is®«^M*^^^®ssÄiÄai^Ä^ifÄÄ^Ä! I
W ^1
11
'
mm
SIMON DUBNOW
Weltgeschichte
des jüdischen Volkes
Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart
In zehn Bänden
ORIENTALISCHE PERIODE
Band 1:
Älteste Geschichte
SIMON DUBNOW
Die älteste Geschichte
K * • A | v
» » \j t» w
des jüdischen Volkes
ORIENTALISCHE PERIODE
Von der Entstehung des Volkes Israel bis zum Ende
der persischen Herrschaft in Judäa
Autorisierte Übersetzung aus dem Russischen
von
Dr. A. Steinberg
VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
Dieses Werk ist das Ergebnis langjähriger Arbeit. Vor dreißig
Jahren, als der Verfasser an die Ausarbeitung eines speziellen Werkes
in russischer Sprache herantrat, das die Geschichte der osteuropäischen
Juden zum Gegenstände haben sollte1), faßte er den Plan, ihm als
Einleitung einen allgemeinen Abriß der jüdischen Geschichte auf
Grund der einschlägigen Literatur vor auszuschicken. Indessen, je mehr
sich der Verfasser in diese einführende Arbeit vertiefte, desto klarer
wurde es ihm, daß seine Auffassung der Hauptprozesse der jüdischen
Geschichte von der Grundauffassung, wie sie sich im Laufe des
XIX. Jahrhunderts in der westlichen „Wissenschaft des Judentums4*
eingebürgert hatte, wesentlich ab weicht (vgl. die folgende Einleitung).
Dies eben veranlaßte ihn, den Schwerpunkt seiner Arbeit allmählich
von den speziellen Fragen der jüdischen Geschichte in das Gebiet
der allgemeinen jüdischen Historiographie zu verlegen. So kam im
Laufe vieler Jahre diese „Geschichte44 zur Entstehung: zunächst in
gedrängter Form (dreibändige russische Ausgabe der „Allgemeinen
Geschichte der Juden44, 1901—1905) und dann in einer aus-
führlicheren und bis zu unserer Epoche reichenden Darstellung
(die ergänzte Ausgabe der älteren Geschichte, 1910, und die neueste
Geschichte, 1914)- Zu Beginn des Jahres 1914 wurde eine neue
vollständige Umarbeitung der bereits früher erschienenen Bände
der „Geschichte44 in viel weiterem Umfange und auf Grund eines
streng durchgeführten allgemeinen Planes in Angriff genommen.
Diese Arbeit hat sieben Jahre, die schicksalsschweren Jahre des
Weltkrieges und der russischen Revolution (1914—1921), 111 An-
spruch. genommen. In diesen Jahren, als das Experiment der
*) Einzelne Teile des Werkes sind in Form von Monographien und histo-
rischen Mitteilungen“ in den jüdisch-russischen Zeitschriften der Achtziger und
Neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erschienen („Geschichte des Chassi-
dismus“ u. a.).
V
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Vivisektion, dem die Kulturmenschheit unterzogen wurde, aller
Welt das entblößte Knochengerüst des Geschichtsprozesses selbst
sichtbar machte und die inneren Triebkräfte längst vergangener
geschichtlicher Umwälzungen offenbarte, wurde es namentlich dem
jüdischen Geschichtsschreiber möglich, an der eigenen Person zu
erfahren, was seine Ahnen im Altertum und im Mittelalter erleben
mußten. ... In der letzten Redaktion schwoll die „Weltgeschichte
des jüdischen Volkes“ bis zu zehn Bänden an, die den gesamten
geschichtlichen Umkreis von der Entstehung des Volkes Israel bis
zum letzten Weltkriege umspannen. Die ungünstigen Zeitläufte
verhinderten vorerst die Veröffentlichung der druckfertigen Bände,
und erst jetzt ist es möglich geworden, sie gleichzeitig in russischer,
deutscher und hebräischer Sprache erscheinen zu lassen 1).
Zwei Gründe waren es, die den Verfasser zur Erweiterung des
Umfangs dieser Geschichte in ihrer letzten Redaktion veranlaßten:
Erstens das Bestreben, in den Text selbst die wichtigsten Forschungs-
ergebnisse und die bedeutsamsten Quellenfunde mitaufzunehmen, die
in den letzten Jahrzehnten bekanntgeworden und in den älteren
Werken über jüdische Geschichte unberücksichtigt geblieben sind
(in der erweiterten, posthumen Ausgabe einiger Bände der „Ge-
schichte“ von Graetz ist von diesen Quellen nur einiges, auf das
Mittelalter sich Beziehendes, berücksichtigt worden); zweitens die
Notwendigkeit, das wissenschaftliche Rüstzeug des Buches noch
weiter auszubauen, um die historischen Schlußfolgerungen, in denen
sich der Verfasser mit seinen Vorgängern oder Zeitgenossen, sei es
infolge Verschiedenheit der allgemeinen Auffassung oder aber in-
folge abweichender Verwertung der Quellen, in Widerspruch setzt,
näher zu begründen. Jedoch sind auch dieser Erweiterung des Textes
und der Vermehrung der Fußnoten gewisse Schranken gesetzt, denen
ein synthetisches, die allgemeine Geschichte behandelndes Werk un-
bedingt Rechnung tragen muß.
Berlin, im März 1925.
Der Verfasser
1) Die deutsche dreibändige Ausgabe der „Neuesten Geschichte des jüdischen
Volkes“, die den abschließenden Zyklus des gesamten Werkes darstelit, ist
1920—2 3 im Jüdischen Verlag, Berlin, erschienen.
.................................................................................................................................................................... ' ' ' '
Inhaltsverzeichnis
Seite
VORWORT zur deutschen Ausgabe...................... V
EINLEITUNG. I. Allgemeine Auffassung der jüdischen
Geschichte .......... XIII
II. Periodisierung und Stoffverteilung . . XXIII
Schlußbemerkung............. XXX
ERSTES BUCH: DIE ENTSTEHUNG DES VOLKES ISRAEL
(XX.—XI. Jahrhundert vor der christlichen Ära)
Erstes Kapitel. Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten
§ i. Die Wanderungen der Semiten und das vorisraelitische
Palästina............................... 3
§ 2. ,,Ibrim4‘ und Israel. Sagen über die Stammväter in Kanaan 11
§ 3. Wüste und Ägypten. Moses ............................... 17
Zweites Kapitel. Die Eroberung Kanaans und die Richterzeit
§ 4- Kanaan und Trans Jordanien............................2 5
§ 5. Die Eroberung Trans Jordaniens und Kanaans .... 29
§ 6. Die Stammesverfassung und die „Schoftim“. Die Hege-
monie Ephraims............................................. 36
§ 7. Der Kampf mit fremden Eindringlingen. Monarchistische
Tendenzen (Gideon, Abimelek)........................ 4o
§ 8. Das Philisterjoch und das Streben nach staatlicher
Vereinigung......................................... 45
§ 9. Die Königswahl Sauls............................... , . 5o
Drittes Kapitel. Die ursprüngliche Kultur Israels
§10. Die babylonisch-kanaanitische Grundlage................. 54
§11. Die ursprüngliche Religion Israels; Jahveismus und
Baalismus . ....................................... 61
ZWEITES BUCH: DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH UNTER
DEN ERSTEN KÖNIGEN (um io3o—g3o)
§ 12. Allgemeine Übersicht................................. 73
Erstes Kapitel. Das Königtum Sauls (um 1030—1010)
§ i3. Die Feldzüge gegen die Philister und die Amalekiter . 76
§ 14. Das Eingreifen des Stammes Juda und das Hervortreten
Davids . .......................................... 81
§ i5. Der Kampf Sauls mit David............................. 87
§16. Sauls Ende............................................. 91
VII
Inhaltsverzeichnis
Seite
Zweites Kapitel. Das Großkönigtum Davids (um 1010—970)
§ 17. Esbaal und David....................................... 94
§ 18. David — König von ganz Israel. Das Zentrum in Jerusalem 97
§ 19. Die Kriege Davids und die Erweiterung des Landgebietes 100
§ 20. Die inneren Verhältnisse. Das Königshaus . . . . . . io5
§ 21. Der Aufstand Absaloms und die Verschwörung Sebas . 110
§ 22. Der Streit um die Thronfolge ........... 116
Drittes Kapitel. Die Regierung Salomos (um 970—930)
§ 2 3. Die bürgerliche und wirtschafthche Verfassung . . . . 119
§ 24. Die Errichtung des Tempels in Jerusalem.............12/;
§ 2 5. Die Licht- und Schattenseiten der Regierung Salomos . 127
§ 26. Politische Schwierigkeiten...........................i3i
DRITTES BUCH: DIE PERIODE DER ZWEI REICHE
(um g3o—720 vor der christlichen Ära)
§ 27. Allgemeine Übersicht.................................137
Erstes Kapitel. Der Zwiespalt und die Zeit der Wirren
(um 930—885)
§ 28. Die Reichstrennung ......................................142
§ 29. Jerobeam und seine Reform............................i45
§ 3o. Rehabeam und seine Nachfolger........................147
§ 3i. Dynastische Wirren im nördlichen Reiche.............1.49
Zweites Kapitel. Die Omriden in Samarien und das Bündnis der
beiden Reiche (um 885—8U2)
§ 32. Omri und die Gründung Samarias.......................iÜ2
§ 33. Ahab und Isebel; die phönizische Kultur..............i54
§ 34. Der Prophet Elias und sein Kampf um die nationale
Kultur..................... . , i58
§ 35. Kriege mit den Aramäern; das Gespenst Assyriens . . . 161
§ 36. Ahab und Josafat. Der Tod Ahabs . .......................i65
§ 37. Die Nachfolger Ahabs. Der Prophet Elischa............168
§ 38. Die Auflehnung Jehus und der Untergang der Omriden 173
§ 3p. Atalja und die Palastrevolution in Juda..............176
Drittes Kapitel. Die Jehuiden in Samarien und der Kampf der
beiden Reiche (8U2—7U0) .
§ 4o. Jehu, Joahas und Joas in Samarien ........ 179
§ 4i- Jehoasch, Amazia und Usia in Juda....................182
§ 42. Jerobeam II. und die Blütezeit Samariens. Der Prophet
Arnos .... . . . . . . . . , ■ , , , , , , 187
Viertes Kapitel. Der Einbruch Assyriens und der Untergang des
nordisraelitischen Reiches (740—720)
§ 43. Der Kampf um die Krone und die Einmischung Assyriens.
Der Prophet Hosea............................,,191
VIII
Inhaltsverzeichnis
Seite
§44« Das Bündnis gegen Assyrien und der Verlust der nörd-
lichen Provinzen des israelitischen Reiches.......195
§ 45. Der Untergang Samariens.............................199
Fünftes Kapitel. Die materielle und geistige Kultur in der Periode
der Reichstrennung
§ 46. Das wirtschaftliche und häusliche Leben ............2o5
§47* Gesellschaft und Staat ..............................2i3
§ 48. Religion und Kultus.................................218
§ 49* Die Entwicklung des Prophetismus....................225
§ 5o. Sprache und Schrifttum; die Urquellen der Bibel . . . 287
§ 5i. Die ersten Schichtungen des biblischen Schrifttums . . 2 44
VIERTES BUCH: DAS REICH JUDA UNTER DER
OBERHOHEIT ASSYRIENS UND BABYLONIENS
(720—586 vor der christlichen Ära)
§ 52. Allgemeine Übersicht................................259
Erstes Kapitel. Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
(720—608)
§ 53. Die Reform des Königs Hiskia........................263
§54. Auflehnung gegen Assyrien; der Einfall Sanheribs . . 266
§55. Das geistige Leben unter König Hiskia................275
§ 56. Die Gegenreform des Königs Manasse..................279
§57. Die Regierung Josias und der Triumph der Propheten-
partei . .......................................2 83
§58. Die Restaurierung des Gesetzes (Deuteronomium) . . . 287
§ 59. Der Niedergang Assyriens und der Kampf mit Ägypten . 294
Zweites Kapitel. Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des
Reiches Juda
§60. Jojakim als Vasall Ägyptens; Jeremia . ..............299
§ 61. Der Kampf mit Babylonien; die Gefangenschaft Jojakims 3o3
§ 62. Zedekia und der Kampf der Parteien in Jerusalem . . 309
§ 63. Der Aufstand und der Fall Jerusalems................3i2
§64. Der Statthalter Gedalja; Auswanderung nach Ägypten . 317
FÜNFTES BUCH: DAS BABYLONISCHE EXIL UND DIE
PERSISCHE HERRSCHAFT (586—332 vor der christlichen Ära)
§65. Allgemeine Übersicht.................. . . . . ... 325
Erstes Kapitel. Das babylonische Exil (586—537)
§66. Die judäischen Verbannten unter Nebukadrezzar . . . 332
§67. Die Entwicklung des Schrifttums; der Prophet Jeheskel 336
§ 68. Die Siege Kyros’ und die Hoffnungen der Judäer . . . 343
§ 69. Der Prophet der Wiedergeburt (Jesaja II)............345
§ 70. Der Fall Babyloniens und die Befreiung der Judäer . . 351
IX
Inhaltsverzeichnis
Seite
Zweites Kapitel. Die erste Restauration; Serubbabel und Josua
§ 71. Die Lage in Judäa unter Kyros und Kambyses . . . . 357
§ 72. Der neue Tempel; die Propheten Haggai und Sacharja 361
Drittes Kapitel. Die zweite Restauration: Esra und Nehemia
§ 73. Die inneren Mißstände und die Verarmung; der Prophet
Maleachi..........................................367
% § 74. Esra und der Kampf gegen die Mischehen...............370
§ 75. Nehemia und die Befestigung Jerusalems ...... 374
( § 76. Die Veröffentlichung der Thora als der Verfassung Judäas 378
, § 77. Der Isolierungsprozeß. Die Absonderung der Samaritaner 381
Viertes Kapitel. Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie
§ 78. Das zweite Jahrhundert der persischen Herrschaft . . . 385
§ 79. Die Diaspora in Babylonien und im Inneren Persiens . 38g
§ 80. Die ägyptische Diaspora. Die Kolonie in Elephantine . 395
Fünftes Kapitel. Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des
Judaismus
§81. Selbstverwaltung und theokratische Verfassung . . . . 4o5
§ 82. Das wirtschaftliche Leben und die Volkskultur . . . . kn
§ 83. Die letzte Thoraredaktion........................ , 4i5
§84« Die geschichtlichen und prophetischen Bücher; der Kern
des Kanons..........................................4^3
§ 85. Religiöse Lyrik. Die Psalmen.................... . , 432
§ 86. Die religiöse Philosophie (Das Buch Hiob) ..........439
§ 87. Weltweisheit und Moral (Sprüche).......................444
Anhang: Ergänzungen und Exkurse
Note 1: Die Untersuchungsmethoden in der ältesten Geschichte
Israels.......................................... 453
Note 2: Der chronologische Ausgangspunkt der israelitischen
Geschichte.........................................456
Note 3: Die Zeit des Auszugs aus Ägypten.....................460
Note 4- Die Primärformationen in der geistigen Kultur Israels 461
Note 5: Die Chronologie der Königszeit..................... 463
Note 6: Die Zusammensetzung der Thora und der Geschichts-
bücher ......................................................467
Note 7: Von den Einwirkungen des Parsismus...................470
BIBLIOGRAPHIE. Quellen- und Literaturnachweise . . . . 472
NAMEN- UND SACHREGISTER......................................481
X
osua
. 357
a 361
nia
X
, 367
. 37o
. 374
s 378
r 38i
larchie
. 385
. 38g
• 395
n,g des
EINLEITUNG
Z. Allgemeine Auffassung der jüdischen Geschichte
Weltgeschichte des jüdischen Volkes“ — eine vielleicht un-
gewöhnliche Bezeichnung, die jedoch dem Inhalte und
dem Umfange dieses ungewöhnlichen Teiles der Mensch-
heitsgeschichte vollauf entspricht. Von „Weltgeschichte“ spricht
man sonst im Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte der
Kulturvölker in der ganzen Welt, zum Unterschiede von der Ge-
schichte einzelner Länder und Völker. Indessen haben sich die
Geschicke des jüdischen Volkes so gestaltet, daß es selbst seine
eigene Weltgeschichte im buchstäblichen Sinne des Wortes besitzt:
umfaßt sie doch die ganze Kultur weit in ihrer nahezu gesamten
räumlichen Ausdehnung (mit Ausnahme von Indien und China)
sowie das geschichtliche Dasein der Menschheit in seinem ganzen
zeitlichen Verlauf. Das Judentum stellt in der Tat einen geschicht-
lichen Mikrokosmos dar, und mit gutem Rechte darf man daher
von einer Weltgeschichte des jüdischen Volkes reden.
