaugliche
wurde aus ihren Reihen genommen und den Heeres-
und Landwehrregimentern eingegliedert. Selbst als die
Standschützen schon an der Front waren, nahm dieses
Herausziehen ihrer besten Kräfte seinen Fortgang. So
blieben nach und nach nur Kriegsdienstuntaugliche, halbe
Kinder und Greise in den Bataillonen, die das schwie*
rigste Gelände des Weltkrieges zu bezwingen hatten.
Ein weiteres Uebel war die Gliederung nach Orten
und Tälern. Man durfte die Standschützenbataillone nicht
einfach vermischen und neu einteilen, weil gerade das
enge Verhältnis der Leute untereinander und ihren
selbstgewählten Offizieren gegenüber sehr viel zu ihrer
Schlagkraft beitrug und die alte Tiroler Krankheit, das
Heimweh, nicht aufkommen ließ. Der Rest der männ-
lichen Bevölkerung von Sterzing, Reutte, Meran usw.
war eben gemeinsam ausgewandert, lag in der Fremde,
blieb aber unter sich.
Diesem leicht verständlichen Vorzug der regionalen
Einteilung stand jedoch ein schwerer Nachteil gegenüber.
Man bedenke die Verzweiflung, wenn ein solches Stand-
schützenbataillon aufgerieben wurde! Eine ganze Stadt,
ein Tal hatte damit den Rest der männlichen Bevölke-
rung eingebüßt, nachdem der Blutzoll der kampftüchti-
gen Mannschaft auf anderen Kriegsschauplätzen ohnedies
schon ein phantastisches Ausmaß erreicht hatte. Die
Standschützenoffiziere trugen daher eine Verantwortung,
wie sie schwerer nicht zu denken ist. Daß diese heiklen,
wenig geschulten Tnjppen gerade den besten italieni-
schen Kämpfern, Alpin! und Bersaglieri, gegenübertreten
mußten, verschärfte die militärische Lage zu Kriegsbe-
ginn noch mehr.
Da tauchte als ein erster Lichtblick in diesen düste-
ren Tagen die Hilfe des Bundesgenossen, das Deutsche
53
Alpenkorps, auf — 13 Bataillone mit vielen Maschinen-
gewehren und starker Artillerie unter dem Kommando
des Generalleutnants Krafft von Dellmensingen. War der
Einsatz des Alpenkorps auch gewissen Einschränkungen
unterworfen — es durfte die Grenze nicht überschreiten,
weil Deutschland sich 1915 noch nicht in Kriegszustand
mit Italien befand — so ist das Gefühl der Stärke
und des harten kriegerischen Willens, das von diesen
Bataillonen ausging und auf die Bundesgenossen über-
sprang, heute nur schwer zu beschreiben. Das Bewußt-
sein himmelhoher Ueberlegenheit den Angreifern ge-
genüber teilte sich dem letzten Kämpfer an der Dolo-
mitenfront mit. Landsturmmänner und Standschützen
waren entschlossen, den selbstverständlichen Vorstoß der
Armee des Generals Nava gegen das Pustertal zum
Scheitern zu bringen und damit die Abschnürung Süd-
tirols zu verhindern.
Es wird immer ein Rätsel bleiben, warum General
Nava den ausdrücklichen Befehl des Grafen Cadorna,
sofort nach Kriegserklärung gegen Toblach vorzubrechen,
nur zögernd und unter verhängnisvollen Zeitverlusten
erfüllte. Der 24. Mai verstrich, ohne daß sich Italiener
an den natürlichen Einbruchstellen der Dolomitenfront
zeigten. Weitere drei Tage kamen und gingen, aber der
Frieden der Landschaft blieb unberührt. Cadorna erläßt
einen Befehl, der darauf hinausläuft, doch wenigstens
alle unverteidigten Punkte zwischen Örtler und Adria
zu besetzen, und der in den Worten ausklingt, „Eifer,
Offensivgeist und Gewinnung der moralischen Ueber-
legenheit über den Feind“ zu zeigen und anzustreben.
Erst jetzt schieben sich die ersten Fühler der Armee
Nava langsam heran. Am 28. Mai erscheinen italienische
Truppen am Tre-Croci-Paß, östlich von Cortina d*Am-
pezzo, einen Tag später ziehen sie in den verlassenen
Ort selbst ein. Wieder verstreichen dreimal vierund-
zwanzig Stunden vom Angreifer ungenützt. Anscheinend
kommt ihm die Stille dieser Täler verdächtig vor, er
wittert Hinterhalte, fürchtet Ueberfälle. Am 1. Juni er-
steigen Alpini den Monte Migogn, einen Gipfel, der
über zwei Kilometer von der Grenze entfernt auf ita-
lienischem Boden liegt, halten Ausschau nach dem Feind.
54
Im Westen der mächtige, vergletscherte Stock der Mar-
molata, im Norden ein harmloser, grasbewachsener
Berg, der inmitten der Wunderwelt der Dolomitengipfel
störend, nichtig, unscheinbar aufragt: der Col di Dana.
Keiner von denen, die vom Monte Migogn hin-
überblicken auf den Kegel, zu dessen Füßen sich das
weiße Band der Dolomitenstraße hinzieht, ahnt auch nur
im entferntesten, daß dieser Berg bestimmt ist, Fluch,
Entsetzen und Schicksal für Tausende und aber Tausende
zu werden; daß sein Name bald Hohn sein wird und
eine furchtbare Abwandlung erfahren soll: Col di San-
gue, Blutberg, Schädelstätte unendlicher Opfer, heißer
ersehnt, erbitterter verteidigt als alle die anderen Gip-
fel, die das Auge von hier aus erspäht. Und daß am
Ende dieser unscheinbare Col di Dana für alle Zeiten
verändert aus dem großen Ringen hervorgehen wird —
ein zertrümmerter Gipfel, ein unzerstörbares Mahnmal
vom Heldenkampf zweier Völker bis in die fernsten
Tage.
3.
Der Soldat sieht mit anderen Augen als der Schön-
heit und Erholung suchende Wanderer. Für ihn ist der
Col di Dana nicht der schlichte Berg, der zwar 2464 m
hoch aufragt, aber so gar keinen Dolomitencharakter
trägt. Wie eine Bastion drängt er nach Süden hin aus
der Widerstandslinie, hemmt und hindert jeden Ver-
kehr auf der Dolomitenstraße zwischen Pordoi-Joch und
Falzarego-Paß, sperrt die Uebergänge ins Abtei- und
Grödnertal und weiterhin gegen Bruneck, Brixen, Bozen,
also gegen das Herzstück der ganzen Tiroler Verteidi-
gung. Mit dem Monte Sief zusammen bildet er ein Berg-
massiv, das nach Süden in drei sanfter geneigte Rück-
fallkuppen ausläuft. Seine Westflanke wird im Contrin-
tal durch das Werk Da Corte, seine Ostseite durch den
schwer zugänglichen Felsgipfel des Sasso di Stria ge-
deckt. Nördlich dieser mächtigen Zinne, am Fuße des
gewaltigen Dagazuoi, liegt ein zweites Fort, ebenso ver-
altet und ohne jeden Kampfwert wie Da Corte: Tre
Sassi. Als weitere Befestigungswerke in dieser Gegend
55
sind die Straßensperren Cherz und Ruaz vorhanden,
aber sie befinden sich außerhalb der Widerstandslinie
und sind nur von Beobachtungspatrouillen besetzt.
Der Col di Lana selbst trägt auf seinem Gipfel eine
kleine Hütte, die schon im Herbst 1914 als Unterkunft
für einen ständigen Posten errichtet worden ist. Seine
Befestigung, offene Schützengräben und dürftige Unter-
stände, liegen auf zweien der drei nach Süden vorge-
lagerten Bergrücken. Einzelne Geschütze sind westwärts
auf der Hochfläche von Cherz, im Norden zwischen
Monte Sief und Settsaß, im Osten am Fuße des Sasso
di Stria eingebaut. Sie sollen die mächtig ausladenden
Südhänge decken.
Elend steht es um die Anmarschwege. Die Dolo-
mitenstraße ist nur zum Teil in den Händen des Ver-
teidigers, der entscheidende Abschnitt liegt im Vorfeld;
sie kommt daher für die Zufuhr nicht in Betracht. So
bleibt nur der dürftige Karrenweg durch das Gadertal
bis Corvara. Von dort müssen alle Lasten durch Träger
nach vorne geschafft werden, und zwar auf einem Fuß-
steig, der streckenweise versumpft und vom Feinde ein-
gesehen ist. Jede Patrone, jedes Stüde Brot kostet un-
endliche Mühe, eh* sie an Ort und Stelle sind. Wenn
erst gar einmal der Winter einbricht, wird dieser Weg
über die schutzlosen, lawinengefährlichen Westhänge der
Pralongia und des Monte Sief vollends zur Hölle. Viele
der Tapferen, denen diese schwere Aufgabe zufiel, büß-
ten dabei ihr Leben ein. Die Geschichte des Col di
Lana ist gleichzeitig das Heldenlied der ungenannten
und unbekannten Träger des Alpenkrieges, ohne deren
Wirken es nicht einen Tag erfolgreichen Widerstands
gegeben hätte. Bei dem dauernden Mangel an Menschen-
kräften mußte vielfach auch dieser Dienst von den
Kampftruppen geleistet werden.
Am 8. Juni eröffnen italienische Batterien das Feuer
gegen den Col di Lana. Von den Höhen des Monte
Padon und Col Toront blitzt es im Morgennebel, heu-
len die ersten Granaten über das tief eingeschnittene
Tal und schlagen in der Nähe der Infanteriestellung ein,
die sich auf der westlichen der beiden befestigten Rück-
fallkuppen, auf dem Costone di Salisei befindet. Auch
56
das Werk Tre Sassi erhält einzelne Schüsse leichteren
Kalibers, die indessen keinen Schaden anrichten.
Nach diesem Auftakt vergeht eine volle Woche, ohne
daß der Angreifer sichtbar wird. Seine Artillerie feuert,
sie beschießt ziemlich wahllos bald die Werke La Corte
und Tre Sassi, bald die Feldstellungen. Der Schaden ist
gering, die Verluste bleiben in bescheidenen Grenzen.
Es scheint, daß die Italiener keinen ernstlichen Angriff
auf die Sperre Buchenstein vorhaben. Was ihnen vor
zwei, drei Wochen noch gelungen wäre, nämlich die
Ueberrumpclung der schwachen Kräfte des Verteidigers,
können sie jetzt nur mehr als Ergebnis eines plan-
mäßigen Angriffs erhoffen. Das aber bedeutet zunächst
Straßenbau, Heranschaffen schwerer Batterien und be-
deutender Infanteriemassen, bedeutet Zeitverlust und
Mühe. Der Verteidiger beschränkt sich auf den Ausbau
seiner keineswegs zusammenhängenden Linie. Da sind
die beiden größeren Stützpunkte am Südhang des Col
di Lana, die sogenannte „Infanteriestellung“ auf dem
Costone di Salisei und die „Felsenfeldwache“ auf dem
Costone di Agai. Zwischen diesen beiden Kuppen lie-
gen die Unterkünfte, nicht direkt eingesehen, doch von
jedem Flieger leicht aufzufinden. Die Verbindung mit
der mächtigen Felsenburg des Settsaß, der Siefsattel,
ist nur durch eine Postenkette geschützt. Aber dort
scheitern Angriffe, die zur Umgehung des Col di Lana
geführt hätten, an dem Umstand, daß die deckungs-
armen Hänge vom Sasso di Stria her unter Rücken-
feuer genommen werden können. Es ist also ziemlich
sicher, daß der Feind den Weg über die Ortschaft
Buchenstein frontal gegen den Gipfel nehmen werde.
Noch aber kann sich niemand sein zögerndes Verhalten
erklären. Drei Wochen Kriegszustand ohne einen ent-
scheidenden Vorstoß, der zum Beispiel bei Nebel oder
in der Dämmerung geführt, kaum nennenswerten Wider-
stand gefunden hättet Diese Tatsachen sind rätselhaft,
ja beunruhigend, denn sie lassen auf einen zermalmen-
den Schlag am Isonzo schließen. Hat Cadorna seinen
ursprünglichen Plan geändert?
Da erscheinen am 15. Juni die ersten feindlichen
Patrouillen vor der Infanteriestellung! Vorsichtig steigen
57
sic den Hang hinan, werden nur hin und wieder sicht-
bar, liegen in Mulden, im Latschenbuschwerk, um nach
viertelstundenlangem Beobachten weiterzutasten.
Der Tag ist klar, ein sonniger Frühlingstag, wie er
für ein solches Unterfangen ungünstiger kaum gedacht
werden kann. Was diese Patrouillen sehen können, das
sieht man mit guten Fernrohren auch von den umliegen-
den Bergen; daß sie aber selbst gesehen werden, eh*
sie auch nur auf Gewehrschußweite herankommen, ist
sicher. Längst sind die Verteidiger in der Infanterie-
stellung alarmiert. Der Beobachter auf dem Basso di
Stria hat die Patrouillen entdeckt und berichtet über
alle ihre Bewegungen. Die besten Schützen lauern auf
sie. Es gilt ein erstes Zusammentreffen, dessen Aus-
gang weit über den Rahmen seiner militärischen Bedeu-
tung hinaus entscheidend ist; denn der Verlauf solcher
Tastversuche beeindruckt manchmal ganze Kampfab-
schnitte in gutem wie in bösem Sinne.
Jetzt werden die ersten Italiener von der Infanterie-
stellung aus sichtbar. Der große Augenblick ist gekom-
men. Gewehrschüsse krachen, der erste Tote rollt den
Grashang des Col di Lana hinunter. Blitzschnell ver-
schwinden die andern in einer Mulde, ziehen sich gegen
die Straße bei Buchenstein zurück.
Es mag sein, daß diese winzige Begebenheit mit
anderen, ähnlichen zusammen dem Krieg an der Alpen-
front eine entscheidende Wendung g^b. Das Stichwort
lautet nunmehr durch Jahr und Tag: Systematischer An-
griff. Die Sternstunde war versäumt. Und durch Jahr
und Tag mühen sich die Italiener ab, natürliche Festungs-
werke zu belagern und unter ungeheuren Blutopfern zu
nehmen. Je länger der Alpenkrieg dauert, desto aus-
sichtsloser wird er für den Angreifer. Die methodische
Kampfweise des Grafen Cadorna und das zögernde Ver-
halten seiner Generale brachten die italienischen Armeen
um alle Vorteile der zahlenmäßigen und materiellen
Ueberlcgenheit. Was hier und überall entlang der weit
gespannten Bergfront folgte, war ein mühselig-blutiges
Ringen um Gipfel und Täler, um einzelne Werke und
Stützpunkte, dem jede entscheidende Wirkung versagt
blieb und versagt bleiben mußte.
58
4.
Aber schon sind die Gegner an der Dolomitenfront
dermaßen ineinander verkrampft, daß der Plan eines
Vorstoßes gegen das Pustertal zur fixen Idee wird.
Ein Blick auf die Karte zeigt, wie wenig Erfolg
diese Unternehmung haben muß, wenn sie nicht in einem
Zeitpunkt erfolgt, an dem sie so gut wie keinen Wider-
stand findet. Berg an Berg gereiht ein Wall hinter dem
andern, und jeder Wall neue Straßen, neues Gruppieren
der Artillerie, frische Divisionen erfordernd. Selbst rein
zahlenmäßig war nichts mehr zu erhoffen. Der Angreifer
hatte jetzt schon zwei Armeen für die Belagerung Süd-
tirols eingesetzt, während dem Verteidiger kaum ein
Viertel dieser Streitmacht an Feuergewehren und ein
Zehntel an Geschützen zur Verfügung stand, ohne des-
halb seine Lage aussichtslos zu gestalten. Trotzdem ver-
sucht General Nava mit zäher Beharrlichkeit, was ihm
in der letzten Maiwoche ohneweiters gelungen wäre: den
Zugang zum Pustertal über die Dolomitenlinie hinweg.
Im Abschnitt Col di Lana tritt wieder eine längere
Kampfpause ein. Die Italiener arbeiten eifrig an dem
Ausbau ihrer Zugangswege, schieben langsam Infanterie-
massen näher und schließen um die Bastion nördlich
der Dolomitenstraße einen dichten Ring. Fast täglich
treten neue Batterien in Aktion. Sie schießen sich gegen
die Werke und Hangstellungen ein und geben damit ein
sicheres Zeichen, daß nunmehr bald Vernichtungsfeuer
und Sturmangriffe folgen werden.
In der ersten Hälfte des Juli greift der Feind zu
wiederholten Malen mit großer Entschlossenheit an.
Zehnmal stürmt er den Hang gegen die Infanteriestellung
hinan, fünfmal gegen den Sief-Sattel.
Aber der Col di Lana ist jetzt in guten Händen.
Kampferprobte bayrische und preussische Jäger stehen
hier neben bewährten österreichischen Alpentruppen,
moderne deutsche Batterien, mit zahlreicher Munition
versehen, greifen ein.
Die ersten Vorstöße brechen schon im Geschützfeuer
zusammen. Dann aber, erfahrener geworden und durch
Erfahrung unempfindlicher gegen Verluste, branden die
59
Wellen der italienischen Infanterie bis an die Draht-
verhaue. Der Hang ist steil, die Schützen in den Grä-
ben können von ihren Gewehren nur Gebrauch machen,
wenn sie sich dem Bleihagel der Schrapnells aussetzen.
Die Handgranate wird daher zur Hauptwaffe.
Meist schon im Anstieg durch Rücken- und Flanken-
feuer schwer erschüttert, gehen die Italiener doch tapfer
vor. Der Empfang ist immer wieder entmutigend. Hart
an die vordere Grabenwand gedrückt, warten die Bayern
in der Infanteriestellung, die Handgranate wurfbereit,
auf den anstürmenden Feind. Wie auf ein Kommando
sausen plötzlich hunderte rauchender Wurfgeschosse hoch,
schlagen ins Vorfeld, in die Hindernisse, explodieren mit
höllischem Krachen, alles ringsum in weißlichen Qualm
und schwirrende Splitter hüllend. Maschinengewehre
knattern aus verborgenen Ständen, weiter abwärts dröhnt
der Boden unter den Einschlägen des Sperrfeuers. Meist
gelingt es nur wenigen Glücklichen, die schützenden
Deckungen wieder zu erreichen. Der Großteil bleibt tot
oder verwundet auf den Hängen liegen.
Am 20. Juli stellt General Rossi seine Versuche,
den Col di Lana im Sturm zu nehmen, als vorläufig
aussichtslos ein. Der unerwartet harte Widerstand zwingt
ihn, eine Kampfpause zu machen und neue Kräfte her-
anzuführen. Umfangreiche Arbeiten sind notwendig, um
diesen neuen Kräften Schutz vor den Granaten des
Verteidigers zu bieten, die jedes Ansammeln im Vor-
feld stören oder gar im Keim ersticken.
Ein italienischer Bericht über dieses erste Ringen
um den wichtigen Berg schließt mit den Worten: „Die
Resultate waren sicher spärlich, noch dazu angesichts
des Kampfeifers und der Begeisterung unserer Truppen.
Aber die schweren Verluste — 230 Tote, 930 Verletzte
— die Schwierigkeit des Geländes und die Hartnäckig-
keit des Feindes, der numerisch wohl schwächer, aber
mit Kampfmitteln besser ausgerüstet war, rieten, eine
kurze Pause zu neuen Vorbereitungen einzuschalten.“
Es ist nicht daran zu zweifeln, daß dieser Bericht
der Wahrheit in vollem Umfange gerecht wurde.
60
5.
Der erbitterte Widerstand an der Dolomitenfront
hat mittlerweile den geplanten, aber sehr zögernd ge-
führten Stoß der Armee Nava gegen das Pustertal zum
Scheitern gebracht. Zwei Isonzoschlachten sind geschlagen
— eine grausame und blutige Widerlegung des frivolen
Wortes vom „Spaziergang nach Wien". Die beiden ita-
lienischen Armeen, die Tirol umklammern, müssen schon
Kräfte für die unersättliche Mühle am Karst abgeben.
Graf Cadorna sieht ein, daß der Krieg an der Alpen-
front einer Belagerung gleicht, bei der man im besten
Fall einzelne Punkte dem Verteidiger entreißen, ihn
aber kaum vernichtend schlagen kann. Während bei einem
Angriff aus den Bergen heraus die Poebene als kriegs-
entscheidendes Ziel winkt, gibt es umgekehrt kein Ziel,
mit dessen Erreichen die Lage sich entscheidend wenden
würde. Selbst die Gewinnung der Brennerlinie und des
Hauptkammes der Alpen zwänge den Gegner nicht, den
Kampf als hoffnungslos aufzugeben.
Aber es dreht sich in diesem Augenblick gar nicht
um Entscheidung, sondern bloß um Erfolge, die man
propagandistisch auswerten kann. Die Ungunst des Ge-
ländes macht es den italienischen Streitkräften an der
ganzen Front unmöglich, eine jener militärischen Groß-
taten zu vollbringen, an denen sich die Phantasie des
Hinterlandes berauschen kann. So liegt es immer wieder
an der Hervorkehrung der ja wirklich vorhandenen
Schwierigkeiten und der Erzielung winziger Teilerfolge,
die man vor ihrem Eintritt volkstümlich gemacht hat.
Als ein solcher Teilerfolg steht im Sommer 1915 die Er-
oberung des Col di Lana im Vordergrund. Er ist dem
Angreifer viel weniger wertvoll als dem Verteidiger;
aber an den Felsmauern der übrigen Dolomitengipfel ge-
messen, erscheint die gewaltsame Wegnahme dieses Ber-
ges doch immerhin möglich, weil man hier die zahlen-
mäßige Uebermacht und größere Artilleriemassen zum
Einsatz bringen kann.
Inzwischen haben die veralteten Werke La Corte
und Tre Sassi unter dem Feuer der italienischen Batterien
schwer gelitten. Ihre Aufgabe ist erfüllt: Sie zwangen
61
den Feind zu langwierigen Vorbereitungen für den Auf-
marsch seiner Belagerungsgeschütze, vor allem zum Aus-
bau seiner Straßen von Caprile her, und diese Zeit
konnte der Verteidiger als unschätzbaren Gewinn bei
der Befestigung der Hangstellungen am Col di Lana
buchen.
Vier Wochen lang liegt nun das Werk La Corte
fast pausenlos unter den Hammerschlägen der ita-
lienischen Granaten. Es ist ausgedehnter als Ire Sassi
und reizt durch vorgetäuschte Unverwüstlichkeit den
Feind zu immer neuem Munitionseinsatz. Mehr als
8000 Schuß verschiedener Kaliber haben die Eindeckungen
und Panzer getroffen. Das Werk ist längst ein Trüm-
merhaufen, aus welchem gleich in den ersten Tagen die
Besatzung heldenmütig die Kuppeln und Geschütze in
Sicherheit brachte, um sie draußen im freien Gelände
einzubauen. Sie stehen jetzt nördlich des Monte Sief
und auf der Hochfläche von Cherz. Blechplatten und
Baumstämme markieren die „Artillerie“ des Werkes und
ziehen noch monatelang das Feuer der feindlichen Bat-
terien auf sich.
Anfangs August erneuern die Italiener ihre Angriffe
gegen die Hangstellungen des Col di Lana, vor allem
gegen die „Infanteriestellung“ auf dem Costone di Sali-
sei, die noch immer von bayrischen und preussischen
Jägern, sowie einer deutschen Pionierkompagnie besetzt
ist. Einer planmäßigen Eroberung des Berges scheint
nun nichts mehr im Wege zu stehen. Die Werke in
seinen Flanken sind Trümmerhaufen, auf den Gipfeln
im Halbkreis östlich, südlich und westlich sind so viel
Batterien eingebaut, als man auf den neugeschaffenen
Anmarschstraßen „ernähren“ kann, zahlreiche und gute
Infanterie ist vorhanden. Da man mit einem zeitlichen
Einbruch des Winters rechnen muß, bleiben höchstens
drei Monate, in denen der Col di Lana nicht nur genom-
men, sondern auch für den Kampf gegen Schnee und
Kälte ausgerüstet werden muß.
Als letzter und schwerwiegender Grund, eben jetzt
zur entscheidenden Tat zu schreiten aber ist anzuführen,
daß es sich noch immer bloß um die beiden Hang-
stellungen und die schwache Postenkette am Siefsattel
62
dreht. Zu einem Ausbau des eigentlichen Gipfels ist
der Verteidiger noch nickt gekommen, ein Beweis, daß
es ihm an Kräften fehlt. Gegen die Hangstellungen kann
man größere Menschenmassen zum Einsatz bringen, was
auf dem schmalen Gipfelrücken unmöglich wäre. Ueber-
dies sind die Unterstände zwischen den beiden Stütz-
punkten schwach und die Zugangswege eingesehen, so
daß einer überlegenen Artillerie das Abriegeln und Nie-
derkämpfen des Verteidigers gelingen muß, eh* der
Kampf Mann gegen Mann beginnt. Der einzige Vorteil,
den die Abwehr hat, besteht in den zahlreichen, reichlich
mit Schießbedarf ausgestatteten, modernen, deutschen
Geschützen, die auf dem deckungsarmen Hang verheerend
wirken können. Aber die ersten Kämpfe in diesem Ab-
schnitt haben der italienischen Infanterie jene Härte
im Ertragen von Verlusten eingehämmert, die sie später
und namentlich in den Isonzoschlachten zu einer phan-
tastischen Vollkommenheit brachte.
In den letzten Julitagen setzt die Artillerievorberei-
tung ein. Stunde für Stunde schmettert der Granathagel
auf die schwachen Eindeckungen, Gräben und Draht-
verhaue nieder. Front- und Flankenfeuer von beiden
Seiten verwandeln die „Infanteriestellung“ rasch in ein
Trichter- und Trümmerfeld. Die benachbarte „Felsen-
feldwache“ wird diesmal weniger beschossen, der Feind
scheint sich mit dem Nächstliegenden zu begnügen.
Endlich schrillen um 8 Uhr abends des 2. August die
Alarmsignale: Der Feind steht in dichten Massen in sei-
nen Angriffsgräben, um gegen die zerstörte Stellung auf
dem Costone di Salisei vorzubrechen. Der Himmel ist
wolkenverhangen, die Sicht schlecht. Abwehrfeuer setzt
ein. Es treibt die Italiener rasch aus ihren Gräben.
Aber die Bayern und Preußen sind auf ihrer Hut.
Als die ersten Wellen der stürmenden Infanterie die Hin-
derniszone erreichen, treffen sie auf einen Widerstand,
den sie nicht mehr vermutet hätten und müssen nach
schweren Verlusten fluchtartig in ihre Gräben zurück.
Wieder kommen Stunden rasender Beschießung. Das
Feuer steigert sich zu einem pausenlosen Wirbel, es fegt
die letzten Reste der Drahtverhaue weg und verschüttet
den größten Teil der „Infanteriestellung“. Um Mitter-
63
nacht des 3. auf den 4. August setzen die Italiener mit
drei Bataillonen zum entscheidenden Angriff an.
Tiefe Finsternis liegt über der Landschaft. Die Höhen
sind von Nebel umhüllt, kein Scheinwerfer vermag die
Schwaden zu durchdringen. Der Zeitpunkt ist geschickt
gewählt. Regen fällt dicht, Sturm heult um das zertrkh-
terte Gelände auf dem Costone di Salisei, man hört nicht
das Trappeln der Stiefel im aufgewühlten Geröll, nicht
das Klirren der Waffen.
Wie aus dem Erdboden gewachsen steht plötzlich der
Feind vor den Drahtfetzen der Hindernisse, wirft sich
auf die kaum mehr wahrnehmbaren Gräben. Und trotz-
dem gelingt es, ihn mit Handgranaten und Gewehr zum
Stehen zu bringen. Nur auf dem rechten Flügel dringt
er in die Stellung ein, ohne indes die Kraft zu haben,
den ganzen Stützpunkt von der Flanke her aufzurollen.
Es dauert nur Minuten, bis der Gegenstoß der Bayern
und Preußen auf die ratlos Wartenden trifft. Mit Mes-
sern und Handgranaten stürmen die Verteidiger ihren
eigenen Graben. Ein verzweifeltes Ringen beginnt. Schüsse
krachen durch die Finsternis, Explosionen schmettern
hoch. Gewehrkolben und Infanteriespaten räumen unter
den Eindringlingen fürchterlich auf. Ueber dem Keuchen
der kämpfenden Männer, dem Röcheln der Getroffenen,
dem Stöhnen der Sterbenden rollen die Donner eines
aufziehenden Gewitters. In wenigen Minuten ist die Blut-
arbeit getan. Mehr als zweihundert Tote und doppelt
so viel Verwundete zurücklassend, flüchten die Italiener
den Hang hinunter und verschwinden in ihren Gräben.
Drei Maschinengewehre fallen in die Hände der Tapferen,
die ihre Stellung gegen zehnfache Uebermacht behauptet
haben.
Aber es gilt, dem Angreifer die Lust zu weiteren
Vorstößen zu nehmen. Zwei Tage nach diesem Gemetzel
überfallen die Bayern einen italienischen Sturmgraben,
machen die Besatzung nieder und sind trotz allen ver-
zweifelten Anstrengungen der Italiener nicht zu vertrei-
ben. Die Gefahr, durch größere Ueberraschungen dieser
Art vielleicht bis an den Fuß des Berges zurückgewor-
fen zu werden, ist außerordentlich groß. Die italienische
Artillerie muß drei Tage lang ihr Feuer auf den eigenen
I'i
Unterstände
Laufgräben und Artillerie-Stellungen am Cevedale.
die Königsspitze (Ortler-Abschnitt)
Im Hintergrund
MWUMWMI
'-MW
Cevcdale-Paß (Orfler-Absd.nift)
Seilbahnstation Incisa
Graben lenken, bis die Bayern in der Nacht und gänz-
lich unbelästigt in ihre Ausgangsstellung zurückkehren.
Die böse Erfahrung mit einem Verteidiger, der sich
mit seiner Rolle nicht begnügt, wie auch die schweren
Verluste veranlassen die Italiener zu einer neuen
Kampfpause.
Haben sie den Plan, den Col di Lana zu bezwingen,
überhaupt aufgegeben? Es scheint fast so. Rings um die
Riesenfestung Tirol reiht sich Niederlage an Niederlage.
Der ohndies kurze Hochgebirgssommer verrinnt Tag für
Tag, ohne daß irgendwo ein Erfolg, wenn auch nur
bescheidenster Art, zu erringen ist. Das macht mürbe
und verdrossen.
In der zweiten Augusthälfte mißlingt den Italienern
ein Angriff großen Stils gegen die Hochflächen von
Lavarone-Folgaria. An der ganzen Tiroler Westfront
scheitern ihre Vorstöße. Zwei Schlachten am Isonzo sind
in einem Meer von Blut und Elend versunken und es
wird Monate dauern, bis Graf Cadorna an eine dritte
denken kann. Der Krieg im Südwesten zieht sich immer
mehr in die Länge, das italienische Volk gewöhnt sich
langsam an die Tatsache, einem wenig aussichtsreichen,
opfervollen Unternehmen dienen zu müssen.
Unterdessen werden die Russenheere zerschlagen
und welchen unaufhaltsam gegen Osten zurück. Lemberg
fällt, die Verluste der Moskowiter übersteigen schon den
Einsatz der ganzen italienischen Armee. Das Gespenst
eines Angriffes der Mittelmächte gegen Italien taucht
auf. Unerschüttert steht die Westfront. Serben und
Montenegriner vermögen nicht mehr, ihren großen Ver-
bündeten durch eine Offensive über Donau und Save
zu Hilfe zu kommen.
Im Col di Lana-Äbschnitt vergeht Woche für Woche,
ohne daß der Angreifer über Patrouillenunternehmungen
hinauskäme. Dagegen muß er untätig zusehen, wie die
Gipfelstellung des Verteidigers entsteht und immer
stärker wird — ein halbkreisförmiger Graben samt
Drahtverhau, dicht unter der Spitze am feindwärts ge-
legenen Hang mit Zugangsgräben und Postenständen an
den steil abfallenden Flanken.
5
65
Auf Seife des Verteidigers besteht der Plan, im
Falle des Verlustes der beiden Stützpunkte „Infanterie-
stellung“ und „Felsenfeldwache“ sich dorthin zurückzu-
ziehen. Da die räumliche Ausdehnung dieser Spitzen-
stellung sehr gering ist, der Feind aber bloß auf einem
schmalen Streifen angreifen kann, bedarf es nur schwa-
cher Kräfte, um sie gegen hundertfache liebermacht zu
halten. Dies zu erleichtern, wird auch eine Drahtseil-
bahn zwischen dem Monte Sief und dem Lana-Gipfel
erbaut und auf der Nordseite des letzteren über der
Wand eine große Kaverne gesprengt.
6.
Zu keineswegs angenehmer Untätigkeit verurteilt,
liegen die Italiener vor den Hangstellungen des Col di
Lana. Ihre Verluste sind auch jetzt nicht gering. Die
deutschen Geschütze feuern gut und andauernd. Wer
sich untertags auf dem Hang zeigt, wird mit Maschinen-
gewehren beschossen. Gelänge es wirklich, die beiden
Stützpunkte zu nehmen und sich unter dem Gipfel fest-
zusetzen, so müßte das angesichts der starken Artillerie
des Verteidigers die reinste Hölle werden.
Immer wieder versuchen sie, den Siefsattel zu neh-
men. Aber dort ist ein Erfolg noch aussichtsloser. Der
Blick kehrt schließlich doch zur einzigen Möglichkeit
zurück: Frontalangriff über die beiden Vorfeldstellungen
zum Gipfel.
Der Col di Lana wird den Italienern zur fixen Idee.
Sie haben seine Eroberung einem Manne übertragen,
der zweierlei in sich vereinigt: Einen klingenden Namen
und rücksichtslose Tatkraft: dem Obersten Garibaldi,
der sich rühmen kann, ein direkter Nachkomme des gro-
ßen Freiheitskämpfers zu sein. Aber wenn dieser Oberst
Garibaldi auch seine Soldaten mitzureißen versteht —
angesichts des Feuers der deutschen Artillerie und der
zähen Tapferkeit der Bayern und Preußen muß auch er
die Nutzlosigkeit des Beginnens einsehen.
Da sickern Nachrichten durch, die mit einem Schlage
neue Entschlüsse verlangen. Erst unsicher, dann immer
bestimmter verlautet es, daß das deutsche Alpenkorps
66
abberufen werde, daß österreichische Truppen an seine
Stelle treten. Es ist wahrscheinlich, daß nun die nicht
minder gefürchteten Kämpfer des „Edelweißkorps“ er-
scheinen werden. Aber eines ist sicher: Die Oesterreicher
stehen in technischer Hinsicht, namentlich was die Zahl
und Güte ihrer Geschütze anbetrifft, weit hinter den
Deutschen zurück. Wenn sie moderne Batterien in Polen
und Galizien freibekommen, werden sie diese am Isonzo
einsetzen und nicht in Tirol.
Diese Rechnung stimmt, sie wird täglich lebhafter
von den Kampftruppen bestätigt. An Stelle der furcht-
baren Brisanzgranaten und Granatschrapnells, die jede
Regung vor den Stützpunkten am Col di Lana-Hang
lähmten, kommen jetzt harmlosere Geschosse. Die
Feuerschnelligkeit dieser neuen Batterien des Verteidi-
gers ist wesentlich geringer, ihre Wirkung nicht zu ver-
gleichen mit den mörderischen Schlägen, die ihre Vor-
gänger austeilten.
Großes Aufatmen. Jeder Blindgänger, der aus dem
zertrichterten Hang gegraben wird, bestätigt die Nach-
richten der Konfidenten: Die Deutschen ziehen ab, sind
vielleicht schon abgezogen. Und dann sicherste Gewähr:
In der „Infanteriestellung“, dem „Panettone“, wie sie
die Alpin! nennen, sind Kaiserjägerl Das kann man nun
nicht gerade als erfreulich bezeichnen, aber der Aus-
fall von Artillerie birgt den großen, den vielleicht nie
mehr wiederkehrenden Vorteil des Augenblicks.
In diesen Tagen setzt starker Schneefall und grim-
mige Kälte ein. Die Italiener nützen das Eingreifen der
Natur geschickt aus. Sie wissen genau, daß um diese
Zeit, anfangs Oktober, noch nicht der Winter zu be-
fürchten ist, daß wieder schönes, warmes Herbstwetter
kommen muß. Aber der Witterungsumschwung gibt ihnen
Gelegenheit, die Nachricht zu verbreiten, es müsse leider
für dieses Jahr auf weitere Unternehmungen gegen den
Col di Ea-a verzichtet werden, weshalb die Infanterie
bis auf Sicherheitsbesatzungen abzuziehen und in Win-
terquartiere zu verlegen sei. In Wahrheit verstärken
sie ihre Kräfte um neue Infanteriebataillone und eine
Reihe schwerer und schwerster Batterien. Riesenmengen
an Schießbedarf werden herangeschafft, der Col di Lana
5*
67
ßteht wieder im Vordergrund aller Hoffnungen. Seine
Wegnahme soll womöglich mit dem erträumten Groß-
erfolg in einer dritten Isonzoschlacht zusammenfallen;
denn das Gewitter, das sich nunmehr über Serbien zu-
sammenzieht, bedarf dringend einer Ablenkung, wenn die
Siege der Mittelmächte sich nicht zu einer hoffnungslosen
Kette schließen sollen.
Die Vorbereitungen zum Endkampf um den Col di
Lana werden mit fieberhafter Eile getroffen. Tag und
Nacht ziehen Kolonnen von kleinen Karren die neuer-
bauten Straßen hinauf und hinunter, tun die Batterien
auf dem Monte Padon, Col Toront und Monte Por£
mit Munition zu versorgen. In den Sturmstellungen sind
die Unterstände gestopft voll Menschen, da man ja
das verheerende Abwehrfeuer früherer Zeiten nicht mehr
befürchten muß. Sorgfältig wird jeder Verkehr bei Tag
vermieden. Der Angreifer scheint wirklich auf weitere
Vorstöße in diesem Jahr verzichtet zu haben.
Um die Oktobermitte geht es los. Ein Höllenwirbel
krepierender Granaten, wie ihn der Col di Lana noch
nicht erlebt hat, schmettert nieder. Nichts scheint dies-
mal unterlassen worden zu sein, um die weit vorge-
schobene Bastion zu zermürben und von ihrer Basis ab-
zuschnüren. Der Weg von Contrin her, an zahlreichen
Stellen eingesehen und ohnedies nur mühsam zu pas-
sieren, liegt unausgesetzt unter dem peitschenden Hagel
der Schrapnellfüllkugeln. Auch die Drahtseilbahn zwi-
schen Gipfelstellung und Monte Sief wird beschossen.
Gewaltig aber ist der Feuersturm, der auf die beiden
Stützpunkte „Infanteriestellung“ und „Felsenfeldwache“
niedersaust und die zwischen ihnen liegenden Unterstände
der Reserven verwüstet. Dieser Umfang der Angriffs-
absichten läßt Schlimmstes befürchten. Es zeigt sich
immer mehr, daß der Feind jetzt von seinem rechten
Flügel her den Stützpunkten beikommen will, daß er zu-
nächst die „Felsenfeldwache“ oder, noch mehr ausholend,
den schwach besetzten, kleinen Posten auf der Höhe 2221
östlich der Spitze zu nehmen gedenkt, um von dort aus
die „Felsenfeldwache“ durch Rückenfeuer zu bekämpfen.
Ihr Verlust aber müßte den Verlust der „Infanteriestel-
lung“ und den Rückzug in die Gipfelstellung bedeuten.
68
Sieben Tage und Nächte rollt das Feuer, eh* der
erste Angriff kommt Um 8 Uhr morgens des 21. Oktober
stürmen die Italiener mit zehnfach überlegenen Kräften
den Hang gegen den Oostone di Salisei hinauf. Sie ver-
suchen noch einmal den Frontalstoß, eh* sie sich zu einer
systematischen Umgehung entschließen. In der „Infan-
teriestellung“ kann ohnehin keine Maus mehr leben.
Noch im Schutze des Artilleriefeuers sind Sappeure an
die Drahtverhaue herangekrochen, haben die Reste der
Hindernisse zerschnitten. Einige Handgranatenwürfe zwin-
gen sie zum Rückzug.
Das Vorfeld ist wieder leer. Aber dann verstummt
das Feuer plötzlich und unter gellendem Geschrei drängen
dichte Knäuel von Angreifern aus den Sturmgräben,
hasten den Hang hinauf. Oberst Garibaldi führt sie per-
sönlich, er ist mitten unter ihnen, das verleiht ihnen Kraft
und Mut.
Da stürzt die so hoch gespannte Hoffnung jäh zu-
sammen: Eh* die ersten Stürmer den Streifen der Draht-
knäuel erreichen, prasselt ihnen mörderisches Feuer
entgegen.
Verzweifelte Szenen spielen sich in dem Trichter-
feld ab. Die Angreifer, verstrickt in den Fetzen der Hin-
dernisse, fallen haufenweise. Das Aufschreien der Ge-
troffenen, der Jammer der Verletzten mischt sich mit
dem Bersten der Handgranaten und dem wütenden Bel-
len der Maschinengewehre zu einem ohrenzerreißenden
Lärm. Wer noch heil ist, versucht von Trichter zu Trichter
kriechend, den schützenden, eigenen Graben zu erreichen.
Aber die Kaiserjäger sind unerbittlich. Sieben Tage Trom-
melfeuer haben sie zu rasendem Wüten angestachelt.
Jedes Leben, das vor die Läufe ihrer Gewehre kommt,
verröchelt auf den blutbenetzten Steinen.
Auch die Flanken des Col di Lana sind das Ziel hef-
tiger Angriffe. Der Kampf tobt, immer wieder durch neue
Infanteriemassen genährt:, von Geschützfeuer unterstützt,
bis gegen Mittag weiter. Damit ist die Zahl der Vorstöße
der Italiener im Gebiet des Col di Lana auf 97 gestiegen,
ohne daß es ihnen gelungen wäre, auch nur einen Punkt
länger als wenige Minuten zu behaupten.
69
Der nächste Tag aber bringt den Anfang vom Ende.
Nach elfständigem Trommelfeuer dringt der Feind in die
Ueberreste des kleinen Stützpunktes auf der Höhe 2221
ein, nachdem fast alle seine Verteidiger den Tod gefun-
den haben. Bei Tag ist jeder Versuch, den Verlust durch
einen Gegenstoß auszugleichen, völlig aussichtslos. Als
aber eine stärkere Patrouille der Kaiserjäger bei Nacht
vorgeht, findet sie den Stützpunkt schon stark verschanzt
und mit Maschinengewehren bestückt. Stärkere Kräfte
stehen nicht zur Verfügung. Die Einbuße an Mann und
Material ist schon so groß, daß niemand weiß, wie es
gelingen soll, den Widerstand weiter aufrecht zu er-
halten. Der Stützpunkt muß aufgegeben werden.
Damit ist aber auch die Lage in der „Felsenfeld-
wache" und der „Infanteriestellung" verzweifelt gewor-
den. Ihre Verteidiger erhalten von der Höhe 2221 her
Rückenfeuer, sie schmelzen unter diesem und den Grana-
ten der unermüdlich feuernden Artillerie beängstigend
zusammen.
Trotzdem vergehen vier weitere Tage und Nächte
unter abwechselndem Trommelfeuer und erbitterten Nah-
angriffen. Immer wieder gelingt es den Kaiserjägern
vom 3. Regiment unser ihrem heldenmütigen Führer
Hauptmann Eymuth, die zerschossenen Gräben gegen die
liebermacht des Feindes zu halten und ihm schwere
Verluste beizubringen. Die Hänge sind mit Leichen be-
deckt, hunderte Schwerverletzter müssen ohne Hilfe zwi-
schen den Stellungen liegenbleiben, weil der Stahlhagel
keinen Augenblick lang aussetzt.
Am 26. Oktober geht nach furchtbarem Nahkampf die
„Felsenfeldwache" verloren. Die Besatzung der „Infan-
teriestellung" merkt den Verlust erst, als sie nun ver-
heerendes Rückenfeuer bekommt. Damit ist auch ihre
Lage hoffnungslos geworden. Weit vorgeschoben, stän-
dig von Umgehung bedroht, klammert sie sich dennoch
zäh an die halb verschütteten Gräben und zerschossenen
Deckungen. Der Kampf geht weiter. Am nächsten Tag
weisen die Verteidiger allein sechs Angriffe ab, ihre Ver-
luste betragen schon über sechzig von Hundert.
In der Nacht auf den 27. Oktober gelingt eine Be-
wegung, die man angesichts des pausenlosen Feuers und
70
der Wachsamkeit des Feindes nur als Wunder bezeich-
nen kann: Die Tapferen des Hauptmanns Eymuth wer-
den abgelöst und sowohl die „Infanterie-“ wie die
Spitzenstellung von Kompanien des 3. und 4. Kaiser-
jägerregiments unter dem Kommando des Hauptmanns
Freiherm von Marenzi besetzt.
Aber die Italiener lassen nicht locker. Neue Massen
klettern die Hänge des Col di Lana hinan, eine
erdrückende Uebermacht staut sich in den Gräben vor
der so heldenmütig gehaltenen Stellung auf dem Co-
stone di Salisei. Unermüdlich treibt der Oberst Gari-
baldi seine Leute vor. Damals flattert zum erstenmal.das
grausige Wort vom „Col di Sangue“, vom Blutberg auf,
das heute noch die Ueberlebenden aus diesem Ringen
gebrauchen, wenn sie sich des zertrichterten Kegels
erinnern.
Für den 28. Oktober fassen die italienischen Bat-
terien alle Kraft zusammen. Vom Morgengrauen an
hagelt ihr Feuer in kaum mehr zu überbietender Wucht
auf den Rücken nieder, der die „Infanteriestellung“
trägt. Der Boden bebt andauernd unter den Einschlägen
der Granaten, Qualm steigt in dichten Massen auf, als
wäre dort ein Riesenbrand entzündet.
Im Schutz dieses Feuers greifen in den ersten Nach-
mittagsstunden drei Bataillone an. Der Sturm geht so
rasch vor sich, daß sich die Italiener plötzlich im Be-
sitze vollkommen leerer Gräben sehen. Schon glauben
sie ihre Anstrengungen nunmehr endgültig vom Erfolg
gekrönt, als die überraschten Verteidiger ihre einge-
brochenen Deckungen verlassen und nun ihrerseits zum
Gegenstoß ansetzen. Mit der blanken Waffe in der Faust
treffen die Gegner aufeinander. Nach einem wütenden
Handgemenge ist die „Infanteriestellung“ wieder im Be-
sitz der Kaiserjäger und der Feind hastet in seine Aus-
gangsstellung zurück.
Dieser Erfolg konnte nur mehr mit schweren Blut-
opfern erkauft werden. Hauptmann von Marenzi mel-
det, daß fast alle seine Offiziere tot oder verwundet
sind und daß die Besatzung in wenigen Minuten über
hundert Mann verloren habe. Nach Einbruch der Dun-
kelheit treffen daher Verstärkungen ein, so daß sich
71
nun rund 500 Mann in der „Infanteriestellung“ am
Costone di Salisei befinden.
Am nächsten Tag erfüllt sich das Schicksal dieses
so lange und so heldenhaft verteidigten Stützpunktes
am Hang des Col di Lana. Nach schwerem Granatfeuer
setzt der Feind mit nur einem Bataillon zum Angriff an
und es gelingt ihm, die auf den Tod erschöpften Ver-
teidiger zu überraschen und niederzuringen. Ein ein-
ziger Mann entkommt dem Blutbad und der Gefangen-
nahme, weil er als Meldegänger die Stellung kurz vor
dem Angriff verlassen hat.
Ueber den Hergang der Katastrophe konnte auch
dieser Ueberlebende keinerlei Angaben machen. Er hatte,
schon auf halber Strecke gegen die Spitzenstellung, hinter
sich plötzlich Kampflärm gehört, aber nur einen der
vielen Sturmangriffe der Italiener auf die „Infanterie-
stellung“ vermutet. Daß es der letzte war, ahnte er nicht.
Erst die Zahlen einer späteren italienischen Dar-
stellung gaben ein Bild von der Furchtbarkeit dieses
Ringens, das sich in den gänzlich zerstörten Gräben ab-
gespielt hat: Von der Besatzung gerieten 270 Kaiserjäger
in Gefangenschaft. Der Rest, fast die Hälfte, bezahlte
seine Vaterlandstreue und Heimatliebe mit dem Leben.
Auch die Führer in diesem Kampfe, die beiden Haupt-
leute von Marenzi und Ebner, sind ihren Wunden
erlegen.
7.
Mit der Eroberung der „Infanteriestellung“ waren
die Südhänge des Col di Lana endgültig in die Hand
der Italiener gefallen. Der zehntägige Kampf hatte beide
Teile aufs äußerste erschöpft. Angesichts der schweren
Verluste konnte der Verteidiger an einen Gegenstoß
nicht mehr denken. Ein solches Unterfangen wäre, auch
wenn es Erfolg gehabt hätte, sinnlos gewesen, weil der
Aufenthalt in den gänzlich zerstörten Stützpunkten un-
möglich war. Man beschloß daher, alle Kraft an den
Ausbau der Spitzenstellung zu wenden und die verlore-
nen Punkte nur unter Artilleriefeuer zu halten.
Die Lage des Verteidigers war nun folgende: Den
Steilabfall gegen Westen schützte die sogenannte „Hang-
72
Stellung“. Hinter ihr führte, als Ausläufer des Weges
von Contrin her, ein Laufgraben auf die Spitze. Die
Spitzenstellung selbst bestand aus einem halbkreisför-
migen Schützengraben, der, etwa zwanzig Meter vom
Gipfel 2462 entfernt, auf dem Südhang verlief. Dieser
Graben fand im Nordosten seine natürliche Begrenzung
in einer unersteiglichen Felswand.
Die Spitze des Col di Lana ist durch einen scharfen
Felsgrat mit dem nordwestlich liegenden Monte Sief
verbunden. Eine kleine Verbreiterung dieses Grates, in
den Karten als Höhe 2387 verzeichnet, wurde später zum
„Gratstützpunkt“ ausgebaut, um bei einem Fall der
Spitzenstellung das Vordringen des Angreifers gegen
Norden zu verhindern. Zwischen dem Monte Sief und
der mächtigen Felskanzel des Settsaß erstreckte sich nach
wie vor die Feldwachenkette des Sief-Sattels, gesichert
durch den Sasso di Stria, von welchem aus man diese
Hänge unter Flanken- und Rückenfeuer nehmen konnte.
Der Kampf eines halben Jahres und das Opfer tausen-
der Toter und Verletzter hatte also dem Angreifer ledig-
lich den Besitz zweier zerstörter Stützpunkte und der
kleinen Feldwache auf Höhe 2221 eingetragen, ohne die
Bedeutung des Col di Lana für den Verteidiger zu
schmälern. Denn nach wie vor blieb diesem die Sicht
ins Cordevoletal und auf die Dolomitenstraße zwischen
Buchenstein und Pordol-Joch erhalten.
Allmählich rückte nun der Feind an die Spitzen-
stellung heran und grub sich etwa fünfzig Meter von
dieser entfernt am Hang ein. Seine Lage war keineswegs
beneidenswert. Da der Hang hier in natürlicher Böschung
abfällt, entsprach der Entfernung von fünfzig Metern
auch ein Höhenunterschied von gleichem Ausmaß, so daß
ein Sturmangriff nur im Schrittempo vor sich gehen
konnte. Es war schon eine außerordentliche Leistung der
Alpini, die erste Sandsackbarre durch einen seichten
Graben zu ersetzen, den erst später Laufgräben und
Kavernenbauten verstärkten. Vorläufig aber setzte
dauerndes Artilleriefeuer von beiden Flanken her den
Alpini heftig zu und forderte täglich schwere Opfer unser
ihnen. Auch mußten sie immer eines Gegenangriffes
gewärtig sein, der, von oben geführt, sie im Handum-
73
drehen wieder aus der mühsam errungenen Stellung wer-
fen konnte. Daß dieser Gegenangriff unterblieb, war
lediglich auf den Kräftemangel des Verteidigers zurück-
zuführen, vielleicht auch auf die Unmöglichkeit, sich außer
der Spitzenstellung zu halten und ihre enge Umklamme-
rung dauernd zu verhindern.
Anfangs November besetzten Teile des Kaiser-
schützenregiments Nr. III den Abschnitt Col di Tana.
Die Dürftigkeit der Unterkünfte bedingte einen sehr
schwachen Stand der Spitzenbesatzung: Ein Zug Infan-
terie, ein Dutzend Artilleriebeobachter und ein Maschi-
nengewehr samt Bedienung, das war alles. Mit diesen
geringen Kräften hoffte man sich so lange zu halten,
bis die im Bau befindliche Kaverne und mehrere andere
Deckungen fertig waren. Man darf nicht vergessen, daß
mittlerweile der Winter hereingebrochen war und daß
Sturm und Schneetreiben ein Lagern im Freien, etwa
am Nordhang, unmöglich machten.
Die Zeit drängte. Wollte der Feind noch in diesem
Jahr den Gipfel in die Hand bekommen, so mußte er
das äußerste wagen.
Schon am 7. November erfolgt der erste Versuch.
Nachdem das Feuer aus mehr als hundert Rohren den
Graben verschüttet und die schwachen Hindernisse weg-
gefegt hat, greifen die Italiener mit dreißigfacher Ueber-
macht an. Um die Mittagsstunde ist der Gipfel des Col
di Lana in ihren Händen, ist der Rest der Besatzung
gefangen. Ein Jubel ohnegleichen faßt nicht nur die, denen
dieser kühne Stoß gelungen ist; nein, alle, die um den
„Col di Sangue" gerungen haben und denen dieses harte
Los noch bevorstand, werden davon ergriffen. Endlich,
endlich ist dieser Satansberg bezwungen, ist das Blut-
vergießen wenigstens um diesen Gipfel zu Endel
Die Freude währt nur kurz. Sofort, nachdem der
Fall der Spitzenstellung klar erkannt wird, hagelt mör-
derisches Artilleriefeuer auf den Gipfel nieder und zwingt
die Eroberer, Deckung zu suchen. Den ganzen Nachmittag
über ist auf der Spitze kein Feind zu sehen. Er liegt
offenbar in dem halb verschütteten Graben, um den
Granaten vom Sasso di Stria und dem Cherz-Plateau her
zu entgehen. Das Feuer ist so lückenlos, daß auch an
74
einen Rückzug in die eigene Stellung am Hang nicht zu
denken ist.
Nach Einbruch der Dunkelheit geht Hauptmann
Valentin! mit dem V. Bataillon des Kaiserschützenregi-
ments Nr. III zum Gegenstoß vor. Patrouillen klettern
beiderseits des Felsgrates vom Monte Sief her gegen
die Spitze, während der Großteil des Bataillons von der
„Hangstellung“ aus aufsteigt.
Das stundenlange Artilleriefeuer hat den eingedrun-
genen Feind arg zermürbt. Als die Kaiserschützen auf-
tauchen, leistet er kaum Widerstand. Um zehn Uhr abends
ist der Col di Lana wieder zurückerobert.
Trotz diesem Mißerfolg gibt Generalleutnant Rossi,
der Führer des im Gebiet des Col di Lana operierenden
Korps, den Kampf nicht auf. Ja, gerade weil die Ein-
nahme des Gipfels schon einmal gelungen ist, glaubt er
fester denn je an die Möglichkeit der stürmenden Hand.
Es schneit. Oft liegt der Berg in so dichtem Nebel, daß
die Batterien stundenlang nach früher ermittelten Ele-
menten ins graue Nichts feuern. Aber noch ist die
Schneedecke nicht so hoch, daß sie der Infanterie das
Vorwärtskommen unmöglich macht. An den Steilhängen
lösen sich die ersten Lawinen, fallen die ersten Opfer
des nordischen Winters. Dennoch treiben neue Befehle
die Alpini aus ihren spärlichen Deckungen, zwingen sie
zum letzten, zum entscheidenden Anlauf.
Ein Vorstoß folgt dem andern. Auf der schmalen,
stark geneigten Fläche zwischen den Stellungen liegen
schon zahlreiche dunkle Punkte, Gefallene aus diesen
nutzlosen Vorstößen. Der Schnee überdeckt sie nach und
nach, er steigt immer höher. Und immer schwieriger
wird es, von einem der brandgeschwärzten Trichter zum
andern den Weg zu finden, bis schließlich die letzten
Angreifer unter den Handgranaten der Verteidiger wenige
Schritte vor dem Ziel ihr Leben aushauchen.
Eine volle Woche lang geht dieses grausame Spiel
weiter. Zwölf Infanterie- und vierzehn Alpinikompanien
haben nach und nach den „Col di Sangue" erstiegen, um
als wracke Menschenhaufen durch kalte, finstere Nächte
talwärts zu stolpern. Da dämmert der 16. Dezember
herauf, der Tag, an welchem General Rossi noch einmal
75
versuchen will, den Gipfel zu erreichen, eh* es für viele
Monate zu spät wird.
Nur mit Patronen und dem eisernen Vorrat in den
Taschen, kauern die Alpini hinter der Sandsackbarre am
Hang, in den armseligen Unterständen, die man mühsam
genug erbaut hat; kauern frierend und übernächtig, durch-
näßt und hoffnungslos dort und warten auf die ent-
scheidende Stunde.
Nebelschwaden jagen, vom eisigen Atem des Stur-
mes gehetzt, über den Grat und die Hänge hinunter und
es beginnt wieder zu schneien. Von oben bellt ein Ma-
schinengewehr. Soll das eine Warnung sein? Oder hat
man die Angriffsvorbereitungen erkannt und schießt sich
gegen die Sandsacklinie ein, um die Stürmenden gleich
beim Verlassen ihrer Deckung mit einem Bleihagel zu
überschütten?
Dann wieder nur das Winseln des Sturmes und die
raschelnden Eisnadeln um die vermummten Männer. End-
lich ein Heulen — die erste Granate. Unwillkürlich drückt
sich jeder so eng wie möglich an die Vorderwand des
künstlichen Grabens. Nein, es ist eine eigene. Sie kracht
in den Gipfel, reißt ein dunkles Loch in den weißen
Kegel, deutlich zu sehen trotz dem Nebelschleier. Das
Höllenkonzert beginnt. Von drei Seiten her gurgelt und
jault es heran und der schwarzen Flecken am Hang wer-
den immer mehr. Aber das Feuer ist wenig wirksam,
das sieht jeder, es wird aufs geratewohl abgegeben. Hin
und wieder geht ein Schuß kurz, so daß Schotter und
feuchte Erde auf die eigene Stellung niederklatschen.
Von Mund zu Mund wandert der Befehl: „Bajonett
auf!" Erklammte Finger setzen die Klingen auf den
Gewehrlauf. Das Feuer bricht ab. Im nächsten Augen-
blick sind die Offiziere aus dem Graben, arbeiten sich
allen voran durch den schmutzigen Schnee.
„Avanti t“
Die hoffnungsvollen ersten Sekunden des Angriffs
sind da. Oben rührt sich nichts. Zehn, fünfzehn Schritte
weit keucht die Menschenmasse. Der Schnee reicht bis
zu den Knien und der Hang ist steil, er wird mit jedem
Meter vorwärts steiler. Ein schwarzer Klumpen, ein Toter
von gestern, von vorgestern vielleicht . . . „Avanti!“
76
Peitschenknall von oben, dem ein gellender Auf-
schrei folgt. Da liegt einer und strampelt mit den Bei-
nen ... Im nächsten Augenblick prasselt es, als wäre
die Hölle losgelassen. Und da ist auch das Maschinen-
gewehr wieder. Sein Bellen, das Zischen seiner Geschosse
schneidet trocken, kalt, unsagbar ernüchternd durch die
Nebelluft. Fünf, sechs wälzen sich im Schnee. Da und
dort versucht noch einer, gebückt aufwärts zu kommen;
aber die meisten liegen schon, reißen an der Verschlüssen
der Karabiner, feuern.
Wohin feuern sie? Man sieht nichts als ein paar
halbzerfetzte spanische Reiter auf den wenigen weißen
Flecken, die das Wüten der Granaten übriggelassen hat.
Sie feuern sinnlos hangaufwärts, um irgend etwas zu tun
in diesen grauenerfüllten Minuten. Aber immer wieder
zuckt einer zusammen, streckt sich aus. Zuckt zusammen,
schnellt hoch, rollt beiseite. Manche tragen Schneemäntel.
Sie sind über und über voll dunkler Flecken — Schlamm
aus Schnee und Erde, Blut, das aus den zersiebten Kör-
pern tropft . . .
Wozu liegen sie denn eigentlich noch da? Es ist
doch ganz unsinnig, da zu liegen und auf den Tod zu
warten 1 Der Capitano erhebt sich nicht, befiehlt nichts.
Er kauert regungslos vor einem Dutzend anderer, die
sich ebenfalls nicht mehr rühren. Der Tenente starrt
mit weit aufgerissenen Augen seine Rechte an, mit der
er sich eben in den Mantelkragen fuhr. Blut! Er will
etwas sagen, rufen, aber die Stimme gehorcht ihm nicht
mehr. Jammern und Fluchen da, dort — und von oben
das Knattern, der Taktschlag des Maschinengewehrs, das
Singen und Pfeifen der Geschosse . . .
Zurück!
Wer es plötzlich verzweifelt in den Winterhimmel
schreit, kümmert niemand. Aber mit einemmal wird die
Menschenmasse wieder lebendig, springt auf, drängt mit
langen Sätzen hinunter, auf die quergestellten spanischen
Reiter zu. Das Feuer hinter ihr her verdoppelt sich.
Noch ein paar Dutzend fallen im eigenen Drahtverhau,
am Rand der Deckung. Mit schweißnassen Gesichtern,
dreckig, blutend kauert der Rest wieder hinter den Sand-
säcken, die sie zehn Minuten vorher verlassen haben.
77
Das Geknatter bricht ab. Aber die Schmerzensschreie
draußen wollen nicht verstummen. Die eigene Artillerie
schickt neues Feuer gegen den Gipfel. Flüche und
höhnische Reden empfangen diese „Hilfe“. Warum das
Gelärm? Um die vollends umzubringen, die sich drau-
ßen unter Schmerzen winden?
Ablösung. Nur die Reserven bleiben zurück. Es
war der letzte Versuch und dabei soll es bleiben. Ver-
dammte Idioten, die dem „Col di Sangue“ immer neue
Opfer bringen! Der Nebel ist gut. Um Mittag wird man
unten in Pieve sein. Aber die Hälfte kommt nicht
mehr mit. Die werden eben da draußen langsam kalt.
Wenn einer noch ein bißchen lebt, besorgens ihm die
eigenen Granaten.
Endlich ist alles wieder ruhig. Heller wird es wohl,
aber die milchigen Schwaden decken den Schauplatz
der kurzen, blutigen Tragödie immer dichter zu. Manch-
mal hört man noch einen Schrei, einen Hilfeschrei durch
das stärker werdende Schneetreiben. Die Sanitäter sind
draußen. Mühsam und in ständiger Gefahr, verkannt
und beschossen zu werden, suchen sie nach Verletzten.
Aber die meisten regen sich nicht mehr. Blutverlust
und Kälte, da kommt der Tod rascher als sonst . . .
8.
Generalleutnant Rossi diktiert eine Meldung an den
General di Robilant, der jetzt die 4. italienische Armee
führt.
Gegen dje Wirklichkeit am Col di Sangue klingen
die Worte wie der dürre Bericht eines Wissenschaftlers:
Man muß die Operationen vorläufig einstellen. Schnee,
Verluste. Der Feind scheinbar gut verschanzt. Lawinen-
gefahr. Man wird das Errungene festhalten bis zum
nächsten Frühjahr und zu diesem Zweck die Stellung
unter dem Gipfel ausbauen. Vor allem werden Kaver-
nen nötig sein, denn die Oesterreicher können von der
Cherz-Hochfläche und dem Sasso dl Stria her diese
Stellung unter Flankenfeuer nehmen . . .
Damit ist nur die erzwungene Pause in den näch-
sten Monaten gerechtfertigt, aber nichts gegen die Ab-
78
sicht, den Gipfel mit stürmender Hand zu nehmen, ge-
sagt* Zu einer grundsätzlichen Aenderung des Verfahrens
kommt es erst durch einen Zufall: Durch die Betrauung
des Leutnants Ingenieur Caetani mit den Kavernenbauten
in der Hangstellung unter der Spitze.
Diese Stellung, von der aus die letzten Angriffe
gemacht wurden, bestand aus mehreren unzusammen-
hängenden Grabenstücken und Sandsackdeckungen, sowie
schwachen Unterständen, die weder dem Hochgebirgs-
winter, noch der Bedrohung durch Störungsfeuer gewach-
sen waren. Die Italiener verbanden zunächst die ein-
zelnen Grabenstücke zu einem starken Stützpunkt und
versahen diesen mit einem Drahtverhau an Stelle der
spanischen Reiter. Um noch besser vor einem über-
raschenden Gegenstoß der Spitzenbesatzung gesichert zu
sein, schoben sie unter Benützung eines alten Grabens
der Verteidiger einen zweiten Graben vor, der genau
zwischen den beiden Stellungen lag. Dieser war als
Ausgangspunkt für künftige Angriffe gedacht und hatte
daher kein Hindernis.
Im untersten Teil des ganzen Stützpunktes wurde
nun die Kaverne angeschlagen, deren Bau Leutnant Cae-
tani zu leiten hatte. Dieser Mann erlaubte sich, über das
vorgeschriebene Maß hinaus zu denken. Während seine
Sappeure in mühsamer Handarbeit Sprengloch um
Sprengloch bohrten, verfaßte er eine Denkschrift, die
genaue Zeichnungen über die Lage hüben und drüben
enthielt und nach der man sich ein Bild von den be-
vorstehenden Kämpfen machen konnte, wenn — man
sich nicht zu einem grundsätzlich anderen Verfahren
entschließen würde.
Leutnant Caetani sagte zuerst klipp und klar, daß
an eine Eroberung des Gipfels auch im kommenden
Jahr nicht zu denken sei. Der Gegner sei außerordent-
lich geschickt und zäh, er habe seine Stellung schon
stark befestigt und werde in dieser Hinsicht bis zum
Frühjahr noch einiges tun. Den Vorteil der Ueberzahl
aber könne man hier nicht ausnützen, weil das An-
griffsfeld schmal und beiderseits durch Steilhänge be-
grenzt sei. Je mehr Infanterie hier vorgehe, desto mehr
Menschen würden bloß verbluten, ohne das Ziel zu er-
79
reichen. Ein einziges Maschinengewehr in der Abwehr-
stellung könne Tausende niedermähen, ganz abgesehen
davon, daß man diese Tausende gar nicht unter der
Spitze versammeln könne, ohne die Aufmerksamkeit und
das Abwehrfeuer des Verteidigers wachzurufen.
Es bleibe daher nur eines übrig: Von der be-
gonnenen Kaverne aus einen Stollen gegen
den Gipfel vorzutreiben und diesen samt
seiner Besatzung in die Luft zu sprengen.
Dieses Verfahren sei unbedingt erforderlich. Zudem
biete es einen zweiten Vorteil: Die im November er-
folgte Besetzung der Col-di-Lana-Spitze sei von so kur-
zer Dauer gewesen, weil niemand sich dort halten
könne, solange er von Norden, Osten und Westen her-
Feuer bekäme. Die Ränder eines Sprengtrichters aber
würden genügend Deckung bieten, um dieses Abwehr-
feuer zu überdauern. Und schließlich würde die „Hang-
stellung“ der Oesterreicher am Steilabfall gegen Westen
genug abbekommen, um als Ausgangspunkt für Gegen-
stöße auszuscheiden.
Dieser Plan war so einleuchtend, daß seine Aus-
führung sofort in Angriff genommen wurde. Leutnant
Caetani war der richtige Mann dazu. Da er unbe-
schränkte Vollmacht hatte und als Techniker wie als
Soldat gleich geschickt und überlegt dachte, verzichtete
er auf die modernsten Hilfsmittel. Mo torenger äusch
mußte nur die Aufmerksamkeit des Gegners erwecken,
abgesehen davon, daß der Transport von Maschinen
um diese Jahreszeit fast unmöglich war. Ueberdies hatte
man vier Monate Zeit, denn vor Mitte April konnte
man sich wegen der Schneedecke nicht ins Freie wagen.
Caetani beschloß daher, den Stollen mit einer Hand-
bohrmaschine und in härteren Gesteinsschichten mit Bohr-
stange und Schlägel vorzutreiben. Die Mineure wurden
sorgfältig ausgewählt und ehrenwörtlich verpflichtet, je-
dem, auch den engsten Kameraden gegenüber Stillschwei-
gen zu bewahren.
Je zwei Mann arbeiteten am Vortrieb. Die Spren-
gungen wurden nicht regelmäßig, sondern zu den ver-
schiedensten Zeitpunkten vorgenommen und immer von
Artilleriefeuer gegen die Spitze begleitet, so daß der
80
Beobachtungs-
posten am
Cevedale
(Ortler-Front)
Verteidiger keine Gelegenheit hatte, die Erschütterun-
gen im Innern des Berges wahrzunehmen. Außerdem
brachte man da und dort Handgranaten zur Explosion,
die das unvermeidliche Krachen der Sprengschüsse ver-
schleierten. Der tägliche Fortschritt betrug einen Meter.
Da die waagrechte Entfernung zwischen Stolleneingang
und der künftigen Sprengkammer etwa neunzig Meter
betrug, konnte man hoffen, die Hauptarbeit gegen Ende
März hinter sich gebracht zu haben.
In den ersten Märztagen war der Vortrieb bis unter
die Mitte der halben Strecke gediehen. Hier wurde ein
zweiter Stollen gegen den Westhang des Lol di Lana
abgezweigt, teils um die Spitzenbesatzung irrezuführen,
teils um bei dem kommenden Angriff ins Freie durch-
brechen und von diesem Stollenausgang aus die „Hang-
stellung" des Verteidigers unter Feuer nehmen zu kön-
nen. An diesem Punkt begann aber auch der schwierigere
Teil des Unternehmens: Der Stollen lag zu tief, er
mußte, der äußeren Form des Gipfels entsprechend,
steil nach aufwärts geführt werden, da man nur dann
auf eine gewaltige Sprengwirkung hoffen konnte. Zu-
dem durfte man wegen der Nähe des Feindes kein
Dynamit mehr verwenden, sondern mußte den weiteren
Vortrieb von Hand aus bewerkstelligen.
Was das in dem harten Gestein bedeutet, ist leicht
auszumalen: Zwei Mann hatten nebeneinander Platz,
die mit der Brechstange allein täglich mindestens einen
Meter in dem engen Stollen auszubrechen hatten. Nur
größtem Geschick und zähester Hingabe an das Werk
konnte es gelingen, diese Arbeit zu leisten. Tag und
flacht wurde rastlos gewerkt, alle zwei Stunden lösten
vier Schichten ihre Männer am Vortrieb ab, während
die anderen dahinter mit der Erweiterung des Stollens
und dem Abtransport des Materials beschäftigt waren.
