37 Matheslus sah den Mann, dessen sie zu lange hatte harren müssen, näher und naher kommen, ohne daß ihr Herz ihm jauchzend entgegen geflogen wäre. Sie konnte sich vorstellen, daß er auf halbem Wege wieder umkehren würde, ohne daß bei diesem Gedanken ein Gefühl tödlicher Angst ihre Kehle geschnürt hätte. — Sie standen einander gegenüber und reichten sich die Hände, ein wenig scheu und beklommen, aber ohne Vorwurf und mit guten, freundlichen Worten. Von dem, was sie einander gesagt hatten, was sie während dieser letzten sechs Jahre von der ersten Wiederbegegnung geträumt, kanr nicht eine einzige Silbe über ihre Lippen. Von den Küssen, mit denen sie sich in diesen Träumen erstickt, wurde keiner geküßt, und statt der unnennbaren Seligkeit durchzitterte ihre Seelen ein unnennbares Weh. Sie gingen auf des Doktors Bitte in den Garten und von da auf schlüpfrigem Pfad in den Wald, hinauf bis zu dem Linden-Pavillon, der ein Zeuge ihres ersten Glücksrausches und der Schauplatz ihres wehen Scheidens gewesen. Aber es war wie eine Friedhosswanderung. Wohl tauchten die Erinnerungen auf, aber unter dem schweren, bleigrauen Novemberhimmel wurden sie zu farblosen'Schemen. Ein widriger Moderduft stieg ^ wie Odem der Verwesung beklemmend aus dem Boden empor, und als sie ihre Gesichter dem Tale zuwandten, dessen Lieblichkeit sie hier oben so oft entzückt hatte, peitschte ihnen ein eiskalter Regen Augen und Wangen. Das Wort, das zu sprechen der Doktor so viele, viele Meilen gereist war — das Wort, das Helene Mathesius vielleicht trotz alledem von seinen Lippen ersehnte, wie hätte es gefunden werden sollen unter dem Druck dieser Stimmung! Als sie wieder bei der Villa angelangt waren, bei beginnender Dämmerung, die alle Trübseligkeit des Spät¬ herbsttages bis ins unerträgliche steigerte, da glaubte der Mann die traurige Ge¬ wißheit erlangt zu haben, daß in dem Herzendes Mädchens alle Liebe erstorben sei. Sie war ihrerseits gewiß, sich ihm ohne ihren Willen so häßlich, unliebens¬ würdig und widerwärtig gezeigt zu haben, daß das winzige Fünkchen, dessen Wieder¬ aufglimmen ihn heute hierher geführt, unter dem erkältenden Hauche notwendig für immer erloschen sein mußte. Er sprach von seiner Absicht, in der Frühe des nächsten Tages seine Reise fortzusetzen, und nach einem frostigen Dank für seinen freundlichen Besuch sagte sie ihm Lebewohl. Ihre Hände glitten auseinander ohne Druck; hierhin und dort¬ hin trennten sich ihre Wege, und keines von ihnen ahnte, wie sterbensschwer dem andern bei diesem Scheiden das Herz im Busen lag. — — — Eine beißende Helligkeit stach am folgenden Morgen in Helenens Augen, die sich erst nach langem Weinen zu spätem Schlummer geschlossen. Verwundert richtete sie sich im Bette auf, nnd in einem tiefen Aufatmen weitete sich ihre Brust, als sie durch das unverhängte Fenster in die Landschaft hinaussah, die über Nacht wie durch ein Märchenwunder verwandelt schien. Alle dunklen, schwermütigen Wolken waren verschwunden, und unter wolkenlosem, lichtblauem Himmel gleißte und glitzerte allüberall blendendes Weiß. Der erste Schnee war gefallen, und mit dem plötzlich einsetzenden Frost hatte die Sonne ihre Herrschaft wieder angetreten, sieghaft, strahlend und lachend, wie in eitel Fröhlichkeit über die törichten, kleingläubigen Menschen¬ kinder, die nur noch an Welken und Vergehen zu denken vermocht hatten, weil es ihr gefallen hatte, sich ein wenig zu verstecken. „Ein Leichentuch!" sagte Helene vor sich hin, weil ein selbstquälerischer Trotz sich noch in ihr auflehnte gegen die Hoffnung, die da auf goldenen Strahlenbündeln hereinflutete. Aber der Trotz hielt nicht stand, denn da war eine Stimme in ihrer Seele, die ihr zuraunte, daß unter diesem weißen Tuche nicht eine Leiche, sondern ein holdes Kindlein verborgen sei, das eines Tages jauchzend seine jungen Glieder regen und die Welt aufs neue mit Blüten überstreuen würde.