Wie in der Weltgeschichte der Menschheit, so muß auch in der
Weltgeschichte des Judentums die synthetische Methode die vor-
herrschende sein. Die Klarlegung der allgemeinen Ziele und Wege
des geschichtlichen Lebens im Wandel der Zeiten und Länder, die
Aufdeckung des organischen Zusammenhangs zwischen den einzelnen
Bruchteilen der Zeit und des Raumes in der dreitausendjährigen
Entwicklung der Nation — dies ist die Hauptaufgabe, die dabei
dem Geschichtsschreiber zufällt. Der nach der synthetischen Methode
verfahrende Geschichtsschreiber, der es mit einem schon gesammel-
ten und mehr oder weniger bearbeiteten Stoff zu tun hat, darf sich
allerdings der Mühe einer selbständig durchgeführten Analyse, einer
kritischen Prüfung der Quellen und einer Überprüfung der Tat-
sachen nicht entziehen; mußten doch diese Quellen auf ihrem langen
XIII
ÜStj mmmmm t8S8®iiaiiiiffliiSi6sa mmm
KBr—- 1 - -
XIV
Einleitung
geschichtlichen Wege an Zuverlässigkeit und Vollständigkeit nur
allzuviel Einbuße erleiden, so daß sie ohne strenge Nachprüfung
unvermeidlich zu schiefen Verallgemeinerungen Anlaß geben würden.
Allein die Hauptaufgabe besteht doch darin, den hinter der Unmenge
der Tatsachen zurücktretenden geschichtlichen Prozeß in seinen
Hauptumrissen hervortreten zu lassen, einen genau ausgearbeiteten
Bauplan zu entwerfen und dann das hochragende Bauwerk der Ge-
schichte dem Grundriß gemäß zu errichten. Die erste Voraussetzung
für dieses synthetische Werk ist aber eine klare allgemeine Auf-
fassung der jüdischen Geschichte, eine klare, durch dogmatische
und scholastische Begriffe nicht verunstaltete Vorstellung von ihrem
Träger oder Subjekt, dem jüdischen Volke, die ihrerseits die Me-
thoden der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiete vorher-
bestimmen muß.
Bis in die aller jüngste Zeit standen einer sachentsprechenden
Auffassung der Geschichte des „geschichtlichsten44 Volkes die größten
Hindernisse im Wege. In Bezug auf ihren ältesten Teil, der als
„Heilige Geschichte44 eine Ausnahmestellung einnimmt, herrscht die
theologische Auffassung auch heute noch über die Geister nicht nur
der Rechtgläubigen, die vorbehaltlos den religiösen Pragmatismus
der biblischen Geschichtsbücher anerkennen, sondern auch der Ver-
fechter der freien „Bibelkritik44, welche den biblischen Pragmatismus
durch ihren eigenen, jedoch nicht minder theologischen, ersetzen.
Aber auch in der Behandlung der mittelalterlichen und neueren
Geschichte des Judentums herrscht eine einseitige spiritualistische
Auffassung vor, die sich auf den Satz gründet, daß ein Staat und
Territorium entbehrendes Volk als aktives Subjekt der Geschichte
nur auf dem Gebiete des geistigen Lebens auftreten könne, während
es sonst im sozialen Leben dazu verdammt sei, ein passives
Objekt der Geschichte jener Völker zu sein, unter denen es lebt.
So beachtete die von Zunz und Graetz inaugurierte Geschichts-
schreibung bei der Darstellung der Geschichte der Diaspora haupt-
sächlich zwei Grundfaktoren: sie behandelte vornehmlich das geistige
Schaffen und das heldenmütige Märtyrertum (die „Geistes- und
Leidensgeschichte44). Auf eine Literaturgeschichte einerseits und
auf ein Martyrologium andrerseits wird hier gewöhnlich der
Hauptinhalt des gesamten Volkslebens zurückgeführt; dies sind die
Grenzen, in die der geschichtliche Gesichtskreis gebannt bleibt.
Einleitung
Dieser einseitigen Auffassung der „nachbiblischen“ Geschichte ist
auch ihre Einteilung in Epochen angepaßt; es werden unterschieden:
die talmudische, gaonäische, rabbinische, mystische und die Auf-
klärungsepoche, was wohl als eine literaturgeschichtliche, keinesfalls
aber als eine nationalgeschichtliche Einteilung gelten kann.
Es ist nun eine Errungenschaft der letzten Zeit, daß man endlich
zu einer umfassenderen, rein wissenschaftlichen Auffassung der
jüdischen Geschichte, die man als die soziologische bezeichnen kann,
vorgeschritten ist. Dieser Auffassung liegt jener aus der Gesamtheit
der Tatsachen unserer Geschichte folgende Gedanke zugrunde, daß
das jüdische Volk in allen Zeiten und in allen Ländern, immer und
überall, ein Subjekt, ein Schöpfer seiner Geschichte, nicht nur auf
dem geistigen, sondern auch auf dem Gebiete des sozialen Lebens
überhaupt war. Sowohl in der staatlichen als auch in der staatlosen
Periode seiner Geschichte tritt das Judentum mit dem stark aus-
geprägten Charakter einer Nation, nicht nur als eine religiöse Ge-
meinschaft unter anderen Nationen auf. Diese stets lebenskräftige
Nation kämpfte immer und überall für ihr autonomes Dasein sowohl
in ihrer sozialen Lebenssphäre als auch auf allen anderen Gebieten
des Kulturschaffens. Die noch zur Zeit des Bestehens des judäischen
Staates zu hoher Entwicklung gelangte Diaspora besaß überall ihre
autonomen Gemeinden und später auch zentrale Selbstverwaltungs-
organe, ihre eigenen gesetzgebenden und gerichtlichen Institutionen
(entsprechend dem Synhedrion, den Akademien und Patriarchen im
römisch-byzantinischen Palästina — Exilarchen, Gaonen und gesetz-
gebende Akademien in Babylonien, Aljama und Kongresse der Ge-
meindedelegierten in Spanien, Kahale und „Waaden“ oder Kahaltage
in Polen und Litauen u. dgl. m.). Die mit diesem geschichtlichen
Prozeß zusammenhängende neueste nationale Bewegung im Juden-
tum, die das alte Vermächtnis des Autonomismus mit dem modernen
Prinzip der „Bechte der nationalen Minderheiten“ verbindet, zeugt
von der UnVergänglichkeit dieser ewigen Triebkraft der jüdischen
Geschichte, die sich sogar in der Epoche der Assimilation und der
umwälzenden Veränderungen im Volksleben zu behaupten vermocht
hatte.
Die Ursachen der einseitigen Auffassung der jüdischen Ge-
schichte, die noch in der jüngsten Vergangenheit so verbreitet war,
liegen klär zutage. Unsere wissenschaftliche Geschichtsschreibung
Einleitung
nahm ihren Ursprung im westlichen Europa in der Mitte des
XIX. Jahrhunderts, als dort das Assimilationsdogma völlig das
Feld behauptete. Dieses Dogma lautete: „Das Judentum ist keine
Nation, sondern eine Religionsgemeinschaft.“ Auch die Geschichts-
schreibung ließ sich von der allgemeinen Strömung fortreißen und
widmete sich mehr dem Judaismus als seinem lebendigen Schöpfer,
dem jüdischen Volke. Sogar solche Gegner des allgemeingültigen
Dogmas wie Grätz brachten nicht die Kraft auf, gegen den Strom
zu schwimmen. Die tiefgreifende Umwälzung des nationalen Selbst-
bewußtseins, die unser Zeitalter kennzeichnet, mußte unausbleiblich
auch in der Auffassung des geschichtlichen Prozesses Wandel
schaffen. Der Säkularisierung der jüdischen nationalen Idee mußte
auch eine Säkularisierung der Geschichtsschreibung folgen, ihre Be-
freiung zunächst von den Fesseln der Theologie und sodann auch
von denjenigen des Spiritualismus oder der Scholastik. Es reift eine
neue Auffassung der jüdischen Geschichte heran, eine Auffassung,
die sowohl dem Inhalte als auch dem Umfange dieser Geschichte
viel eher entspricht. Man beginnt sich allmählich darüber klar zu
werden, daß das Volk im Laufe der Jahrtausende nicht ganz in
seinem „Denken und Leiden“ aufging, sondern daß es auch unter
den verschiedensten Existenzbedingungen sein Leben als eine be-
sondere soziale Einheit aufzubauen bemüht war und daß folglich
das Erfassen dieses Prozesses des Lebensaufbaues nun die ver-
nehmlichste Aufgabe auch der Geschichtsschreibung sein müsse.
Der Gegenstand einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung
ist eben das Volk, die nationale Individualität, ihre Entstehung, ihr
Wachstum und ihr Kampf ums Dasein. Im Laufe einer langen
Reihe von Jahrhunderten sondert sich die zunächst amorphe Volks-
zelle aus dem sie umgebenden Völkermilieu des alten Orients her-
aus, nimmt eine festumrissene nationale Gestalt an, errichtet ihren
eigenen Staat und geht seiner wieder verlustig, verarbeitet nach
ihrer Art die aufgenommenen Elemente der allgemeinen Kultur und
erhebt sich dabei in ihrem geistigen Schaffen bis zu den Höhen
des Prophetismus. Der Moment der endgültigen Formung des
nationalen Typus fällt mit demjenigen des ersten politischen Zu-
sammenbruchs zusammen (das babylonische Exil) und die folgenden
Epochen (die persische, griechische, hasmonäische und römische)
verlaufen im Zeichen der Rivalität zwischen der Theokratie und der
XVI
Einleitung
weltlichen Staatlichkeit. Der zweite politische Schiffbruch, unter
dem unwiderstehlichen Ansturm Roms, zeitigt neue Formen des
Kampfes des zersprengten Volkes um* seine nationale Einheit: nicht
in staatlichen, sondern in anderen sozialen Formen kommt der
unaufhaltsame Drang nach autonomer Lebensgestaltung, nach einem
Höchstmaß sozialer und kultureller Eigenart unter den fremden
Völkern zum Ausdruck. Diesem Zwecke ordnet sich die ganze
geistige Lebenskraft der Nation unter: der Judaismus formt sich
nach dem Ebenbilde der sozialen Existenzbedingungen der Nation,
nicht aber umgekehrt.
Aus der realistischen, soziologischen Auffassung der jüdischen
Geschichte folgt mit Notwendigkeit auch eine neue Beurteilung
vieler wichtiger geschichtlicher Einzelerscheinungen, die vom theo-
logischen und scholastischen Gesichtspunkte aus in ganz falschem
Lichte erscheinen mußten. Einige besonders geeignete Beispiele
mögen hier den Unterschied zwischen der neuen Auffassung und
der älteren in der Beleuchtung wichtigster Probleme der jüdischen
Geschichte verdeutlichen.
In der alten Geschichtsschreibung herrschte eine hoffnungslose
Verwirrung in der Frage, die die Parteien der Pharisäer und
Sadduzäer, deren gegenseitige Beziehungen für das Volksleben in der
hasmonäischen und römischen Epoche bestimmend waren, betraf.
Sogar von der Theologie nicht beeinflußte Geschichtsschreiber führ-
ten die Entstehung dieser Parteien auf religiös-rituelle und dogma-
tische Streitigkeiten zurück. Indem sie sich auf die hellenistische,
philosophisch angehauchte Schönfärberei des Josephus Flavius und
auch gleichzeitig auf die späten talmudischen Überlieferungen, in
denen das politische Element bereits verwittert war, stützten, ver-
wandelten diese Historiker den bedeutsamsten nationalen Streit —
den Streit über den nationalen Typus selbst, d. i. darüber, ob das
Judentum eine weltliche oder geistige Nation, ein Durchschnitts-
oder ein eigenartiges Glied der internationalen Familie sein solle —
in einen Kampf der „Sekten“ oder „Schulen“. Der Streit der zwei
Parteien hatte aber auch einen sozialen Hintergrund: es kämpfte
die sadduzäische Aristokratie, die sich an die Staatsmacht klammerte,
gegen die pharisäische Demokratie, der der geistige Einfluß auf
die Volksmassen hauptsächlich am Herzen lag. Dieser soziologische
b
XVII
Einleitung
Standpunkt in Bezug auf die Entstehung und die Wirksamkeit dieser
Parteien, der in der vorliegenden „Geschichte“ (Band II) durch-
geführt wird, ergibt sich mit Notwendigkeit aus allem, was uns
über die Zusammenstöße der Pharisäer und Sadduzäer sowohl auf
politischem als auch auf geistigem Kampffelde bekannt ist, aus
ihrer gesamten Wirksamkeit von der Hasmonäerepoche an bis zum
Falle des judäischen Staates. Die religiösen und rituellen Meinungs-
verschiedenheiten waren nur eine Nebenerscheinung des tiefgründigen
nationalen und sozialen Widerstreites der beiden Parteien; ihr gegen-
sätzliches Verhalten dem „mündlichen Gesetz“ gegenüber war nur
eine Folge der Meinungsverschiedenheit in der Lebensfrage über die
Zweckmäßigkeit der Selbstumzäunung und der Absonderung Judäas
in Kultur und Lebensführung inmitten der umgebenden griechisch-
römischen Welt.
Ein anderes Beispiel der Entstellung der wahren geschichtlichen
Perspektive unter dem früheren Gesichtswinkel ist die übliche Be-
urteilung der Bedeutung des Synhedrion zu Jabneh. In dem Augen-
blick der größten Umwälzung in der jüdischen Geschichte, nach der
Zerstörung des jüdischen Staates durch die Römer, bildete sich ein
Selbstverwaltungszentrum in einer dem verwüsteten Jerusalem nahe
gelegenen Stadt. Im Glauben an die naive, wenn auch noch so
schöne Legende von Rabbi Jochanan ben Sakkai, der mit Ge-
nehmigung der Römer aus dem belagerten Jerusalem geflohen sei
und in Jabneh eine Schule zum Thorastudium gegründet haben soll,
beurteilen die Geschichtsschreiber die Bedeutung dieser Neugründung
für die weiteren Geschicke des Judentums in verschiedener Weise:
während die einen dieses heldenmütige Aufpflanzen des Banners der
Wissenschaft auf den Ruinen der Staatlichkeit verherrlichen, er-
blicken hingegen die anderen darin den Beginn des nationalen Ab-
sterbens des Judentums und der Erstarrung des Judaismus im Buch-
staben des Gesetzes. Indessen geben sich sowohl die einen wie die
anderen einer irreführenden Täuschung hin, denn die Ansicht von
der Gründung eines vorwiegend akademischen Zentrums in Jabneh
ist grundfalsch. Was sich dort in Wahrheit vollzog, war einer der
bedeutsamsten Akte der national-gesellschaftlichen Reorganisation.