Die Bezwingung des „Lol di Sangue" war den Sap-
peuren des Leutnants Caetani zu einer Ehrensache ge-
worden. Sie hatten die letzten Angriffe und das nutz-
lose Verbluten der Alpin! mitangesehen; sie sahen jetzt
ein hohes Ziel vor Augen: Einer Wiederholung dieser
Schlächterei vorzubeugen, indem man den Gegner mit
einem Schlag vernichtete.
6
81
9.
Trotz allen Vorsichtsmaßnahmen bleibt die drohende
Gefahr dem Verteidiger nicht lange verborgen. Schon
anfangs Jänner 1916 meldet ein Artilleriebeobachter vom
Pordoijoch, daß ungewöhnlich starker Materialauswurf
unter dem Gipfel des Col di Lana zu sehen sei. Längst
mußten die Kavernen der Italiener fertig sein, aber Tag
für Tag wuchs die Schutthalde, im Schnee deutlich er-
kennbar und auch nach Neuschnee sofort wieder dunkel
hervortretend — ein Beweis, daß dort unausgesetzt ge-
arbeitet wurde.
Kaiserjäger vom 2. Regiment haben mittlerweile die
Verteidigung des Col di Lana übernommen. Sie wissen
noch nichts von dem Anschlag, der da vorbereitet wird.
Nur dem Kommando der Division „Pustertal" ist klar,
daß die Italiener auf den einzigen Weg, diesem Berg
beizukommen, verfallen sind. Man erwägt allerlei Gegen-
maßnahmen, unter denen nur eine sicheren Erfolg ver-
spricht: Der Vorstoß gegen die feindliche Stellung, die
Wegnahme und Vernichtung des ganzen Stollensystems.
Dieser Plan müßte zu jeder anderen Jahreszeit frag-
los gelingen. Auf dem schmalen Hang wäre die zahlen-
mäßige Ueberlegenheit des Feindes nicht zu fürchten ge-
wesen. Ueberdies konnte zusammengefaßtes Artillerie-
feuer jeden Zuzug von Verstärkungen unterbinden.
Ein Hindernis aber steht alldem entgegen, unbe-
zwinglich auch für den heldenmütigsten Soldaten: der
immer dichter fallende Schnee, dessen Decke schon über
zwei Meter stark geworden ist.
Das Geheimnis des Col di Lana enthüllt sich auch
bald der Gipfelbesatzung selbst. Daß der Anschlag mög-
lich, ja wahrscheinlich ist, bestreitet niemand. Schon die
täglichen Feuerüberfälle lassen verschiedenes ahnen.
Bange Tage beginnen. Wohl noch nie haben Men-
schen so sehnsüchtig den Frühling erwartet wie die
hundertfünfzig Kaiserjäger auf der winterlich einsamen
Bergspitze. Für sie geht es nicht um Sonnenlicht und
Wärme, nicht um Befreiung von der drückenden Schwer-
mut, die endloser Nebel, Kälte und Schnee auslösen —
nein, es geht um das nackte Leben. Daß sie als Männer
82
und Soldaten zu sterben verstellen, das haben sie hun-
dert- und tausendmal bewiesen. Was aber ist der
Schlachtentod gegen dieses ohnmächtige Warten durch
Tage, durch Wochen, durch Monatei
Noch aber ist alles ungewiß, ist der Minenkrieg des
Feindes nur Annahme und durch kein sicheres Zeichen
bestätigt. Um die Mitte des Monats März hört man
wohl Sprengschläge, die auf große Nähe schließen las-
sen, doch jeder weiß, wie leicht das täuscht. Das dumpfe
Wuchten im Gestein kann auch von einem tiefen Ka-
vernenbau der Italiener herrühren. Ununterbrochen hor-
chen eigene Posten in den beiden Kavernen der Gipfel-
stellung, um Bohrgeräusche wahrzunehmen. Nichts. Laut-
lose Stille. Auch die Feuerüberfälle hören auf.
Die Furcht vor der Sprengung erlischt allmählich in
den übermüdeten Gehirnen. Sie überschattet nur den
Hintergrund dieser bangen Wochen, in denen der Kampf
gegen Schneefall und Lawinen alle Kräfte anspannt.
Die Zahl der Opfer des Bergwinters wächst. Ln
Februar und März wird sie katastrophal. Ganze Träger-
kolonnen werden verschüttet. Jede Patrone, jede Kon-
serve, jedes Scheit Holz, das man oben braucht, wird
unter ständiger Todesgefahr herangebracht. Der Weg
nach Contrin ist fast gefährlicher als der Minierversuch
der Italiener, der vielleicht nur eine trübe Vermutung ist.
Da, am Abend des 3. April, wird der gespenstische
Schatten zur gräßlichen Gewißheit: Der Feind ist unter
der Spitzel Einer der Kaiserjäger, die in der kleineren
Kaverne liegen, hat leises Pochen und Scharren gehört.
Im Nu sind zwanzig Männer auf, horchen atemlos
in den Raum. Der Schein der Petroleumlampe flackert
über schreckerstarrte Gesichter. Wasser tropft von der
Decke, tropft, tropft . . .
Da wieder 1 Vom Boden her klingt es, als wäre dort
unten im Gestein eine Schaufel gefallen. Dem folgt ein
Pochen, Schlag für Schlag, emsig, pausenlos: Der Tod
wühlt durch den Felsen, er hockt unter ihren Füßen
und gräbt und gräbt . . .
Einer stürzt hinaus, den Kommandanten zu holen.
Die andern sitzen auf ihren Pritschen, lehnen an den
Wänden. Niemand spricht ein Wort. Sie langen nach
6'
83
ihren Pfeifen wie immer, wenn Unheimliches nach ihnen
greift, und — legen sie wieder fort. In den Feldflaschen
ist noch Rum von der letzen Fassung. Hände tasten
danach. Unterdrückter Zuruf läßt sie innehalten. Schwei-
gen. Durch die Stille pocht Schlag auf Schlag der Knöchel
des Todes . . .
Schritte draußen, Knirschen im Geröll beim Eingang.
Hauptmann Homa, der Kommandant der 5. Kompanie,
tritt ein. Als er die atemlos lauschenden Männer sieht,
lächelt er unwillkürlich.
„Was gibt's, Mander?“
Keine Antwort. Nur erhobene Finger, vielsagende
Blicke, Schweigen. Und von unten her das unheimliche*
grauenhafte Geräusch: Tak . . . tak . . . tak . . .
Der Hauptmann geht ein paar Schritte weiter, kauert
sich auf den Boden nieder. Das Lächeln auf seinen Lip-
pen wird zu einer Fratze. Um ihn her ist der verhaltene
Atem der zwanzig Männer. Und tief unten will es nicht
verstummen: Tak . . . tak . . . tak . . .
„Wasser im Felsen.“
Er glaubt es selbst nicht. Aber der Berg hat seine
Adern, oben schmilzt ständig Schnee, sickert durchs Ge-
stein. Vielleicht . . .?
Da setzt das Pochen aus. Minutenlange Stille. Eine
Taschenuhr tickt ihren aufgeregten Lauf. Und dann
scharrt es, als würde jemand Geröll mit einer Schaufel
beiseiteschaffen.
Wieder Stille. Die Männer sehen einander an.
Hauptmann Homa erhebt sich. Tiefe Erregung malt sich
auf seinen Zügen. Er schüttelt den Kopf, macht eine
Geste: Ruhet
Unten beginnt das Pochen wieder, Schlag für Schlag,
eine Kette, die sich beklemmend um Herz und Hirn
krampst: Tak . . . tak . . . tak . . .
10.
Der Draht trägt die Nachricht durch die frostklir-
rende Winternacht: Helft! Helft! Unter uns ist der Tod!
Wir sind ihm tausendmal begegnet, haben ihn tausend-
mal überlistet. Aber diesmal fällt er uns an wie ein
84
ungeheures Tier im Finstern. Wir sind verloren, Kame-
raden, wenn ihr nicht zu Hilfe kommt! Eilt, handelt,
überlegt nicht lange! Denkt an unsere Weiber und
Kinder!
Am 3. April sind alle Vermutungen schauerliche
Gewißheit geworden: Man hat deutlich unter der Spitze
arbeiten gehört. Der Feind muß schon fast am Ziel sein.
Scheinbar arbeitet er sich in zwei Stollen heran, denn
man hört ihn bald näher, bald ferner.
Die Bestürzung ist groß. Wochenlanger harter Kampf
gegen Schnee und Lawinengefahr, die unendliche müh-
same Arbeit zur Versorgung des Col di Lana mit Le-
bensrnitteln, Munition und Brennholz, aufreibender Wach-
dienst und Feuerüberfälle haben die Nerven der tapferen
Tiroler zermürbt. Dazu kommt nun die Gewißheit, daß
der Feind einen Angriff unternimmt, gegen den Mut
und Opfersinn machtlos sind.
Noch aber besteht eine Hoffnung: Vielleicht ist es
möglich, die Stollen der Italiener durch eine Gegenmine
abzuquetschen und die drohende Gefahr wenn nicht für
immer, so doch für einige Wochen zu bannen. In die-
sen Wochen würde der Frühling kommen und mit ihm
die Möglichkeit, durch einen kühnen Ausfall den Feind
zurückzuwerfen, seinen Bau zu zerstören.
Eine Sappeurkompanie wird auf den Gipfel befohlen.
Da die Zeit drängt, kann man keine umfangreichen Vor-
bereitungen treffen. Es bleibt nichts übrig, als die klei-
nere der beiden Spitzenkavernen, in der man das Pochen
am deutlichsten gehört hat, zu laden und zu sprengen.
Vierundzwanzig Stunden nach der grausigen Ent-
deckung haben die Sappeure ihre Maßnahmen beendet:
Im innersten Winkel der Kaverne sind 110 Kilogramm
Dynamit und Ekrasit eingelagert. Das ist alles, was
man in dieser kurzen Frist an Sprengmitteln auftreiben
und herausschaffen konnte. Dann wird der Raum mit
1100 Sandsäcken verdämmt, so daß der Sprengschlag
nach unten wirken muß.
Um sechs Uhr abends des 4. April wird die Mine
gezündet. Dumpfes Krachen schütter! durch den Gipfel.
Die Verdämmung bleibt unversehrt. Auch wird kein
Rauch sichtbar. Sofort beziehen die Beobachter ihre
85
Posten. Der Arbeitslärm im Felsen ist verstummt. Schein-
bar hat die Gegenmine gewirkt. Der Stollen der Italiener
wurde allen Anzeichen nach eingedrückt, die Mineure
vernichtet.
Ein wahrer Freudentaumel überkommt die Männer
auf der Spitze. Als hätte man zum Tode Verurteilten
Begnadigung und Freiheit verkündet, fallen Zentnerlasten
von ihnen ab. Das grauenhafteste Trommelfeuer war ja
nichts gegen dieses leise Pochen und Hämmern im Berg-
innernl Und diesem Kampf, dem unterirdischen, schlei-
chenden, diesem Ringen, in dem es keine Tapferkeit,
keinen Widerstand gab, schien ein für allemal ein Ende
gesetzt zu sein.
Es dauert einige Stunden bis die Verdämmung weg-
geräumt ist. Allmählich weicht der giftige Rauch aus der
Kaverne und die Sappeure können bis zur Sprengstelle
vordringen. Sie schütteln die Köpfe, sie suchen eine
Erklärung für die Tatsache, daß der Boden unversehrt ist,
daß kaum die oberste Felsschichte zu Schotter zerschlagen
wurde. War die Ladung zu schwach gewesen? Haben die
Sandsäcke infolge ihrer Elastizität den Schlag aufge-
fangen?
Umsonst also die Arbeit 1 Vergebens die Hoffnung,
daß der Feind wenigstens gehindert, zurückgedrängt ist,
daß er vielleicht Wochen brauchen werde, um die Schä-
den an seinem Stollen auszubessern.
Und dann eine Entdeckung, die auch den Stärksten
niederschmettert: Schon um Mitternacht erwacht das
Pochen und Scharren im Innern des Berges wieder, ja
es folgen Sprengschläge, die den Boden erzittern lassen!
Die Italiener haben ihre Arbeit wieder aufgenommen, sie
bohren ohne Rücksicht auf weitere Gegenmaßnahmen,
setzen ihr Angriffs werk mit aller Kraft fort!
Verzweifelte Tage kommen. Wer nicht seinen Dienst
im Kampfgraben versehen muß, liegt in einer der Ka-
vernen auf dem Boden und hordit in den Berg hinein.
Jetzt ist es schon erlöstes Aufatmen, wenn man den
Feind hört. Denn solange er mit Schlägel und Bohrer
an der Arbeit ist, droht keine unmittelbare Gefahr, sind
die Schrecken der Vernichtung wenigstens in Stunden-
ferne gerückt.
ßO;
Noch einmal erwacht der Lebenswille der Tapferen
auf der einsamen, winterlich düsteren Bergspitze: Ein
Gegenstollen soll gebohrt werden, seine Sprengung die
Arbeit des Gegners vernichten.
Sechzig Sappeure marschieren bei Nacht auf den
Gipfel. Dieser Aufstieg — schwer mit Werkzeug und
Sprengmitteln beladen, unter den Kegeln der wachsamen
italienischen Scheinwerfer, ständig von Lawinen bedroht
— ist allein schon ein Heldenstück ersten Ranges.
Kaum sind die Sappeure auf der Spitze, als man
mit Aufgebot aller Kräfte darangeht, sich selbst ins Ge-
stein zu wühlen, um dem Tode zu entrinnen. Ununter-
brochen klingen die Bohrstangen, Sprengschüsse krachen,
Schotter wird hinausgeschafft. Hüben und drüben die
langen, dunklen Schuttbahnen im Schnee. Tag und Nacht
knirscht Stahl in den splitternden Felsen, rauchen Zünd-
schnüre, dröhnen Explosionen: Ein atemloses Ringen
im Finstern, ein Tasten und Suchen nach dem Feind, der
nur mehr wenige Meter entfernt sein kann.
Mittlerweile hat sich auch die Lage an den nicht
unmittelbar bedrohten Teilen dieses Frontabschnitts sehr
verschlechtert. Der Aufmarsch für die geplante Offen-
sive von Folgaria-Lavarone hat begonnen, die gesamte
moderne Artillerie und eine Anzahl Infanteriekompanien
wurden aus dem Gebiet des Col di Lana herausgezogen.
Man hat auf ein baldiges Weichen des Winters gehofft.
Diese Hoffnung erweist sich als trügerisch. Es folgen
immer heftigere Schneefälle. So liegt der Großteil der
früheren Dolomitenkämpfer untätig im Etschtal.
Der zu frühe Abmarsch dieser Truppen wird jetzt
den Verteidigern des Col di Lana zum Verhängnis. Un-
gehört bleiben die warnenden Meldungen der Komman-
den, vergeblich die Hilferufe der bedrängten Spitzen-
besatzung. Man hat damit gerechnet, daß der Vorstoß
in Südtirol Mitte April erfolgen werde, daß die Ita-
liener unter dem Eindruck dieses Angriffs sofort in
eine für sic günstigere Linie zurückweichen würden. Jetzt
weiß man keinen Ausweg. Der Col di Lana bleibt denen
überlassen, die gegen das nahende Verhängnis ohnmäch-
tig sind.
87
11.
Die Italiener verdoppeln ihren Eifer. Seit dem
Sprengschlag von der Spitzenkaverne her — der
ihnen übrigens keinen Schaden zugefügt hat — ist es
erwiesen, daß der Gegner um den Minenangriff weiß.
Es gilt fertig zu werden, ehe ein Ausfall der Gipfel-
besatzung das Werk zunichte macht oder ein neuer
Angriff unter Tag den Stollen zerstört.
Die Natur kommt ihnen zu Hilfe. Es schneit so
gewaltig, daß ein Vorstoß der Oesterreicher im Freien
aussichtslos wird. Trotzdem verliert Leutnant Caetani
keine Zeit. Am 12. April ist der Hauptstollen fertig,
52 Meter lang, am oberen Ende durch einen U-förmigen
Querstollen abgeschlossen. Dieser Querstollen soll links
und rechts zu je einer Sprengkammer erweitert werden.
Das geschieht in drei Tagen.
Und nun erfolgt das Laden der Mine. In einer ein-
zigen Nacht, vom 15. auf den 16. April, schaffen die
Italiener 5000 Kilogramm Nitrogelatine in den Berg,
3000 Kilogramm für die rechte, 2000 für die linke
Sprengkammer; überdies für jede 100 Rollen Schieß-
baumwolle und 100 Sprengkapseln, um eine sichere Zün-
dung zu bewirken.
Diese Arbeit erfordert eiserne Nerven. Das An-
stauen so vieler Nitrostoffe in den engen Räumen ver-
giftet die Luft. Ununterbrochen ist der Handventilator
in Tätigkeit. Trotzdem werden die Leute in den Spreng-
kammern von Uebelkeiten befallen und müssen immer
wieder ins Freie, um nicht zusammenzubrechen.
Als schließlich auch die Panzerkabel für eine dop-
pelte elektrische Zündung gespannt sind, geht man an
die Verdämmung des Stollens mit Stahlträgern und
Sandsacken.
In den Nachmittagstunden des 17! April meldet Leut-
nant Caetani, daß die letzten Vorbereitungen getroffen
und die Mine sprengbereit sei . . .
Trotz der absoluten Sicherheit, daß diesmal niemand
sich ihnen entgegenstellen werde, gehen die Italiener
zu Werke, als gelte es, den Gipfel in offenem Anlauf
zu stürmen. Zwei Bataillone Infanterie warten Mann an
88
Mann in der gedeckten Galerie am Stolleneingang, 111
mittlere und 28 schwere Geschütze feuern seit vierzehn
Tagen auf die Spitze und sollen sofort nach der Spren-
gung ein neues Trommelfeuer niedergehen lassen, um
auch jedes Lebenszeichen der vernichteten Besatzung zu
ersticken. Der Raum, auf den dieser Stahlhagel nieder-
heult, ist kaum sechzig Meter im Geviert groß. Auch
ohne Sprenggelatine scheint es fast unmöglich, daß dort
oben noch jemand atmet.
Mittlerweile hat die Besatzung der Spitze alle Qua-
len eines langsamen Todes zu erdulden. Sie besteht aus
ungefähr 140 Mann der 6. Kompanie des 2. Regiments
der Tiroler Kaiserjäger unter dem Kommando des
Hauptmanns Adalbert Homa, etwa 20 Artilleristen, die
den Beobachtungsdienst versehen und eine Gebirgs-
kanone bedienen; ferner 60 Sappeuren, einer Maschinen-
gewehrabteilung und 8 Mann als Bedienung der beiden
auf der Spitze eingebauten Gebirgsminenwerfer, alles in
allem ungefähr 250 Menschen.
Seit vierzehn Tagen rast das Artilleriefeuer der
Italiener und verursacht neben großen Zerstörungen an
den Stellungsbauten eine völlige Ungewißheit über die
Tätigkeit des Feindes, weil in dem Dröhnen der Gra-
naten an ein Beobachten der Vorgänge im Berginnern
nicht mehr zu denken ist. Dieses Feuer wird in den
letzten drei Tagen vor der Sprengung zu einem wahren
Höllentanz: Täglich krachen etwa 2000 Geschosse in den
splitternden Fels, die Spitze ist schwarz geschossen, die
Stellung Abend für Abend eingeebnet. Erst in den Näch-
ten gelingt es immer wieder, den Graben auszuschau-
feln und die Zugänge freizumachen.
Am 16. April meldet Hauptmann Homa: „Die feind-
liche Artilleriewirkung am heutigen Tage war verheerend.
Die Kampfstellung ist vollkommen zerschossen, die Re-
servestellung zerstört, die Sappe, die Alarmstiege, der
Weg zum Tunnel sind ein Trümmerhaufen. Der Offi-
ziers- und Mannschaftsunterstand sind beschädigt und
unbrauchbar. Die Telephonverbindung ist unterbrochen."
Trotz der Aussichtslosigkeit des Gelingens macht man
sich in letzter Stunde daran, einen Vorstoß gegen die
italienische Angriffsstellung zu unternehmen. Schwache
89
Kräfte, die Reste aller verfügbaren Truppen, arbeiten
sich von Contrin her durch den Schnee. Es ist geplant,
aus der „Hangstellung“ und vom Siefsattel aus eine
Umfassung der Italiener zu versuchen und gleichzeitig
von der Spitzenstellung aus anzugreifen, um die Stollen-
eingänge zu erreichen und zu zerstören.
Dieser Vorstoß kommt nicht zur Ausführung. Der
Schnee trägt nicht, es mangelt an Geschützen und Muni-
tion. Wenn der Angriff als Katastrophe endete, gibt es
im ganzen Col-di-Lana-Abschnitt keinen Mann Reserve
mehr.
Dagegen wird das Unwahrscheinliche wahr: Ein Be-
fehl verfügt die Ablösung der Kompanie Hauptmann
Homa durch die 6. Kompanie des gleichen Regiments,
die von Oberleutnant Toni von Tschurtschenthaler ge-
führt wird.
Ein Aufatmen geht durch die Reihen der Kaiser-
jäger. Freilich, es sind engste Kameraden, Brüder und
Vettern vielleicht, die da als Ersatz heraufkommen;
und die andern müssen auch bleiben, die Artilleristen,
Sappeure und Minenwerferleute. Aber am meisten ha-
ben doch die Jäger gelitten. Niemand mißgönnt ihnen
die Rettung in letzter Stunde.
Wie durch ein Wunder geht die Ablösung ohne
Verluste vor sich. Der Abschied ist rührend. Manchem
stehen Tränen in den Augen, als er den Zurückbleiben-
den die Hand schüttelt.
Auch der Feind bemerkt nicht, was auf dem Gipfel
vorgeht. Seine Scheinwerfer leuchten auf und drehen
ab wie immer. Kalter Wind weht um den Col di Lana.
Ein letzter Blick in die Runde, halblaute Zurufe. Dann
verschwinden die Leute von der 5. Kompanie in der
Finsternis ... - ' ; T
12.
Der letzte Tag des Col di Lana, der verhängnis-
volle 17. April naht mit einem Feuersturm, wie ihn
selbst die kampferprobten Kaiserjäger noch nicht er-
lebten. Fast den ganzen Tag über schmettert Granate
um Granate gegen die Spitze, die letzten Deckungen
90
und Hindernisse zerstörend. Bald ist die Heldenarbeit
der vergangenen Nacht erledigt, in einen wirren Haufen
von Schotter, Drahtfetzen, zerspellten Balken und
schmutzigen Schneeresten verwandelt.
Durch den Graben, der halb verschüttet ist, hasten
die Horchposten, drücken sich vor anheulenden Ge-
schossen an die Wand, werfen sich in den Schlamm,
der den Boden bedeckt, erheben sich mühsam wieder,
keuchen weiter. Ablösung. Manch einer findet seinen
Kameraden, den er aus der Hölle dieses Feuers be-
freien soll, nicht mehr. Wo er stand, die Minuten zäh-
lend, den müden Blick ins Vorfeld gerichtet, sind Bret-
ter, Wellblech, Sandsackfetzen übereinandergeworfen; wo
er stand, gähnt ein Trichter.
Wimmert noch Leben aus den Trümmern hervor?
Hat sich der, der hier seine Sünden büßte, hinter der
nächsten Erdtraverse verkrochen?
Keine Zeit zum Nachdenken. Gellender Feuerschlag
reißt die eigene Todesangst hoch. Eine Sturmwelle von
Schotter und zerweichter Erde prasselt nieder. Der
Posten liegt reglos, den Kopf in die Armbeuge gedrückt,
sekundenlang. Dann erhebt er sich langsam, benommen,
blinzelt in die karge Wintersonne, besinnt sich seiner
Pflicht:
Sein Blich wandert über die zertrichterte, schmutzige
Schneefläche hinunter zum feindlichen Graben. Nichts
regt sich dort. Wie ein totes Tier, eine riesenhafte Raupe
etwa, liegt der Erdwall mit seinen aufragenden Hinder-
nisstäben und spanischen Reitern über dem schmalen
Hang.
Wie verwunderlich diese Welt, in der man sich nur
einen raschen Tod wünscht und ihm doch immer wieder
zu entwischen trachtet, wenn es so weit wäre! In der
großen Kaverne am Nordhang hocken sie, Mann an
Mann, so dicht, daß man es nicht bemerken würde,
wenn einer plötzlich stürbe und umsänke. Am Eingang
stehen vier Leute und schwingen schwere Decken, damit
der Qualm des Trommelfeuers draußen nicht eindrin-
gen kann — schwingen unausgesetzt ihre Decken, als ob
es nicht besser wäre zu ersticken und nichts mehr zu
wissen. Denn jedes Sterben, wenn auch noch so qualvoll,
91
ist diesem Warten vorzuziehen, dieser an Irrsinn gren-
zenden Folter des Col di Lana.
Was hat der Oberleutnant am Telephon gesagt, als
der Draht noch intakt war? Er gebe sein heiligstes
Ehrenwort für sich und seine Leute, daß sie den Berg
wieder stürmen wollten, wenn man ihn jetzt räumen
und ohne Besatzung in die Luft fliegen ließe. Und die
Antwort? Nur er kennt sie. Für einen Augenblick zuckte
es in seinem Gesicht. Dann gab er sich einen Ruck:
„Jawohl! Zu Befehl! Jawohl!”
Ausharren . . ♦
Auf was denn harren? Bis der ganze verfluchte Dreck
hochfliegt, niederkracht und dann unterst zu oberst lie-
genbleibt? Bis Tod und Begräbnis im Bruchteil einer
Sekunde vollzogen sind? Da lieber gleich . . .
Viermal blitzt es rasch hintereinander jenseits des
Tales auf dem Monte Pore. Die Luft beginnt zu beben,
fernes Sausen kommt näher, schwillt zu ungeheurem
Fauchen an, schlägt dröhnend ins Gestein. Qualm ver-
düstert die Sonne zu einer honiggelben Scheibe. Das
Herz pocht laut, die Augen suchen nach einer besseren
Deckung für die nächste Lage. Jetzt geht das irrsinnige
Getrommel wieder los. Und der Mensch kämpft um sein
Leben, mit List und Schlauheit, mit der verzweifelten
Entschlußkraft, die man Mut nennt. Wie immer, wie
immer . . .
Der Berg frißt Menschen, als wollte er sich Appetit
machen für den letzten, großen, den entscheidenden Bis-
sen. Alle zwei Stunden ist Ablösung. Fünfzehn Mann
gehen hinaus, acht wanken in die Kaverne zurück. Fünf-
zehn neue gehen, sechs kommen herein, kauern sich
wortlos in einem Winkel nieder. Die Kameraden über-
lassen ihnen die besten Plätze, weit hinten, wo man das
Dröhnen und Wuchten draußen am wenigsten hört.
Minuten dauert es, bis die Verstörten die Kraft haben,
den durchnäßten Mantel auszuziehen, ihre blauen Hände
am Schwarmofen zu wärmen . . .
13.
Plötzlich erstirbt das Feuer. Es ist neun Uhr abends.
Der Berg, eben noch unter dem Einschlag der Granaten
92
erzitternd, liegt da, als hätte ein Raubtier seine Beute
fallen lassen: zertrümmert, zerfetzt, totenstill.
Es vergeht keine Viertelstunde und schon ist alles
daran, sich für den unzweifelhaft kommenden Nah-
kampf vorzubereiten. Die Ruhe ist verdächtig und doch
so wohltuend. Auch im Innern des Berges ist es still...
Aber daran denkt keiner mehr, will niemand mehr
denken.
Sappeure und Jäger arbeiten, um den Graben wie-
der freizulegen. Seit Sonnenuntergang ist es bitter kalt.
Die Erde friert. Das erschwert die Arbeit.
Ein Mann ist nach „Alpenrose“, dem Standort des
Bataillonskommandos, unterwegs. Noch beim Abstieg
hinter der „Hangstellung“ hat es ihn hingehauen und
mit Schnee verschüttet. Aber er kam zu sich, bevor er
erstickt war, und lief weiter.
Er trägt Oberleutnant von Tschurtschenthalers letzte
Meldung bei sich, die Bitte um Hilfe. Denn der Draht
ist zerrissen, niemand weiß, wie es auf dem Col di Lana
aussieht, wenn der Meldegänger sein Ziel nicht erreicht.
Spät abends ist es, als der Kaiserjäger abgehetzt
nach „Alpenrose“ kommt, wortlos seinen Briefumschlag
überreicht. Die Meldung spricht für sich:
„Von 5 Uhr früh bis 9 Uhr vormittags leichte Be-
schießung aus mittleren Kalibern, ab 9 Uhr Trommel-
feuer aus schweren Kalibern.
Die Stellung ist vollkommen zerschossen!
Die Lage ist furchtbar, ich weiß mir keinen Rat
mehr!
Im Falle eines feindlichen Angriffes werden wir
Möglichstes leisten, doch sind alle Zugänge zu den
Kampfgräben nahezu unpassierbar.
Erbitte Sanität für Abtransport der Verwundeten.
Die Meldung ist nicht im Zustand großer Aufregung
verfäßt, alles entspricht traurigst den Tatsachen. Im
Falle Unterstände nicht hergerichtet werden können, wird
morgen bereits Ablösung dringend notwendig.
Ich bitte sofort um Hilfe!
v. Tschurtschenthaler, Oberleutnant.“
Bald nach Eintreffen des Meldegängers in „Alpen-
rose“ ist auch die telephonische Verbindung für kurze
93
Minuten hergestellt. Der Kommandant der Spitzenstel-
lung berichtet noch einmal eingehend — da wird er
abberufen. Meldung aus dem Kampf graben: Die Italiener
kommen 1 Es ist halb elf Uhr nachts.
Alarm!
Kopf an Kopf gedrängt warten die Kaiserjäger aut
den vermeintlichen Angriff. Im unsicheren Licht der
Leuchtraketen glaubten die Horchposten Bewegung in
den feindlichen Gräben wahrzunehmen. Oberleutnant
Tsdiurtschenthaler bleibt eine Weile in der Kampfstel-
lung; dann geht er in die Kaverne zurück und meldet
telephonisch, daß seiner Ansicht nach im Augenblick
kein Angriff zu befürchten sei. Doch mögen sich die
Batterien bereithalten, da wahrscheinlich noch in dieser
Nacht ein Vorstoß der Italiener erfolgen werde.
Viertelstunden verstreichen. Plötzlich blitzen in der
Runde Scheinwerfer auf. Spitze und Hänge des Col di
Lana sind grell beleuchtet. Jetzt liegt die große Gefahr
vor, ein Feuerüberfall könnte auf die menschenüber-
füllten Gräben niedergehen. Oberleutnant Tschurtschen-
thaler ordnet daher an, daß der größte Teil der Be-
satzung wieder in die Deckungen zurückzukehren habe.
Dann bleibt er noch eine Weile draußen, sucht die nur
wenige Schritte entfernte Sturmstellung der Italiener
genauestens ab. Nichts ist zu sehen, was Verdacht er-
wecken könnte. Nun geht auch der Kommandant in die
Kaverne.
Viertelstunden verstreichen. Wieder glauben die Gra-
benposten, einzelne Gestalten vor den feindlichen Grä-
ben zu sehen. Sie fürchten den Angriff nicht, im Gegen-
teil: Nach den Höllenqualen des Trommelfeuers ist der
Kampf Mann gegen Mann geradezu Erlösung.
Halb zwölf. Unbeweglich stehen die Posten an die
Grabenwand gedrückt, in Schneemäntel gehüllt, das Ge-
wehr auf der Deckung, die Augen scharf nach dem Erd-
aufwurf unter ihnen gerichtet, hinter welchem sich viel-
leicht der Feind zum Angriff sammelt. Leise klirren die
Schaufeln der Sappeure. Noch eine Stunde und die Stel-
lung ist wieder kampfbereit. Das Fehlen der Draht-
verhaue fällt nicht allzusehr ins Gewicht. Eh' sich die
Italiener durch den Schnee heraufarbeiten, können Ge-
94
wehr und Maschinengewehr fürchterlich unter ihnen auf-
räumen.
Immer noch haben sich die Kaiserjäger als zähe,
furchtlose Kämpfer erwiesen. Sie werden auch jetzt nicht
versagen. Hinter ihnen steht die Heimat, steht Tirol;
ragen seine schneebedeckten Berge, winken seine Täler,
durch die erstes Frühlingsrauschen mit zartem Anhauch
weht . . .
Da schlittert der Boden, als schlüge von
unten her ein riesenhafter Hammer gegen
den Fels. Der Gipfel öffnet sich, eine ungeheure
Flammengarbe bricht grellgelb daraus hervor. Turmhoch
fliegen Gesteinsmassen, Betontrümmer, Eisenschienen,
Balken . . . Rauch steht als plumpe, langsam weichende
Säule über der in flimmernde Nacht zurücksinkenden
Spitze.
Die Italiener haben ihre Mine gezündet. Statt des
Gipfels gähnt ein riesiger Krater. Die Hänge sind weitum
mit Trümmern und Blöcken besät. Schmutzig, wie ge-
schändet und entweiht ragt der Col di Lana unter der
Vielzahl der weißen Berge auf . . .
Die Kampfstellung ist verschwunden. Kein Laut
kommt von dort her. Die dort waren: 115 Mann liegen
metertief verschüttet. Der Berg ist ihnen zum Grab ge-
worden.
Aber noch immer zögern die Italiener mit dem An-
griff ihrer Infanterie. Ein neuer Hagel von Granaten
und Schrapnells geht auf das Trümmerfeld nieder, Flam-
men zucken durch die Rauchwolken der Einschläge. Man
fühlt sich des so furchtbar getroffenen Gegners nicht
sicher; es ist als glaube man, daß die Toten des Col
di Lana auferstehen und sich dem Feind entgegenwerfen
würden. Aber die Toten erkalten langsam unter Stein
und Erde, sie hören nichts mehr von dem Gedröhn,
das auch jetzt noch um den Gipfel tobt . . .
14.
Als der ungeheure Stoß den Boden trifft, durchzuckt
es die Männer in der großen Kaverne hinter der Gipfel-
stellung mit eisigem Schrecken. Jetzt, jetzt ist alles ausl
Die Wände wanken, Gesteinstrümmer lösen sich von
95
der Decke, fallen auf den Menschenknäuel, der instinktiv
gegen den Ausgang drängt
Aber dort ist alles furchtbar verändert. Felsblöcke
versperren den Weg ins Freie, nur ein schmaler Spalt
ist offengeblieben.
Und durch diesen Spalt dringen Laute, die nicht von
dieser Erde zu sein scheinen. Minutenlang donnern Fels-
massen in die Siefschlucht hinunter, werfen das fürchter-
liche Echo ihrer Höllenfahrt von Wand zu Wand. Gel-
lende Jammerschreie, Hilferufe, übermenschlich laut,
herzzerreißend, mischen sich in das Poltern und Ber-
sten, bis plötzlich ein Feuersturm von unerhörter Wucht
einsetzt und das Schreien und Jammern mit glühen-
dem Rachen verschlingt.
Zurück 1 Zurück 1
Qualm schlägt durch den Spalt am Eingang, gelbe
und rote Flammen krepierender Geschosse flachen, wer-
fen ihren Widerschein auf die blassen, angstverzerrten
Gesichter der Eingeschlossenen. Da und dort fällt einer
um, ringt nach Luft. Die meisten haben die Finger in-
einandergekrampff und beten laut. Oberleutnant von
Tsdiurtschenthaler und seine Offiziere rufen beruhi-
gende Worte in die Masse der Todgeweihten.
Eine halbe Stunde dauert das Trommelfeuer. Dann
verstummt es mit einem Schlag. Gewehrschüsse knattern.
Die Feldwachen des linken Flügels, die der Sprengung
und dem Eisenhagel entgangen sind, wehren sich ver-
zweifelt gegen die anrückenden Feinde. Sie fallen nach
erbittertem Handgemenge bis auf den letzten Mann.
Und die drinnen?
Am Eingang blitzt es auf. Die Talglichter sind
längst erloschen. Furchtbar gellen die Schüsse, die der
Feind durch den schmalen Spalt in die Kaverne abgibt.
Die Lage ist martervoll. Eng an die Wände gedrückt,
warten die Männer auf den Tod. Wenn es den Sieges-
trunkenen da draußen einfällt, Handgranaten herein-
zuwerfen, sind sie alle verloren, ohne auch nur den
geringsten Widerstand leisten zu können.
Da ruft jemand. Ein Italiener ist zum Eingang hin-
gekrochen und fordert die Eingeschlossenen auf, sich zu
ergeben . . .
96
Infanterie-Stellung auf der Kleinen Schönleitenschneid (Sextener Dolomiten)
Infanterie-Stellung auf der Großen Schönleifenschneid (Dolomitenfront)
Fliegerabwehrkanone
Der Kampf um den Col di Lana ist zu Ende. Nach-
dem einige Felsblöcke beiseitegeschafft sind, verlassen
die Reste der 6. Kompanie des zweiten Regimentes der
Tiroler Kaiserjäger das Innere des unseligen Berges.
Mann für Mann werfen sie ihre Waffen in die Sief-
schlucht hinunter, auch jetzt noch dem Soldateneid ge-
treu, den sie geschworen haben. —
Zwei Tage vergehen. Alle Versuche der Italiener,
über den Siefgrat weiter nach Norden vorzustoßen, schei-
tern am zähen Widerstand der Verteidiger. Sie haben
in fast einjährigem Ringen nichts als ein Massengrab
erobert.
Nach diesen zwei Tagen aber geschieht etwas Un-
faßliches: Ein Mann kommt auf allen Vieren durch den
Schnee gekrochen, schleppt sich bis zu den Stellungen
am Monte Sief, bricht dort zusammen. Seine Hände und
Füße sind erfroren, das Gesicht blau und mit Eiskrusten
bedeckt.
Als er wieder zu sich kommt und sprechen will,
dringen nur schauerliche Laute aus seiner Kehle. Er ist
durch die Sprengung hochgerissen worden und achthun-
dert Meter tief in die Sief Schlucht abgestürzt. Zwei Tage
und eine Nacht hat er sich durch den Schnee gekämpft,
hinauf zu den Kameraden, aus der Hölle zurück ins
Leben. Wie das war, kann er nicht schildern. Das Ent-
setzen hat ihn für immer der Sprache beraubt.
Nach vielen vergeblichen Anstürmen stellen die Ita-
liener ihre Versuche, die Haupttäler Tirols auf diesem
Wege zu erreichen, als fruchtlos ein.
In dem großen Geschehen des Krieges bildete der
Kampf um den Col di Lana, dem auf beiden Seiten
zusammen an die 18.000 Menschen zum Opfer fielen, nur
eine erschütternde Einzelheit. Für alle Zeiten aber gähnt
der Sprengtrichter dieses heißumrungenen Berges gegen
den Himmel, als das Grabmal einer Heldenschar deut-
scher Männer, die den Besten ihres Volkes nicht nach-
standen an Treue und Opferwilligkeit. *
*
7
97
Zwischen Himmel und Erde
i.
Tief in die Falten der Täler geduckt, warten die
Dolomitendörfer, die Weiler, die einsamen Höfe auf
den Feuerschlag aus dem Süden, der sie hinwegfegen
soll.
Es ist früh im Jahr und viel Schnee liegt noch auf
den Bergen. Bis zu den schäumenden grauen Wildbächen
herunter reichen noch die Lawinenzungen des letzten
Winters. Und sickerndes Wasser überall, von den Fel-
sen, auf den Hochwiesen, in den Schrunden und Schluch-
ten, in den Talsohlen, wo die ersten Herdenglocken
bimmeln.
Hartes Land der himmelan ragenden Spitzen, Grenz-
land seit eh* und je, Völker trennend, Welten trennend.
Furchtbar weit reicht hier der welsche Süden in den
deutschen Raum hinein, immer ist die große Ader Tirols,
das Pustertal, in Griffweite des Feindes. Jedes Kind
weiß, daß die alten, breiten Häuser aus Urväters Zeiten
nur so lange stehen werden, als es den tapferen Söhnen
des Landes gelingt, keinen Fußbreit Boden zu verlieren.
Aber jetzt, im Frühling 1915, ist das Land arm
an Männern wie noch nie. Von den Haufen, die im
Hochsommer des letzten Jahres singend durch die Täler
zogen, kommt nur hin und wieder ein einzelner zurück,
müd, krank, zum Krüppel geschossen; und berichtet von
den weiten Ebenen Galiziens, von der Sturmflut der
Russenheere, von der Heimsuchung, die Tirol dort er-
fahren hat an seinen besten Söhnen. Für die vertraute
Bergwelt waren sie bestimmt gewesen, jeder von ihnen
hat freudig gedient, weil sein Soldatentum mehr der
Heimat galt, als das Soldatentum der andern Hundert-
tausende des weiten Reiches. Immer waren sie in ihren
Bergen gewesen, ob daheim oder bei den Kaiserjägern
und Landesschützen. Jeden Sonntag hatte es auf den
Schießständen geknallt und der Stutzen war jedem
Manne vertraut, ob er nun Soldat war oder nicht.
Und jetzt ruhen die Besten in der schwarzen Erde
Galiziens, gefallen, aufgerieben in Massenschlachten, zu-
98
sammengeschossen, eh* sie den Feind auch nur richtig
zu Gesicht bekommen hatten. Das Schicksal der Heimat
lag im Würfelspiel der Diplomaten beschlossen, und im
Gebälk der uralten Häuser begann es zu knistern . . .
2.
Krieg!
Aber niemand flüchtet, nirgends ist Hast oder Auf-
regung. Keiner der Männer, die noch da sind, denkt
daran, die heimatliche Scholle zu verlassen. Seit eini-
gen Tagen sind sie vereidigt, tragen Uniformen mit dem
Tiroler Adler am Kragen, sind Soldaten des Kaisers.
Sie haben ihre Offiziere gewählt, mit Zuruf und erhobe-
ner Hand nach Urväterbrauch. Was jetzt geschieht, be-
darf keiner langatmigen Erklärung. Halten, das ist alles.
Kein Fußbreit Heimatboden den Welschen 1
Hilfe kommt. Es ist nicht viel, was da durch die
engen Täler nach Süden marschiert und sich an der
Grenze als ein dünner Schleier ausbreitet. Zunächst
Landsleute, Standschützen, die Bataillone Silz, Passeier,
Imst, Innsbruck, Sillian und Welsberg; dann ein Marsch-
bataillon des Kaiser Jägerregiments Nr. 1, Bayern vom
Deutschen Alpenkorps, Neunundfünfziger, Vierzehner. Es
ist nicht viel angesichts einer Uebermacht, von der man
am besten gar nicht weiß, wie stark sie ist; aber es
sind Männer, wie sie einzig und allein in diesem Kampf
bestehen können, in dem bevorstehenden Ringen zwi-
schen Himmel und Erde, im Krieg um die Welt der
Dolomiten.
Immerhin dauert es Wochen, bis die Dolomitenfront
auch nur als besetzt angesehen werden kann. Noch sind
die Räume weit und breit leer und man klammert sich
in Gedanken ah die „Sperren“, an die alten Werke in
den Tälern, die zum Großteil höchstens den Wert von
— Vogelscheuchen haben. Ihre Geschütze sind bereits
ausgebaut, die Rohre durch Baumstämme ersetzt. Die
schwachen Besatzungen sind sozusagen immer auf dem
Sprung, das „Werk“ zu verlassen; sie bewohnen es nur,
weil der Steinkasten wenigstens ein wasserdichtes Dach
bietet.
7*
99
Am elendesten steht es um den wichtigsten Ab-
schnitt der Dolomitenfront, ja vielleicht der Tiroler Lan-
desverteidigung überhaupt: Um das Sextental. Der
Kreuzbergpaß, über den man von Auronzo her glatt-
weg ins Pustertal marschieren kann, ist unbesetzt. Sie-
ben Kilometer dahinter hat man bei dem Dorfe Moos
eine Talsperre erbaut. Diese Talsperre zwischen den
geräumten Werken Haidegg und Mitterberg besteht, wie
übrigens die meisten Tiroler Befestigungen um diese
Zeit, aus „Stützpunkten“, deren Erbauer blutige Laien
und Anfänger waren: Aufgezogene Holzkasten mit säu-
berlichen Schießscharten, darüber Schrapnellschirme, das
heißt Bretter, mit Erde bestreut. Jede Mulde, mit dem
Infanteriespaten ausgehoben, ist besser als diese Mäuse-
fallen, denen der Luftdruck einer in der Nähe kre-
pierenden Granate den Garaus macht.
So verbringen die Standschützen bange Tage an
dieser „Front“, die keine Front ist. Ihre Offiziere ha-
ben genug Einsicht und blutererbtes Soldatentum in den
Adern, um die Gefährlichkeit dieser Lage voll und ganz
zu erkennen. Aber sie müssen schweigen. Ueberali
stoßen sie auf strenge Befehle, die von gebirgsuner-
fahrenen, nach Karten arbeitenden Kommanden ausge-
geben werden. Die Standschützen fügen sich. Ihnen be-
gegnet der grenzenlose Hochmut des „Fachmannes“, ent-
mutigt ihre gesunde Meinung, häuft Fehler auf Fehler.
Und von Süden her schieben sich die Bataillone der
Armee Nava heran, dieser 4. italienischen Armee, deren
Ziel cs ist, Südtirol durch einen Vorstoß ins Pustertal
rasch und sicher abzuschnüren . . .
Es vergeht eine Woche, eine zweite, und trotzdem
geschieht nichts. Hin und wieder zeigen sich Italiener,
aber sie bleiben auf ihren Bergen, sie schanzen und
graben, als drohe ihnen der Angriff des Gegners.
Die ausgebauten Kanonen von Haidegg, die jetzt auf
dem Innergsell stehen, feuern mitunter auf den Col
Collesei, wo der Feind mit unverständlichem Eifer Stel-
lungen errichtet und Drahtverhaue flicht. Der Baß der
alten braVen Bronzerohre klingt wie ein Festschießen.
Die Italiener antworten gelegentlich auf Fernziele, deren
Harmlosigkeit jedem Laien offenbar ist. Später sind
100
ihnen die Werke Haidegg und Mittelberg willkommene
Ziele. Langsam sacken die beiden veralteten Steinkasten
zusammen. Wo früher Attrappen standen, liegen jetzt
Trümmerhaufen . . .
Ein Gipfel nach dem andern wird von den Oester-
reichem besetzt, ohne daß sie bei diesem mühseligen
Schließen der Kette vor dem Pustertal ernstlich gestört
werden. Je mehr Truppen kommen, desto dichter wird
die Linie, die zu halten man sich erst nach vielem Zwei-
feln entschlossen hat. Der Kamische Kamm wird end-
gültig zur Widerstandslinie erklärt, die Kette westlich
des Kreuzbergpasses erstiegen und befestigt. Und endlich
am 27. Juni, mehr als vier Wochen nach der Kriegs-
erklärung, entschließt man sich zu einem Vorstoß gegen
den Kreuzberg selbst, der mit der kampflosen Be-
setzung des Nordteils dieses weitläufigen Ueberganges
endet.
Ein Wunder ist geschehen! Unaufhaltsam rollt die
Offensive in Galizien weiter, am Isonzo rennen die
Italiener zum erstenmal an, zwei ihrer Armeen um-
klammern Südtirol. Sie sind stark, sie sind überwälti-
gend stark, sie haben Menschen, Geschütze und Material
in Menge. Lavarone-Folgaria muß ihnen aus Selbst-
erhaltungsgründen am Herzen liegen, das Pustertal als
ein entscheidendes Angriffsziel. Graf Cadorna hat den
Vormarsch seiner 4. Armee befohlen. Warum marschiert
sie nicht?
Mehr als an allen anderen Frontabschnitten wird
dieses Zögern des Generals Nava in Hinsicht auf das
Sextental und den Kamischen Kamm Immer ein Rätsel
bleiben. Es war für den Verteidiger das große, das
rettende Wunder im Alpenkrieg. Wenn man auf den
Hochflächen der Lessinischen Bergwelt die Panzerwerke
fürchtete, in den Felszacken der Sextener- und Am-
pezzaner-Dolomiten den erfahrenen Soldaten, der mit
einer Handvoll Gewehren Divisionen zum Stehen brin-
gen konnte — hier am Kreuzberg stand nichts von alle-
dem einem entschlossenen Durchbruchsversuch entgegen.
Und wenn die Standschützen und Landstürmer Mann
für Mann wie Erzengel gefochten hätten, wenn jede
Granate des Verteidigers ein Volltreffer gewesen wäre:
101
nichts hätte die Menschenlawine aufgehalten, die dem
Angreifer zur Verfügung stand. Nicht Stunden oder
Tage, nein, wochenlang dauerte diese Läget Die ge-
wiegtesten Soldaten konnten sich das Verhalten der
Italiener nicht erklären. War es die Furcht vor einem
Hinterhalt oder das Ergebnis einer geschickten Täu-
schung? Die ungewohnte, den Südländer mit Grauen
erfüllende Landschaft oder Cadornas Methodik, die
seine Generale auch dort mit lähmenden Zweifeln er-
füllte, wo der rücksichtslose Vormarsch befohlen war?
Es wird kaum jemals gelingen, diese Fragen ein-
wandfrei zu beantworten. In den ersten Junitagen des
Jahres 1915 marschierte die Brigade Ancona gegen den
Kreuzberg. Rechts und links mächtige Felsgipfel. So
weif der Blick reicht: Berge, Berge, Berge, immer höher,
immer drückender. Irgendwo in der Ferne der Feind.
Die Nächte kalt, naß, nebelverhangen, unheimlich. Da
fliegt ein Soldatenwort auf, geht von Mund zu Mund,
wird zur Ueberzeugung aller: „Um diese verfluchten
Steinhaufen sollen wir kämpfen? Man sollte sie den
Oesterreichern schenken, alle zusammen . .
Vielleicht erklären diese Worte mehr als alle Grübe-
leien über das Wunder der ersten Wochen an der Ost-
front Tirols.
5.
Eine drohend geballte Faust, himmelwärts gereckt
in trotziger Bergeinsamkeit, ein Rebell aus der Tiefe —
so ragt der Patemkofel inmitten einer phantastischen
Landschaft auf.
Brüder stehen ringsum, gewaltige Riesen: die Drei
Zinnen, der Monte Cengia, der Zwölfer, der Elfer, der
Toblinger Knoten, die Dreischusterspitze — und weiter
nach allen vier Windrichtungen Spitzen, Nadeln, Zin-
ken, Wände, Schroten — die Zauberwelt der Sextener-
Dolomiten, das Paradies der Kletterer, der Akrobaten
im Fels und über schwindelndem Abgrund.
Winzig ist alles, was Menschenhände an dieser un-
wirklich heroischen Welt verändert haben. Wie Zwirn-
fäden ziehen die Steige durch Kar und Fluh. Schutz-
102
Kütten und Hotels, Kapellen und Häuser — der ganze
Spielkram in der Tiefe scheint von den Bergriesen nur
geduldet zu sein. Wenn die Staublawine niederfegt, wenn
Steinschlag und stürzende Wasser ihre schreckliche Bahn
nehmen, flüchtet der Mensch da unten zu Gott, zu
Kruzifix und geweihter Kerze; betet, betet mit heißer
Inbrunst, wohl wissend, daß sein Schicksal nur mehr
das Ja oder Nein göttlicher Gnade ist.
Nur einer scheint dieser Landschaft gleichgeartet,
ihrer wert und würdig, ein Held unter stummen riesen-
haften Brüdern: Der Mensch, der hier um seine Hei-
mat ringt, der Dolomitenkämpfer aus den Jahren des
Weltkrieges. Er wächst über alle militärischen Begriffe
hinaus: Was angesichts dieser Gipfel Tat werden kann,
muß freiwillig geschehen, aus glühender Vaterlands-
liebe, aus vollendeter Männlichkeit. Hier gibt es keine
Befehle, hier befiehlt das eigene Herz, der eigene Mut.
Hier gibt es kein Planen, keine Hilfe, keine Hoffnung,
wenn das eigene Können versagt. Der einzelne gilt alles,
die Masse nichts.
Unheimlicher denn überall sonst ist der Krieg in
diesen Bergen. Wer den andern zuerst sieht, schießt.
Wer getroffen wird, ist verloren. Der Berg verschlingt
ihn, weil sein Auge versagt hat. Immer und überall
steht neben dem Kämpfer der Tod. Er setzt mit ihm
Schritt für Schritt den Kletterschuh in die Wand, tastet
mit hastigen Fingern nach dem rettenden Griff, zieht
sich mit letzter Kraft hoch, verschnauft am Felsband,
baumelt am Seil, läßt sich daran in die Tiefe; er schlägt
die Mauerhaken ein, lauscht, an den unbarmherzigen
Stein geschmiegt, auf das drohende Splittern und Stür-
zen von oben, hört ein nahendes Gewitter in der Spitze
seines Pickels sausen. Das Gewehr über dem Rücken,
die Patronen in der Blusentasche — so hängen sie
beide zwischen Himmel und Erde: der Kämpfer und
der Tod, sein unablässiger Begleiter.
Was sonst noch da ist, Geschütze, Minenwerfer,
Bohrmaschine, Dynamit — alles gehorcht dem Mann im
Fels, dem Einzelgänger, dem erfahrenen Kämpfer der
Dolomitenfront. Der Stutzen in seiner Hand kann unter
Umständen fürchterlicher sein als das schwerste Ka-
103
Über des Artilleristen. Vor der niedersausenden Granate
schützt der nächste Stein — die Waffe des Schützen
aber trifft blitzschnell und ohne Warnung. Kühnheit
und Geschicklichkeit triumphieren hier über alle Mittel
der Technik.
Die Männer, die als erste hier für Haus und Hof,
für Heimat und Vaterland kämpfen, sind Standschützen.
Mit der natürlichen Ueberlegenheit ihrer Bergkenntnis,
mit der Sorge um die geliebte Landschaft sind sie die
wahren Führer in diesen bangen Wochen. Was sonst
noch da ist, ein paar Landsturmkompanien, fügt sich
ihnen fast immer vorbehaltlos. Wo aber die Kom-
mandogewalt des höheren Ranges eingriff, wo manch-
mal von fernher Befehle gegeben wurden, da war es
meist vom Uebel. Mancher der Tapferen büßte mit
Leib und Leben diesen Unverstand vorgesetzter Kom-
mandostellen.
Immer wird die Verteidigung der Sextener Dolo-
miten in der drückenden Not vom Sommer 1915 mit
einigen Namen verbunden bleiben, deren Träger zu den
lautersten Kämpfern unseres Volkes zählen: der Stand-
schützen-Unteroffizier Forcher von der Sextener Kom-
panie, der Feldkurat Hosp, der die tollsten Kletter-
touren mitmachte und als einfacher Soldat kämpfte, der
Professor Vinzenz Goller, damals noch Unterjäger, der
es später bis zum Major und Kommandanten der Puster-
taler Standschützen brachte, sie und eine Handvoll Berg-
führer und einfache Bauern brachten das Wunder zu-
wege, einem hundertfach überlegenen Feind Widerstand
zu leisten.
Vor allem aber einer, dessen Soldatenleben nur
wenige Wochen zählte und der trotzdem Unsterblich-
keit errang: Sepp Innerkofler.
Als der Krieg nach seiner Heimat greift, ist es genau
25 Jahre her, daß er durch eine alpinistische Großtat
von sich reden machte. Als Zwanzigjähriger durchkletterte
er 1890 die Nordwand der Kleinen Zinne und bewies
damit, daß einem geborenen Bergführer nichts unmög-
lich ist. Seither hat er viele Hunderte in die Wunder
der Dolomiten eingeweiht; man kennt seinen Namen
104
weit über die Grenzen Oesterreichs hinaus. Er ist der
berühmteste Bergführer, den Tirol hat.
Jetzt ist er fünfundvierzig. Neidlos sieht er, wie
andere, Jüngere neben ihm aufkommen, wie seine Hei-
mat, die Sextener Bergwelt, zur hohen Schule der Alpi-
nistik wird. Immer wieder begegnet er auf den Spitzen,
die er als Erster bestiegen hat, die Leute „von drüben”,
die Führer aus Äuronzo, dunkeläugige Italiener, gleich
ihm tollkühne Kletterer. Er weiß, daß sie einander ein-
mal als Todfeinde begegnen werden, daß sie die Ersten
sind, die aufeinanderstoßen müssen, wenn das Verhäng-
nis, das in diesen Jahren immer als eine drohende
Wolke über den Bergen Südtirols hängt, endlich los-
bricht.
Und nun ist es so weit. Schon im vergangenen Jahr
hatte der Bergführer Sepp Innerkofler wenig Arbeit.
Er saß auf seiner Hütte auf dem Innich-Riedel, oder
er ging allein die geliebten Felsriesen ab und seine
Gedanken waren bei denen, die an seinem Seil ge-
gangen waren. Wo sie nun sein mochten, die vielen
tapferen Männer, deren Freund er sich nannte? Oester-
reicher, Reichsdeutsche, Engländer — der Krieg hatte
wohl keinen von ihnen vergessen. Denn wer Gefahr
und Kampf in den Bergen sucht, der weicht ihnen auch
auf den Schlachtfeldern nicht aus . . .
Jetzt war er selbst Soldat, der Sepp. Montur und
Gewehr hatte man ihm gegeben, mehr brauchte er nicht.
Wie der Kampf hier zu führen war, das wußte er selbst
am besten.
Drei Tage vor Kriegsausbruch steigt er zum letzten
Mal ohne Waffe auf den Gipfel, der ihm einer der lieb-
sten ist: auf den Paternkofel. Als er die Spitze dieses
Riesen erklettert hat und zum hundertsten Mal sein
Reich überblickt, weiß er, daß es das beste wäre, gleich
hierzubleiben. Kaum zimmergroß ist die Fläche, auf
die der Feind seine Granaten hinsetzen müßte, wollte
er eine Patrouille vertreiben, die sich hier eingenistet
hat. Zwei, drei Männer, genügend Patronen und Pro-
viant, und niemand konnte über den Patemsattel gegen
Norden vorrücken!
105
Den Sattel selbst und den andern Torpfeiler drü-
ben, die Drei Zinnen, würden die Welschen wohl sofort
in die Hände bekommen. Trotzdem: sie hatten nichts,
gar nichts gewonnen, solange ein paar gute Schützen
hier auf dem Paternkofel lagen . . .
Aber wem kann er das begreiflich machen? Der
Hauptmann, der die Tandsturmkompanie da unten führt,
hat alle die Spitzen hier immer nur vom Tal aus ge-
sehen. Dr hält es für ausgeschlossen, sich auf einer
Felsnadel zu halten. Dieses Vorurteil mußte sich eines
Tages bitter rächen . . .
Sepp Innerkofler klettert hinunter. Aber die Un-
rast dieser Tage treibt ihn wie ein gefangenes Raub-
tier hinter Gitterstäben umher. Er kann nicht in
der Hütte bleiben, in der Drei-Zinnen-Hütte, die ihm
außer Weib und Kind das Liebste auf Erden ist. Er
muß fort, hinaus, hinauf, muß sehen, wie das ist, was
er sich immer wieder vorzustellen versucht hat: Krieg.
Schon am nächsten Tag ist er auf dem Monte
Giralba, der mächtigen Grenzmauer über der Zsigmondy-
Hütte. Das ist am 22. Mai, dem letzten Friedens tag.
Von den Italienern ist nichts zu sehen, obwohl der
Sepp genau weiß, daß seine Kollegen aus Auronzo
längst den Alpinihut tragen und hier in der Nähe
lagern . . .
Als er zwei Tage später wieder auf der Spitze des
Paternkofel liegt, ist schon Krieg. Das spornt seine
Kräfte zu einer Entfaltung, wie er sie selbst als ganz
junger Mensch nicht kannte. Dreimal in drei Tagen
hintereinander durchklettert er mit den Bergführern
Forcher und Piller gemeinsam die Wände des Patern-
kofel, um das Feuer einer Batterie gegen den Patern-
sattel zu leiten.
Und da erlebt er das grausige Bild, das seine
Phantasie oft und oft ausgemalt hat: Die Italiener
schießen seine Hütte in Brand, indes er hoch oben
in den Felsen hängt und mit pochendem Herzen das
Schauspiel verfolgt. „Während ich dies schreibe, hier
in der Wand des Paternkofel, brennt die Hütte nie-
der und macht einen imposanten Eindruck . . steht
in seinem Tagebuch vom 25. Mai.
106
Abends steht er vor den rauchenden Trümmern.
Sein Anwesen ist nicht mehr. Und trotzdem hat der
Tag sein Gutes: Der Kommandant der Landstürmer hat
endlich eingesehen, daß der Besitz des Patemsattcls
wichtig ist, daß man ihn nehmen kann. Das ist ein
großer Triumph für den schlichten Mann in der Uni-
form eines Standschützen, es gibt ihm neue Kräfte.
Ein paar Stunden schläft er, dann bricht er um
Mitternacht mit seinem Freunde Forcher auf, durchklet-
tert die Wände des Paternkofels wieder, ist um Mor-
gengrauen auf der Spitze.
Die Batterie Teßmann feuert vom Zinnenplateau her
gegen den Sattel. Es ist ein spärliches Feuer, aber
sichere Augen leiten es. Der Feind ahnt nicht, wo das
Augenpaar lauert, das da die Bahn der Granaten be-
stimmt. Er spürt nur die Wirkung und es wird ihm
unheimlich zumute. Jetzt kommt ein neues Ziel dran:
Die italienische Gebirgsbatterie hinter der Kleinen Zinne.
Eilends zerlegen sie drüben die Geschütze, packen auf,
marschieren ab . . .
Alles gewonnen! Die Landstürmer rücken gegen den
Patemsattel vor. Es sind ihrer nicht viele, aber die
Alpini ziehen sich vor ihnen zurück. Leuchtenden Auges
sehen die beiden Männer auf der Spitze das Gelingen
ihres Planes. Nur noch dreihundert Meter durch die
Geröllhalden aufwärts und der Sattel ist genommen!
Da stockt der linke Flügel der schütteren Schwarm-
linie. Tief unten knallen Schüsse aus italienischen Ge-
wehren. Man hört das aus dem helleren Klang. Dieses
Feuer muß vom Fuß des Paternkofel her kommen.
Innerkofler und Forcher klettern blitzschnell tiefer,
gelangen auf ein Band, sehen fast senkrecht unter sich
einige Alpini. Das sind die Schützen, die den Angriff
zum Scheitern zu bringen drohen! Schon liegen die Kol-
ben an den Wangen . . . unten rollt einer beiseite . . .
Schuß auf Schuß knallt von oben. . . die Alpini flüch-
ten . . .
Aber auch die Landstürmer gehen zurück. Vergebens
brüllt ihnen Sepp zu, daß nun kein Widerstand mehr
bestehe, daß der Sattel kampflos genommen werden
kann. Die unten machen kehrt- das Unternehmen ist
107
gescheitert. Ein Befehl, angeblich vom Pustertal gege-
ben, hat diesen Wahnwitz bewirkt.
Tief enttäuscht klettern die beiden Bergführer tal-
wärts. Jetzt müssen die Italiener erkannt haben, wie
wichtig der Paternkofel für sie ist. Jetzt werden sie
die Spitze nehmen. Und eines Tages wird es auch hüben
dämmern, daß man ohne den Paternkofel blind ist,
daß man ihn erstürmen muß. Dann aber — wird es
zu spät sein.
4.
Anstrengende Wochen kommen für den tapferen
Mann und seine unermüdlichen Begleiter. Allmählich
sehen die Berufssoldaten ein, daß an manchen Ab-
schnitten dieser Front ein erfolgreicher Widerstand über-
haupt nur geleistet werden kann, wenn man die Berg-
führerpatrouillen nach der überlegenen Einsicht ihrer
Führer handeln läßt.
Das Ansehen Sepp Innerkoflers wächst von Tag zu
Tag. Er ist unermüdlich; die Liebe zu seiner Heimat,
der Haß gegen die Eindringlinge machen ihn zum Dämon
des Dolomitenkrieges. Zwischen Kreuzberg und den
Drei Zinnen treibt es ihn rastlos hin und her. Er kennt
hier jeden Stein, er braucht keine Karte, um sich in
Nacht und Nebel zurechtzufinden. Sein militärisches Ur-
teil ist so sicher, als hätte er sein ganzes Leben lang
nur Krieg geführt. Wo Gefahr im Verzug ist, wendet
man sich an ihn. Seiner Kühnheit ist es zu verdanken,
daß der Feind sich auf keinem der gewaltigen Gipfel
der Rotwand, des Elfer, Zwölfer und Einser zu be-
haupten vermag.
Aeußere Ehren werden auf den Mann gehäuft, des-
sen Ratschläge noch vor einigen Wochen von den „Fach-
leuten" in den Wind geschlagen wurden. Er wird Ober-
jäger, bekommt drei Tapferkeitsmedaillen. Weit über
die Dolomitenfront hinaus geht der Ruf von seinen
Taten.
Aber ein Schatten folgt ihm, wo immer er auch
sein mag: Der Paternkofel. Er weiß, daß eines Tages
das gefordert werden wird, was er freiwillig tun wollte,
als es noch an der Zeit war. Die Bedrängnis der Ver-
108
teidiger auf dem Zinnenplateau wachst Was am 26. Mai
zum Greifen nahe lag, ist jetzt, Ende Juni, ein kaum
erfüllbarer Traum. Der Feind sitzt schon längst auf
dem Paternkofel, er hat damit beide Torpfeiler des
Sattels in der Hand und es ist nur eine Frage der
Zeit, wann er mit überlegenen Kräften noch weiter nach
Norden, womöglich bis ins Pustertal vorstoßen wird.
Anfang Juli steht Sepp Innerkofler vor dem Haupt-
mann, den er vier Wodien vorher beschworen hat, den
Paternkofel um jeden Preis zu behaupten. Und jetzt
wird ihm eröffnet, daß man ihm die Ehre antun wolle,
den Gipfel zurückzuerobern.
Der Sepp schüttelt den Kopf. Jetzt? Ausgeschlossen.
Er kann fechten, zaubern kann er nicht
Der Offizier geht über alle Einwände hinweg. Die
Spitze ist nur schwach besetzt, kann nur schwach be-
setzt sein. Ein genauer Plan liegt vor . . .
Dieser „Plan" besteht darin, daß zwanzig Mann
den Sattel nehmen sollen, wenn es vorher einer Berg-
führerpatrouille gelingt, den — Paternkofel zu nehmen.
Die Spitze soll vorher beschossen werden. Es drehe
sich, da wahrscheinlich die paar Alpini droben das
Feuer kaum überdauern dürften, eigentlich nur um eine
Besetzung . . .
Der Sepp schüttelt wieder den Kopf. Er weiß, daß
eine bescheidene Deckung aus aufgeschlichteten Fels-
blöcken oder Sandsäcken genügt, um dem Feuer aus
den wenigen Rohren, die zur Verfügung stehen, stand-
zuhalten. Der Raum dort droben ist klein, die Treffer-
wahrscheinlichkeit gering und die zwei oder drei Alpini
sicher nicht von der schlechtesten Sorte. Mit einem
Steinbrocken in der Faust müssen sie sich behaupten
können. Das wisse er.
Aber seine Phantasie hat sich an diesem tollen
Wagnis erhitzt. Denen dort droben Aug* im Aug* be-
gegnen, ihnen die heißgeliebte Spitze entreißen I Dieser
Gedanke ist den Einsatz des Lebens wert. Sepp Inner-
kofler gehorcht.
In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli klettern fünf
verwegene Männer die Wände des Paternkofel hinan:
Innerkofler, sein Schwager Piller, der Bergführer For-
109
eher und die Standschützen Franz von Rapp und Josef
Taibon. Lautlos tasten die Kletterschuhe im Gestein,
suchen die Hände nach Griffen. Tiefe Finsternis um-
gibt sie. Dieser Aufstieg gehört zu dem Kühnsten, was
je Menschen gewagt haben.
Sie erreichen den Leuchskamin, klimmen Meter um
Meter aufwärts. Als es Tag wird, sind sie knapp unter
der Spitze.
Die Batterie Teßmann beginnt zu feuern. Heulend
erreichen ihre Granaten den 2744 Meter hohen Fels-
turm. Maschinengewehre knattern. Ihre Geschoßgarben
pfeifen über die Männer hinweg, die, dicht an die
Wand gedrückt, auf den entscheidenden Augenblick war-
ten. Tief unten geht eine dünne Schützenkette gegen
den Sattel vor. Christian Innerkofler, der Bruder des
Sepp, führt sie. Und hunderte Augenpaare verfolgen
fiebernd das wahnwitzige Schauspiel . . .
Jetzt wird in der Wand unter der Spitze eine gelbe
Flagge sichtbar. Das Feuer verstummt. Eine Gestalt löst
sich von der Gruppe, klettert behende und ohne zu
zögern aufwärts; eine zweite folgt ihr. Es ist Sepp
Innerkofler und sein treuer Begleiter Forcher.
Gellender Schrei: „I Tedesdii — die DeutschenI“
Sepp sieht seine Spitze verändert. Wenige Schritte vor
ihm ist ein kleiner Wall aus Drahtkörben aufgeworfen.
Dort sind siel
Er hebt die Handgranate, wirft. Hört den Aufschlag,
aber die Explosion erfolgt nicht. Reißt an der zweiten
Handgranate, schleudert sie gegen den Wall. Nichts.
Versager.
Als er die dritte heben will, trifft ihn ein furcht-
barer Schlag auf die Stirn. Mitten durch den Kopf das
Blei. Einen Augenblick noch steht der tödlich Getrof-
fene, dann stürzt er hintenüber in die gähnende Tiefe.
Schüsse krachen. Die drei Alpin! hinter der Deckung
haben sich gefaßt, sie feuern auf den auftauchenden
Forcher, treffen ihn in den Oberschenkel. Jetzt ist die
Lage nicht mehr zu retten. Die vier Männer turnen
blitzschnell abwärts. Auch der verwundete Forcher un-
ternimmt es, ohne Hilfe den rettenden Kamin zu er-
reichen. Jim sie her poltern die Steinblöcke, die ihnen
110
die Italiener nactischleudern. Wie durch ein Wunder
bleiben sie unverletzt, kommen unter unsäglichen Mühen
am Fuß des Berges an.
Etwa fünfzig Meter unter der Spitze liegt in einer
steilen Felsrinne die Leiche Sepp Innerkoflers. Dort ist
sie im Absturz hängen geblieben. Zwei, drei Tage sieht
man sie liegen. Dann ist sie verschwunden. Die Italie-
ner haben sie aufgeseilt. Sie sprengen ein Grab auf
der Spitze und betten dort den tapferen Mann, ihren
großen Gegner, zur Ruhe.
