262 Drittes Kapitel Das Unterdrückungssystem in Rußland § 22. Die Reaktion unter Alexander 1. und Nikolaus 1. Die absolutistisch-mystische Reaktion, die 1815 auch in Rußland, dem dritten Mitglied der »Heiligen Allianz«, einsetzte, schlug mit dem ganzen Lande auch das größte Zentrum der Diaspora in Fesseln. Da auf Grund der Beschlüsse des Wiener Kongresses dem Zaren reich der größere Teil des Herzogtums Warschau als »Königreich Polen« angegliedert wurde (unten § 24), ballten sich in den west lichen Provinzen Rußlands etwa zwei Millionen Juden zusammen, die nun zum Gegenstand verschiedenartiger, durch die jeweilige Richtung der allgemeinen Reichspolitik bestimmter Experimente wurden. Nach seiner Rückkehr aus Wien hielt allerdings Alexan der I., der die von den Juden während des Krieges gegen Napoleon geleisteten Dienste (oben, § 12) noch in frischer Erinnerung hatte, an seinem Versprechen, die jüdischen Lebensverhältnisse zu ver bessern, eine Zeitlang fest. Mit der Betreuung der Juden wurde der Kultus- und Volksaufklärungsminister Fürst Alexander Golizyn, ein mystisch veranlagter Pietist, der als solcher die Leitung der russischen »Bibelgesellschaft« innehatte, beauftragt. Seinem Ministerium wurde ein aus gewählten jüdischen Vertretern bestehendes Beratungsorgan angeschlossen. Obwohl diese im August 1818 in Wilna von Kahal- repräsentanten aus elf Gouvernements gewählte »Deputation des jüdischen Volkes«, an deren Spitze der bekannte Heereslieferant Sundei Sonnenberg aus Grodno stand, in Petersburg sieben Jahre lang eine ständige Kanzlei unterhielt, wurde sie doch kaum zu Rate gezogen. Die Petersburger Regierung dachte nämlich nicht mehr daran, die vom Zaren angekündigten Erleichterungen durchzuführen, sondern war eher geneigt, auf die am Vorabend des Krieges von 1812 provisorisch außer Kraft gesetzten repressiven Bestimmungen des