Nicht eine Lehranstalt wurde in Jabneh errichtet, sondern ein
Zentrum der Nomokratie, ein Zentrum der Verwaltung vermittels
der Autorität des Gesetzes. Die Lehranstalt für Gesetzeskunde war
XVIII
Einleitung
hier eins mit der gesetzgebenden Körperschaft des Synhedrions, das
nach der Vernichtung des Staates dazu berufen war, die zerstreuten
Volksteile durch das Bindemittel gleichartiger, das ganze innere
Leben auf einer autonomen Grundlage regelnder Gesetze zusammen-
zuschmieden und zu vereinigen. Hier erscholl das Losungswort von
der Reorganisation der geschlagenen nationalen Armee, von der Er-
richtung einer neuen sozialen Ordnung an Stelle der in Brüche
gegangenen staatlichen Lebensformen. Es handelt sich hier vor
allem um ein Kapitel aus der Geschichte des Aufbaues des Volks-
lebens und erst in zweiter Linie aus der Geschichte der Religion,
der Wissenschaft und der Literatur *).
Im Lichte der soziologischen Auffassung können auch andere
verwickelte geschichtliche Probleme ihrer Klärung nähergebracht
werden. So wird die Antinomie von Nationalismus und Universalis-
mus, der Widerstreit der politischen und geistigen Kräfte in der
Wirksamkeit der biblischen Propheten verständlich. Dieser durch
die Stellung Israels unter den Staaten des alten Orients verursachte«
Widerstreit zweier Prinzipien findet seinen Abschluß in der großen
Synthese des Prophetismus: die Nation ist der Kern, der Staat nur
eine Schale; und wenn die Schale birst, so bleibt der Kern doch
unversehrt; ist dieser Kern gesund, so muß es der Nation gelingen,
ihre Autonomie gegenüber der Heteronomie des sie umgebenden
Milieus zu behaupten und als „Banner für die Völker“, als Muster-
bild der geistigen Standhaftigkeit dazustehen* 2). Gerade das Gegen-
teil predigten später der Prophet und die Apostel des Christentums:
Selbstwert besitze nur die einzelne religiöse Persönlichkeit, nicht aber
die als Nation geformte kollektive geschichtliche Individualität. Diese
neuen Propheten wollten die jüdische Nation in den Abgrund des
Nichtseins gerade in jenem Augenblick hinunterstürzen lassen, als
sie verzweifelt um ihr Leben mit dem unersättlichen, alles ver-
schlingenden Rom rang, so daß die Verkünder der nationalen Selbst-
vernichtung dem gesunden nationalen Selbsterhaltungstrieb besonders
zuwider sein mußten3). So wird auch der tiefe Sinn des Talmudis-
mus mit seiner eisernen religiös sanktionierten nationalen Zucht für
die ganze weitere Geschichte klar: der Talmud ist vor allem das
*) S. Band III dieser „Geschichte“ und Schlußbemerkung zu dieser Einleitung.
2) Band I, S 49, 55, 60—62, 69.
3) Band II, letztes Kapitel.
b*
XIX
Einleitung
Schriftdenkmal der nationalen Hegemonie der jüdischen autonomen
Zentren im römischen Palästina und im persischen Babylonien, die
Verewigung der jahrhundertelang währenden Kraftanspannung der
Volksführer, die die Bildung einer festen Gesetzeshülle um den
mürbe werdenden nationalen Kern zu ihrem vernehmlichsten Ziele
hatte1).
Die hier dargelegte allgemeine Auffassung ist unserer festen
Überzeugung nach die einzig mögliche Voraussetzung für eine
wissenschaftlich objektive Methode der Bearbeitung der jüdischen
Geschichte. Diese Auffassung weist unserer Geschichtschreibung den
Weg aus dem Labyrinth der theologischen und metaphysischen
Theorien und stellt sie auf eine feste bio-soziologische Grundlage.
Den Gegenstand der Untersuchung bildet nicht eine Abstraktion,
sondern ein lebendiger Organismus, der sich aus einem ursprüng-
lichen biologischen Keim, dem „Stamme“, zu einem komplizierten
kulturgeschichtlichen Ganzen, zur Nation, entwickelt hat. Die Me-
thode der Untersuchung gründet sich auf dem streng durchgeführten
Prinzip der Evolution. Zunächst ist die Periode der Herausbildung
der nationalen Individualität zu untersuchen, dann, nachdem diese
Individualität bereits festere Gestalt angenommen hat, die Periode
ihres Kampfes um die Sonderexistenz, um die Erhaltung und Ent-
faltung ihrer ausgeprägten nationalen Züge und der im Laufe von
Jahrhunderten angehäuften Kulturschätze. Bei der Darstellung dieses
doppelten Prozesses der Individualisierung und des Kampfes um die
sich gestaltende Individualität gehen wir von der Grundüberzeugung
aus, daß eine widerstandsfähige und deutlich ausgeprägte nationale
Kollektivpersönlichkeit, als ein Produkt der geschichtlichen Ent-
wicklung, nicht nur eine natürliche Erscheinung bildet, sondern
zugleich auch einen hohen Kulturwert repräsentiert. Dies will aber
noch durchaus nicht sagen, daß der Geschichtschreiber auch alle
jene geraden oder verschlungenen Wege, die zur Erhaltung der
kollektiven Persönlichkeit geführt hatten, als wertvoll anzusehen
habe. Wenn er z. B. in der normalen Absonderung eine unum-
gängliche Vorbedingung des nationalen Daseins anerkennen muß, so
darf er es andererseits auch nicht unterlassen, auf jene Zeitperioden
!) Band III.
XX
Einleitung
ausdrücklich hinzuweisen, in denen die kulturelle Absonderung —
allerdings häufig notgedrungenerweise zum Zwecke der Selbst-
erhaltung — zu traurigen Auswüchsen führte: bis zur völligen
Entfremdung der Nation gegenüber den wertvollen Errungenschaften
der allmenschlichen Kultur. Es liegt ihm ob, den für jeden natio-
nalen Organismus unvermeidlichen Widerstreit der zentripetalen und
der zentrifugalen Kräfte sowie die tragischen Konflikte, die dadurch
im Leben des Volkes zum Ausbruch kommen, zur anschaulichen
Darstellung zu bringen. Aber freilich wird er, dem die Idee des
kulturellen Eigenwertes der nationalen Individualität unverrückbarer
Ausgangspunkt ist, anders die Endergebnisse des zentripetal ge-
richteten, aufbauenden Kraftaufwandes, anders diejenigen der zen-
trifugal verlaufenden, zerstörenden Kraftanspannung bewerten.
Eine weitere selbstverständliche Forderung der soziologischen
Methode besteht darin, daß in der Geschichtsschreibung nicht nur
den gesellschaftlich-nationalen, sondern auch den von der alten
Schule so sehr vernachlässigten sozial-ökonomischen Faktoren der
gebührende Platz eingeräumt wird. Dies soll aber keineswegs eine
Konzession an die „materialistische Geschichtsauffassung“ bedeuten,
die alle geschichtlichen Tatsachen auf eine Evolution der wirtschaft-
lichen Lebensverhältnisse zurückführen möchte. Nicht um deswillen
sagen wir uns von der antiquierten spiritualistischen Geschichts-
ansicht los, um in die Klemme der entgegengesetzten Doktrin, der
nicht minder einseitigen, nicht minder alle geschichtliche Fernsicht
trübenden materialistischen Geschichtsauffassung zu geraten. Ist
doch die wirtschaftliche Lebensordnung geradeso ein Element der
natürlichen und sozialen Lebensverhältnisse des Volkes wie der
Aufbau der geistigen Kultur. Was das Leben der Nation gebieterisch
beherrscht, ist die Totalität aller von ihr erzeugten sozialen und
geistigen Faktoren. Betrachtet man die gegenseitigen Beziehungen
der einzelnen Faktoren untereinander, so ergibt sich, daß zwischen
ihnen sowohl eine Wechselwirkung wie ein Widerstreit besteht;
nirgends stoßen wir aber dabei auf eine Unterordnung all dieser
so verschiedenartigen Lebensfunktionen unter irgendeine von ihnen.
Den ganzen Wert dieser neuen Auffassung der jüdischen Ge-
schichte weiß der besonders zu schätzen, der, gleich dem Verfasser
dieses Werkes, früher selbst auf den alten, vielverschlungenen Wegen
der jüdischen Geschichtsschreibung umherirrte. Ich selbst habe
XXI
Einleitung
seinerzeit den allgemein anerkannten Grundsätzen rückhaltlos Bei-
fall gezollt. Auf der Suche nach einer umfassenden Synthese der
jüdischen Geschichte, einer Synthese, der ich vom ersten Tage
meiner wissenschaftlichen Forschung an unausgesetzt nachging,
machte ich selbst alle hier erwähnten Phasen der geschichtlichen
Gedankenarbeit durch. Meine noch unreife Erstlingsarbeit *)> die
von einer ausgesprochen religiös-reformistischen Tendenz durch-
drungen war, stellte den Versuch dar, die theologische Methode mit
umgekehrtem Vorzeichen zur Anwendung zu bringen. In einer Reihe
weiterer Arbeiten, in denen sich bereits das Bestreben zur Verwelt-
lichung der jüdischen Geschichtsschreibung bemerkbar machte* 2),
konnte ich mich von dem Banne der ideologisch angehauchten An-
sichten der Schule von Zunz und Grätz noch immer nicht frei
machen; die Neuerung, zu der ich mich entschlossen hatte, be-
schränkte sich darauf, daß ich das national-soziale Programm in
den alten Rahmen der Ideengeschichte hineinzuzwängen versuchte.
Erst nach einer langjährigen, ins Einzelne gehenden, quellenmäßigen
Bearbeitung der allgemeinen jüdischen Geschichte, als ich sie selbst
als eine Geschichte des Volkes und nicht nur seiner Literatur zu
schreiben hatte, traten mir die Mängel der alten Verfahrensweise
immer klarer vor Augen, und zugleich erweiterte sich zusehends der
Rahmen der Untersuchung und Verallgemeinerung, öffnete sich der
geschichtliche Gesichtskreis, bis endlich dasjenige in den Vorder-
grund trat, was ehedem hinter dem Schleier der Scholastischen
*•) „Einige Hauptpunkte in der Entwicklungsgeschichte des jüdischen Geistes“,
Russ. Jevrei, 1881, Nr. 16—36.
2) „Über die Erforschung der Geschichte der russischen Juden“ (die ersten
Kapitel), Petersburg 1891; „Der Historiograph des Judentums: Graetz, sein Leben
und Werk“ (Wosschod 1892, Heft 2—9); „Das Problem der jüdischen Ge-
schichte“ (Wosschod 1898, Heft 10—12). Dieser letztere Aufsatz war ursprüng-
lich als eine Einleitung zu der beabsichtigten, damals aber nicht zustande ge-
kommenen russischen Ausgabe der „Geschichte der Juden“ von Graetz gedacht,
was auch hinlänglich das Vorwalten der Ideologie von Graetz in dieser einseitigen
geschichtsphilosophischen Studie erklärt. Der russische Originaltext ist nie in
Buchform nachgedruckt worden, dagegen fügte es sich so, daß er — ungebühr-
licherweise— in der deutschen und englischen Ausgabe weitere Verbreitung fand.
Die deutsche, von Isr. Friedländer besorgte Übersetzung („Die jüdische Ge-
schichte. Ein geschichtsphilosophischer Versuch“) erlebte zwei Auflagen (Berlin
1898; Frankfurt 1921), während die nach der deutschen Ausgabe von Henriette
Szold verfertigte englische Übersetzung 1903 gleichzeitig in Amerika und in
England erschien („Jewish History. An essay in the philosöphy of history“.
Philadelphia, Jewish Publication Society of America).
XXII
Einleitung
Umnebelung verborgen lag1). Die Ergebnisse, zu denen ich auf
induktivem Wege gelangt war, suchte ich dann in der entgegen-
gesetzten deduktiven Richtung zu überprüfen, und nun erwies es
sich, daß meine Schlußfolgerungen, die auf diese Weise zu Voraus-
setzungen wurden, sich bei der Anwendung auf den geschichtlichen
Stoff vollauf bewährten.
II. Pei'iodisierung und Stoffverteilung
Die hier geschilderte neue allgemeine Auffassung bringt es mit
sich, daß auch der Stoff der jüdischen Geschichte auf eine
neue Weise zu verteilen ist und daß die geschichtlichen
Prozesse neu klassifiziert, d. i. periodisiert werden müssen. Die
Einteilung der Geschichte des Volkes in Perioden und Epochen
hat sich nach national-gesellschaftlichen, nicht aber nach religiösen
oder literaturgeschichtlichen Gesichtspunkten zu richten. Diese Ge-
sichtspunkte bietet uns vor allem die geschichtliche Umgebung, in
der das Volk zu der einen oder der anderen Zeit lebte, und sodann
die Hegemonie des einen oder anderen Volksteiles, die sich in dem
immer wieder wechselnden nationalen Zentrum geltend machte. So
muß die Geschichte der staatlichen Periode, die man heute noch in
das „Zeitalter des ersten Tempels“ und in dasjenige des „zweiten
Tempels“ einzuteilen pflegt, vielmehr dem politischen Gesichtspunkte
gemäß eingeteilt werden, entsprechend der sich ändernden Stellung
Palästinas unter den Weltmonarchien des alten Orients: Ägypten,
Assyrien, Babylonien, Persien, den hellenistischen Reichen der Ptolo-
mäer und Seleukiden und endlich dem Römischen Imperium. Die
Geschichte der staatlosen Periode dagegen, in der das Volk des
1) Vgl.: „Briefe über das alte und das neue Judentum“, namentlich Erster
Brief (Petersburg 1907); „Die Prozesse der Humanisierung und Nationalisierung
in der neuesten Geschichte der Juden“ (Monatshefte „Ewrejskij Mir“, 1909,
Heft I); Vortrag in der Petersburger Jüdischen Historisch-ethnographischen
Gesellschaft vom 21. Febr. 1910 (Bericht in „Evrejskaja Sstarina“, 1910,
Heft 1); „Einleitung“ in die zweite Auflage des ersten Bandes der „Allgemeinen
jüdischen Geschichte“, Petersburg 1910. In eingehender Weise habe ich mein
Geschichtssystem in einem allgemeinen Kursus der jüdischen Geschichte dargelegt,
den ich viele Jahre hindurch in Petersburg, zuerst an dem Institut für Orient-
kunde (1908—1916) und sodann in der Jüdischen Hochschule (1919—1922)
gehalten habe.
XXIII
Einleitung
einheitlichen Zentrums verlustig ging, hat bei der Einteilung in
Epochen vor allem den einschneidenden geographischen Gesichts-
punkten Rechnung zu tragen, entsprechend den örtlichen Ver-
schiebungen des nationalen Hegemoniezentrums innerhalb des Juden-
tums. Jedes Zeitalter wird dadurch bestimmt, daß das zerstreute
Volk innerhalb dieses Zeitraums ein Hauptzentrum oder auch zwei
nebeneinander bestehende Zentren besaß, die dank der ihnen zuteil
gewordenen weitgehenden nationalen Autonomie und dem hohen
Stand ihrer Kulturentwicklung die Führung aller übrigen Teile der
Diaspora übernahmen.