Zweieinviertel Jahre liegt der Held der Sextener
Dolomiten in seiner Felsengruft hoch droben auf dem
ragenden Gipfel, den er unzählige Male erklommen
hat. Allabendlich steigen Nebel auf, Bergrauch um die
Ruhestätte eines deutschen Mannes, der seine Heimat
über alles geliebt hatte. Stürme heulen, Schneeflocken
wirbeln um die kühne Felsmauer. Dann kommt der
Frühling wieder und der Sommer, der Herbst, ein neuer
Winter. Immer noch wird um den Besitz der Dolo-
miten gerungen, immer neue Männer folgen dem toten
Helden auf dem Paternkofel in die Ewigkeit. Tag für
Tag dröhnt der Salut der Geschütze, bricht sich sein
Echo an den Wänden. Gewehrfeuer knattert und der
Hilfeschrei Getroffener hallt durch die herbe Luft die-
ser phantastischen Landschaft. Und wenn ein Gewitter
niedergeht, ragt der riesenhafte Sarkophag Sepp Inner-
koflers flammenumlodert in den wolkenschweren Him-
mel . . .
Bis die große Schlacht im Spätherbst 1917 auch die
Dolomiten befreit von der Last des Krieges. Da holen
sie ihn heim, seilen ihn, dessen Hand hunderte Berg-
freunde sicher und stark geführt hat, über die Wände
ab, tragen ihn durch das Tal hinaus auf den Friedhof
von Sexten. Jetzt endlich hat der Rastlose seinen ewi-
gen Frieden gefunden.
Aber sein Name ist Ruhm bis in die fernsten Tage
unseres Volkes . . .
5.
An vielen Stellen der Dolomitenfront wird im Som-
mer 1915 erbittert gekämpft. Die Menschenwoge der
111
4. italienischen Armee löst sich in zahlreiche schwächere
Wellen auf, die da und dort und ohne ersichtlichen
Zusammenhang anprallten, sich blutige Köpfe holten,
zurückgingen, um freilich an vielen Stellen den Versuch
zu wiederholen. Diese Armee, die 74 Bataillone zählte,
traf allenthalben auf kleine Abteilungen, ja winzige
Gruppen und Patrouillen des Verteidigers, ohne auch
nur den geringsten aussichtsreicheren Erfolg zu erkämp-
fen. Immer wieder ist es der harte Gebirgler, der fana-
tische Einzelkämpfer, der hier den Raum beherrscht.
Die Streitkräfte — Standschützen, Bayern vom Leibregi-
ment, Landes- und Kaiserschützen, 14er und 59er —
waren meist unterwegs, um da und dort eine Gefahr
zu bannen, einen schwachen Punkt der Front zu festi-
gen. Geschlossene Verbände gab es kaum. Hier tobte
ein Kleinkrieg, wie er heftiger nicht zu denken ist.
Es zeigte sich immer wieder, daß die Abwehrlinie
nicht überall glücklich gewählt war. Die tüchtigsten
Kenner der Dolomiten standen ja in Rußland oder
waren überhaupt nicht mehr am Leben. So blieb es
den wenigen Hochgebirgssoldaten von Beruf, vor allem
den Landesschützenoffizieren überlassen, die Fehler der
Theoretiker gutzumachen. Ein wesentlich anderes Ge-
sicht bekam die Verteidigung dieses Frontabschnittes,
als Feldmarschalleutnant Ludwig Goiginger das Kom-
mando der „Division Pustertal" übernahm und Oberst-
leutnant Franz von Epp, der Führer der „Leiber", in
die Verteidigung eingriff. Jetzt wurde auch der Mann
vorne angehört, wurden seine Vorschläge verwirklickt.
Deutsche Artillerie, vor allem die Batterie Hauptmann
Rose — dieser tapfere Mann fiel später, gemeinsam
mit seinem Ersten Offizier Leutnant Pape an der Dolo-
mitenfront — nötigte die Italiener zu noch größerer Vor-
sicht, machte sie unsicher und hob die Kampffreudig-
keit der oft in die Prügelknabenrolle gedrängten Ver-
teidiger ganz bedeutend. Denn es kam ja an der ganzen
Alpenfront vorerst darauf an, die erdrückende Heber-
zahl des Feindes aus dem Bewußtsein der eigenen Leute
zu lösdien, sie an der eigenen Tat zu steigern und keine
Verzagtheit aufkommen zu lassen. Monate konnte es
noch dauern, bis Rußland niedergezwungen sein würde.
112
10-cm-Panzerhaubifze auf dem Innergsell, Sexfener Dolomiten
Panzerhaubifze aus dem Werk Mltterberg, Sexfen-Tal
In dieser Zeit war Verstärkung nur in bescheidendstem
Ausmaß zu erhoffen.
Was im Dreizinnen-Gebiet bittere Tatsache ist und
auch später durch den Heldentod Sepp Innerkoflers
nicht mehr gutgemacht werden kann, das gilt auch für
den Abschnitt Schluderbach: Die theoretische Festlegung
einer „Abwehrlinie“ hat hier gänzlich versagt. Landro
und Plätzwiese, die beiden Sperren, die einen Feind-
einbruch durch das Rienz- und Alt-Pragsertal verhin-
dern sollen, sind veraltet und haben höchstens den
Wert munitionsverschlingender Zielscheiben. Der eigent-
liche Sperrblock dieser wichtigen Zugänge zum Pustertal,
der Monte Piano, wurde schon von den Italienern be-
setzt und scheint unwiderbringlich verloren.
Denn dieser mächtige Bergstock, dessen Steilwände
oben unvermittelt in ein ausgedehntes Plateau über-
gehen, ist leicht zu halten. Durch seinen Nordabsturz —
der Monte Piano ist Grenzberg — haben die Landes-
schützen einen Steig gebaut, was den Alpin! von der
Gegenseite sehr wohl bekannt ist. Diese natürliche Mauer
in Massen zu durchklettern, scheint ausgeschlossen. Die
Hochfläche, welche ein mächtiger Felsenriß in zwei Teile
teilt, kann aber nicht wie ein Dolomitenturm von einer
Handvoll Schützen gehalten und ausgebaut werden; sie
braucht einen ziemlich bedeutenden Kräfteeinsatz.
Alle diese Erwägungen führen zu dem zwingenden
Schluß: Mag der Monte Piano noch so wichtig sein —
da er nun einmal verloren ist, wird man auf ihn ver-
zichten müssen; selbst auf die Gefahr hin, daß die ar-
beitsamen Italiener eines Tages den ganzen Block zu
einer unüberwindlichen Festung ausbauen, mit schweren
Kalibern versehen und damit die Grundlage für einen
Stoß ins Pustertal schaffen.
Dennoch muß der Versuch gemacht werden. Feld-
marschalleutnant Goiginger überzeugt sich persönlich von
der Wichtigkeit, den Monte Piano wieder in die Hand
zu bekommen. Das Verfahren kann nie in einem plan-
mäßigen Angriff bestehen, sondern nur im Ueberfall.
Der Feind auf der Hochfläche darf nicht ahnen, was
ihm bevorsteht, weil er sich sonst in schlechthin un-
überwindlicher Stellung befände.
8
113
Nur Männer von höchstem Mut sind imstande, eine
so verzweifelte Unternehmung zu wagen. Sie müssen
darauf gefaßt sein, nach einem vollen Erfolg tagelang
das Artilleriefeuer des Feindes über sich ergehen zu
lassen, und das auf einer kahlen Hochfläche, die wenig
Deckung bietet, auf der es keinen Rückzug gibt.
Oberleutnant Bernhard macht sich erbötig, mit sei-
nen Landesschützen den Ueberfall auszuführen. Eine
Gruppe Standschützen der Bataillone Imst und Toblach
meldet sich freiwillig, um dabei mitzuwirken. Von Nor-
den, über den schon erwähnten Steig, und von Südosten
her, soll die gewaltige, 2324 m hohe Felsenbühne gleich-
zeitig erstiegen werden.
In der Nacht vom 6. zum 7. Juni machen sich die
beiden Gruppen auf den Weg. Schritt für Schritt geht
es aufwärts, wohl auf gebahnten Pfaden, aber ständig
unter der Gefahr, vom Feinde gehört und durch ab-
gelassene Steinblöcke schon unterwegs erschlagen zu
werden.
Als das erste Morgengrauen einsetzt, erreicht die
Südostgruppe mit Oberleutnant Bernhard an der Spitze
den Felsrand. Tiefer Schnee liegt noch auf der Hoch-
fläche, es ist kalt und neblig. Ob die Nordgruppe in
ähnlicher Weise Glück hatte, wo die Italiener sind und
wie das Unternehmen sich weiter entwickeln soll, weiß
niemand.
Dennoch vorwärts! Eine schüttere Schwarmlinie wird
gebildet und noch einmal darauf hingewiesen, daß jedes
Zögern unzweifelhaft zur Vernichtung aller führen muß.
Schritt für Schritt geht es durch den Schnee. Der
Nebel nimmt die Sicht, aber er trägt auch den Schall
besser als trockene Luft. Weit und breit ist nichts zu
hören . . .
Um die gleiche Zeit versucht die Nordgruppe, den
Plateaurand zu erreichen. Vorsichtig erklimmt sie Kehre
um Kehre des steilen, vereisten Fußsteiges, ist schon
fast oben. Da stürzt einer. Die Schaufei, die er mit-
schleppt, klirrt auf den Boden, poltert die Wände hin-
unter.
Im nächsten Augenblick gellen von oben die Alarm-
schüsse der italienischen Posten. Ein winziger Zufall
114
droht den ganzen Plan zum Scheitern zu bringen. Die
Männer drücken sich an die Wand, lauschen atemlos
auf das wütende Feuer über ihnen. Sie sind im „toten
Raum“, sie können kaum getroffen werden; aber an
ein weiteres Vordringen ist nicht zu denken.
Inzwischen ist auch Oberleutnant Bernhard an den
Feind geraten. Schüsse krachen, dunkle Gestalten tau-
dien im Nebel auf . . . Alpini. Sie wehren sich mit
äußerster Entschlossenheit, sie sind sich der Gefahr be-
wußt, in der sie schweben.
Trotzdem gewinnen die Angreifer rasch an Raum.
Ihr rechter Flügel dringt unter ständigem Feuerwechsel
bis auf den flachen Kamm des Plateaus vor, während
der linke in ein wildes Handgemenge gerät. Hier steht
der Kommandant der italienischen Kompanie auf dem
Monte Piano, der Capitano Graf Pluri, ein verwegener
Draufgänger. Solange ihn seine Leute in ihrer Mitte
wissen, weichen sie nicht. Mit Kolben und Bajonett, Tot-
schläger und Handgranate wehren sie sich verzweifelt
gegen den anstürmenden Feind, versuchen, sich auf dem
Kamm festzuklammern.
Da stürzt Graf Pluri zusammen. Eine Kugel hat
ihn tödlich getroffen. Die Alpini ziehen sich zurück.
Als bald darauf auch Schrapnells von der Strudelalpe
kommen, geben sie das Spiel auf. Der Monte Piano
ist in der Hand der Oesterreicher.
Jetzt aber setzt jene schwere Zeit ein, die jeder
Kenner dieses Geländes vorausgesehen hat: Der Nebel
hebt sich, wie eine Bühne liegt der Monte Piano vor
den Blicken der italienischen Beobachter auf den ge-
waltigen Spitzen ringsum. Von den Drei Zinnen und
der Cristallogruppe her kann man auf der Hochfläche
jede Maus sehen. Es dauert auch nicht lange bis die
ersten Granaten anheulen und Stein und Schnee gegen
den Himmel spritzen.
Den ganzen Vormittag über liegen die Eroberer des
Monte Piano hinter kleinen, in Hast und Eile aufge-
richteten Steinriegeln und lassen das Feuer der italieni-
schen Batterien über sich ergehen. Sie haben den gan-
zen Berg in der Hand, beide Hochflächen, die südliche
und die nördliche. Wird es aber auch möglich sein,
8*
115
dieses weitläufige Gelände zu halten? Es ist klar, daß
die Italiener den Felsblock mit der mächtigen Platte
wenigstens von ihrer Seite, von Süden her belagern
werden, daß jeder Nachschub über den Nordteil und
durch die Bodensenke erfolgen müßte. Ueberdies wird
man kaum soviel Kräfte auftreiben, um die größere
Südhochfläche zu halten. Man muß sich mit dem Nord-
teil begnügen.
In den ersten Nachmittagsstunden gehen die Schützen
durch den Wasserriß zurück und beginnen sofort mit
dem Bau einer Stellung. Der Boden ist nicht so hoff-
nungslos felsig, wie sie gefürchtet hatten. Unter einer
starken Humusschichte liegen Steinplatten und Blöcke,
die man aus ihrem Gefüge reißen kann. Als die Nacht
einbricht, ist bereits ein seichter Schützengraben fertig.
Das Abschnittskommando betreibt den Ausbau des
Monte Piano mit größter Beschleunigung. Da der Feind
sich mit Artilleriefeuer begnügt und auch am zweiten
Tag nach der Wegnahme des so wichtigen Berges kei-
nen Gegenstoß versucht, wird der häufige Nebel be-
nützt, um einen leichten Drahtverhau zu errichten.
Es dauert eine Weile, bis die Italiener an die Wie-
dereroberung des Monte Piano schreiten. Sie tun das
mit der ihnen zu Kriegsbeginn eigenen „Gründlichkeit",
indem sie schwere und schwerste Batterien voranschaf-
fen, ungeheure Munitionsvorräte anhäufen und Men-
schenmassen bereitstellen. Dieser Zeitverlust gibt dem
Verteidiger die Möglichkeit, seine Stellung in halbwegs
erträglicher Weise auszubauen und sogar eine Gebirgs-
kanonenbatterie auf den Berg zu bringen. Teile der
X. Marschbataillone der „Hessen" und der „Rainer",
Landesschützen und Standschützen waren später zwei
Jahre hindurch die heldenmütigen Verteidiger des Monte
Piano, auf dem ähnliche Großkämpfe tobten, wie auf
dem Pasubio: Großkämpfe in einer Höhe und unter
Schwierigkeiten aller Art, die zu überwinden man vor-
her für unmöglich gehalten hätte.
6.
Der Raum, in welchem sich die Kämpfe an der
Dolomitenfront abspielen, ist verhältnismäßig klein, er
116
wird aber durch das groteske Gelände zu einer Viel-
zahl von Kampfplätzen wie fast überall an der lang-
gestreckten Alpenkette. Das führt zu einer Zersplitte-
rung der Kräfte auf Seite des Angreifers, nicht weniger
aber zu unvorstellbaren Schwierigkeiten in der Abwehr.
Da und dort hängt ein winziges Häuflein tapferer Män-
ner in den Wänden und kämpft verzweifelt um eine
Felsnadel, um einen liebergang, um ein Tor, dessen
Verlust die ganze Front zum Einsturz bringen kann.
Diese Posten aber wollen versorgt sein, sie brauchen
Nahrungsmittel, Patronen, Sandsäcke, ihre Verwundeten
müssen bei Nacht über Klettersteige in Sicherheit ge-
bracht werden. Manchmal ist es ein Verschlag Munition,
ein Maschinengewehr, von deren rechtzeitigen Eintreffen
das Schicksal dieser schwachen Menschenmauer abhängt.
Anfangs versuchen die Italiener, durch die engen
Täler vorzudringen und damit den Auftrag des Grafen
Cadorna an seine 4. Armee, das Erreichen des Puster-
tales zu erfüllen. Schon am 9. Juni gehen vier Batail-
lone von Cortina aus gegen Son Pauses vor, um einer-
seits das Rau-Tal zu gewinnen, andererseits über Fanes-
tal und Fanesjoch die Dolomitenfront zu durchbrechen.
Ihre Angriffe scheitern an dem tapferen Widerstand
zweier Kompanien des X. Marschbataillons der Vier-
zehner, die gemeinsam mit einer Kompanie des Deut-
schen Alpenkorps und einzelner Standschützenabteilun-
gen keinen Fußbreit Boden verlieren.
Diese und andere bittere Erfahrungen zwingen die
Italiener, nunmehr immer größere Höhen, schwierigere
Uebergänge für einen erhofften Einbruch zu suchen.
Ihre Alpin! sind geschickte Kletterer, sie haben eine
Reihe vorzüglicher Bergführer zur Verfügung. Das Kraft-
zentrum Cortina d'Ampezzo, unverteidigt in ihre Hand
gefallen und durch das Boite-Tal leicht zu erreichen,
macht es ihnen möglich, mit allen technischen Mitteln
an die schwere Aufgabe heranzugehen. Und was ein-
zelne ihrer Generale aus Angst, in eine Falle zu geraten,
streng vermeiden, verfolgen andere mit um so größerer
Beharrlichkeit: Die dünne Kette der Verteidigung ir-
gendwo zu zerreißen.
Als wahre Turmkolosse der Dolomitenfront bauen
U7
sich westlich von Cortina die drei Tofanen ans Es
scheint fast undenkbar, über diese Felsenwildnis hinweg
den ersehnten Einbruch nach Norden zu finden, undenk-
bar auch, sie zu verteidigen. Einzelne Bergsteiger haben
in Vorkriegszeiten hier die Befriedigung ihrer kühnsten
Gipfeltraume gefunden. Wenn aber der Scharfschütze,
hinter sicheren Deckungen geduckt, auf jede Handbreit
warmen Lebens lauert, wird der Kampf in diesen Wän-
den fast zum frevelhaften Spiel mit dem Dasein.
Während der Verteidiger die dringendsten Locher
seiner Abwehrfront schließt, erklettern Alpinipatrouillen
die Tofanen II und III. Der Anstieg von Süden und
Osten ist leichter zu unterstützen, als ein gleiches Unter-
nehmen von Norden und Westen. Was immer der Ver-
teidiger benötigt, muß er angesichts des Feindes durch
das wilde Travenanzes-Tal heranschaffen. Als einziger
Basispunkt dient ihm hier die Wolf-Glanvell-Schutzhütte,
auch sie ständig von den Granaten der italienischen Ge-
birgsgeschütze bedroht.
Dort liegt gegen Ende Juli 1915 eine Kompanie des
2. preußischen Jägerregimentes. Des Hochgebirgskrieges
ungewohnt, sollen diese kampferprobten Männer künftig-
hin den Abschnitt Travenanzes halten. Noch sind Bayern
droben in der Fontana-negra-Scharte, zwischen der To-
fana di mezzo im Norden und der Tofana di Roces im
Süden, einem der wüstesten Punkte der Dolomitenfront.
Aber jetzt, am 19. Juli, ist Ablösung befohlen: Der Zug
des Leutnants Grosse, 60 Mann stark, macht sich zum
Aufstieg auf diesen verlorenen Posten bereit.
Der „Weg" besteht aus einer gewundenen Linie, die
durch Steinmänner markiert ist. Er führt steil aufwärts
durch ein endloses Kar, näher und näher heran an eine
mächtige, zweihundert Meter hohe Felsstufe. Links und
rechts stehen vor den erstaunten Männern die phantasti-
schen Pyramiden der Tofanen, deren Häupter nur hin
und wieder aus den ziehenden Nebelschwaden tauchen.
Endlich ist die Felsenstufe erreicht. Aber hier be-
ginnen erst die Schwierigkeiten: Dicht am Fuße der To-
fana di Roces führen Eisenleitern in das Fontana-Negra-
Kar, müssen von den schwerbepackten, dieses Geländes
unkundigen Soldaten durchstiegen werden. Und dann
118
geht es weiter, immer tiefer hinein zwischen den Fels-
kolossen, die bis zu siebenhundert Meter über das Kar
aufragen und vom Feinde besetzt sind. Jenseits der
Scharte erst ist die „Stellung“, von rechts, links und
vorne eingesehen, von drei Seiten her umklammert und
überhöht. Jeder der sechzig Männer fühlt, daß ein Wun-
der geschehen müßte, sollen sie diesen Hexenkessel heil
verlassen. Aber sie sind Soldaten, die aus der Hölle
der Westfront kommen, sie sind von einer Härte und
Zuversicht, die einen erschauern läßt.
Die Ablösung ist vollzogen. Den Bayern gelingt es
gerade noch, die Felsenstufe gegen das Travenanzestal
zu erreichen, eh* der Morgen graut. Und droben auf der
Fontana-negra-Scharte kauern sechzig preußische Jäger,
mitten im Feind, eingeschlossen wie in einer Festung.
Denn solange es licht ist, kann niemand das Kar in
ihrem Rücken durchschreiten, ohne den Gewehren der
Alpini auf den Tofanen zum Opfer zu fallen.
Leutnant Grosse weiß, was kommen wird: Der Feind
wird so lange von oben in diese „Stellung“ hinein-
feuem, bis er den Verteidiger ausreichend geschwächt
glaubt. Dann folgt der Angriff von Süden her gegen
die Scharte. An Verstärkung oder Hilfe ist nicht zu
denken. Man muß von Glück sagen, wenn es einzelnen
Trägem gelingt, Ersatz für die verschossene Munition
nachzuschaffen.
Die Preußen haben Zielfernrohrgewehre mit. Die
besten Schützen des Zuges bedienen sie. Es ist wichtig,
den Alpini derartige Verluste beizubringen, daß sie den
Ring nicht enger ziehen, daß sie ihre Uebermacht nicht
zu einem raschen Vorstoß ausnützen.
Als die Bergschatten schwinden, beginnt es zu knal-
len. Einzelne Schüsse krachen aus den Wänden der
Tofanen, Salven kommen von vorne. Die Preußen ant-
worten. Nur ein paar Scharfschützen feuern, aber sie
feuern mit tödlicher Sicherheit. Immer wieder gellen
Aufschreie Getroffener, lösen Körper sich aus den Wän-
den, stürzen in die Tiefe. Ein schauerlicher Zweikampf,
der den ganzen Tag über währt. Aber das Glück ist
den Tapferen auf der Fontana-negra-Scharte hold: Sie
haben an diesem ersten Tag nur zwei Leichtverwundete
119
und es gelingt ihnen, in der Nacht einige tausend Patro-
nen heraufzuschleppen.
Der nächste Morgen bringt den Italienern eine pein-
liche Ueberraschung: Auf einem Felsenband in der Wand
der Tofana di Roces sitzen vier preußische Jäger und
feuern von diesem mächtig überhöhten Punkt unent-
wegt in die Tiefe. Die Älpini auf der gegenüberliegen-
den Tofana di Mezzo suchen krampfhaft nach den ver-
wegenen Schützen, die der Angriffsgruppe in der Scharte
schwere Verluste beibringen. Ihre Geschosse schlagen
klatschend in die Felsen, zerspritzen an dem harten
Gestein. Die Vier feuern weiter. Sie haben eine kleine
Brustwehr gebaut und sind entschlossen, bis zur letzten
Patrone ihren Posten zu behaupten. An diesem Tage
verlieren die Jäger zwei Tote und, vier Verletzte.
Eine kurze Sommernacht geht vorüber. Als die To-
fanen wieder im Licht des aufsteigenden Gestirns er-
glühen, bleibt es hüben und drüben totenstill. Umsonst
suchen die scharfen Augen der Fernrohrschützen nach
einem Ziel, umsonst wartet das Ohr auf den Knall
eines Schusses in den Wänden. Die Alpini sind wie ver-
schwunden. Selbst als der Verteidiger, sie zu reizen,
dorthin feuert, wo sie am Vortag lagen, antwortet nur
rollendes Echo von den schwindelnd hohen Felsmauem,
Die Jäger lassen sich nicht täuschen. Gewehr und
Patronen griffbereit, kauern sie in ihrer kleinen Burg
zwischen aufgeschichteten Steinblöcken und warten. Es
dauert nicht lange. Plötzlich kracht es so verrückt von
allen Seiten her, daß der Talkessel pausenlos rollt und
donnert. Maschinengewehre knattern, Handgranaten kom-
men über die Wände heruntergeflogen und krepieren
aufkrachend unten im Kar. Ein wahrer Höllentanz, aber
der Feind zeigt sich nicht. Er liegt gut verschanzt ringsum
und hofft, daß dieser Munitionsaufwand endlich doch die
Widerstandskraft des Verteidigers brechen wird.
In wenigen Minuten schlagen zehntausende Geschosse
in die Abwehrstellung. Das Feuer ist so übermächtig,
daß man glaubt, es müssen Geller und Steinsplitter
genügen, um das Häuflein der Verteidiger auszulöschen.
Da verstummt wie mit einem Taktschlag der Lärm. Im
nächsten Augenblick wird es in der Scharte lebendig. Die
120
Alpini gehen vor. Blitzschnell turnen sie von Steinblock
zu Steinblock, immer nur für Sekunden auftauchend,
eine Welle, die scheinbar unaufhaltsam weiterrollt
Die Stille unmittelbar nach dem Feuerschlag spannt
ihre Hoffnungen aufs höchste. Es scheint, als ob wirk-
lich alles Leben hinter den Steinriegeln der Deutschen
ausgetilgt wäre.
„Avanti, Savoial"
Da gellt ein Schuß, dem ein wilder Aufschrei folgt.
Und schon brodelt hageldicht ein Abwehrfeuer, wie die
Alpini es noch nicht erlebt haben; schlägt in ihre Reihen,
mäht sie zu Dutzenden nieder. Der Angriff stockt, er
löst sich in eine wütende Schießerei hüben und drüben
auf. Die Verluste der Italiener sind furchtbar. Zwei
Bataillone haben sie zum Sturm angesetzt und die Zahl
ihrer Toten und Verletzten entspricht einem solchen
Massenaufgebot in dieser räumlichen Enge. Stundenlang
bleiben die Angreifer im Vorfeld liegen, unfähig, sich zu
rühren ohne aufs neue schwere Einbußen zu erleiden.
Leutnant Grosse aber kann dieses Erfolgs nicht froh
werden. Zuviel Patronen hat die Abwehr verschlungen.
Wenn der Feind seinen Versuch ohne Rücksicht auf wei-
tere Opfer zwei-, dreimal wiederholt, wird er schließ-
lich auf einen wehrlosen Gegner treffen. . .
Hilfe muß her, vor allem in Gestalt einer ausgiebi-
gen Munitionsmenge. Dazu braucht es eine Meldung in
die Wolf-Glanvell-Hütte. Freiwillige, vor!
Alle wollen gehen. Leutnant Grosse wählt zwei Mann
aus, drückt ihnen die Hand zum Abschied.
Es ist keine Zeit zu verlieren. Nur im Vertrauen auf
ihr Glück rennen die beiden Meldegänger aufwärts gegen
die Scharte. Nach ein paar Schritten bricht der eine tot-
getroffen zusammen. Aber den zweiten sehen die Kame-
raden die Höhe erreichen und dahinter verschwinden.
Er hat das Aergste überstanden und ein Aufatmen froher
Hoffnung begleitet ihn. Daß auch dieser zweite bald
darauf sein Leben unter den Kugeln der Alpini in den
Tofana-Wänden aushaucht, wissen sie nicht . . .
Am frühen Nachmittag wiederholt sich das grausame
Spiel vom Morgen: Wieder prasselt ein rasendes Feuer
auf die Stellung der Preußen nieder, wieder geht der
121
Feind zum Angriff vor, freilich nur, um haufenweise
zu fallen. Aber so ganz erfolglos ist es diesmal nicht.
In der Wand der Tofana di Roces beginnt es zu wim-
meln, Dutzende Alpin! rücken an, um die vier Jäger,
die dort noch immer liegen, als die gefährlichsten Geg-
ner niederzuringen.
Der Kampf, der sich angesichts der Kameraden in
der Tiefe dort oben abspielt, ist schauerlich. Bis zur
letzten Patrone, dann mit einigen Handgranaten, schließ-
lich mit den Steinbrocken ihrer Deckung wehren sich die
tapferen Preußen verzweifelt gegen die Uebermacht. Von
der Scharte her greifen Scharfschützen ein. Wen sie
treffen und auch nur leicht verletzen, der stürzt unent-
rinnbar hunderte Meter tief über die Wände ins Kar
hinunter. Doch das alles kann die Katastrophe nur ver-
zögern, nicht aufhalten. Als der letzte dieser vier Helden
verblutend auf dem Felsband liegt, sind die Italiener
im Besitze eines unschätzbaren Vorteils: Der Verteidiger
hat seine beherrschende Flankenstellung verloren.
Auch sonst wird seine Lage immer hoffnungsloser.
Nach diesem zweiten Angriff sind nur mehr dreißig
Kampffähige in der Fontana-negra-Scharte. Leutnant
Grosse ist an der Schulter verwundet, der Vorrat an
Schießbedarf in beängstigender Weise zusammenge-
schmolzen. Wenn der Feind ein drittes Mal vorgeht,
gibt es keine Rettung mehr . . .
7.
Langsam rücken die Bergschatten weiter, klettern
die gegenüberliegende Wand hinan. Noch ist es so weit
Tag in der Tiefe, daß man die Felsenburg der Preußen
unterscheiden kann, während die unten kaum mehr
Schußlicht haben. Jetzt setzt der Endkampf um dieses
so heldenmütig verteidigte Stückchen Front ein.
Ein drittes Mal lassen die Italiener ihr Feuer auf
die stäubenden Steinriegel niederwettern. Noch während
ihre Maschinengewehre aus den Tofana-Wänden bellen,
kriechen die Alpin! näher und näher an die Stellung der
Jäger heran. Spärlich nur krachen Gewehrschüsse, der
Verteidiger scheint seinen Schießbedarf fast erschöpft
122
zu haben* Nach einem Sprung vorwärts kauern die An-
greifer dicht vor den Deckungen der Preußen* Noch
ein Anlauf und das Ziel ist erreicht*
Da wird ihnen ein fürchterlicher Empfang zuteil:
Das Abwehrfeuer verstummt plötzlich, aber statt dessen
fliegt ein wahrer Hagel von Handgranaten hinter den
Deckungen hervor, krepiert mit höllischem Schmettern
im aufspritzenden Gestein* Die Alpini müssen zurück*
Sie lassen wieder eine Menge Toter und Verletzter auf
dem Platze. Trotzdem ist nicht daran zu zweifeln, daß
das der letzte Kraftaufwand des Verteidigers war.
Leutnant Grosse, nun auch durch einen Beinschuß
verwundet, gibt seine letzten Befehle. Von den sechzig
Leuten seines Zuges sind nur mehr sechzehn übrig* Alle
zusammen verfügen noch über 30 Gewehrpatronen und
einige Handgranaten. Der Kampf wird bis zum letzten
Schuß geführt.
Das Ende läßt nicht lange auf sich warten. Wieder
sieht man einzelne Gestalten vorrücken, aber das Ab-
wehrfeuer ist kaum der Rede wert* Da und dort schlägt
eine Handgranate ins Geröll. Dann schweigt der Ver-
teidiger gänzlich.
Ist das eine List? Wird nun plötzlich ein neuer
Feuerwirbel losgehen? Die Italiener kommen vorsichtig
näher. Kein Schuß* Dagegen hört man hinter den Stein-
wällen einzelne dumpfe Schläge: Die preußischen Jäger
hauen die Schäfte ihrer Gewehre ab, zerschlagen die
Verschlüsse.
Und dann ergeben sie sich, sechzehn an der Zahl,
ein Viertel dessen, was drei Tage vorher mit tapferer
Zuversicht in diesen Hexenkessel der Fontana negra
heraufgestiegen ist; keiner, der nicht aus einer Wunde
blutet; keiner, der nicht bereit gewesen wäre, mit den
bloßen Fäusten weiterzufechten, wenn sein Leutnant es
befohlen hätte . • .
Sie gehen von ihrem verlorenen Posten, mitten durch
die Reihen der Alpini, die ihre Hände unwillkürlich grü-
ßend an den Hutrand heben . . *
Was soll jetzt geschehen? Wird nun der Feind un-
aufhaltsam vordringen, hinunterfluten ln das Travenan-
123
zes-Tal und damit den Hauptteil der Ampezzaner Dolo-
miten in die Gewalt bekommen?
Die Alpini zögern nicht lange. Sie machen sich sofort
daran, gegen die eigentliche Scharte aufzusteigen und
dann das große Kar zwischen den Tofanen zu durch-
queren. Es ist allmählich dunkel geworden.
Da krachen Schüsse, poltern die dumpferen Schläge
krepierender Handgranaten: Neue Verteidiger stehen auf
der Fontana negra, Jäger vom Deutschen Alpenkorps!
Keine Nachricht hat sie drunten in der Wolf-Glan vell-
Hütte erreicht, der tapfere Meldegänger des Leutnants
Grosse ist ja unterwegs gefallen; aber der Gefechtslärm
hat sie Schlimmstes vermuten lassen. Und nun sind sie
im Anstieg gegen die Scharte auf den Feind gestoßen,
wissen, daß der Zug Grosse überwältigt ist. Das spornt
sie zu äußerster Anstrengung.
In einem nächtlichen Gefecht zwischen Steinblöcken
und Schotterhalden werden die Italiener Schritt für
Schritt zurückgedrängt. Scheinwerfer versuchen hin und
wieder, von der Tofana di Fuori herunter das Kampf-
bild in der schauerlichen Tiefe aufzuhellen. Sie drehen
bald wieder ab, weil es nicht sicher ist, ob sie nicht
den angreifenden Deutschen das so dringend erwünschte
Schußlicht spenden. Das pausenlos rollende Echo macht
es unmöglich, zu unterscheiden, wo der Feind, wo die
Eigenen stehen.
Doch eines ist sicher: Der Vormarsch gegen Tra-
venanzes zerschellt an der Entschlossenheit der preußi-
schen Jäger. Sie kommen nicht mehr bis zur ehemaligen
Stellung jenseits der Scharte, aber sie erreichen die
Scharte selbst und halten sich dort in erbitterter Gegen-
wehr.
Diese zähe Tapferkeit und die schweren Verluste
in den letzten Tagen zwingen die Italiener, eine Atem-
pause zu machen. Der wüste Felsenkessel dröhnt wohl
noch oft unter den Schlägen der Vernichtung, aber Vor-
stöße werden nur mehr versuchsweise unternommen.
Erst nachdem das Deutsche Alpenkorps im Oktober
1915 abgezogen wird, beginnt die allerschwerste Zeit „
für die Verteidiger der Fontana negra. Kaiserjäger und
124
Landesschützen sind es, die diesen aussichtslosen Kampf
bis zum bitteren Ende durchfechten. Es dauert aber
noch ein volles Jahr, eh' Scharte und Kar den Ita-
lienern in die Hände fallen und einer der schrecklich-
sten Abschnitte der Alpenfront zerbrochen ist; freilich
nur, um knapp dahinter in neuer, grimmiger Form
wieder aufzuerstehen. Denn als es den Angreifern ge-
lingt, in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli 1916 sich
der Fontana negra entgültig zu bemächtigen, war an
einen strategischen Erfolg in der Richtung Pustertal
nicht mehr zu denken.
8.
Dieser Krieg zwischen Himmel und Erde, der Kampf
in den Dolomiten, steht in der Geschichte einzig da.
Wenn auch hier alle Mittel moderner Technik einge-
setzt wurden, so war es doch immer ein urzeitliches
Ringen Mann gegen Mann, ein Ringen, in das die Natur
sich mit übermächtigen Gewalten mischte und das Wüten
der Menschen untereinander zu einem großartigen Hel-
denlied steigerte.
Als der Winter, dieser erste Winter an der Alpen-
front, einbricht, hält man es kaum für möglich, hun-
derte und tausende von Kämpfern in diesen horstähn-
lichen Stellungen zu belassen. Es gab vor dem Weltkrieg
in den Dolomiten keine Winter-Alpinistik. Auch den
kühnsten Söhnen der Berge schien es unvorstellbar, wie
man auf diesen Nadeln und Zinken, Mauern und Tür-
men die endlosen, von Schneefall, Kälte und Sturm
beherrschten Monate überdauern sollte. Die einzige
Lösung schien dahin zu gehen, die schwierigsten Ab-
schnitte einfach zu räumen und sie im Frühjahr aufs
neue zu besetzen.
Dem aber trat ein Hindernis entgegen, das kein
Mut, keine Aufopferung beseitigen konnte: Die Italiener
waren fast überall im Besitz der Südhänge, während
der Verteidiger im Norden stand. Der zeitliche Unter-
schied der Schneeschmelze mußte es mit sich bringen,
daß der Angreifer überall früher dran war und kampf-
los besetzen konnte, was ihm beliebte. So hätte die
125
Natur dem Ringen um die Dolomitenfront ein vorzeiti-
ges Ende bereitet.
Diese Gefahr zwang zu dem Entschluß, den Kampf
gegen den Winter aufzunehmen — ein Unterfangen,
dessen Ausgang niemand voraussehen konnte. Auch die
strengsten Vorkriegsübungen hatten es natürlich ver-
mieden, einen Dolomitenturm bei 30 bis 40 Grad Kälte,
bei wochenlangem Schneegestöber, vereisten Wänden und
lawinenbedrohten Zugängen besetzt zu halten. Das blieb
erst den Männern des Weltkrieges überlassen.
Es schneit. Die Soldaten hüben und drüben schauen
mit banger Sorge dem Geschehen zu; sehen diese phan-
tastische Landschaft in einer neuen, blendenden Gewan-
dung, hören die ersten Lawinen brüllend von den Wän-
den stürzen.
Auf den Spitzen der drei Tofanen sitzen die Ita-
liener. Schlägel, Bohrer und Dynamit haben hier kleine,
uneinnehmbare Festungen errichtet. Diese drei Spitzen,
alle um die 3200 Meter hoch, umklammern dicht das
Fontana-negra-Kar, durch dessen Mitte sich jetzt die
Stellung der Oesterreicher von Wand zu Wand zieht.
Aber auch in den Wänden der Tofanen selbst kleben
österreichische Posten: Links, unter der Spitze der To-
fana di Fuori, die Feldwache „Nemesis“, rechts, am
nördlichsten Ausläufer der Tofana di Roces, der „Dick-
schädel“.
Es schneit mit niederschmetternder Ausdauer. Wenn
die Luft klar ist, das Gewölke hoch über den Berg-
spitzen hintreibt, blinken die Scheinwerfer der Italiener
von der Tofana I und III auf. Da wird die Landschaft
zu einem märchenhaften Bild: Unwirklich, überirdisch,
wie von Dämonen beherrscht.
Unten im Kar ist es still, ist keine Spur von Leben
zu bemerken. Nur der blaue Rauch der Schwarmöfen
steigt aus den Kavernen der Oesterreicher. Der Feind
hat sechs Gebirgskanonen auf Fuori, zwei auf Roces;
aber es hat keinen Sinn, die Rauchwölkchen unter Feuer
zu nehmen, denn die Felshöhlen sind zu tief, zu ge-
schickt angelegt, um ernstlich gefährdet zu werden.
Das Leben dort unten ist allerdings kein Leben
mehr. Verpflegung, Brennstoff und Munition müssen
126
her auf gebracht werden, ob nun Winter oder Sommer
ist Im Travenanzes schon scheint die Hölle los zu
sein; wie es in der Fontana negra ist, spottet jeder
Beschreibung.
Wenn die Nacht kommt, erwacht das Leben im Kar.
Träger versuchen, sich durch den Schnee einen Weg zu
bahnen; werfen sich vor den tastenden Lichtfingem der
Scheinwerfer nieder, erheben sich wieder, keuchen weiter.
Dann die gefürchtete Felsstufe. Ueber vereiste Lei-
tern geht es hinunter oder hinauf, mit klammen Fin-
gern, den Sturz in die gähnende Tiefe immer vor Augen.
Manchmal bleibt einer erschöpft liegen, kann nicht ge-
rettet werden, ist dem weißen Tod unentrinnbar ver-
fallen. Manchmal läßt sich eine ganze Kolonne erschöpft
zur Rast nieder, um in die Ewigkeit hinüberzuschlafen.
Das Grauenvollste aber sind die Lawinen. Da don-
nert der Bergkessel, als ob die Wände einbrächen, da
stürzen zehntausende Kubikmeter Schnee in wenigen
Sekunden niederwärts, erreichen aufstäubend das Kar,
begraben Stellungen, Unterstände, Kavernen unter ihrer
Last. Aber der Mensch gräbt sich wieder ins Freie. Er
tilgt die Feuerreste in den Oefen aus, um nicht zu er-
sticken, greift zur Schaufel, arbeitet unverdrossen, steigt
ans Licht. Denn der Mensch ist das Wesen, das sich
an alles gewöhnt.
Er ist aber auch von einer Grausamkeit wie kein
zweites Geschöpf. Wenn Raubtiere zahm werden, weil
der Hunger sie plagt, wenn das scheueste Wild seine
Scheu überwindet, weil es der Kälte nicht mehr wider-
stehen kann — da sucht der Mensch die Schrecken der
Natur zu vermehren, um seinem Feind eine höllische
Himmelfahrt zu bereiten: Wollen die Wände keine La-
winen mehr ins Tal stürzen, so feuert er seine Brisanz-
granaten hinauf, bis der weiße Tod auf donnernden
Massen niederfährt und alles erstickt, was ihm in die
Fänge kommt.
Sieben Monate dauert die strenge Zeit des Berg-
winters. Sieben Monate sind angefüllt mit Arbeit um
das nackte Leben, mit Elend, Entbehrung und Not.
Wenn auf anderen Kriegsschauplätzen die Frühjahrs-
schlachten brüllen, brüllt hier die Lawine ihren uner-
127
bittlichen Kampfruf. Dann rieselt es von Wänden und
Schroffen, tropft von der Kavemendecke, Zischtet mit
grauen Schmelzwasserfluten ins Tal. Und dann erwacht
der Lärm der Waffen wieder und tilgt blitzschnell das
bißchen Freude an Sonnenlicht und Sommerwärme aus.
Der Krieg geht weiter.
9.
Anfangs Juli 1916 liegt eine Hochgebirgskompanie
unter Führung des Kaiserjägerhauptmanns Lap in der
Fontana negra. Wie ein Jahr vorher Leutnant Grosse,
weiß auch dieser tapfere Mann, daß er auf verlorenem
Posten kämpft. Die Italiener haben die Zeit nicht un-
genützt verstreichen lassen, das sieht man aus dem
Einschießen zahlreicher Geschütze und Minenwerfer gegen
die Stellungen im Kar. Der Tag, an dem alle diese
Rohre gemeinsam arbeiten werden, muß das Ende der
Fontana-negra-Stellung bedeuten.
Gewiß ist seit dem letzten Jahr vieles geschehen,
was diese unselige Stellung hoffnungsvoller gestaltet.
Kavernen sind gebohrt, Sandsackwehren errichtet, Vor-
räte angelegt. Griff aber damals der Feind mit Hand-
granate und Maschinengewehr an, so sind es heute Gra-
naten aller Kaliber und Wurfminen. Der Untergang die-
ser Insel der Verteidigung zwischen himmelanragenden,
vom Feinde besetzten Bergkolossen scheint im Buche
des Schicksals beschlossen zu sein.
Am 8. Juli setzt der lang erwartete Feuersturm ein.
Stunde für Stunde dröhnen die Wände der Tofanen das
Echo der einschlagenden Granaten und Minen wider,
schwimmt die Stellung im Kar in Qualm und Staub.
Die .Sandsackwehren sind bald zerstört, die schwachen
Drahtverhaue in Fetzen gerissen. Als die Nacht kommt,
ist das Werk vieler Monate ein trostloser Trümmer-
haufen.
Stunden tiefster Stille verstreichen. Ueber der Fon-
tana negra liegt dichter Nebel. Hinter Felsblöcken kauert
die Besatzung, den Feind erwartend. Aber das Vorfeld
bleibt so ruhig wie nur eh* und je.
128
LUcL von cier
Lima cä'Oro
Zogen Osten
Da, um zwei Uhr früh hebt das Trommelfeuer
von neuem an. Es bleibt den Jägern kaum Zeit, die
schützende Kaverne zu erreichen. Draußen liegen nur
die Posten und starren verzweifelt in das Chaos
aus weißem Dunst, Leuchtraketenlicht, Rauchwolken und
spritzenden Trümmern. Da und dort bricht einer ge-
troffen zusammen. An Ersatz ist nicht mehr zu den-
ken. Mit zusammengebissenen Zähnen warten die Män-
ner auf das Ende dieses mörderischen Getrommels.
Plötzlich beginnt die Feuerwalze zu wandern. Gleich-
zeitig dringen die Italiener auf beiden Flügeln in die
Stellung ein. Sie sind in erdrückender Uebermacht, das
ganze Alpinibataillon Antelao wirft sich in zahlreichen
Wellen auf die kaum mehr siebzig Mann zählende
Besatzung.
Umgangen und eingeschlossen, kämpfen die Tapferen
unverdrossen weiter. Von allen Seiten hagelt es Ge-
schosse und Handgranaten. Aus den Wänden der Tofana
di Mezzo knattert ein Maschinengewehr und streut seine
Garben von rückwärts in die Mitte der Kar-Stellung, wo
die Verteidiger immer mehr zusammengedrängt werden.
Mann für Mann fällt, an eine geregelte Führung des
Kampfes ist nicht mehr zu denken. Die Jäger versuchen,
sich in verzweifelten Vorstößen Luft zu machen, aber
ihre Schar wird immer kleiner. Hauptmann Lap wird
schwer verwundet. Nur mit Mühe gelingt es, ihn in die
große Kaverne zu schaffen. Bald ist dort der Rest der
Kompanie hoffnungslos eingeschlossen.
Aber noch immer geben diese Helden ihre Sache
nicht verloren. Zweimal versuchen sie auszubrechen, wer-
den zurückgetrieben. Handgranaten fliegen durch den
Eingang der Kaverne, ein Flammenwerfer beginnt seine
grausige Arbeit. Es sind keine Patronen mehr vorhan-
den. Das einzige Maschinengewehr, das man gerettet
hat, versagt. Endlich bleibt nichts mehr übrig, als sich
zu ergeben.
Auch diesmal fallen den Italienern fast nur Ver-
wundete in die Hände, ein winziges Häuflein von Män-
nern, das vollkommen erschöpft sich um seinen Führer
schart und mit finsterem Trotz sein Schicksal auf sich
nimmt. Wie ihre Waffenbrüder vor einem Jahr, hat
9
129
auch sie nicht der Feind gefällt, sondern der Mangel
an Schießbedarf und die Einsicht, daß man mit bloßen
Händen nicht gegen Schwerbewaffnete kämpfen kann.
Nie sind Soldaten unverschuldeter und ehrenvoller in
Gefangenschaft geraten.
Gleichzeitig mit dem großen Angriff gegen die Stel-
lung im Kar der Fontana negra gehen einzelne Kletter-
patrouillen gegen die beiden Feldwachen in den Wänden
der Tofanen I und III vor. Fähnrich Schlachter wehrt
sich auf „Dickschädel“ mit einer Handvoll Leuten den
ganzen Tag über, kämpft bis zur letzten Patrone, zur
letzten Handgranate, würdig seiner Vorgänger, der vier
heldenmütigen preußisdien Jäger, die ein Jahr früher
in der Wand der Tofana di Roces den Soldatentod
fanden. Ein Entkommen ist hier unmöglich. Da werfen
die auf den Tod erschöpften Kämpfer des „Dickschädel“
ihre Gewehre über die Wand hinunter und rufen den
Alpin! zu, daß sie bereit sind, sich zu ergeben . . .
Wie das Echo ihrer Schüsse, hören die Leute auf
„Dickschädel“ immer wieder von der anderen Seite der
Fontana negra, von der Feldwache „Nemesis“ auf der
Schulter der Tofana di Fuori her Kampflärm. Lunten,
in der Tiefe des Kars ist es längst still geworden. Dort
hat sich das Schicksal erfüllt. Aber drüben auf „Nemesis“
wehren sich die Kaiserjäger stundenlang. Dann ver-
stummt auch dort das Krachen plötzlich. Sind die Kame-
raden am andern Torpfeiler überwunden, getötet, in
Gefangenschaft geraten? Niemand kann diese Frage be-
antworten. Nur das eine ist sicher: Sie kämpfen nicht
mehr. So werden sie wohl verloren sein . . .
Trotzdem gelingt den Tapferen von der „Nemesis“
ein Heldenstück, wie es selbst an der an kühnen Epi-
soden so reichen Alpenfront nicht häufig vorkam: Als
sie der Uebermacht der Alpin! zu erliegen drohen und
ihre Munition zur Neige geht, klettern sie gegen das
Travenanzestal durch die Wände. Die Italiener wundem
sich sehr, als sie das Felsennest bis auf einige Ge-
fallene leer finden. Sie haben die Steige gegen das
Kar streng im Auge behalten, aber niemand absteigen
gesehen. Der Großteil der Verteidiger der „Nemesis“
ist und bleibt wie vom Erdboden verschluckt.
130
Mittlerweile seilen sich die Kaiserjäger in aller Stille
von Wand zu Wand, von Felsband zu Felsband. Vier
Tage dauert diese abenteuerliche Flucht. Dreimal über-
nachten sie in den Schrunden dieses Bergriesen, dicht
zusammengekauert, einander schützend vor dem eisigen
Wind, der vom Gipfel der Tofana di Fuori nieder-
streicht. Am vierten Tag erreichen sie das Travenanzes-
tal und melden dort, was sie gesehen: Daß die Hoch-
gebirgskompanie des Haujptmanns Lap gefochten hat
biß zum letzten Atemzug; daß es nicht ihre Schuld war,
wenn nun die Fontana negra endgültig verloren ist . . .
10.
Auch westlich der mächtigen Tofana di Roces stehen
im Sommer 1915 deutsche Jäger *im Kampf gegen den
immer mächtiger andrängenden Feind. Hier hat die
Natur dem Verteidiger die Wahl seiner Widerstands-
linie gewiesen: Vom Col dei Bois durch das oberste
Travenanzestal und das Kar der Forcella dei Bois zu
jenem sonderbaren Eckturm am Fuß der Tofana, der wie
von Gigantenhänden geformt scheint — zur Punta dei
Bois oder, wie der Feind sie nannte, dem „Gastelletto".
Wer auf der Punta dei Bois sitzt, beherrscht weit
und breit das Gelände. Er vermag jeden Ansturm bis
zum Col dei Bois hinüber aus der Flanke abzuwehren,
er unterbindet den Verkehr auf der Dolomitenstraße an
den wichtigsten Serpentinen zwischen Cortina und dem
Falzarego-Paß. So wird dieser kühne Felszahn, ob er
auch gleich von der Tofana di Roces um 600 Meter über-
höht ist, zum Tyrannen der ganzen Gegend, zum heiß-
ersehnten Ziel der italienischen Angriffe. Auch hier, wie
jenseits der gewaltigen Tofana I auf der Fontana-negra-
Scharte, steht der Umfang der eingesetzten Streitkräfte,
des Materials, der Arbeit und der blutigen Verluste in
keinem Vergleich zu dem möglichen Erfolg: zum Ein-
bruch in das Travenanzestal. Aber mit jener eigentüm-
lichen Verbissenheit, die die Italiener oft an den Tag
legten, wo sie den ersten, entscheidenden Vorstoß ver-
säumt hatten, kämpften sie auch hier ein volles Jahr
unter Einsatz ihrer tapfersten Leute, später mit Stoß-
9-
131
bohrer und Dynamit, um schließlich nach einer unge-
heuren Minensprengung den fatalen Felsturm in die
Hand zu bekommen. Militärisch war damit nichts er-
reicht. Wer Zeit und Kräfte hat, kann letzten Endes
den Verteidiger aus jeder Stellung werfen. Es fragt sich
nur, ob damit seine Mühe belohnt ist; und das kann
man weder hier, noch von vielen anderen Punkten der
Alpenfront behaupten.
Aber noch ist der Feind voll der Hoffnung, durch
Kühnheit seine Aufgabe lösen zu können. Unendlich weit
liegt das Pustertal, das strategische Ziel der 4. italieni-
schen Armee, es rückt mit jedem Tag, der neue Kämpfer
für die Abwehr bringt, ferner und ferner; aber auf einem
der vielen Wege, die der Generalstab seinen Plänen
dienstbar machen will, liegt der höllische Felsklotz, die
Punta dei Bois.
Die Alpin! sind tüchtige Soldaten. Der Kampf in
diesem Gelände stachelt den Ehrgeiz einzelner bis zum
Wahnwitz an. Nach einigen mißlungenen Versuchen, un-
ter der Punta durch ins Travenanzestal vorzustoßen, fas-
sen sie den Entschluß, den Felsturm zu erklettern und
die 18 preußischen Jäger, die dort oben hausen, in einem
verwegenen Ueberfall zu erledigen.
Tagelang suchen sie mit scharfen Ferngläsern die
Wände ab; suchen förmlich jeden Griff, jeden Tritt zu
studieren, eh* sie an die Ausführung gehen. Denn die-
ser Aufstieg muß in stockfinsterer Nacht erfolgen, laut-
los und in voller Bewaffnung — alles Umstände, die
dem besessendsten Kletterfex bisher nicht entgegenge-
treten sind.
Endlich glauben die fünf Freiwilligen, die den Ver-
such machen sollen, so weit zu sein. Von Süden, also
von der italienischen Seite her gesehen, führt in der
Mitte der Punta dei Bois ein Kamin durch die Wand.
Das ist der einzige denkbare Weg zum Erfolg. Die
Preußen oben haben nur den scharfen Grat als Deckung.
Wenn es einem einzigen Angreifer gelingt, diesen Grat
zu erreichen und ein paar Handgranaten anzubringen,
ist die Besatzung der Punta gewesen.
Die Nacht scheint gut gewählt zu sein. Nichts hat
während des Tages den Verteidiger gewarnt oder ihn
132
zu besonderer Vorsicht ermahnt. Bis in die tiefste Däm-
merung hinein feuerten die Preußen mit ihrem Ma-
schinengewehr gegen die Dolomitenstraße. Das machen
sie Jeden Abend. Es ist der bittere Gute-Nacht-Gruß,
den die Belagerer dieses Horstes einstecken müssen.
Aber morgen wird das nicht mehr sein! Lautlos
steigen die fünf Alpini durch das Kar aufwärts, stehen
endlich am Fuß der Wand, die sich, 200 Meter hoch,
fast senkrecht über ihnen erhebt. Noch ein letztes
Flüstern, ein Abschied untereinander. Dann klettert der
erste in den Kamin, folgen die andern.
Keine Manneslänge aufwärts und abwärts reicht der
Blick. Die Griffe müssen ertastet werden, der Fuß fühlt,
ahnt mehr den sicheren Tritt, als er ihn wirklich neh-
men kann. Unendlich langsam schieben sich die fünf
Männer aufwärts, zwingen mit aller Willenskraft den
Atem zu gleichmäßig ruhigem Gang. Und sie haben
Glück. Kein Stein löst sich unter ihren Händen, die
fest an den Leib gebundenen Waffen schlagen nicht
gegen den Felsen.
Stundenlang dauert diese phantastische Kletter-
arbeit. Die Körper sind in Schweiß gebadet, die Finger
bluten bereits. Aber nur nicht verzagen, nur Jetzt nicht
den Mut verlieren! Es gibt hier nur ein Vorwärts. Nie-
mand könnte diese Wand bei Nacht nach unten durch-
klettern. Er wäre verloren, so oder so.
Da, endlich das Ende! Der suchende Blick sieht
knapp über dem Kopf den Grat. Das Ende? Nein. Denn
Jetzt, Jetzt kommt der schwerste Teil: Statt sich hin-
fallen zu lassen und auszuruhn, statt die Muskeln zu
entspannen und tief, tief zu atmen, müssen sie schauen,
auf der Hut sein, Entschlüsse fassen, zuschlagen!
Noch einen Meter. Die Rechte sucht nach einem
sicheren Griff, um an diesem letzten Meter nicht zu
scheitern, findet ihn. Der Kletterschuh zwängt sich hart
in einen Riß, das Knie streckt sich, schiebt den Körper
höher. » .
Im nächsten Augenblick flammt es grellgelb vor den
entsetzt aufgerissenen Augen des Tollkühnen, zertrüm-
mert ein Gewehrschuß ihm die Stirne. Er stürzt, schlägt
133
hart auf die Kameraden unter sich, reißt sie allesamt
in die Tiefe*
Oben lauscht der Leutnant Wendland dem grausi-
gen Poltern der stürzenden Feinde nach. Er war es,
der dem Alpino auf kaum einen halben Meter Ent-
fernung mitten ins Gesicht schoß* Handgranaten fliegen
die Wand hinunter, krepieren, eh* sie das Kar erreichen.
Dann wird es still. In den Wänden der Punta dei Bois
regt sich nichts mehr. Anderen Tags sieht man, durch die
Wucht des Absturzes weit ins Kar hinausgeschleudert,
die furchtbar verstümmelten Körper der fünf Helden,
die das schier Unmögliche versucht hatten, unten liegen.
Genau so erfolglos bleibt ein Versuch von Frei-
willigen der Brigade Reggio, die Forcella di Roces,
nämlich die enge Scharte zwischen Tofana I und der
Punta dei Bois zu erklettern. Sie gehen bei Tag längs
der Wand der Tofana vor, erreichen die mächtige Ge-
röllhalde, die sich fächerförmig von der Forcella di
Roces aus erstreckt, klimmen durch die Wände auf-
wärts. Plötzlich donnert es zu ihren Häupten, Fels-
brocken stürzen den Tapferen entgegen, reißen sie un-
aufhaltsam in die Tiefe. Der Verteidiger hat eine Stein-
lawine gelöst und die Angreifer damit zerschmettert.
Trotz allen diesen Mißerfolgen zur Gewinnung der
Punta dei Bois bleiben die Italiener unbeirrbar bei
ihrem Vorhaben. Als es ihnen am 7. Juli gelingt, den
Col dei Bois durch einen Handstreich zu nehmen und
mit dieser Eroberung des rechten Eckpunktes der Wider-
standslinie in diesem Frontabschnitt sich weiter durch
das Kar vorzuschieben, wird ihr Entschluß, den „Castel-
letto" von der Westseite her zu erobern, aufs neue ge-
festigt.
Der verzweifelte Kampf um diese natürliche Festung
erhält wieder Auftrieb, als am 17. September 1915 end-
lich die letzte der Tos anen, die der Punta dei Bois un-
mittelbar benachbarte Tofana di Roces den Verteidigern
entrissen wird. Zwar ist es undenkbar, von hier aus
über die 600 Meter abfallende Wand zur Forcella di
Roces hinunterzuklettern und über den Grat hinweg den
„Castelletto" zu erreichen, aber man kann den umge-
kehrten Weg wählen: In die Wände der Tofana aüf-
134
steigen und von einem halbwegs geschützten Punkt
aus die Punta unter Feuer nehmen. Rollbomben und
Steinlawinen hätten vor der Einnahme der Tofana I
ein solches Unterfangen von vornherein zwecklos er-
scheinen lassen. Jetzt aber sind die Männer, die das
Wagnis versuchen wollen, wenigstens im Rücken ge-
sichert.
In der Nacht auf den 24. September soll der genau
durchdachte Plan zur Tat werden. Wie aber in solchen
Fällen meist, scheitert die Tat an der Theorie: Während
die Alpini pünktlich um 2 Uhr morgens auf der For-
cella dei Bois in die Stellungen des Verteidigers ein-
brechen, um dessen Aufmerksamkeit und Waffenwir-
kung von den Vorgängen in der Tofana-Wand abzu-
lenken, bleibt es dort vollkommen still. So werden die
vorgeprellten Alpini im Kar fast sämtliche getötet, der
Rest gefangengenommen.
Der Grund für dieses „Versagen“ des Leutnants
Massini und seiner Leute ist einfach folgender: Man
hat ausgerechnet, daß die Alpini, die durch die Tofana-I-
Westwand bis zu einem bestimmten Punkt klettern sol-
len, für den Aufstieg sechs Stunden brauchen werden.
In Wirklichkeit überraschte sie der anbrechende Tag,
als sie noch nicht die halbe Strecke durchklettert hat-
ten. Sie mußten bis zur wieder einbrechenden Dunkel-
heit sich in der Wand versteckt halten, stiegen dann
weiter und erreichten achtzehn Stunden nach ihrem Ab-
marsch das Ziel.
Um Mitternacht auf den 25. September knattert
dann plötzlich ein italienisches Maschinengewehr aus
der Tofana-Wand, überschüttet die Verteidiger der Punta
dei Bois vom Rücken her mit einem Bleihagel. Gleich-
zeitig versuchen Alpini, die Schlucht zwischen Tofana
und Punta zu durchklettern und die Forcella di Roces
zu erreichen.
Im ersten Augenblick erscheint die Lage des Ver-
teidigers aussichtslos. Aber dann erwidert er das Feuer
und geht gegen die schon in der Scharte sitzenden
Alpini vor. Nach einem wütenden Handgranatenkampf
sind die Eindringlinge zum größten Teil getötet, wäh-
rend der Rest eiligst in der Tiefe verschwindet. Und
135
da auch der Patrouille in der Tofana-Wand bald die
Munition ausgeht, ist das ganze Unternehmen als ge-
scheitert zu betrachten.
Noch einmal stoßen die Italiener im Kampf um die
Punta dei Bois auf die braven Soldaten vom 2. preußi-
schen Jägerregiment: Am 28. September geht bei hellem
Tageslicht das Alpinibataillon Val Chisone gegen die
Stellungen auf der Forcella dei Bois vor, um den Ver-
such, die gefürchtete Punta durch Umgehung niederzu-
zwingen, in einem verzweifelten Anlauf erfolgreich durch-
zuführen.
Das Ergebnis ist für den Angreifer niederschmet-
ternd. Die Punta dei Bois feuert den tapfer Vor drin-
genden in die Flanke, während sie auch frontal wütend
beschossen werden. Einer einzigen Kompanie gelingt es,
die Stellung des Verteidigers zu erreichen. Nach schwe-
ren Verlusten an Toten und Verwundeten muß der Rest
die Waffen strecken.
Einige Tage später marschiert das Deutsche Alpen-
korps aus Tirol ab, um zur Niederkämpfung Serbiens
eingesetzt zu werden. Der Travenanzes-Abschnitt erhält
neue Verteidiger: Je ein Bataillon des 1. und 3. Regi-
ments der Tiroler Kaiserjäger unter dem Kommando
eines der schneidigsten Soldaten der Alpenfront: dem
Hauptmann Karl von Raschin. Und damit tritt der Kampf
um die Punta de! Bois in eine neue Phase.
11.
Am 20. Juli ist der Alpinigeneral Cantore auf der
Fontana-negra-Scharfe gefallen. Dieser tapfere Mann war
bis knapp an die Felsenstellung der preußischen Jäger
des Leutnants Grosse herangekrochen, um sich persön-
lich von dem Stand der Dinge zu überzeugen. Da krachte
ein einzelner Gewehrschuß und der General sank mitten
durch die Stirn getroffen zusammen.
Das Kommando im italienischen Tofana-Abschnitt
wurde nun eine Zeitlang vertretungsweise geführt und
erst anfangs Oktober durch den Obersten Tarditi wie-
der endgültig übernommen.
136
Wie am Col di Lana und überall sonst, wo Truppen
des Deutschen Alpenkorps eingesetzt waren, erweckte
ihr Abmarsch neue Hoffnungen bei den Italienern. Wohl
wußte man, daß den Bayern und Preußen nicht minder
zähe Gegner, nämlich Teile des k. u. k. XIV. Korps,
folgen würden und daß dadurdi der Krieg zwischen
Himmel und Erde eher verschärft als gemildert werden
würde. Aber die Deutschen hatten eine zahlreiche und
gut ausgerüstete Artillerie sowie viele Minenwerfer zur
Verfügung gehabt, während die Oesterreicher an der
Alpenfront fast ausschließlich nur ältere Kaliber und
geringe Munitionsmengen einsetzen konnten. Es lagen
also wohl Gründe vor, den gewaltsamen Durchbruch
vor Einbruch des Winters noch einmal zu versuchen,
selbst auf die Gefahr hin, daß man sich wieder nur
blutige Köpfe holte. Der „Castelletfo" war in Italien
ähnlich volkstümlich geworden wie der Col di Lana,
und man versprach sich von seiner Einnahme zumindest
einen bedeutenden moralischen Erfolg.
Oberst Tarditi will den letzten Versuch dieser Art
nicht so aussichtslos gestalten wie die früheren. Es ist
eine alte Erfahrung, daß der Soldat im unveränderten
Bild einer Aktion, die schon einmal versucht wurde, den
Mißerfolg sieht. Die Einbildungskraft muß sich an etwas
neuem festklammern können, muß sich an einer Hoff-
nung nähren, die man früher nicht hegen durfte. Und
diese Hoffnung der Punta dei Bois gegenüber sollte
eine überwältigende Menge an Geschützen sein.
Die schweren und mittleren Batterien eines ganzen
Korps werden zusammengezogen. In weitem Halbkreis
stehen sie um das schmale Frontstück des oberen Tra-
venanzes, werden sorgfältig eingeschossen. Zwei AJpini-
bataillone, Val Chisone und Belluno, sollen wieder unter
der Punta dei Bois durch die Stellungen des Verteidigers
auf der Forcella dei Bois erreichen und eindrücken,
während Freiwillige die Schlucht zwischen Tofana di
Roces und der Punta zu durchklettern haben.
Der Angriff ist für die Nacht vom 16. auf den
17. Oktober geplant. Da legt sich die Natur ins Mittel:
Es beginnt zu schneien, es schneit tagelang, so daß
schließlich der Neuschnee eine Höhe von IV2 Meter er-
137
reicht. Trotzdem glaubt Oberst Tarditi richtig zu han-
deln, wenn er den Zeitpunkt nicht verschiebt, vielleicht
fürchtet er auch, die nun einmal glücklich zusammen-
gebrachte Artillerie wieder abgeben zu müssen. Er bleibt
bei seinem Entschluß, den Plan unverändert durchzu-
führen.
Unheimliche Ruhe lastet auf den Felsriesen der To-
fanen, als die Alpini in Stellung gehen. Schon der Auf-
stieg hat Schwierigkeiten bereitet. Wie erst, wenn man in
dieser stockfinsteren Nacht durch ein verschneites Kar
waten soll? Aber die Artillerie! Die Artillerie wird dies-
mal so gründlich mit den Oesterreichem aufräumen,
daß dieser Vorstoß wirklich nur ein Besetzen leerge-
schossener Trümmerhaufen sein wird.
Und die Artillerie läßt wirklich ihrer nicht spotten.
Plötzlich reißt ringsum die Finsternis von den Mün-
dungsflammen der Geschütze auf, winselt die Luft,
dröhnt es ohrenbetäubend unter dem Einschlag der
Granaten. Die Posten auf der Punta dei Bois und der
westwärts anschließenden Kar-Stellung starren entsetzt
in dieses furchtbare Geschehen. Ungeheuer krachen die
Minengranaten der Einundzwanziger, ungeheuer klingt
das Brüllen des Echos von den Wänden der Tofana
wider. Leuchtraketen schwirren hoch. Sie zeigen einen
schwarzgebrannten, zertrichferten Streifen in der weißen
Oede der winterlichen Landschaft.
Alarm! Alarm!
Es gilt, nicht den Augenblick zu versäumen, in wel-
chem der Feind vorzurücken beginnt. Schon sind die
Drahtverhaue im Kar zum Großteil weggerissen, ist
der Weg frei für die Stürmer. Aber dieser Weg wird
zur wahren Hölle: Ununterbrochen knattern die Maschi-
nengewehre des Verteidigers von der Punta dei Bois,
aus der Stellung auf der Forcella dei Bois, fegen die
Bleigarben surrend über den Schnee, durch den die
Alpini vorwärtswaten. In das Donnerkrachen der ein-
schlagenden Geschosse mischen sich die Schreie der
ersten Opfer dieses wahnwitzigen Unternehmens. Schon
nach wenigen Schritten packt eine lähmende Erkennt-
nis die Männer: Umsonst, völlig umsonst! Jeder Trop-
fen Blut, der in dieser Nacht vergossen wird, ist zweck-
138
los vergeudet, niemand kann diese Stellungen erstür-
men, solange noch ein Mann bei einem Maschinen-
gewehr steht und den zischenden Tod über die Schnee-
felder jagt.
Die Kaiserjäger haben Verluste. Das mörderische
Feuer reißt mächtig an den Nerven, und es kostet keine
geringe Ueberwindung, ihm standzuhalten. Aber es ist
der erste größere Tanz mit dem Todfeind, zu dem sie
da aufspielen. Solange sie in Rußland waren, hat nur
soldatische Pflicht sie unsterbliche Taten vollbringen
lassen; hier aber, gegen den Italiener, spricht das Blut
mit, Jahrhunderte alter Haß, bedrohte Heimat . . .
Sie kommen 1 Sie kommen 1
Im weißen Dicht der aufschwirrenden Leuchtschirme
sieht man dunkle Punkte sich im Kar bewegen. Fäuste
krampfen sich härter um Gewehrschäfte, um die Hand-
griffe der Maschinengewehre. Die Mordmaschinen häm-
mern aufs neue los, diesmal mit tödlicher Sicherheit.
Der Sturmruf „Savoial" erstickt jäh in den Kehlen
der Älpini. Bald ist das Gelände voll vom Jammer der
Verletzten, vom Hilfegeschrei der Sterbenden.
Es ist so hoffnungslos, daß selbst den Tapfersten der
Mut sinkt. War das die berühmte verheerende Wir-
kung der Artillerie? War das der eiserne Besen, der
ihnen den Weg freifegen sollte? Das Feuer wird immer
schwächer, aber die Stellung des Verteidigers sprüht
Flammen, ja es scheint, daß sie überhaupt nicht ernst-
lich beschädigt worden ist. Umsonst der Wahnwitz, hier
anzurennen, umsonst der Opfertod der Offiziere! Ganz
gleich, ob man hier oder einige Schritte weiter vorne
im Schnee verblutet!
Der Angriff fällt in sich zusammen. Nur dicht unter
der Punta dei Bois, dort, wo toter Raum ist für die
Maschinengewehre auf der Felsenburg, sehen sich die
Alpini plötzlich vor den Drahtverhauen der Oester-
reicher. Sie führen Sprengrohre mit, machen auch einen
verzweifelten Versuch, diese Sprengrohre anzubringen.
Der blendende Schein einer Leuchtrakete überrascht sie,
einige Schüsse strecken die Todesmutigen nieder. Wer
nicht getroffen ist, flüchtet, die Bleigarben der Kaiser-
in
jäger im Rücken, atemlos und von bohrender Angst
gehetzt gegen die eigene Stellung.
Aus. Selten mehr ein Schuß hüben und drüben.
Nur die Hilferufe der armen Teufel, die da einsam
und verlassen im Schnee liegen, mahnen noch an das
schreckliche Geschehen. Von Zeit zu Zeit schwirrt eine
Leuchtrakete hoch. Aber die Augen der Kaiser;äger fin-
den kein Ziel mehr im Vorfeld.
Da dröhnt der Kampflärm noch einmal los. Schüsse
gellen, Handgranaten krachen. Jetzt, da alles zu Ende
ist, da keine Hoffnung mehr besteht, das Glück zu
wenden, hat eine Handvoll Alpin! die Forcella di Roces,
die Scharte zwischen Punta dei Bois und Tofana I er-
klommen! Und das alte grausige Spiel wiederholt sich
auch hier: Als die ersten über dem Schluchtrand er-
scheinen, stürzen sie totgetroffen zurück in die Tiefe,
reißen die unter ihnen kletternden Kameraden mit.