Somit dürfen wir die Weltgeschichte des jüdischen Volkes vor
allem in die folgenden zwei großen Perioden einteilen: a) in die
orientalische Periode, als die nationalen Hauptzentren in Vorderasien
und in Nordafrika gelegen waren: in Palästina, Syrien, Mesopota-
mien, Ägypten; und b) die westliche Periode, als diese Zentren sich
nach Europa verschoben hatten, in die dort allmählich erblühten
jüdischen Diasporakolonien. Innerhalb der orientalischen Periode
selbst sind vom politischen Gesichtspunkte und vom Gesichtspunkte
des Kulturmilieus aus wiederum folgende drei Epochen auseinander-
zuhalten: i. Die Epoche des rein orientalischen Milieus: das Zeit-
alter der Eroberung Kanaans, der israelitisch-judäischen Könige
und der Oberhoheit der drei einander ablösenden Weltmonarchien:
Assyriens, Babyloniens und Persiens (um 1200—332 vor der christ-
lichen Ära); 2. Die Epoche des gemischten orientalisch-westlichen
Milieus und der griechisch-römischen Herrschaft mit der Zwischen-
episode des unabhängigen Judäa unter den Hasmonäern bis zum
Untergange des judäischen Staates (332 vor der christlichen Ära
bis 70 der christlichen Ära); 3. Die Epoche der zwei Hegemonien,
des römisch-byzantinischen Palästina und persisch-arabischen Baby-
lonien, zwischen den beiden neu entstandenen weltgeschichtlichen
Mächten, dem Christentum und dem Islam. In dieser letzten Epoche,
nach dem Untergange Judäas im Kampfe mit Rom, sind folgende
Wandlungen in der Hegemoniestellung jüdischer Zentren zu beob-
achten: die Hegemonie Palästinas zur Zeit des heidnischen Rom
(II. und III. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung) wird zu-
nächst durch die doppelte palästinisch-babylonische Hegemonie bei
gleichzeitiger Vorherrschaft von Byzanz und Neupersien im Orient
ersetzt (IV. bis VI. Jahrhundert), die ihrerseits der einheitlichen
XXIV
mmmm
Einleitung
babylonischen Hegemonie im großarabischen Kalifat Platz macht
(VII. bis XI. Jahrhundert). Die Folge der Zeitabschnitte im zweiten
Jahrtausend der jüdischen Geschichte, das in der früheren Geschichts-
schreibung unter der allgemeinen Überschrift „Die talmudische
Periode“ mit den weiteren scholastischen Unterabteilungen: Epoche
der Mischna, der Gemara, der Tannaiten, der Amoräer, der Sa-
buräer und der Gaonen behandelt zu werden pflegte, wird also in
Wirklichkeit erst durch jene großen weltgeschichtlichen Schicksals-
wendungen hinlänglich bestimmt.
Dieses zweite Jahrtausend der orientalischen Periode der jüdi-
schen Geschichte, das zugleich das erste christliche Jahrtausend ist,
war aber auch eine Kolonisierungsperiode für die europäische
Diaspora, eine Periode, die die Verschiebung der nationalen Hege-
monie von Osten nach Westen vorbereitete. Das XI. Jahrhundert
der christlichen Ära bildet somit die Grenzlinie zwischen zwei
großen Perioden der jüdischen Geschichte, der orientalischen und
der abendländischen. Die nationale Hegemonie beginnt nun ihre
Wanderung durch die Zentren großer jüdischer Massensiedlungen
in Europa. Im Mittelalter fällt die Hegemonie dem Judentum des
arabischen und alsdann des christlichen Spanien zu (XI. bis XIV.
Jahrhundert); zugleich übernimmt das Judentum des südlichen und
dann des nördlichen Frankreich (XI. bis XIII, Jahrhundert) und
bald auch das Judentum Deutschlands (XIII. bis XV.. Jahrhundert)
die Führung. In der „Neuzeit“ (XVI. bis XVIII. Jahrhundert)
teilen sich Deutschland und das autonome jüdische Zentrum in Polen
in die Hegemonie. Gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts endlich
nimmt die Hegemonie unter der Einwirkung der Aufklärung in
kultureller Hinsicht eine Doppelgestalt an: das deutsche Judentum
stellt sich an die Spitze der westlichen Fortschrittsbewegung, wäh-
rend das polnisch-russische Judentum nach wie vor die Grundfeste
der alten überlieferten Kultur bleibt, bis in der zweiten Hälfte des
XIX. Jahrhunderts auch es in den Strudel der neuesten Geschichte
mithineingezogen wird.
Was nun die „neueste Geschichte“ des Judentums (1789—1914)
betrifft, so verläuft sie unter tiefgreifenden sozialen und kulturellen
Krisen, die dadurch hervorgerufen werden, daß einerseits im all-
gemein-bürgerlichen Leben kurze Emanzipations- und Reaktions-
perioden sich gegenseitig immer wieder ablösen und daß anderer-
XXV
Einleitung
seits in Parallele dazu innerhalb des west- und osteuropäischen
Judentums selbst ein Kampf der Assimilierungstendenzen und des
Nationalismus zum Austrag kommt. In der allerletzten Epoche
dieser neuesten Geschichte (1881—1914)* in der Epoche des An-
schwellens des Antisemitismus auf der einen und der jüdischen
nationalen Bewegung auf der anderen Seite, tritt wiederum eine neue
bedeutsame Schicksalswendung in dem Leben der Nation hervor:
es beginnt der Auszug aus Osteuropa. Ein Teil der Emigranten be-
gründet in dem kurzen Zeitraum von drei Jahrzehnten ein neues
großes Diasporazentrum in Amerika, während der andere, zahlen-
mäßig weit unbedeutendere Teil den Grundstein für das erneuerte
nationale Zentrum in der alten Heimat, in Palästina, legt. Der ver-
heerende Weltkrieg und die russische Revolution (1914—1920)
versetzen dem größten der früheren jüdischen Zentren, dem russi-
schem einen harten Schlag, und nun erhebt sich an der neuen
Grenzscheide der Geschichte die Sphinx des zukünftigen Judentums
mit einem doppelten Antlitz, das zugleich nach Westen und nach
Osten Ausschau hält. Nach den zwei großen Perioden der jüdischen
Weltgeschichte, der orientalischen und der westlichen, eröffnet sich
für die Zukunft die Möglichkeit, wenn nicht einer gänzlichen Hin-
wendung zum Orient, in Gestalt des auferstandenen Palästina, so
doch die einer Rivalität in Bezug auf die nationale Hegemonie
zwischen Ost und West, zwischen Palästina und der europäisch-
amerikanischen Diaspora. An dieser durch den Weltbrand von 1914
entstandenen Grenzscheide muß der Geschichtschreiber heute halt-
machen, und auch unsere „Geschichte“ geht nicht weiter als bis
zu dieser Grenzlinie.
Eine besondere Schwierigkeit bietet die Unterbringung des Stoffes
der jahrtausendelangen Geschichte des weltgeschichtlichen Volkes.
Diese Schwierigkeiten lassen sich überwinden für die älteste Periode,
in der wir es nur mit dem Synchronismus der Reiche Israel und
Juda zur Zeit der Reichstrennung und mit einer beschränkten
Diaspora in der Epoche der persischen Herrschaft zu tun haben,
sie wachsen jedoch immer mehr an mit der weiteren Ausbreitung
der Diaspora zunächst im Orient und alsdann auch im Abendlande.
Schon in der griechisch-römischen Periode ist die Aufmerksamkeit
des Geschichtsschreibers ebenso zwischen Judäa und der „großen
XXVI
Einleitung
Diaspora“ geteilt, wie später, in der römisch-byzantinischen und der
persisch-arabischen Periode, zwischen den zwei Hegemoniezentren,
Palästina und Babylonien einerseits und der immer weitere Kreise
ziehenden europäischen Diaspora andererseits. Die Schwierigkeiten
wachsen jedoch ins Unermeßliche, wenn wir zur Geschichte der
westlichen Periode kommen, wo uns eine Unmenge von Ländern
entgegen tritt, in deren jedem das Los der jüdischen Bevölkerung
mit den allerverschiedensten politischen und kulturellen Verhält-
nissen zusammenhängt. Dem Geschichtsschreiber steht hier die Wahl
zwischen zwei möglichen Darstellungsweisen frei, die aber beide
gleich unzweckmäßig zu sein scheinen: er kann erstens die Ge-
schichte des Volkes je nach den Ländern, in die es verschlagen
wurde, zur Darstellung bringen und sie so in eine rein äußerliche
Zusammenfügung einer Reihe von Monographien verwandeln, oder
aber die Geschichte der Juden in allen Ländern gleichzeitig nach-
erzählen und so die Geschichtsschreibung in eine Chronik, in eine
chronologische Aufzählung der Ereignisse verwandeln, die zeitlich
zusammenfallen, ihrer Natur nach aber, je nach den örtlichen Ver-
hältnissen, grundverschieden sind. Der erste Baumeister unserer
Historiographie, Graetz, bevorzugte vornehmlich die zweite Ver-
fahrensweise, den Synchronismus. In seinem groß angelegten Werke
wirken oft die jähen Sprünge — kefizoth ha’derech — aus einem
Lande in das andere innerhalb eines und desselben Kapitels be-
fremdend. In dieser künstlichen Aneinanderreihung der heterogen-
sten Ereignisse kommt allerdings die Anschaulichkeit synoptischer
Tabellen zum Vorschein, es fehlt ihr jedoch das für die wissen-
schaftliche Synthese Unentbehrlichste: die Verkettung der Ereignisse
mit den örtlichen Verhältnissen, die in einer solchen chronikartigen
Darstellungsweise ganz in den Schatten treten. Bei dem Verfahren
von Graetz wird die Verwirrung dadurch noch vergrößert, daß in
ein und demselben Kapitel gar oft politische, sozial-wirtschaftliche
und literaturgeschichtliche Tatsachen im engsten Sinne dieses Wortes
miteinander vermengt werden1).
1) Hier zur Probe ein Auszug aus einem einzigen Kapitel des VI. Bandes der
„Geschichte“ von Graetz, das die bezeichnende scholastische Überschrift trägt:
„Viertes rabbinisches Zeitalter“: „Die Juden Spaniens. Toledo . . . Der Dichter
Charisi. Abraham Ibn-Dauds Märtyrertod und die Jüdin Formosa Rahel. Der
Tourist Benjamin von Tudela. — Die Provence: Narbonne, Abraham b. Isaak
XXVII
Einleitung
Um allen diesen Mängeln aus dem Wege zu gehen, bleibt deshalb
nichts anderes übrig, als den Stoff nach dreifachem Prinzip einzu-
teilen : nach Zeit, Ort und Gehalt. Die Geschichte einer jeden Epoche
ist je nach dem Lande, in dem sie verläuft, zur Darstellung zu
bringen und innerhalb der Grenzen der einzelnen Länder, gemäß der
Ordnung des ursächlichen Zusammenhangs, der die äußeren Lebens-
erscheinungen mit den inneren verbindet, darzustellen. In den
Grenzen eines gegebenen Zeitalters wird ferner die Geschichte der
verschiedenen Volksteile so dargestellt, daß zuerst das Hauptzentrum
der nationalen Hegemonie an die Reihe kommt und dann die anderen
Länder nachfolgen, je nach der Bedeutung, die ihnen für die gesamt-
nationale Geschichte zuzusprechen ist. Manchmal aber erscheint es
jedoch unvermeidlich, die Darstellung eines bestimmten Abschnittes
mit einem zentralen Ereignis beginnen zu lassen, wie z. B. mit einer
politischen oder gesellschaftlichen Bewegung, die auf einige Länder
zugleich Übergriff und der ganzen Epoche ihr Gepräge verlieh. Eine
derartige Bedeutung kommt, um nur einige Beispiele zu nennen, den
ersten Kreuzzügen für Frankreich und Deutschland zu, der Über-
siedlung der Sefardim nach der Vertreibung aus Spanien, der von
der Türkei aus zu großer Verbreitung gelangenden messianischen
Bewegung der Sabbatianer, der ersten französischen Revolution und
dem Anbruch der Judenemanzipation, endlich dem deutschen Anti-
semitismus der letzten Jahrzehnte des XIX. Jahrhunderts. In dem
vorliegenden Werke wird außerdem jeder Epoche eine „allgemeine
Übersicht“ vorausgeschickt, die die sowohl für das jeweilige Zen-
trum als auch die für seine Peripherie bezeichnenden Hauptzüge
kurz anzudeuten hat. In der Darstellung selbst sind nach Möglich-
keit überall die äußeren politischen Erscheinungen von den inneren
gesellschaftlichen einerseits und den literaturgeschichtlichen anderer-
seits voneinander zu sondern. Innerhalb eines Kapitels, das irgend-
und die Kimchiden. Die Gemeinden Beziers, Montpellier und Lünel . . . Philipp
August una die erste Vertreibung der Juden aus Nordfrankreich. Der Tossafist
Isaak der Ältere. Die Märtyrer von Bray. Jehuda Sir-Leon und das ,Biich der
Frommen'. — Die Juden Englands“ usw. In dem folgenden Kapitel sind Deutsch-
land, Italien, Byzanz, Syrien und Palästina, das Bagdader Kalifat, Persien, Indien,
Arabien miteinander vereinigt, wobei dem Inhalte nach folgendes zur Behandlung
kommt: die deutsche Kammerknechtschaft, der Rabbinismus, eine Martyrologie,
Minnesänger, römische Päpste, östliche Exilarchen, der Pseudomessias David
Alroy, Tartaren, ägyptische Karäer usf.
XXVIII
gggüggj
Einleitung
ein einzelnes Diasporazentrum behandelt, ist der Stoff gewöhnlich in
folgender Weise geordnet: die politischen Verhältnisse, die Selbstver-
waltung in den jüdischen Gemeinden, geistiges Leben und Literatur.
Die Literaturgeschichte geht uns in der „Geschichte des jüdischen
Volkes“ nur soweit an, als die eine oder die andere literarische Er-
scheinung auf die gesellschaftliche Dynamik Einfluß gewann oder
selbst Ergebnis gesellschaftlicher Bewegungen war. Für uns kommen
weniger die einzelnen literarischen Werke in Betracht als vielmehr
die literarischen Strömungen, die für die Gesamteinstellung des
nationalen Geistes bezeichnend sind. Eine Literaturgeschichte im
engsten Sinne des Wortes geht hingegen über den Rahmen dieses
Werkes hinaus.
un, da ich mein Werk in jenem Lande der Öffentlichkeit über-
J_^| gebe, wo ein Jahrhundert früher die ersten Grundlagen für
eine jüdische wissenschaftliche Geschichtsschreibung errichtet worden
sind, kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken, daß ich darin
gleichsam ein Symbol der Kontinuität erblicke. Wenn ich auch von
meinen Vorgängern sowohl in der allgemeinen Auffassung als auch
in vielen Einzelheiten abweiche, so bleibe ich mir doch dessen stets
bewußt, daß ohne die ein volles Jahrhundert währende Arbeit der
Forscher aus der Schule von Zunz, Geiger, Frankel und Graetz das
heutige Stadium der jüdischen Historiographie durchaus nicht hätte
erreicht werden können. Was die Geschichte der ältesten Zeit betrifft,
so sind auf diesem Gebiete die Verdienste der deutschen christlichen
Forscher, wie Wellhausen, Kittel und Schürer, besonders hoch an-
zuschlagen, die hierin ihren jüdischen Fachgenossen durch die kri-
tische Sichtung des Stoffes weit vorangeeilt sind, wenn auch ihre
Kritik von der theologischen Auffassung sich nicht ganz frei zu
machen wußte. Wenn wir heutzutage den ganzen Entwicklungsgang
der jüdischen Geschichte unter einem ganz anderen Gesichtspunkte
betrachten als unsere Vorgänger aus der Schule von Graetz, so ver-
mögen wir es doch letzten Endes nur dank ihrer Arbeit, die für uns
ein Ansporn zur weiteren Forschung war. Die geschichtlichen Er-
eignisse unseres sturmbewegten Zeitalters bereicherten unsere histopo-
graphische Erfahrung. Die zwei letzten Generationen der geistigen
Arbeiter gingen selbst ein Stück geschichtlichen Weges mit, auf
XXIX
Schlußbemerkung
Die oben dargelegte allgemeine Auffassung der jüdischen Geschichte
bildete seinerzeit den Gegenstand einer wissenschaftlichen Kontroverse
und könnte es vielleicht wieder einmal werden. Zur Vermeidung von
Mißverständnissen und unnützer Polemik scheint es mir deshalb geboten,
hier noch einige erläuternde Bemerkungen nachzutragen:
1. Den allzu vieldeutigen Begriff: „Soziologische Auffassung“ ge-
brauche ich einzig und allein in dem oben angegebenen Sinne: im Sinne
der Auffassung des Subjektes der jüdischen Geschichte als eines leben-
digen nationalen Organismus. Diese Auffassung darf mit der soziologi-
schen Methode nicht verwechselt werden. Der bekannte Soziologe Max
Weber wandte diese Methode vor kurzem auf das antike Judentum an
(Das antike Judentum, 1923), und dennoch hinderte sie ihn nicht daran,
die jüdische Geschichte im theologischen oder metaphysischen Geiste auf-
zufassen (seine Grundvorstellung von dem Judentum als einem „Paria-
volk“, seine Ansicht über die „Sekte“ der Pharisäer u. dgl.). Ich könnte
der Begriffsverwechslung vielleicht dadurch Vorbeugen, daß ich zur
Kennzeichnung meiner Ansicht den Terminus „nationale Auffassung“
wählte, aber auch in diesem Falle müßte ich noch hinzufügen:
national ausschließlich im Sinne der Anerkennung eines nationalen
Subjektes der Geschichte, nicht aber im Sinne einer subjektiven, natio-
nalistischen Bewertung aller Geschichtserscheinungen, was ja in jeder
Hinsicht tendenziös wäre. Es ist durchaus möglich, als Träger oder
aktives Subjekt der jüdischen Geschichte das ewig lebendige Volk anzu-
erkennen und dabei doch alle extrem nationalistischen Auswüchse in der
Entwicklung dieses Volkes rückhaltlos zu verurteilen oder sie höchstens
durch den Tatbestand der Notwehr zu rechtfertigen.
2. Indem ich oben die Einseitigkeit der allgemeinen Auffassung der
Mehrzahl unserer Geschichtsschreiber hervorhob, hatte ich damit nicht
die Absicht, das Vorhandensein vieler soziologischer Elemente in ihren
Werken in Abrede zu stellen. Es handelt sich hier nicht um den tat-
sächlichen Inhalt, sondern um die allgemeine Geschichtsansicht. Von
XXX
: ■ • ‘
Einleitung
dem sie zugleich der dunklen Abgründe des Mittelalters wie der
Folgen einer Ideenverwirrung, die die jüngste Vergangenheit zeitigte,
gewahr werden konnten. Der Geschichtsschreiber stützt sich heute
auf das Werk seiner Vorgänger und vermag daher weiter in die
Fernen der Geschichte zu schauen, als sie es vermocht hatten, wobei
er seinerseits ebenso wie sie von seinen Nachfolgern über troffen
werden wird, vorausgesetzt, daß unserer Geschichtswissenschaft ein
normaler Entwicklungsgang beschieden sein wird.
Einleitung
allen jüdischen Geschichtsschreibern stand der nationalen Auffassung in
dem eben erläuterten Sinne am nächsten Graetz: so sah er klar den
politischen Einschlag in der Wirksamkeit der Pharisäer und Sadduzäer
und trat sogar mit Entschiedenheit den beschränkten Dogmatikern ent-
gegen, was ihn jedoch nicht davon zurückhielt, diese beiden Parteien
mitsamt der der Essaeer als „drei Sekten“ oder „drei Häresien“ (Die
Trihäresion, Gesch., Bd. III, Note 12) zu charakterisieren. Er sah die
Motive der Nomokratie in der Wirksamkeit des Jochanan ben Sakkai
und des „Lehrhauses“ zu Jabneh, und doch konnte er sich nicht ent-
schließen, diesen Gedanken konsequent im IV. Bande seines Werkes
durchzuführen, vielmehr ließ er diese ganze Epoche in akademischem
Lichte erscheinen, als eine Kette von „Generationen der Tannaiten und
Amoräer“. Die Inkonsequenz der allgemeinen Auffassung von Graetz
tritt besonders grell in zwei, in der Einleitung zum V. Band seiner
„Geschichte“ formulierten und sich gegenseitig aufhebenden Thesen zu-
tage: 1. „Die Geschichte des nachtalmudischen Zeitraumes hat also noch
immer einen nationalen Charakter, sie ist keineswegs eine bloße Reli-
gions- oder Kirchengeschichte, weil sie nicht bloß den Entwicklungs-
verlauf eines Lehrinhaltes, sondern auch einen eigenen Volksstamm zum
Gegenstände hat . . 2. „Noch hat die Geschichte kein Beispiel auf-
gestellt von einem Volke, das die Kriegswaffen aus der Hand gelegt,
sich ganz der friedlichen Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst
hingegeben hat . . .“ usw. Unser hervorragendster Historiograph ging
zweifellos in der Richtung auf eine sachentsprechende Auffassung der
jüdischen Geschichte hin, indessen vermochte er es nicht, sich von den
gebieterischen Dogmen seiner Generation zu befreien, die ihn sogar für
seine geringfügigen Abweichungen beinahe mit dem Bann sowohl von
rechts wie von links belegt hätte (Samson Raphael Hirsch, Abraham
Geiger, die Assimilatoren nach dem Erscheinen des XI. Bandes von
Graetz’ Werk).
3. Hier ist es am Platze, auch noch vor einer anderen mißverständ-
lichen Verwechslung zweier durchaus auseinanderzuhaltenden Begriffe zu
warnen: desjenigen der Geschichtsauffassung einerseits und des Geschiehts^
inhaltes andererseits. Aus dem Geschichtsinhalte schließen wir weder das
religiöse noch das ideologische Moment überhaupt aus, dem in der vor-
liegenden „Geschichte“ die größte Aufmerksamkeit gewidmet ist; worauf
wir aber grundsätzlich bestehen, ist das Vorrecht der wissenschaftlich-
evolutionistischen Geschichtsauffassung vor der dogmatischen, ein Vor-
recht, *das sich auf jene einfache Wahrheit gründet, derzufolge der
ganze Ideenkomplex, der Judaismus heißt, als ein Ergebnis des
organischen Wachstums der Nation und ihrer Anpassung an ganz be-
sondere und durchaus eigenartige geschichtliche Lebensbedingungen zu
betrachten ist.
Erstes Buch
Die Entstehung des Volkes Israel
(XX.—XI. Jahrhundert vor der christlichen Ära)
Erstes Kapitel
Der Stamm Israel zwischen Babylonien
und Ägypten
§ 1. Die Wanderungen der Semiten und das vorisraelitische Palästina
In der Morgendämmerung der Weltgeschichte) auf jenem Land-
strich, wo im Gebiete des Mittelländischen Meeres Asien und Afrika
aneinanderstoßen, wo die ältesten orientalischen Zivilisationen ihren
Anfang nahmen, zieht eine Völkergruppe semitischer Rasse umher,
aus der nach und nach als eine besondere Einheit der Stamm Israel
hervortritt, ein Stamm, dem ein so eigenartiges geschichtliches
Schicksal beschieden war. Die Zeitperiode vom XX. bis zum XIII.
Jahrhundert vor der christlichen Ära, der Landstreifen zwischen
Euphrat und Nil, zwischen Babylonien und Ägypten, mit Palästina
in seiner Mitte — dies ist die Entstehungszeit und die Geburtsstätte
Israels.
Das Auftreten der Semiten x) in Vorderasien fällt in das dritte
Jahrtausend vor der christlichen Ära. Zu jener Zeit kamen sie in
das Zweiströmeland (Mesopotamien), in das Land des Euphrat und
*) Mit dem Namen ,,Semiten“ pflegt man die Gruppe der Völkerschaften
Vorderasiens zu bezeichnen, die sich der Sprachen hebräisch-arabischen Stammes
bedienten. Zu ihnen werden nach dem Merkmale der Sprache Völker ver-
schiedenen Ursprungs gerechnet: Assyrer, die Mehrzahl der Babylonier, kleinere
Völkerschaften Kanaans mit den Phöniziern an der Spitze, Aramäer, die
hebräische Völkergruppe (Ammon, Moab, Edom, Israel u. a.) und die erst in
späterer Zeit auf tretenden Araber. Die Rassenbenennung „Semiten“ ist der
biblischen „Völkertafel“ (Gen. Kap. io) entnommen, wo alle Völker der Welt
in drei Gruppen eingeteilt werden, deren Ahnherren die drei Söhne des sagen-
haften Helden der Sintflutzeit Noah sind: Sem, Ham, Jafet. Zur „Hamiten-
gruppe“ werden der Sprache nach die Ägypter, die Libyer und die übrige orts-
ansässige Bevölkerung des nördlichen Afrika mit hinzugerechnet, die Äthiopier
Abessyniens ausgenommen, die eine Abzweigung der südlichen Araber bilden.
1*
3
üi
Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten
Tigris, allem Anscheine nach von der nahegelegenen arabischen
Halbinsel, der Urheimat des reinen Semitentums. Wenn die ur-
sprüngliche Bevölkerungsschicht des südlichen Babylonien oder
„Schinear“ aus Sumerern, der Abzweigung einer nichtsemitischen
Rasse, bestand, so war das nördliche Babylonien oder Akkad dagegen
von jeher der Sitz der Semiten. Zu ihnen gehörten auch die Gründer
der später errichteten Monarchie in Mesopotamien, die Assyrer aus
dem Tigrisgebiet. Weiter gegen Westen, an den Grenzen Palästinas
oder Kanaans, ließ sich der große semitische Stamm der Amurru I
oder Amoriter nieder, der den Norden und Osten Palästinas fast
ein ganzes Jahrtausend lang beherrschte, bis zur Eroberung Kanaans
durch die Hebräer. Vom amoritischen Stamme zweigte sich allem
Anscheine nach die Mehrzahl der ansässigen Völkerschaften Kanaans
ab, von denen späterhin die Phönizier die höchste Kulturstufe er-
reichten. Sowohl in den assyrischen Denkmälern als auch in der
Bibel wird das vorisraelitische Palästina oft mit dem Namen
„Amurru“ oder „Amoritisches Land“ (Erez hoemorri) bezeichnet.
Die östlichen und südlichen Grenzgebiete Palästinas verliefen in
die an Ägypten angrenzende syrisch-arabische Wüste, wo zu allen
Zeiten semitische Nomadenvölker vom Schlage der heutigen Be-
duinen umherzogen, die von der arabischen Halbinsel herkamen und
manchmal in die Grenzgebiete Ägyptens eindrangen.
Zwischen den beiden Mittelpunkten der ältesten Zivilisation,
Babylonien und Ägypten, breiteten die semitischen Völkerschaften,
sowohl die seßhaften wie die umher ziehen den, ihre weitentfalteten
Zweige aus. Zum Unterschiede von den in großen Staatsverbänden
vereinigten Völkerschaften Babyloniens und Ägyptens war die an-
sässige und umherziehende Bevölkerung des dazwischenliegenden
Palästina in eine Menge kleiner Fürstentümer und nomadisierender
Gemeinwesen zersplittert. Das unter viele kleine Potentaten auf-
geteilte Gebiet Palästinas war stets ein Gegenstand der Eroberungs-
gier der mächtigen Staaten zu seinen beiden Seiten, vom Euphrat
und vom Nil her. Beide — Babylonien und Ägypten — gingen
„Jafetiden“ ist die übliche Benennung der Völker der indo-europäischen
Sprachengruppe oder der „arischen“ Rasse (Iraner oder Medo-Perser, Vorfahren
der Europäer). Eine genaue Abgrenzung der Rassengruppen nach dem Merkmale
der Sprache erscheint jedoch infolge der Rassenmischung im Verlaufe des Ent-
stehungsprozesses der großen Völkerstaaten unmöglich.
4
§ i. Das vorisraelitische Palästina
darauf aus, sich des dazwischenliegenden Landes, dieses Handels-
weges zwischen Asien und Afrika, zu bemächtigen. Babylonien,
das selbst keine Meeresküste besaß, fühlte sich zur westlichen,
phönizischen und palästinischen Küste des Mittelländischen Meeres
besonders hingezogen. Als erstes breitete es seine Macht über
Syrien und Palästina aus. Die Keilinschriften auf den ältesten
assyro-babylonischen Denkmälern berichten, daß der babylonische
König Sargon I. aus Agade oder Akkad im nördlichen Babylonien
(Assyrien), der um 2Öoo vor der christlichen Ära gelebt hat, und
hernach sein Sohn Naram-Sin ganz Vorderasien mitsamt Palästina
erobert hatten. Beide Könige werden in den Inschriften als Unter-
werfer des Westens und Eroberer der „vier Weltgegenden“ ver-
herrlicht; sie haben das Land Amurru unterworfen, drangen bis
zum „westlichen Meere“ vor, d. h. bis zur palästinischen Küste,
und eroberten dort viele Städte. Aus derselben Epoche vernehmen
wir dumpfe Nachklänge von Kriegszügen ägyptischer Könige gegen
Nomaden aus Asien, aus dem „Bergland“ des südlichen Palästina.
Für längere Zeit behauptet sich die Macht Babyloniens in Palästina
unter dem großen König Hammurapi oder Ammurapi, unter dem
die neue Hauptstadt Babel oder Babylon zuerst zu großer Ent-
faltung gelangte. Hammurapi, der um das Jahr 2000 vor der
christlichen Ära gelebt hat, vereinigte unter seiner Gewalt alle
kleinen Königreiche Babyloniens und des Zweiströmelandes und
verlieh dem so vereinigten Staate eine wohlgeordnete bürgerliche
Verfassung, was durch den unlängst aufgefundenen „Kodex Ham-
murapi“ bezeugt wird, der mit den ältesten bürgerlichen Gesetzen
der Bibel die größte Ähnlichkeit aufweist. An der Spitze seiner
Vasallenfürsten unternahm er Kriegszüge nach Palästina, mit dessen
einheimischer Bevölkerung, den Amoritern, ihn Stammesverwandt-
schaft verband, und wurde zum unbeschränkten Gebieter dieses
Landes des „westlichen Meeres“. Von nun ab treten Spuren der
babylonischen Kultur in Palästina immer mehr hervor; sie blieben
auch noch dann erhalten, als der politische Einfluß Babyloniens
in diesem Lande an Bedeutung verloren hatte.
Mit dem XVIII. Jahrhundert vor der christlichen Ära setzt eine
Zeit der Wirren ein, die eine Folge der großen Völkerwanderung
an der asiatischen Küste des Mittelmeeres war. Die Kheta oder
Hetiter, aus Kleinasien kommend, dringen in das benachbarte Syrien
Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten
und dann südlicher in Palästina ein, indem sie die Urbewohner, die
Amoriter, von der Meeresküste in das Innere des Landes zurück-
drängen. Im nördlichen Mesopotamien oder Zweiströmeland (dem
biblischen Aram Naharaim, auf ägyptischen Denkmälern Naharina)
setzt sich ein den Hetitern verwandter Stamm Mitani fest, der
späterhin von den einheimischen Assyrern und Aramäern aufgesogen
wird. Vom XVI. Jahrhundert an befestigt sich hier immer mehr
die Macht der assyrischen Könige, der früheren Vasallen Babylo-
niens. All diese Umwälzungen hatten zur Folge, daß die Oberherr-
schaft Babyloniens in Palästina an seinen Rivalen in der damaligen
Weltpolitik, an Ägypten, verloren ging.