Keiner entrinnt dem Verderben. Als die nächsten Hand-
granaten der Verteidiger in die Schlucht hinunterfliegen,
haben die Alpin! schon ihre gräßliche Fahrt beendet,
liegen als eine blutige Masse unten im Kar. Der
„Gastelletto" hat zu vielen Opfern auch das zwecklose
Opfer dieser Helden der Pflicht verschlungen . . .
Mit diesem letzten Versuch der Italiener, sich der
Punta de! Bois stürmender Hand zu bemächtigen, endi-
gen die Kämpfe des Jahres 1915 im Frontabschnitt
Travenanzes. Wie überall an der Alpenfront werden
auch hier, ja hier besonders Schnee und Kälte, Sturm
und Lawine zum eigentlichen Gegner, zum übermächtigen
Feind. Ein langer Winter senkt sich auf all die heiß-
umkämpften Gipfel, Kare und Hochtäler der Tofanen,
der Punta dei Bois, des oberen Travenanzes-Tales und
seiner Ausläufer, der Fontana negra und der Forcella
dei Bois. Aber schon arbeiten die Gehirne der Menschen
hüben und drüben an neuen großen Plänen, die im
kommenden Jahr verwirklicht werden sollen.
12.
Kaum dreieinhalb Kilometer ist der Gipfel der
Tofana di Roces von einem weiteren Brennpunkt des
Krieges zwischen Himmel und Erde entfernt, von der
140
mächtigen Felsmauer des Kleinen Lagazuoi und seinem
östlichen Vorgipfel; jeder Gewehrschuß da oder dort ist
bei dem Nachbar zu vernehmen und trotzdem bildet
jeder dieser Dolomittürme eine Welt für sich, hat seine
eigenen Kämpfer und Kenner, seine eigenen Kampf-
methoden, Sorgen und Aufgaben*
Der Kleine Lagazuoi, 2779 Meter hoch, stellt zusam-
men mit seiner östlichen Vorkuppe eine mächtige Mauer
dar, zu deren Füßen der Falzarego-Paß liegt* Aber seine
militärische Bedeutung war damit noch nicht erschöpft.
Wer nur einigermaßen auf dieser Mauer Raum gewinnt
und sich darin festklammert, der vermag weit in das
westlich anschließende Valparola zu wirken, in die öster-
reichischen Stellungen bei Tre Sassi und auf dem Sasso
di Stria, diesem wichtigsten Beobachtungsposten des Col-
di-Lana-Abschnittes. Und da die Italiener bei ihrem
Vorrücken nach Norden den Kleinen Lagazuoi besetzt
fanden, kam es auch hier zu einer jahrelangen Be-
lagerung, zu Kämpfen und technischen Arbeiten, die in
der Geschichte des großen Krieges ihresgleichen suchen.
Sieht man die Wände dieses Bergmassivs aufragen,
so hält man jeden Versuch, sie zu nehmen für Wahn-
witz* Bei näherer Betrachtung aber kommt man drauf,
daß auch diese Felsenburg ihre Schwächen hat.
Da ist zunächst die Schlucht, die den Hauptstock
von der Vorkuppe trennt: sie führt hinein in diesen
Block der Türme, Zacken, Schroffen und Risse. Von ihr
aus kann man aber auch das ziemlich breite Felsband
erreichen, das im oberen Drittel des Kleinen Lagazuoi
quer durch die Wände läuft. Wer dieses Band erklom-
men hat, dem liegen Kamm und Gipfel nicht mehr in
hoffnungsloser Ferne.
Doch es genügte den Italienern schon, auf dem
Felsband selbst zu sitzen. Der Grat konnte nicht viel
mehr Vorteile in Sicht und Waffenwirkung gegen die
Valparola bieten. So begann jener phantastische Zwei-
kampf auf einer schmalen Felsstufe zwischen Wand
oben und Wand unten, ein Kampf, der zwei Jahre
lang dauerte und ein unerhörtes Maß an Mannestum
erforderte*
141
Bald nachdem die ersten Italiener auf dem Falza-
rego-Paß auftauchen, hört man sie auch schon in den
Wänden des Lagazuoi. Der Verteidiger weiß, daß er
diese Annäherung nicht verhindern kann. Steinlawinen,
die man gelegentlich löst, schmettern wohl da und dort
ein paar Verwegene in die Tiefe, aber was bedeutet das
schon im Rahmen des Ganzen? Die Oesterreicher kön-
nen das Felsband nicht besetzen, cs liegt zu sehr im
Feuer der Geschütze hinter dem jenseits des Falzarego-
Passes aufragenden Monte Averau; sie können nur zu
verhindern trachten, daß der Feind über dieses Band
den Grat erreicht, indem sie es dort sperren, wo es in
das Felsengewirr des westwärts abfallenden Kammes
übergeht.
Die Italiener entwickeln auch hier jene Zähigkeit, die
ihnen eigen ist, wenn es gilt, den Feind durch, lang-
wierige technische Arbeiten niederzuringen. Es dauert
Monate, bis sie ihren Zugang auf das Felsband soweit
gesichert haben, daß die dort befindliche Besatzung
nicht eines schönen Tages abgeschnitten werden kann.
Nun gehen sie daran, ihr Felsennest auszubauen. Auf
dem Felsband stehen zwei Türme, der „Strebestein“ im
Westen und der „tätowierte Stein“ im Osten, beide etwa
20 bis 30 Meter hoch. Diese freistehenden Nadeln wer-
den von ihnen förmlich ausgehöhlt, das heißt mit mehr-
fach übereinanderliegenden Kavernen versehen. Das sind
die Kampfräume dieses natürlichen Forts. Die Unter-
künfte bestehen teils aus stark eingedeckten Baracken
an der Wand, teils in Kavernen, die in die Wand ge-
bohrt werden.
Allmählich nehmen diese Bauten einen Umfang an,
den man nicht für möglich halten sollte: Auf dem Fels-
band befindet sich dauernd eine Alpinikompanie in
Stellung, im „Strebestein“ sind mehrere Maschinen-
gewehre, ja sogar ein Gebirgsgeschütz, deren Feuer den
Gräben des Verteidigers am Valparola-Joch gehörig zu-
setzt. Der Wunsch, mit den lästigen Anrainern aufzu-
räumen, wird immer lebhafter.
Aber wie? Das Felsband ist zwischen den beiden
Stellungen so schmal, daß zwei oder drei beherzte
Schützen jeden Ansturm abwehren können; aus der
142
Gipfelstellung wieder sieht man von der italienischen
Stellung auf dem Felsband nichts. Trotzdem konnte man
nur von dorther „vorgehen“, besser gesagt, sich über
die Wände abseilen.
Am 17. Dezember sind alle Vorbereitungen getroffen.
Die Alpin! arbeiten völlig ahnungslos am Ausbau ihrer
Deckungen, als plötzlich ein wahrer Höllensturm anhebt
Ueber die Wand herunter kommen schwere Rollbomben
geflogen; Kisten voll Ekrasit mit brennenden Zeitzün-
dern fliegen nach, landen auf dem Felsband, explodieren,
reißen Unterstände und Sandsackbarren in Fetzen. Aber
kaum hat sich dieses Unwetter gelegt, als an langen
Seilen schwebend drei Leute über dem Felsband auf-
tauchen und gleich Ballonbeobachtern das Feuer der
österreichischen Geschütze gegen die restlichen Bauten
leiten.
Diese Tollkühnheit dreier Bergführer zeitigt ihre
Früchte. Umsonst schießen die Italiener mit Gewehren
gegen die Wand, umsonst schlagen die Granaten vom
Monte Averau in die Gipfelstellung und lösen ganze
Steinlawinen aus: solange auf dem Felsband etwas zu
stehen scheint, hagelt der Geschoßregen der österreichi-
schen Batterien nieder, und schließlich bleibt von der
Arbeit vieler Monate nur mehr ein Trümmerhaufen
über. Die Wenigen, die diesem Wüten entgangen sind,
kauern hinter den Steinblöcken der Schlucht gegen die
Vorkuppe, der Großteil der mühsam herbeigeschafften
Kampfmittel ist vernichtet.
Wenn nun auch die Kavernen unbeschädigt geblie-
ben waren, konnte man doch annehmen, daß diese
Lektion für lange Zeit genügen werde* Schneefall setzte
ein, der Winter war da. Es schien kaum denkbar, daß
der Feind vor Eintritt des Frühjahrs seine Bauten wie-
der aufrichten würde. Die Ruhe des vielgeplagten Val-
parola-Abschnittes schien auf Monate hinaus gesichert
zu sein.
Das war eine Täuschung. Es vergeht keine Woche,
als das Geschütz auf dem Felsband wieder zu feuern
beginnt und die Bleigarben der italienischen Maschinen-
gewehre vom Kleinen Lagazuoi her unerbittlich jeden
143
verfolgen, der sich in dem öden Felsfal gegen Tre
Sassi zeigt
Die Wut des Verteidigers ist groß* Weihnachten
geht vorüber, aber auch dieses Fest vermag die Ge-
müter der Kaiserjäger auf dem Lagazuoi nicht zu be-
ruhigen. Während alle Welt den Ausgang des alten, so
bitteren Jahres 1915 durch Besinnung und Einkehr feiert,
reift dort oben auf dem winterlich verschneiten Fels-
koloß ein schauerlicher Plan: Am Grat, gerade über der
italienischen Bandstellung, liegt ein Steinklotz von der
Größe eines mittleren Hauses. Dieser Brocken ist nicht
mit seiner Unterlage verwachsen; dieser Brocken soll
den zähen Feind endgültig zerschmettern.
In der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr
wird von Norden her eine kleine Höhle unter dem
Stein gebohrt und diese Höhle mit 300 Kilogramm
Sprengstoffen geladen. Als anderwärts die Silvester-
glocken ertönen, legt hier, 2700 Meter über dem Meere,
eine Hand Feuer an die Zündschnur . . .
Minuten höchster Spannung verfließen. Dann dröhnt
ein Schlag, daß die Felsen zittern. Der Steinblock hebt
sich, stürzt um, rollt mit wachsender Geschwindigkeit,
donnert über die Wand hinunter. . .
Brandgeruch von zerschlagenem Gestein, lange, lange
das Poltern nachstürzender Felsmassen. Dann Schwelgen,
tiefes, nächtliches Schweigen um den Lagazuoi. Die Band-
stellung der Italiener war ein zweitesmal schwer ge-
troffen worden. Wieviele dieser Katastrophe entgangen
waren, wußte niemand.
Man sollte glauben, daß wiederholte Schläge von
solcher Wucht den Angreifer schließlich doch zum Rück-
zug veranlaßt hätten. Doch gerade das Gegenteil trat
ein: Immer zäher hielten die Italiener an ihrer Fels-
bandstellung in den Wänden des Lagazuoi fest, immer
eifriger betrieben sie den Bau von Kavernen, die sie
vor Ueberraschungen wie die am 17. Dezember und in
der Neujahrsnacht sichern sollten.
Freilich war es nicht nur Hartnäckigkeit, was den
Feind zu dieser Rolle zwang: Im westlichen Nachbar-
abschnitt wühlte bereits der Tod durch die Felskuppe
des Col di Lana. Bei den auf die Sprengung folgenden
144
Italienische Fotoabteilung
Abfertigung eines Bergführers
Ifi I : I
i - ß-7 ' 1 1 M
Kämpfen würden sicher die Österreichischen Stellungen
am Valparola-Joch, vor allem aber der Beobachtungs-
posten auf dem Sasso di Stria von größter Bedeutung
sein. Diese kühne Felsnadel, 2477 Meter hoch und nur
etwa eineinhalb Kilometer vom Gipfel des Kleinen La-
gazuoi entfernt, sperrte zusammen mit der Gratstellung
des Lagazuoi den so wichtigen liebergang ins Abtei-Tal.
Seit der Sasso di Stria einmal in die Hand der Italiener
geraten und dann nur durch einen verwegenen Hebers all
wieder zurückgenommen worden war, hütete der Ver-
teidiger ihn mit größter Wachsamkeit. Alle die Berge,
auf denen italienische Batterien standen — der Monte
Averau, der Monte Pore, der Col Toront — konnten dem
Felsenhorst auf dem Sasso di Stria, dem „Hexenstein",
nicht viel anhaben. Gefährlich war nur die Gebirgs-
kanone auf dem Band des Kleinen Lagazuoi.
Als kaum zwei Wochen nach dem Felssturz in der
Silvesternacht dort wieder reges Leben herrscht, faßt
der Verteidiger den Entschluß, dem Feind nun nickt
mehr bloß Verluste beizubringen, sondern ihn endgültig
aus der Wand zu werfen und die Bandstellung zu be-
setzen. Man konnte hoffen, in den italienischen Bauten
soviel Deckung zu finden, daß man vor dem Feuer der
Geschütze auf dem Monte Averau sicher war.
Was an Rohren aufzutreiben ist, soll diesmal mit-
wirken, um die Alpin! auf dem Felsband außer Gefecht
zu setzen. Rollbomben leiten die Vorbereitung ein, Gas-
granaten und Wurfminen folgen. Die Wände dampfen
vom Qualm der einschlagenden Geschosse, schwarze
Brandflecken bedecken im Nu die überschneiten Flächen,
der Lärm ist ungeheuer. Einige Posten, die im Freien
stehen, werden von den durch die Wände niederklettern-
den österreichischen Patrouillen abgeschossen.
Aber der Hauptteil der italienischen Besatzung bleibt
heil. Zu weit sind schon die Kavernenbauten vorgeschrit-
ten, selbst das Gasfeuer kann den Leuten nicht mehr an.
So ist es kein Wunder, daß die vorgehenden Kaiserjäger
mit mörderischem Feuer empfangen werden und sich
eiligst zurückziehen müssen.
Die Lehre aus diesem letzten Versuch um die
Januar-Mitte 1916 war eindeutig: Jeder Vorstoß durch
io
145
die Wände herunter und über das Band selbst war zum
Scheitern verurteilt Nur mehr Bohrer und Dynamit
konnten der italienischen Stellung auf dem Kleinen
Lagazuoi beikommen.
Bis zum ersten Anschlag dieser Art aber sollte noch
genau ein Jahr vergehen . . .
13.
Während an der Osttiroler Front zwischen dem
Kamischen Kamm und dem Pordoi-Joch zahlreiche und
zäh geführte Angriffe der Italiener abzuwehren sind,
bleibt es südlich davon, in der Marmolata, den Fas-
saner Alpen und dem Raum von Primolano, „Primor"
genannt, merkwürdig still.
Das ganze Jahr 1915 hindurch meiden Oesterreicher
wie Italiener den mächtigen Fels- und Eisblock der bis
zu 3360 Meter hoch ansteigenden Marmolata, das ein-
zige gletschertragende Bergmassiv der Dolomiten. Es
ist, als ob die Natur dem Menschen doch unübersteig-
lidie Hindernisse in den Weg legen könnte. Aber im
Frühling 1916 wird auch dieser Koloß bezwungen und
der Krieg in seiner schauerlichsten Form über die
Grenze des ewigen Eises hinausgetragen.
Der Befehl des Grafen Cadorna an seine 1. Armee,
sich nur der unbesetzten Punkte der Südtiroler Bastion
zu bemächtigen, brachte dem Verteidiger namentlich in
den Fassaner Alpen und dem Primor eine fühlbare Ent-
lastung. Eine Dolomitenmauer von gewaltigem Ausmaß
stellte hier eigentlich nur die Pala-Gruppe dar, die
übrigen Teile dieser Front wären zu Kriegsbeginn an-
gesichts der lächerlich schwachen Kräfte des Verteidigers
leicht zu überrennen gewesen. Stand doch hier nur die
k. u. k. 90. Infanterie-Division und besaß der ausgedehnte
Raum lediglich die Sperre Dossaccio und das Werk
Moena, um weit rückwärts die Zugänge über den Rolle-
Paß und den Pellegrino-Sattel zur Not schließen zu
können. Wie sehr man mit einem Massenvorstoß gegen
das Fleims- und Etschtal gerechnet hatte, beweist der
Umstand, daß gleich nach Eintreffen des Deutschen
Alpenkorps ein ganzes Regiment als Reserve nach Pre-
dazzo dirigiert wurde.
146
Es dauerte volle drei Wochen, bis der Feind den
Versuch unternahm, mit acht Bataillonen bei San Pelle-
grino einzubrechen. Nur ein dünner Menschenschleier
stellte sich ihm entgegen, doch er genügte, um diese
erdrückende Uebermacht restlos scheitern zu lassen. Nach
kurzer Zeit ziehen sich die Italiener wieder zurück. Sie
haben noch nicht jenes untrügliche Fingerspitzengefühl,
das die Schwäche des Gegners erkennt und blitzschnell
ausnützt. Es schien ihnen zu genügen, dem Befehl Folge
geleistet zu haben. Galt es doch nur, unbesetzte
Punkte zu nehmen. Und diese Front war besetzt. Es
brauchte ein weiteres Jahr, eh* sie sich hier zu einem
neuen Vorstoß aufrafften. Dieses Verhalten hat den
Verteidiger vieler Sorgen enthoben.
*
io’
147
Äm Karnischen Kamm
l.
An jenem denkwürdigen Pfingstsonntag 1915, der
mit der Kriegserklärung Italiens den letzten und schwer-
sten Feldzug Oesterreich-Ungarns einleitet, ist die mili-
tärische Lage in Kärnten so gut wie hoffnungslos. Die
Politik des kläglichen Versuchs, einem unentrinnbaren
Schicksal entrinnen zu wollen, hat auch hier ihre faulen
Früchte gezeitigt: eine Grenze, die aufs schwerste be-
droht ist, durfte nicht befestigt werden, weil sich sonst
ein seit Monaten zum Waffengang entschlossener Nach-
bar „provoziert“ hätte fühlen können.
Und wie in Tirol, offenbart sich auch hier die er-
schütternde Tragödie eines tapferen und freiheitslieben-
den Gebirgsvolkes: als die Schicksalsstunde schlägt, ist
es seiner wehrfähigen Männer fast gänzlich entblößt,
steht es einem mächtigen Feind schutzlos gegenüber.
Fern der Heimat, in jagender Hast hinter den geschlage-
nen Russen her marschieren die alpenländischen Regi-
menter im galizischen Sand, marschieren immer tiefer
hinein in den aufgerissenen sarmatischen Raum, indes
der Boden, dem sie verwurzelt sind seit Urväters Zei-
ten, dem Zugriff eines unerbittlichen Gegners preisge-
geben ist.
Was soll nun werden? Italien hatte drei Viertel-
jahre Zeit, sich auf diesen Feldzug vorzubereiten. Es
wird seine Armeen lawinengleich in schutzloses Land
werfen. Franzosen und Engländer rennen vergeblich im
Westen an, die Menschenmassen des Zaren fluten seit
drei Wochen unaufhaltsam gegen Osten zurück, Serbien
sieht dem Todeskampf seines großen Verbündeten ohn-
mächtig zu. Aber hier im Südwesten können kriegs-
entscheidende Dinge geschehen, es bedarf nur des küh-
nen Entschlusses, ohne Rücksicht auf die anderen Fron-
ten möglichst viel von den deutschen Alpenländern zu
besetzen. Denn hier schlummert die geheimnisvolle
Kraft dieses Reiches, das längst zerschellt wäre, wenn
148
nicht die Deutschen Oesterreichs einen unerschöpflichen
Quell des Siegwillens und Staatsgedankens dargestellt
hätten.
Wie ist nun dieser Quell in der Stunde der Entschei-
dung geschützt? Entlang dem Karnischen Kamm und
seiner Ostflanke bis zum Krn hinunter, stehen, zu einem
fadenscheinigen Schleier von 120 Kilometer Länge aus-
einandergezogen, insgesamt 15.000 Mann Infanterie mit
30 Maschinengewehren und 48 Feldgeschützen. Diese
Streitkraft zählt kein einziges Bataillon der ersten Linie.
Es sind freiwillige Kärntner Schützen, aus Kriegsdienst-
untauglichen und Nochnichtstellungspflichtigen zusammen-
gesetzt, schlecht bewaffnet, schlecht ausgerüstet, man-
gelhaft ausgebildet und ohne jede Erfahrung; dann
Marsch- und Landsturmbataillone, die man hierher ver-
legt hat, um Wehrkraft vorzutäuschen. Alles in allem
ein „letztes Aufgebot" von erschütternder Seelengröße,
von einem Opferwillen, der sein Gegenstück nur in
Tirols Standschützen findet.
Heimatliebe und Bergwelt, das sind die beiden star-
ken Wurzeln dieser schwachen Kraft. Aber selbst dort,
wo keine Diplomatie über die unmittelbar drohende
Gefahr hinwegreden konnte, ist nichts geschehen, was
der geringen Hoffnung auf Erfolg ein Rückgrat gegeben
hätte. „Stützpunkte" wie an der Südtiroler Front
fehlen hier gänzlich. Der einzige Uebergang zwischen dem
Kreuzberg und dem Kanaltal, der Plöckenpaß, ist von
gewaltigen Bergen zu einem schmalen Tor eingeengt;
aber dieses Tor steht offen. Erst einen Kilometer nord-
wärts liegt in der Gegend des Plöckenhauses, allseits
eingesehen und übergipfelt, auf einem rasigen Almhügel
der einzige „Stützpunkt" des ganzen Karnischen Kam-
mes: eine armselige Erdbefestigung für etwa 250 Ge-
wehre, „füllkugelsicher", aber ohne Unterstände. Und
dann hat man noch rund um das Plöckenhaus einen
notdürftigen Drahtverhau gezogen. Das ist alles.
Von diesem gefährdetsten Punkt der Kärntner Front
aus kann man Tage und Tage gegen Osten marschieren,
ohne auch nur die Spur einer Widerstandslinie zu fin-
den. Mächtige Berge, deren Grate sich nirgends zum
wirklichen Uebergang senken, die aber auch nicht son-
149
derlich schwer zu erklimmen sind, bilden hier den Kar-
nischen Kamm, die uralte und natürliche Grenze zwischen
zwei Völkern* Am Plöcken gibt es noch etwas wie Ver-
kehr: Leute aus Timau und Paluzza arbeiten auf den
Sägen der Gailtaler Waldbesitzer* Weiter gegen Osten
fehlt auch das* Die Natur hat hier eine strenge Grenze
gezogen.
Erst das Kanaltal öffnet wieder einen Weg zwischen
Nord und Süd. Es ist bei Malborghet durch das ver-
altete Fort Hensel gesperrt. Wieder folgen mächtige
Bergmassive, der Bramkofel, der Wischberg, der See-
kopf, der Rombon. Zwischen ihnen gibt es Uebergänge:
durch das Seebachtal, das vom Raiblerseewerk gesperrt
wird, über den Predil, geschützt durch die Werke Pre-
dil und Hermann, und endlich durch die Soca, das
oberste Isonzotal, teils zum Predil, teils zum Moj-
strovka-Paß führend. Hier soll das alte Sperrwerk
Flitscher Klause einem feindlichen Einbruch Halt ge-
bieten.
Vier Armeen hat Italien aufgeboten, um der Dop-
pelmonarchie den Todesstoß zu geben. Zwei davon um-
klammern Tirol, zwei stehen am Isonzo. Das Bindeglied
zwischen diesen mächtigen Flügeln bildet die „zona
camia“, die Kampfgruppe des Generals Lequio, 31 Ba-
taillone und 13 Batterien stark, deren Vorstoß noch
24 Bataillone und 15 Batterien des IV. italienischen
Korps beiderseits von Flitsch unterstützen sollen. Das
ist an Zahl mehr als das Dreifache dessen, was der
Verteidiger aufzubieten hat; und es sind vor allem
Truppen des ersten Aufgebots, vorzüglich ausgerüstet
und mit moderner Artillerie versehen.
Die Kriegserklärung reißt alle Bedenken in Fetzen.
Jetzt gilt es zu handeln. Die Front im Südwesten findet
zum Glück Männer, deren Nerven auch angesichts dieser
verzweifelten Lage nicht zusammenbrechen. Der Raum
ist ungeheuer, die Streitkraft winzig, das Gelände so
voll der Schwierigkeiten, daß man nicht weiß, wie man
selbst diese winzige Streitkraft verpflegen und aus-
rüsten wird. Aber eine so grenzenlose Not gibt Willens-
kräfte, die ihr gewachsen sind. Kärntens Verteidiger
haben in den folgenden neunundzwanzig Monaten kaum
150
einen Fußbreit Boden verloren. Die Italiener vermochten
wohl einzelne Dörfer auf große Entfernungen in Trüm-
mer zu schießen — mit der Waffe in der Hand haben
sie keines betreten.
2.
Die heikelste Stelle am Karnischen Kamm mußte
vom ersten Augenblick an der Plöckenpaß und seine
Umgebung sein. Wenige Kilometer Vormarsch führen
hier ins Gailtal, von wo aus man nach weiteren zwölf
Kilometern Marsch über den Gailbergsattel ins Drautal
und damit an eine der wichtigsten Bahnlinien der Süd-
westfront kommt.
An den Karnischen Kamm als den Wall, der unbe-
dingt zu * halten wäre, denken nur wenige Soldaten,
vor allem natürlich jene, denen die Verteidigung Kärn-
tens mehr ist als ein militärisches Problem. Niemand
weiß genau, wie stark der Feind ist, was er vorhat;
daß sein Verfahren aber nur im rücksichtslosen An-
griff liegen kann, daß er nach Gorlice nicht lange
fackeln darf, will er nicht früher oder später das rus-
sische Schicksal teilen — das ist jedermann klar. Der
Verstand diktiert: Zeit gewinnen! Zurück auf den Kamm
der Gailtaler Alpen! Das Herz schreit: Nein! Keinen
Fußbreit Landes preisgeben, denn es ist deutsches Land,
das hier auf dem Spiel steht!
Da trifft am Tag der Kriegserklärung ein Mann in
Mauthen ein, den lange Jahre soldatischen Dienstes
und eine große Liebe zu Land und Leuten mit Kärn-
ten verbinden: General Femengel, der ehemalige Kom-
mandant der „Khevenhüller", des Kärntner Infanterie-
regimentes Nr. 7. Ihm ist der wichtigste Teil des Kami-
schen Kammes, der „Grenzabschnitt Kötschach", anver-
traut; und er entscheidet sich für die Lösung des Her-
zens: Widerstand in der ersten Linie, wenn nötig, sogar
Angriff und Rückgewinnung der verlorenen Grenzberge.
Am Morgen des nächsten Tages macht sich General
Femengel auf, um sich persönlich vom Stand der Dinge
auf dem Plöcken zu unterrichten.
Mittlerweile hat sich auf dem Kleinen Pal, dem
östlichen Torpfeiler des Passes, eine Grenzer-Tragi-
1151
komödie abgespielt, wie sie wohl in der Geschichte des
großen Krieges einzig dasteht: Der Organisator der
Kärntner Freiwilligen Schützen im oberen Gailtal ist
Hauptmann Gressel, ein Berufsoffizier, der eben nach
einer schweren Verwundung als Rekonvaleszent in der
Heimat weilt. Hauptmann Gressel ist der Besitzer des
Plöckenhauses und eines Großteils des Plöckengebietes,
er hat ein schönes Gut in Mauthen und einige Sägen,
auf denen vor dem Krieg zahlreiche Leute „von drüben",
hauptsächlich aus Timau, das sie ja noch immer Tischl-
wang nennen, beschäftigt waren. Sie alle kennen den
Hauptmann, aber er ist für sie weniger der öster-
reichische Offizier als der Gutsbesitzer und Brotgeber.
Der Krieg reißt alle diese Bande entzwei. Die Ita-
liener haben die militärpflichtigen Männer ihrer Grenz-
orte längst bewaffnet und ihnen genaue Anweisungen
für den Ernstfall gegeben: Von den wichtigsten Gipfeln
möglichst viele zu besetzen und so lange zu halten, bis
reguläre Truppen eintreffen.
In gleicher Weise machen sich natürlich auch die
Freiwilligen Schützen auf, um vor allem den Kleinen
und den Großen Pal, sowie den dazwischen liegenden
Freikofel in Besitz zu nehmen. Aber ihr Weg ist län-
ger als der ihrer Vettern und Bekannten aus Tischl-
wang: Als sie auf dem Kleinen Pal eintreffen, sitzen
richtig schon die andern oben, schwer bewaffnet, Alpini-
hüte auf den Köpfen!
Geschossen wird zunächst nicht. Es ist schwer, auf
Leute, mit denen man verschwägert ist, deren Arbeits-
kamerad man war, ohneweiters zu schießen. Aber strei-
ten kann man wohl, seine Anrechte auf diesen Boden
mit Worten geltend machen. Und das taten die Gail-
taler denn auch. Es entspinnt sich eine gewaltige Rede-
schlacht, bei der es nicht an gröblichen Aufforderungen
von uralter Drastik fehlt. Das trifft niemand ins Fell,
ist auch keineswegs beleidigend; aber es entscheidet auch
nicht über den Besitz des Berges, und die Zeit drängt.
Einer der Kärntner Schützen verschwindet. Er läuft,
was ihn die Beine tragen, hinunter nach Mauthen, zur
einzigen Autorität, zum Hauptmann Gressel. Der läßt
152
seinen Gaul satteln, trabt auf den Plöcken, steigt, so
rasch es ihm sein Zustand erlaubt, auf den Pal.
Was dort geschieht, ist bald erzählt: Als die Tisdhl-
wanger Aushilfsalpini des Hauptmannes ansichtig wer-
den, ziehen sie die Hüte und wünschen einen guten Tag.
Gressel aber schnauzt sie an: „Was sucht ihr da her-
oben? Schaut, daß ihr augenblicklich verschwindet 1“
Und die Braven nehmen ihre Gewehre, ziehen noch
einmal den Hut und verlassen den Kampfplatz. Das war
ein reiner Sieg der Autorität.
Doch diese so rasch geordnete Lage hält leider nicht
lange an. Von Süden rücken die Italiener mit starken
Kräften an, von Norden her hasten ein paar Landsturm-
kompanien in das bedrohte Gebiet. Es beginnt ernst zu
werden.
Als General Fernengel am 24. Mai auf den Plöcken
eintrifft, ist der Kampf schon im Gang. Italienische
Granaten schlagen in den schwachen Stützpunkt nörd-
lich der Paßenge und starke Alpiniabteilungen sind aus
der Torrente But im Aufstieg gegen den Grenzkamm.
Ein zähes Ringen um die Besetzung und Behauptung der
höchsten Spitzen des Abschnittes setzt ein. Bald da, bald
dort flackern Feuergefechte auf, und es sind vorwiegend
einzelne Männer oder winzige Gruppen, die sich ver-
zweifelt gegen den übermächtigen Feind wehren. Allen
voran die beiden besten Kenner des Plöckengebietes,
der Gendarmeriewachtmeister Simon Steinberger und der
Finanzwachebeamte Franz Weilharter. Was die Berg-
führer in den Sextener Dolomiten waren, das waren
hier diese beiden Männer: Unermüdlich unterwegs, den
todbringenden Stutzen in der Faust, wurden sie zum
Schrecken des Gegners, zur starken Stütze der eigenen
schwachen Kraft.
Die Folgen der zahlenmäßigen Unterlegenheit des
Verteidigers in den ersten Kriegstagen ist verheerend.
Der Feind besetzt ohne sonderliche Schwierigkeiten eine
Reihe der wichtigsten Grenzberge, und es kostet später
viel Blut, diese Berge wieder zu gewinnen und damit
der Front auf dem Kamisdien Kamm Festigkeit und
Dauer zu geben.
153
Welt auseinandergezogen sind die Kompanien der
beiden ersten Truppenkörper des „Grenzabschnittes Köt-
schach", der an der Tiroler Grenze beginnt und auf dem
Hohen Trieb endet: das IX. Marschbataillon des Kärnt-
ner Gebirgsschützenregimentes 1 und das steirische Land-
sturmbataillon 10. Sie sind es vor allem, die den An-
griffsgeist der Alpin! abzukühlen haben. Das Lahner-
jodi wird von den Italienern erstürmt. Ein Gegenstoß
der Kärntner Schützen entreißt es ihnen wieder. Die
Wolayer-Scharte geht verloren; aber unmittelbar nörd-
lich des kleinen Wolayer-Sees klammern sich die stei-
rischen Landstürmer fest und setzen auch hier dem Ein-
dringen des Feindes ein rasches und teuer erkauftes Ziel.
Ganz bös ist mittlerweile die Lage im eigentlichen
Plöckengebiet geworden: Die Angreifer stehen auf der
Kammlinie östlich des Passes, auf dem Kleinen Pal,
vor dem Freikofel, auf dem Großen Pal, und sie haben
vor allem die Höhe besetzt, die das ganze Angerbachtal
beherrscht: den Promos. Als einziger Lichtblick kann
hier gelten, daß sich noch immer eine Kompanie stei-
rischer Landstürmer auf dem Freikofel behauptet. Wenn
auch diese Insel der Verteidigung fällt, droht der Zu-
sammenbruch.
Westwärts vom Plöckenpaß haben Alpin! den Cel-
lonkofel, die Kellerwand, den Collinkofel erstiegen, alles
Punkte, die von Süden her gangbar, von Norden aber
kaum einem tollkühnen Kletterer zugänglich sind. Und
tief unten im Valentintal, auf der Cellonalpe, der kleinen
Hochfläche beim Plöckenhaus und im Angerbachtal steht
der Verteidiger, von zahllosen Punkten aus eingesehen
und dem Feuer der italienischen Geschütze schutzlos
preisgegeben.
Das ungefähr ist die Lage, der sich General Fern-
engel in den letzten Tagen des Mai 1915 gegenüber-
sieht — eine Lage, die man nur als hoffnungslos be-
zeichnen kann.
3.
Hüben und drüben weiß man, daß der Kampf um
den Karnischen Kamm sich überwiegend in dem nur
wenige Kilometer breiten Frontabschnitt beiderseits des
154
Plöckenpasses, namentlich aber auf dem Höhenzug Klei-
ner Pal—Freikofel—Großer Pal—Promos absjpielen wird.
Dieses Gelände blieb denn auch später die Hauptbühne
der Kärntner Front, es kostete durch die folgenden
29 Monate bis zum Siege von Karfreit sehr viel Blut
und Menschenleben. Immer wieder ist es das räumlich
so enge Gebiet der beiden Palgipfel und des dazwi-
schen liegenden Freikofel, dieser von Schützengräben
und gedeckten Zugängen durchfurchte, von Granaten und
Wurfminen grausam zerrissene Rücken, der in den
Kriegsberichten der nächsten Jahre auftaucht. Die ent-
scheidenden Ereignisse aber beschränken sich hier auf
die ersten Kriegswochen; was später geschah, war nur
das opferreiche Ringen zweier ineinander verbissener
Gegner um örtliche Vorteile, die auf keiner Karte fest-
zustellen sind und die niemals das Interesse der Öf-
fentlichkeit finden. Denn was wußte diese Öffentlich-
keit von einem Kampf, der wegen der Nähe der beider-
seitigen Stellungen und dem Ausmaß der eingesetzten
Kräfte und Mittel ungeheuerliche Formen annahm?
Diese Felsbühne gab den blutigsten Abschnitten der
Isonzofront nichts nach an Härte des Ringens, nur daß
hier noch dazu ein regelrechter Hodigebirgswinter an
den Nerven der Soldaten rüttelte.
Doch zunächst galt es, diesen Wall überhaupt erst
in die Hand zu bekommen. Die Aussichten dafür sind
auf Seite des Verteidigers denkbar ungünstig. Außer
den bereits vorhandenen schwachen Kräften treffen zwar
nach und nach die Truppen des VII. Korps, Erzherzog
Josef, in Kärnten und Krain ein, doch entstammen diese
Truppen zum Großteil der ungarischen Tiefebene, sind
also für den Gebirgskrieg nicht sonderlich geeignet und
auch nicht dafür ausgerüstet. Aber die Not ist so groß,
daß man darauf keine Rücksicht nehmen kann. Wich-
tig ist nur, dem zahlenmäßig so überlegenen Feind
mit der Härte kampfgewohnter Männer entgegenzu-
treten.
Am 29. Mai bricht der erwartete Ansturm der Italie-
ner im Plöckengebiet los. Seine Wut richtet sich vor
allem gegen die Landstürmer auf dem Freikofel. Stunde
für Stunde schlagen Granaten aller Kaliber in den Fels-
155
köpf, auf dem die Steirer hinter Steinriegeln und na-
türlichen Deckungen liegen.
Die Verluste sind nicht so erschütternd, wie man
glauben sollte. Die italienischen Batterien wenden zwar
nicht wenig Munition auf, aber ihr Feuer gleicht mehr
einem blindwütigen Dreindreschen als planmäßiger Zer-
störungsarbeit. Nicht unbedeutend hingegen ist die Wir-
kung, die es auf die Seelen der Verteidiger ausübt:
Zum erstenmal und völlig schutzlos einem solchen Höl-
lenwetter ausgesetzt, baut sich vor der Phantasie jedes
einzelnen eine unabsehbare Katastrophe auf, der ent-
gehen zu wollen, ganz nutzlos wäre.
Aber das angeborene Soldatentum des Alpenländ-
lers läßt auch hier keine Panik aufkommen. Die Steirer
kauern mit zusammengebissenen Zähnen hinter ihren
Steinriegeln und warten auf das Ende dieses Eisen-
hagels. Es sind vorwiegend ältere Jahrgänge und ganz
junge Burschen, ohne Kriegserfahrung; aber es sind
eben Steirer.
Plötzlich stellt der Gegner das Feuer ein. Rauch-
fahnen zerfließen noch im Himmelsblau, als ein mörde-
risches Geschrei anhebt: „Avanti Savoial" Die Land-
stürmer blicken über ihre Deckungen hinaus und —
sehen ein Bild, das nicht minder geeignet ist, einen
verzweifeln zu lassen: Von drei Seiten her geht der
Feind in dichtgeballten Massen vor, und er muß zwan-
zig-, dreißigmal stärker sein als die paar Landstürmer,
die keine Hilfe zu erwarten haben.
Schüsse peitschen, Maschinengewehre setzen mit
wütendem Hämmern ein. Aber der Feind findet überall
Schutz vor diesem Abwehrfeuer, das Gelände ist reich
gegliedert, es gibt keine Granaten, die ihn niederhalten
könnten. Er rückt unaufhaltsam näher, er droht, das
Häuflein Männer allseits einzuschließen, ihm die Ver-
bindung über den steil abfallenden Nordhang abzu-
schneiden.
Diese Gefahr muß vermieden werden. Die Kom-
panie geht Schritt für Schritt von der Kuppe des Frei-
kofels bis an seinen Nordrand zurück. Dort aber bleibt
sie festgeklammert liegen, im Rücken den Steilhang,
auf dem es kein Halten mehr gäbe, vor sich eine
156
schwächer geneigte, spärlich bewachsene Fläche, über die
das Verfolgungsfeuer der Italiener fegt.
In dieser ungemütlichen Lage bleiben sie eine Stunde,
eine zweite. Uferlos scheint die Zeit sich hinzudehnen.
Wie das enden soll, weiß niemand. Ins Angerbachtal
absteigen? Dann ist der Freikofel endgültig verloren.
Angreifen? Bei der Uebermacht des Feindes eine aus-
sichtslose Sache.
Aber auch die Italiener wissen sich anscheinend kei-
nen Rat. Wenn sie über den Kamm vorzugehen ver-
suchen, knattert ihnen das Feuer der Verteidiger ent-
gegen und zwingt sie auf den Boden. Doch sie scheinen
gar nicht den Ehrgeiz zu haben, ihren Erfolg zum töd-
lichen Stoß in die Schlagader der Plöcken-Verteidigung,
ins Angerbachtal, auszuweiten. Sie stehen auf dem Fels-
kopf, sie haben den erhaltenen Befehl ausgeführt. Wenn
die Nachbargruppen nicht ebenfalls vorrücken, könnte
eine eigenmächtige Tat der Alpin! auf dem Freikofel
jämmerlich versacken und den schönen Erfolg in eine
Niederlage verwandeln.
So liegen Angreifer und Verteidiger einander gegen-
über, sind stundenlang in ein stehendes Feuergefechi
verwickelt. Da flattert bei den Steirern eine Nachricht
auf, geht von Mund zu Mund: Hilfe kommt! Das Feld-
jägerbataillon Nr. 30 steigt aus dem Angerbachtal her-
auf und wird einen Gegenstoß gegen den Freikofel
führen! Und bald darauf taucht tatsächlich die Spitze
des Bataillons auf, ein Anblick, der wie Erlösung wirkt.
Die 30er-Jäger, Polen und Ruthenen, sind erfahrene
Soldaten. Wenn sie auch in solchem Gelände nie ge-
kämpft haben, so wissen sie doch blitzschnell Bescheid.
Nach kurzer Rast gehen sie zum Angriff vor. Die
Alpini auf dem Freikofel sind bestürzt. Sie haben es
für eine ausgemachte Sache gehalten, daß ihnen nie-
mand mehr den Besitz der Felskuppe streitig machen
wird. Und nun sehen sie sich einem Feind gegenüber,
der mit größter Entschlossenheit näherrückt, während
mörderisches Maschinengewehrfeuer in ihre Stellung häm-
mert und wie Hagelschlag an den Steinen zerspritzt.
Der Gegenangriff gelingt vollkommen. Im Nu sind
die Feldjäger auf dem Freikofel und zwingen die Alpini,
157
bis an den südlichen Steilhang zurückzugehen* Aber
auch die Italiener haben neue Kräfte herangeführt. Ihre
Artillerie setzt mit neuem Feuer ein, ein Vorstoß folgt
dem andern, den ganzen Tag über wird um die Fels-
kuppe mit größter Erbitterung gefochten. Als der Abend
kommt, ist der westliche Gipfel in der Hand der Oester-
reidier, während die Italiener den östlichen behaupten.
Eine endgültige Lösung bedeutet diese Lage nicht.
Am nächsten Tag, dem 30. Mai, kommt es auf dem
Freikofel nur zu andauerndem Feuerwechsel, dagegen
versuchen die Italiener diesmal, sich in den vollständi-
gen Besitz des Großen Pal zu setzen und dann ins
Angerbachtal vorzudringen. Auch dieser Kampf endet
mit einer halben Lösung: Dem Angreifer gelingt es
nicht, sich des Westgipfels und der Hangstellung des
Verteidigers zu bemächtigen. Seine Verluste zwingen ihn,
weitere Verstärkungen abzuwarten.
Darüber verlieren die Italiener immer mehr Aus-
sichten für einen erfolgreichen Einbruch über den Plöcken
ins Gailtal. Schon sind Batterien des k. u. k. VII. Korps
daran, in mühevollem Aufstieg die Mauthner Alpe zu
erreidien, diese ideale Artilleriebasis des Plöckengebie-
tes; schon werden Fernsprechleitungen auf den Polinik
gebaut, der, 2331 m hoch, den Pal-Rücken als eine na-
türliche Warte überragt.
Langsam, aber stetig wird die Widerstandslinie auf
dem Kamischen Kamm stärker. Und wenn auch die
Gefahr noch immer drückend ist, so besteht doch für
die Italiener keine Hoffnung mehr, ohne Kampf und
Opfer in Kärnten einbrechen zu können. Wie überall
an der Front zwischen Ortler und Adria haben sie auch
hier die Schicksalsstunde ihres so heiß ersehnten Feld-
zuges versäumt, in unbegründeter Zurückhaltung und
übertriebener Vorsicht verloren.
4.
Während der Verteidiger hofft, mit Hilfe der nach
und nach eintreffenden Truppen der 17. Infanteriedivi-
sion den Grenzkamm östlich des Plöckenpasses zur Gänze
in seinen Besitz zu bringen, bereiten die Italiener einen
Hauptschlag gegen den Freikofel vor.
158
Dort sitzen nur zwei Züge des polnisch-ruthenischen
Feldjägerbataillons Nr. 30, dessen schneidigem Angriff
es gelungen war, wenigstens den Mittelteil des lang-
gestreckten Pal-Rückens zu behaupten. Links und rechts
von ihnen steht der Feind auf den beiden Pal-Gipfeln,
ihre Lage ist nicht beneidenswert. Am unheimlichsten
aber ist die Tatsache, daß die Italiener vom Promos
und dem Cellonkofel aus jede Bewegung im Angerbach-
und Valentintal wahrnehmen und stören können, indes
die Vorgänge hinter ihrer eigenen Linie gänzlich un-
beobachtet bleiben müssen. Wenn sie nun da oder dort
Kräfte ansammeln und vorstoßen, bedeutet das für den
Verteidiger immer eine peinliche Ueberraschung, deren
Folgen er sich nur mühsam entziehen kann.
Ein solcher überraschender Stoß setzt um das Mor-
gengrauen des 6. Juni gegen den Freikofel ein. Von
drei Seiten her wimmelt es plötzlich rings um die Fels-
kuppe, wirft sich auf das winzige Häuflein der Verteidi-
ger. Noch ist kein Schußlicht, Nebelschwaden lassen den
grellen Schein der Leuchtpatronen zu einem unsicheren,
milchigen Schimmer verblassen. Aber der Feind ist dal
Man hört ihn, obwohl er diesmal lautlos vorzurücken
entschlossen ist, man hört ihn an der hundertfachen
Bewegung im Vorfeld.
Die Gewehre beginnen zu knallen, zwei Maschinen-
gewehre streuen das Vorfeld ab. Ihre Wirkung ist ge-
ring. Das Gelände bietet soviel Deckung, ist so aus-
gedehnt, daß der Großteil der Angreifer ohne Ver-
luste vorwärtskommt. Dieser Umstand entschied in der
ersten Zeit des Krieges meistens über das Verhalten
der Italiener: Sie waren gegen Verluste sehr empfind-
lich, rannten aber unbekümmert dort an, wo der Tod
nicht schon im Vorgehen unter ihnen hauste, einerlei,
ob sie am Ziel nun erst recht Haare lassen mußten
oder nicht.
Diesmal entscheidet die zahlenmäßige Uebermacht:
Sie sind plötzlich mitten unter den Verteidigern, sie
haben die Felskuppe von drei Seiten her erstiegen und
sehen sich nun einer unwahrscheinlich kleinen Schar
gegenüber, die im Nahschuß, mit Handgranate und Ge-
wehrkolben sich zu wehren sucht.
159
Der ungleiche Kampf ist bald entschieden: Im Ver-
lauf weniger Minuten liegen die meisten Jäger mit ein-
geschlagenem Schädel und aufgerissenen Leibern ver-
blutend auf den Felsen; einige sind gefangen, der Rest,
kaum ein Dutzend, hat sich diesem Schicksal durch die
Flucht gegen den Nordhang entzogen. Der Freikofel, um
den schon so viel Opfer gebracht wurden, ist neuerdings
in der Hand der Italiener.
Jetzt hat die Gefährlichkeit der Lage im Plöcken-
gebiet ihren Höhepunkt erreicht: Kleiner Pal, Freikofel,
Großer Pal und Promos im Besitz des Angreifers, ein
Massenvorstoß über die steilen Hänge ins Angerbachtal
bevorstehend, und weit und breit nur kleine Gruppen
gebirgstüchtiger Infanterie, während der Gegner in den
Alpini über geschlossene Massen einer vorzüglichen Hoch-
gebirgstruppe verfügt.
Trotzdem bleibt General Fernengel ruhig und ge-
lassen, ja er verlegt gerade an diesem katastrophalen
6. Juni sein Quartier von Kötschach in die Vorder-Anger-
hütte, er ist nun persönlich mitten in dem gefährdeten
Raum und kann jeder Panikstimmung durch sein Bei-
spiel entgegentreten.
Der Feind bereitet einen Hauptschlag vor. Schwere
und schwerste Geschosse heulen ins Angerbadbtal nieder
und versuchen diesen einzigen Zugang entlang dem Pal-
rücken abzusperren. Nur die dichte Bewaldung der Tal-
sohle macht es möglich, dort unten Truppen zu verschie-
ben, ohne daß sie sofort aufgerieben werden.
Es gilt nun, den verlorengegangenen Freikofel wieder
zu erreichen, oder zumindest diese Möglichkeit den Ita-
lienern so nachdrücklich vor Augen zu führen, daß sie
den drohenden Abstieg ins Angerbachtal verschieben.
Wenn auch der Kraftzufluß sehr bescheiden war und
meist abgerackerte, des Steigens und Gehens auf Fels-
boden ungewohnte Männer an die Front brachte, so
konnten doch ein paar Stunden Zeitgewinn entscheidend
sein.
Das einzige Bataillon, das General Femengel noch
zur Verfügung steht, ist das tschechische Bataillon III/18.
Es wird unverzüglich in dem bedrohten Raum eingesetzt
und soll den Freikofel wieder mit stürmender Hand
160
Flammenwerfer in Tätigkeit
Masdiinengewehr-Unterstand
nehmen. Aber der Angriffsgeist der Tschechen ist nicht
sehr groß, Sie steigen woiii den Hang hinan, entwickeln
sich zum Vorstoß üoer den kücken gegen die Jbeiskuppe,
bleiben aber bald liegen und begnügen sich mit einem
andauernden GepiänKel. So bescheiden diese Leistung
ist — die Italiener lassen sich dadurch irreführen: Statt
das letzte Hindernis zu überrennen und in Massen das
obere Angeroachtal zu erreichen, statt damit den Kampf
um den blocken zu entscheiden, wiederholen sie ihre
Taktik von der ersten Lroberung des Freikofel: Sie
schanzen eifrig und bereiten sich auf die Abwehr eines
Gegenstoßes vor, während ihre Artillerie unermüdlich
die Anmarschwege des Verteidigers unter Feuer hält.
Langsam genen diese Stunden der schwersten Krise
vorüber. Von KÖtschach-Mauthen her sind neue Kräfte,
sechs Kompanien des Szegediner Infanterie-kegimentes
Nr. 46 im Aufstieg begriffen. Diesen Vollblut-Madjaren,
die später zu den rulimvollsten isonzokämptern gehörten,
ist das Gebirge ein Greuel. Sie haben in ihrem ganzen
Leben nicht soviel Steine gesehen, wie in den wenigen
Tagen ihres Aufenthalts in Kärnten, ihr Schuiiwerk taugt
nicht zu einem solchen Unternehmen; die Berge, der
Mangel an Sicht, die kalten Nebelnächte, alles das zu-
sammen ist nicht gerade geeignet, ihre Zuversicht zu
heben. Aber sie sind tapfere Soldaten, die Szegediner,
sie haben viel hinter sich und saßen auch in den Kar-
pathen nicht gerade auf kosenblättern . . .
Am 7. Juni sollen sie den Freikofel angreifen. Gene-
ral Fernengei entwickelt persönlich den Kompaniekom-
mandanten seinen Plan: Zwischen der Höhe 1/)7, dem
FreikofebGiplei, und dem Kleinen Pal ist eine Senke,
einem breiten Sattel ähnlich, über den hinweg man die
italienische Linie durchstoßen und den Freikofel von
Westen und Süden her umklammern und nehmen könnte.
Der Korp§kommandant, Lrzherzog Josef, billigt die-
sen Plan, aber er befiehlt seine Ausführung erst für
den 8. Juni, in der unzweifelhaft richtigen Lrwägung, daß
man die gebirgsungewohnten Szegediner nicht auch noch
in übermüdetem Zustand einsetzen dürfe. Das bedeutet
für die Italiener 24 Stunden Zeitgewinn, bedeutet eine
völlige Veränderung der Lage auf dem Freikofel. Denn
161
u
in diesen 24 Stunden wird die Felskuppe zu einer klei-
nen Festung ausgebaut Die Furcht, hier noch einmal
geworfen zu werden und dann ein drittes Mal stürmen
zu müssen, veranlaßt die Eroberer des Freikofel, eine
phantastische Behendigkeit zu entwickeln. Unbegrenzt viel
Material steht ihnen zur Verfügung, es kommt nur auf
Fleiß und Geschick an. Und so entsteht hier in kürze-
ster Frist eines jener Meisterstücke der Feldbefestigung,
die den österreichisch-ungarischen Soldaten so oft mit
Neid und Verwunderung erfüllt haben, die ihn seine
Unterlegenheit in materieller Hinsicht durch dreieinhalb
Jahre so schmerzlich fühlen ließen.
Auch hier ringt also Blut gegen Eisen, oder besser
gesagt: gegen Sandkorb, Drahtverhau und Maschinen-
gewehr. Als die 46er in heldenmütigen Anlauf den Frei-
kofel zu erstürmen suchen, treffen sie auf eine Wider-
standslinie, die ohne überwältigende Artillerie überhaupt
nicht mehr zu nehmen ist Nach schweren Blutopfern
müssen sie zurück und bleiben schließlich knapp nörd-
lich der Kammlinie liegen.
Damit ist der Gipfel des Freikofel endgültig in
der Hand der Italiener. Aber wenige Meter von diesem
Gipfel entfernt klammert sich der Verteidiger an den
Felsen fest, und das Ringen erstarrt hier zu einem fürch-
terlichen Kleinkrieg, den alpenländische Truppen dann
durch zweieinhalb Jahre zu führen hatten.
5.
Nach diesem Mißerfolg, der doch immerhin in dem
Sinn glimpflich verlief- daß die Italiener auf den Ver-
such, ins Angerbachtal abzusteigen, vorläufig verzichten
müssen, konzentriert sich alle Sorge auf den einzigen
Punkt östlich des Plöckenpasses, den der Verteidiger zu
erreichen hoffen kann: auf den Kleinen Pal.
Dieser mächtige Felskopf bildet den Ostpfeiler der
Paßenge. Eine steil abfallende Vorkuppe streicht von ihm
gegen Nordwest: die sogenannte Maschinengewehmase.
Sein Nordhang fällt schroff zu den Almen am Anger-
bach nieder und ist im untersten Teil bewaldet, höher
hinauf mit Buschwerk bedeckt. Der Kopf selbst zeigt
Rasen auf einer schwachen Humusschichte und ist stark
162
mit Felsrippen und einzelnen Blöcken durchsetzt Gegeii
den Paß zu geht der Kleine Pal in eine Wand über
und ist für stärkere Abteilungen kaum zu ersteigen.
Der beabsichtigte Angriff gegen diesen Grenzberg
konnte nur von einer Geoirgstruppe ausgeführt werden,
sollte er nicht scheitern und damit den letzten Gipfel
des Palrückens endgültig dem Feinde überlassen müs-
sen. General Fernengel hat nur eine solche Truppe
zur Verfügung: das steirische LandsturmJbataillon iü;
denn was sonst an berggewohnten Soldaten vorhanden
ist, liegt in schwerem Kampf mit den Alpini, die west-
lich des Plöcken ins Valentintal einzubrechen versuchen.
Die einzelnen Kompanien der Steirer müssen erst
zusammengezogen werden. Am 14. Juni soll der Vorstoß
beginnen. Fine weitere Verzögerung muß unabsehbare
Folgen haben. Bis zu diesem Zeitpunkt sind allerdings
nur 2Vs Kompanien versammelt, aber General Fernengel
ist entschlossen, mit diesen 400 Gewehren und 4 Maschi-
nengewehren den Angriff durchzuführen.
Schlag 4 Uhr morgens beginnen die Geschütze auf
der Mauthner Alpe, dem Poiinik und der Köderhöhe zu
brüllen. Es ist das erstemal, daß die Italiener im
Plöckenabsdmitt mit der nervenzerreibenden Wucht einer
wirklichen Artillerievorbereitung Bekanntschaft machen.
Und wenn dieses Feuer sich auch nicht mit dem Eisen-
hagel späterer Zeiten vergleichen kann, so ist es immer-
hin stark genug, um einen Gegner, der es nicht gewöhnt
ist, beschossen zu werden, der noch keine Kavernen und
bombensicheren Unterstände hat, einigermaßen zu ver-
schüchtern.
Während Granaten und Schrapnells die mächtige
Kuppe des Kleinen Pal reinfegen und die Italiener
zwingen, hinter Felsblöcken und Sandsackwällen Deckung
zu suchen, sind die Steirer von drei Seiten her im An-
stieg begriffen: Eine Kompanie über die Maschinen-
gewehmase, eine zweite aus dem mittleren Angerbachtal,
um von Osten her den Berg zu umklammern, und eine
halbe Kompanie zwischen diesen beiden Flügelgruppen
zu frontalem Angriff.
Die Hänge sind steil und stark bewachsen. Es
dauert an die zwei Stunden, bis endlich der obere Rand
li*
163
des Geländebruchs. erreicht ist, was Blaggensignale und
Leuchtraketen. von allen drei Gruppen fast; gleichzeitig
melden« Das Artilleriefeuer beginnt zu wandern, rückt
tun hundert, um zweihundert Meter vor, legt eine Kette
krepierender Geschosse hinter die Beiskuppe, tun dem
Bernde das Vorbringen von Reserven zu erschweren.
Das Verhalten der steirischen Landstürmer ist über,
alles Lob erhaben; Ohne zu zögern, stoßen ihre
Schwarm! inien von drei Seiten her gegen den Gipfel
vor, der Kreis wird enger und enger, und kurz nach
7 Uhr früh haben sie den Kleinen Pal, den wichtigsten
Punkt der Blöcken-Verteidigung, in ihrer Hand. Bünf
Offiziere und hundert Mann sind gefangen, eine Reihe
toter und verletzter Italiener liegen in der eroberten
Steilung.
Es dauert mehrere Stunden, bis der Feind sich
von diesem Schlag so weit erholt hat, daß er zum
Gegenangriff schreitet. Seine Artillerie versucht nun
ihrerseits, den Vorgang, der zur Wegnahme des Gipfels
geführt hat, zu wiederholen; sie läßt ein wütendes Feuer
auf die Beiskuppe niedergehen. Aber es ist zu spät. Die
Steirer haben viel Material vorgefunden, sie bauen die
Szene blitzschnell um- Als am frühen Nachmittag der
Feind zum ersten Gegenstoß ansetzt und diesen dann
dreimal wiederholt, erleidet er nur schwere Verluste.
Der Gipfel ist, für ihn verloren.
General Fernengel spannt seine Pläne weiter. Jetzt,
da man einen der Grenzberge fest in der Hand hat,
müßte man so weit nach Süden vorstoßen, daß man
Sicht ins Val grande und damit über die feindwärtigen
Hänge des Pal-Promos-Rückens bekäme. Gelingt das,
dann ist die Lage der Italiener auf dem ganzen Grenz-
wall. unhaltbar, dann kann man ihre Artillerie wirksam
bekämpfen und ihnen den Einblick ins Angerbachtal
nehmen. Wenn man das Werk mit der Gewinnung des
Piz Timau krönen könnte, wären die, Rollen geradezu
vertauscht; Dann hätte der Feind einen Pfahl im Fleisch
sitzen, ähnlich wie jetzt dem Verteidiger der Promos
zu schaffen macht.
Aber nicht diese Erwägungen allein sind es, die
General Femengei zu einem weiteren Vorstoß bestim-
164
men. Er sieht das „Einfrieren“ der Plöckenftoiif voraus,
den jahrelangen, ungemein schwierigen und krüftever-
schlingenden Kamtif um die beiden Palgipfel, um den
Freikofel; er weiß, daß der Feind hier nicht weichen
wird, solange für ihn eine Spur von Hoffnung besteht,
über den Paß und seine Umgebung däs Gailtal zu ge-
winnen. Wenn aber der Verteidiger den südlichen Ge-
fallsbruch der Linie Kleiner Pal—Piz Timau erreicht,
können die Italiener diese Hoffnung nicht mehr hegen.
Damit wäre für die Verteidigung des Plöcken wirklich
Entscheidendes geschehen.
Schon in der Nacht auf den 15. Juni marschieren
deshalb drei weitere Kompanien ins Angerbachtal und
klimmen den Nordhang des Kleinen Pal hinan. Es sind
keine Gebirgler, aber tapfere und kriegserfahrene Sol-
daten: Banater Schwaben und Madjaren vom Infan-
terieregiment Nr. 61, die später, wie alle Truppen des
VII. Korps, zu den opferwilligsten Karstkämpfern
zählten.
Aber auch hier stellen sie ihren Mann. Als der
Morgen graut und das Licht des jungen Tages eben
stark genug ist sich zurechtzufinden, stürmen die 61er
im Verein mit den steirischen Landstürmern den Süd-
hang des Kleinen Pal hinunter, werfen den Feind aus
seiner neuen Stellung und drängen ihn gegen den Steil-
abfall zurück.
Da wendet sich das Kriegsglück. Die Italiener haben
diesen Stoß erwartet. Starke Massen ihrer Infanterie
lagern bereits knapp unter dem Gefällsbruch, werden
sofort alarmiert und erscheinen plötzlich auf dem Hang.
Angriff und Gegenstoß prallen erbittert aufeinander, es
kommt schließlich zu einem stehenden Feuergefecht.
Damit ist für die Italiener alles gewonnen. Sie
brauchen ihren Gegner nur so lange festzuhalten, bis
er durch Artilleriefeuer völlig zermürbt ist. Der Vorteil
Hegt nun entschieden auf italienischer Seife: Ihre Bat-
terien bearbeiten einen Angreifer, der ohne Deckung auf
dem feindwärfs geneigten Hang festgekrallt ist, während
von der österreichischen Artillerie nur die wenigen Hau-
bitzen wirksam feuern können, die Feldkanonen atff der
Mauthner Alpe aber zum Schweigen verurteilt sind.
165
Drei Tage datiert dieses Ringen tim den Südhang
des Kleinen Pal. Immer wieder versuchen die Steirer
und Madjaren, den klammernden Ring des Feindes zu
durchbrechen und den Steilabfall zu erreichen. Aber
die Italiener halten mit erbitterter Entschlossenheit fest,
wehren die nächtlichen Vorstöße ab, bis der neue Tag
ihnen wieder die Möglichkeit gibt mit Granaten und
Schrapnells den zähen Feind zu dezimieren.
Neue Verstärkung haben die Männer auf dem Klei-
nen Pal nicht zu erwarten. Der Raum, den das
VII. Korps halten soll, ist zu groß, die Gefahr, an
anderer Stelle einen Schlag zu erhalten, drohender denn
je. So bleibt nichts übrig, als den schönen Plan aufzu-
geben und in der Nacht auf den 18. Juni die Reste der
fünf Kompanien in die Gipfelstellung des Kleinen Pal
zurückzunehmen.
Die Verluste der Madjaren, Schwaben und Steirer in
den letzten Tagen sind überaus schmerzlich: 374 Mann
an Toten und Verwundeten zählen die fünf Kompanien,
weit mehr als ein Drittel ihres ursprünglichen Standes,
angesichts des ewigen Kräftemangels an der Kärntner
Front ein schwerer Schlag.
Mit der Rückeroberung des Kleinen Pal am 14. Juni
1915 sind eigentlich die Geschehnisse östlich des Plöcken-
passes in großen Zügen abgeschlossen und festgelegt.
Dem heroischen Auftakt der ersten drei Kriegswochen
folgt ein langes Martyrium der Verteidiger, die in ihrer
stets bedrohten und bedrängten Lage ausharren müssen,
bis nach weiteren 28 Monaten die Erlösung kommt.
Ein Pfeiler des wichtigsten Ueberganges ins Gail-
tal ist nun in der Hand der Oesterreicher. Alles Augen-
merk der Führung wendet sich jetzt dem zweiten zu,
dem Gelionkofel, der als mächtiger, weithin beherr-
schender Doppelgipfel steilwandig gegen den Himmel
ragt. Hier kann man nicht Bataillone und Kompanien
einsetzen: Der Cellonkofel gehört, wie die Dolomiten-
türme, dem Einzelgänger, dem Manne, der nach eigenem
Kopf und eigenem Herzen das Unglaubliche plant und
in die Tat umsetzt.
6.
Die Lage westlich des Plöckenoasses ist nach und
nach kritisch geworden. Der mächtige Höhenzug, der
das wichtige Valentintal im Süden begleitet der Cellon;
die Grüne Schneid, der Collinkofel, der Coglians, alle
diese Bergriesen sind für die Italiener leichter zu er-
steigen als für den Verteidiger, abgesehen davon, daß
österreichischerseits nur schwache Patrouillen und ein-
zelne Posten eingesetzt werden können, während die
Alpini über bedeutende Kräfte verfügen.
Der Cellon fällt gleich in den ersten Kriegstagen
den Italienern kampflos in die Hände. Ihn vorher zu
besetzen, war angesichts der geringen Streitkräfte und
der Unmöglichkeit, selbst diese zu versorgen, nicht denk-
bar gewesen. Ein schwacher Gendarmerieposten auf der
Grünen Schneid wird von den Alpini in einem nächt-
lichen Ueberfall ausgehoben. Ebenso gelingt es dem
Feinde, den Wolayerpaß zu besetzen, nachdem zwei
Züge des Infanteriebataillons III/57 umgangen und zum
größten Teil niedergemacht wurden.
So wii.d es denn nach und nach dringend, dem An-
greifer hier wieder einige Gipfel zu entreißen, um sich
die Bewegungsfreiheit im Valentinsal zu sichern und
Einblick in die Räume hinter der italienischen Linie zu
gewinnen. Als erster dieser Gipfel soll der Cellonkofel
zurückerobert werden.
Der Mann, der vermöge seiner Ortskenntnis einzig
und allein für diese alpinistische Großtat in Betracht
kommt, ist der Gendarmerie-Wachtmeister Simon Stein-
berger. Jahrelang hat er hier Dienst gemacht, hat auch
aus freien Stücken die Gegend abgestreift und zahl-
reiche Gipfel erklettert. Er kennt den Cellon wie kein
zweiter.
Jetzt sind die Bedingungen für ein Durchklettern der
Nordwand allerdings unendlich schwerer geworden. Der
Feind sitzt oben, er hat den Ost- wie den Westgipfel
in der Hand, er braucht bloß Steine abzulassen, um
den Angreifer in die Tiefe zu schmettern. Jedes Ge-
räusch muß also vermieden werden; und überdies muß
167
der Aufstieg bei Nacht erfolgen, weit die Cellon-Nord-
ostwand vom Promos her eingesehen ist.
Zwei Nachte lang klettert Steinberger mit meinen
fünf Begleitern, bis er endlich knapp unter dem Ost-
gipfel anlangt. Den Wenigen, die um die Unternehmung
wissen, erscheint es, als hätte der Berg die sechs Män-
ner spurlos verschlungen: den ganzen Tag über suchen
sie mit Ferngläsern die Wände und Schluchten ab, ohne
eine Spur von den Tapferen zu finden.
Aber da, am frühen Morgen den 25. Juni knattern
plötzlich Gewehrschüsse vom «Cellonkofel her, Explosio-
nen von Handgranaten schüttern durch die Luft, dann
wird es wieder still. Daß Wachtmeister Steinberger den
Gipfel erreicht hat, ist nun sicher; ob er und seine Be-
gleiter das Wagnis mit dem Leben bezahlten und der
Berg nun als endgültig verloren zu betrachten ist, weiß
niemand.
Es vergehen einige Viertelstunden, bis wieder Ge-
wehrfeuer vom Cellon her aufflackert, einige Schüsse
nur, zwischen Ost- und Westgipfel gewechselt. Die An-
greifer leben also, das Unwahrscheinliche ist ihnen ge-
lungen! Aber auch der Feind scheint noch einen Teil des
Berges in seiner Gewalt zu haben.
Diese Vermutungen werden nach und nach zur Ge-
wißheit. Den sechs Männern ist es gelungen, den Ost-
gipfel zu ersteigen und die völlig überraschten Italiener
zum Rückzug zu zwingen. Aber dann legen sich ihnen
unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg: Der Feind
sitzt wohl verschanzt auf dem Westgipfel; er hält den
Grat unter Feuer, es muß ihm ein Leichtes sein, die
paar Männer einzeln abzuschießen, falls sie ihre Deckun-
gen verlassen.
Fünf Tage und Nächte verharrt Steinberger mit sei-
nen Getreuen auf dem eroberten Posten, bis endlich
Verstärkung und Nachschub kommt. Es ist auch jetzt
ein tolles Beginnen, bei Nacht und schwerbepackt die
Wand zu durchklettern. Aber dann vermag nichts mehr,
den tapferen Kärntnern die Spitze zu entreißen.
Freilich, der Westgipfel in der Hand der Alpin!
blieb als eine bittere Tatsache bestehen: Von hier aus
sieht man bis ins Gailtal, überallhin blickt diese Fels- *
168
*
mauer wie ein böses Auge in das Treiben hinter den
österreichischen Linien. Wachtmeister Steinberger, der
Mann, der nicht nur dem Andre Hofer so ähnlich sieht,
sondern auch ähnlicher Gesinnung Ist, begnügt sich nicht
mit seinem Erfolg. Am 18. Juli versucht er, über den
Grat hinweg den Westgipfel zu erreichen und die Älpini
auch von dort zu vertreiben. Nach und nach ist die
Besatzung des Ostgipfels auf 30 Mann angewachsen,
so daß selbst einige Opfer nicht den Verlust der erober-
ten Stellung nach sich ziehen müssen.
Doch — es ist zu spät. In gewaltiger Ueberzahl,
mit Schießbedarf und Handgranaten reichlich versehen,
erwarten die Italiener den Angriff, um ihn blutig ab-
zuwehren. lEs bleibt schließlich nichts übrig, als sich
mit dem einen Gipfel zu begnügen.
Noch einmal, im Frühherbst 1915, wird das Wagnis,
den Grat zu überqueren, unternommen. Diesmal ist es
der tapfere Finanzwachebeamte Franz Weilharter, der
den Ueberfall versucht und dabei den Heldentod fin-
det. Mit ihm ist einer der tüchtigsten Männer des
Plöckenabschnittes im Kampfe um die Heimat gefallen.
Aber der Cellon-Ostgipfel bleibt ein volles Jahr in
der Hand der Verteidiger Kärntens, all den unsagbaren
Mühen, Gefahren und Leiden seiner Besatzung zum
Trotz. Regelrechte Stellungen entstehen auf dieser Mauer,
ja sogar eine kleine Drahtseilbahn führt schließlich zur
Gelionalpe hinunter und versorgt die Leute auf dem
Felsenhorst mit Verpflegung, Baumaterial und Munition.
Ein volles Jahr, bis zu jenem unseligen 29. Juni
1916, an dem Verrat und Feigheit die Spitze dem
Feinde überließen. Zu dieser Zeit war der Gelion nicht
mehr von tapferen Aelplern besetzt, sondern von einer
tschechischen Landsturmkompanie, in der sich nur etwa
zwanzig Deutsche befanden, und die noch dazu —
strafweise auf diesen so wichtigen Punkt geschickt wor-
den war.
Das Verhängnis nahm rasch seinen Lauf. In Kürze
hatten sich die Tschechen mit den Italienern verständigt.
Als die Alpini bei Nacht über den trennenden Felsgrat
turnten, trafen sie auf keinen Widerstand. Die wenigen
Deutschen wurden über die Wände hinuntergeschleudert
169
und fanden samt und sonder» ein grauenvolles Ende.
Nur ein Einziger entging diesem Schicksal durch eine
verzweifelte Tat: Er erreichte die Drahtseilbahnstation,
umschlang das Seil mit Armen und Beinen und ließ sich
daran, sechshundert Meter tief, in sausender Fahrt hin-
untergleiten. Das Seil zerschnitt ihm Mantel und Bluse,
Hemd und Muskeln bis auf die Knochen. Aber der Mann
ließ nicht los. Schwer verstümmelt kam er unten an
und blieb ohnmächtig liegen. Als er das Bewußtsein wie-
der erlangte, konnte er nur berichten, welch einer er-
bärmlichen Niedertracht seine deutschen Kameraden und
damit der so schwer erkämpfte Cellonkofel zum Opfer
gefallen waren.
Dieser Verrat steht in der Geschichte des Kampfes
um den Kamischen Kamm ohne Beispiel da. Und er
muß denen, die ihn begingen, ewig auf der Seele bren-
nen, weil er nicht nur unsoldatisch, sondern auch Män-
nern, gleich welcher Ueberzeugung sie sein mögen, un-
würdig war ...
7.
Aus den sorgenvollen ersten Wochen der Verteidi-
gung Kärntens ragen so viele Heldentaten als Licht-
strahlen auf, daß sie im einzelnen kaum zu schildern
sind. Schwerste Granaten zertrümmern die Eindeckun-
gen der Forts, die die Namen Unsterblicher tragen:
Hensel und Hermann, der Sperrwerke von Malborghet
und auf dem Predil; zertrümmern das veraltete Raibler
Seewerk, die „Straßensperre“ hoch droben jenseits des
kleinen Sees, um den ziffernmäßig so weit überlegenen
Truppen des Generals Giardina den Weg nach Tarvis
und weiter ins Becken von Villach zu bahnen. Umsonst.
Wie überall an der langgestreckten Alpenfront kämpft
auch hier die k. u. k. Festungsartillerie mit jener Bra-
vour, die sie, in der Nachfolgeschaft der alten „Bom-
bardiere“, aus fernen Tagen und Kämpfen herüberträgt
in die entscheidenden Schicksalsjahre der Doppelmon-
archie. Kasematten stürzen ein, Batterien werden in
Schutthaufen verwandelt. Der Großteil der Geschütze
muß in der Nachbarschaft der Werke aufgestellt wer-
den, weil sich diese als zu schwach erweisen. Aber aus
170
den Trümmerhaufen dröhnen immer wieder die Lock-
schösse der Tapferen, die, ihrer Winkelriedrolle be-
wußt, das feindliche Feuer auf sich lenken und so ihren
Kameraden tausende und aber tausende Granaten er-
sparen.
Zu Kämpfen größten Stils kommt es in der zweiten
Augusthälfte 1915 auf den Bergen beiderseits des Flit-
scher Beckens, als die Truppen des IV. italienischen
Korps unter Generalleutnant Nicolis de Robilant und der
Gruppe General Giardina versuchen, sich in den Besitz
der Kette Krn—Vrata—Vr§iö—Lipnik einerseits und des
Rombon und Wischberges andererseits zu setzen. Auch
hier wird um die Behauptung einer Linie gerungen, die
dann mehr als zwei Jahre fast unverändert gehalten
werden konnte. Dem anfänglichen Zögern der Italiener
folgen erbitterte, ja verzweifelte Vorstöße. Volle sie-
ben Wochen dauern diese Kämpfe in einer Hochgebirgs-
landschaft, die an Wildheit und Schwierigkeit des Nach-
schubs ihresgleichen sucht. Vom Tolmeiner Brückenkopf
bis zum Kanaltal flammen die Berge unter dem Ein-
schlag italienischer Granaten, knattert das Abwehrfeuer
der an Zahl so schwachen Infanterie des Verteidigers.
In den ersten Augusttagen setzen sich die Bataillone
des Angreifers langsam gegen das Flitscher Becken und
seine flankierenden Höhenzüge in Bewegung. Sie fühlen
vom Canin gegen den Rombon vor, besetzen den auf-
gegebenen Raum in der Talsohle, verdichten sich auf
dem Kamm zwischen VrZiö und Krn, den sie schon in
den ersten Kriegstagen nehmen konnten. Dieser vor-
sichtige Anmarsch alarmiert den Verteidiger, aber da
an Hilfe in größerem Ausmaß nicht zu denken ist,
bleibt es bei dem Entschluß, die selbstgewählte Wider-
standslinie bis zum äußersten zu halten. Jedes Zurück-
weichen mußte sich auch auf die Isonzofront katastro-
phal auswirken.
Am 12. August beginnt zwischen Km und Rombon
das Artilleriefeuer der Italiener, übermächtig, mit ge-
waltigem Munitionsverbrauch zwei Tage und zwei Nächte
andauernd. Dann stürmen Infanteriemassen vor, um zu-
nächst dem Verteidiger die weit ausladende Stellung auf
dem Vr§iö zu entreißen.
171
Wier steht ein Bataillon des niederösterreichlschcn
Sxhützenregrmenfes Nr. 21 in verzweifelter Abwehr. Ihre
Gegner, "Bersaglieri, klammern sich auf dem Stellhang
fest, klimmen immer wieder allen Verlusten zum Trotz
die schwachbewachsenen, mit Geröll durchsetzten Lehnen
hinan, um nach zweitägigem Ringen doch weichen zu
müssen.
Einen Tag lang herrscht nun hier die Ruhe der Er-
schöpfung. Dann folgt neuerliches Trommelfeuer, reißt
die schwachen Drahtverhaue weg, zertrümmert Unter-
stände und Deckungen. Das'Schützenbataillon kann nicht
abgelöst werden. Am 20. August kommt der Haupfsturm:
Vier Stunden lang branden die Wellen der Bersaglieri
gegen den VrZiö am werden mit Gewehr und Hand-
granate und schließlich mit Kolben und Messer zum
Scheitern gebracht. Die Verluste der Italiener sind ge-
waltig, denn vom benachbarten Lipnik her feuern die
Kärntner vorn Gebirgsschützenregimenf Nr. 1 zielsicher
in ihre Reihen, verfolgen die Weichenden mit einem
wahren Geschoßhagel.
Ebenso heftig tobt der Kampf im Fllfscher Becken
und um den zerrissenen TFelsgipfel des 2208 Meter hohen
Rombon. Hier befindet sich der Verteidiger in der
schwierigen Lage, nicht einen Schritt weichen zu dürfen,
ohne einen der wichtigsten Punkte am oberen Isonzo
unwiederbringlich und unersetzlich zu verlieren. Als nach
erfolgreicher Abwehr der ersten Vorstöße — den Rom-
bon halten nur zwei Kompanien, von einer auf dem
Gipfel eingebauten Gebirgskanone unterstützt — Be-
wegungen beim Feind neue Angriffe befürchten lassen,
wird hier ein Bataillon des eben aus Rußland eintreffen-
den Gebirgsschützenregimenfs Nr. 2 eingesetzt. Den
Alpini gelingt es, für kurze Stunden in die Gipfelstel-
lung einzudringen. Ein Gegenstoß wirft sie wieder hin-
aus. Damit ist auch hier die Lage dauernd entschieden,
obgleich General Giardina den Befehl gegeben hat, den
Rombon unter allen Umständen und um jeden Preis
zu nehmen. Zwei Jahre lang bleibt der mächtige Gipfel
in der Hand der Oesterreicher, um dann im Oktober
1917 -beim Durchbruch von Flitsch eine entscheidende
Rolle zu spielen.
T72
Wochenlang versuchen die Italiener, ihre Niederlagen
in den ersten Isonzoschlachten durch einen/Vorstoß zwi-
schen Alpenfront und Karstfront auszugleichen. Als dann
endlich das fortschreitende Jahr und der Kräfteverbrauch
zwischen Tolmein und der Adria sie zwingt, den so zäh
verfolgten Plan eines Durchbruchs am Oberlauf, des
Isonzo aufzugeben, kann der Verteidiger auf eine statt-
liche Reihe allerdings zum Teil schwer erkaufter Er-
folge zurückblicken. Das erste Jahr, das entscheidende
Jahr im Ringen um die Alpenfront hat auch hier mit
einem vollen Erfolg in der Abwehr geendet*
8.
Nicht überall entlang dem Karnischen Kamm gelingt
es dem Verteidiger, die für ihn günstigste Linie zu. er-
reichen oder festzuhalten. Der Kräftemangel der ersten
Wochen kostet ihn später viel Blut. Umso höher ist
ein Erfolg zu werten, der die Abwehrfront über die
Reichsgrenzen hinaustrug und daher nicht nur aus mili-
tärischen, sondern auch moralischen Gründen als eine
Großtat zu verzeichnen ist: die Eroberung des Monte
Peralba.
Dieser mächtige Felsblock, dessen zerklüfteter Gipfel
2694 Meter hoch aufragt, wurde zu Kriegsbeginn von
beiden Parteien gemieden, obgleich er für die Beherr-
schung des Hochalplr Joches wichtig, ja unentbehrlich ist.
Auf Seite der Oesterreicher mag dafür wohl die Un-
möglichkeit, einen so entlegenen Posten zu versorgen,
ausschlaggebend gewesen sein, auf italienischer Seite der
Ehrgeiz, sich nicht mit der Behauptung eigenen Bodens
zu begnügen- sondern den Krieg auch hier über die
Grenze zu tragen. So bestanden die „Operationen“ im
Gebiet des Peralba lediglich darin, daß die Kärntner
vom Gebirgsschützenregiment Nr. 1 auf der Ostschulter
des Gehirgsstockes eine Feldwache unterhielten, die, weit
vorgeschoben und auf sich selbst angewiesen, ein frag-
würdiges Dasein führte.
Es dauerte daher nicht lange, bis die Alpin! diese
Feldwache überfielen und sie nach kurzem, erbittertem
Kampfe aufhoben. Nun wäre Gelegenheit gewesen, den
173
Gipfel selbst zu besetzen. Aber nichts dergleichen ge-
schah. Erkundungspatrouillen stellten fest, daß jetzt nur
an Stelle der österreichischen Feldwache eine italienische
stand, daß aber die eigentliche Felsenburg des Peralba
nach wie vor vom Feinde frei war. Es reifte daher der
Entschluß, sich des Berges zu bemächtigen.
Auch hier sind es die wahren Helden des Hoch-
gebirgskrieges, einfache Männer, deren Handlungen von
tollkühner Tatkraft und dem soldatischen Instinkt des
Bergbewohners bestimmt werden, die ohne langwierige
Vorbereitungen, Pläne und militärische Kenntnisse wahr-
haft entscheidende Dinge tun: Acht Mann, in zwei
Patrouillen geteilt, die eine den Korporal Rudolf Fell-
ner, die andere den Gefreiten Ludwig Lipoth an der
Spitze, erobern in einer mondhellen Juninacht den Monte
Peralba.
Griff um Griff klimmen die Gebirgsschützen den
Nordgrat des Berges hinan. Als sie auf der Höhe der
italienischen Feldwachenstellung sind, teilen sie sich.
Lipoth soll mit seinen Leuten die Alpin! direkt angehen,
um sie von den Geschehnissen über ihnen abzulenken,
während Fellner erst den Gipfel erreichen und von dort
aus gegen die „Schulter“ vorstoßen will.
Die vier Mann der Gruppe Lipoth sind auch alsbald
in ein Feuergefecht mit den Italienern auf dem Ostgrat
verwickelt. Herüber, hinüber pfeifen die Geschosse, da
und dort zerspritzt das Blei an den Felsen. Es besteht
die große Gefahr, daß die Alpin! Verstärkung erhalten,
oder daß sie jetzt schon stark genug sind, um ihre
Stellung zu verlassen und den Angreifer einzukreisen.
Aber die liegen hinter ihrer Deckung und schießen
— und schießen so ausgezeichnet, daß die drei Beglei-
ter des Gefreiten alsbald verwundet liegen bleiben.
Lipoth gibt den Kampf nicht auf. Er weiß wieviel davon
abhängt, daß der Feind sich nur von dieser Seite her
angegriffen glaubt, daß er nicht merkt, wie schwach die-
ser Angreifer ist, bevor Fellner den Gipfel erreicht hat.
Das dauert, das dauert unendlich lange. Es ist
schwer, in voller Rüstung und bei Nacht einen Kamin
nach dem andern zu durchklettern. Trotz der eisigen
Luft, die hier weht, sind die vier Männer, die da auf-
174
wärfsklimmen, in Schweiß gebadet Sie hören von links
unten das Feuer der Kameraden und die Antwort der
Alpin!. Solange die Gewehre krachen, läuft die Aktion
ganz nach Wunsch ab. . .
Jetzt endlich die Felsstufe unter dem Gipfel, von
dem aus Korporal Fellner die Italiener unter Feuer
nehmen will! Sie kriechen vor, suchen das Aufblitzen
der Alpinistutzen da unten. Nichts. Der Feind klebt so
dicht an der Wand, daß er gegen Sicht und Schuß von
oben vollkommen gedeckt ist.
Aber er muß aus seinem Horst geworfen werden 1
Der Morgen dämmert bereits, die Zeit drängt Fellner
faßt einen tollkühnen Entschluß: Er läßt sich über die
Wand abseilen.
Freischwebend taucht er über den Alpin! auf. Wenn
jetzt ein Stein ausbricht, wenn er entdeckt wird- knallen
sie ihn weg ... Da saust die erste brennende Hand-
granate in die Tiefe, krepiert mitten unter die Ahnungs-
losen mit höllischem Krachen. Schon ist die zweite an-
gerissen, fliegt nach. Die Alpin! springen auf, flüch-
ten. Das ist ihr Untergang. Denn nun müssen sie die
schützende Wand verlassen und geraten vor die Läufe
der Kameraden Fellners. Einer nach dem andern stürzt
zusammen, rollt ins Kar hinunter. Die Ostflanke des
Monte Peralba ist wieder in der Hand der Oester-
reicher.
Und der Gipfel! Dieser stolze Gipfel auf italieni-
schem Boden, erobert von einer Handvoll tapferer
Männer! Der Kriegsbericht meldet diese Heldentat. Sie
reiht sich würdig an die Taten eines Sepp Innerkofler,
eines Simon Steinberger, eines Franz Weilharter.
Bis zum Abzug der Italiener von der Kärntner Front
im Herbst 1917 bleibt der Monte Peralba im Besitz der
Oesterreicher. Als kurz nach seiner Eroberung Abteilun-
gen der Division Pustertal ebenfalls die Reichsgrenze^
überschreiten und die Linie Pala di Sterpe—Malga Chi-
vion besetzen, ist auch seine Westflanke gesichert.
Es dauert zwei volle Monate, bis die Italiener einen
groß angelegten Versuch unternehmen, den Peralba wie-
der in ihren Besitz zu bringen. Am 7. und 8. August
klettern vier Alpinikompanien die Süd- und Südosthänge
175
hinan, um das zu ertrotzen, was sie in den ersten Kriegs-
tagen kampflos hätten haben können. Umsonst; Die Ge-
birgsschützen auf dem Gipfel wehren alle Angriffe ab.
Mit Gewehr, Handgranate und Steinlawine verteidigen
sie den Berg, dessen Verlust der Feind so schmerzlich
empfindet, der wie ein Dorn aus der Front am Karni-
schen Kamm springt. Die in seinen Schrunden und Klüf-
ten bluten, opfern Leben und Gesundheit einem aus-
sichtslosen Beginnen.
Allmählich tritt an der Kärntner Front und hinunter
bis zum Krn jene Erstarrung der Front ein, die dann
bis zur Schlacht von FÜtsch-Tolmein ungelöst blieb. Wenn
auch der Angreifer keine Bewegungen großen Stils mehr
unternahm, so kostete doch der jahrelange Kleinkrieg,
das örtlich begrenzte Ringen um einzelne Gipfel, ja um
Grabenmeter viel Blut, erforderte viel Opferwillen und
Tapferkeit. Zahllose Gräber hüben und drüben sind
heute noch die stummen Zeugen eines Ringens zweier
Völker miteinander und beider gegen Schnee und Kälte,
Fels und Lawine, das schließlich anderwärts entschieden
wurde. Eine eiserne Wacht stand an Kärntens Toren.
Das k. u. k. VII. Korps, das zu Kriegsbeginn hier eine
entscheidende Rolle gespielt hatte, war längst am Süd-
karst. Truppen aus allen Gauen des weiten Reiches
hielten diese Wacht durch 28 Monate; vorwiegend aber
Söhne der Alpenländer, Freiwilligenbataillone aus Kärn-
ten, aus der Steiermark, aus Salzburg. Sie alle werden
unvergessen bleiben, solange unser Volk an seinen
schönsten Tugenden festhält: Tapferkeit, Treue, Opfer-
willigkeit und Liebe zum ererbten Boden. *
*
176
Ifalienlsdie Grabenposfen
Minenkrieg: Erweitern eines Minenganges
West- und Südtirot
t
Allen menschlichen Massen entrückt, voll des Zau-
bers einer erhabenen Schönheit ist der Südwesten des
„heiligen Landls“, die mächtige Fels- und Eismauer zwi-
schen der Schweizer Grenze und dem Gardasee. In einer
fast ununterbrochenen Kette reiht sich hier Bergriese an
Bergriese, jeder von Gletschern tungürtet und mit ewigem
Schnee gekrönt — ein Paradies wilder, ungebändigter
Natur im Herzen Europas, nur von wenigen, von den
besten Touristen gekannt und geliebt
Wohl gab es auch in dieser grandiosen Bergwildnis
Schutzhütten und Hotels, aber ihre letzten Geheimnisse
haben nur die Tüchtigsten ergründet Das Ortlermassiv,
die Presanella- und Adamellogruppe blieben von den
großen Strömen des Fremdenverkehrs verschont; und
wenn auch Jahr um Jahr in steigendem Ausmaß die
Kraftwagen über das Stilfserjoch und den Tonalepaß
dröhnten — weder sie, noch, die Neugier der Fußwan-
derer vermochten die gewaltige Einsamkeit der Fels-
giganten zu zerstören, in deren Schluchten sogar noch
der braune Bär hauste.
So erfüllte auch der Krieg die Gemüter hier mit
geringerer Sorge. Waren die wenigen Uebergänge sicher
gesperrt, dann konnte ein zahlenmäßig noch so über-
legener Feind der Tiroler Westgrenze wenig anhaben.
Man braucht die Paßstraßen, um sich in dieser unwirt-
lichen Gegend halten zu können. Was der Mann an
Waffen, Munition und Verpflegung nicht bei sich trägt,
kann ihm nicht einmal ein Maultier nachschleppen. Ge-
schütze, Minenwerfer, Eisen und Beton, kurz alles, was
schwer und unhandlich ist, spielt hier eine untergeord-
nete Rolle. Zu Kämpfen großen Stils kann es nicht
kommen. Der einzelne Mann und seine alpinistische
Tüchtigkeit herrschen hier ebenso unumschränkt wie in
den Dolomiten.
12
177
Eines aber ist noch schwerer, fragwürdiger und be-
ängstigender als dort: Wie sollen Menschen im ewigen
Winter dieser Dreitausender leben? Wie sollen sie sich
vor dem Untergang schützen, wenn der ewige Winter
für acht Monate des Jahres zu einer wahren Eishölle
wird? Es gab vereinzelte Helden der Wissenschaft, die
einen Winter in der Arktis mitgemacht hatten; aber sie
waren mit allem Erdenklichen ausgerüstete gewesen und
fühlten sich körperlich und seelisch dem Ansturm der
Natur gewachsen. Hier, in dieser Wildnis* mußte blei-
ben, wen das Schicksal traf; und neben Eis, Schnee,
Frost, Hunger und Erschöpfung stand noch der Feind,
bereit, jeden Vorteil rücksichtslos auszunützen und den
Gegner zu erledigen, wie und wo er ihn trat
Es gab keine Erfahrungen auf dem Gebiete eines
solchen Hochgeb irgskrieges. Niemals hatten Menschen in
größerer Anzahl so hoch droben, so fern von jeder
Hilfe gehaust Selbst denen, die dem Nordpol zu Leibe
rückten, war es nicht eingefallen, bei 40, bei 50 Kälte-
graden Posten zu stehen und Lasten fast 4000 Meter
hoch zu schleppen. Halten doch viele nicht einmal die
dünne Luft aus, die in solchen Höhen herrscht!
Der Feind drüben hatte wenigstens noch seine Alpin!.
Die Söhne der österreichischen Alpenländer lpgen im
galizischen Sand verscharrt oder kämpften gegen die
russische Uebermachf. Als der Krieg im Südwesten keine
Drohung mehr war, sondern bittere Tatsache* standen
im Ortlerabsdmitt ein südungarisches Reservebataillon
und zwei Kompanien Vinfschgauer Standschützen; das
gefährliche Einfallstor des Tonale bewachten außer zwei
modernen und zwei alten Panzerwerken ein Marsch-
bataillon Kaiserschützen, ein Reservebataillon aus dem
Banat, elf Kompanien Standschützen und drei Feld-
kanonenbatterien. Diese „Hauptmacht“ der Westtiroler
Front durfte man nicht verringern, weil es sicher schien,
daß der größte Teil der 5. italienischen Division einen
Durchbruch über den Tonale nach Bozen versuchen würde;
Noch schwächer waren die Streitkräfte, die den
mächtigen Raum zwischen Presanella und Gardasee zu
decken hatten: Ein Landsturmbataillon und sechs Kom-
panien Standschützen, ohne Artillerie, an dem heikelsten
178
Punkt dieses Abschnittes, im Chiesetal, lediglich auf das
moderne Panzerwerk Carriola und die weit zurückliegen-
den, gänzlich veralteten Befestigungen von Lardaro ge-
stützt. Sie hatten im Nordteil ihrer Widerstandslinie,
Presanella—Adamello, Truppen der 5. italienischen Di-
vision, im Südteil, Judikarien, die ganze 6. Division
gegenüber, also etwa 12.000 gut gerüstete, vorzügliche
Hochgebirgssoldaten, die mit allen erdenklichen Hilfs-
mitteln ausgestattet waren.
Besser stand es um die Verteidigung der Festung
Riva, obgleich diese nur über ein modernes Werk, Tom-
bio, und das halbwegs brauchbare Fort Brione verfügte.
Aber hier schützte der Gardasee vor Ueberraschungen,
und die einzige Verkehrsader von Süden her, die Po-
nalestraße war gut befestigt und leicht zu sprengen.
So lag die Tiroler Westfront, militärisch kaum be-
setzt, dem Zugriff der Italiener offen. Nur ihr Eispanzer
und der unverzagte Mut eines winzigen Häufleins tapfe-
rer Männer brachten es zuwege, daß auch hier keine
Katastrophe eintrat.
2.
In unendlichen Kehren windet sich die Stilfserjoch-
straße bergan. Wo sie den höchsten Punkt erreicht,
stoßen drei Länder zusammen: Oesterreich, die Schweiz
und Italien.
Hier brandet also der Krieg gegen neutralem Boden.
Vor dem Hotel auf der Dreisprachenspitze, nur einige
hundert Meter von der Paßhöhe entfernt, steht der
Obelisk, der diesen merkwürdigen Punkt, das haarscharfe
Ende einer Front, anzeigt. Daneben das Schilderhaus der
Schweizer Soldaten. Von hier aus kann man dem Trei-
ben des gefährlichen Raubtiers Krieg zusehen, als ob
es hinter einem Gitter wüten würde.
Die Schweizer Soldaten fühlen sich sicher wie in
Abrahams Schoß. Sie wissen, daß jede verirrte Kugel,
jedes zufällig heraufsausende Sprengstück einer Granate
der kämpfenden Parteien zur Staatsaffäre gemacht wer-
den würde. Sie gehören zu den Auserlesenen, die das
ungeheuerlichste Geschehen dieser Erde ohne Todesangst
miterleben dürfen.
12*
179
Aber noch herrscht Friede, wenngleich der drohende
Schatten sich immer tiefer auf die Bergwelt des Ortler-
massivs senkt. Drüben auf dem Monte Scorluzzo tau-
chen bisweilen Alpinipatrouillen auf. Die Schweizer haben
eine starke Abteilung im Hotel Dreisprachenspitze liegen
und auch der übrige Teil ihres Geländezipfels, der wie
ein Keil nach Süden ragt, ist stark besetzt.
Am wenigsten besorgt scheinen die Oesterreicher zu
sein. Im Hotel Ferdinandshöhe, dicht an der italieni-
schen Grenze, hausen ein paar Gendarmen und Finan-
zer — das ist alles. Dann kann man stundenweit wan-
dern, die ganze endlose Serpentinenstraße hinunter, ohne
auf ein kriegerisches Bild zu stoßen. Still und verlassen,
Holzläden vor den geschlossenen Fenstern, liegt das
große Hotel Trafo! im Tal. Der Ort selbst — Kirche
und ein paar Häuser — der Gasthof „Zur schönen
Aussicht“, alles atmet den tiefen Frieden einer „toten
Saison“.
Aber da, eine Wegstunde weiter talein, führt die
Straße durch einen Bau, über dessen Bedeutung sich der
Wanderer nicht gleich im klaren ist. Eine alte Ritter-
burg? Das Schloß eines Sonderlings? Massive, niedere
Rundtürme mit flachen, kegelförmigen Dächern, schmale,
schießschartenartige Oeffnungen in den Steinwänden;
ringsum saftige Wiesen, auf denen die letzten Schnee-
inseln schmelzen, dahinter ein halbes Dutzend Bauern-
häuser.
Dieser Bau ist das Werk Gomagoi, eine der wenigen
Befestigungen, die selbst der italienische Bundesgenosse
den Oesterreichem nie übelgenommen hat Denn sie ist
harmloser als der simpelste Schützengraben; man sieht
sie weithin, man kann sie mit einigen Granaten mitt-
leren Kalibers in Trümmer schmeißen, oder einfach links
liegen lassen, wenn das zuviel Mühe macht.
Und hier ist die Widerstandslinie, die dem Feind
das Eindringen ins Etschtal verwehren soll. Links und
rechts, zur Prader Alpe, zum Stierberg und dem Zumpa-
nell ziehen sich einige Stützpunkte die Hänge hinan.
Kleine Gruppen von Landsturmarbeitern flechten davor
Drahtverhaue. Das Ganze sieht gar nicht kriegerisch
aus . . .
180
Einige Tage später ist dieses friedfertige Bild von
Gomagoi furchtbar verwandelt* Die Ortschaft liegt als
ein Trümmerhaufen da — so geschehen, weil eine ur-
alte Vorschrift das „Freilegen des Vorfeldes“ der Sperre
Gomagoi befahl. Das Werk ist damit um keinen Faden
kampftüchtiger geworden, aber die Sprengsdhüsse ver-
künden der Bevölkerung des Suldentales, daß nun ein-
getreten sei, wovor sie seit Monaten bangte: Kriegt —
Droben auf dem Stilfserjoch löst dieses Wort ge-
teilte Gefühle aus. Die Schweizer sitzen vor ihrem Hotel
und harren des blutigen Schauspiels, das sich ihnen
bieten soll. Die österreichischen Gendarmen und Finan-
zer haben alle feindwärts gelegenen Fenster des Hotels
Ferdinandshöhe mit Sandsäcken verschlichtet und war-
ten gefaßt auf einen Vorstoß der Alpini, der nun selbst-
verständlich kommen muß.
Aber die Alpini zeigen gar keine Lust, ihren Boden
zu verlassen. Sie sitzen auf dem 3091 Meter hohen
Monte Scorluzzo und begnügen sich damit, das von
den Oesterreichem besetzte Hotel unter Feuer zu hal-
ten. Das besorgen sie geschickt und ausdauernd. Bald
sind die Mauern mit Einschlägen übersät, hängen die
Holzläden zerschossen in ihren Angeln. Manchmal kommt
auch von dorther Antwort. Doch es hat wenig Sinn,
gegen den 300 Meter höheren Gipfel zu feuern, denn
der Feind ist hinter Sandsäcken und Felsblöcken gut
verschanzt.
So verstreicht eine Woche, beginnt die zweite. Lange
kann dieser Zustand nicht dauern. Die Italiener müssen
früher oder später auf den Einfall kommen, sich der
Paßhöhe und damit des oberen Suldentales zu be-
mächtigen.
Da faßt der Stationskommandant von Trafoi, Kai-
serjägerhauptmann Andreas Steiner, einen kühnen Ent-
schluß: Der Scorluzzo muß genommen werden 1 Wer die-
sen Berg in der Hand hat, beherrscht das Stilfserjoch.
Ob es gelänge, die Italiener bei Gomagoi aufzuhalten,
ist fraglich; daß sie Gomagoi nie erreichen, wenn der
Scorluzzo fällt, kann als sicher gelten.
Die Kräfte freilich, die man zu dieser Unterneh-
mung einsetzen kann, sind gering: Ein paar Gendarmen,
181
Finanzer, die Bergtüchtigsten unter den ungarischen Land-
stürmern und einige Freiwillige von den Vintschgauer
Standschützen. Sogar Artillerie ist da: Bei Gold-See,
in Rücken und Flanke durch Schweizer Gebiet gedeckt,
stehen vier 9-cm-Kanonen M 75, alte Bronzerohre mit
Lafettenrücklauf, aber in der Hand einer geschickten
Bedienung ganz brauchbare Dinger. Dazu kommt, daß
der Feind noch keine Bekanntschaft mit Artilleriefeuer
gemacht hat ...
Am 4. Juni geht es los. Die braven 75er-Kanonen
feuern wie wütend gegen den Gipfel, ihre Granaten
schlagen mit größter Treffsicherheit in die Deckungen
der Alpini. Mittlerweile steigt Hauptmann Steiner mit
seiner kleinen Schar aufwärts. Der Feind schweigt, durch
das gut sitzende Feuer eingeschüchtert und verwirrt, er
wagt nicht einmal, sein Vorfeld zu beobachten. Und das
ist wichtig. Denn die Angreifer müssen ganz frei über
den Eben-Ferner und den Kleinen Scorluzzo, einen Vor-
gipfel, aufsteigen, um den Berg von Osten und Süden
her zu fassen.
Noch ein paar wohlgezielte Lagen, dann schweigt die
Gold-See-Batterie. Gewehrschüsse krachen, ein schwaches
Hurrah schlägt an das Ohr der Italiener. Aber es klingt
ganz nahe; der Angreifer hat schon den Hang erklom-
men, er ist nicht mehr aufzuhalten. Da wenden sich die
Alpini zur Flucht. Hinter ihnen her knattert das Feuer
der Oesterreicher und bringt ihnen schwere Verluste bei.
Der Monte Scorluzzo ist genommen, um dreieinvier-
tel Jahre lang allen Gegenstößen zum Trotz behauptet
zu werden. Dieser Berg liegt auf italienischem Boden.
Er ist nicht nur von hervorragender militärischer Be-
deutung, sondern auch gleich dem Monte Peralba an
der Kärntner Grenze, ein Zeuge für den Geist, der die
Kämpfer an der Alpenfront im denkwürdigen Jahr 1915
beherrschte.
Z.
Tatkräftiger und planmäßiger als die Wegnahme des
Stilsserjoches betreiben die Italiener ihren Vorstoß über
den Tonalepaß.
182
Hier donnern seit Kriegsbeginn die Panzerbatterien
der Werbe diesseits und jenseits der Reichsgrenze und
führen ein Duell auf, dessen Ende vorläufig nicht ab-
zusehen ist. Denn die Kuppeln und Betondecken sind
den Rohren turmhoch überlegen und erst das Eingreifen
mobiler Geschütze schwersten Kalibers kann diesen Zwei-
kampf entscheiden.
Die Italiener haben in der Werkgruppe Ponte di
Legno einen ebenso starken Rückhalt wie der Ver-
teidiger in dem modernen Werk Tonale, das zusammen
mit den beiden älteren Befestigungen Presanella und
Mero den Paß sperrt. Um einen Einbruch des Feindes
durch das obere Nocetal zu verhindern, wurde dort das
ebenfalls moderne Panzerwerk Pejo erbaut.
Drei Wochen nach der Kriegserklärung unternehmen
die Italiener den ersten Vorstoß beiderseits des Tonale-
passes. In Anbetracht der unversehrten Befestigungen
eine aussichtslose Sache. Sie müssen denn auch nach
schweren Verlusten umkehren.
Dieser Angriff wird am 25. Juni wiederholt. Das
Ergebnis ist das gleiche: Die vorgehende Infanterie
gerät in das Feuer der Werksgeschütze, verliert eine
Menge Toter und Verletzter und muß schließlich in
ihre Ausgangsstellungen zurück. Ebenso mißlingen Um-
gehungsversuche, im Juli über die nördlich des Tonale-
passes gelegene ForcelÜna di Montozzo, im August süd-
lich davon über den Presenasee und die Mandronhütte
gegen das Val di Genova.
Damit ist aber die Tatkraft der 5. italienischen Divi-
sion noch nicht erschöpft. Unmittelbar südlich der For-
cellina di Montozzo erhebt sich die 2676 Meter hohe
Punta cTAlbiolo, von deren Besitznahme sich der zähe
Angreifer eine entscheidende Umgehung des Tonalewer-
kes erhofft. Sie wird im September erstiegen und in
aller Eile befestigt.
Der Besatzung auf der Punta d'Albiolo sollte ein
grausamer Untergang beschieden sein. Eben traf der
erste 30.5-cm-Mörser im Sulzbergtal ein, um die Nieder-
kämpfung der italienischen Werke bei Ponte di Legno
zu besorgen. Dieser Mörser wird nun zunächst gegen
den Grenzberg verwendet. Mit schauerlicher Wucht schla-
183
gen seine Bomben in die Felsspitze* Ein Teil der Be-
satzung bleibt nach dem ersten Treffer zerrissen liegen.
Der Rest versucht sein Heil in der Flucht, wird von
den losgerissenen Steinblöcken ereilt und zerschmettert.
Im Verlauf weniger Minuten ist die Punta d'Albiolo vom
Feinde gesäubert.
Unmittelbar darauf erklettern Kaiserschützen unter
Zuhilfenahme von Leitern die Spitze, einer der wenigen
Fälle, in denen eine „Escalatierung" gelungen ist. Die
Italiener versuchen nun zu wiederholten Malen, sich der
Punta d'Albiolo neuerdings zu bemächtigen — immer
wieder vergeblich. Erst als Schneefall und Kälte beiden
Parteien einen noch schwereren Kampf aufzwingen, stel-
len sie diese zwecklosen Vorstöße ein.
Der frühe Eintritt des Winters verschiebt auch die
Tätigkeit des Angreifers an der Westtiroler Front Wahr-
scheinlich standen den beiden italienischen Divisionen,
die zwischen Gardasee und Schweizer Grenze vorstoßen
sollten, nur eine geringe Anzahl schwerster Geschütze
zur Verfügung, sodaß sie erst auf das Freiwerden sol-
cher aus höher gelegenen Kampfgebieten warten muß-
ten, bis sie in den wärmeren Tälern Judikariens angrei-
fen konnten. Nur so ist es zu erklären, daß sie ein
halbes Jahr brauchten, um mit der Werksgruppe Lardaro
ernstlich in Fühlung zu treten.
Der Kampf wird hier anfangs sehr zögernd geführt.
Nachdem der erste Kriegssommer nur Plänkeleien im
Vorfeld der Sperre brachte, kommt es im Spätherbst
und Winter 1915 zu einer heftigen Beschießung der
österreichischen Werke; da aber alle diese Befestigun-
gen bis auf das Werk Carriola geräumt und desarmiert
sind und Carriola nach ganz modernen Gesichtspunkten
erbaut ist, führt dieses Feuer nur zu einer zwecklosen
Munitionsverschwendung.
Während endlich der Winter auch hier alle weiteren
Kampfhandlungen unterbindet, bereiten die Italiener in
der wüsten Gletscherwelt des Adamello einen Schlag vor,
dessen Ausführung und Abwehr zu den größten Ruhmes-
taten an der Alpenfront zählen. Es war sicher verlockend,
im Frühjahr 1916 den drohenden Aufmarsch der Oester-
reicher-Ungam auf den Hochflächen von Lavarone-Fol-
184
garia durch einen Vorstoß ln der Richtung Trient zu
stören — aussichtsreich war eine solche Unternehmung
nicht. Trotzdem opferte der Angreifer diesem Gedanken
— der vielleicht nur dem Tatendrang eines örtlichen
Kommandanten entsprang — eine große Anzahl seiner
ohnedies immer mehr zusammenschmelzenden Kern-
truppe, der Alpin!.
Auf dem Dosson di Genova, dem Grenzkamm, der
mitten durch die Eishölle des Ädamello führt, haben
sich anfangs April 1916 etwa 50 österreichische Land-
stürmer festgesetzt, weil verschiedene Anzeichen einen
Vorstoß der Italiener befürchten ließen. Ihre Lage ist
grauenhaft. Dreieinhalb Tausend Meter hoch, ohne Un-
terstände, ohne Seilbahnen, nur in Schneelöchem hau-
send, erscheint es wie ein Wunder, daß nicht schon die
ersten Nächte dieses bißchen Leben ausbliesen. Was
sind Pelze und Fäustlinge, wenn der Sturm mit 30 und
40 Grad Kälte über den Gletscher heult und der Mann
nach einer halben Stunde Postenstehen zur „Erholung"
in ein Schneeloch kriechen darf! Kein wärmendes Feuer,
nie warmes Essen, immer mit dem Gefühl, einzuschlafen
und nicht mehr aufzuwachen — so hausen die 50 Land-
stürmer auf dem Dosson di Genova und warten auf ihr
Ende.
Ihnen gegenüber holen die Italiener zu einem ver-
nichtenden Schlag aus. Sie haben trotz Kälte und Schnee
vier Gebirgskanonen auf den 3291 Meter hohen Monte
Mandron geschleppt, eine Leistung, die um diese Jahres-
zeit — noch tiefster Winter — einzig dasteht. Daneben
aber üben 600 freiwillige, sorgfältig ausgesuchte Alpin!
den kommenden Angriff. Er soll die Landstürmer weg-
fegen und nach Besetzung der beiden Torpfeiler, den
Crozzon di Lares, 3354 Meter, und den Crozzon di
Fargorida, 2901 Meter, über die Fargorida-Scharte ins
obere Genovatal führen.
Am 12. April beginnt der Vorstoß der Alpin!. Fast
unbemerkt kommen sie auf Skiern an den Dosson di
Genova heran. Den schwachen Widerstannd der Land-
stürmer brechen die Granaten der Gebirgsbatterie auf
dem Monte Mandron. Der erste Teil der Aktion ist ge-
lungen.
185
Ater auf dem Passe di Fargorida und dem nörd-
lich davon gelegenen delle Topete steht ein neuer Geg-
ner: ein Bataillon Salzburger Landsturm. Die Lage die-
ser drei Kompanien ist keineswegs besser, als es die
ihrer Kameraden auf dem Dosson di Genova war. Von
den mächtigen Felsgipfeln des Crozzon di Lares und
der Fargorida überragt, zu schwach, diese Gipfel gleich-
falls zu besetzen, trachten sie, die beiden Joche zu
halten — zwei Inseln des Lebens in einem Meer von
Eis und Schnee.
Als am 29. April der erste Sonnenstrahl über den
Felszacken aufblinkt, greifen die Italiener an. Sie haben
vier weitere Alpinibataillone vorgezogen und erklimmen
bald den Crozzon di Lares, nehmen den Crozzon di
Fargorida. Jetzt stehen die Landstürmer vor der Ver-
nichtung. Wann immer der ständig wechselnde Nebel
die Sicht freigibt, bellen die Maschinengewehre der
Alpini, krachen ihre Stutzen von oben und bringen der
Besatzung auf den Paßscharfen schwere Verluste bei.
Wer verwundet wird, ist so gut wie verloren. Es ist
nicht möglich, ihn vor Einbruch der Nacht wegzuschaffen.
Kälte und Blutverlust töten rasch.
Da kommt Hilfe. Die X. Marschbataillone der bei-
den Infanterieregimenter Nr. 14 und 59, der Hessen
und Rainer, die vom ersten Kriegstag an der Alpenfront
unvergängliche Dienste leisteten, sind im Aufstieg be-
griffen. Dieser Aufstieg gehört zu den Taten, vor denen
man staunend stehen wird, solange Soldatentum Geltung
hat: In einem Marsch, von 24 Stunden, mit nur ein-
stündiger Rast, überwinden die Oberösterreicher und
Salzburger einen Höhenunterschied von 2700 Meter, wo-
bei der einzelne Mann neben seiner Hochgebirgsaus-
rüstung 200 Gewehrpatronen und sechs Handgranaten
schleppt. Trotzdem bleibt keiner zurück. Es ist das
neben der körperlichen Leistung ein wahres Wunder
an Seelenkraft, Kameradschaft und Opferwilligkeit.
Am 30. April lösen drei Kompanien 14er die Land-
stürmer auf dem Passo di Fargorida ab, während drei
Kompanien 59er den Passo delle Topete besetzen. Die
Alpini auf den beiden Felsgipfeln fühlen sich ihrer
186
Sache so sicher, daß sie den Anmarsch erst bemerken,
als er fast schon vollzogen ist
Aber nun beginnt ein schauerliches Ringen um die
Behauptung der Joche, um die beiden, sie beherrschen-
den Spitzen. Zuerst soll der Crozzon di Fargorida ge-
nommen werden. Bei klarem Wetter ist das unmöglich.
Also versuchen es die 59er in einem Schneesturm.
Um eine Hochgebirgskompanie verstärkt, klettern
sie Meter für Meter den Felsturm hinan. Die Finger
werden starr, versagen den Dienst, Eisnadeln treffen
Gesicht und Augen. Dennoch klimmen die Tapferen
weiter.
Da knattert plötzlich von oben ein Maschinengewehr,
Handgranaten kommen geflogen. Der Feind hat die An-
greifer entdeckt und wehrt sich aus Leibeskräften. Nach
schweren Verlusten müssen die Salzburger zurück. Der
Plan wird fallen gelassen.
Aber die beiden Pässe bleiben besetzt. Das Feuer
der Alpin! und die Kälte wüten unter den armen Leu-
ten, Mann für Mann fallen sie in der fürchterlichen
Oede, finden unter Schnee und Eis ihr Grab. Noch
einmal versuchen sie, den zähen Gegner zum Weichen
zu zwingen, indem sie den Crozzon di Fargorida um-
gehen, auf dem Gletscher eine Feldwache errichten und
so den Nachschub der Italiener unterbinden. Vergeblich.
Sei es, daß die Vorräte der Alpin! wirklich so groß
sind, sei es, daß sie sich durch diese bösen Tage hun-
gern, oder bei Nacht und Nebel doch immer wieder
Verpflegung und Patronen erhalten — die Spitze bleibt
besetzt, ja sie trägt jetzt sogar ein Gebirgsgeschütz,
das der Feind unter unerhörten Anstrengungen hinaus-
geschafft haben muß.
Mit der Zeit wird jedoch diese Lage auch den
Italienern zu aussichtslos, um länger ertragen zu wer-
den. Sie versuchen daher einen Gewaltstreich, wie er
in der Geschichte des Weltkrieges einzig dasteht:
Gegen den Passo di Fargorida schwach geneigt, er-
streckt sich in mächtiger Ausdehnung der Lobbia-Glet-
scher, den 14ern auf der Scharte ein deckungsloses Vor-
feld bietend, wie es großartiger nicht zu denken ist.
Eines Morgens nun entrollt sich den Horchposten ein
187
phantastisches Bild: Ueber den verschneiten Gletscher
herunter sausen auf Skiern in jagender Fahrt an die
hundert Alpini. Ihre Schneemantel wehen im Winde,
Wolken von weißem Pulver stäuben hinter ihnen auf.
Es kann nur wenige Minuten dauern, bis sie den Paß
erreichen . . .
Aber schon gellt Alarm, Feuer knattert durch das
eben noch eisige Schweigen. Oer Feind auf dem Crozzon
di Bares knallt wie wütend, um die Hessen niederzuhal-
ten, die Hessen schießen in die anstürmenden Ski-
läufer. Es ist, als ob eine Attacke gegen Gewehr und
Maschinengewehr geritten würde. Im Nu wälzt sich der
Großteil der Angreifer im Schnee. Die andern stür-
men weiter; sie haben dieses tollkühne Stüde freiwillig
übernommen und führen es bis zum letzten Atemzug
durch.
Und so fallen sie buchstäblich bis auf den letzten
Mann. Als das Feuer schweigt, schreit es fürchterlich
von dem menschenübersäten Gletscher her, jammert,
fleht um Hilfe. Sie kann ihnen nicht gebracht werden,
weil die Italiener mit der ihnen eigenen Rücksichts-
losigkeit gegen ihre eigenen Kameraden auf jeden Oester-
reicher feuern, der es wagt, seine Deckung zu verlassen.
So sterben auch die einsam und verlassen, denen das
Schicksal keinen jähen Tod bescherte. Was nicht ver-
blutet, rafft die Kälte der nächsten Nacht dahin . . .
Schließlich kommt auch für die Ueberreste der Hes-
sen und Rainer Erlösung: Als der benachbarte Diavolo-
paß fällt, werden die beiden Gletscherpässe nördlich des
Crozzon di Bares geräumt und die Front um etwa sechs
Kilometer zurückgenommen.
Ein aussichtsloses Ringen in Schnee und Eis findet
damit sein Ende. Winzig ist die Schar derer, die es
überlebten. Zehn Mann, fünfzehn Mann stark steigen
die Kompanien ins Tal ab, kommen nach Pinzolo, das
sie zwei Wochen vorher voll tapferer Zuversicht und
Hilfsbereitschaft verlassen haben . . .
4.
Ebenso zögernd wie die Italiener in den Tälern
Judicariens vorgingen, näherten sie sich auch den öster-
188
reichischen Linien beiderseits des Gardasees und im
Etschtal. Lange Wochen hindurch schien es, als ob sie
sich hier mit einer Absperrung außerhalb des Schuß-
bereiches der Verteidiger begnügen wollten. Erst im
Oktober 1915 kamen sie an die Festung Riva heran,
versuchten die im Westen steil ansteigende Rocchetta
zu erstürmen und gegen Torbole vorzugehen. Es be-
durfte keiner großen Kraftanspannung, sie abzuwehren.
Aehnlidi den anderen großen Alpentälem ist auch
das Etschtal nur schwach besetzt. Solange im Osten der
Finocchio und weiterhin die Werklinie von Folgaria
gehalten werden konnten, war hier wenig zu befürchten.
Eine Brigade der Festung Verona hatte jenen Raum zu
besetzen, der von den Oesterreichem freigegeben wor-
den war. Sie begnügte sich damit, gleich am ersten
Kriegstag das Grenzstädtchen Ala zu nehmen und dann
langsam gegen Norden vorzufühlen. Patrouillen des Ver-
teidigers in dem weitgestreckten Vorfeld seiner Stel-
lungen bei Rovereto hielten diesen Vormarsch so lange
auf, daß es Weihnachten wurde, bis der Feind zu einem
wirklichen Angriff schritt. Dieser Versuch scheiterte an
dem tapferen Widerstand der Landstürmer und ober-
österreichischer Jungschützen, die sich schon in den
Kämpfen tun die Hochfläche von Lavarone ausgezeichnet
hatten.
War diese Lage an sich nicht bedrohlich, so führte
sie doch zwangsläufig zur Besetzung einer Reihe von
Gipfeln, die dann ein halbes Jahr später unter unend-
lichen Mühen und Blutopfem genommen werden muß-
ten, wollte man den Krieg in die Ebene tragen und ihn
mit einem gewaltigen Anlauf entscheiden. Den Italienern
fielen die Coni Zugna und die Zugna Torta, das Col-
Santo-Massiv mit dem Pasubio kampflos in die Hände,
alles Berge, die natürliche Festungen sind und deren
Ausbau bald fieberhaft betrieben wurde. Es zeigte sich
dann auch, daß gerade hier, an der Westflanke der An-
griffsfront vom Frühjahr 1916, der Vormarsch bald
scheiterte, obgleich viel Artillerie den Regimentern Alt-
Oesterreichs Bahn brechen sollte. Auch ein Dreifaches
der im Etschtal angesetzten Kräfte hätte den Durchbruch
nicht erzwungen.
189
Nirgends wurde daher der Mangel an Mann und
Material bitterer empfunden, als an der stillen Front
beiderseits der Etsch* Das Verhalten der Italiener lud
geradezu ein, die wichtigsten Berge zu besetzen, aber es
war niemand da, der dieser Einladung hätte folgen
können* Noch während der schweren Kämpfe um die
Hochflächen, als der Feind gegen den Plaut und die
Pioverna anrannte und sich. vor den Werken verbiß,
wäre es einigen Bataillonen bergtuchtiger Soldaten ge-
lungen, die Front östlich der Etsch so gewaltig nach
Süden auszubiegen, daß dieser Raum zur tödlichen Be-
drohung Venetiens hätte werden müssen* Der Feldzug
gegen Serbien und die menschenverschlingenden Abwehr-
schlachten am Isonzo zwangen den Generalobersten Graf
Dankl, den Verteidiger Tirols, darauf zu verzichten*
Es bedeutete schon eine hohe Kunst in der Kräftever-
teilung, die Südtiroler Bastion bis zur großen Stunde
der Abrechnung vom Feinde freizuhalten. Daß diese
Stunde schlug, war das Verdienst der Männer, die ein
volles Jahr lang gegen erdrückende Uebermadit foch-
ten; daß sie nicht zum Ziel führte, blieb schicksalhaft
wie alles historische Geschehen . . *
5.
Ohne ersichtlichen Grund flaut das Feuer der ita-
lienischen Batterien gegen die sieben Werke von Fol-
garia-Lavarone in der zweiten Junihälfte des Jahres
1915 immer mehr ab, um schließlich nur eine lästige
Störung der Arbeiten des Verteidigers darzustellen*
Viele tausend schwerer und schwerster Granaten
sind umsonst verschossen worden. Die Männer in den
Werken haben aus den bösen Tagen zu Kriegsbeginn
kostbare Erfahrungen gesammelt und bemühen sich jetzt,
diese Erfahrungen zu verwerten* Bald sind die Befesti-
gungen stärker denn je. An Stelle der lächerlich gerin-
gen Kräfte im Mai ist nun kampftüchtige Infanterie
in den Zwischenräumen und vorgeschobenen Stellungen
getreten, die Führung liegt in der Hand tatkräftiger
und zu äußerstem Widerstand entschlossener Männer.
Damit sinken die Aussichten des Feindes, die ihm so
190
gefährlichen Hochflächen zu nehmen, förmlich von Tag
zu Tag. Trotzdem läßt er sich Zeit. Während seine
Panzerforts nach und nach unter dem Feuer österreichi-
scher Mörser zusammenbrechen, baut er neue Batterien
auf, schanzt er an einer Widerstandslinie und zieht lang-
sam Truppen für einen Angriff größeren Stils nach vorne.
Zwei Monate währen diese Vorbereitungen; eine ver-
hängnisvoll lange Frist, wenn man bedenkt, daß der
Hochgebirgssommer oft schon nach vier Monaten sein
jähes Ende findet. Aber es scheint, als ob Graf Ca-
doma auch nach dem niederschmetternden Ergebnis der
beiden ersten Isonzoschlachten entschlossen wäre, die
Hilfe seiner Streitkräfte zu einer bloßen Zernierung der
Alpenfront des Verteidigers zu verwenden, ohne den
ernstlichen Versuch einer Wegnahme der Südtiroler
Hochflächen zu machen — dieser Hochflächen, die seine
Operationen am Isonzo dauernd so schwer bedrohen.
Da ändert sich das Bild: Als am 15. August schwer-
stes Feuer gegen die sieben Werke einsetzt, als dieses
Feuer um die Mittagsstunde eine noch nicht erlebte
Heftigkeit annimmt und 30.5-cm-Haubitzen eingreifen,
gewinnt man rasch die Ueberzeugung, vor Ereignissen
bedeutender Art zu stehen. Denn die Hochflächen spie-
len — das weiß jeder Mann in Tirol — in den Plänen
Gonrad von Hötzendorfs eine Hauptrolle; ihr Verlust
wäre gleichbedeutend mit dem zwangsweisen Verzicht
auf den tödlichen Stoß in der Richtung Venedig, der
der italienischen Armee ein Cannä von unerhörtem Aus-
maß bereiten würde.
Schon am ersten Tag dieser Beschießung nimmt die
Lage der drei unmittelbar in der Infanterielinie liegen-
den Werke auf Lavarone, Cima di Vezzena, Verle und
Lusern bedrohliche Formen an: Sie erweisen sich den
30.5-cm-Granaten gegenüber als zu schwach, ihre Panzer*
batterien und Maschinengewehrstände, bisher wegen ihrer
vorgeschobenen Lage weithin das Feld beherrschend, ver-
wandeln sich rasch in Trümmerhaufen, die Besatzungen
erleiden schwere Verluste.
Aber der Feind läßt nicht locker. Es ist, als ob
seine Munitionsvorräte diesmal unerschöpflich wären.
Tag und Nacht wütet das Feuer. Wenn die Rohre aus-
191
geleiert sind, wenn ihre Treffsicherheit abnimmt, wer-
den sie durch neue ersetzt. Am dritten Tag sind Verle
und Lusern ihres Femkampfwertes endgültig beraubt,
Lima di Vezzena, Gschwendt und San Sebastiane schwer
beschädigt; nur Sommo und Serrada, die modernsten
und stärksten in der Kette, überstanden bisher den
Stahlhagel ohne ihre Kampfkraft zu verlieren.
Zehn Tage lang wütet das Feuer gegen die Werke
und Stützpunkte, bis die Italiener zum entscheidenden
Stoß ansetzen. Schon am 17. und 20. August sind zwei
Vorstöße ihrer 9. Infanteriedivision gegen den Monte
Maronia und die Stellungen auf dem Loston gescheitert.
Es gelang ihnen lediglich, die Feldwachestellung bei der
Malga Milegna zu besetzen, nachdem deren Besatzung
auf die Hauptwiderstandslinie zurückgenommen wurde.
Jetzt aber, in der Nacht vom 25. auf den 26. August,
stürmen Teile ihrer 34. Infanteriedivision gegen jenen
Abschnitt an, der am schwersten gelitten hat: Gegen
die Abwehrfront Lima di Vezzena—Lusern.
Sie treffen auf erbitterten Widerstand. Aus den noch
verwendbaren Panzern der Werke, von den zertrichter-
ten Eindeckungen her, aus den Stützpunkten der braven
Sterzinger Standschützen, die zwischen Lima di Vezzena
und Verle liegen, knattert das Feuer der Verteidiger,
krachen Handgranaten den Angreifern entgegen. Eine
Turmhaubitze in Verle, die in den letzten Tagen aus
der Scharte zurückgezogen wurde und daher für er-
ledigt galt, schießt auf kürzeste Entfernung Kartätsdi-
schrapnells in die Drahtverhaue, während ein Geschütz
der Gebirgsbatterie Oberleutnant Rossi vom Limahang
her die Angreifer mit Flankenfeuer überschüttet.
Auf solchen Widerstand nicht gefaßt, gehen die Ita-
liener am Nordflügel ihrer Angriffsfront fluchtartig zu-
rück. Als der Morgen graut, hat es den Anschein, als
sei der Großteil der Blutarbeit getan.
Da stürmen plötzlich aus den Schwaden des Boden-
nebels in den Mulden vor dem Costesin neue Infan-
teriewellen, gehen in dichten Massen gegen den hei-
kelsten Punkt der Lavarone-Stellung, den zwischen Verle
und Lusern weit vorgeschobenen Ringstützpunkt Basson
vor. Dieser Stützpunkt ist ein einziger Trümmerhaufen.
192
L- '„ 1 - M M 1 1 • v *&* " ..*d39 i i f'^y^Jm 1 \ <ff-
V4; v v ^"ir'''^ \ ^^M^ÄDM ... - . ^Bj kMWL {\ -' xM Kl £^’*4j' jUaV 'will
Straßensperre Ruaz, Col-di-Lana-Abschnitt
K-U^E
Infanterie-Stellung auf dem Zinnenplateau
Unterstände im Abschnitt Col di Lana
Eine Kompanie Tiroler Landsturm, die seit Tagen dort
liegt, hat so schwere Verluste erlitten, daß sie sich nun
einer überwältigenden liebermacht gegenübersieht
Dennoch wehren sich die Tiroler verzweifelt Flan-
kenfeuer der Traditorenbatterien von Verle und Lusern
reißt mächtige Lücken in die Reihen der Italiener, die
Hänge des Fasson sind mit Toten und Sterbenden über-
sät Trotzdem erreichen etwa 300 Mann, die Reste eines
ganzen Regiments, unter persönlicher Führung des Ober-
sten Riveri den eingeebneten Graben der Landstürmer*
Ein wütendes Handgemenge setzt ein, in dessen Ver-
lauf die Tiroler bis zum letzten Mann fallen.
Die Italiener im Besitz des Fassonl Sie bleiben
erschöpft liegen, sie haben so schwere Verluste erlitten,
daß sie kaum imstande sind, ihren Erfolg auszunützen.
Aber auch auf Seite des Verteidigers war der Kräfte-
verbrauch so .groß, daß an einen Gegenstoß nicht zu
denken ist. Wenn der Feind nun entlang der ganzen
Front angreift, ist die Hochfläche verloren.
Da faßt der Kommandant des Abschnitts Lavarone,
Oberst Otto Ellison von Nidlef einen tollkühnen Ent-
schluß: Er geht, nur von zwei Offizieren seines Stabes
begleitet, auf den Fasson hinaus.
Die Italiener sind in der eroberten Ringstellung.
Das Feuer der Flankierbatterien von Lusern und Verle
macht es ihnen zunächst unmöglich, Verstärkungen nach-
zuziehen. Ihr Führer, Oberst Riveri, liegt mit einer
schweren Fußverletzung in einem Unterstand. Die Ueber-
lebenden dieses mit größter Tapferkeit geführten Vor-
stoßes sind so erschöpft, daß sie entlang dem Lauf-
graben, der den Fasson mit der übrigen Stützpunkt-
reihe verbindet, nur einige Posten aufstellen.
Auf einen dieser Posten trifft Oberst von Ellison.
Ein Anruf und der Mann wirft sein Gewehr weg. Der
Oberst befiehlt ihm, zurückzugehen und seine Kame-
raden zur Uebergabe aufzufordern.
Wenige Minuten später quellen aus Deckungen und
Trichtern an die dreihundert italienische Infanteristen,
legen die Waffen ab und geben sich gefangen. Die
Ausssicht, nun nicht mehr beschossen zu werden, erfüllt
sie mit überströmender Freude. Sie achten gar nicht
13
193
auf die Tatsache, daß sie nur drei Offizieren gegen-
überstehen, sondern marschieren gehorsam durch den
Laufgraben ab. Der Basson ist gerettet. Er hat die
Italiener so schwere Verluste gekostet, daß sie an eine
Fortsetzung des Angriffes gegen die Sperre von Lava-
rone vorläufig verzichten.
Nur die Werke werden weiter beschossen. Lima di
Vezzena erhält so viele Treffer, daß es völlig zersiebt
ist, Verle und Lusern verlieren ihre Haubitzpanzer und
die Kuppeln ihrer Nahkampfanlagen. Drei siegreich be-
hauptete Ruinen, die Betongrüfte zahlloser tapferer Ar-
tilleristen des Festungsartilleriebataillons Nr. 6, Kaiser-
schützen und Sappeure, warten dem bald einsetzenden
Winter entgegen. Noch ist kein Ende dieses Kampfes
abzusehen. Tag und Nacht wird betoniert, werden unter
den brüchigen Kasematten Felshöhlen gesprengt, um
weiteren Beschießungen standhalten zu können.
Als aber im Mai 1916 die Offensive den Feind
zum Rückzüge zwingt, können die Besatzungen der
Sperrwerke mit Stolz auf das erste Kriegsjahr zurück-
blicken: Sie haben die Hochflächen mit eiserner Faust
für den großen Plan Conrad von Hötzendorfs fest-
gehalten, haben keinen Fußbreit des ihnen anvertrauten
Aufmarschraumes verloren.
Nach dem Vorstoß gegen die Werklinie von Lava-
rone vergehen wieder vier Wochen, bis der Feind sich
entschließt, auf der zweiten Hochfläche, bei Folgaria
anzugreifen.
Hier ist die Lage des Verteidigers insofern besser,
als das Rückgrat der Abwehr, die Panzerwerke San
Sebastiane, Sommo und Serrada, hinter einer vorge-
schobenen Infanterielinie liegt und daher die Front ela-
stischer ist. Auch dieser Teil des künftigen Aufmarsch-
raumes ruht in sicheren Händen. Der greise General
Ignaz Verdroß von Droßberg, der Führer der 180. In-
fanteriebrigade, leitet hier persönlich die Abwehr, unter-
stützt von dem Obersten Freiherrn von Lemprudi, dem
späteren Verteidiger der Ortlerfront; Kaiserschützen,
Vierzehner, Tiroler Landsturm und Standschützen bil-
den die Infanterie, an der alle Angriffe der 9. italieni-
schen Division zerschellen. Da und dort muß wohl ein
194
vorgeschobener Posten, eine Feldwache aufgegeben wer-
den. Als aber nach wochenlangen Kämpfen der ein-
brechende Winter die Italiener zwingt, ihre Operationen
einzustellen, haben sie allen Opfern zum Trotz nicht
einen Punkt der Hauptwiderstandslinie erobern können.
Nach wie vor ist das Ausfallstor gegen Venetien fest
in der Hand der Oesterreicher. Noch liegt tiefer Schnee
auf den Hochflächen, als im März 1916 sich hier jene
Wetterwolke zu ballen beginnt, die bestimmt war, nach
Rußland und Serbien den dritten Gegner niederzu-
strecken. Ein furchtbarer Irrtum ließ die Mittelmächte
damals getrennte Wege gehen, ließ sie gesondert ihre
zwei gefährlichsten Feinde angreifen: Frankreich bei
Verdun und Italien von Südtirol aus. Beide Offensiven
scheiterten schließlich, weil die Kraft geteilt worden war,
und das Schicksals jähr des großen Krieges, das Jahr
1916 brachte nur die Erledigung Rumäniens, eines Geg-
ners, der ohne Verdun, Asiago-Arsiero und Luck nie
aufgetreten wäre. *
*
13*
195
Dies trae
i.
Schon im Februar 1916 wird es in den Tälern Süd-
tirols lebendig. Neben den normalen Transporten rollen
ununterbrochen Züge mit Truppen und Material an,
zuerst schütter, dann in immer steigendem Ausmaß:
Oesterreich-Ungarn holt zum entscheidenden Schlag
gegen Italien aus.
Diesen Schlag überraschend zu gestalten, kann nicht
gelingen. Die Älpenfront bietet nicht viel Gelegen-
heiten dazu, sie ist strategisch fast eindeutig: Lavarone-
Folgaria. Auch die geringe Leistungsfähigkeit der beiden
Bahnlinien über den Brenner und durch das Pustertal
schließt Ueberraschungen aus. Immer wird hier der An-
greifer auf einen wohlvorbereiteten Gegner stoßen, wird
mit erbitterter Abwehr zu rechnen haben. So ist es denn
auch gleichgültig, wann man mit dem Aufmarsch beginnt.
Ungeduld, heiliger Eifer und eine gewisse, nicht ganz
gerechtfertigte Hoffnungsfreudigkeit der Gunst des Wet-
ters gegenüber haben allerdings diesen Aufmarsch vom
Frühjahr 1916 allzusehr in die Länge gezogen. Die Füh-
rung rechnete mit Mitte April; es sollte Mitte Mai
werden, eh* man loslegen konnte.
Unterdessen füllen sich die Täler mit Kampftruppen
und dem ganzen, sehr verwickelten Apparat der Etappe,
werden Munitionslager angelegt, Batterien gebaut und
die Straßen hergerichtet — alles Ln Schutze der alten,
nicht eben starken Abwehrfront und der Schneemassen,
die auch den Italienern jeden Vorstoß unmöglich machen.
Im April scheint es so, als ob wirklich die Natur
den Soldaten des alten Reiches helfen wollte, ihren
heftigsten Gegner durch einen gewaltigen Stoß nieder-
zuringen: Die Schneedecke schmilzt, blasses Grün über-
zieht die Hügel und Höhen der Hochflächen von Lava-
rone und Folgaria. Auf einzelnen Nordlehnen hinter der
Front werden Versuche gemacht, ob ein Infanterist mit
199
Sack und Pack auch. dort weiterkäme, wo der Schnee
noch. liest, und die Leute, die nie einen Alpenwinter
erlebt haben, äußern sich sehr optimistisch . . .
Niemand wäre über einen Beginn der Offensive um
die Mitte des Äoril glücklicher als die Besatzungen der
zertrümmerten Werke und der kümmerlichen Stütz-
punkte in den Zwischenräumen. Sie sehen hinter sich
fast die gesamte moderne Artillerie Oesterreich-Ungams
in den Wäldern, Mulden und Schluchten liegen, aber
die meisten Geschütze sind zerlegt, haben noch keine
Stellungen, keine Munition, sind nichts als unersetzliches
Gut, das der dünne Schleier der Verteidigung zu decken
hat. Neue Infanterie soll an der Südtiroler Front nicht
auftreten — man glaubt noch immer an ein Ueber-
raschungsmoment — sodaß ein jäher Stoß des Geg-
ners zumindest auf Lavarone verheerend wirken könnte.
In diese überreizte und mit einigem Recht nervöse
Stimmung fällt ein Ereignis, das unter Umständen kata-
strophale Folgen hätte zeitigen können: Die Desertion
eines Fortifikationswerkmeisters namens Weyer, eines
Mannes, der vermöge seiner Tätigkeit nicht nur im
allgemeinen über die kommenden Ereignisse gut unter-
richtet war, sondern auch eine Unsumme wichtiger De-
tails wie Batteriestellungen, Lagerbauten, Depots usw.
wußte.
Weyer war schon einmal desertiert. Er stammte aus
Mezzolombardo, war Halb-Italiener und hatte zu Kriegs-
beginn bei einem Dragonerregiment in Galizien gedient.
Dort war er erkrankt, hatte sich aber nach seiner Ent-
lassung aus dem Spital nicht mehr zu seinem Truppen-
körper begeben, sondern war in seine Heimat gefahren.
Um nun sicher unterzutauchen, hatte er sich — im Zivil
Baumeister — freiwillig bei der Geniedirektion Trient
zur Kriegsdienstleistung gemeldet und war dem Ab-
schnittskommando Lavarone zugeteilt worden. Weyer
galt als ungemein tüchtig, sein Verhalten war über
jedes Lob erhaben; es lag kein Grund vor, ihm zu
mißtrauen und er hegte auch sicher keinen Gedanken
an Verrat.
Da entdeckt man eines Tages in ihm den desertier-
ten ehemaligen Dragoner. Er hört davon, sieht sich dem
200
Zusammenbruch seines Daseins gegenüber. Die Kriegs-
gesefze sind unerbittlich, das weiß er. . . Am gleichen
Tag, noch eh* man Hand an ihn legen kann, geht er
im Asticotal hinüber zum Feind . . .
Einige Stunden später hagelt ein italienischer Feuer-
überfall auf das Barackenlager von Monte Rover nieder,
haut alles kurz und klein. Die Werke und Stützpunkte
werden alarmiert. Was soll nun geschehen? Wird es bei
diesem Akt einer persönlichen Rache bleiben, oder ist
das nur der Auftakt für einen umfassenden Vorstoß des
Feindes?
Die Nacht, der nächste Tag und wieder eine Nacht
vergehen unter atemloser Spannung. Wer um den Fall
Weyer weiß, hält es für sicher, daß Jetzt und Jetzt
der Sturm losbrechen wird. Aber es geschieht nichts,
gar nichts. Tagsüber feuert eine italienische 30.5-cm-
Batterie hinter dem Costarücken gegen die Kehlfront
des Werkes Gschwendt, doch das ist schon seit einiger
Zeit so, und niemand kann sagen, was der Feind damit
bezweckt. Sonst bleibt alles ruhig wie bisher, nicht ein-
mal der Heberfall auf Monte Rover wiederholt sich . . .
Ein Rätsel, das wohl immer ungeklärt bleiben wird.
Hat Wever wirklich nur private Rache an seinen ver-
meintlichen Widersachern üben wollen und sein Wissen
um die Angriffsvorbereitungen verschwiegen? Oder hat
man ihm nicht geglaubt, ihn am Ende der Möglichkeit
verdächtigt, er sei hinübergeschickt worden, um die Auf-
merksamkeit der Italiener in falsche Bahnen zu lenken;
und man habe ihn bloß mit der romantischen Geschichte
vom entlarvten Deserteur ausgestattet, damit das Ganze
glaubhafter sei?
Jedenfalls stand damals allerlei auf des Messers
Schneide und es schien fast wie eine Himmelsfügung,
daß bald darauf unendliche Schneemassen niederfielen
und hüben wie drüben Jede Tätigkeit lahmlegten.
Schnee, mächtig viel Schnee 1 Um Ostern, als der
große Vorstoß einsetzen sollte, steigt die weiße Decke
auf einen Meter, auf zwei Meter. Wieder ist alles unter
der weißen Last begraben: die Batterien, die Jetzt schon
feuerbereit sind, die Lager der Infanterie, die man
201
vorgezogen hat und die jetzt durchtjäßt, frierend und
fluchend in ihren Zelten liegt.
Wann wird endlich der Bergwinter weichen? Noch
wäre Zeit, den ganzen Plan fallen zu lassen, die
Aufmerksamkeit dem Nordosten zuzuwenden, wo nur
schwache Kräfte stehen und der russische Riese längst
wieder zu Kräften gekommen sein muß. Noch wäre Zeit,
dem Verhängnis zu begegnen, das später Olyka-Luck
heißen und ein wahrhaft ungeheuerlicher Wendepunkt
des großen Ringens werden sollte. Rußland ist weit,
und die beiden besten Armeen Oesterreich-Ungarns sind
am andern Pol des Feuerkreises, sind in Südtirol zu-
sammengepfercht. Vor Verdun mühen sich die deut-
schen Divisionen gegen eine verderbliche Uebermacht
ab, zerschellen, verbluten an einer Menschenmühle, die
keinen Stillstand kennt . . .
Aber niemand fühlt die Gewalten der Zukunft
nahen, kein hellseherischer Blick durchdringt den
Schleier, der die nächsten Wochen verhüllt. Regen fällt
auf den Frühlingsschnee von Lavarone-Folgaria, zehrt
dieses letzte Hindernis rasch auf. Bald zeigen sich
dunkle Flecken, leuchtendes Grün greift um sich, in
den Schluchten und Tälern donnern die Wasser.
Um die Monatsmitte des Mai ist die Walstatt frei
für einen Gigantenkampf in den Bergen, wie ihn die
Welt vordem noch nicht gesehen hat . . .
2.
Der Raum brüllt wie eine Riesenorgel und die Erde
zittert unter dem Einschlag tausender Geschosse. Grauer
Dunst schwebt über den Höhen südlich von Folgaria,
am Westufer der Etsch und beiderseits der Val Sugana,
auf dem Salubio und der Armenterra — und nur das
Mittelstück dieses gewaltigen Kampfbodens, der Keil,
der zwischen Brenta und Astico weit nach Süden reicht,
bebt noch nicht unter den Donnerschlägen der Zer-
störung.