Schon zur Zeit des „Alten Reiches“ (im dritten Jahrtausend vor
der christlichen Ära) hatten sich die ägyptischen Herrscher fort-
während gegen die Einfälle der Beduinen oder „Schasu“ zu wehren,
die in der angrenzenden Wüste umherzogen und mit elementarer
Kraft gegen die fruchtbaren Nilufer drängten. Gegen diese halb-
wilden Kinder der Wüste wurden „Kaiserwälle“ errichtet und
Wachtposten an den Grenzen auf gestellt. Allein die Pharaonen
wollten sich nicht auf die Verteidigung der Grenzen ihres Reiches
beschränken, sie suchten vielmehr die benachbarten Zentren der
semitischen Völkerschaften, Palästina und Syrien, ganz in ihre
Gewalt zu bekommen. Zur Zeit des thebanischen oder „Mittleren
Reiches“ (XIX.—XVIII. Jahrhundert) entwickelte sich ein leb-
hafter Verkehr zwischen Ägypten und Palästina. Handelskarawanen
zogen aus einem Land in das andere, und in den Jahren der Mißernte
wandten sich Scharen hungerleidender Kanaanäer nach Ägypten,
um sich dort Getreide zu holen. Nicht selten sandten die Pharaonen
Kriegsexpeditionen nach Palästina und Syrien, konnten aber allem
Anscheine nach den Widerstand der Amoriter und der hinter ihnen
stehenden babylonischen Obergewalt nicht überwinden, was übrigens
die Pharaonen nicht hinderte, sich auf den Denkmälern prahlerisch
als „Gebieter der Asiaten“ zu bezeichnen. Ehe es den Pharaonen
gelang, die „Asiaten“ zu unterwerfen, eroberten diese vielmehr selbst
für eine Zeitlang Ägypten. Um 1700 drangen in das Nildelta aus
der benachbarten Wüste Nomadenhorden ein, die in den ägyptischen
Inschriften allgemein „Asiaten“ * (Amu) genannt werden und in
späterer Zeit (bei Josephus Flavius, auf Grund griechischer Quellen)
k Ilyksos. Nachdem sie sich der östlichen Grenzmark Ägyptens be-
6
§ 1. Das vorisraelitische Palästina
mächtigt und ihre Hauptresidenz in Auaris im Nildelta aufgeschlagen
hatten, unterwarfen diese „Hirtenkönige“, die Hyksos, die thebani-
schen Pharaonen und dehnten, wie es scheint, ihre Herrschaft auch
über die angrenzenden Gebiete Palästinas aus.
Die Herrschaft der asiatischen Eindringlinge in Ägypten dauerte
ungefähr hundert Jahre. Nach dieser langen Unterjochung gelang
es den Pharaonen, das ägyptische Volk in Aufruhr gegen die
Fremdherrscher zu bringen, ihre Hauptstadt Auaris wurde erobert,
sie selbst aus dem Nildelta vertrieben, wobei ihnen die Ägypter bis
nach Südpalästina und noch weiter, bis Phönizien und Syrien,
nachsetzten. Das geschah um das Jahr i58o unter dem thebani-
schen König Ahmosis. Nunmehr beginnt eine Zeit der aggressiven
Politik Ägyptens gegenüber den „Asiaten“. Das patriotische Hoch-
gefühl im befreiten Lande spornt die Pharaonen der neuen (18.)
Dynastie zu neuen Eroberungen in Palästina und Mesopotamien an.
Der Pharao Tutmosis I. unternimmt einen Zug nach Syrien
(Retenu) und nach dem Zweiströmeland (Naharina), bringt von
dort viele Gefangene mit und hinterläßt Garnisonen in einigen der
eroberten Städte (um i53o). Ein Widerstand seitens der babyloni-
schen Machthaber kam, wie es scheint, nicht in Frage, da Baby-
lonien zu jener Zeit viel unter inneren Wirren zu leiden hatte.
Aber gegen die eindringenden Ägypter erheben sich die einheimi-
schen Kleinkönige. Die Amoriter in Syrien (die Stadt Kades am
Orontes) wie auch in Phönizien ziehen in den Kampf. Der
mächtige Pharao Tutmosis III. (i5oo—i45o) unternimmt eine
ganze Reihe von Feldzügen zur Bekämpfung der aufständischen
palästinischen Könige, die unter der Anführung des Amoriter-
königs in Kades ein Bündnis geschlossen hatten. Die ägyptischen
„Annalen“, die in den Mauern des dem Gotte Amon geweihten
Tempels von Karnak (Theben) in Hieroglyphen eingemeißelt sind,
schildern die glänzenden Siege des Pharao: er schlägt das Heer der
verbündeten syrisch-palästinischen Fürsten bei Megiddo und Taanak
(am Berge Karmel), verwüstet das Libanongebiet, erstürmt die
Amoriterstadt Kades, dringt in das Land des Stammes Mitani in
Naharina ein und errichtet hier Grenzsteine als Zeichen seines
Siegeszuges bis hart an die Grenzen Babyloniens. Die geängstigten
Babylonier, Hetiter und andere Völkerstämme bringen dem Er-
oberer des Orients Geschenke dar. Auch der „Negeb“, das südliche
Der Stamm Israel zwischen Babylonien und, Ägypten
Randgebiet Palästinas, ist den Pharaonen untertan. Unter den
Nachfolgern Tutmosis III. sind alle festen Städte Syriens und
Palästinas mit ägyptischen Garnisonen belegt; ägyptische Befehls-
haber („Rabissu“) schalten im Lande und bevormunden die ein-
heimischen Fürsten. Palästina sendet den ägyptischen Pharaonen
reichen Tribut aus den Erzeugnissen seines Landes: Zedernholz vom
Libanongebirge, Wein, Honig, Öl. Das fruchtbare Ägypten ver-
sorgt seinerseits Palästina mit Getreide in den Mißerntejahren, die
im Süden Kanaans nur allzu häufig sind. Die früheren Gebieter
Palästinas, die babylonischen Könige, erkennen die Souveränität
Ägyptens in diesem Lande an. Der babylonische König Burnaburias
schreibt dem ägyptischen Könige Amenophis oder Amenhotep (um
i38o—i36o) einen Brief, in dem er sich über die Ermordung
und Ausplünderung babylonischer Kaufleute in Kanaan (Kinani)
mit folgenden Worten beklagt: „Kanaan ist dein Land, und seine
Könige sind deine Diener. In deinem Lande ist mir Gewalt ge-
schehen, züchtige sie (die Schuldigen).“
In der Regierungszeit Amenophis :III. und IV., zwischen i4i5
und i36o, kam Palästina nicht zur Ruhe. Die einheimischen
Fürsten, Vasallen Ägyptens, berichten ihren Gebietern, den Pha-
raonen, daß kriegerische Männer aus dem Stamme Chabiru in das
Land eindringen und die Städte verwüsten, wobei die Vasallen
einander verräterischer Beziehungen zu den neuen Eroberern be-
zichtigen. Dieser in neuester Zeit entdeckte Briefwechsel der palä-
stinischen Fürsten mit den ägyptischen Pharaonenx) gibt uns ein
klares Bild von der allgemeinen Lage Palästinas zur Zeit des ersten
Eindringens der Stämme der „Ibrim“ oder Hebräer, die wahr-
scheinlich identisch sind mit den erwähnten „Chabiruleuten“. Der
ganze Landstreifen längs des Mittelmeeres von Syrien bis Ägypten
■*■) Im Jahre 1887—1888, bei den Ausgrabungen der Überreste von Tell-el-
Amarna, wurden an dem Orte der ehemaligen Residenz Amenophis IV., im
mittleren Ägypten, einige hundert Tafeln aus dem alten Archiv des Pharao
auf gefunden, die in babylonisch-assyrischer Keilschrift beschrieben sind. Die
Tontafeln erwiesen sich als Briefe der Vasallenfürsten Syriens und Palästinas
wie auch der Ägypten verbündeten Könige Babyloniens und des nördlichen
Mesopotamiens an den Pharao. Die Schriftsprache ist mit seltenen Ausnahmen
die babylonische. Dieser ganze Briefwechsel, der für die Geschichtsforschung
des alten Orients von umwälzender Bedeutung war, wird in der neuen biblischen
Wissenschaft „Amarnabriefe“ genannt, und die Epoche, der die Briefe angehören
(XV.—XIV. Jahrhundert vor der christlichen Ära), die „Amarnazeit“.
§ 1. Das vorisraelitische Palästina
zerfiel damals in zwei Teile: der nördliche heißt Amurru und
schließt die Länder der Amoriter und Hetiter im Libanongebiet,
dem späteren Phönizien, in sich ein; der südliche Teil heißt
a Kanaan (Kinnahi, Kinahna) und wird von einer Menge kleiner
Stämme bevölkert. Beide Teile bestehen aus einer Reihe kleiner
Staaten oder Stadtstaaten, ein jeder mit seinem eigenen König oder
Fürsten. Die Könige von Tyrus, Sidon und Byhlos (Gebal) tragen
semitische Namen: Abimilki (Abimelek), Zimrida und Rib-Addi;
im Süden heißt der König Urusalims oder Jerusalems Abdichiba.
In den Briefen werden auch Städte erwähnt, die aus der biblischen
Geschichte bekannt sind: Akko} Askalon, Gezer, Lakis. In ihren
Berichten an den Pharao führen die palästinischen Vasallen Klage
gegeneinander oder klagen über ihre eigene Ohnmacht im Kampfe
mit den Eindringlingen. Die Kleinfürsten liegen in fortwährendem
Hader miteinander und ein jeder trachtet danach, durch Denunzia-
tionen an den Pharao seinen Gegner ins Verderben zu stürzen. So
hinterbringt z. B. der König des phönizischen Byblos, Rib-Addi,
daß einer der Amoriterfürsten abtrünnig geworden sei und die
benachbarten, treu zum Pharao haltenden Städte überfallen habe.
Der König von Tyrus, Abimilki, klagt in folgenden Ausdrücken
seinen Nachbar, den König von Sidon, des Verrates an: „Dem
König (Pharao), meinem Herrn, meiner Sonne — Abimilki, dein
Diener. Siebenmal und abermals siebenmal bin ich zu Füßen des
Königs niedergefallen. Du bist die Sonne, die über mir aufgeht
und die kupferne Wand, die mich schützt. Ich verteidige die große
Stadt Tyrus für den König, meinen Herrn, bis der starke Arm des
Königs sich zu mir hinstreckt. Aber Zimrida, der Sidonäer, verkehrt
täglich mit dem Aufwiegler Aziru und hinterbringt ihm alles, was
er von Ägypten erfährt. Ich würde mit Freuden vor das Antlitz
des Königs, meines Herrn, treten, kann mich aber nicht aus den
Händen Zimridas von Sidon freimachen: sobald er erfährt, daß
ich mich an den Hof begeben will, zieht er in den Krieg gegen
mich!“ Und gleichzeitig beteuern ihre Vasallentreue dem Pharao
gegenüber sowohl der angeklagte König von Sidon als auch der
König des Amurru-Landes, der Aufwiegler Asiru selbst. In den
Briefen südkanaanäischer Könige werden besonders beunruhigende
Mitteilungen gemacht über die Eroberungserfolge der „Ghabiru-
leute“. Der König Abdichiba von Jerusalem, der Untreue dem
9
Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten
Pharao gegenüber beschuldigt, versichert diesem in einer Reihe von
Briefen, es sei alles nur eitel Verleumdung und bittet ihn flehent-
lich um militärische Hilfe gegen die fremden Eindringlinge: „Es
sorge der König für sein Land! Dahin sind die Länder des Königs.
Die Städte des Königs werden von den Ghabiru erobert. Nicht ein
Landesfürst ist mehr für den König, meinen Herrn. Verloren sind
alle ... Siehe, das Gebiet von Gezer, das von Askalon und die
Stadt Lakis haben ihnen (den Feinden) gegeben Speise, Öl und
all ihren Bedarf. Darum sehe der König nach den Truppen und
schicke Truppen gegen die Fürsten, welche sich vergehen gegen
den König, meinen Herrn.“
Allein die verzweifelten Rufe um militärischen Beistand gegen
die Eroberer finden bei der ägyptischen Regierung nur sehr wenig
Anklang. Der regierende Pharao, Amenophis IV., ein berühmter
Religionsreformator, war durch andere Angelegenheiten in Anspruch
genommen: er setzte den Kultus des Sonnengottes Aton an Stelle
des alten Kultes des Amon ein und suchte den rohen Aberglauben
seines Volkes zu bekämpfen. Jedem Erobererehrgeiz durchaus fern-
stehend, schenkte der .König den Wirren in Syrien und Palästina
nur wenig Aufmerksamkeit und merkte nicht, daß die Oberherr-
schaft über diese Länder seinen Händen entglitt. Unter Ame-
nophis IV. wurde das nördliche Syrien von den Hetitern erobert,
das Land Amurru mit den phönizischen Städten hatte sich staat-
lich unabhängig gemacht, und nur das südliche Palästina blieb noch
unter der Oberherrschaft Ägyptens1).
In dieser Zeit der Wirren kamen Gruppen von „Asiaten“ aus
Palästina, von Kriegsschrecken und Hungersnot getrieben, nach
Ägypten, um unter dem schützenden Arm des Pharao Zuflucht zu
suchen. Aus der Zeit Amenophis IV. und seines Feldherrn Harem-
heb, der später selbst den Pharaonenthron bestieg, ist eine Inschrift
erhalten geblieben über „Asiaten“, die, von ihren Wohnstätten
vertrieben, aus ihren verwüsteten Städten nach Ägypten kamen und
dort von dem „allmächtigen König“ unter seinen Schutz genommen
wurden (um i36o).
1) Die Ausgrabungen der allerletzten Zeit (1920—22) in Ägypten haben
zur Erkenntnis der Persönlichkeit und des Wirkens sowohl dieses königlichen
Reformators, der in den Hieroglyphen Echriaton genannt wird, wie auch zu der-
jenigen seines Nachfolgers, der sich den Namen Tut-anch-Amon beigelegt hat,
viel beigetragen.
IO
§ 2. „Ibrim“ und Israel. Sagen über die Stammväter in Kanaan
Erst unter den Pharaonen der 19. Dynastie, Sethos I., und be-
sonders unter Ramses II. (um i3oo—12 35), macht sich die
aggressive Politik der Ägypter in Palästina von neuem geltend.
Ramses unternimmt eine Reihe von Feldzügen gegen die Hetiter
im syrischen Kades und gegen die aufständischen Palästinafürsten
der Küstenstädte (Askalon u. a.). Die langjährige Regierung dieses
mächtigsten aller Pharaonen, der sich auch in seiner Heimat durch
Errichtung prächtiger Rauten bleibenden Ruhm schuf, war das
letzte Auf strahlen der Größe Ägyptens. Unter dem Nachfolger
Ramses’, Merneptah oder Menephtah (um 12 35—1215), beginnt
der Zerfall des Reiches. Im afrikanischen Libyen und in Palästina
kommt es zu Aufständen. Eine lange Hymne auf einer Siegessäule
bei Theben verherrlicht noch die Siege Merneptahs über die auf-
rührerischen Provinzen, jedoch nach seinem Tode wird Ägypten
selbst von inneren Kämpfen heimgesucht und während des ein-
getretenen Interregnums reißt ein Mann syrischer Abkunft die
Herrschaft an sich. Mit diesen Umwälzungen in der Geschichte
Ägyptens stehen die wichtigsten Geschehnisse in der Geschichte
Israels in engstem Zusammenhang.
§ 2. „Ibrim“ und Israel. Sagen über die Stammväter in Kanaan
Die semitische Völkerschaftsgruppe der „Ibrim“ (D'HDJ?) oder der
Hebräer wird in der Bibel zum erstenmal im Zusammenhang mit
ihrem Stammvater Abraham („Abraham * ha-ibri“, Gen. i4> i3)
erwähnt. Das Leben dieses Urvaters wird hier in sagenhafter Form
dargestellt, die aber einen Kern geschichtlicher Wahrheit in sich
birgt. Die biblischen Erzählungen über Abraham können in ihrer
vollendeten literarischen Form nicht vor dem IX. Jahrhundert vor
der christlichen Ära abgefaßt sein (s. unten § 5o—5i) und sind
folglich durch viele Jahrhunderte von den in ihnen geschilderten
Ereignissen getrennt. Diesen Erzählungen lagen aber zweifellos
sehr frühe mündliche Überlieferungen oder deren ursprüngliche
Niederschrift zugrunde, wie sie stets der systematischen Bearbei-
tung der Geschichte eines Volkes vorangehen. Die Aufgabe der
wissenschaftlichen Geschichtsschreibung besteht nun in der Schei-
dung der ältesten authentischen Elemente der Überlieferung, aus
11
Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten
denen Nachklänge der Wirklichkeit herauszuhören sind, von den
späteren literarischen Schichtungen. Zu diesem Zwecke muß die
sagenhafte Geschichte der Patriarchen des hebräischen Volkes zu-
nächst in den Rahmen einer allgemeinen Geschichte des alten
Orients eingefügt und den Angaben der sonstigen orientalischen
Denkmäler gegenübergestellt werden. Im Lichte dieser zum Teil
erst unlängst entdeckten Denkmäler gewinnen die sagenhaften Ge-
stalten Abrahams und der anderen Patriarchen des hebräischen
Volkes an realer Bedeutung und können in dem Sinne als geschicht-
liche Gestalten angesprochen werden, daß sie als eine Versinnbild-
lichung bestimmter historischer Vorgänge zu deuten sind.
Der Weg des Geschlechtes Abrahams, wie er in der Bibel dar-
gestellt wird, ist der geschichtliche Weg vieler nomadisierender
Semiten des Altertums, die in verschiedenen Zeitpunkten zu einer
seßhaften oder halbseßhaften Lebensweise übergingen. Aus den
Erzählungen von den Wanderungen Abrahams und seines Enkels
Jakob (Israel) läßt sich ein ferner Widerhall jener Wanderungen
der Völkerschaften Vorderasiens heraushören, die in der Zeit von
der babylonischen Monarchie Hammurapis bis zu der Periode der
ägyptischen Oberherrschaft in Syrien und Palästina vor sich gingen.
Als Heimat des ersten hebräischen Stammhauptes, als der Ausgangs-
punkt seiner Wanderung, gilt in den hebräischen Überlieferungen
die chaldäische Stadt Ur (Ur-Kasdim), eine der alten Hauptstädte
Babyloniens. Aus diesem Gebiet des unteren Euphrat zieht das
Geschlecht Abrahams zum Ursprungsgebiet dieses Flusses hinauf,
dorthin, wo er zusammen mit dem Tigris das Zweiströmeland
bildet, in die Stadt Ilarran, hierbei sich den Grenzen Syriens
und Palästinas nähernd, wo der Reihe nach Amoriter, Hetiter,
Aramäer und Phönizier herrschten. Von dort aus begibt sich dann
der wandernde Stamm nach Kanaan, „immer weiter und weiter
nach dem Südland (Negeb) zu“ (Gen. 12,9), also nach dem süd-
lichen Steppengebiet Palästinas. Hier gelangen die Wanderer in den
Wirbel großer politischer Bewegungen, deren dumpfer Nachklang
bis zu uns dringt in der biblischen Erzählung von dem Eindringen
babylonischer und elamitischer verbündeter Könige in das unter
ihrer Oberhoheit stehende kanaanäische Gebiet am Toten Meere.
Dieser Feldzug mochte zur Zeit Hammurapis stattgefunden haben,
der in der biblischen Darstellung (Gen. Kap. i4) vielleicht unter
12
§ 2. „Ibrim“ und Israel. Sagen über die Stammväter in Kanaan
dem Namen „Amraphel, König von Schinear“ x) gemeint ist. Läßt
man diese Annahme gelten, so ergibt sich daraus ein chronologischer
Anhaltspunkt für das erste Auftreten der Gruppe der „Ibrim“ auf
dem Boden Kanaans, und als Anfangspunkt der hebräischen Ge-
schichte kann dann das XX. Jahrhundert vor der christlichen Ära
angesetzt werden. Die sagenhafte Wanderung Abrahams nimmt
nichl in Kanaan ihr Ende. Eine der Etappen dieser Wanderung
bildet Ägypten, wohin das Stammeshaupt wegen der in Kanaan herr-
schenden Hungersnot auf kurze Zeit übersiedelt, im großen und
ganzen dem üblichen Wanderungsweg der nomadisierenden Semiten
folgend, von Babylon nach Ägypten, von einem Pol der ältesten
Zivilisation bis zu seinem Gegenpol.
Jene Gruppe der Semiten, die vom „anderen Ufer“, aus den
Ländern des Euphrat, unter Anführung des sagenhaften Abraham
nach Kanaan kam, führte den Namen „Tbrim“ oder „Ibrim“,
was sagen will: Leute vom anderen Flußufer. Ursprünglich ver-
stand man darunter die Ankömmlinge vom Ufer des Euphrat,
jedoch später, zur Zeit der Eroberung Kanaans durch die Hebräer,
konnten auch die Einwanderer vom östlichen Ufer des Jordans her,
von Transjordanien, damit gemeint sein, woher diese Eroberer-
gruppen 1 2) in das westliche Kanaan eindrangen. Es ist uns nicht
bekannt, zu welchem Zweige der semitischen Rasse die „hebräische“
Stammesgruppe gehört haben mag und in welcher Weise sie ur-
sprünglich mit den Amoritern zusammenhing, die der vor-
herrschende Stamm im vorisraelitischen Palästina waren. Ein Pro-
phet aus der späteren Zeit sprach zu seinem jüdischen Volke: „Dein
Vater war Amoriter und deine Mutter Hetiterin“ (Ez. 16, 3, 45);
in diesem Satze kann man jedoch nicht so sehr eine ethnische als
vielmehr eine geographische Kennzeichnung Israels erblicken, als
des Erben des Landgebietes zweier Urstämme Palästinas, von denen
die aus Kleinasien hergekommenen Hetiter überhaupt keine Se-
1) Siehe Anhang (Note 2) zu diesem Bande.
2) Der spätere Verfasser des Vermächtnisses Josuas (Jos. Kap. 2 4) be-
richtet, die Vorfahren des hebräischen Volkes vor Abraham hätten ,,jenseits des
Flusses“ gelebt, „beeber ha’nahar“. Der Ausdruck ,,ha’nahar“ oder „ha’nahar
ha’gadol“ — großer Fluß — pflegte aber fast immer zur Bezeichnung des
Euphrat verwendet zu werden (s. Gen. i5, 18; Deut. 1, 7 und 11, 2 4 und
sonst); Transjordanien dagegen wurde ganz eindeutig mit einem besonderen
Ausdruck bezeichnet: eber ha’jarden.
13
Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten
miten waren, sondern erst in Palästina sich mit den Semiten teil-
weise vermischten. Fest steht nur die nahe Verwandtschaft der
Hebräer mit den Aramäern des nördlichen Zweiströmelandes (Aram-
Naharaim oder Naharina). Die ursprüngliche Zusammengehörigkeit
der sprachverwandten Hebräer und Aramäer bekunden jene bibli-
schen Legenden, in denen erzählt wird, daß nach dem Fortzug
Abrahams nach Kanaan sein Bruder Nahor in Aram-Naharaim ge-
blieben ist, wo ihm eine Nachkommenschaft entsproß, die sich
späterhin durch Eheschließungen mit den Nachkommen Abrahams
verband (die Frauen der Stammväter Isaak und Jakob). Ein Wider-
hall dieser fernen Tradition ist auch aus der einer späteren Zeit ent-
stammenden Tempelbeichte der Jerusalemer Pilger herauszuhören
(Deut. 26, 5): Arammi obed abi, „ein umherirrender Aramäer war
mein Vater“.
Wenn in Abraham der Scheidungsprozeß der Völkergruppe der
Hebräer von den semitischen Völkerschaften versinnbildlicht ist, so
ist in den Stammvätern Isaak und besonders in Jakob-Israel die
weitere Stammesgliederung der Hebräer selbst verkörpert, die die
Entstehung des Stammes Israel zur Folge hatte. Die biblischen
Sagen, die diese Gliederung der Stämme in Form einer Ver-
zweigung der Familienmitglieder darstellen, verbinden den Beginn
dieses Prozesses im hebräischen Stamme mit dem Familienleben
Abiahams. Vom Ursprungsstamm der hebräischen Gruppe zweigen
sich zunächst die Stämme Moab und Ammon ab, die „Kinder“ des
Neffen Abrahams, Lot, die sich in den Steppen östlich vom Jordan
niederlassen. Als außereheliche Nachkommen des ersten Stamm-
vaters gelten Ismael und Midian, Nomadenvölker der Wüste, die
sich zwischen Syrien und Ägypten hinzieht. Die endgültige Glie-
derung der ethnischen Gruppe der Hebräer wird durch das Zer-
würfnis zwischen den beiden Söhnen des Stammvaters Isaak, Esau
und Jakob, versinnbildlicht. Esau ist der Führer des das süd-
liche Steppengebiet bewohnenden Stammes Edom, Jakob aber
erhält den Beinamen Israel und wird zum unmittelbaren Stammes-
haupte des letzten Sprößlings der Gruppe „Ibrim“: des Volkes
Israel. In allen diesen Sagen wird nicht nur der Prozeß der ethni-
schen Gliederung dargestellt, sondern auch der territorialen Ver-
teilung der verwandten Völkerschaften, denen allen die „hebräische“
Sprache gemeinsam war. Und insofern in solchen Sagen nur die
i4
§ 2. ,,Ibrim“ und Israel. Sagen über die Stammväter in Kanaan
allgemeinen Umrisse geschichtlicher Bewegungen gezeichnet sind,
ist in ihnen auch ein Wahrheitskern anzuerkennen. Es ist z. B. an-
zunehmen, daß schon lange vor der Eroberung Kanaans durch die
Israeliten ganz Palästina von ihren Stammesbrüdern aus der Gruppe
„Ibrim“ nach und nach besiedelt wurde und daß sich auf diese
Weise jener Umkreis aus Moabitern, Ammonitern, Edomitern und
den Midianitern oder Kenitern der Steppe bildete, der bei der
späteren Herausbildung eines israelitischen Zentrums in Kanaan
eine so wichtige Rolle spielte.
Dabei muß man stets dessen eingedenk sein, daß die ältesten
Volkssagen uns in einer umgearbeiteten literarischen Form über-
liefert wurden, in der sich nicht nur die frühesten, sondern auch
spätere geschichtliche Ereignisse widerspiegeln. Im ersten Buch
der Bibel erscheint die Tatsache der Bildung von Stämmen und
Staaten stets in Form einer Personifikation: Charakter und Los
eines bestimmten Stammes werden in Form von Begebenheiten
des persönlichen und Familienlebens eines sagenhaften Stamm-
hauptes symbolisiert. Durch diese Charakteristik von Familien-
verhältnissen werden häufig die politischen Beziehungen zwischen
den Völkern einer bestimmten Rassenfamilie sichtbar. So spiegelt
sich z. B. der spätere geschichtliche Kampf der Aramäer mit den
Israeliten aus der Zeit der Reichstrennung in der biblischen Er-
zählung von dem Handel des Aramäers Laban mit seinem Schwieger-
söhne Jakob und von ihrem Einverständnis wegen der Grenzen ihrer
Besitzungen wider: In dem transjordanischen Gilead schichten die
Vertragschließenden einen „Wall des Zeugnisses“ auf (Gal-ed, daher
auch der Name dieser Gegend: Gilead), als Markzeichen zwischen
ihren Ländern (Gen. 3i, 45—54)* In den Erzählungen von der
Verzweigung der Familien Abrahams, Lots, Isaaks, Esaus und
Jakobs kommt die Tatsache der Rassenverwandtschaft und der po-
litischen Rivalität zwischen Israel einerseits und Ammon, Moab und
Edom andererseits zum Ausdruck. Dazu gesellt sich eine ganz
offenkundige nationale Tendenz: zurückschauend sucht der biblische
Geschichtschreiber der späteren Zeit die Herkunft und die Eigen-
heiten der mit Israel wetteifernden Völker in einem unvorteilhaften
Lichte erscheinen zu lassen. So haftet an Moab und Ammon der
Makel ihrer Herkunft von einer blutschänderischen Vereinigung
Lots mit seinen Töchtern (Gen. 19, 3o—38). Ismael, der sagen-
i5
Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten
hafte Stammesführer der wandernden „Kinder des Ostens“ (Bne-
kedem) und der Beduinen der arabischen Wüste, wird als außer-
ehelicher Sohn Abrahams hingestellt, der in die Wüste („Midbar“)
verbannt wurde und so seines Erbanteiles in dem gelobten Lande *
Kanaan verlustig ging (Gen. Kap. 16 und 21). Gleichfalls in per-
sonifizierter Form (in der Erzählung von dem Verkauf der Erst-
geburt und dem Segen Isaaks, Gen. Kap. 2 5 und 27) ist der
Übergang der „Erstgeburt“ von Esau an Jakob, d. i. der politischen
Hegemonie von den Edomitern, die sich zuerst am Südende Pa-
lästinas niedergelassen hatten, an die späteren Eroberer, die Israeli-
ten, wiedergegeben. Dabei gelingt es dem israelitischen Geschichts-
schreiber nicht immer, diese absichtliche Personifikation unkenntlich
zu machen; in der Erzählung von der Geburt der Zwillingsbrüder
Esau und Jakob sagt Gott zu ihrer Mutter Rebekka (Gen. 2 5,23):
„Zwei Völker sind in deinem Leibe,
zwei Stämme (Nationen) gehen auseinander aus deinem Schoß;
ein Stamm wird den anderen überwältigen,
und der ältere wird dem jüngeren dienen.“
Somit ist der Stamm „Bne-Israel“ (Söhne Israels) das Ergebnis
einer zweifachen Entwicklung: des Ausscheidens der „Hebräer“ aus
der allgemeinsemitischen ethnischen Gruppe und des späteren Aus-
scheidens der „Israeliten“ aus der hebräischen Stammesgruppe, die
sich in den Grenzgebieten Kanaans festgesetzt hatte. Der israelitische
Stamm trat hervor, einem Kerne gleich, der seine Hüllen nachein-
ander sprengt. Nun folgt die innere Teilung des Kernes selbst, des
Stammes Israel. Auf dem Boden Kanaans zerfällt diese halb
nomadenhafte, halb seßhafte Völkerschaft im Laufe der Jahr-
hunderte allmählich in einzelne Geschlechter, Sippen oder „Stämme“.
Bei dem patriarchalischen Zusammenleben (das sich bis auf den
heutigen Tag in der Lebensführung der arabischen Beduinen an man-
chen Orten Syriens und Palästinas, insbesondere Transjordaniens, er-
halten hat) war eine derartige Gliederung nach Geschlechtern eine
Folge der Vergrößerung des Stammes, der Ausdehnung seines Sied-
lungsgebietes und des Bedürfnisses nach einer geordneten Gemeinde-
verfassung. Die biblische Überlieferung stellt die Reihenfolge in der
Entstehung der zwölf Geschlechtergruppen dar, die von ebensoviel
Söhnen Jakob-Israels abstammen. Sie ordnet sie nach dem alten
Prinzip des Matriarchates, nach ihrer Herkunft von zwei Frauen
16
§ 3. Die Wüste und Ägypten. Moses
und zwei Sklavinnen Jakobs. Die Leagruppe besteht aus sechs
Stämmen: Rüben, Simeon, Levi, Juda, Issachar, Sebulon; die
Rahelgruppe aus zwei Stämmen: Joseph und Renjamin, von denen
der Josephstamm später in zwei Unterstämme zerfällt: Ephraim und
Manasse; die Gruppen Silpa und Bilha bestanden je aus zwei
Stämmen: Gad und Ascher, Dan und Naftali. Die Hauptstämme
bildeten sich noch auf dem Boden Kanaans, vor der Auswanderung
der „Kinder Israels“ nach Ägypten, wohin nicht die ganze Völker-
schaft, sondern einzelne ihrer Geschlechter übersiedelten, während
andere in den Grenzgebieten Kanaans verblieben oder in der Wüste
zwischen Kanaan und Ägypten weiter nomadisierten.
Demnach hat sich die Urgeschichte des Volkes Israel in Form
einer Familienchronik erhalten. In ihr läßt sich der in den Fernen
der vorgeschichtlichen Zeit sich verlierende Widerhall wirklicher
Volksbewegungen vernehmen. Die Grundzüge dieser Bewegungen
schimmern noch durch die jahrtausendealte Verschleierung der Le-
gende hindurch, die trotz ihrer dichten Umhüllung dennoch gar
oft durchsichtig bleibt.