15. Mai 1916 — Tag der Vergeltung für fünf Schlach-
ten am Isonzo, für die Hekatombenopfer, die in Blut
und Leid und Durst und Elend untergingen; aber auch
202
für Jahre und Tahrzehnte einer Politik der Nadelstiche,
die das junge Italien dem alternden Nachbar hatte an-
gedeihen lassen! Es ist nicht zu leugnen: Wenn bei
Gorlice und an der Save tausende Soldatenaugen dem
grausamen Schauspiel der berstenden Granaten fieber-
haft folgten, so war es dock anders als hier; denn
hier segnet glühender Haß das glühende Eisen, und
Fluch und Jubel zugleich gelten der Bedrängnis eines
Feindes, der dem einzelnen Feind ist von Vaters- und
Großvaters Zeiten her.
Die Wirkung des Feuers ist verheerend. Als nach
einigen Stunden die Infanterie ihre Graben verlaßt,
kann sie in taoferem Anlauf mächtige Breschen in die
feindlichen Stellungen schlagen. Am Abend dieses ruhm-
reichen Tages ist das erste Widerstandssvstem des Geg-
ners völlig zertrümmert, sind wichtige Punkte wie die
Costa d'Agra und der Monte Coston erstürmt. Wenn
der Raumgewinn auch nur zwei bis drei Kilometer Tiefe
aufweist, so ist diese Leistung doch gar nicht hoch
genug einzuschätzen; denn das Gelände bot allenthalben
Schwierigkeiten, die bisher für unüberwindlich galten,
der Feind war auf den Stoß gefaßt gewesen und hatte
sich auf das sorgfältigste verschanzt.
Auch im Etschtal und in der Val Sugana geht es
vorwärts. Die Infanterie des Angreifers hat einerseits
den Bahnhof von Mori, andererseits das Dorf Marter
und die Höhe von San Osvaldo erreicht und den West-
teil des Armenterrarückens genommen. Zweitausendfünf-
hundert Gefangene und sieben Geschütze stellen die
Beute des ersten Schlachttages dar.
Vier Tage lang dauert der Ansturm der alpen-
ländischen Truppen des XX. Korps, als ein zweites
Donnerwetter losbricht: Das III. Korps beginnt von der
Hochfläche von Lavarone aus seinen Vorstoß in der
Richtung Äsiago, erstürmt alle die Höhen, die bisher
den Besatzungen der Werke als unerreichbare Ziele vor
Äugen standen, die Levespitze, den Marcairücken, den
Costesin, die Cima Norre, bezwingt den Monte Kempel
und den Höhenzug zwischen Verena und Campolongo,
erreicht in einem Heldenkamnf ohnegleichen das Becken
von Äsiago und die ersten Höhen, die es im Südosten
203
abschließen* Mittlerweile sind auch die Kaiserjäger des
XX. Korns weiter vorgedrungen, erobern in einem toll-
kühnen Angriff den steil aufragenden Kegel des Monte
Priafora, den Monte Cengio, erscheinen bei dem Dorfe
Cogolo . . .
Dine Wegstunde noch und die Ebene ist erreicht,
die heiß ersehnte venetianische Ebene; eine Wegstunde
noch und der Strom der Angreifer wird sich, aus den
Bergen quellend, ausbreiten, wird alle die Höhenzüge,
auf denen sich der Feind verzweifelt festklammert, von
Süden her umfassen . . . Und dann muß Italien zu-
sammenbrechen. Sein Lebensmark ist getroffen, seine
Isonzofront aufs schwerste bedroht. Groß und herr-
lich malt sich ein Sieg ohne Grenzen vor dem inneren
Blick derer, die das Glück haben, als erste den Hori-
zont in uferlose Ferne gerückt zu sehen . . .
Da wird der Widerstand harter und harter, er
wachst mit jeder Stunde. Drunten, in der Ebene, sieht
man aufstäubende Straßen voll marschierender Kolon-
nen, sieht man Lastkraftwagen in endlosen Reihen
heraneilen und Eisenbahnzüge Menschenmassen aus-
speien. Die haben es leichter. Drei ihrer Armeen lie-
gen schon im Kampfe mit der mühsam vorwärtskeuchen-
den Minderzahl des Angreifers, zwei weitere, die am
Isonzo, schicken Hilfe an Mann und Material. Wie
furchtbar schwer ist es dagegen, das Geschütz über
unwegsame Gebirge nach vorne zu schaffen und der
so tapfer fechtenden Infanterie über die letzten Hin-
dernisse hinwegzuhelfen; wie furchtbar schwer ist es,
die letzten zehn Kilometer südwärts von Asiago zu
bezwingen, Schio zu erreichen, ganz abgesehen von den
beiden Flügelkorps an der Etsch und der Brenta, die
einen viel mächtigeren Höhengürtel zu überwinden
haben. Auf der Coni Zugna kämpfen die Kaiserschützen
einen aussichtslosen Kampf, in der Val Sugana kommt
Jetzt erst, bei schon erlahmender Kraft, die Sperre
von Primolano . . .
Und mit einemmal ballt sich dunkel ein Gerücht
über den Menschenmassen, die hier zu einem letzten,
tödlichen Stoß ausholen sollen: In Rußland, anderthalb
tausend Kilometer von hier entfernt, sei etwas Un-
204
faßliches geschehen, sei die Front zertrümmert worden,
stehe der Feind im Begriffe, alles zu vernichten, was
der Schweiß und das Blut Hunderttausender vergangenes
Jahr errungen haben.
Wie kann man mit dieser Düsterkeit im Herzen
den letzten, den befreienden Stoß führen? Schon ver-
dicktet sich das Gerücht zur Gewißheit: Während der
wadisende Widerstand des Feindes den Einsatz aller
Kräfte fordert, bröckelt schon eine Division ab, wird
verladen und nach Norden geschickt. Da und dort ver-
läßt eine Batterie den Kampfplatz, marschiert landein,
erreicht die Eisenbahn, fährt im Eilzugstempo der wol-
hynischen Katastrophe entgegen. Regimenter machen
plötzlich kehrt, die Straßen sind überfüllt, etwas un-
sicher Drohendes liegt über den geheimnisvoll dirigier-
ten Kolonnen. Neue Gerüchte tauchen auf: 1ÖU.QQ0
Gefangene sind den Russen in die Hände gefallen,
150.000 . . . 200.000 . . .
Bis dann endlick das hetzte, das Bitterste sick be-
stätigt: Die Offensive wird eingestellt, es sind neue
Widerstandslinien zu beziehen. . . Erst langsam, dann
immer rascker lockert sick der Griff, der Italien vier
Wocken lang den Atem raubte. Ein Traum ist aus-
geträumt . . .
Ueber 300 Geschütze und 45.000 Gefangene, das ist
die Beute dieser vier Wochen. An die zwanzig Sperr-
werke, Panzerforts und Defensivkasernen liegen zer-
trümmert im Rücken des Angreifers, der nun wieder
das harte Los eines endlosen Ausharrens in der Ver-
teidigung auf sich nimmt. Aber noch glaubt niemand
daran, daß diese Lage dauernd beibehalten werden soll,
noch tröstet sich jeder mit dem Gedanken, die Opfer
und Leiden doch nickt umsonst auf sich genommen zu
haben: Das Sprungbrett ist mächtig erweitert, ist noch
drohender an die Ebene herangeschoben worden; nur
eine kurze Frist vielleicht und der Angriff wird wie-
der aufgenommen. Schon stockt der russische Einbruch,
die Wunde von Olyka-Luck reißt nicht weiter auf, das
ärgste ist überwunden. Nur eine Atempause und eine
zweite Durchbruchsschlacht gibt den Italienern den Ge-
nickfang . . .
205
In Wahrheit aber hat die Katastrophe von Luck
dem Gegner im Südwesten einen unschätzbaren Vorteil
verschalst: Den zweiten Amboß, auf dem die mili-
tärische Kraft Oesterreich-Ungarns zerhämmert werden
soll. Fünf Isonzoschiachten brachten dem Grafen Ca-
doma nur bescheidene Teilerfolge; Erfolge, die am
Millionenaufgebot einer Großmacht gemessen, überhaupt
nicht nennenswert waren. Aber sie gaben ihm die Ge-
wißheit, daß dieser Krieg nur in einer langen Reihe
von Materialschiachten entschieden werden kann, daß
es auf die allmähliche Erschöpfung des Gegners an-
kommt. Bisher konnte man ihn nur an einem kleinen
Bruditeil der Front fassen, ihm die volle Schwere des
materiellen Uebergewichts fühlen lassen: zwischen dem
Krn und der Adria. Jetzt hat er selbst die zweite Men-
schenmühle aufgerichtet: Die Sieben Gemeinden, die
neue Widerstandslinie zwischen Brenta und Etsch. Hier
darf der Kampf nicht mehr als eine laue Zernierung
geführt werden, auch hier muß er Großkampf sein, muß
Divisionen festhalten und Bataillon um Bataillon zer-
schmettern. Italien hat Menschenkräfte im Uebermaß; die
Munitionsfabriken Frankreichs, Englands und Amerikas
stehen ihm neben den eigenen zur Verfügung. Italien
wird unausgesetzt, Monat für Monat, auf den zweiten
Amboß loshämmer% nicht um den Gegner strategisch
zu treffen, sondern um ihn aufzureiben.
Und dieser Plan, aus der Hoffnung des Verteidigers,
die Offensive vom Frühling 1916 eines Tages fortsetzen
zu können, steigend, wurde für die nächsten zwei
Jahre blutgetränkte Wirklichkeit: Regimenter, die bis-
her Oesterreich-Ungarns flammenden Hammer gebildet
hatten, die Kaiserjäger, die 14er, die 59er, ein Teil der
Kaiserschützen und viele andere, sie alle mußten dau-
ernd auf dem eroberten Boden stehen, mußten ihn
in erbitterten Kämpfen verteidigen und schieden für
andere Fronten aus. Hatte im ersten Kriegsjahr eine
Handvoll Männer genügt, die Südtiroler Bastion zu hal-
ten, so lagen jetzt Tausende der Besten ehern fest-
geschmiedet auf diesen Bergen, die immer nur Mittel,
niemals Selbstzweck sein konnten: Auf der Zugna, dem
Pasubio, dem Cimone, an der Assa, auf dem Zebio, der
206
Zingarella und dem Civaron. Das Suganertal konnte
nicht mehr durch ein paar Standschützen und Land-
stürmer gehalten werden, die Berge nördlich davon for-
derten erhöhte Aufmerksamkeit, Batterien und Reser-
ven. Aus der belagerten Festung Südtirol, die sich, ein
volles Jahr mit bescheidensten Kräften durchgebracht
hatte, war ein ständiger Quell der Sorge geworden . . .
3.
Unter erbitterten Kämpfen wird nach und nach die
neue Widerstandslinie bezogen. Sie ist nur dürftig aus-
gebaut, denn jeder Stellungsbau im Gebirge erfordert
neben maßlosen Anstrengungen Zeit, Zeit und noch-
mals Zeit.
Bei der Wahl dieser Widerstandslinie hatte zum
Teil der Wunsch entschieden, die Offensive früher oder
später fortzusetzen, zum Teil die Eignung des Geländes.
Wichtige, mit gewaltigen Opfern erkaufte Gipfel wie die
Priafora, der Cengio, die Meletta und die Cima Maora
mußten preisgegeben werden; dagegen blieben andere,
wie die Zugna Torta, der Nordteil des Pasubio, der
Monte Zebio, der Monte Ortigara und der Civaron in
unserer Hand. Vor allem aber ein Berg, den man als
das Gibraltar der Sieben Gemeinden bezeichnen kann:
der Monte Cimone.
Dieser Monte Cimone ist nicht hoch; nur 1230 Meter
erhebt er sich über dem Meeresspiegel. Wer ihn von
Norden her, über die Tonezza-Hochfläche erreichen will,
sieht ihn als einen mäßigen Kegel, der eine kleine Fels-
krone trägt. Kommt man näher, so zeigt sich, daß die-
ser Gipfel nur der Rest eines Berges ist: Sein Südhang
ist abgebrochen, er besteht jetzt aus Wänden, an die
sich, mehrfach gezackt, der Vorgipfel des Caviojo heran-
schiebt
Der Monte Cimone selbst aber ragt wie eine Halb-
insel in den Raum hinaus. Nördlich des Gipfels ver-
jüngt sich der schwach geneigte Hang, um erst dann
wieder breit auszuladen, so daß jeder Angriff von die-
ser Seite her über eine schmale, leicht zu verteidigende
Strecke geführt werden muß.
Wie ein Wehrturm springt der Limone aus der
Widerstandslinie vor. Zu seinen Füßen, neunhundert
Meter tiefer, liegt Arsiero. Dort gabelt sich das Tal, in
weichem man während der Frühjahrsoffensive der Ebene
am nächsten kam, um als das der Posina nordwestlich
und als Asticotal nordwärts weiterzuführen.
Daß den Italienern an diesem Berg mehr gelegen
ist als an allen andern, die sie im Verlauf der Offen-
sive vom Mai-Juni 1916 verloren haben, geht aus seiner
Lage hervor: Was der Südtiroler Zipfel in großem Stil
ist, das ist der Monte Limone in kleinerem, aber des-
halb nicht ungefährlicherem Ausmaß. Er bedroht stän-
dig den Rücken eines Angreifers an der Assaschlucht
wie in der Richtung des Borcolapasses, er ist eine Warte,
von der aus man die ganze Gegend beherrscht. Solange
ihn die Oesterreicher haben, gibt es schlechthin keine
Hoffnung, ihren Raumgewinn gegen die venetianische
Ebene als eine nunmehr glücklich überstandene Episode
auszulegen.
Der Monte Limone muß also genommen werden,
und die Älpini gehen bei dieser Aufgabe scharf ins Zeug.
Sie besetzen den Vorgipfel, den Caviojo, und sind auch
bald in der Wand unter dem Gipfel, vorerst freilich
nur, um Verluste zu erleiden; denn der Verteidiger tut
alles, was ihm diese lästige Annäherung vom Leibe
halten könnte. Bald kommen Felsblöcke von oben und
reißen die an den Felsen geschmiegten Unterkünfte in
die Tiefe, dann wieder poltern Rollbombon nieder und
explodieren, Tod und Schrecken um sich verbreitend,
mit höllischen Krachen in den Wänden.
Mit jedem Tag müssen die Italiener unter dem
Limonegipfel erfahren, daß da oben ein stahlharter
Gegner haust: die „Rainer", die 59er, das Salzburger
Hausregiment, deren wilde Kampfkraft dieser Feind
schon so oft zu spüren bekam.
Allerdings wird auch die Lage der Verteidiger mit
jedem Tag schwieriger. Ihre Stellung auf dem Felskopf,
der räumlichen Enge halber nur von einem Zug besetzt,
ist von drei Seiten her dem ständig wachsenden Artil-
leriefeuer der Italiener preisgegeben, und es würde viel
Zeit und Arbeitskraft erfordern, diese Stellung halbwegs
208
Drahtseilbahn.
Abschnitt Col di Lana
Marmolatascharte
Feldkanonenbafterle im Marmolata-Abschnitt
W
Wv
OeblrgsgescbütL auf dem Presanella-Gletscher
auszubauen. Daher hat man etwa zweihundert Meter
nördlich des Gipfels quer über den Hang eine „Haupt-
stellung" errichtet und hofft, daß es allmählich gelin-
gen werde, die vorgeschobene Feldwache durch Anlegen
von Kavernen und betonierten Ständen gegen das feind-
liche Feuer zu schützen.
Aber der Feind beeilt sich sehr mit seinen Vorbe-
reitungen zu einem umfassenden Angriff, der nicht nur
die Spitze selbst, sondern auch die Flanken des Ber-
ges treffen soll. Am 20. Juli setzt ein Trommelfeuer
von unerhörter Wucht gegen den Gipfel, die Hauptstel-
lung am Hang, aber auch gegen den Westrand der
Tonezza-Hochfläche entlang dem Val Freddo, gegen
Straßen, Wege und die Lager der Reserven ein. Acht-
zehn Stunden lang füllt das Heulen und Donnerkrachen
den Raum, mächtige Rauchschwaden stehen über den
weißgeschossenen Felsen und den Waldresten am Ge-
fällsbruch gegen das Val Freddo. Die Stellungen der
59er und die ihrer nördlich anschließenden Kampf- und
Leidensgefährten, der tapferen 14er, sind völlig zusam-
mengetrommelt. Im Abschnitt eines einzigen Bataillons
zählt man über 40.000 Granaten, die in diesen 18 end-
losen Stunden eingeschlagen haben.
Am ärgsten ergeht es der Gipfelbesatzung. Kaum
dreißig Mann stark, sucht sie hinter den Blöcken der
Felskrone Schutz vor dem mörderischen Feuer. Aber
das wettert von drei Seiten her, man weiß nicht, wo
man sich verkriechen soll, um dem anheulenden Eisen
zu entrinnen. Dazwischen pfeifen die Gewehrgeschosse
und das Blei der Maschinengewehre vom Caviojo her.
Manchmal setzt das Feuer aus. Dann heißt es, doppelt
auf der Hut sein, denn in diesen Pausen versuchen
die Alpini, durch die Wände aufzusteigen, und man muß
sie mit Handgranaten und Rollbombon niederhalten.
Noch aber legt der Feind das Hauptgewicht auf
einen Flankenstoß aus dem Val Freddo gegen die Hoch-
fläche von Tonezza, weil damit nicht nur der Cimone
abgeschnürt, sondern auch eine ganz bedeutsame Lücke
in die Widerstandslinie der Oesterreicher geschlagen
wäre. Als nach 18 Stunden endlich die Feuerwalze wei-
lerrollt und verstärkt auf die Anmarschwege drückt,
l«
209
gehen dichte Massen italienischer Infanterie gegen die
Hessen und Rainer am Hang des Val Freddo vor.
Die Abwehr ist so heftig, daß der Versuch kläglich
zusammenbricht. Nach schweren Verlusten flüchtet der
Feind in seine schützenden Deckungen, ohne sich ein
zweitesmal zu zeigen. Dagegen scheint diese Niederlage
den Plan, sich wenigstens der Limonespitze durch einen
Handstreich zu bemächtigen, erst zum Entschluß gestei-
gert zu haben. Und dieser Entschluß wird am 23. Juli
ausgeführt.
Wieder liegt der Nordhang des Monte Limone unter
dem Hammerwerk der italienischen Batterien. Es wird
äußerst schwierig, sich in den Unterständen der not-
dürftig ausgebauten Hauptstellung vor der Vernichtung
zu schützen — an Hilfe für den Posten auf dem Gipfel
ist überhaupt nicht zu denken. Wer den Hang betritt,
wird von den schloßendicht einfallenden Granaten in
Stücke zerrissen.
Mittlerweile durchklettern Dutzende Alpin! die Süd-
wand — angesichts der Entschlossenheit des Verteidigers,
die er noch in den letzen Stunden bewiesen hat, eine
tollkühne Unternehmung.
Plötzlich taucht der erste Angreifer über dem
Schluchtrand auf — ein Kolbenhieb schmettert ihn in
die Tiefe. Aber da, dort, überall erscheinen Gestalten,
ducken sich nieder; Schüsse krachen, Zurufe gellen in
Bersten blitzschnell geworfener Handgranaten, ein Ma-
schinengewehr hämmert vom Caviojo her. Die Gegner
geraten aneinander, was am nächsten ist, wird zur
Waffe: Messer, Steinbrocken, Trümmer von den zer-
schossenen Unterständen, Spaten und Brechstangen, die
nachte Faust ... Es ist ein fürchterliches Handgemenge,
das da am Rand der Wände ausgetragen wird, ein
Handgemenge, bei dem schließlich der ziffernmäßig
Schwächere unterliegen muß.
Und die Zahl der Angreifer wächst mit jedem
Augenblick. Sie haben sich im Schutze des vorangegan-
genen Feuers unter dem Gipfel gesammelt und klim-
men jetzt von drei Seiten her gleichzeitig empor. Als
die letzten der Rainer totgetroffen zusammenstürzen,
bemächtigen sich die Alpin! der ganzen Felskrone. Der
210
Handstreich war glänzend vorbereitet. Schon sind Sand-
säcke zur Stelle, Schutzschilde, ein Maschinengewehr, ja
sogar eine Mitrailleuse werden aufgeseilt, und eh* man
in der Hauptstellung nur ahnt, was auf dem Gipfel
vorgegangen ist, singen von dort her schon die ersten
Bleigarben der Italiener.
Die bittere Gewißheit, daß der Monte Cimone ver-
loren ist, offenbart sich in den ersten Nachmittagsstun-
den des 23. Juli. Nun vollführen die Salzburger ein
heroisches Stück: Schon stürmen sie den Hang hinan,
um den Gipfel im Gegenstoß wieder zu nehmen. Das
Feuer der Alpini bellt ihnen entgegen; sie erleiden
schwere Verluste, kommen nur kriechend vorwärts, er-
reichen die Stelle, wo der Hang am schmälsten ist. Dann
geht es nicht mehr weiter, der Feind ist schon gut
verschanzt, sein Maschinengewehr und die Mitrailleuse
machen jede weitere Bewegung unmöglich. Aber die
Rainer weichen nicht, sie bleiben nur vierzig Meter von
der Felskrone entfernt liegen und errichten aus Stein-
trümmern eine schwache Deckung.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit können sie sich
nicht rühren, ohne neues Feuer und Handgranatenwürfe
der Alpini auszulösen. Aber die Nähe des Gegners
schützt sie wenigstens vor den Geschossen seiner Ar-
tillerie. Als endlich die Nacht kommt, wird diese neue
Feldwachenstellung verstärkt, werden Sandsäcke und
Werkzeuge nach vorne gebracht. Das geht nur in be-
scheidenstem Ausmaß und unter großen Verlusten, denn
der Feind ist wachsam und mißtrauisch, er fühlt sich
ebenso bedroht wie die Rainer, die jeden Augenblick
geworfen werden können.
Zehn Tage dauert dieser furchtbare Zustand. Nur
äußerst langsam gelingt es den Rainern, in harter Nacht-
arbeit die Feldwache so weit auszubauen, daß ihre Ver-
luste in erträglichen Grenzen bleiben. Am meisten lei-
den die Träger, die auf dem deckungslosen Hang hin
und her müssen. Jeder Tropfen Wasser, jedes Stück
Brot muß mit unsäglicher Todesverachtung erkauft wer-
den. Nur Soldaten von höchster Pflichttreue und wahr-
haft heldischer Gesinnung vermögen solche Situationen
zu ertragen.
14*
211
Auf die Dauer wäre freilich dieser Zustand sinnlos*
Nur wer den Gipfel in der Hand hat, vermag die
Vorteile des Monte Limone auszunützen. Ob die Wider-
sta.ndslmie vierzig oder zweihundert Meter davon ent-
fernt liegt, spielt keine Rolle. Es kann daher nur eines
geben: Sich des Gipfels wieder zu bemächtigen.
Am 4. August wird dieses tolle Wagnis unternom-
men. Die 59er gehen durch die Ostwand vor, sie stür-
men in tapferem Anlauf die Hangfläche hinan, erreichen
den Feind, werfen ihn nach wütendem Handgemenge
aus der Felskrone und die Südwand hinunter. Aufatmend
stehen sie wieder auf der Spitze des Berges, der ihnen
zum Schicksal geworden ist, sehen die Bestürzung der
Alpini über diesen Verlust aus der Verwirrung drüben
auf dem Caviojo . . .
Aber ihre Freude währt nur kurz. Es ist furchtbar
schwer, diesen Berg zu erstürmen, ihn zu halten ist
noch schwerer. Als der Feind sich gefaßt hat, beginnen
seine Geschütze wieder zu arbeiten, schicken Eisen über
Eisen auf die Felskrone, die auch jetzt nicht reicher an
Deckungsmöglichkeiten ist als früher. Der Monte Limone
qualmt wieder unter den Granaten der italienischen Ge-
schütze, da,s grausame Spiel setzt von neuem ein. Es
kann nicht lang dauern, bis die Gipfelbesatzung aufge-
rieben sein muß und der Feind über der Wand auf-
taucht . .
Dieser Einsicht opfert die Führung selbst den so
heiß erkämpften Erfolg: Sie befiehlt die Räumung des
Monte Limone und den Rückzug in die Feldwachenstel-
lung am Hang. Wenige Stunden später erscheinen die
Italiener wieder auf dem Gipfel und glauben nun, dau-
ernd in seinem Besitz zu bleiben.
4.
Der Vorstoß vom 4. August hat wohl bewiesen, daß
eine Infanterie wie die 59er den Limone zwar allen
Teufeln zum Trotz nehmen kann, daß es aber undenk-
bar ist, die Spitze in dieser Form zu halten. Der Berg
muß also „umgeformt" werden; er muß solange natür-
liche Deckungen bieten, bis Stoßbohrer, Dynapiit und
212
Beton ihn zu einer Festung gemacht haben* Umformen?
Der Vorgang ist eindeutig: Anbohren und in die Luft
sprengen.
Zwei Tage nach der freiwilligen Preisgabe des Gip-
fels beginnen die Arbeiten, die von den Linzer Sappeuren
unter der Leitung des Oberleutnants Albin Mlaker durch-
geführt werden und eine der glänzendsten Taten des
Alpenkrieges darstellen.
Zuerst wird die Feldwache mit der Hauptstellung
durch einen Laufgraben verbunden. Die italienische Ar-
tillerie stört nun wohl unablässig diese Arbeiten, aber
es gelingt ihr nicht, sie zu verhindern. Ein weiterer
Laufgraben verbindet die Feldwache mit einer vor dem
Fall des Gipfels begonnenen Kaverne, die zwischen den
beiden Stellungen liegt. Denn von dort aus soll der
Minengang vorgetrieben werden. Um nun diesen bereits
geschaffenen Eingang des Stollens vor Ueberfällen zu
schützen, wird auf dem Kavernenfelsen ein Postenturm
betoniert. Scharfschützen halten die italienische Stellung
ständig unter Feuer, so daß der Feind bald unter die-
sem Druck mürbe wird und sich kaum mehr getraut,
sein Vorfeld zu beobachten.
Daß die Italiener bald erkennen, wohin diese Maß-
nahmen zielen, ist selbstverständlich. Die Lage auf dem
Cimone gleicht zu sehr der auf dem Col di Lana; hier
wie dort ist es die schmale Angriffsfläche, die eine
Eroberung mit stürmender Hand überaus erschwert, hier
wie dort kann man den Gipfel wohl nehmen, aber nicht
halten, wenn nicht vorher eine umfangreiche Sprengung
ihn zerreißt und ihn in einen Trichter verwandelt. Drei
Monate ist es her, seit die Kaiserjäger auf dem Col
di Lana unter den Trümmern der Spitze begraben wur-
den — und nun soll ihrem Opfertod eine Vergeltung
von gewaltigem Ausmaß werden.
Auf beiden Seiten wird mit jagender Hast gear-
beitet. Zwei Minengänge wachsen gegeneinander, der
Kampf um den Monte Cimone ist zu einem stummen
Ringen unter Tag geworden. Schon hat der Stollen der
Oesterreicher die Felskrone erreicht, er könnte geladen
und gesprengt werden und würde unzweifelhaft die ita-
lienische Besatzung vernichten; aber damit begnügt sich
213
Öberleunant Mlaker nicht. Nach seinem Plane darf es
nach der Sprengung keine Cimonespitze mehr geben,
sie muß in vollem Umfang, samt allen Stellungsbauten
und Kavernen der Italiener verschwinden. Daher wird
ein Paralellstollen abgezweigt und der Vortrieb weiter-
geführt, bis die beabsichtigten Sprengkammern genau
unter der Mitte der Felskrone zu liegen kommen.
Deutlich hört man die Arbeit des Feindes in der
Gegenmine. Es ist ein gewagtes Spiel, trotz der nahen-
den Gefahr an dem ursprünglichen Plan festzuhalten . . .
Eis dann eines Tages die Katastrophe eintritt. Dump-
fes Krachen aus dem Innern des Berges und hervorquel-
lender Rauch verkünden, daß die Italiener ihre Quetsch-
mine gezündet haben. Totenstille. Die Sappeure hängen
Rauchmasken um und kriechen in den qualmerfüllten
Stollen, um nach ihren Kameraden zu suchen. Aber bald
ist ihnen der Weg versperrt: Steinblöcke, Schotter. Der
Gang, ohnedies nur 0.80x1.10 Meter groß, ist einge-
stürzt. Was aus den Mineuren, die am Vortrieb ar-
beiteten, geschehen ist, weiß man nicht.
Es ist nicht leicht, den engen Stollen freizulegen.
Nur ein Mann hat an der Einsturzstelle Platz. Aber
bald hört er ganz in der Nähe arbeiten: Die Einge-
schlossenen leben, ja sie haben sogar noch die Kraft,
ihre Befreiung selbst zu versuchen!
Es dauert nicht lange bis die Stelle freigelegt ist.
Und da erweist sich der Anschlag der Italiener als ver-
hältnismäßig harmlos: Nur zwei Meter Stollenlänge wur-
den eingedrückt, was eine Arbeitspause von kaum drei
Stunden zur Folge hatte.
Dieser Anschlag aber treibt zu höchster Eile an. Vier
Tage später ist die Sprengkammer von Hand aus so
erweitert und verzweigt, daß man mit einer durch-
schlagenden Wirkung rechnen kann. Ihre Anlage geschieht
nach Beobachtungen des italienischen Grabensystems auf
der Spitze, soweit man sie von der Feldwache aus
machen kann, nach Fliegerbildem und den Angaben
eines Gefangenen, der mit Gewalt von drüben geholt
wird und der auch Tag und Stunde der nächsten Ab-
lösung angibt. Somit steht auch der Zeitpunkt der Spren-
214
gung des Monte Cimone fest: 23. September, früh
morgens.
Bei Sonnenuntergang des 22. beginnt das Laden der
Mine. Hunderte Soldaten, Sappeure, 59er und 14er, tra-
gen in langer Kette Kiste um Kiste durch den Lauf-
graben in die Kaverne; barfuß, lautlos, unter der Dop-
pellast des Todes und der Verantwortung für ein Werk,
das Männer von höchster Tapferkeit in freiwilliger
Pflichterfüllung vorbereitet haben. Von der Kaverne aus
werden die Kisten auf Decken durdi den Minengang
geschleift und in der Sprengkammer aufgestapelt.
Um ein Uhr früh ist die Arbeit geschafft Rund
14.200 Kilogramm Sprengstoffe füllen die Kammer vom
Boden bis zur Decke, der Stollen ist sorgfältig ver-
dämmt, eine doppelte elektrische Zündleitung gelegt.
Nun wird die Feldwache geräumt und ihre Besatzung
in die Hauptstellung zurückgenommen.
Weit und breit fiebern Tausende Menschen dem
großen Augenblick entgegen. Die Nacht ist still wie
wenige vorher. Bei den Italienern scheint man überzeugt
zu sein, daß mit der Sprengung der Quetschmine alle
Gefahr gebannt wurde. Nun muß das Bataillon, das zur
Ablösung kommt, schon in Aufstieg über die Serpen-
tinen des Caviojo sein, nun wird es durch die Kletter-
steige der Südwand den Gipfel erreichen . . *
Nur wenige Posten stehen im eigenen Graben, aber
die Kavernen und Unterstände sind gestopft voll Rainer,
die gleich nach der Sprengung den Cimone stürmen
sollen. Eine mühsam unterdrückte Nervosität beherrscht
alle diese Männer, es ist keiner da, dessen Phantasie
nicht mit dem gewissen, dem entscheidenden Augenblick
beschäftigt wäre. Wann wird das sein? Nur wenige
wissen es . ♦ .
Die Posten schauen in die hohe Nacht hinaus. Nebel
ziehen dann und wann über den Gipfel, es ist feucht
und kalt. Drüben bleibt alles still. Der Feind will kei-
nen Anlaß geben, bei seiner Ablösung gestört zu werden.
Allmählich wird es im Osten grau. Die Sterne ver-
blassen, der neue Tag ist da. Für viele der letzte Tag;
für die meisten, die jetzt da drüben ihre Rüstung ab-
215
legen oder sie timhängen, Meldungen austauschen, den
Dienst übergeben, übernehmen . . .
Plötzlich zischt etwas in den Himmel, eine Rakete,
deren grünes Licht gespenstisch niederflattert Das Sig-
nal 1 Die Posten reißen ihre Gewehre von der Deckung,
laufen; erreichen die Unterstände. Keine Frage schallt
ihnen entgegen. Jeder weiß: das Signal . . .
Minuten dehnen sich zur Ewigkeit. Nichts . . . .
nichts . . . nichts . . .
Da scheint plötzlich der feste Fels, auf dem sie
kauern, einen Luftsprung zu machen, Zweimal kurz
nacheinander. Von der Decke rieselt es, ein frauen-
hafter Doppelschlag trifft das Ohr. Trümmer poltern,
krachen in der Nähe nieder. Es ist so unheimlich, daß
man das eigene Blut rauschen hört vor den krallenden
Fingern des Todes.
Tiefe Stille.
Aber da Rufe: „Aust Heraus! Auf!“
Klirrend drängen die Männer sich ins Freie, ihre
Blicke hängen wie festgebannt an der ungeheuren Rauch-
säule, die sich langsam vom Gipfel des Monte Cimone
loslöst. Gipfel? Nein, zwei Gipfel scheinen dort aufzu-
ragen! Und der Hang, wie furchtbar verändert! Ueberall
Steinblöcke, nackter, zerrissener Fels, Trümmer, Geröll.
„Vorwärts!“
Füße hasten über den Boden. In kleinen Gruppen,
in schütteren Schwarmlinien stürmen die Rainer den
zertrümmerten Berg. Lautes Jammern schlägt ihnen ent-
gegen. Es kommt von den Flanken des Gipfels her.
Dort müssen Dutzende Verstümmelte liegen, Unglückliche*
die am Rand des Verderbens hängengeblieben sind und
denen das Entsetzliche jetzt erst zu Bewußtsein kommt.
Die Rainer erreichen ihre Feldwachenstellung — sie
ist weg; erreichen den gewaltigen Trichter, der in fünf-
zig Meter Durchmesser dort gähnt, wo ehemals die
Felskrone aufragte. Schon knattert vom Caviojo herüber
ein Maschinengewehr; aber auch dieses Zeichen reger
Kampfesfreude kann den Eindruck nicht verwischen, daß
die Sprengung des Monte Cimone den Feind furchtbar
getroffen und seine Entschlußkraft, wenigstens für die
nächsten Stunden, völlig lahmgelegt hat.
216
Das Vemichtungswerk ist zur Gänze gelungen. Trotz-
dem kommt kein Triumphgefühl, keine Siegesfreude auf.
Zu groß ist der Jammet ringsum, zu gräßlich das Ge-
schrei der Verwundeten und die Lage der in den Ka-
vernen Eingeschlossenen. Die 59er machen sich an die
Arbeit. Der Trichter ist so mächtig, daß man keine Ueber-
raschungen mehr zu befürchten hat; denn nun wird
nicht mehr eine Handvoll Kämpfer gegen anstürmende
Uebermacht stehen. Auf Tragbahren und Zeltblättern
trägt man die Ueberlebenden dieser Katastrophe zu-
sammen, verbindet sie, schafft sie nach rückwärts. So-
weit es gleich möglich ist, werden die Verschütteten aus-
gegraben und als Gefangene abgeführt. Ihre Zahl steigt
bald auf einige hundert Mann.
Aber der Feind bleibt hart, auch seinen eigenen
Leuten gegenüber. Es vergeht keine Stunde, als wüten-
des Artilleriefeuer gegen den gesprengten Gipfel ein-
setzt und neue Opfer, namentlich unter den vielen
hilflos herumliegenden Verletzten fordert. Ein öster-
reichischer Parlamentär, der im Asticotal zu den Ita-
lienern hinübergeht und den Vorschlag überbringt, drei
Stunden Waffenstillstand zu halten, um die Ueberleben-
den auf dem Cimone bergen zu können, wird schroff
abgewiesen. Trotzdem bemühen sich die Rainer mit
rührender Hingabe um den so furchtbar getroffenen
Gegner. Immer wieder hört man von den Flanken des
Gipfels her Hilferufe. Die letzten Verschütteten wurden
erst eine volle Woche nach der Sprengung gerettet.
Bis zu Kriegsende blieb der Monte Cimone in der
Hand der Oesterreicher. Die Rainer, die soviel Blut um
diesen Berg vergossen hatten, hielten weiterhin treue
Wacht auf dem zertrümmerten Gipfel. Erst als das Ge-
bäude der Südwestfront in seinen Grundfesten wankte,
als nur mehr die verläßlichsten Kämpfer bis zur Er-
schöpfung an den Brennpunkten des entscheidenden Rin-
gens eingesetzt wurden und ärgste Not an Mann war,
kamen die tapferen Freiwilligen Schützen aus der Steier-
mark hierher, um dieses Bollwerk zu halten, solange die
59er an anderen Stellen der Front kämpfen mußten.
217
5.
Was Mannestum heißt, zu welchen Taten und Opfern
es fähig ist, das bewies die Offensive vom Frühjahr
1916 in überragendem Maße. Mag der Sieg von Kar-
freit an Glanz und Größe alles in den Schatten stellen,
was die Südwestfront jemals zeitigte — er hatte andere
Grundlagen als der kühne Versuch siebzehn Monate
vorher. Bei Karfreit wurde eine gewaltige Ueberzah]
geschlagen; aber dieser Feind hatte elf Isonzoschlachten
hinter sich und glaubte nicht mehr an Erfolge. Der
Vorstoß von Lavarone-Folgaria jedoch traf auf einen
ungeschwächten Gegner, der, wohlverschanzt und auf
zahlreiche Panzerwerke gestützt, in einem unvorstell-
bar schwierigem Gelände lag. Was am oberen Isonzo
in einem wuchtigen Anhieb geschah, das wurde hier
zu einer Kette immer neuer, immer härterer Kämpfe.
Bei Tolmein und Flitsch entschied das Ringen um die
erste Widerstandslinie, in Südtirol waren es die fern-
sten Gipfel, auf denen um die Entscheidung gerungen
wurde. Das erforderte Seelenkräfte, wie sie nur der
alpenländische Soldat aufbringt. Er allein vermag den
Gedanken zu ertragen, von dem eben erklommenen
Berg ins Tal niedersteigen und gegen einen neuen Berg
anrennen zu müssen, wohl wissend, daß vielleicht erst
der achte, der zehnte Gipfel die Erlösung bringt; die
Ebene, das letzte Ringen um den mühsam aufgerisse-
nen Raum.
Es ist nicht leicht, der Nachwelt das Gigantische der
Südtiroler Offensive von 1916 begreiflich zu machen.
Was wiegt das Wort gegen die Magie des Augenblicks,
gegen den Rausch des Kraftgefühls., das nicht zurück-
schreckt vor einer schier unerschöpflichen Kette von
Hindernissen 1 Berge, Berge, so weit der Blick reicht,
jeder eine natürliche Festung, jeder von einem Gegner
verteidigt, der sich bis zum letzten Mann bewußt ist,
daß es hier um Sein oder Nichtsein geht; und der
Angreifer, auch nur Fleisch und Blut, aber durchdrun-
gen von dem Glauben, das zu schaffen, was der Gegner
nicht geschafft hat — dieser Gegner, der bisher seine
Erfolge mit dem Zollstab messen kann. Hier rollt ein
218
Heldendrama ab, dem auch die Vergeblichkeit des
Opfers nichts von seiner zeitlosen Größe rauben wird.
Schon ist der Einsturz der Nordostfront eine bittere
Tatsache, schon rast ein Eisenbahnzug nach dem andern
dem Schauplatz dieser Katastrophe entgegen, als die
Kaiserjäger di vision noch immer um die letzten Tor-
pfeiler auf dem Wege in die venetianische Ebene ringt.
Der Feind, wohl wissend, daß die Zahl des Angreifers
von Stunde zu Stunde abnimmt, schafft alles heran,
was ihm zu Gebote steht. Die Bahnlinien im Rücken
seiner Front machen es ihm leicht, eine Division nach
der andern vom Isonzo an die Südtiroler Bastion zu
werfen. Trotzdem erstürmen die Kaiserjäger den stei-
len Kegel des Monte Priaforä, den Monte Spin, das
Werk Arlta; dann folgt der furchtbare Kampf um den
Monte Giove, auf dem die Alpini Meter für Meter
verteidigen und der schließlich dank ihrer Entschlossen-
heit und dem unerschöpflichen Munitionseinsatz der
italienischen Artillerie in ihrer Hand bleibt.
Rückzug — Rückzug vor einem Gegner, der viele
hundert Kilometer von den Lessinischen Alpen entfernt
die Nordostfront zerschlagen hatt Die Kaiserjäger mar-
schieren. Es ist fast sicher, daß sie nicht in Rußland
eingesetzt werden. Graf Cadorna hat zuviel Truppen
an der Einbruchsstelle gehäuft, als daß man je wieder
hoffen dürfte, Südtirol mit einer Handvoll Landstürmer
halten zu können.
Aber eine Atempause soll den Kaiserjägern gegönnt
sein, die erste nach fünf harten Wochen. Sie werden in
die armseligen Dörfer zurückgezogen, durch die sie kämp-
fend und voll Zuversicht gekommen sind, um die Ebene
und damit das Ende dieses Krieges zu erfechten. Mit
wunden Füßen und zerrissenen Händen, in zerlumpten
Monturen und erbarmungswürdigen Stiefeln, hohlwangig
und verwildert, so kehren die Sieger von der Costa
d'Agra, dem Monte Maronia, der Gusella, dem Majo
und Maggio, dem Cimone di Laghi, der Costa di Mesole
und dem Monte Toraro, von der Priaforä und dem
Monte Spin zurück. Viele von denen, die am 15. Mai
in den Reihen dieser Tapfersten der Tapferen antraten,
sind nicht mehr; sie ruhen für immer in den stillen
219
Tälern und auf den latschenbewachsenen Hängen, die
ihr Blut tranken . . .
Drei Tage Rast sind um. Keiner von denen, die
da zum erstenmal nach fünf Wochen schlafen dürfen
so lange sie wollen, denkt daran, daß dieser 27. Juni
der letzte Rasttag sein wird; daß nun Geschehnisse
kommen werden, gegen die gehalten selbst die düsterste
Erinnerung lichtvoll zu nennen ist. Alarm. Sie mar-
schieren wieder, zunächst das 1. Regiment, das in Ser-
rada lag. Der erste Kommandoruf schon bringt Ent-
scheidung, denn es gibt nur zwei Wege von Serrada
aus: Die Straße gegen Folgaria — das bedeutet Ruß-
land — wieder fort aus der Heimat, wieder Sand,
Sumpf, Dreck, endlose Märsche . . . Aber sie gehen die
andere Straße, hinunter ins tief eingeschnittene Terra-
gnolotal. Wohin? Genau wissen es nur die Offiziere,
doch alle ahnen es: Dieser Marsch führt nicht weit;
er wird auf einem der Gipfel da vorne enden.
Aufstieg — dem Berggewohnten kein Greuel, ob
es auch gleich manche Stunde dauert. Immer höher,
immer wilder die Umwelt. Die Marschkolonne ist längst
zu einer dünnen Kette geworden, die sich über steinige
Wege und durch Latschengestrüpp als ein endloser Heer-
wurm zieht. Näher und drohender rückt das Rollen des
Artilleriefeuers. Einschläge qualmen auf einem Fels-
kops, der wie durch einen riesenhaften Keulenhieb in
zwei Teile geteilt erscheint. Jetzt ist ringsum alles Stein,
Geröll, Oede. Magere Latschen kleben an den steilen
Halden, da und dort leuchten Schneeflecke in der schei-
denden Sonne. . .
Dieser mächtige Felskopf heißt Monte Pasubio. Er
krönt mit seinem Doppelgipfel das ausgedehnte Col-
Santo-Massiv, das während der Offensive von den Trup-
pen der 57. Division erstürmt worden ist. Auch hier ist
schließlich die Tapferkeit des Angreifers an dem wach-
senden Widerstand der Italiener und der Unmöglich-
keit, die eigene Artillerie vorwärtszubringen, gescheitert.
Die Südplatte, 2236 Meter hoch, blieb den Alpini, die
um 12 Meter niedrigere Nordplatte den Oesterreichern.
Dazwischen liegt ein breiter Graben, dessen Aeste nach
Ost und West abfallen: der sogenannte Eselsrücken.
220
Auch die beiden Flanken der nördlichen Platte haben
Namen: Sette Croci heißt der in einer Reihe von Rück-
fallkuppen gegen das Posinatal abfallende Osthang, Oos-
magon der westliche, der sich gegen den Steilrand des
Vallarsa hinzieht.
Ein Gipfel wie hundert andere! Der Feind besitzt
in seiner Platte eine ausgezeichnete Verteidigungsstel-
lung. Sie ist gegen den Eselsrücken durch eine Wand
geschützt und nur von den Flanken her zu nehmen.
Im Südosten schließt an den Pasubio der Monte Fomi
alti an, ein zerklüfteter Bergstock mit ausgesprochenem
Dolomitcharakter, in dessen Wänden und Schluchten die
Italiener einen Artillerie-Stützpunkt besitzen, der so gut
wie überhaupt nicht niederzukämpfen ist.
Wie der Monte Cimone in der Gabelung des Astico-
tales, so stellt der Pasubio eine ständige Bedrohung
der italienischen Widerstandslinie zwischen Vallarsa und
Borcolapaß dar. Es lag daher nahe, daß der Feind alles
aufbieten würde, um die nördliche Platte und weiter
den Roiterücken mit dem Roitekopf, den Monte Testo
und den Col-Santo-Gipfel, kurz das ganze Massiv, das
er zu Kriegsbeginn kampflos besetzt und ein Jahr spä-
ter verloren hatte, wieder in die Hand zu bekommen.
Ebenso wichtig war es für den Verteidiger, durch Be-
sitznahme der südlichen Platte aus dem Pasubio eine
unüberwindliche Festung zu machen und sich damit für
kommende Zeiten die Uebergänge Borcolapaß und Plan
della Fugazza zu sichern.
Aus diesem Grunde war man österreichischerseits
nach Abbruch der Offensive entschlossen, sich hier erst
dann auf die Verteidigung zu beschränken, wenn der
ganze Gipfel den Italienern entwunden sein würde;
und da dies allen Anstrengungen und Opfern zum Trotz
nicht gelang, die eigene Platte und das übrige Massiv
aber auch nicht geräumt werden konnten, ohne damit
einen unschätzbaren Vorteil endgültig zu verlieren, wurde
der Monte Pasubio zum Schauplatz eines Ringens, wie
es in der Kriegsgeschichte beispiellos dasteht: Hier, in
einer Höhe von mehr als 2000 Metern, tobten regelrechte
Schlachten, bei denen neben zahlreichen Geschützen aller
Kaliber, schwersten Minenwerfern und anderen Kampf-
221
mitfein zeitweise bis zu 4Ö.000 Mann Infanterie einge-
setzt wurden. War es am Monte Limone möglich, schon
nach zweieinhalb Monaten den Kampf durch eine Gip-
felsprengung zu entscheiden, so dauerte es auf dem
Pasubio fast zwei Jahre, bis das Messen der Kräfte
sein Ende durch die Zertrümmerung der feindlichen
Platte fand. Und während dieser endlosen Zeit waren
es immer die Kaiserjäger, die die Last dieses Pingens
zu tragen hatten: der Monte Pasubio war ihr Berg
und zugleich das unvergängliche Denkmal ihrer Ge-
schichte; er war ihr Golgatha und der höchste, der
strahlendste Gipfel ihres Ruhmes - . .
6.
Als die Kaiserjäger Ende Juni 1916 zum ersten-
mal auf den öden Hängen „ihres" Berges lagern, ist
droben auf der „Platte" von den späteren, äußerst ver-
wickelten und raffiniert angelegten Bauten so gut wie
nichts vorhanden. Weder hüben noch drüben hatte man
bisher Zeit gefunden, mehr als Steinriegel und Sand-
sackdeckungen aufzuschichten. Auch waren beide Geg-
ner durchaus auf Angriff eingestellt und alle ihre Sor-
gen galten den Vorbereitungen dieses Angriffs, von dem
sich beide die Entscheidung erhofften.
Am 2. Juli entlud sich das Gewitter. Nach einem
mächtigen Artilleriefeuer prallen die beiderseitigen In-
fanterien aufeinander und es kommt zu einem verlust-
reichen Gefecht, ohne daß es einem der Gegner ge-
lingt, den andern zurückzudrängen, geschweige denn ihm
seine Ausgangsstellung zu entreißen.
Da gehen plötzlich über die Osthänge des so heiß
umkämpften Gipfels Schwarmlinien vor, stoßen auf die
Alpini, treiben sie unaufhaltsam zurück: Das 1. Regi-
ment der Tiroler Kaiserjäger greift ant Sein Sturmlauf
ist so gewaltig, daß niemand mehr an der Entscheidung
zweifelt, die in der Umfassung des Gipfels von Osten
her liegt. Wenn die Artillerie die Italiener auf der
feindlichen Platte so lange niederhält, bis die Kaiser-
jäger ihren Flankenstoß zu Ende geführt haben, ist
der Pasubio genommen.
222
Statt dessen stellt eine Batterie nach der andern das
Feuer ein. Verschossen! Keine Munition mehr! Ohne
Drahtseilbahnen ist es eben nicht möglich, so viel Schieß-
bedarf in dieser Oede anzuhäufen, daß man ein tage-
langes Massenfeuer durchhalten kann. Eine Aktion von
größter Wichtigkeit scheitert an dieser bitteren Tatsache.
Und doch hat die Wucht dieses Angriffs zur Folge,
daß der Feind für einige Zeit wie gelähmt ist: 2600
Tote und Verletzte und über 300 Gefangene können
nicht sogleich ersetzt werden.
Von diesem Tag an, der die Bedeutung des Monte
Pasubio besonders unterstrich, wird der Berg mit seiner
näheren Umgebung endgültig zum Bereich der Kaiser-
jägerdivision. Wann immer die Italiener anrannten, tra-
fen sie auf den alten Feind. Meist waren es Alpini, die
in diesen und den späteren Kämpfen den Tirolern gegen-
übertraten. Andere Truppen hätten kaum ein solches
Ringen bestanden.
Das Scheitern des Vorstoßes vom 2. Juli und die
ständig zunehmende Zahl der italienischen Geschütze
führte auf österreichischer Seite zu dem Entschluß, vor-
läufig auf die Eroberung der feindlichen Platte zu ver-
zichten und alle Kraft an die Ausgestaltung der eigenen
Linie zu wenden. Es galt zunächst, Kavernen zu bohren;
darüber hinaus mußten auf der eigenen Platte und na-
mentlich in der Cosmagonmulde des Abschnittes Pasubio-
West Stellungen geschaffen werden, die dem ständigen
Steigen der Verluste Einhalt gebieten konnten.
Die Italiener jedoch sind weiterhin entschlossen, den
Gipfel um jeden Preis zu nehmen. Aber auch sie brau-
chen Zeit. Pausenlos krachen ihre Wurfminen, ihre Gra-
naten in das splitternde Gestein. Oft wird die Frucht
tagelanger Arbeit in wenigen Minuten restlos zerstört.
Dieses Feuer liegt auf den Stellungen, den Anmarsch-
wegen, den Nordhängen, wo die Reserven lagern, es
schwillt an, ebbt ab, es reicht überall hin, wo die Ita-
liener Leben vermuten.
Vor allem ist es die Cosmagonmulde, gegen die sich
die Wut des Feindes richtet. Die Gegner — Alpini
drüben, Teile des 3. Regiments herüben — liegen hier
einander stellenweise auf nur wenige Schritte Entfer-
223
nung gegenüber. Das bedeutet für die Kaiserjäger einen
kaum erträglichen Druck. Sie haben nicht zahllose Minen-
werfer und unbegrenzte Mengen an Munition zur Ver-
fügung wie der Feind, sie haben nicht einmal Stahl-
helme, um teilweise wenigstens gegen Steinschlag ge-
sichert zu sein. Graben gibt es hier keinen. Eine Mauer
aus Steinblöcken und Drahtkörben mit ausgesparten
Schußlöchern, das ist alles. Ebenso dürftig sind die
Unterstände. Eine gesicherte Verbindung nach rückwärts
zu schaffen, ist ausgeschlossen. Jeder Verkehr muß bei
Nacht erfolgen, und auch dann macht ihn der stets
wachsame Feind zur Hölle.
Wie Menschen unter solchen Bedingungen leben kön-
nen, bleibt ewig rätselhaft. Manchmal donnert ein Hagel
von Minen nieder, daß man glauben sollte, der letzte
Pulsschlag sei ausgetilgt. Aber gleich darauf krachen
als Antwort die Gewehre der Scharfschützen wieder und
fordern auf Seite der Alpini Opfer um Opfer.
Die Aussichtslosigkeit, jemals den Cosmagon-Ab-
schnitt zu einer wirklichen Stellung ausbauen zu kön-
nen, läßt den verzweifelten Entschluß reifen, sich der
Stellung des Gegners zu bemächtigen und damit wenig-
stens die Gefahr seiner Nähe abzuwenden. Am 17. Juli
erfolgt der erste Schlag. Ein kurzes Minenfeuer leitet
den lieberfall ein, Granaten und Maschinengewehre hal-
ten die Nachbarabschnitte nieder. Blitzschnell sind die
Kaiserjäger aus ihren Deckungen, ein paar Handgranaten-
würfe brechen den Widerstand der Alpini, Kolben und
Sturmmesser räumen mit den Todesmutigen auf, die sich
nicht ergeben wollen. Für kurze Zeit ist der lästige
Gegner zurückgedrängt, und die Verteidiger der Cosma-
gonmulde atmen auf.
Aber die Folgen dieses kühnen Versuchs sind furcht-
bar. Kaum haben sich die Italiener gefaßt, als ein wahres
Ungewitter von Minen auf die genommene Stellung nie-
dergeht. Mann für Mann fallen die Tapferen, denen die
befreiende Tat gelungen ist, niemand kann ihnen Hilfe
bringen und sie selbst können sich nicht retten. Als
die Alpini wieder gegen ihren verlorenen Graben vor-
gehen, finden sie darin nur mehr verstümmelte Leichen.
Drei Wochen später endet ein gleicher Versuch mit dem
224
ß-'p
Stellung am Fedaja-Paß (Abschnitt Marmolata)
Passo le Seile (Fleimstalfront)
Blick vom Bocchegipfel auf die Höhe Casfellazzo
Blick von der Bocchespltze gegen Pellegrino-Tal (Fleimsfalfronf)
gleichen Ergebnis: wieder gelingt der Einbruch in die
feindliche Stellung und wieder erliegen die Eingedrunge-
nen dem Minenfeuer der Italiener.
Mittlerweile wird es von Tag zu Tag mehr offen-
bar, daß der Feind einen umfassenden Angriff gegen
den österreichischen Teil des Pasubiogipfels und seine
Flanken plant. Mündungsflammen und Schall verraten
immer neue Geschütze, die sich sorgfältig einschießen
und das Ausmaß der kommenden Ereignisse deutlich
zeigen. Bald sind auf den Zielplänen der österreichischen
Beobachter an die 200 Rohre verzeichnet, deren Feuer
ausschließlich der „Platte“ und ihrer unmittelbaren Nach-
barschaft gilt. Daß die Italiener niemals an Munitions-
mangel litten und keinen Vorstoß unternahmen, der sie
in der Minderzahl ließ, das hatte die Erfahrung gelehrt.
Mit heiligem Eifer arbeiten die Kaiserjäger am Aus-
bau ihrer Stellungen. Der Umgang mit Steinbohrer und
Schlägel ist dem Sohn der Alpen eine ungewohnte Sache.
Aber hier gibt es wenig Holz, und was wären auch die
stärksten Bohlen gegen dieses Feuert Nur im Innern des
Berges, in Kavernen mit haushoher Ueberlagerung kann
man Schutz davor finden.
Trotz allen Anstrengungen sind diese Arbeiten noch
nicht sehr weit gediehen, als am 10. September der
erste große Sturm über den Pasubio hereinbricht. Der
Feind hat seine Vorbereitungen bis ins kleinste ge-
troffen. Ungeheure Mengen an Granaten und Minen
sind aufgespeichert, alle Batterien sorgfältig eingeschos-
sen. Sechs Älpinibataillone und ein Bataillon Infanterie
sollen die Oesterreicher von der Pasubioplatte und dem
Cosmagon werfen. Dahinter steht die dreifache Zahl
an Kämpfern bereit, um den geschlagenen Feind bis an
den Nordrand des Col-Santo-Massivs zu verfolgen. Da-
mit wäre ein Ziel von größter strategischer Wichtigkeit
erreicht.
7.
Schlagartig, als hätte eine unsichtbare Hand die
Schleuse des Entsetzens geöffnet, brüllt plötzlich der
Umkreis auf und wirft heulendes Eisen gegen den Gip-
fel und seine Flanken. Im gleichen Augenblick weiß
15
225
jedermann hüben und drüben, daß das kein Feuer*
übertali, sondern der Auftakt zu dem längst erwarte-
ten Generalangriff ist*
Auf der Platte drängen sich. die Kaiserjäger in den
Kavernen zusammen, um diesem furchtbaren Donner-
wetter zu entrinnen* Bis zu den Eingängen hocken sie
Mann an Mann, haben ihre Waffen neoen sich und war-
ten* Von Zeit zu Zeit werden Namen aufgerufen. Keine
Frage fällt. Wer genannt wird, nimmt sein Gewehr und
zwängt sich ins Freie; und andere stürzen herein, stumm
von dem überstandenen Grauen — abgelöste Horch-
Posten, die diesen Feuersturm draußen bestehen müs-
sen, einerlei, was aus ihnen wird. Es mag Flieger geben,
die in Woikenhöhen mit ihrem Gegner ringen, Peiler,
die mit der blanken Waffe dem Feind entgegenrasen;
es mag hundert und aber hundert Formen des Krieges
geben, die seine Fratze in ihrer ganzen kalten Grau-
samkeit zeigen; aber nichts kommt diesem Postenstehen
im Trommelfeuer gleich, nichts ist heldischer, mann-
hafter, erschütternder als der Griff nach dem Gewehr,
wenn der Flame aufgerufen wird, als der Abschied ohne
Worte, den diese Männer voneinander nehmen. Tausend
T'oae stirbt jeder von ihnen, und er stirbt sie schuldlos
wie ein Märtyrer* Die Größe dieses Opfers hat kein
Beispiel auf Frden. —
Her Anblick, den der Felskopf des Pasubio bietet,
ist überwältigend. Pauch, Flammen, hochfliegende Trüm-
mer, Jörandschwärze und weid bleckendes Oestein —
so seilen üm die Beobachter, die von den umliegen-
den Gipfeln her auf das Hoiienbiid starren. Aber der,
der mitten in dieser Hölle stent, dem jeder bandsack,
jeder reisbiock hier vertraut war, ihm ist es, ais wäre
der jüngste Tag angebrochen: Was ehern gefügt schien,
wankt, bricht zusammen; wo eben noch ein Unterstand
war, verwirrt ein Trümmerhaufen den Blick, gähnt ein
flacher, in den Stein geschmetterter Trichter; Stocke, so
grob, daß sie immer sicheren Schutz boten, wenn mit-
ten in der Arbeit das XMiedergurgein einer „Schweren“
an den Tod mannte, sie sind zu Schotter geschlagen.
Aber alles das muß viel hundertmal gesehenen, eh'
der Feind angreift Was noch steht, wird eingerissen;
226
was eingerissen ist, wird zerkleinert; was zerkleinert
ist, weht der nächste Niedersturz weg, schmeißt es
den Hang hinunter, wirft neue Trümmer darauf: Holz,
Draht, Wellblech, Betonbrocken und dazwischen Men-
schen, Fetzen von Menschen, gräßlich anzuschauen — der
ewige Infanterist, der eine Dornenkrone trägt und des-
sen Opfer kein noch so hohes und ehrfürchtiges Wort
gerecht werden kann . . .
In der Cosmagonmulde ist es noch fürchterlicher.
Hier gibt es keine Kavernen, hier kauern die Verteidiger
in Unterständen, die angesichts dieser Feuerwut wie
Kartenhäuser anmuten. Hier suchen die, denen es un-
erträglich scheint; in diesen Unterständen zerrissen zu
werden, Deckung, wo es geht: hinter Steinbiöcken, hin-
ter der schwachen Mauer, die der „Kampfgraben“ ist,
und die von Minute zu Minute weniger wird.
Inzwischen sammeln sich die Italiener zum Sturm.
Es sind erprobte Leute, die gegen den gefürchteten
Feind amrennen sollen: Drei Bataillone Alpini, um die
Platte zu bezwingen, ein Infanteriebataillon und drei
Bataillone Alpini für den Angriff gegen den Cosmagon
— rund 5000 Mann in der ersten Linie, dahinter 2000!,
um den Stoß weiterzutragen, für die Breite des ge-
planten Einbruchs eine überwältigende Masse.
Diese Männer sehen, wie ungeheuer das Hammer-
werk ihrer Artillerie arbeitet Sie sehen turmhoch die
Rauchsäulen aufwölken, sehen, wie die Drahtverhaue
und Stellungsbauten der Oesterreicher in Flammen und
stürzenden Feistriimmern untergehen. Aber die Beklem-
mung, die sie angesichts der bevorstehenden Stunden
erfaßt hat, will nicht weichen. Der Gegner da drüben,
dieser Gegner, für den sie Haß und Bewunderung zu-
gleich empfinden, ist so hart, daß er, schon am Boden
liegend, sich wehrt, daß er noch im Tode zu fürchten
ist: Kaiserjäger. Sie werden aus den Löchern und Schrun-
den des zernauenen Gipfels quellen, werden mit Fäu-
sten und Zähnen kämpfen. Es ist, als ob der einzelne
nicht sterben könnte, eh* er Rache genommen hat für
den Griff nach dem heiligen Boden seiner Heimat.
Die Geschütze der Oesterreicher schweigen. Sie sind
ohnmächtig gegen einen so wohl verborgenen Feind,
15*
227
gegen die kavemierten Batterien auf dem Monte Forni
alti, die sicher und mit unglaublicher Schnelligkeit Lage
um Lage herübersenden* Sie haben nicht genug Muni-
tion, um auf vermutete Ziele feuern zu können; ihr
Augenmerk gilt nur der Minute, die den Feind ins
Freie führt und die nicht zu versäumen, Dutzende
Augenpaare wie gebannt an dem qualmenden Berg
hängen.
Unheimlicher noch als das Entsetzen, das die Gra-
nate birgt, ist der Tod in der Wurfmine. Wenn dieses
Höllenmachwerk in den Himmel zischt, wenn es dort
sekundenlang harmlos zu kleben scheint und plötzlich,
wie von einem Kaubvogelwillen beseelt, auf ihr Ziel
niedersaust, dann gibt es keinen, dem das Herz nicht
stillzustehen droht, der sich nicht wie ein Wurm zu-
sammenkrümmt.
Pausenlos rollender Donner, Blitzschläge, rot und
gelb, in Qualm und Staub, durch Stunden, durch viele
Stunden. Längst sind die ersten Opfer dieses Wütens
erkaltet, als die letzten verblutend in den Schotter
sinken.
Aber sind es die letzten? Der Feuersturm flügelt
weiter, er fegt weit ins Hintergelände dieser Schlacht-
bank, wirft sich auf die Anmarschwege und Batterien
der Oesterreicher, wettert in blindem Rasen gegen die
Nordhänge, auf denen die Lager der Reserven sein
müssen. Dröhnend wechseln ein paar Caproni hinüber
zu den Dörfern und Almhütten, zu den wellblechgedeck-
ten Baracken, die in wochenlanger Beobachtungs tätig-
keit als der Standort österreichischer Kommanden fest-
gestellt wurden; werfen ihre Bomben ab, kehren zurück,
kreisen um den Gipfel, der noch immer in einem Dunst-
schleier gebettet liegt, sehen das Gelände wimmeln vom
Angriff der eigenen Infanterie; tragen in stolzer Zuver-
sicht das Bewußtsein des Sieges heimwärts nach Schio,
wo die Kameraden ungeduldig auf Nachricht warten...
Die ersten Gewehrschüsse knallen, kaum vernehm-
lich dem Ohr, das durch stundenlanges Trommeln taub-
geschlagen ist. Aber da und dort ist noch ein Telephon-
draht ganzgeblieben und er trägt nun die Meldung zu
228
den Kommanden und zur Artillerie: Angriff gegen eigene
Platte und Cosmagonstellung! Sperrfeuer 1
Die Alpini sind rasch wie Teufel, sie gehen ohne
Zögern vor. In der Cosmagonmulde sind es nur einige
Meter, die man in beherztem Anlauf nehmen muß, auf
dem Gipfel gilt es, beiderseits der wandigen Südplatte
hinunterzurennen, die Mulde zu überqueren und drüben
den Steilhang zu erklimmen, eh* der Verteidiger seine
Kavernen verläßt.
Da und dort knallt es — das sind die Alarmschüsse
der Kaiserjägerposten. Handgranaten poltern vom Cos-
maigon her, ein Maschinengewehr knattert auf, um plötz-
lich und für immer zu verstummen. Der Anlauf scheint
den Alpini endlos zu sein. Rutschend, gleitend die Ge-
röllhalden hinunter und dann mit keuchenden Lungen
und schweißnassen Gesichtem bergan. Halblaute Zurufe
der Offiziere, während hoch über ihnen noch immer
Granaten heulen, um die Oesterreicher auf dem Gipfel
abzuriegeln.
Die Oesterreicherl Ja, lebt denn dort oben über-
haupt noch etwas? Dünnes Postenfeuer, das eher ver-
zweifelt als gefährlich klingt. Jetzt die Reste des Draht-
verhaues. Da liegt einer auf dem Rücken, blutüber-
strömt, mit verglasten Augen, tot Den hat es zwanzig,
dreißig Meter vielleicht durch die Luft geschleudert . . .
Ein toter Kaiserjäger. Härter krampst sich die Faust
um die Eierhandgranate, blitzschnell schielt das Auge
nach der Reibmanschette am linken Unterarm.
Jetzt — der Feind!
Schüsse krachen, nahe und gellend, Blei singt Und
da fliegen die ersten gestielten Dinger heran, krepieren,
stoßen weißliche Wolken aus dem Boden. Ein Griff,
werfen! Die nächste, werfen! „Savoia!" Der Schrei er-
stickt, geht in schnaufendes Röcheln über. Den, der ihn
in der fürchterlichen Beklemmung dieses Augenblicks
ausgestoßen hat, ist das Gesicht wie mit Hammerwucht
zerschlagen . . .
„Savoia!"
Es klirrt und knackt, schreit gellend, fällt lautlos auf
die Steine hin; sieht den Gegner plötzlich erschreckend
groß vor sich, duckt sich vor dem niedersausenden Kol-
229
ben, stößt zu; packt blindwütig nach dem, der mit blut-
unterlaufenen Augen, Schaum in den Mundwinkeln, mit
dem Steinbrocken zielt* reißt ihn zu Boden, rennt ihm
das Messer in den Leib; will sich erheben, den näch-
sten packen . . . fühlt einen stechenden Schmerz im
Kücken, und donnernd rollt ewige Nacht nieder. Aus.
Aber der Nachbar weiß nichts von dieser Nacht, er
sieht noch im gedämpften Licht der nebelumflorten
Sonne, daß neben ihm mehr und mehr raupenbewehrte,
blaue Stahlhelme auftauchen, daß sie nun zehn gegen
einen sind und der Tod plötzlich Partei nimmt gegen
die verhaßten Kaiseriäger. Er hört auf einmal wieder
die Kommandorufe der Offiziere, die schimpfend und
schreiend ihre Leute zu lenken versuchen, damit das
Durcheinander dieses Handgemenges nicht sinnlos ver-
sande und der Vorteil der Ueberzahl nicht zum Ver-
hängnis werde.
,,Avantil Corragio!“
„Aiutol — Hilfe! — Heists matt — O mamma
mlat — Aiuto!"
Und dazwischen das Donnern der Geschütze, der
schmetternde Einschlag der Granaten, der singende Ton
krepierender Schrapnells — das Höllenkonzert, das in
weitem Kreise den Kaiserlägerberg umklammert.
8.
In den Mulden am Nordhang, hinter Latschen und
aufgeschichteten Steinen verborgen, kauern, zu schütteren
Gruppen auseinandergezogen, die Reserven der Batail-
lone, die da vorne um Sein oder Nichtsein ringen.
Vor ihnen splittert das Gestein im Sperrfeuer der Ita-
liener, hinter ihnen hagelt glühendes Eisen nieder und
wirft Rauch und Fetzen gegen den Himmel. Daß die
Welschen die eigene Platte erreicht haben, daß sie am
Cosmagon eingedrungen sind, hört das geübte Ohr an
der Art des Gefechtslärms: Schneidend hoch gellen ita-
lienische Gewehrschüsse und das kurze, abgerissene
Feuer der Maschinengewehre. Wie es den Kameraden
geht, ob sie sic^i halten und allein den Gegner wieder
hinunterwerfen können — das sind quälende Fragen für
230
jeden einzelnen. Denn diese Männer sind mehr und
inniger schicks aisverbunden als die Angehörigen anderer
Truppen: sie haben den glühenden Haß gemeinsam und
das starke Heimatgefühl. Sie sind eifersüchtig aufeinan-
der, die einzelnen Regimenter, wenn es um Ehre und
Ruhm geht; aber wenn gefochten wird, kennen sie nur
das gemeinsame Blut, die gemeinsame Tat und die
Waffenehre aller Kaiser jäger.
Endlich Gewißheit und die ersten Befehle: Der Feind
hat einen Teil der eigenen Platte besetzt, er ist in die
Cosmagonstellung eingedrungen. Die Reste der Kom-
panien, die dort waren, halten sich knapp dahinter,
haben den Feind abgeriegelt. Gegenstoß nach Artillerie-
vorbereitung.
Die Italiener bieten alles auf, um diesen Gegenstoß
zu vereiteln. Ihr Sperrfeuer ist lückenlos, sie haben
Munition in Hülle und Fülle. Aber eines wird ihnen
bald offenbar: Von Durchbruch und vorwärtsflutendem
Besetzen des ganzen Col-Santo-Massivs kann nicht die
Rede sein. Glücklich» wer lebend auf die österreichische
Platte gekommen ist, wer in den Trümmern am Cos-
magon Jenen Schutz findet, der ihm augenblicklich wich-
tiger scheint, als die weifgesteckten Ziele der höheren
Kommanden 1 Die Kaiserjäger sind wahre Teufel. Und
hätten ihrer nicht so viele den Tod durch Granaten und
Minen gefunden, wären sie nicht zu Dutzenden in den
Kavernen verschüttet worden, sie hätten auch diesen
Ansturm abgewehrt. Die rückwärts haben leicht reden...
Während das Zielfeuer der österreichischen Batterien
die verlorenen Stellungen bearbeitet und schwer auf
den Zugängen lastet, schleppen die Aloini mit Todes-
verachtung Maschinengewehre, Sandsäcke und Schnell-
hindemisse heran, Die Offiziere haben bereits erkannt,
daß die Stoßkraft ihrer Leute erschöpft ist, daß alles
in regelloser Flucht weichen würde, wenn sie sich nicht
rasch verschanzten. Die Kaiseriäger liegen ihnen so knapp
gegenüber, daß man das Klappern ihrer Gewehrver-
schlüsse hört. Jeden Augenblick kann ein Gegenangriff
losbrechen.
Ueber Nacht ziehen beide Parteien genügend Kräfte
zum entscheidenden Stoß heran. Als der Morgen graut,
231
sehen sich die Italiener in reiner Abwehr. Immer enger
wird der Ring, der sich um die Einbruchsstellen legt,
immer schwerer behaupten sie den eroberten Boden.
Die gefürchteten 30.5-cm-Mörser hauen ihre Bomben auf
die Südplatte, decken mit Granatschrapnells die An-
marschwege zu. Nun ist auch der Rückzug eine schwie-
rige Angelegenheit.
Da befiehlt Oberstleutnant von Fößl, der Komman-
dant der österreichischen Platte, den umfassenden An-
griff gegen die Alpini, die sich am Steilhang des Fels-
kopfes verzweifelt festklammern. In verwegenem An-
lauf brechen die Kaiserjäger vor, werfen den Feind nach
wütendem Handgemenge aus seiner Stellung und den
Hang hinunter. Nur wenige Italiener erreichen die
schützende eigene Linie.
Bald darauf ergeben sich auch die Reste der in
die Cosmagonstellung eingedrungenen Alpini. Am Abend
des 11. September endet der zweitägige Kampf als eine
vollständige Niederlage der Angreifer, die um diese
Zeit schon längst den Nordrand des Col-Santo-Massivs
hätten erreicht haben sollen.
Die beiderseitigen Verluste waren überaus schwer.
Hunderte und aber hunderte tote Italiener lagen zwi-
schen den Stellungen. Aber auch die Kaiserjäger hatten
furchtbare Opfer dargebracht, um ihren Berg zu be-
haupten; sie hatten viele ihrer Besten für immer ver-
loren, und auf dem Friedhof von Geröll im Terragnolo-
tal wuchs die Zahl der schlichten Holzkreuze in er-
schreckender Weise.
9.
Allmählich sinkt das Geschützfeuer um den Pasubio
auf jenes Ausmaß, das, ähnlich wie am Isonzo, niemals
unterschritten wurde. Und doch hat es den Anschein,
als ob nur die Zahl der vorhandenen Geschütze die
Ursache dieses Dauerfeuers wäre: Jede Batterie ver-
schoß eben die ihr zugewiesene Munition. Auf neue An-
griffsabsichten konnte man daraus nicht mit Sicherheit
schließen.
Dagegen wirft der außerordentlich strenge Winter
von 1916/17 seine Schatten voraus. Schon gegen Ende
232
September schneit es, und wenn dieser Schnee auch
bald wieder auftaut, ist die Witterung doch den Men-
schen in den Freilagern am Pasubio keineswegs zuträg-
lich. Aus diesem Grunde und in der Annahme, frühe
stens mit nächstem April oder Mai größere Kämofe be-
fürchten zu müssen, wird der größte Teil der Kaiser *
jäger von der Front abgezogen und in Winterquartiere
verlegt. Nur je ein Bataillon des 1. und 3. Regiments
bleibt auf der Platte, bzw. in der Cosmagonstellung.
Mit wahrem Feuereifer wird der Ausbau dieser
Stellungen fortgesetzt. „Vater Verdroß", der greise
Führer der Kaiserjäger-Division, und Oberst Otto Elli-
son von Nidlef, der Brigadier im Abschnitt Pasubio,
lassen sich die Sorge um diesen Ausbau sehr angelegen
sein. Aber wie fast überall an der langgestreckten Alpen-
front, machen sich auch hier der ewige Kräftemangel
und die Schwierigkeit des Geländes schwer bemerkbar.
Bohrmaschinen sind rar und mit dem geringen Bestand
an solchen muß die ganze neue Front vom Etschtal bis
nördlich der Val Sugana ihr Auslangen finden. Des-
gleichen fehlt es an Drahtseilbahnen und Trägem, so
daß die Kampftruppen auch diese Last auf sich nehmen
müssen. Was Stellungsbau heißt, wenn jedes Sprengloch
mit der Hand gebohrt, wenn jedes Brett, jeder Sack
Zement acht Stunden weit auf Maultierrücken und Men-
schenschultern getragen werden muß, das wissen nur
die, denen die Bergwelt und ihre Schrecken in Krieg
und Frieden vertraut sind.
Dennoch ist die Platte wenige Wochen nach den
Septemberkämpfen so weit, daß ein Bataillon dort über-
wintern und sich verteidigen kann. Am Cosmagon mußte
man sich allerdings darauf beschränken, die unzuläng-
lichen Deckungen wieder aufzurichten und sie dem täg-
lichen Minenfeuer der Italiener gegenüber zu halten.
Da schwillt in der ersten Oktoberwoche die Tätigkeit
der italienischen Artillerie beängstigend an. Es sind nicht
viel neue Batterien festzustellen, aber die vorhandenen
scheinen diesmal über ganz außerordentliche Mengen an
Schießbedarf zu verfügen: Tag und Nacht liegen Stel-
lungen und Anmarschwege unter Feuer. Der Feind hat
233
auch scheinbar gar nicht die Absicht, den bevorstehen-
den Vorstoß zu verheimlichen*
Noch glaubt man nicht an den Emst dieser An-
zeichen, als am 9. Oktober bei Tagesanbruch ein unge-
heurer Feuersturm losbricht, der alsbald Klarheit schafft:
Die Italiener wollen sich unter allen Umständen noch
in diesem fahr in den Besitz jenes Geländes setzen,
das vielleicht zur Wiedereroberung des ganzen im Mai
und Juni verlorenen Bodens führt. Zwei Wochen vor-
her ist der Cimone in die Luft geflogen und mit ihm
eine große Hoffnung zerstört worden; nun soll der
Pasubio diese Scharte auswetzen.
Wieder ist der Felskopf in Rauch und Flammen
gehüllt, wieder qualmt der Cosmagon unter den Ein-
schlägen der Granaten und Minen. Diese Einleitung er-
scheint als der genaue Abklatsch des Septemberangriffs,
nur ins Uebermaß gesteigert: Was damals gewaltig war,
wächst diesmal ins Gigantische; was damals kaum er-
träglich schien, wird jetzt zu einem unvorstellbaren
Martyrium.
Wohl werden sofort Reserven in Marsch gesetzt und
Verstärkungen aus dem ganzen Korpsbereich zusammen-
gezogen, aber das eine steht für den Augenblick fest:
Die beiden Bataillone, gegen deren Abschnitt sich die
Wut dieses Feuers richtet, sind zunächst auf eigene
Kraft angewiesen. Niemand kann ihnen Hilfe bringen,
und wenn ihre Abriegelung im selben Ausmaß anhält,
müssen sie als verloren gelten. Was dann werden wird,
ist unabsehbar; denn mit der Pasubio-Stellung steht
und fällt die ganze Front zwischen Etsch und Astico,
ja vielleicht weiter nach Osten noch bis zur Brenta.
Schon nach wenigen Stunden nehmen die Verluste
des Verteidigers erschreckende Dimensionen an. Alles,
was Fleiß und Geschicklichkeit in den letzten Wochen
aufgerichtet haben, versinkt in Rauch, Staub und Flam-
men. Es gibt auf dem Felskopf und seiner Westflanke
keinen Quadratmeter Boden, der nicht den Hammer-
schlag eines einschlagenden Geschosses erdulden müßte.
Es gibt keinen Winkel, in dem ein Horchposten sein
Leben bergen könnte. Die Armen fallen der Reihe nach,
werden ersetzt nach den ehernen Geboten soldatischer
234
Pflicht, aber ihre Nachfolger falten wieder und in immer
kürzeren Zeis abständen. Felsblöcke lösen sich aus ihrer
Verwachsenheit, rollen den Hang hinunter, verleben die
Ausgänge der menschen überfüllten Kavernen. ÄUe Tele*
phonleitun^en sind hoffnungslos zerschossen. Raketen*
Signale steigen aus dem Rauchschleier, der ständig über
dem Berrf liegt, und rufen um Hilfe, die nicht gebracht
werden kann.
Zehn Stunden lang hält dieses Trommelfeuer an;
und es ist so gewaltig, daß ein Viertel dieser Zeit ge*
nü^t hät*e. um alles, was dem Widerstand dienen könnte,
kunr und klein zu schlagen. Aber die Italiener feuern
weiter; sie müssen diesmal Gewißheit haben, daß der
letzte der Verteidiger zerrissen oder wenigstens in einer
verschütteten Kaverne lebendig begraben ist. Nur dann
versnrechen sie shh den Erfolg, um den sie die Kaiser*
iä<*er vor vier Wochen gebracht haben: Den dauernden
Besitz des ganzen Col-Santo-Gebietes.
Das Bataillon I./l. des Oberstleutnants Högn, das
auf der Platte liegt, hat im gefährdetsten Sektor zwei
seiner tüchtigsten Offiziere: Die Leutnants Dr. Ober*
guggenberger und Freiherm von Grafs, beides Männer,
deren Seelengröße und Tapferkeit unter der Wucht der
Verantwortung ins liebermenschliche wachsen. Denn was
immer von einem Soldaten^ührer verlangt wird — hier,
in diesem Feuerofen der Bewährung, wird es zu rein*
sfern Heldentum und legt seine schwere Hand auf das
zuckende Menschenherz: Mut, Entschlossenheit, Härte;
und eine Selbstverleugnung, die ans Wunderbare grenzt.
Hier fallen Männer und Männer steigen aus Sturz
und Nacht zu ewigem Ruhm empor. Hier krümmen die
Seelen sich in der Glut einer Läuterung, wie sie nur im
Kriege über den Menschen kommt; und zu Schlacke ge*
brannt, fällt alles ab, was klein und feig und nichtig ist,
was noch am Ich hängt und sich zeternd festklammert
an den Falten eines unvollendeten Lebens. Hier steht
der Mann vor dem Mann in völliger Nacktheit; keine
Finte gilt mehr, kein Winkelzug und kein Abirren zu
dem Beispiel des andern: Wer befiehlt, ragt allein in
die Eiseskälte der Verantwortung; wer gehorcht, ist
welteneinsam in seiner schwersten Stunde . . .
235
Ein Spielball zwischen schwankender Hoffnung und
verzweifelten Sichaufgebens, so klebt der Horchposten an
der harten Erde. Der Tod ringsum hat noch nicht Ge-
stalt, er heult nur und trommelt mit gespenstischen
Fäusten gegen den Berg. Wo er hintrifft, schlägt giftiger
Qualm aus den geborstenen Felsen, steigt blitzschnell in
brennender Säule hoch und zerfällt zu einem Sturz-
regen niederkrachender Trümmer. Die Augen starren in
eine wunderliche Welt. Immer wechselnd die Kulissen
des Grauens: Zerfetzte Deckungen, eingedroschene Un-
terstände, verbogenes Wellblech; ein Gewehr, ein Sol-
datenmantel, aus dem zwei Menschenbeine ragen; Eisen-
teile, Stacheldraht, ein Blatt Papier, von dem ein Frauen-
antlitz in knallender Farbigkeit herüberlächelt. Wo ist
das her? Die Gedanken irren ab, sie haften mit kran-
ker Verbohrtheit an dem Papierfetzen, auf den ein süß-
lich grinsender Weiberkopf gedruckt ist. Aha, das war
doch an der Tür eines Unterstandes festgenagelt, das
Frauenzimmer mit den himbeerfarbigen Lippen 1 Wie
kommt denn die . . .
Jetzt!
Eine Riesenfaust fährt in den Trümmerhaufen, reißt
ihn auseinander. Donnerkrachen. Glühheißer Schmerz
sengt die linke Hand, die schützend über den Kopf
gekrümmt ist. Was war das? Verwundet? Weggerissen?
Schauen! Aber da Jault es wieder, zwei- dreimal,
der Boden zittert, es brüllt so fürchterlich, daß das
Gehör die Feuerschläge weiterschwingend nicht mehr
läßt, sie festhält, wiederholt wie dröhnende Sturm-
glocken . . . Sturmglocken. . . Sturmglocken...
Weg! Schauen! Kommen sie?
Der Kopf fährt hoch, ein Blick streift die schmer-
zende Hand. Sie ist blau am Rücken und Blutgerinnsel
reicht vor bis an die Fingerspitzen. Am Aermel abge-
wischt. Nichts. Nur von einem Steinsplitter getroffen...
Auch drüben nichts und in der Mulde drunten. Die
italienische Platte friedlich, unberührt von dem Höllen-
wetter, das herüben niedergeht. Wenn sie doch auch
feuern würden, die Kerle da hinten, die sich bei ihren
Wurstspritzen sonnen! Wenn sie ihnen einheizen wür-
den, den Burschen drüben, die jetzt wohl behaglich in
236
ihren Gräben herumlungern, herüberglotzen und sich wei-
den an der Qual ihrer Todfeindei Haut ihnen ein paar
Zuckerln aufs Dach, daß sie wissen, wie das tut! Laßt
uns doch nicht allein in dieser schauerlichen Stunde! Mit
der Munition sparen? Wozu denn sparen, wenn ohnedies
alles aus und zu Ende ist?
Vom Monte Forni alti herüber rollen die Abschüsse
so rasch nacheinander, daß man glauben könnte, sie
hätten dort tausend Geschütze eingebaut. Und Eisen
kommt, Eisen . . . Das singt und zwitschert, heult und
winselt in jagendem Durcheinander, und endet immer
als ein Schlag vor den Kopf, als Flamme, Rauch und
Trümmerregen. Fünf Minuten, und alles ist anders. Der
Tod hat seine Kulissen umgestellt: Das Wellblech, auf
dem eben noch drei Sandsäcke lasteten, liegt frei wie
eine Schaukel, der Schießprügel ist am Kolbenhals ent-
zweigeknickt, als hätte ihn jemand übers Knie gebro-
chen, und die Dame mit den Himbeerlippen ist weg.
Nur der Gefallene scheint an den Fels gewachsen zu
sein; unverändert ragen die Beine unter dem Mantel
hervor, ein Paar Wollstutzen über dünnen Waden, breite,
genagelte Schuhsohlen . . .
Und vom Monte Forni alti herüber trommeln pau-
senlos die italienischen Batterien . . .
10.
Es ist immer gleich und immer neu — dieser An-
blick und das Schaudern, das eiskalt und sengend zu-
gleich über den Rücken läuft: Sie kommen! Sie gehen
vor . . . sind schon ganz nah!
Bis knapp an die Feuerwand gehen sie heran, ren-
nen fast schon in den Rauchwolken ihrer eigenen Minen
umher — als endlich das Poltern der Abschüsse aufhört,
um nach kurzer Pause mit verdoppelter Wut und auf
beiden Seiten von neuem loszubrüllen.
Alarmschüsse gellen, Raketensignale zischen in den
Himmel. Es ist 4 Uhr nachmittag, den 9. Oktober 1916.
Der Feind greift an. Sieben Bataillone unternehmen den
Todeslauf zwischen Pasubioplatte und Cosmagon, in
Sturmwellen aufgelöst, die wie Meeresbrandung anrollen.
237
In jagender Hast trachten die Kaiserjäger, sich aus
den Kavernen zu befreien und die Stellung zu erreichen.
Aber der Feind hat diesmal seinen Plan genau einstu-
diert. Kaum sind die ersten Verteidiger aus inren reis-
höhlen gestiegen, als sie mit Granaten und Wurfminen
überschüttet werden. Schon nach wenigen Schritten auf-
wärts über den trümmerbesäten Hang brechen viele
getroffen zusammen. Schmerzensschreie geilen, zuckende
Leiber wälzen sich im Geröll, und dazwischen hauen un-
barmherzig immer neue Geschosse aller Kaliber, lieber
zweihundert Mann stark waren die beiden Kompanien,
als sie die Kavernen verlieben; nun schmelzen sie zu-
sammen, werden von Minute zu Minute weniger und
weniger.
Ist es möglich, mit dieser rasch versiegenden Kraft
die Platte zu erreichen? Leutnant überguggenberger
blickt nicht rechts noch links, er sieht nur geradeaus
auf den Kamm, von dem jetzt mörderisches Gewehrfeuer
kommt. Lr weiß, daß ihm jeder, der noch auf zwei
Beinen steht, folgen wird und wenn es direkt in die
Hölle geht
Hurrah! Heiseres Sturmgeschrei dringt durch das
Donnerkrachen der einschlagenden Minen. Von Stein zu
Stein, von Trichter zu Trichter arbeiten sich die Kaiser-
jäger vorwärts.
Droben suchen die Alpini vom Bataillon Monte
Berico Ordnung in ihre keihen zu bringen, um den
Gegenstoß auffangen zu können. Es sind ihrer sehr
vieie, sie haben ohne sonderliche Verluste die Platte
erstiegen, und immer neue Helfer erscheinen auf dem
zerhauenen Gipfel. Der Anblick, der sich ihnen bietet,
ist phantastisch: Ein Häuflein Männer will da den Hang
herauf; sie scheinen wie besessen zu sein von dem Wahn,
mit ihren paar Dutzend Armen das Kriegsglück dieses
Tages wenden zu können.
Jetzt sprühen schon zwei, drei Maschinengewehre
Flammen und Tod, aber von unten her antwortet ihnen
nur neues Sturmgeschrei. Die Angreifer sind verschwun-
den, sie haben Deckung genommen und gehen jetzt
einzeln sprungweise vor. Wo einer der verhaßten Kaiser-
jäger auftaucht, werden ganze Salven auf ihn abgegeben;
238
trotzdem kommen sie langsam näher, sind jetzt schon
auf Handgranaten-Wurf weite*
Herüber, hinüber fliegen die sprengstoffgefüllten
Zylinder, krachen aufrauchend in die Felsen. Audi die
Oesterreicher feuern jetzt mit Maschinengewehren, so daß
es nicht mehr leicht ist, ein Ziel zu suchen. Schioßen-
dicht spritzt das Blei gegen die Steinklötze und zwingt
die Italiener, die Köpfe einzuziehen. Und dazu kommen
Handgranaten, von wutschäumenden Kämpfern wie mit
Riesenkraft geschleudert, und krepieren unter den dicht
zusammengedrängten Aipini.
Stundenlang steht so der Kampf und fordert auf
beiden Seiten Opfer um Opfer. Die Platte ist durch
das Sperrfeuer der Italiener derart abgeriegelt, daß an
Hilfe noch immer nicht zu denken ist Leutnant Dr. Ober-
guggenberger gibt diese Hoffnung auf. Lr sieht, wie
seine Leute immer weniger werden, und weiß, daß eine
entscheidende Wendung erfolgen muß, eh' der letzte
Jäger sein Leben aushaucht Lin Zurück gibt es nicht;
denn wenn der Feind auch nur ganz wenig zu Atem
kommt, wird er sich verschanzen und niemand kann
ihn dann mehr von der Platte vertreiben.
Es gilt also, einen verzweifelten Streich zu wagen
und mit der winzigen Schar die Uebermacht bis zum
Nahkampf anzugreifen. Befehle gehen von Mund zu
Mund, die Handgranaten der Gefallenen werden ver-
teilt Und plötzlich erhebt sich alles, wirft sich in wüten-
dem Ansprung auf den Feind.
Was jetzt an entfesselter Wut losbricht, spottet jeder
Beschreibung. Die Gegner geraten blitzschnell aneinander,
die Entscheidung wird Mann gegen Mann ausgetragen;
nur mehr Hieb und Stich, Bajonett und Kolben, Messer
und Morgenstern, Totschläger und Steinbrocken, Faust
und Nageischuh wüten. Zu Knäueln verstrickt, in hitzige
Verfolgung des Einzelnen aufgelöst, ringen zwei Men-
schenhaufen um den Besitz eines leichenübersäten Gip-
fels. Baid ist die anfängliche Ueberzahi der Aipini aus-
geglichen — zu viele von ihnen liegen schon erschlagen
im Schotter. Die Maschinengewehre des Leutnants von
Grats sperren Zugang und Uückwejg. Weder Freund noch
Feind erhält Verstärkung. In wenigen Minuten ist das
239
Schauerliche getan: Unter den Hieben der Kaiserjäger
schmelzen die Eingedrungenen zu einem hoffnungslosen
Häuflein zusammen, das schließlich die Waffen weg-
wirft und sich ergibt
In den Strahlen der untergehenden Sonne sucht eine
Handvoll Kaiserjäger, seine Deckungen wieder aufzu-
richten. Mehr als Dreiviertel von ihnen sind gefallen
oder schwer verletzt, aber sie haben die Platte in ihrem
Besitz, haben ein ganzes Bataillon Älpini aufgerieben.
Ais mit einbrechender Dunkelheit die ersten Verstärkun-
gen kommen, finden sie auf der Platte nur mehr an
die fünfzig Kameraden vor — den Pest der beiden
Kompanien, die man schon verloren gab.
Ebenso furchtbar, aber weniger glücklich endet die-
ser Puhmestag der Kaiser jäger in der vom 3. Regiment
besetzten Cosmagon-Steliung.
Hier dringt der Feind mit verheerender Uebermacht
ein, kann sich aber vermöge der Nähe der beiderseiti-
gen Gräben in kürzester Zeit so stark verschanzen, daß
keine Hoffnung mehr besteht, ihn wieder hinauszuwer-
fen. Dazu kommt, daß die Cosmagon-Steliung nur über
freies Gelände erreicht werden kann und jeder Gegenstoß
unter den Augen der italienischen Beobachter entwickelt
werden muß. Vergeblich bemüht sich der heldenmütige
Kommandant des II. Bataillons, Hauptmann Pfrogner,
mit seinen Getreuen die ursprüngliche Widerstandsünie
zu erreichen. Aber die Verbissenheit dieser Angriffe
drücken den eingedrungenen Feind völlig in die Ver-
teidigung, machen auch ihm jedes weitere Vorgehen un-
möglich.
Auch hier scheitert schließlich liebermacht und Tap-
ferkeit der Alpini an der ungeheuren Widerstandskraft
der Kaiserjäger. Als die Nacht hereinbricht, ist das
3. Regiment schon daran, auf dem Poiterücken und dem
Monte Testo eine neue Abwehrstellung zu schaffen, eine
Stellung, die eigentlich stets die natürliche Front ge-
wesen wäre. Denn der Cosmagon hatte sich in all den
bisherigen Kämpfen als der wunde Punkt der Pasubio-
Infanteriestellung auf dem Zinnenplateau, Dolomiten.
Geschütztransport
Verteidigung erwiesen, hatte nur schwere Opfer ge-
kostet, ohne jemals sicher gewesen zu sein.
Die beiden nächsten Tage steht das Ringen, löst
sich in schwere Handgranatenkämpfe auf. Der Feind ist
sichtlich erschöpft, die Kaiserjäger nicht minder. Auf
beiden Seiten werden Verstärkungen herangebracht, um
den Kampf nicht unentschieden enden zu lassen. Was
erreichbar ist, strömt dem Pasubio zu: Einzelne Kom-
panien des 3. und 4. Kaiserjägerregimentes, die bisher
in anderen Abschnitten standen, ein Halbbataillon vom
Infanterieregiment Nr. 14, Bosniaken, mehrere 30.5-cm-
Mörserbatterien und — als besondere Ueberrasdiung für
die italienischen Artilleristen — eine 42-cm-Haubitze, die,
in der Ortschaft Serrada eingebaut, mit ihren 1000 Kilo-
gramm schweren Geschossen bald zum Schrecken der
ganzen Gegend wird.
Vier Tage lang dauert es, bis der Feind einsieht,
daß nur neue Artillerievorbereitung und Angriff mit
erdrückender Uebermaeht zum Ziel führen können. Das
3. Regiment der Tiroler Kaiserjäger verliert in diesen
Kämpfen seinen tapferen Führer, Oberst Fischer von
See, aber es behauptet die neue Stellung am Roiterücken
allen Anstürmen zum Trotz. Dann folgen vier Tage ver-
hältnismäßiger Ruhe — der Ruhe vor dem wütendsten
Sturm, den der so heiß umkämpfte Pasubio bisher er-
lebt hat
Die Italiener setzen alles daran, um nun endlich
den Durchbruch zu erzwingen. Zahlreiche Drahtseilbahnen
schleppen Unmengen Munition den Batterien zu, alle
Straßen wimmeln von Transporten und marschierenden
Truppen. Für umfangreiche Operationen in mehr als
2000 Meter Höhe ist es reichlich spät, jeder Tag kann
den Winter und damit das Ende des Großkampfes
bringen. Wenn es richtig zu schneien beginnt, müssen
die Kämpfe förmlich von einer Stunde zur andern ab-
gebrochen und die Truppen, die jetzt in Freilagern
liegen, schleunigst zu Tal gebracht werden, sonst kann
eine einzige Nacht Bataillone auslöschen.
Neben den Vorbereitungen materieller Natur sam-
meln die Italiener einen Sturmbock menschlicher Kräfte
für die entscheidende Stunde, wie er in solcher Höhe,
in einer derartigen Wildnis wohl nie vor- oder nach-
her Verwendung fand. Sechzehn Bataillone Infanterie
und Alpini sind allein für den ersten Stoß bestimmt
— bei der geringen Breite des Angriffsraumes (etwa
4V2 Kilometer) auch im Flachland eine gewaltige Streit-
macht. Der Verlauf dieser Kampfe erwies nun auch,
daß die Ueberzahl wohl anfänglich Erfolge erringen
kann, daß aber ein entschlossener Verteidiger auch ihrer
Herr zu werden vermag.
Das Trommelfeuer, das am 17. Oktober auf die
Pasubioplatte und ihre Flankenstellungen niederhagelt,
übertrifft an Dauer und Wucht alle vorausgegangenen
Artillerievorbereitungen. Minen schwersten Kalibers und
tausende 28- und 21-cm-Granaten zerschlagen die dürfti-
gen Stellungsbauten, die man in der viertägigen Pause
aufgerichtet hat, zu Schotter und Staub. Die Kavemen-
eingänge werden immer wieder verschüttet und von innen
aufgegraben. Es ist, als sollte der ganze Berg abgetragen
werden, eh* der Feind zum Sturm ansetzt.
Als endlich die ersten Angreifer auftauchen, glauben
sie sich tatsächlich einem riesenhaften Grabhügel gegen-
über. Doch es dauert nur Minuten, bis der Gegner auf
den Plan tritt. Wie das Wunder geschehen konnte, daß
nach solchem Feuer noch jemand die Kraft fand, sich
dem eingedrungenen Feind entgegenzuwerfen, gehört zu
den Rätseln der menschlichen Seele. Und wieder ist es
der tapfere Leutnant Dr. Guggenberger, der als Kom-
mandant der Platte mit einer winzigen Schar Kaiserjäger
das Alpinibataillon Aosta zum Weichen bringt. Am Abend
des ersten Kampftages hat der Feind nur Opfer zu ver-
zeichnen.
Aber diesmal heißt die Parole: So lange Trommel-
feuer und darauffolgender Angriff, bis auf der Platte
kein Oesterreicher mehr lebt! Sperrfeuer auf alle An-
marschwege und Hänge, Abschnürung der kleinen Schar,
die den Gipfel verteidigt!
Dieser einfache Plan wird weitere zwei Tage und
Nächte durchgehalten. Unerschöpflich ist das Eisenlager,
das für die italienischen Batterien bereitliegt, und Fuß-
kämpfer gibt es zu Tausenden. Jedem neuen Feuersturm
folgt ein Infanterievorstoß und zwingt die rasch dahin-
242
schwindenden Verteidiger, ihre Kavernen zu verlasset!,
sich im Freien zu stellen und dezimiert zu werden.
Dennoch gelingt es, in den Nächten der Besatzung
der Platte neue Kräfte zuzuführen. Nun sind dort schon
die Reste von drei Bataillonen zusammengeworfen; der
Großteil der Offiziere ist gefallen, von Kompanien kann
nicht mehr die Rede sein. Aber der furchtbare Rhythmus:
Trommelfeuer, Sturmangriff, Trommelfeuer setzt nicht
aus, er scheint mit der Gleichmäßigkeit eines schwingen-
den Pendels anzuhalten.
Langsam dringen die Italiener vor. Sie haben nun
schon die ganze Platte in ihrem Besitz, sodaß bald
kein Raum mehr bleibt, neue Gegenangriffe zu ent-
wickeln. Der Berg ist dauernd in Rauch und Staub, in
lodernde Flammen und graubraunen Dunst gehüllt, ein
schaurig-schöner Anblick namentlich bei Nacht, wo das
Aufflammen der Signalraketen und Leuchtschirme von
allen Gipfeln Südtirols aus sichtbar ist und zum Fanal
der Heimattreue deutscher Männer wird: Die Kaiser-
jäger kämpfen um den Monte Pasubio, um ihren Berg,
der zum heiligen Sinnbild eines Volkes in Not gewor-
den ist!
Mit dem natürlichen Gewicht ihrer Masse drücken
die Italiener den Verteidiger allmählich immer weiter
zurück. Wenn sie die letzten Kavernen erreichen, muß
der Kampf um die Platte aufgegeben werden. Noch ein-
mal gelingt es den Kaiserjägem, die Alpinibataillone
Suello und Val Maira in einem furchtbaren Handgemenge
aus der sogenannten Riegelstellung zu werfen und sie
gegen den Kamm zurückzudrängen. Aber Entscheidendes
ist damit nicht getan, der Feind wird kein Opfer scheuen,
um diese Schlappe wettzumachen und schließlich doch den
Durchbruch zu erzwingen.
In dieser höchsten Not faßt der Brigadier General
Ellison von Nidlef einen verzweifelten Entschluß: Im
Vertrauen auf die unzerbrochene Kraft der Kaiserjäger
und zweier Kompanien Bosniakeu, die als Verstärkung
eingesetzt werden, soll das noch stets bewährte Mittel
helfen — der Angriff!
Schweres Gewölk treibt über den flachen Gipfel,
weit im Umkreis zucken die Mündungsflammen der
16*
243
Geschütze, als der Verteidiger in der Nacht auf den
20. Oktober seine Kavernen verläßt und sich zum letz-
ten Sturm sammelt. Der Feind ist wohl um ein Viel-
faches stärker, aber auch er hat in den verschiedenen
Zusammenstößen schwer gelitten, und das Feuer der
österreichischen Mörser, das nun dauernd auf seinen
Ausgangsstellungen, Anmarschwegen und Batterien liegt,
zerrt mächtig an seinen Nerven. Daß sich das Blatt wen-
den könnte, fürchtet bei den Italienern kaum jemand.
Sie halten ihren Gegner für gänzlich, zusammengehauen,
wohl noch zäh in der Verteidigung, aber kaum mehr
fähig zu einem Vorstoß, noch dazu ohne gründliche Ar-
tillerievorbereitung.
So gelingt es den Kaiserjägern und Bosniaken, un-
bemerkt an den Feind heranzukommen. Aber die Alpini
erweisen sich auch in dieser Lage als zähe und tapfere
Soldaten. Sie lassen keine Panik aufkommen, sondern
stellen sich dem nächtlichen Angreifer zu einem Hand-
gemenge, das mit größter Erbitterung von Stein zu
Stein, von Trichter zu Trichter ausgetragen wird. Stol-
pernd und stürzend, über Leichen und Trümmer hin-
weg, manchmal mit raschem Ansprung, dann wieder in
einen langwierigen Kampf mit einigen geschickt ver-
schanzten Gegnern, erreichen die Kaiserjäger ihre alte
Stellung auf der Platte; können es selbst nicht glauben,
daß nun das Unwahrscheinliche doch gelungen ist und
den Italienern der Berg wieder entrissen ist!
Am nächsten Morgen, dem 20. Oktober, beginnt es
zu schneien. Der Feind vermag sich nicht mehr aufzu-
raffen. Völlig erschöpft, liegt er in seiner Ausgangsstel-
lung. Die letzten vier Tage allein haben ihn über
4000 Tote und Verletzte und an die 400 Gefangene ge-
kostet, eine schwere Einbuße, dem keinerlei Erfolg
gegenüberstand. Und nun muß er seine Stände mög-
lichst rasch verringern, will er nicht neue zwecklose
Opfer dem Winter bringen.
Daß auch die Kaiserjäger ungeheure Verluste erlitten
haben, ist nicht zu leugnen. Schon das Gelände mit
seiner verheerenden Steinschlagwirkung, dann aber auch
die Wut, mit der gefochten wurde, die Zahl und Schwere
der Nahkämpfe hatten ihre grausamen Spuren hinter-
244
lassen. Viele hundert Tote deckten den Felskopf und
seine Hänge, über die nun der Winter sein großes
Leichentuch zog.
Der Ueberlebenden aber harrten neue schwere Auf-
gaben. Es galt, die zerstörten Stellungen wieder aufzu-
bauen und das Verfahren zu finden, das dem Ringen
um den Pasubio ein für allemal ein Ende bereiten
würde; ein siegreiches Ende, wie es nur in der gänz-
lichen Vernichtung der feindlichen Platte zu suchen war.
Bald darauf wurde das große Minenangriffswerk
begonnen. Daß es eineinhalb Jahre dauern würde, bis
die grandiose Sprengung vom 13. März 1918 den Kampf
um den Pasubio entschied, konnte damals freilich noch
niemand ahnen.
*
245
Dohm ifenkämpfe 1916
i.
Schon nach den ersten Kriegswochen frieren jene
Abschnitte der Alpenfront, in denen die Gegner Fühlung
haben, hoffnungslos ein. Den Lehren der Strategie zu-
folge hätten sich nun die kämpfenden Parteien damit
begnügen müssen, einander scharf auf die Finger zu
sehen, sonst aber möglichst sparsam mit der eigenen
Kraft umzugehen. Denn Erfolge, die den Gang des Feld-
zuges irgendwie hätten beeinflussen können, gab es hier
kaum zu erringen.
Aber diese Front verlangte schon wegen der Wild-
heit der Natur und den Schwierigkeiten des Geländes
Menschen, die härter, kühner, unternehmender sind als
der Durchschnitt. Von solchen Menschen, die man für
die schwersten Abschnitte noch zu ganz besonderen
Zwecken auswählte und zusammenfaßte, kann man nicht
verlangen, daß sie sich „weise" verhalten und jene
Kräfteökonomie treiben, die theoretisch richtig wäre. Es
nützt wohl nichts, eine Felsnadel zu belagern und sie
mit ebenso großer Aufopferung zu verteidigen, wenn
dahinter zehn andere Gipfel die gleichen Schwierig-
keiten bieten und der Krieg hundert Jahre dauern
müßte, um sich endlich durch den ganzen Alpenwall
fressen zu können. Aber die Tatkraft der hier fechten-
den Soldaten, der kriegerische und sportliche Ehrgeiz,
kurz die persönliche Art des Kampfes fragte gar nicht
nach solch weifgesteckten Zielen. Es wurden Heldentaten
vollbracht, die vielleicht nicht ganz im Einklang mit
ihrer Auswirkung standen, zu denen aber der eine Geg-
ner den anderen zwang und bei denen der andere immer
freudigen Herzens mitging. Denn neben einer glühenden
Vaterlandsliebe hüben wie drüben war es der Wunsch,
die Leistungen des Gegners zu übertrumpfen, es „ihm
zu zeigen", der den Gang der Handlungen bestimmte.
So belagern die Italiener seit vielen Monaten schon
die Punta dei Bois, die sie Castelefto nennen, jenes
246
merkwürdige Felsgebilde, das wie ein Zwerg neben dem
Riesen an der Südflanke der mächtigen Tofana di Roces
sich erhebt. Freilich ein Zwerg von gewaltigen Ausmaßen,
2657 Meter hoch, aber von dem riesenhaften Nachbar
noch um 600 Meter übergipfelt Hier fochten im Som-
mer 1915 die preußischen Jäger des Leutnants Wendland
einen zähen Kampf; hier folgten ihnen die Streifkom-
panien der Kaiserjäger und wehrten die letzten Vor-
stöße der Alpini im Herbst 1915 ab. Hier wie im gan-
zen Abschnitt Travenanzes befiehlt jetzt der Kaiser-
jägerhauptmann Karl von Raschin, ein Soldat, dessen
Name gleich denen der Hauptleute von Eymuth und
Homa immer mit der Geschichte der Dolomitenkämpfe
verbunden bleiben wird. Seine Offiziere sind nicht nur
erprobte Soldaten, sondern auch unerhörte Kletterer und
Kenner der Berge. Das gibt zusammen mit den sorg-
fältig ausgewählten Mannschaften eine Streitkraft, die
in diesem Gelände schlechthin unbesieglich ist.
Aber auch die drüben sind aus hartem Holz ge-
schnitzt. Sie liegen schon so lange den Kaiserjägem
gegenüber, daß die Namen ihrer Führer auch herüben
allgemein bekannt sind. Jeder weiß aus abgehorchten
Telephongesprächen von Colonello Tarditi, Capitano
Bacon, Tenente Malvezzi. Man kennt ihre Stimmen,
glaubt sie sogar persönlich gesehen zu haben. Der Krieg
ist hier eine sehr intime, wenn auch unbarmherzige
Angelegenheit.
2.
Nach den letzten Kämpfen des Jahres 1915 um-
fängt der Winter bald mit eisigen Armen die Wunder-
welt der Dolomiten und zwingt auch die Menschen zu
einem vorläufigen Verzicht auf weitere Kampfhandlun-
gen. Was möglich war, haben die Alpini versucht. Sie
sitzen auf den Gipfeln der drei Tos anen und haben den
Gegner auf der Fontana negra bis in die Mitte des öden
Hochtales zurückgedrängt. Nur die Punta dei Bois, der
Castelletto ist unbezwungen und wird es immer bleiben.
Immer? Für den kämpfenden Menschen gibt es kein
Immer. Während die Schneedecke steigt und steigt und
247
der Frost täglich neue Opfer fordert, reift ein gewalti-
ger Plan: Der Castelletto muß gesprengt werden 1
Das ist nun allerdings leichter beschlossen als aus-
geführt, aber der Winter dauert lang; vor Juni weicht
er hier nicht so weit, daß man im Freien operieren
kann, es hat also mit der Mine reichlich Zeit, fast ein
halbes Jahr.
Der Plan des Leutnants Malvezzi zu dieser Spren-
gung ist von großer Kühnheit: Die Schlucht zwischen
Tofana di Roces und Castelletto macht eine Annäherung
an den Felsturm möglich. Wenn man aus einem der
Kamine in der Tofanawand einen Stollen gegen die
Forcella di Roces, nämlich den Sattel zwischen Tofana
und Castelletto vortreibt und damit den ersten Fels-
zacken erreicht, kann man mit einer gewaltigen Ladung
den Horst der Oesterreicher zerstören. Ist einmal der
Castelletto unschädlich, so fallen auch die Stellungen
auf der Forcella dei Bois und — der Zugang zum oberen
Travenanzestal ist frei.
In der zweiten Februarwoche beginnt die Minier-
arbeit. Der Zugang ist sorgfältig gesichert, ein Heber-
fall durch die Oesterreicher erscheint ausgeschlossen.
Bald haben die Sappeure sich so weit in den Fels
hineingearbeitet, daß ihnen Artilleriefeuer und Ma-
schinengewehre nicht mehr beikommen können.
Aber das Gestein ist hart und der bloße Hand-
betrieb mühsam und langwierig. Um genügend Leute
anstellen zu können, hat Leutnant Malvezzi das Profil
des Stollens nicht ängstlich bemessen: 2 Meter breit
und 1.80 Meter hoch, bietet es Raum genug, um zwei
Partien mit Bohrstange und Schlägel am Vortrieb zu
beschäftigen, ohne daß sie sich gegenseitig behindern.
So schreitet die Arbeit zwar nicht übermäßig schnell,
aber stetig vorwärts — dem Leutnant Malvezzi, der hier
seine große Aufgabe sieht, allerdings viel zu langsam.
Er hat berechnet, daß der Minengang etwa 500 Meter
lang werden muß, daß das Ausschlagen der Soreng-
kammer für eine Ladung, wie er sie plant, viel Zelt ln
Anspruch nehmen wird. Ueber dies ist noch eine Gabelung
des Stollens und die Weiterführung des einen Astes
in der Wand der Tofana I bis hinter den Castelletto
248
vorgesehen, tim nach erfolgter Sprengung dem Feind
in den Röcken fallen zu können. Soll also das Werk
Ende Juni fertig werden, so muß der Vortrieb ma-
schinell erfolgen.
Sechs Wochen nach Beginn der Arbeit werden zwei
Bohrmaschinen herangeschafft. Dieser Transport — in
eisigen Winternächten, auf Schlitten über tiefverschneite
Steilhänge und das alles vor der Nase eines wachsamen
Gegners — stellt eine bewunderungswürdige Leistung
dar. Sie zeigt den italienischen Soldaten von seiner
besten Seite: Fleißig und ausdauernd, wenn es um ein
Werk geht, an dem seine Phantasie sich erhitzt, ohne
Scheu vor Plage und Opfer, sobald er sich begeistern
kann.
Und dieses Werk, das Anbohren und In-die-Luft-
sprengen eines verhaßten Feindes, kann ihn begeistern.
Ohne Pause, Tag und Nacht, arbeiten 120 Sappeure
abwechselnd in dem Stollen, treiben ihn täglich um
etwa sechs Meter vorwärts. Zu Ende des Monats Mai
ungefähr mußten sie am Sattel zwischen der Tofana I
und dem Castelletto, an der Forcella di Roces ange-
langt sein.
Die Kaiserjäger auf dem bedrohten Felsennest mer-
ken bald, daß unter ihnen, am Fuße der Tofana-Süd-
wand rege Tätigkeit herrscht. Was die Italiener dort
machen, ist allerdings zunächst schleierhaft. Vielleicht
bohren sie nur Kavernen, um die Besatzung in der
Schlucht vor den Rollbomben und Handgranaten zu
schützen, die fast täglich abgelassen werden.
Aber die Sprengschüsse rücken näher und näher
und der Boden erzittert alle vier Stunden, wenn der
Feind seine Ladungen zündet, ein Beweis für das hohe
Arbeitstempo der italienischen Mineure. Ständig liegt
ein Zug der Kaiserjäger-Streifkompanie auf dem Ca-
stelletto und die Leutnants von Call, Mumelter und
Schneeberger lösen einander auf diesem ungemütlichen
Posten ab.
Feind oben, Feind unten, und nun noch die An-
näherung im Innern des Bergest Die Alpin! haben nach
einer tollen Kletterarbeit zwei Feldwachen in der Wand
der Tofana I errichtet, den „August“ und den „Tofana-
249
Seppl“, und schauen nun aus mächtiger Ueberhöhung
auf den Castelletto nieder. Aus diesem Grunde ist es
nicht ratsam, zu weit auf den Zackengraf der Punta
hinauszurücken, man muß vielmehr an der Tofanawand
bleiben, obgleich dort die Gefahr, von niederkletternden
Patrouillen überfallen zu werden, besonders groß ist.
Die Absicht des Feindes ist offenkundig die, unter
dem Sättel zwischen Tofana und Castelletto eine Mine
springen zu lassen, damit die Stellung der Kaiserjäger
zu zerstören oder so schwer zu erschüttern, daß sie bei
der Abwehr eines Angriffes unten im Kar der Forcella
dei Bois nicht mehr mitwirken können. Aber allen Wahr*
nehmungen nach müßte der Minengang längst den Sattel
erreicht haben und trotzdem hört man immer wieder
Sprengschüsse, diesmal westwärts, schon hinter dem Sät*
tel, also im Rücken der Stellung auf dem Castelletto.
Eines Tages ist die Ueberraschung da: Der Posten,
der auf dem Grat der Punta dei Bois liegt und dem
nur die Ueberwachung der Tofanawand zur Aufgabe ge-
stellt ist, bemerkt etwa 20 Meter über dem Sattel ein
Loch in der Wandt Ein paar Minuten später feuert ein
Maschinengewehr der Kaiserjäger gegen dieses Loch, das
von innen zu verstopfen, der Feind sich bemüht. Leut-
nant Schneeberger, jetzt Kommandant auf dem Castel-
letto, will über die Wesenheit dieses Loches Klarheit
schaffen. Er klettert hinauf und wirft eine Handgranate
hinein. Die Handgranate kommt zurückgeflogen! Dagegen
gelingt es, eine Wurfmine in das geheimnisvolle Loch
zu schießen, die drinnen krepiert und anscheinend je-
mand verletzt hat; denn es schallen Hilferufe aus dem
Berginnern. Bald darauf wird das Loch zubetoniert, und
es bleibt wieder der Phantasie der Kaiserjäger über-
lassen, sich aus den verschiedenen Sprengschüssen ihrer
Gegner ein Bild von den bevorstehenden Dingen zu
machen.
Leutnant Schneeberger rastet nicht. Er will zunächst
die italienischen Feldwachen in der Tofanawand aus-
heben und die Nester selbst besetzen, um die ewige
Bedrohung von dort aus los zu sein. An einem Nebeltag
macht er sich mit einer Patrouille auf den Weg, durch-
klettert die Südwand der Tofana di Roces, stößt un-
250
Versehens mit einem Alpino zusammen, den er blitz-
schnell über die Wand hinunterwirft und taucht endlich
mit seinen Leuten oberhalb des „August“ auf. Ein Hagel
von Handgranaten geht auf die Italiener nieder, einer
bleibt tot liegen, sechs weitere sind schwer verwundet.
Der Rest, drei Mann, klettert eilends durch den Kamin
hinunter, um den rettenden Einstieg in den Minengang
zu erreichen.
Aber schon der nächste Tag bringt klares Wetter
und damit auch Sicht. Die italienischen Geschütze und
Minenwerfer schicken ein wahres Trommelfeuer zum ver-
lorenen „August“ hinauf, Mann für Mann fallen die von
Leutnant Schneeberger zurückgelassenen Posten, bis der
letzte, getroffen, mit einem gellenden Schrei kopfüber
in den Abgrund stürzt. Nun besetzen die Alpin! wieder
ihren Horst und bauen ihn verstärkt aus, um gegen wei-
tere Ueberfälle gesichert zu sein.
Der Frühling kommt und der Sommer, sie bringen
neue Kämpfe in der wilden Gegend des Travenanzes,
Kämpfe, in denen schließlich der Verteidiger unterliegen
muß, weil er weder genügend Mittel, noch Menschen-
kräfte besitzt, um dem Gegner wirksam zu begegnen.
Auf den drei Tofanen sitzen die Italiener. Sie haben
mit phantastischem Fleiß Gebirgskanonen aufgeseilt und
in Kavernen untergebracht, desgleichen Scheinwerfer, Ma-
schinengewehre und Minenwerfer. Sie brechen nach ein-
jährigem Kampf den Widerstand im öden Talkessel der
Fontana negra, so daß der Verteidiger ganz an den Steil-
abfall zum Travenanzestal zurückgedrängt und immer
von Vernichtung bedroht ist. Aber längst ist hinter der
brüchig gewordenen Linie eine neue ausgebaut, und es
hängt eigentlich nur mehr vom glühenden Ehrgeiz der
Kaiserjäger ab, daß die Punta dei Bois noch gehalten
wird.
Die italienische Mine ist Ende Juni 1916 fast fertig.
Sie hat bisher soviel Menschenleben, Mühe und Material
gekostet, daß immer wieder die Frage auftaucht, ob es
nicht besser wäre, jetzt noch die Arbeit einzustellen. Be-
251
sonders heftig wird der Einspruch der höheren Komman-
den, als Leutnant Malvezzi die ungeheure Menge von
35.000 Kilogramm Sprenggelatine fordert, um seinem
Vernichtungswerk den Erfolg zu sichern. Dreieinhalb
Eisenbahnwagen von dem kostbaren Stoff, eine Menge,
mit der man Kavernen für eine ganze Armee sprengen
kann! Es ist fast zuviel Ehre, die man damit dem frag-
würdigen Castelletto antut Man erklärt sich bereit, an-
dere Sprengmittel in der geforderten Menge beizustellen,
aber Leutnant Malvezzi besteht auf der Gelatine, die
ja auch dem Col di Lana den Todesstoß versetzt hat
Endlich ist die Frage entschieden, das geforderte
Quantum rollt an und wird in einer Nacht durch das
Alpinibataillon Belluno in die Sprengkammer geschafft.
Wieder tritt das Arbeitsheldentum dieser einfachen
Söhne der welschen Berge in den Glorienschein einer
gewaltigen Leistung: Der Transport von der Dolomiten-
straße bis unter die Forcella di Roces ist ein Wagnis
besonderer Art. Zunächst im Freien, dann auf gedeckten
Wegen geht es bis zu dem Kamin, in welchem der Stol-
len beginnt Aber zum Einstieg führen keine Stufen
hinauf, sondern nur die schwankenden Sprossen einer
Strickleiter, über die an die tausend Mann ihre gefähr-
liche Ladung tragen.
Am 9. Juli ist die Mine verdämmt. Dennoch braucht
es noch zwei Tage, bis die übrigen Angriffsvorbereitun-
gen getroffen sind. Ein bis ins Letzte ausgeklügelter
Plan soll die Eroberung des Castelletto zu einem Mei-
sterstück des hochalpinen Krieges machen. Welche Be-
deutung man dem Ringen um diesen Gipfel beimaß,
geht daraus hervor, daß der König von Italien und Graf
Cadoma eigens den Monte Averau bestiegen, um dem
Schauspiel beizuwohnen.
Tiefe Stille herrscht in der ganzen Gegend des oberen
Travenanzes, als der erste Widerschein des jungen Tages
das Himmelsgewölbe überzieht. Es ist halb vier Uhr früh
des 11. Juli. In den Kavernen und gedeckten Gängen der
Tofana-Südwand kauern dichtgedrängt 300 Alpini, um
nach erfolgter Sprengung Punkt für Punkt das Programm
des Obersten Tarditi abrollen zu lassen. Alles ist ge-
spannt, ja niedergedrückt, denn eine Mine von solchem
252
Ausmaß wurde noch nie losgelassen und man kann ihre
Wirkung, vielleicht sogar auf die eigenen Leute, nicht
voraussagen.
Nur Leutnant Malvezzi ist davon überzeugt, daß alles
wunschgemäß vor sich gehen wird. Ohne Beben nähert
sich seine Hand dem elektrischen Taster, ein Schüttern
im Boden . . . Donnerkrachen, das in dutzendfachem Echo
von den Wänden ringsum widerhallt . . .
Der Oastelletto ist nicht mehr. Zwanzig Meter Fels-
auflage sind zerschmettert, der Feind vernichtet Die
Alpini klettern in den Stollen, um planmäßig durch das
Ausstiegsloch und über die Tofanawand den Sattel zu
erreichen.
Aber da zeigt sich’s, daß ein zu fein erdachter
Plan meist versagt. Verwundert sehen die Posten des
„August“, wie wenig Zerstörung eigentlich die Mine an-
gerichtet hat. Sie war überladen, ist zum Großteil als
ein effektvolles Feuerwerk verpufft. Im Sattel gähnt
zwar ein ansehnlicher Trichter, aber die Oesterreicher
sind keineswegs alle tot, ja sie richten sofort ein wüten-
des Feuer in die Schlucht, werfen Handgranaten hinunter
und scheinen nicht einmal seelisch besonders hergenom-
men zu sein.
Dagegen widerfährt den Alpini ein Mißgeschick nach
dem andern. Kaum haben einige von ihnen den Auf-
stieg in die Tofanawand begonnen, als eine ungeheure
Steinlawine niederdonnert und ein halbes Dutzend von
ihnen zerschmettert. Dieses Abrollen von Steinblöcken
nimmt kein Ende. Immer neue Massen kommen von
oben, als würden Riesen die Abwehr übernommen haben.
Die Ladung war so stark, daß tausende Kubikmeter
brüchiges Gestein gleichsam nur mehr an einem Faden
hängen, und die Erschütterung eines Gewehrschusses ge-
nügt, um diesen Faden zu zerreißen.
Aber auch die Gruppe, die durch den Zweigstellen
vorgehen und der Besatzung der Punta dei Bois in den
Rücken fallen soll, kommt nicht weiter. Der Gasdruck
war so groß, daß er durch die Verdämmung von 33 Me-
ter Stärke giftigen Rauch getrieben hat und der Stollen
unpassierbar ist. Eine Anzahl der Leute, die trotzdem
eindringen wollen, sinkt ohnmächtig zu Boden, sodaß
nichts übrigbleibt, als sieb zunächst mit der Rettung
dieser Verunglückten zu befassen.
Weder im Kar, noch in den Tofanawänden kommen
die Angreifer vorwärts. Die Mine hat zwar 24 Mann
der Castelletto-Besatzung unter sich begraben, aber weit
mehr sind nicht nur heil, sondern auch kampffähig ge-
blieben. Und sie wehren sich, ihren Führer, den tapferen
Leutnant Schneeberger an der Spitze, mit verzweifelter
Ausdauer.
Dennoch ist die Punta dei Bois nicht mehr zu hal-
ten. Es dauert noch den ganzen nächsten Tag, bis der
Feind durch die Tofanawand und im Aufstieg auf die
Forcella di Roces den Sprengtrichter erreicht. Er findet
nur einige Schwerverwundete vor. Die übrigen Kaiser-
jäger sind mit Leutnant Schneeberger verschwunden. Ihr
Rückzug war ebenso geschickt und schneidig, wie sie
drei Vierteljahr lang die Punta dei Bois verteidigt hatten.
Und wenige hundert Meter von dem eroberten Ca-
stelletto entfernt steht der Gegner in neuen Stellungen,
entschlossen und bereit, das grausame Spiel aufs neue
zu beginnen . . .
*
254
Ins ewige Eis
%.
Als ein Gehege von Spitzen und Zacken, von Nadeln
und Türmen ragen die Sextener und Ampezzaner Dolo-
miten auf, wehrhaft von Natur aus, wie eine stein-
gewordene Schar ungeheurer Ritter anzuschauen. Ihren
südwestlichen Abschluß aber findet diese groteske Welt
im breit hingelagerten Massiv der Marmolata, der Köni-
gin der Dolomiten.
Sie allein trägt ewiges Eis, ja sie ist ein einziger
Eisblock, der von Norden her ansteigt und im Osten
und Süden durch einen Ring von Felsspitzen und Wän-
den abgeschlossen wird. Aus diesem Eisblock ragen
einzelne Felsrippen, eine ausgesprochene Gipfelbildung
fehlt; der höchste Punkt des Massivs, die Marmolata di
Penia, 3344 Meter hoch, ist eine von ihrer Umwelt nur
wenig unterschiedene Erhebung des Felsringes im Süden.
Fast ein volles Jahr liegt die Königin der Dolomiten
als ein unbetretenes Gebiet erhabenen Friedens zwischen
den Gegnern. Während an anderen Stellen der Alpen-
front schon um die höchsten Gipfel gerungen wurde,
herrscht hier noch tiefste Einsamkeit. Den Italienern
ist das Festhalten der Marmolata durch unendliche
Schwierigkeiten verwehrt: sie hätten überall in ihrem
Rücken Steilhänge und Wände und vor sich ein Meer
aus Eis und Schnee, das von den österreichischen Stel-
lungen auf Pescul und dem Sasso di Mezzodi einge-
sehen ist.
Freilich hätten sie in den ersten Kriegswochen reich-
lich Gelegenheit gehabt, sich auch dieser Punkte zu be-
mächtigen, denn die Abwehrstellung des Verteidigers war
damals weit zurückgebogen und lag auf dem Pordojjoch,
weil man sich auf einen mächtigen Ansturm gefaßt
machen mußte; auf einen Ansturm, den man mit den
vorhandenen Kräften nur auf den Paßübergängen hätte
255
brechen können. Erst als dieser Ansturm nicht kam,
schob man allmählich die Linie bis auf den Lasso di
Mezzodi vor und nahm den Fedajapaß in Besitz.
Der Winter 1915/16 machte erst recht eine Besetzung
der Marmolata überflüssig, denn es hätte einer Arbeit
von Monaten bedurft, um auch nur einer kleinen Schar
den Aufenthalt in solchen Höhen zu sichern. Doch schon
der Spätherbst des ersten Kriegsjahres zeigte, daß dieses
Wagnis im nächsten Sommer nicht zu umgehen sein
würde: Einzelne Skipatrouillen der Italiener erschienen
auf dem Gletscher, lagerten bei Nacht in den Fels-
schrunden des Undici und Dodici, und verschwände#
wieder, als ihre mitgebrachten Vorräte aufgezehrt waren.
Nun wird es Emst. Kaum weicht die Polarkälte einer
normalen Wintertemperatur, kaum sind die Tage so lang,
daß man größere Märsche vollführen kann, als der. Auf-
stieg und die Ausbreitung österreichischer Patrouillen auf
dem ganzen Massiv beginnt. Im April 1916 war die Mar-
molata unbestrittener Besitz des Verteidigers. Vom Gran
Vemel im Westen bis zur Punta Serauta im Osten er-
streckte sich seine Postenkette in einem mächtigen Halb-
kreis und wurde unter unsäglichen Mühen mit Verpfle-
gung und Brennstoffen versorgt.
Das Leben der tapferen Kaiserschützen, die hier den
Krieg ins ewige Eis getragen hatten, war von einer Härte,
deren sich kein Polarfahrer vorsehen muß. Die großen
Entfernungen der einzelnen Feldwachen untereinander
und aller von der Basis auf dem Gran Poz, häufiger
Schneefall und grimmige Kälte machten das Dasein zu
einer einzigen Qual. Die Träger, aus Mangel an Kräften
und wegen der Schwierigkeiten des Geländes auch den
Kampftruppen entnommen, drohten oft unter der Last
dieses Dienstes zusammenzubrechen. Stundenlang über
Eis und Firnschnee, wenn Nebel war, längs den Stangen-
reihen, die die „Wege" markierten, ging es hinauf zur
Vemelscharte, auf den Gipfel selbst, auf die Fessura
und Serauta, wo ein paar Kameraden in Eislöchern
hausten und sehnsüchtig der Stunde des nächsten „Er-
eignisses" entgegenträumten, nämlich der Ankunft von
Brot, Konserven, Hartspiritus und Nachrichten aus der
Heimat.
256
Obere Station der Drahtseilbahn zur Porta Vescovo
Deutsche 10-3-cm-Langrohrkanone bei Plätzwiese
Oesterrelchisch'Ungarische Fliegerstaffel
Fliegerbomben,
,4^^
iin II -
Die Besetzung der Marmolata bleibt natürlich den
Italienern nicht lange verborgen. Einige ihrer Patrouillen,
die wie im vergangenen Herbst den Aufstieg versuchen,
bekommen Feuer und müssen zurück. Für sie liegt nun
die Gefahr nahe, daß die Oesterreicher den Verlust
des Col di Lana durch die Besitznahme der Marmolata
wettmachen würden, daß sie namentlich von der Punta
Serauta aus die gleiche, ja noch mehr Sicht in das Hin-
tergelände des Col-di-Lana-Abschnittes haben als früher
von dem jetzt gesprengten Gipfel selbst. Dieser Teil des
Bergmassivs, der Ostrand wenigstens, muß ihnen um
jeden Preis entrissen werden.
Es ist nicht schwer, die Handvoll Menschen auf der
Punta Serauta und ihrer Umgebung niederzuhalten, wäh-
rend die Alpin! aus dem Val Candiarei aufsteigen. Der
Kampf um den Col di Lana hat eine Unzahl Geschütze
aller Kaliber in der Gegend vereinigt. Ein Bruchteil die-
ser artilleristischen Ueberlegenheit genügt, um die schwa-
chen Postenstände wegzufegen und der Besatzung des
Felsgrates den weiteren Aufenthalt unmöglich zu machen.
Zum erstenmal schlagen Granaten in das Eis der Mar-
molata, schwirren Schrapnellkugeln über die leuchtenden
weißen Flächen, die seit elT und je nur den Frieden
einer grenzenlosen Einsamkeit gekannt haben. Jetzt gilt
es, die Oesterreicher von einem Gegenstoß auf die Punta
di Serauta abzuhalten.
Aber dieser Gegenstoß kann nicht einmal versucht
werden. Der Verteidiger hat Mühe, sich auf der Fes-
surascharte und dem Undici zu halten, um wenigstens
den Großteil der weitläufigen Bergfestung zu behaupten.
Mehr als einmal versuchen die Alpin! nun, von der
Serautastellung aus gegen Norden und Westen vorzu-
stoßen -- der erbitterte Widerstand der Kaiserschützen
zwingt sie immer wieder, sich mit dem Erreichten zu
begnügen. Sie befestigen den Felsgrat, bauen eine Draht-
seilbahn in das Val Candiarei und gehen zu einem müh-
seligen Kleinkrieg über, der ihnen Punkt für Punkt den
Kamm der Südwand bringen soll. Und damit beginnt das
eigentliche Ringen um die Königin der Dolomiten, jener
heroische Kampf im ewigen Eis, der in den nächsten
eineinhalb Jahren phantastische Leistungen und Werke,
17
257
aber auch viele Opfer an wertvollsten Menschenleben
forderte*
2.
Wie drei Inseln in einem Eismeer ragen die Fels-
rippen des Col de Bous, des Dodici und Undici auf
dem Wege vom Gran Poz zur Fessurascharte aus der
weiß-blauen Gletscherpracht Dem Soldaten sind sie nur
Stationen auf dem täglichen Leidensweg* Er kürzt die
Namen zu einer herben Knappheit die mehr an die
kriegerische Wirklichkeit herankommt, als das, was für
Juristen im Baedeker steht: Von „D-Süd“ nach „D-Nord“
reicht der Dodici; der Undici heißt einfach „U" und auch
er teilt sich in Süd und Nord; die Fessurascharte jedoch,
dieser Angelpunkt der ganzen Marmolata-Stellung, heißt
einfach „S" — die Scharte.
„S" ist gefürchtet wie die Hölle. Eine winzige Dek-
kung aus Sandsäcken klebt hier am Rande der 800 Meter
tief abstürzenden Südwand. Sie ist gegen den Felskopf
3065 gerichtet, auf dem die Alpin! sitzen und immer
wieder versuchen, die Scharte zu nehmen.
Vierzig Geschütze feuern tagaus, tagein gegen ,L".
Von drei Seiten her heulen ihre Granaten auf die Sand-
sackdeckung nieder, und nur der Winzigkeit des Zieles
ist es zu verdanken, daß nicht jeder Einschlag ein Voll-
treffer ist. Darunter, in kleinen Eishöhlen sitzen die
Kaiserschützen. Jede Nacht richten sie ihre Deckung wie-
der auf. Und das Furchtbarste an diesem ungleichen
Zweikampf zwischen Geschoß und menschlicher Arbeit
ist, daß inmitten einer Wüste aus Fels und Eis jeder
Sach erst bei U-Süd mit Schotter gefüllt werden kann
und als ein kostbares Gut heraufgetragen werden muß.
Denn hier heroben gibt es nur glattgeschliffenen Stein;
was je aus dem Leib des Berges genagt wurde, trägt die
Grundmoräne tief unter Eis zu Tal.
Die Verluste der Kaiserschützen und später der
Kaiserjäger vom 1. Regiment sind in Anbetracht ihrer
zahlenmäßigen Schwäche verheerend. Vierzig Geschütze
vermögen immer wieder einen oder mehrere Volltreffer
zu erzielen; die Folgen sind Tote und Verwundete, die
erst in der nächsten Nacht ersetzt werden können, sodaß
258
der Stützpunkt auf „S“ manchmal fast gänzlich verwaist
ist und einem überraschenden Vorstoß des Feindes kaum
Widerstand leisten konnte. Auch die Zahl der Erkran-
kungen ist hock, denn es gibt keinen Menschen, der ein
Dasein in feuchten Eishöhlen und barbarischer Kälte,
bei ungenügender Verpflegung und strenger Arbeit dau-
ernd aushalten könnte. Die Arbeit allein ist Qual und
Marter. In der dünnen Luft der dreitausend Höhenmeter
erschlafft der Körper schon bei geringer Anstrengung,
als ob er vergiftet wäre; zwingen ihn Not und Willens-
kraft über das bescheidenste Maß an Leistung hinaus,
so folgt eine stundenlange Lethargie, die an solch immer
bedrohten Punkten verhängnisvoll werden kann.
Mit der Zeit hat der Feind das ganze Gebiet so
„durchforscht“, daß er seine Kampfmittel nicht mehr
aufs Geratewohl, sondern mit unerträglicher Zweckmäßig-
keit einsetzt. Die Wege der Träger, bei Tag unpassierbar,
werden Nacht für Nacht unter Schrapnellfeuer genom-
men, sodaß oft jeder Versuch, Nachschub in die Rand-
stellungen zu bringen, zwei, drei Nächte hindurch schei-
tert. Die Marken im Firnschnee weisen nicht nur den
mühsam Aufwärtskeuchenden die Ridhtung, sie zeigen
audi dem italienischen Artilleristen, wo er hinzuschießen
hat. Es bedurfte nur einer geringen Vorstellungskraft,
um auch dort hinzusehen, wo das Auge nicht hinsehen
konnte: zu den Knotenpunkten des Verkehrs auf dem
Gran Poz und dem Col de Bous und den letzten Statio-
nen dieser täglichen Passion, D-Süd und U-Süd.
Da findet soldatische Tatkraft aus eigenem den
Weg, der dieser Schwierigkeiten Herr wird: Im Mai
1916 kommt die Sappeurkompanie des Oberleutnants
Handl auf die Marmolata; und sie erschließt im Verein
mit den Schützen und Jägern dieses Eismeer auf eine
Art, die heute zu den größten Sehenswürdigkeiten der
Alpenwelt zählen würde, wenn das damals entstandene
Werk, die „Eisstadt“ bei U-Süd und der Stollenbau
kreuz und quer über den Gletscher, nicht von der Na-
tur rasch wieder zerstört worden wäre.
Als die ersten Drahtseilbahnen fertig sind und der
Nachschub auf den untersten Strecken gesichert erscheint,
wendet sich alle Sorge der Erhaltung der Fessurasqharte
17'
259
zu. Sie wird zunächst durch einen Eisstollen mit U-Süd
verbunden, damit auch bei Tag ein Verkehr mit dem
letzten Rückhalt auf gewachsenem Fels möglich ist. Dann
wird auf „S“ selbst eine Felskaverne begonnen, um der
Besatzung für den kommenden Winter eine halbwegs
erträgliche Unterkunft zu bieten. Schneefälle schließen
die Gefahr eines Vorstoßes der Italiener schon Ende
September aus. Dagegen wird der Kampf unter Tag mit
um so größerem Eifer fortgesetzt.
Auf „S" sitzen seit August 1916 die Kaiserjäger des
Hauptmanns Samen, der später als Führer des Batail-
lons 1/1 im Pasubiogebiet rasch bekannt wurde. Jetzt
führt er die gewiß seltene Bezeichnung eines „Gletscher-
kommandanten“ und hat die schwere Aufgabe, so lange
die Fessurascharte zu halten, bis entweder der Feind
von der Kote 3065 vertrieben ist, oder die eigene Stel-
lung stark genug wird, tun gegen Angriffe gesichert zu
sein. Das kann natürlich nur unter großen Opfern ge-
schehen, und die Kaiserjäger bringen diese Opfer Tag
für Tag mit stoischer Standhaftigkeit
Unterdessen wühlen hunderte Menschen im ewigen
Eis der Marmolata, denn dieser schimmernde Panzer ist
der einzige Schutz gegen Feind und Kältetod. Mögen
draußen Schneestürme toben, durch die keines Sterb-
lichen Kraft sich kämpfen könnte — hier unten herrscht
tiefes Schweigen; fällt jener furchtbare Frost ein, der
mit 30 und 40 Graden unter Null, sich würgend um
alles Leben krampst — in der Tiefe des ewigen Eises
sinkt die Temperatur nie unter acht Grade, ja sie be-
wegt sich meist um den Nullpunkt; und wenn der Geg-
ner noch soviel Blei herüberschickt — seine Schrapnells
finden kein Ziel mehr.
„Eisstadt“ entsteht, jene Polarsiedlung bei D-Süd,
die alles umfaßt, was der Hochgebirgssoldat braucht.
Stollen und Treppengänge führen hier in einem mächti-
gen Rechteck zu den Unterständen, die in künstlichen
Eishöhlen erbaut werden, zu Vorratsräumen und Muni-
tionskammem. Eine Motoren- und Umformeranlage ist
hier vorhanden, eine Telephonzentrale, ein Verbandraum,
ja sogar eine Gaskammer, um die Masken prüfen zu
260
Schwere Haubitz-Batterie beim Abfeuern
Feldküchen bei der Malga Maronla, Hochfläche von Folgaria
Cosfesin. Im Hintergrund links Mte. Kempel, rechts Mfe. Verena. Hochfläche von Lavarone
können/ „Eisstadt“ ist der Mittelpunkt der ganzen Mar-
molata-Verteidigung.
Und von dort führen Stollen hinunter bis zum Ein-
stieg bei Gran Poz, hinauf nach U-Süd und zur Fessura-
scharte, eine Abzweigung zur Höhe 3259 auf dem Serauta-
kamm — ein Netz von Verkehrswegen unter Tag, das im
ganzen acht Kilometer Länge umfaßt.
Die Arbeit an diesen Stollen erschloß ein reiches
Gebiet neuer Erfahrungen, die nie zuvor gemacht wer-
den konnten. Es entstanden Werkzeuge seltsamster Art,
Eisbrechstangen, mit denen zwei Mann am Vortrieb etwa
sechs Meter im Tag schaffen konnten. Spalten, auf die
man stieß, wurden mittels Holzstegen überbrückt und
waren als abgrundtiefe Lagerstätte für das ausgebrochene
Material eine wertvolle Hilfe beim Stollenbau. Wo es
ging, führte man den Gang einfach als Galerie in einer
Spaltenwand, um sich den Abtransport des Firns zu er-
sparen.
Allmählich sinken durch diese Bauten die Verluste,
und hätte der furchtbare Winter von 1916 nicht über-
mäßige Opfer gefordert, so wäre dank der Geschicklich-
keit des Verteidigers der Kampf in diesem so unvor-
stellbar schwierigen Gelände verhältnismäßig harmlos
verlaufen. Der Mangel an Arbeitskräften führte auch
hier dazu, daß man wohl die Mittel kannte, um der
Lawinengefahr zu begegnen, daß aber diese Kenntnis
nur zum Teil in Taten umgesetzt werden konnte, eh* es
zu spät war.
3.
Aber nicht nur in der Abwehr wurde der Eisstollen
zum unentbehrlichen Kampfmittel an der Marmolatafront
und später im Ortlergebiet; auch als Angriffswerk be-
diente man sich seiner.
Die Behauptung des Punktes „S" war im Herbst
1916 eine Frage, um die sich alles Sinnen und Trachten
der Verteidigung drehte. Der Feind, artilleristisch weit
überlegen, verfügte auch über so viele technische Mittel,
daß er früher oder später zu einem Vorstoß unter Tag
ausholen würde. Dem war nur durch einen energischen
261
Hieb gegen die Felskopfstellung auf Höhe 3065 zu be-
gegnen.
Oberleutnant Handl läßt einen Eisstollen von der
Scharte im Zickzack aufwärts gegen die Kote 3153 boh-
ren, eine mühsame und heikle Arbeit, bei der immer
die Gefahr einer Entdeckung durch den Feind besteht.
Da die Annäherung geräuschlos erfolgt, kann es sein,
daß man unversehens auf einen feindlichen Stollen stößt
und ein Kampf unter Eis schließlich zum Verlust der
ganzen eigenen Stellung führt.
Doch das Glück ist den Sappeuren günstig: Eines
Tages schimmert Licht durch die Eiswand am Vortrieb
— der gewünschte Punkt ist erreicht. Schon vorher hat
man eine Gebirgskanone heraufgeschleppt, die nun über-
raschend gegen den italienischen Stützpunkt wirken soll.
In der nächsten Nacht wird eine Schießscharte aus-
gebrochen — und da liegt das heißersehnte Ziel vor
den Augen der Männer, die unverdrossen Monat für
Monat an diesem Angriffswerk gearbeitet haben: der
Stützpunkt der Alpini samt allen seinen Unterständen
und Zugangswegen, fast hundert Meter tiefer als die
Kanone, die ihn zerstören soll.
Einige Stunden vergehen unter atemloser Spannung.
Erst muß es Tag werden. Vielleicht wird das Geschütz
nur einmal feuern können. Dieses eine Mal soll sich
auszahlen . . .
Allmählich verschwinden die Sterne in der zuneh-
menden Helle des Himmels. Der Stützpunkt ist jetzt
so deutlich sichtbar, daß man mit dem Fernglas die
Gesichtszüge eines Menschen dort unten erkennen könnte.
Die Granaten liegen griffbereit, der Vormeister richtet
mit größter Genauigkeit; jeder Mann der Bedienung
weiß, daß er wie das Rad eines Uhrwerks arbeiten muß,
um ein lückenloses Schnellfeuer zu gewährleisten.
Jetzt! L
Der erste Schuß donnert durch die morgendliche
Stille. Fast noch in der Mündungsflamme springt drü-
ben die Sprengwolke auf.
„Feuer!"
Eine Granate nach der andern heult über das Eiß,
schlägt krachend in den Felskopf. Die Bestürzung der
262
Italiener ist groß, aber sie bleiben. In rasender Elle
bemühen sie sich, ein Maschinengewehr gegen den An-
greifer In Stellung zu bringen, sie alarmieren Ihre Ar-
tillerie und — suchen mittlerweile krampfhaft nach dem
Rohr, das ihnen so furchtbar zusetzt.
Endlich haben sie es gefunden: Dort oben Im Eis,
kaum zu sehen im gleißenden Sonnenlicht, blitzt es rasch
hintereinander auf, wird jedesmal eine schwache Dunst-
wolke sichtbar! Im nächsten Augenblick knattert das
Maschinengewehr los, Firn stäubt unter dem Einschlag,
das Geschütz verstummt Aber es hat schon an die hun-
dert Granaten verfeuert und seinen Zweck vollauf erfüllt.
Der Feind Ist entschlossen, diesen ungemein gefähr-
lichen Hieb zu parieren. Den ganzen Tag über feuern
seine Batterien gegen die Stelle, von der aus der Ge-
schoßhagel gekommen ist; aber die Kanone ist bereits
in Sicherheit, steht In einer kleinen Felskaveme, die
vom Eisstollen aus angeschlagen wurde.
Um so heftiger wird der Angriff gegen „S" — ein
Angriff, der nicht im Eis, sondern im Fels geführt
wird, 3000 Meter über dem Meere, die höchstgelegene
Mine Im Weltkrieg! Ein wilder Kampf setzt um die
Fessurascharte ein. Je näher die Sprengschüsse der Ita-
liener heranrücken, desto heftiger wird die Beschießung,
der Ihr Stützpunkt unterzogen wird. Täglich feuert die
Geblrgskanone aus dem Eisloch, und die Alpin! haben
täglich Verluste zu beklagen.
Aber das scheint sie nur um so mehr anzuelfem.
In wahrem Höllentempo sind sie am Werk, einerseits
den Stützpunkt „S", andererseits das Geschütz zu er-
reichen und beide unschädlich zu machen. Eine Spren-
gung reißt die Wand ein, die trennend zwischen Italiens
schern Stollen und Kalserjägerkaveme liegt, Handgrana-
ten und Maschinengewehre liefern einander im Fels einen
furchtbaren Kampf. Dann wird das Loch von beiden
Selten wieder verstopft, weil es zu gefährlich ist, dem
Gegner auf diesem Wege Eingang zu verschaffen.
Dagegen donnert eines Tages eine gewaltige Explo-
sion aus dem Eis und mächtig schwebt eine Rauchwolke
über dem brandschwarzen Trichter. Dieser Anschlag galt
der Geblrgskanone; aber das Geschütz wurde nicht er-
263
wischt, denn Eis ist elastisch, Eis dämpft auch gefähr-
liche Ladungen zu reinem Theaterdonner, Der Kampf
um die Fessurascharte wurde mit wechselnder Stärke
bis Oktober 1917 geführt.
Noch ein zweites Geschütz auf der Marmolata ver-
ursachte den Italienern viel Schaden und ; Sorge. Es
wurde mit unendlicher Mühe eingebaut und hatte die
seltene Aufgabe, vom Grat des Marmolata-Kammes über
die Südwand tausend Meter tief mit Stechschüssen gegen
den Saumweg im Ombrettatal zu feuern. Die Sorgfalt,
mit der diese 7.5-cm-Gebirgskanone eingebaut war, ver-
hinderte, daß der Feind sie durch einen Schartentreffer
zerstörte. Er schoß monatelang gegen die Stelle, an der
er nach langem Suchen die verräterische Flamme auf-
blitzen gesehen, aber der Erfolg war gleich Null. Immer
wieder mußten die italienischen Tragtierkolonnen im
Val Ombretta den Bleihagel der Gebirgskanone' auf
der Marmolata über sich ergehen lassen.
Der Einbau dieses Geschützes war ein technisches
Meisterstück. Halben Weges zwischen D-Süd und TI-Süd
wurde ein Eisstollen abgezweigt, der, in einem Doppel-
bogen westwärts ausholend, den Höhenunterschied von
ungefähr vierhundert Metern überwand. Unter dem Grat
mündete dieser Eisstollen in einen Felsstollen und die-
ser wieder in die eigentliche Geschützkaverne, deren
Boden scharf geneigt war und so den Steilschuß über die
Wand ermöglichte. —
Der Krieg auf der Marmolata ging vom ersten bis
zum letzten Tag seiner Geschichte mit unveränderter
Heftigkeit weiter. Feind und Natur wechselten einander
pausenlos ab, und war es nicht die Kugel, die Mine, die
Gasgranate, so taten Lawinen und Kälte das Ihre, um
niemals den Druck, der auf den Schultern und Seelen
dieser Helden im ewigen Eis lastete, zu mildem oder
gar fortzunehmen.
Auch die Alpini hielten zäh und unverdrossen aus,
bis die Katastrophe am oberen Isönzo sie zu schuldlosem
Rückzug zwang. Aber ihre Lage auf der Punta Serauta
und deren Flanken war weit weniger schwierig als die
der Kaiserjäger und Schützen der Gegenseite; denn sie
hatten kein kilometerbreites Eisfeld im Rücken, sondern
264
konnten ihren Nachschub mit der schon im Sommer 1916
erbauten Drahtseilbahn aus dem Val Candiarei ungehin-
dert durchführen. Daß auch ihnen der Winter stark zu-
setzte und daß viel Seelengröße erforderlich war, ihn
zu ertragen, wird niemand leugnen. Hier wie überall
zeigten sie sich als Soldaten von echtem Schrot und
Korn, als tapfere und ritterliche Gegner.
4.
Schon der Winter 1915/16 hatte dem Soldaten des
Hochgebirgskrieges gezeigt, was der Doppelkampf gegen
Feind und Natur bedeutet. Die Opfer gingen in die
Tausende. Aber noch war der Krieg nicht in die höch-
sten Höhen getragen worden. Das geschah erst im zwei-
ten Sommer.
Man wußte nun wohl, daß der folgende Winter ein
Uebermaß an Leiden und Opfern fordern werde; den-
noch bestand Hoffnung, die Verluste mildem zu kön-
nen, einesteils auf Grund der Erfahrungen vom letzten
Jahr, andemteils durch den Einsatz von alpinen Referen-
ten und besonders ausgebildeter Mannschaften.
Da kommt jener Winter von 1916/17, der seines-
gleichen seit Menschengedenken nicht hatte, ein Winter,
der alle Erfahrungen, jede Kenntnis der Hochgebirgswelt
über den Haufen wirft! Schon im Spätherbst setzen seine
Vorboten ein; es schneit andauernd und dieser Schnee-
fall wird für beide Gegner zu einer entsetzlichen Kata-
strophe.
Anfangs Dezember ist der Großteil des Verkehrs
lahmgelegt. Die Soldaten in den Höhenstellungen hun-
gern und frieren, sie suchen verzweifelt nach Abhilfe.
Umsonst. Sogar die großen Drahtseilbahnen versagen den
Dienst Meist sind es die Talstationen, die verschüttet
und weggerissen werden, dann aber auch einzelne Zwi-
schenstützen. Und wenn die Drahtseilbahnen intakt sind,
stockt wieder der Verkehr auf den Straßen und Saum-
wegen.
Die beiden ersten Dezemberwochen verstreichen un-
ter einem Schneefall, wie ihn die kühnste Phantasie nicht
ausdenken kann. Drei Meter, vier Meter, fünf Meter
265
hoch steigt die weiße Flut, aber noch immer treiben
grauschwarze Wolken über den Himmel, noch immer rie-
selt es nieder und begräbt Berg und Tal unter unermeß-
lichen Schneelasten. Die Erfahrenen wissen, was das um
diese Zeit bedeutet: Der Boden ist noch nicht durchge-
froren, kein festgewachsener Firnschnee deckt ihn; diese
Lasten haben keinen Halt, ein Wettersturz wird sie in
tausend Strömen zu Tal schicken . . .
Am 12. Dezember schlägt die Temperatur jäh um.
Hoch in den Lüften winselt der warme Wind aus dem
Süden, der gefürchtete Föhn. Es beginnt zu regnen. Und
die ganze Nacht geht dieses Winseln und Singen um
die Gipfel und Grate weiter, während die Täler in un-
heilverheißendes Schweigen gehüllt sind. Föhnmauern
stehen als eine grandiose Wolkenbrandung über den
Kämmen, und der Mensch, der winzig klein inmitten
schauerlicher Gewalten haust, wird unruhig, reizbar oder
niedergedrückt bis zur Verzweiflung.
Plötzlich bricht es los. Ein Brüllen und Dröhnen
fährt in die Kare und Täler nieder, wie der Atem der
Technik es nicht hervorbringen kann. Es ist, als ob die
Allmutter Natur, die „gütige", wie sie so gerne genannt
wird, den Erdenwürmern zeigen wollte, daß alles Men-
schenwerk lächerlich wird, wo sie ihre Kräfte entfesselt
Lawinen! Ueberall Lawinen! Auf ihren alten Bahnen
donnern sie nieder und erreichen aufstäubend das Tal;
als Wächten brechen sie ab und nehmen Hunderttausende
Kubikmeter Schnee von den Hängen mit; Schneebretter
beginnen zu gleiten, schwellen zu Ungeheuern an, ge-
raten in Hochwälder, die krachend und splitternd nie-
dersinken wie Halmflut unter einer Sense, werfen weiße
Wolken hoch, so hoch, daß sie halbe Stunden lang flim-
mernd über dem Schauplatz der Vernichtung schweben.
Es ist Freitag, der 13. Dezember, der „weiße" Frei-
tag, an welchem Haß und Krieg entlang der ganzen
Alpenfront schweigen, weil hüben und drüben die Men-
schen gleicherweise angsterfüllt und grauengeschüttelt in
das Rasen der Natur starren, weil das Unglück so
allgemein ist, daß niemand an die Waffe denkt. Dieser
Tag fordert 10.000 Opfer des weißen Todes, 10.000 der
266
besten Soldaten hüben und drüben, die erstickt und
zerdrückt werden von unvorstellbaren Schneemassen.
Und an diesem Tage erreicht auch der Einzelfall
einen traurigen Rekord: Das größte Lawinenunglück
aller Zeiten trifft die Marmolata-Kämpfer, verschüttet
die Siedlung bei Gran Poz und tötet mit einem Schlag
an die 300 Mann! Als die Rettungsarbeiten beendet
sind — 105 Stunden nach der Katastrophe gräbt sich
der letzte Ueberlebende selbst aus dem Schnee 1 —
geht man daran, aus Höhe und Breite der weißen
Massen die Menge der in Bewegung geratenen Flut zu
errechnen und kommt zu dem Schluß, daß es über
eine Million Festmeter gewesen sein müssen! Keine
Explosion kann ähnliche Erscheinungen hervorbringen.
Eine Baracke auf Gran Poz, die außerhalb der Lawinen-
bahn lag, wurde durch den Luftdruck samt ihren In-
sassen 500 Meter weit durch die Luft geschleudert!
Doch was bedeutet dieser eine Fall gegen die an-
dern tausend, die sich an diesem Tag ereigen! UeberaH
vom Ortler bis zum Krn spielt sich ähnliches ab, die
Bitten um Hilfe der Abschnitte untereinander müssen
mit Hinweis auf das eigene Unglück unberücksichtigt
bleiben. Ganze Kompanien und Arbeiterabteilungen,
Batterien und Lager liegen unter der weißen Last;
Tag und Nacht arbeiten die Ueberlebenden verzweifelt
an der Rettung ihrer Kameraden, um dann womöglich
durch eine nachfolgende Lawine verschüttet zu wer-
den. Im Gemärk bei Schluderbach stehen Italiener wie
Oesterreicher dichtgedrängt in der Talmitte, während
immer wieder neue Schneemassen niederdonnern und
ihre weißen Riesenfinger nach den zitternden Menschen
ausstrecken. Niemand denkt mehr an Kampf, es ist
als ob die Furchtbarkeit der Stunde alle Feindschaft
ausgetilgt hätte — für den Augenblick und für alle
Zeiten . . .
Aber kaum hat sich der Mensch diesen Eindrücken
entwunden, als er schon darangeht, die Naturgewalt des
weißen Todes in seinen Dienst zu zwingen: Das Ab-
schießen von Lawinen wird zum neuen Kampfmittel,
Mit einigen hochbrisanten Granaten, die gegen lose
lagernde Schneemassen gefeuert werden, kann man dem
267
Feind mehr Abbruch tun als durch stundenlanges Trom-
melfeuer. Manchmal sperrt eine solche künstlich her-
vorgerufene Lawine einen Zugang derart, daß ganze
Kompanien abgeschnitten werden und sich ergeben, um
nicht verhungern zu müssen.
Im Februar und März des Jahres 1917 kommt es
zu neuen umfangreichen Katastrophen ähnlicher Art wie
im Dezember. Wieder beherrscht die Lawine alles Sin-
nen und Trachten, wieder fallen ihr Tausende zum
Opfer. Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Zahl
der Toten an der Alpenfront in diesem einen Winter
mit rund 20.000 Mann schätzt, abgesehen von den vie-
len Erfrierungen, durch die weitere Tausende zu Krüp-
peln wurden.
So schließt das zweite Jahr des Alpenkrieges mit
überwältigenden Siegen der Natur. Daß auch dieser
Umstand die Kämpfer nicht beugte, sondern sie zu
neuen und immer abenteuerlicheren Methoden der Ver-
nichtung anspornte, liegt im Wesen des Menschen; im
besondern des Menschen, der hüben und drüben diesen
Kampf führte — des Sohnes der ewigen Berge.
*
268
Soldafenfriedhof bei Folgaria
Blick vom Col Santo gegen Süden (Pasubio)
DAS DRITTE JAHR
Dynamit
i.
Am Isonzo tobt die sechste Schlacht, die siebente,
die achte, die neunte, in Südtirol wird um endgültige
Stellungen gerungen, der gewaltige Winter von 1916/17
setzt ein — für die einsame Felsenwelt des Kleinen
Lagazuoi ist das alles ohne Belang. Hier kämpfen Men-
schen in ihrem eigenen Bereich einen eigenen Kampf,
hier ist alles scharf umgrenzt und auf ein bestimmtes,
streng umrissencs Ziel gerichtet: Der Feind sitzt auf
dem Felsband, das die ungeheure Wand in ihrer Breite
durchzieht, er klebt in der Schlucht unter dem Vorgipfel,
während die Kaiserjäger den Vorgipfel selbst und den
Grat des ganzen Steinkolosses besetzt halten.
Ein volles Jahr ist es im Sommer 1916, daß dieses
Ringen mit unbarmherziger Schärfe anhält. Mit einer
Hartnäckigkeit, die an Wahnsinn grenzt, versuchen die
Alpin!, sich auf die Kammlinie vorzuarbeiten und den
östlichen Vorgipfel zu ersteigen; mit der gleichen Aus-
dauer wehrt der Verteidiger diese Versuche ab. Alle
seine Gegenstöße im Sommer und Herbst 1915 hat
der zähe Angreifer überdauert; selbst als in der Heu-
jahrsnacht auf 1916 ein abgesprengter Felsblock von der
Größe eines Hauses die Stellungen auf dem Felsband
traf, ließ er sich nicht vertreiben. Wie ein Raubtier in
den Flanken eines viel größeren Opfers festgekrallt,
so hängen die Italiener in der Wand und nähren in
sich die Hoffnung, daß den Gegner doch eines Tages
die Kraft verlassen werde. Jede Sekunde Leben ist hier
bedroht Die Geschütze vom Monte Averau feuern wie
auf eine Scheibe. Viele tapfere Männer haben schon
den tödlichen Sturz in die Tiefe getan und liegen nun
unten in den Geröllhalden, die den Teufelsberg vom
Falzaregopaß trennen.
Hach all den vergeblichen Versuchen, den Gegner
aus der Wand zu verdrängen, reift auch auf dem Klei-
nen Lagazuoi der Entschluß, es mit dem letzten Mittel
271
zu versuchen: Dynamit. Der Gedanke liegt nahe: Wenn
man hinter der Wand einen Stollen vortreibt und die
Wand auf das Felsband hinuntersprengt kann dort
nichts mehr leben. Ja, noch mehr: Es ist möglich, daß
das Band, durch die Wucht der stürzenden Steinmassen
getroffen, überhaupt verschwindet, zumindest daß die
beiden natürlichen Wehrtürme der Italiener, der „täto-
wierte Stein" und der „Strebestein" in die Tiefe ge-
schmettert werden. Aber dieser Minenvorstoß braucht
Zeit, viel Zeit, Geduld und Ausdauer.
Im Juli 1916 wird mit dem Vortrieb begonnen.
Meter um Meter wächst der Stollen, der, seitlich an-
geschlagen, mit der Wand paralell bis zu jenem Punkte
geführt werden soll, der unmittelbar über der Fels-
bandstellung der Alpin! liegt.
Doch, man müßte keine Italiener zu Gegnern haben,
wenn diese nicht sofort mit der gleichen Münze zahl-
ten. Das Wühlen im Stein ist eines ihrer beliebtesten
Kampfmittel. Bald wird es klar, daß sie zwei Stollen
gegen die österreichische Felsbandstellung vortreiben,
offenbar in der Absicht, den Schlag zu parieren; ein
Umstand, der wieder auf Seite des Verteidigers Gegen-
maßnahmen herausfordert: Der Angriffsstollen wird auf-
gegeben und an seiner Stelle eine Doppelmine gebohrt,
die mit zwei Querstollen den Italienern den Weg ver-
legen soll.
Monat für Monat geht der Kampf im Finstern wei-
ter. Auch der katastrophale Winter von 1916 auf 1917
ändert daran nichts. Während ringsum Lawinen don-
nern und die Posten auf Grat und Band mit klammen
Fingern und blaugefrorenen Gesichtern Wacht halten,
hämmern im Innern des Kleinen Lagazuoi pausenlos die
Bohrer ins Geistein. Hier ist es weder kalt noch warm,
hier gibt es keinen Winter oder Sommer; der Vortrieb,
die gewonnen Meter — das ist alles.
Ein halbes Jahr geht diese Maulwurfsarbeit weiter,
bis endlich jener aufregende Wettlauf einsetzt, der
manchmal um Stundenlänge entschieden wird. Harter
Fels trennt die Gegner; sie sehen einander nicht, aber
sie hören; und sie hören einander mit so überfeinen
Ohren, daß jeder weiß, wo der andere ist, was er vorhat
Schneetunnel. Blick auf Puarfis
Einschlag einer 35-cm-Granate in Äslago.
Offensive 1916
Werk Lima di Vezzena, Hochfläche
von Lavarone
Flammenwerfer
Trommelfeuer auf
Asiago
am 22. XI. 1917
So wird auch, der Endkampf in der Wand des
Kleinen Lagazuoi mit jagender Hast betrieben. Am
14. Januar 1917 sind die beiden österreichischen Minen-
kammern geladen und verdammt. Der Feind ist nur
um Tage, vielleicht bloß um Stunden zu spät dran;
Als die Sprengung erfolgt, schlittert ein Stoß den Berg,
zu dem die aufgewandte Menge an Explosivstoffen nie
gereicht hätte. Ohne Zweifel hat der Feuerschlag eine
schon fertige italienische Mine erreicht und diese mit-
genommen. Daß die feindlichen Stollen zerstört waren,
darüber konnte kein Zweifel herrsdien.
Ein schöner Erfolg, gewiß. Aber alle Genugtuung
konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die schwere
Arbeit eines halben Jahres nichts weiter bewirkt hatte,
als den Gegner abzuwehren. Von dem fatalen Felsband
war er nicht vertrieben, im Gegenteil, seine Maschinen-
gewehre und das Gebirgsgeschütz in den beiden Stein-
türmen feuerten nach wie vor mit gefährlicher Sicherheit
gegen die Stellungen in der Val Parola. Die erste Spren-
gung bedeutete also nur einen erzwungenen Schritt der
Verteidigung.
2.
Kaum sind die letzten Steinschläge verrollt, als die
österreichischen Sappeure und Kaiserjäger schon wieder
im Fels arbeiten. Das im Herbst 1916 begonnene Werk,
der Angriffsstollen, wird nun mit äußerster Energie fort-
gesetzt. Er muß an die hundert Meter lang werden,
wenn sein Zweck, die endgültige Zerstörung der italieni-
schen Bauten auf dem Felsband, erreicht werden soll.
Unendlich mühsam wie jede Minierarbeit im Stein,
aber von einer erbitterten Hingabe getragen, rückt der
Stollen Meter für Meter vorwärts. Die pneumatischen
Bohrer hämmern in den Felsen, Zentner um Zentner
Sprengmittel werden verschossen, viermal binnen vier-
undzwanzig Stunden wechseln die Schichten, um das
Werk in Fluß zu halten; und hinter dem Vortrieb sur-
ren die Ventilatoren, pumpen Tag und Nacht frische
Luft, eisige Winterluft in den schmalen Gang, der tastend
sich dem Gegner nähert.
18
273
Dann wird die Luft wärmer und wärmer, Früh-
lingsstürme heulen um den Kleinen Lagazuoi, Schmelz-
wasser trieft von seinen Wänden und die letzten La-
winen dieses entsetzlichen Winters donnern zu Tal.
Wieder ist am Isonzo eine Schlacht im Gang, die zehnte
nun, und es hat den Anschein, als sollte sie Entschei-
dung bringen über das Schicksal des ganzen Feldzuges,
ja eines alten Reiches überhaupt.
Die Leute auf und in dem Felskoloß stört das alles
nicht. Sie arbeiten mit Feuereifer an ihrem Zerstörungs-
werk, jeder ihrer Gedanken kreist um das Felsband,
auf dem die Alpin! sitzen, und das nun bald seine
Höllenfahrt antreten wird. Diesmal kann es nicht miß-
lingen. Der Feind weiß vielleicht, ja wahrscheinlich um
die Gefahr, die ihm droht; er mag sich auf die Stärke
seiner Bauten und die natürliche Widerstandskraft der
beiden Felsnadeln verlassen, auf den „Strebestein“ und
den „tätowierten Stein“, die kreuz und quer kaverniert
sind und etwa 30 Meter hoch aufragen. Wer könnte
solchen Riesen an?
Und doch, warum nicht? Zweihundert Meter über
dem Band liegt die Sprengkammer. Wenn diese zwei-
hundert Meter Felsen in einer Stärke von nur zehn
Meter abstürzen, müssen vielleicht auch die Türme auf
dem Band ihren Jahrhunderttausende alten Platz ver-
lassen . . .
Aber noch bedarf es einer höllischen Arbeit, bis
es so weit ist: Das Laden der Sprengkammer. Die
Scharte westlich des Gipfels, über die alles geschafft
werden muß, liegt etwa 2550 Meter hoch, der Aufstieg
ist vereist, die kurze Abstiegstrecke auf dem feind-
wärtigen Hang ständig von italienischen Scheinwerfern
beleuchtet und den Geschützen des Monte Averau ein
willkommenes, altgewohntes Ziel. Ueber diese Scharte
müssen mehr als 1000 Kisten hochexplosiver Stoffe ge-
tragen werden.
In sechs Nächten ist auch das bewältigt Die Wand
des Kleinen Lagazuoi birgt 24.000 Kilogramm Spreng-
mittel, Zündleitungen sind gelegt, eine Verdämmung von
fast 40 Meter Länge soll den Stoß gegen die eigene
Stellung auffangen. Am 20. Mai 1917 um 9 Uhr abends
ist die Mine fertig.
Zwei weitere Tage vergehen ereignislos. Da nun
alles bereit ist, hat es keine Eile mehr. Der Feind
ist weit, er sitzt mehr als 200 Meter tiefer als die
Sprengkammer in der Wand und hat gar nicht den
Versuch unternommen, den Anschlag abzuwehren. Am
22. Mai rundet sich auf den Tag genau das zweite
Kriegsjahr — das ist der symbolische Anlaß für den
Druck auf den Zündtaster; und um die zehnte Abend-
stunde sind die Tragtierkolonnen auf dem Weg in die
Wand des Kleinen Lagazuoi — das ist der militärische...
Punkt 10 Uhr abends brüllt eine urgewaltige Stimme
auf und füllt weithin den Raum: die Mine ist explo-
diert. Und dann donnert eine Steinlawine nieder, wie
sie seit den Geburtswehen der Dolomiten nicht da war
— donnert nieder, erreicht das Felsband, nimmt es in
hundertfünfzig Meter Breite mit . . .
Viele Stunden lang brechen immer neue Gesteins-
massen aus und stürzen die Wand hinunter. Ein unge-
heurer Schotterkegel liegt zu Füßen des Kleinen Laga-
zuoi, 130.000 Kubikmeter Fels umfassend, die durch
menschlichen Willen aus ihrem Gefüge gerissen wur-
den. Der „Strebestein" liegt, in tausend Stücke zer-
schellt, ebenfalls darunter, desgleichen der Großteil des
„tätowierten Steines" und alle die Soldaten, die dort
hausten, ihre Waffen und Maultiere. Von einem Wie-
dererstehen der italienischen Felsbandstellung kann
menschlichem Ermessen nach keine Rede sein.
3.
Ist nun wenigstens der Kampf um diesen einen
Gipfel zu Ende? Keineswegs. Während noch immer
Steine über die Wand des Kleinen Lagazuoi abgehen,
arbeiten die Italiener schon an einer neuen Stellung
auf dem östlichen Teil des Felsbandes, um sich von
Lieberfällen auf ihr Angriffswerk gegen die Vorkuppe
zu sichern.
Denn auf der Vorkuppe werden sie Vergeltung üben.
Ein Bau von phantastischen Ausmaßen ist hier im Gange:
13*
275
ein steil aufstrebender Minengang von 1100 Meter Länge,
aus der Schlucht hinauf gegen die österreichische Gipfel-
stellung, eine riesenhafte Treppe im Innern des Berges,
die zu ersteigen man fast eine Stunde braucht.
Und hier wird Rache genommen für die Felsband-
stellung, für die 200 Mann, die dort mit einem Schlag
zerschmettert wurden. Die Mine auf der Vorkuppe soll
der Tat der Oesterreicher ebenbürtig sein: 33.000 Kilo-
gramm Sprenggelatine wandern in den Berg, eine La-
dung von ungeheurer Stärke.
Fast genau einen Monat nach der Katastrophe
nebenan, am 20. Juni 1917 reißt ein mächtiger Feuer-
schlag die Vorkuppe des Kleinen Lagazuoi auseinander
und viele tausend Kubikmeter Felsen poltern in die
Tiefe. Unten am Fuß des Bergstockes liegt ein zweiter
Schotterkegel, das Grab manchen braven Kaiserjägers.
Aber der Großteil der Stellung ist erhalten geblieben
und die Alpin! versuchen vergebens, die Vorkuppe nach
der Sprengung zu stürmen.
Drei Monate später haben die österreichischen Sap-
peure den Angriffsstollen vom Mai so weit verlängert,
daß man nun mit einer weiteren Sprengung die neue
Stellung der Italiener auf dem östlichen Felsband er-
reichen kann. Am 16. September 1917 schmettert hier
eine Ladung von 4000 Kilogramm Ekrasit wieder Ge-
steinsmassen, Menschen und Unterkünfte in die Tiefe.
Sechs Wochen nachher — in dieser Zeit wird auf
beiden Seiten unentwegt mit Stoßbohrer und Spreng-
patrone gearbeitet — bricht endlich das Ringen um
den Kleinen Lagazuoi jählings ab. Mitten aus neuen
Angriffsplänen gerissen, müssen die Alpin! über Nacht
das Feld räumen: Der Durchbruch von Flitsch-Tolmein
hat auch dieser Gegend den Bergfrieden wiedergegeben.
Damit erlischt ein zweieinhalb jähriger Kampf von un-
erhörter Schärfe, ohne Entscheidung gebracht zu haben...
*
276
Ersfartfe Fronten
i.
Ueberall vom Ortler bis an den oberen Isonzo ist
die Alpenfront völlig erstarrt. Dabei herrscht keines-
wegs Ruhe. Ein mühsamer und opferreicher Kleinkrieg
halt Monat für Monat die Gegner in Spannung, da und
dort kommt es zu Kämpfen, deren erbitterte Wildheit
in keinem Verhältnis zu den möglichen Erfolgen steht.
Denn mit einer einzigen Ausnahme kann es sich nur
um örtliche Vorteile drehen, die durch eine neuerliche
Erstarrung bald wieder wettgemacht sind. Stoßbohrer
und Dynamit, Eisen und Beton, Drahtseilbahnen und
Wegebau verwandeln den Alpenbogen in eine große
Festung; und hätte der Verteidige^ nur annähernd die
Kräfte zur Verfügung, die das schwierige Gelände ver-
langt, er brauchte nicht immer wieder mit schweren
Blutopfem eintreten, wo der tote Stoff genügen würde.
Allmählich tritt auch hier der ewige Mangel an
allem und jedem in Erscheinung, der den Weltkrieg
für die Mittelmächte schon im zweiten Jahr auszeich-
nete. Mag diese Erscheinung überall furchtbar sein —
im Hochgebirge wird sie am drückendsten empfunden.
Wie sollen Menschen die Mühen und Lasten dieses
Doppelkampfes mit Natur und Feind ertragen, wenn
sie dauernd unterernährt sind, wenn sie nicht genügend
Kleidung haben? Kälte und Schnee, die tägliche Arbeit
nur um das nackte Leben, ja der einfache Postendienst
alles wird durch diesen Mangel zur Hölle, zur immer-
währenden Marter. Eine zunehmende seelische Erlah-
mung geht mit diesen körperlichen Leiden Hand in Hand.
Die Düsterkeit des Daseins in feuchten Kavernen, in
schneevergrabenen Unterständen, bei wochenlangem Ne-
bel, ohne genügenden Brennstoff, vielfach ohne Licht,
endlose Wintemächte und Sturmtage, Lawinen und Er-
frierungen in Massen, das alles zehrt in unbeschreib-
licher Weise an den Nerven. Und wenn es wenigstens
immer Truppen aus den Alpenländem gewesen wären,
277
denen diese Qual aufgebürdet wurde -- sie ertrügen
es leichter, weil sie von Kindheit an daran gewöhnt
waren, weil die unbarmherzige Natur der Berge ihnen
vertrauter ist als dem Sohn anderer Landschaften. Aber
die Alpentruppen schwanden immer rascher dahin, sie
mußten immer wieder an anderen Fronten eingesetzt
werden, weil man ihre Stoßkraft nicht entbehren konnte.
So kam es, daß schließlich in einer Zeit, als der Feind
auf dem Gipfel seiner Machtentfaltung angelangt war,
die so oft bewährten, aber auch als „minderwertig“ an-
gesehenen Standschützen an Stellen eingesetzt werden
mußten, an denen Großkampf im entsetzlichsten Sinn
des Wortes herrschte. Daß sie sich mit einer Schneid
schlugen, die man sonst nur den besten Truppen der
ersten Linie nachsagte, beweist, welch eine Seelengröße
in diesen Freiwilligen des großen Krieges lebte.
So liegen die Fronten einander starr gegenüber,
und nur in einem Abschnitt gibt es noch große stra-
tegische Ziele: Aut 'dem Sieben Gemeinden und weiter
gegen Westen, im Ausfallstor der Südtiroler Bastion
zwischen Brenta und Etsch. Der Anhieb vom Frühjahr
1916 bleibt unvergessen; er ist den Italienern eine dau-
ernde Warnung vor späteren ähnlichen Katastrophen.
Niemals darf Graf Cadorna dieses Ausfallstor aus dem
Auge lassen. Wann immer eine Armee der Mittelmächte
frei wird, ist ihr Auftauchen in Südtirol wahrscheinlich.
Und alle Erfolge am Isonzo können zunichte werden,
wenn der Gegner seine Offensive wieder aufnimmt.
Der Raum von Asiago ist am heikelsten. Hier stellen
sich einem Angreifer aus dem Norden keine unüberwind-
lichen Hindernisse mehr in den Weg, hier vermag er
aus einer Grundstellung seiner Artillerie heraus die
Ebene zu erreichen. Daher leistet hier die italienische
Befestigungskunst das überhaupt Denkbaror Bald sind
es sechs ausgebaute Linien, die hintereinander Berg und
I
Tal überziehen und das gefährliche Tor verstopfen
sollen.
Asiago und der Ebene allein zu verlassen. Die Angriffe
Im Sommer und Herbst 1916, geführt, um das verlorene
Gelände wieder zu gewinnen, sind im allgemeinen fehl-
geschlagen. Bis auf einen kleinen Erfolg am Monte Zebio
ist es nirgends gelungen, den Verteidiger aus seiner
selbstgewählten Abwehrfront zu verdrängen, obgleich er
einer dreifachen Uebermacht standhalten mußte. Der
Pasubio, der Cimone, die Assaschlucht bilden seit dem
Herbst 1916 schwere, ja unüberwindliche Hindernisse.
Nach langwierigen und verlustreichen Erkundungsvor-
stößen reift daher der Plan, es ganz im Nordosten,
zwischen Val Sugana und dem Assaknie zu versuchen.
Der Ausgang der zehnten Isonzoschlacht, die Wahr-
scheinlichkeit, noch in diesem Jahre 1917 mit einer
Offensive der Mittelmächte rechnen zu müssen, veran-
laßt Graf Cadoma, sofort an die Ausführung dieses
Planes zu schreiten. Anfangs Juni werden über 60.000
Mann an der beabsichtigten Durchbruchsstelle zusam-
mengezogen. Das k. u. k. III. Korps hat dieser bedeu-
tenden Macht kaum ein Drittel gegenüberzustellen, ganz
abgesehen davon, daß während und nach der ungemein
verlustreichen zehnten Isonzoschlacht immer wieder Bat-
terien und Spezialformationen von den Sieben Gemein-
den abgezogen wurden. Der Ausgang dieses Ringens ist
daher mehr als zweifelhaft.
Am 10. Juni bricht das Unwetter los. Ein Trommel-
feuer von vielen Stunden legt die Stellungen zwischen
Monte Civaron und dem Zebio vollständig in Trümmer,
während gleichzeitig längs der Assa und bis zum Monte
Cimone schwere Feuerüberfälle die Reserven des Ver-
teidigers festhalten sollen. Und dann fluten die italieni-
schen Sturmkolonnen heran, werfen sich auf den er-
schöpften Gegner.
Es dauert nicht lange, bis die altbewährte Kampf-
kraft des Grazer Korps auch hier wieder zum Ausdruck
kommt: Der Feind muß überall in seine Ausgangsstel-
lungen zurück, nur im Gefätlsbruch gegen das Suganer
Tal und auf dem Monte Ortigara gelingt es ihm, in
die Abwehrfront einzubrechen und sich allen Gegen-
stößen lokaler Reserven zum Trotz zu halten. Immerhin
hat die Heftigkeit des Widerstandes zur Folge, daß der
279
Angreifer auch hier erschöpft liegen bleibt und über
eine Woche braucht, bis er am 19. Juni seinen Vorstoß
weifertragen kann.
Nun wird die Lage des Verteidigers rasch unhaltbar.
Eiligst herangebrachte Reserven aus anderen Frontab-
schnitten gehen im italienischen Artillerie- und Minen-
werferfeuer spurlos unter. Das II. Bataillon des 4. Re-
gimentes der Tiroler Kaiserjäger wird nördlich des Orü-
gara, auf der Ponta le Pozze zu einem Gegenstoß
angesetzt und vollkommen aufgerieben. Die Not ist
aufs äußerste gestiegen.
Da kommen neue Helfer, in hundert Stürmen be-
währt, an allen Fronten gefürchtet: Kaiserschützenbatail-
lone l In einem groß angelegten Angriff werfen sie den
eingedrungenen Feind zurück, stoßen mit ungeheurer
Vehemenz nach und entreißen ihm am 29. Juni die
letzten verlorenen Stellungen.
Diese Kämpfe haben auf beiden Seiten namenlose
Opfer gefordert. Als die Kaiserschützen aus der Front
marschieren, um mit Eiltransporfen an den mittleren
Isonzo gebracht zu werden, ist manches Bataillon auf
ein Drittel seines Standes zusammengeschmolzen. Der
Feind aber verzweifelt an der Möglichkeit, mit stür-
mender Hand sich wieder in den Besitz der Hochfläche
von Asiago zu setzen.
Ein neuer Plan taucht auf, ein Plan, der mit sol-
datischen Methoden wenig zu tun hat. Er stützt sich
auf einen Verräter, mit dem man schon lange in Ver-
bindung steht und den der Zufall gerade an den wich-
tigsten Flügel des Einfallstors zwischen Etsch und Brenta,
in die Val Sugana gestellt hat. Dieser Plan wird von
Woche zu Woche dringlicher, denn eine gewaltige Wet-
terwolke erscheint nach der 11. Isonzoschlacht, die auch
nur wieder einen Teilerfolg brachte, über den Bergen:
Die Offensive der Mittelmächte, das Ende der eigent-
lichen Alpenfront, ja vielleicht des Königreiches Italien
überhaupt 1
*
280
Der Traum von Carzano
l.
In einer stillen Septembernacht des Jahres 1917
läuft ein Soldat atemlos die Straße entlang, die von
der österreichischen Stellung in der Val Sugana nach
Westen führt.
Der Mann scheint sehr erschöpft zu sein. Er ver-
sucht es mit einem Geschwindschritt, um auszuschnaufen,
kommt aber gleich wieder ins Laufen. Urlauber, die auf
dem Marsch zur Front sind, nächtliche Wanderer, die
dem Atemlosen begegnen, rufen ihn an, erhalten keine
Antwort und sehen ihm verwundert nach. Niemand kann
sich erklären, welcher Teufel diesen Menschen hetzt Es
gibt allerlei in der Welt; aber daß ein Soldat im vier-
ten Kriegsjahr auf dieser friedlichen Straße wie ein
Irrer daherrennt, das ist neu.
Manchmal poltert fernher der Abschuß eines Ge-
schützes und in der Gegend von Carzano, Scurelle oder
Castelnuovo, flammt der Einschlag auf. Alltag des
Kriegs. Niemand hebt deshalb den Kopf oder beschleu-
nigt seine Schritte. Es ist schon lange her, seit man
sich dafür interessierte . . .
Der Soldat ohne Waffe, ohne Helm läuft weiter.
Mehrere schlafende Dörfer hat er schon passiert, er
biegt bei Marter nach Norden ab und ist fast am Zu-
sammenbrechen, als ihn endlich eine größere Häuser-
gruppe innehalten läßt: Roncegno, sein Zielt Auch hier
sind alle Lichter sorgfältig abgeblendet, aber man kann
im fahlen Schein des halben Mondes einzelne Tafeln
lesen: Stationskommando, Verpflegsmagazin, Feldspital;
und dal Die Aufschrift, die er sucht: Divisionskommandot
Licht schimmert durch ein verhangenes Fenster zu
ebener Erde. Der Posten vor der Tür ruft den Mann
an, erhält einige Worte auf Tschechisch zur Antwort und
kann nicht mehr verhindern, daß der vollkommen Er-
schöpfte mit letzter Kraft an das Fenster trommelt. Die
281
Tür wird geöffnet, ein Unteroffizier richtet den Licht-
kegel seiner Taschenlampe auf den merkwürdigen Kerl.
„Was ist los?"
„Herrn Divisionar . . stößt der Mann hervor. „Ich
reden muß gleich mit Herrn Divisionär . . . Alles Ver-
rat 1 Alles kaputt l . . . Gleich muß reden . .
Ein Narr oder ein Betrunkener! Der Unteroffizier
fährt ihn rauh an: „Scher dich zum Teufel! Der Divi-
sionär wird deinetwegen nicht aufstehen! Bist wohl be-
soffen!"
„Ich .reden muß mit Herr Offizier. Lassen Sie
mich ..."
Eine Minute später steht er vor dem Offizier vom
Dienst und wiederholt in verworrener Rede seine Bitte:
Er müsse sofort mit dem Divisionär sprechen, alles sei
verraten, aber das könne er niemand sonst erzählen, nur
dem Divisionär. Offenbar ein Verrückter. Der Haupt-
mann läßt ihn in Gewahrsam bringen.
Am nächsten Morgen erinnert man sich des nächt-
lichen Besuchers, der im Keller eingesperrt ist. Der
Offizier vom Dienst läßt ihn rufen, wenn ihn noch ein-
mal sehen, eh' er ihn dem Feldspital überstellt.
Aber jetzt klingt die Rede des „Narren" viel ge-
mäßigter, wenngleich er nach wie vor behauptet, „alles
sei verraten" und er müsse mit dem Divisionskomman-
danten sprechen.
Wer er denn sei? Wie er heiße?
Koch, Offizierskoch Urban vom Stab des Bosniaken-
bataillons, das am Masobach in Stellung ist. Und er
müsse . . .
Der tschechische Koch steht vor dem Divisionär.
Schon nach ein paar Worten unterbricht General Vidale
das Verhör. Der Auditor soll kommen. Und ein Dol-
metsch . . .
Was nach einer Stunde im Protokoll des Auditors
steht, klingt so phantastisch, daß die Offiziere den
Kopf schütteln: Bei dem Bosniakenbataillon V/bhl in
der Stellung von Carzano sei eine Verschwörung im
Gange, deren Oberhaupt der slowenische Oberleutnant
Dr. Ludjevit Pivko sei, derzeit Kommandant der ersten
Feldkompanie, allbekannt als der tüchtigste Offizier des
282
Bataillons. Die übrigen Verschwörer seien Offiziere und
Unteroffiziere der Kompanie Pivko, über zwanzig Leute,
durchwegs Tschechen. Und er, der Koch, habe den Auf-
trag erhalten, dem Bataillonskommandanten Major La-
com Gift ins Essen zu schütten. Diesen Auftrag habe
ihm einer der Verschwörer, der aus dem gleichen Dorf
stamme wie er, gegeben, habe ihn dazu überreden wol-
len und ihm reiche Belohnung in Aussicht gestellt. Zwei
Tage habe er das Geheimnis mit sich herumgetragen, in
der letzten Nacht aber sei er, von Gewissensbissen ge-
peinigt, einfach weggelaufen, um die Sache dem Divi-
sionär zu melden . . . Alles das beschwöre er bei der
heiligen Mutter Gottes als wahr und richtig . . .
2.
Major Eduard Lacom, erst vor wenigen Tagen zum
interimistischen Kommandanten des Bosniakenbatail-
lons V/bh 1 ernannt, sitzt in seinem Unterstand, der
in einen flachen Hügel etwa 600 Schritte hinter der
Talstellung am Masobach bei Carzano eingebaut ist.
So kurz bisher seine Kommandoführung bei den Bos-
niaken währt, so merkwürdig sind seine Erlebnisse.
Dieser Oberleutnant Pivko zum Beispiel ist ein son-
derbarer Mensch. Gleich bei seinem ersten Dienstbesuch
machte er dem Major die Eröffnung, daß in der Kirche
von Scurelle, die zwischen den Stellungen liegt, ein herr-
liches Altarbild zu sehen sei. Wenn sich Lacom dafür
interessiere, sei er gerne bereit, ihn dorthin zu beglei-
ten. Und dann sind sie richtig beide am hellichten T^g
hinausgewandert, ohne von den Italienern belästigt zu
werden. Unterwegs meinte Pivko, es lägen zwar Tret-
minen in der Kirche, aber das mache nichts. Dann, als
sie in der Kirche standen, suchte er den Major zu über-
reden, doch näher an den Altar heranzugehen und sich
das Bild genau zu besehen — eine Zumutung, die Lacom
in einem plötzlich aufwallenden Verdacht von sich wies.
Und dann kamen sie wieder unbehelligt zurück.
Allerdings schien die Gegend in der nächsten Zeit wie
verhext zu sein: Wann immer Major Lacom seinen
Unterstand verließ, polterte drüben ein Abschuß, heulte
283
7
ein Achtundzwanziger zielsicher nieder. Der Bataillons-
kommandant schob diese tägliche Begrüßung auf seine
Kartentasche und ließ sie zu Hause. Umsonst — er konnte
nicht ins Freie treten, ohne die italienischen Artilleristen
zu einer kleinen Schießübung zu veranlassen. Dabei ver-
hielten sie sich sonst sehr still, ja sie haben sogar in
der letzten Zeit ihre Linie zurückgenommen. Die Front
des Verteidigers ist nicht stark besetzt, aber mit guten
Truppen: An der Brenta liegt ein Bataillon oberöster-
reichischer Jungschützen, links anschließend kommen die
Bosniaken und weiter, die Hänge bei Cavema hinan,
Deutschmeister, das Infanteriebataillon 1/51 und die
Standschützenkompanie Reutte II. Eine vorgeschobene
Feldwache vor der Ortschaft Spera und Starkstromhin-
demisse sichern gegen Ueberraschungen. Außer den ge-
heimnisvollen Schüssen, die immer der Person des
Majors Lacom zu gelten scheinen, gibt es nichts Be-
unruhigendes in der Stellung von Carzano.
Oder doch? Eben erhielt der Bataillonskommandant
einen Befehl des Divisionärs, sofort zwei Unteroffiziere
der Kompanie Pivko namens Mlejnek und Lahvi£ka ver-
haften zu lassen. Der Befehl wird an Pivko weiter-
gegeben und dieser meldet auch bald, daß die Be-
schuldigten unterwegs zum Bataillonskommando seien.
Daran schließt er eine Bitte: Er möchte mit mehreren
Chargen auf den Beobachtungsstand des Majors Lacom
gehen, um ihnen von dort aus das Vorfeld zu erklären.
Bald darauf trifft der Auditor in der Stellung ein
und liest den beiden verhafteten Unteroffizieren in An-
wesenheit des Majors das Protokoll vor, das mit dem
tschechischen Koch aufgenommen wurde. Lacom hört mit
wachsendem Staunen zu. Die Anschuldigungen sind unge-
heuerlich: Verrat, Einverständnis mit dem Feinde, Gift-
mordversuch an ihm, dem Kommandanten . . .
Und dann fällt plötzlich ein Name, eine unfaßliche
Behauptung: Der Rädelsführer der Verschwörung sei —
Oberleutnant Pivkot Oberleutnant Pivko, der Held vom
Monte Sief, der tüchtigste Offizier des Bataillons, Ritter
des Ordens der Eisernen Krone, Besitzer eines halben
Dutzends sonstiger Kriegsauszeichnungen!
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Dieser Mann ein Verräter? Major Lacom zweifelt
nun selbst an dem Verstand dessen, der eine solche
Behauptung ausspredien konnte. Das Ganze — meint
er — könne ja sofort aufgeklärt werden, denn Oberleut-
nant Pivko sei zufällig nebenan auf dem Beobachtungs-
stand. Er werde ihn sofort holen lassen.
Oberleutnant Pivko tritt ein, sieht den Auditor, sieht
die beiden armen Sünder und seinen Vorgesetzten. Dann
nimmt er Platz, hört schweigend, aber mit vollkommener
Ruhe der Verlesung des Protokolls zu; schüttelt manch-
mal den Kopf, als könne er soviel Unsinn gar nicht fas-
sen, lächelt vor sich hin. Major Lacom, der ihn gespannt
beobachtet, muß sich sagen, daß er nun selbst von der
Unsinnigkeit der Anwürfe überzeugt sei: Dieser tapfere
Offizier kann kein Verräter sein!
Da kommt eine Stelle vor, die dem Oberleutnant
der Angelpunkt des ganzen Märchens zu sein scheint:
Ein Unteroffizier — so heißt es in den Aussagen des
Koches — sei zu den Italienern hinübergegangen, habe
sich zwei Tage lang dort aufgehalten und sei dann wie-
der zurüdegekehrt . . .
„Halt!“ ruft Pivko und lacht schallend. „Jetzt ist
alles klar! Der Koch Urban habe einmal Typhus ge-
habt und diese Krankheit lasse bekanntlich manchmal
Spuren von Geistesstörung zurüde. Mit dem Unteroffizier,
der angeblich zwei Tage drüben gewesen sei, verhalte es
sich so: Im Juni habe ein italienischer Flieger Flugzettel
über Scurelle abgeworfen. Er, Pivko, habe daraufhin
eine Patrouille ausgeschickt, um einige der Flugzettel ein-
zubringen. Diese Patrouille sei von den Italienern Über-
fallen und zersprengt worden, ihr Führer, Feldwebel
Mlejnek, habe sich versteckt und sei erst nach zwei Stun-
den zurückgekehrt. Aus diesen zwei Stunden hat nun
das kranke Gehirn des Koches zwei Tage gemacht. Uebri-
gens müsse dieses Ereignis im Patrouillenprotokoll ver-
merkt stehen . . •“
Das Patrouillenprotokoll wird gebracht. Oberleutnant
Pivko blättert darin, findet die Stelle, überreicht das
Buch lächelnd dem Major. Hier! Wortwörtlich, wie er es
geschildert habe!
Was nun tun? Ein kurzes Telephongespräch, und die
beiden Unteroffiziere werden freigelassen* Oberleutnant
Pivko geht zu seinen Chargen auf den Beobachtungsstand.
Fragende Blicke empfangen ihn. Er schüttelt kaum merk-
lieh den Kopf: Nichts. Und dann beginnt er über das
Vorfeld am Masobach zu sprechen. Die andern hören
ihm zerstreut zu. Hin und wieder tastet einer nach
den Taschen seiner Bluse — jeder trägt neben Sturm-
messer und Pistole zwei Handgranaten bei sich . . .
3.
Die Nacht vom 13. auf den 14. September 1917,
die kritische Nacht, für die nach den Aussagen des
Koches Urban Verrat und Ueberfall angesetzt waren,
verstreicht* ohne daß sich etwas ereignet hätte. Major
Lacom ist nun völlig überzeugt, daß es sich tatsächlich
nur um eine Wahnidee gehandelt habe. Drei weitere
Tage vergehen — im Tagebuch des Bosniakenbataillons
ist nichts Außergewöhnliches verzeichnet. Am Abend des
17. schlagen drei schwere Granaten kurz nacheinander
vor der Stellung am Masobach ein. Dann wird es dun-
kel. Bei der Feldwache oberhalb von Spera brennt wie
immer weißes Licht — das Signal „Alles in Ordnung.“
Grün bedeutet „Achtung!", rot „Gefahr im Verzüge!"
Aber jetzt ist die weiße Laterne ausgehängt, und Major
Lacom begibt sich nach einem letzten Rundgang zur Ruhe.
Daß zur gleichen Stunde Oberleutnant Pivko und seine
Mitverschworenen schon reisefertig sind, daß über dessen
Befehl die Starkstromhindemisse ausgeschaltet wurden,
weil angeblich Leute der Elektrokompanie draußen ar-
beiteten, ahnt der Major nicht.
Gegen Mitternacht aber erwacht er, von einer rätsel-
haften Unruhe gepeinigt, blickt durch das Fensterchen
seines Unterstandes hinüber zur Feldwache bei Spera.
Das Licht ist weg!
Major Lacom springt auf, stürzt hinaus zum Artil-
leriebeobachter. Der Leutnant sitzt vor seinem Tisch-
chen, den Kopf in der Armbeuge, und schläft. Als ihn
Lacom wachrüttelt, schauen ihn zwei halbgeschlossene
Augen wie geistesabwesend an — vergiftet, mit Mor-
phium betäubt!
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Der Major ruft dem Telephonisten zu, er solle sofort
alle Kompanien alarmieren; aber es zeigt sich, daß die
Leitungen abgerissen, oder — zerschnitten sind.
Verrat 1 Alles, was Urban ausgesagt hat, unheimliche
Wahrheit 1
Mit einem Satz ist Major Lacom bei der Tür, horcht
in die Nacht hinaus. Kein Schuß, kein Gefechtslärm,
nur schwerlastende Stille. Aber da — Schritte und Stim-
men auf dem Wege, der in etwa Steinwurfweite unter-
halb des Bataillonskommandos vorüberführt. Das ist
Pivkol Er ist nicht in der Stellung, ist hier! Und die
mit ihm sind, das sind Italiener!
Der Major wendet sich um. Sein Adjutant ist zur
Stelle. Auch er hat versucht, sich mit den Kompanien zu
verständigen, aber es war nicht möglich, sie zu er-
reichen.
Während sie flüsternd ihre Wahrnehmungen aus-
tauschen, hören sie plötzlich auch oben Stimmen, auf
dem zweiten Weg, der an dem Unterstand vorbeiführt.
Und auch das sind Italiener. Man kann deutlich ein-
zelne Worte unterscheiden.
Die Katastrophe ist da! Ohne einen Schuß abzu-
geben, haben die Bosniaken nicht die Waffen gestreckt,
wenn sie nicht vorher einer Täuschung, einer unerhör-
ten Schurkerei zum Opfer gefallen sind. Diese braven,
tapferen Leute mit den aufrechten Kinderseelen kennen
keinen Verrat. Aber was tun, jetzt, in diesem furchtbaren
Augenblick? Die Stellung überrumpelt, durchbrochen, der
Feind schon weit vorgedrungen, schon auf allen Wegen
nach rückwärts. Hilfe muß gebracht werden. Reserven
sind keine vorhanden, aber vielleicht kann man die
Nachbarabschnitte alarmieren, warnen, kann in Borgo
oder Rocegno ein paar Kompanien auftreiben, um das
Loch zu stopfen, eh* es zu spät ist.
Doch wie aus dieser Falle entkommen? Der Adjutant
flüstert: „Kommen Sie, Herr Major! Es gibt noch einen
dritten Weg zwischen den Weingärten durch. Wenn wir
ihn nehmen, können wir vielleicht ungesehen die Straße
bei Telve erreichen.“
Sie machen sich auf den Weg, arbeiten sich durch
Buschwerk und verwilderte Weinranken. Hinter ihnen
287
erwacht plötzlich Gefechtslärm. Pas muß der Stützpunkt
sein, den Oberleutnant Knott kommandiert. Er ist ring-
förmig betoniert und nicht so ohneweiters zu nehmen.
Und nun blitzt es auch vor ihnen auf, heult langgezogen
durch die Nacht: Die gußeisernen Kartaunen der Bat-
terie neben der Torrente feuern, die braven Donner-
büchsen aus dem Jahre 18611 Ihre Lagen bollern in end-
losen Zeitabständen los und die Granaten mit den Blei-
mänteln brummen wie große Käfer. Aber was tut das
plles? Jemand muß sie alarmiert haben, die Nachbar-
abschnitte wissen also, was bei Carzano geschehen ist.
Ein Trost in dieser fürchterlichen Stunde!
Nach einem Dauerlauf von fünf Kilometern, halbtot
vor Erschöpfung, kommen die beiden Offiziere nach
Borgo. Hier ist das Brigadekommando; aber Oberst
Günste hat auch nur eine Handvoll Bewaffnete zur
Verfügung. Einerlei! Major Lacom läßt die Mannschaft
eines Elektrozuges alarmieren, Leute vom Train, von
den Magazinen müssen her, alles, was ein Gewehr tra-
gen kann. Und dann kommt der Kern dieser bunten
Truppe, eine Halbkompanie Rainer vom Infanterieregi-
ment Nr. 59.
Der Major hält an diese Halbkompanie eine kurze
Ansprache, erzählt den Leuten, welch furchtbares Unglück
sein Bataillon getroffen hat. „Salzburger!", ruft er,
„werden wir's derpacken?"
„Mir werdend derpacken, Herr Major!" ist die
Antwort.
Dann macht sich die kleine Kolonne auf den Weg
talaus, der Katastrophe entgegen . . .
4.
Mittlerweile ist in der Stellung bei Carzano eine
Verrätertat abgerollt, wie sie in der Geschichte aller
Zeiten und Völker kaum ein Gegenstück findet; denn
was Oberleutnant Dr. Pivko an Hinterlist, Tücke und
Brutalität entwickelte, kann auch das weitherzigste Ver-
ständnis für nationale Leidenschaften nicht entschuldigen.
Schon am Isonzo ist Oberleutnant Pivko mit dem
Feinde im Einverständnis gewesen. Dort, wie auch am
Werk Verle mit Tonezzaspifze
fHä ‘ ***&* ,j
Werk Lusern
(Hochfläche
von Lavarone)
Fronfgraben
und
Batterieblock
Monte Sief, wo er, mit seiner Kompanie völlig einge-
schlossen, sich leicht hätte ergeben können, war er der
Vermittler eines Großteils der Post der tschechischen
Irredenta. Wie er selbst in seinen Erinnerungen bekennt,
jst er vom ersten Augenblick seiner Kriegsdienstleistung
an entschlossen gewesen, sich nicht persönlich in Sicher-
heit zu bringen, sondern der Sache des Feindes mög-
lichst lange zu dienen und dann das „Werk" mit einen
Verrat ganz großen Stils zu krönen. Dieser Schlußpunkt
sollte Carzano sein.
Deshalb trachtete er seit Jahr und Tag, sich durch
Tüchtigkeit und Mut das Vertrauen seiner Vorgesetzten
M erwerben. Als nun Oberst Vidale, der erfahrene
Kommandant des Bosniakenbataillons V/l die Absicht
äußerte, im September 1917 auf Urlaub zu gehen, war
für Pivko der Zeitpunkt des Verrates festgelegt. Er
hoffte, vertretungsweise mit dem Kommando betraut
zu werden. Nun aber war ihm Major Lacom dazwischen-
gekommen. Es galt daher, erst diesen wegzuräumen,,
sei es durch Gefangennahme, Tod oder Verwundung —
der Ausflug zur Kirche von Scurelle und das Feuer der
Italiener auf Pivkos Signale hin, wenn Lacom seinen
Unterstand verließ, waren Wege dazu — sei es, dem
„Schicksal" nachhelfend, durch einen Giftanschlag. Die
Anzeige des Koches Urban zwang ihn nun, rasch zu
handeln. Und so kam es zu den Ereignissen, die eine
italienische Broschüre den „Traum von Carzano" nannte:
Nachdem die Bosniaken seiner Kompanie reichlich
Schlafmittel in den Tee und Opiumzigaretten erhalten
haben, macht sich Pivko mit einem Teil seiner Spieß-
gesellen auf den Weg und trifft um ungefähr 11 Uhr
nachts bei den Italienern ein.
Dort ist schon alles bereit. Fünf Bataillone Infan-
terie sind als Stoßgruppe bestimmt, neun weitere stehen
dahinter, um nach gelungenem Durchbruch im Suganer-
tal aufwärts gegen Trient zu marschieren. Kavallerie und
Radfahrer sollen den „Traum von Carzano" blitzschnell
zu einer uferlosen Katastrophe steifem.
Aber alle diese Vorbereitungen scheinen den Ita-
lienern noch nicht genügend, um mit dem gefürchteten
Gegner fertig zu werden. Vier Abteilungen Arditi, von
19
289
Pivko und drei anderen Verrätern geführt, tragen Bos-
niakenuniformen und haben deutschsprechende Offiziere
und Mannschaften unter sich, um die Täuschung bis zum
letzten durchführen zu können» Daß es möglich war,
den auf solchen Mitteln gegründeten sicheren Sieg der
Italiener in eine schwere Niederlage zu verwandeln,
wird immer ein unvergängliches Verdienst des tapferen
Majors Lacom und seiner Leute, dann aber auch
der Besatzungen und Reserven der Nachbarabschnitte
bleiben.
Die soldatisch nicht gerade ruhmvolle Aktion be-
ginnt mit dem Einbruch der vier italienischen Sturm-
gruppen in die Stellung am Masobach beiderseits der
Ortschaft Carzano, dort, wo die Frontabschnitte der
Bosniaken und der Deutschmeister zusammenstoßen.
Die Feldwachen werden überrumpelt und gefangenge-
nommen, was leicht zu machen ist, weil die armen Bos-
niaken nicht nur ihren eigenen Uniformen gegenüber-
stehen, sondern auch von Pivko und den anderen Ver-
rätern zur Waffenstreckung aufgefordert werden. Sie
sind ganz wirr und gehorchen schweigend wie immer.
Doch einer dieser Braven, ein mohammedanischer
Bosnier, begreift blitzschnell, um was es sich handelt,
wirft das Gewehr nicht weg, sondern preßt es an sich,
reißt sich von den Italienern, die ihn fassen, los und
verschwindet zwischen den Weinstöcken. Diesem Manne
ist es zu verdanken, daß nicht das ganze Bataillon
ahnungslos in die Hände der Italiener fiel und auch
die Nachbarabschnitte alarmiert werden konnten.
An anderen Stellen spielen sich scheußliche Szenen
ab. Deutschmeister, Bosniaken und Standschützen, die
als Patrouillen im Vorfeld sind und versuchen, über
den Einbruch des Feindes Klarheit zu schaffen, werden
in deutscher Sprache angerufen und rundweg niederge-
macht. Einer Feldwache der Deutschmeister, die auf
die ihr zugerufene Frage: „Was seid ihr?" antwortet:
„Deutschmeister sän mal", wird die höhnische Erledi-
gung zuteil: „Italienische Gefangene seid ihr!"
So herrscht in und um Carzano allgemeine Verwir-
rung, auch bei den Italienern. Von den vier Stoßgrup-
pen kommen nur zwei ziemlich weit; das sind die von
290
Pivko und dem Feldwebel Mlejnek geführten, die bei-
derseits des Bataillonsunterstandes vorgehen und fast
die Ortschaft Telve erreichen. Dort treffen sie auf den
tapferen Widerstand einer Halbkompanie der Reutte-
Standschützen und werden in ein Feuergefecht verwickelt.
Umsonst dringt Pivko in den Leutnant, der die italie-
nische Spitze befehligt, er möge doch unbesorgt angrei-
fen, die paar Gegner niederrennen und nach Borgo mar-
schieren. Der Leutnant erklärt, er habe den strengen
Befehl, erst den Durchbruch der südlichen Nachbar-
gruppe abzuwarten. Nur die beiden Gebirgsgeschütze bei
Telve will er erbeuten; aber diese Halbbatterie wehrt
sich im Verein mit etwa 15 Standschützen so heftig, daß
auch hier der Vormarsch stockt.
So steht der „Traum von Garzano" ziemlich ratlos
und verworren da, als der Morgen des 18. September
über den Bergen zu glühen beginnt. Nebel deckt die
Talsohle. Aus der Stellung bei Castelnuovo dringt noch
immer Gefechtslärm an das Ohr der Wartenden. Wes-
halb die Öberösterreichischen Jungschützen nicht über-
rannt wurden, obgleich doch zwei Brigaden hinter Gar-
zano stehen, ist Pivko rätselhaft. Er beginnt langsam
selbst unsicher zu werden.
Mittlerweile ist die von Major Lacom geführte Ko-
lonne in hastigen Abmarsch begriffen. Bald nach der
Torrente, bei der noch immer die wackeren Öler-Kano-
nen ihre langsame Arbeit verrichten, knallt es aus dem
Nebel. Der Feind ist dal
In Schwarmlinien aufgelöst, gehen die dreihundert
Mann zum Angriff vor, treiben die Italiener vor sich
her. Die Unsichtigkeit der Morgenluft, das lange zweck-
lose Warten, der immer heftiger werdende Gefechtslärm
in ihrem Rücken — alles das hat die Eindringlinge
nervös gemacht. Jetzt glauben sie sich einer erdrücken-
den Uebermacht gegenüber, sehen da und dort neue
Kolonnen anmarschieren, geben das Spiel auf. Erst lang-
sam, dann immer rascher weichen sie gegen Garzano
zurück.
Major Lacom trachtet, so bald als möglich Verbin-
dung mit den oberösterreichischen Schützen zu bekom-
men. Er findet unterwegs eine Menge Versprengte sei-
ir
291
nes Bataillons, saiffmelt sie, geht die Straße entlang
gegen Castelnuovo und erreicht endlich den Komman-
danten der Oberösterreicher, Major Gürtler. Und nun,
da auch die Jungschützen im Bilde sind, beginnt der
konzentrische Angriff gegen Carzano, der um 9 Uhr
vormittags mit der völligen Niederlage der Italiener
endigt.
Mit der Erstürmung der Ortschaft selbst durch
Deutschmeister, Standschützen, die Gruppe Lacom und
dem Rest der Bosniaken ist der „Traum“ ausgeträumt
und der Verrat des Oberleutnants Dr. Ludjevit Pivko
endgültig gescheitert. Als aber am nächsten Tage ein
Bataillon württembergischer Jäger, die zu Demonstra-
tionszwecken in Südtirol sind, mit Lastkraftwagen nach
Carzano gebracht werden und den Italienern in einem
schneidigen Vorstoß auch die Feldwachenstellungen bei
Spera entreißen, nimmt die ohnedies fragwürdige An-
gelegenheit des Verräters eine neue groteske Wendung:
Man beschuldigt ihn, nicht Oesterreich, sondern Italien
verraten zu haben und setzt ihn in Haftl Man sagt, er
habe um die Anwesenheit reichsdeutscher Truppen in
Südtirol gewußt und es verschwiegen, ja die große
Offensive der Mittelmächte drohe überhaupt nicht vom
Isonzo her, wie er behaupte, sondern von den Sieben
Gemeinden!
*
Fünf Wochen lang bleibt der ehemalige öster-
reichische Reserveoffizier Dr. Pivko in Haft. Er weiß,
was ihm bevorsteht, wenn der Anhieb der Deutschen
und Oesterreicher-Ungarn wirklich aus Südtirol kommt:
der Galgen. Aber er weiß auch, daß bei Flitsch und
Tolmein sich die Sturmwolke der XIV. deutschen Armee
sammelt, er berichtet eingehend darüber. Man glaubt ihm
nicht. Das ist der Lohn für den „Traum von Carzano“.
Da brüllen am 24. Oktober 1917 die Geschütze am
oberen Isonzo los, und eine Stellung der Italiener nach
der andern bricht unter den Streichen der Mittelmächte
zusammen. Der „Traum von Carzano“ verblaßt rasch
unter den furchtbaren Flammen des „Wunders von Kar-
292
freit“* Pivko wird freigelassen. Er darf sogar eine „süd-
slawische Legion“ bilden, die später am Piave auftaucht.
Der Großteil der Alpenfront schmilzt rasch ab.
Die Frucht zweier Kampfjahre größten Heldentums pnd
schwerster Entbehrungen reift in einem siegreichen Vor-
marsch, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht gesehen
hatte: Vom Isonzo an den Piave1
Ende.
293
Ein Nachwort an den Leser
Ich bin mir bewußt, daß die vorliegende Schilderung
des Alpenkrieges in den Jahren 1915/17 viele Mängel
und Fehler aufzuweisen hat Ein Geschehen von solcher
Größe auszuschöpfen, kann dem Laien nicht gelingen,4
es bleibt immer den Historikern vorbehalten, das ge-
schichtliche Ereignis mit jener Genauigkeit nachzuzeich-
nen, wie es unsere Nachfahren verlangen werden.
Dieses Buch soll aber mehr der Mitwelt, den noch
lebenden Soldaten des Alpenkrieges und der Jugend
dienen — meinen Kameraden als Erinnerung an eine
Zeit, die ihresgleichen nicht hat an heldischer Größe,
den Söhnen meiner Kameraden aber als ein schlichter
Hinweis auf die Taten ihrer Väter. Ein Volk, das sich
selbst achtet, kann seine Vergangenheit nicht aus seinem
Dasein streichen, lind weil das deutsche Volk in allen
seinen Stämmen so ruhmreichen Anteil hat an der Ver-
teidigung der Alpenländer, wird die Erinnerung daran
nicht als ein müßiges Spiel betrachtet werden.
Welcher Gesinnung die Männer waren, die auf den
Tiroler und Kärntner Bergen dem Feindesansturm trotz-
ten, das — glaube ich — entscheidet allein über Wert
oder Unwert ihres Tuns. Wir sind im Weltkrieg unter-
legen. Doch immer wird gelten, was der große Dichter
Josef Weinheber in den erhabenen Versen aufklingen
ließ:
Ein armes Dasein rettet sich ewig in
des feilen Tages feileres Erbe: Groß
ist nur das Opfer unser. Selbst die
Erde verweht und die Götter sterben;
doch Dauer hat der Tod. Die Vergeblichkeit
hat Dauer. Dauer" hat, die uns hüllt, die Nacht.
Zu fragen ziemt uns nicht. Uns ziemt zu
fallen; jedwedem auf seinem Schilde.
Fritz Weber,
Inhalt
Seife
7
Eingang
Das erste Jahr
Lavarone-Folgaria.............................. 24
Um den Col di Lana.................... ... 49
Zwischen Himmel und Erde....................... 98
Am Karnischen Kamm ................... ... 148
West- und Südfirol.............................177
Das zweite Jahr
Dies irae........... .... ..............199
Dolomitenkämpfe 1916...........................246
Ins ewige Eis................................ 255
Das dritte Jahr
Dynamit.................................... 271
Erstarrte Fronten............................ 277
Der Traum von Carzano .........................281
Ein Nachwort an den Leser.......................... 294
Ein Nachwort an den Leser..................... 294
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