§ 3. Die Wüste und Ägypten. Moses
Zwischen dem Südende Palästinas und Ägypten breitet sich eine
weite Wüste mit seltenen Oasen aus, die einen Teil der syrischen
und arabischen Wüste, der Geburtsstätte der Semiten, bildet. Von
hier drangen die Viehzucht treibenden Nomaden in das östliche
Randgebiet Ägyptens, in das Nildelta ein, das sie wegen seiner
prächtigen Weiden lockte. Seine Herden auf den „sich weit dehnen-
den Wiesen des Pharao“ weiden zu können — dies war stets das
sehnlichste Streben des Nomaden, des Beduinen, dem die wenigen
Oasen der wasserarmen und sandigen Wüste nicht genügten. So
kam es, daß die schon erwähnten Nomadenhorden der Hyksos aus
der Wüste in Ägypten eindrangen, im XVII. Jahrhundert sogar
einen Teil des Landes unter ihre Herrschaft brachten und ihre
eigene „Hirtenpharaonen“-Dynastie schufen. Auch aus den Völker-
scbaftsgruppen der „Ibrim“ im südlichen Kanaan strömten viele
Auswanderer herbei. Auf den ägyptischen Denkmälern des XIV.
Jahrhunderts haben sich Inschriften erhalten über „Asiaten“, deren
Land von „Hungersnot heimgesucht“ ist und die nach Ägypten
2 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
1 7
Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten
kommen und den Pharao um Unterkunft anflehen. Der Über-
siedlung der Leute aus dem Stamme Israel nach Ägypten ist in den
dortigen Denkmälern nicht direkt Erwähnung getan, aber aus den
biblischen Sagen ist zu ersehen, daß auch die „Bne-Israel“ aus den
Steppen des südlichen Kanaan, von Hungersnot getrieben, sich nach
Ägypten wandten; hier ließen sich viele auf den Weideplätzen
Gosens nieder, einer Landschaft, die an die Wüste angrenzte und
den Nomaden oft als Aufenthaltsort diente. Die Zeit dieser Über-
siedlung kann schwerlich auch nur annähernd bestimmt werden,
da es nicht einmal bekannt ist, in welchem Zusammenhänge sie mit
der Hyksosherrschaft in Ägypten stand (bis i58o). Eine Fest-
stellung chronologischer Daten ist hier auch noch aus dem Grunde
unmöglich, weil die Übersiedlung der Israeliten nach Ägypten
nicht auf einmal geschah, sondern sich durch eine lange Zeit
hinzog: einzelne Gruppen oder Stämme der israelitischen Völker-
schaft traten zu verschiedenen Zeiten aus Kanaan oder aus der
Wüste in das Randgebiet des Pharaonenlandes über, wobei aber
andere Gruppen derselben Völkerschaft nach wie vor zwischen dem
südlichen Kanaan und Ägypten verstreut blieben. Der Stamm Israel
als Ganzes wird sich wohl nie in Ägypten zusammengefunden haben.
In personifizierter Form wird dies dargelegt in der biblischen Ge-
schichte von der auf einander folgenden Übersiedlung zuerst Jo-
sephs und daraufhin seiner Brüder nach Ägypten: das Geschlecht
Josephs (das sich in zwei Stämme — Ephraim und Manasse —
teilte) mag vielleicht ein Vortrup gewesen sein, der auf ägyptischen
Boden hinüberzog zu einer Zeit, als die anderen israelitischen Ge-
schlechter oder „Stämme“ noch in Kanaan verblieben oder in der
Wüste weiter umherwanderten. Bemerkenswert ist es auch, daß in
der Sage Moses gleichfalls aus der Wüste zu den in Ägypten ge-
knechteten Israeliten kommt und ihnen die frohe Kunde bringt von
der Rückkehr ebendorthin und erst hernach in das ihren Vorfahren
gelobte Land Kanaan x).
*) Man kann jener Theorie (Wincklers u. a.) einen gewissen Grad der Wahr-
scheinlichkeit nicht absprechen, derzufolge sowohl in den zu uns gelangten
Keilschriftstücken wie auch in den biblischen Überlieferungen zwei verschiedene
geographische Bezeichnungen in eine verschmolzen seien: Musri, die nordara-
bische Wüste zwischen Kanaan und Ägypten, und Mizraim, das sich daran an-
schließende Landgebiet Ägyptens. Dies vorausgesetzt, ist anzunehmen, daß der
Mittelpunkt der israelitischen Nomaden eben im nordarabischen Musri lag,
18
§ 3. Die Wüste und Ägypten. Moses
Die Unterjochung der Israeliten Gosens unter einem der ägyp-
tischen Pharaonen gab das Zeichen zum Auszug aus diesem Lande.
Wer war nun der „Pharao der Unterjochung“, der — dem Brauch
der ägyptischen Despoten folgend — diese Gruppe von „Asiaten“
den Staatssklaven zugesellte, die Denkmäler, Bauten und ganze Städte
für den Pharao errichten mußten, und wer war der „Pharao des
Auszugs“, der gezwungen war, die geknechteten Fremden frei-
zugeben? Diese Frage, die mit derjenigen nach der Bestimmung
der Aufenthaltsdauer Israels in Ägypten gleichbedeutend ist, wird
von den Historikern verschiedentlich beantwortet. Die einen sind
der Meinung, daß sich die Unterjochung der Israeliten unter dem
Pharao Tutmosis III. (also ungefähr um i5oo) ereignete, unter
demselben, der seine Herrschaft über Palästina ausbreitete, während
der Auszug aus Ägypten unter Amenophis IV. (um i38o) geschah,
als die Souveränität Ägyptens in Palästina durch das Eindringen
der oben erwähnten „Chabiru“ und durch die inneren Wirren in
Kanaan selbst ins Wanken geraten war. Nach Meinung anderer
fällt die Unterjochung der Israeliten in die Regierungszeit des
großen Pharao Ramses II. (um i3oo—12 35), worauf schon die
Benennung der Städte „Pitom und Ramses“ hin weist, die laut bibli-
scher Überlieferung von israelitischen Sklaven erbaut worden sind.
Dann müßte aber der Auszug aus Ägypten in die Regierungszeit
seines Nachfolgers Merneptah verlegt werden (um 12 35—1215),
als Ägypten einerseits durch das Eindringen der Libyer und anderer-
seits durch die Aufstände in den asiatischen Provinzen geschwächt
war. In Übereinstimmung mit unserer Grundauffassung, derzufolge
die Ansiedlung der israelitischen Gruppen in Ägypten als ein lang-
wieriger Prozeß zu betrachten ist, erscheint uns folgendes Schema
der Ereignisse dieser Zeitperiode als das wahrscheinlichste: 1. Die
Übersiedlung einzelner Gruppen des israelitischen Stammes in das
östliche Nildelta begann noch unter der Herrschaft der Hyksos, im
XVII. Jahrhundert; 2. nach der Vertreibung der „Hirten“, als die
von patriotischem Eifer und von Haß gegen die „Asiaten“ be-
seelten Ägypter auf Eroberungen in Syrien und Palästina ausgingen,
wurden die Israeliten, die im östlichen Randgebiet Ägyptens, in
Gosen, Zuflucht gefunden hatten, Opfer dieser anti-asiatischen und
während in dem Randgebiet Ägyptens, Gosen, nur eine seßhafte Kolonie Zu-
flucht fand, die sich von diesen Nomaden absplitterte.
2*
r9
Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten
anti-semitischen Bewegung; die ägyptische Knechtschaft mag darum
im XV. Jahrhundert unter Tutmosis III. begonnen haben, während
sie später unter dem Eroberer Ramses II. besonders schwer auf dän
Israeliten lastete; 3. diese Unterjochung führte schließlich dazu,
daß während der darauffolgenden Regierung Merneptahs die Israe-
liten einen Aufstand entfesselten und, durch die inneren Wirren
im Reiche begünstigt, das Joch der Sklaverei abwarfen, in die
Wüste eilten, wo sie sich mit ihren dort noch umherziehenden
Stammesbrüdern wieder vereinigten, um hernach gen Kanaan zu
ziehen, in dessen Randgebieten damals die den Israeliten verwandten
„hebräischen“ Stämme Moab, Ammon und Edom bereits seßhaft
waren. An der Wende des XIII. und XII. Jahrhunderts begann
also jene Eroberung Kanaans durch Israel, die die Kräfte zweier
oder dreier Generationen aufzehren sollte1).
So trat der Umschwung in der geschichtlichen Bewegung der
semitischen Gruppe „Israel“ ein. An Stelle des Wandertriebes trat
infolge des in der Fremde erlittenen Elends der Hang zum seß-
haften Leben auf jenem Boden Kanaans, wo einst die Vorfahren
der Israeliten zu Hause gewesen waren. Lange Jahre des Umher-
irrens und der Sklaverei erweckten in den Israeliten das Verlangen
nach Freiheit und nach einem geordneten Staatswesen auf eigenem
Landgebiet. Dieses Land mußte noch erworben werden, und eine
Vorbedingung dazu war die Vereinigung der verschiedenen „Stämme“
oder Geschlechter Israels, ihre Verwandlung in ein einheitliches
Volk mit einer einheitlichen, durchgebildeten Religion und gemein-
samen Zielsetzungen. All dies Streben fand seine Verkörperung in
der Gestalt des größten Nationalheros Israels, in Moses.
Moses ist der Held einer geheiligten Legende, aber seine Per-
sönlichkeit selbst, wohl durch die realen Bekundungsmöglichkeiten
seines Genies begrenzt, ist durchaus nicht sagenhaft, durchaus
keine dichterische Erfindung, wie viele glauben. Der Name Moses 2)
x) S. Anhang, Note 3.
2) Der biblischen Ausdeutung des Namens Moses (Mosche = der aus dem
Wasser Gezogene) haben die Ägyptologen nicht ohne Grund die ägyptische
Wurzel dieses Namens entgegengestellt: Mosso oder Mos, was ,,Sohn“ bedeutet
und einen Bestandteil der Namen der damaligen Pharaonen bildet: Ach-mos)
Tut-mos. Von der außerisraelitischen Herkunft des Namens „Moses“ zeugt auch
die Tatsache, daß er in der biblischen Epoche nicht wieder. Vorkommt: er häiigt
ganz mit dem Auszug aus Ägypten zusammen..
20
§ 3. Die Wüste und Ägypten. Moses
ist nicht zu den symbolischen, das Geschlecht personifizierenden
Namen zu rechnen, wie die Namen seiner Vorgänger, der Stamm-
väter. In diesem Falle stellt die biblische Legende in den Persön-
lichkeiten der Stammväter kollektive Geschlechtstypen dar und
ihre geschichtlichen Schicksale auf Grund der Volkserinnerungen;
in jenem Falle dagegen führt sie uns, wenn auch in poetischem
Gewände, eine einzelne große Persönlichkeit vor Augen, die über
ihre Umgebung und über ihr Zeitalter weit hinausragt, die Persön-
lichkeit eines Führers in der Befreiungsbewegung des Volkes, eines
Gesetzgebers und Religionsstifters, der die Gruppe verwandter
Völkerschaften vereint hat zu einem Volke. Diese Persönlichkeit
muß in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit anerkannt werden, aller-
dings in den Grenzen natürlicher Kräfteentfaltung. Die Legende, die
sich im Laufe der Jahrhunderte bildete, machte Moses zum Schöpfer
des gesamten sozialen und geistigen Bauwerkes der Nation, das aber
in Wirklichkeit erst von einer langen Reihe von Generationen er-
richtet wurde; sie hat den Umfang seines Werkes bis zum Äußersten
erweitert, wird aber seine Persönlichkeit und die eigentliche Grund-
lage seines Werkes nicht einfach erdichtet haben. Treffend wurde
bemerkt, daß, wenn Moses nicht existierte, man ihn erfinden müßte:
so unerklärlich ist ohne die Persönlichkeit des Führers die Voll-
bringung einer derartigen geschichtlichen Umwälzung, die als
Willensakt des Volkes notwendigerweise in den Taten seiner Führer,
der höchsten Verkünder dieses Willens, ihren Ausdruck finden
mußte. Ein mythischer Held könnte sich dem Andenken des Volkes
nicht in der dermaßen realistisch wirkenden Gestalt eines Gesetz-
gebers einprägen. Erinnert sie doch gerade durch diesen Zug so
sehr an den babylonischen König Hammurapi, der einige Jahr-
hunderte vor Moses gewirkt hat. Dieser ist auf einem Denkmal
in der Stellung eines Mannes dargestellt, der die Gesetzestafel un-
mittelbar aus den Händen des Sonnengottes Schamasch in Empfang
nimmt; auch von Moses wird berichtet, daß er die „Gesetzestafeln“
vom Berge Sinai herabbringt, vom Gotte Jahve empfängt. Hier wie
dort sind die Einzelheiten sagenhaft; allein das Wesen, das Ergebnis
ist Wirklichkeit. Faßt man aber überdies noch die auffallende
Ähnlichkeit des unlängst (im Jahre 1902) aufgefundenen „Kodex
Hammurapi“ und des ältesten Teiles des biblischen Kodex „Sefer
ha’brith“ (Bundesbuch, Ex. Kap. 21—22) ins Auge, so gewinnt
Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten
man sogleich einen Überblick über das Kulturmilieu, in welchem
auf die allernatürlichste Weise, ohne jegliches Wunder, der Kern
des sogenannten „Mosesgesetzes“ sich nach und nach entwickeln
konnte. In dieser Ähnlichkeit offenbart sich aber zugleich die ur-
sprünglich nahe Beziehung Israels zu den Quellen der babylonisch-
kanaanäischen und ägyptischen Kultur der Urzeit (s. unten § io).
Der Historiker vermag nicht, ohne den wissenschaftlichen Boden
zu verlassen, den Umfang des Werkes genau zu bestimmen, durch
welches Moses zur Vereinigung der einzelnen Stämme oder Sipp-
schaften zu einem einheitlichen Volk beigetragen hat; er muß
jedoch anerkennen, daß jener Prozeß der inneren Zusammenfügung
der israelitischen Stämme, der ihrer territorialen Vereinigung vor-
ausging, gerade zur Zeit Moses’ eingesetzt haben muß. Zur Verwirk-
lichung dieser inneren Einheit bedurfte es eines religiösen Beweg-
grundes, denn die gesamte Kultur des Altertums war nach Art der
babylonischen und ägyptischen durch religiöse Prinzipien bestimmt
oder, genauer, durch den Kultus einer bestimmten Gottheit oder
Göttergruppe. Ein Stamm konnte sich seiner nur dann als einer
geistigen oder moralischen Einheit bewußt werden, wenn er sich
zu einer bestimmten göttlichen Macht bekannte, die eben diesen
Volksbund begünstigte und ihm gebieterisch einen besonderen
Lebensweg unter den anderen Völkern anwies. Jene unklare natura-
listische Vorstellung von der Gottheit, die allem Anscheine nach
bis dahin bei den Israeliten vorherrschte und in dem gemein-
semitischen Gattungsnamen „El“ oder „Elohim“ ihren Ausdruck
fand, vermochte es nicht, die Israeliten zu einer abgesonderten
geistigen Einheit zusammenzuschließen. Der gemeinsame Gott konnte
die Welt erschaffen, aber nur der besondere Gott vermag, nach der
damaligen Auffassungsweise, ein Volk zu erschaffen auf eigenem
Landgebiet und mit eigener Staatsordnung. Von dieser Vorstellung
muß Moses ausgegangen sein, als er sich dazu berufen fühlte,
das große Werk der Befreiung und Absonderung der israelitischen
Stämme zu vollbringen, um dadurch den weiteren Aufbau ihres
eigenen Staatswesens zu bewirken.
Zu diesem Ende wählte Moses diejenigen Werkzeuge, die ihm
gerade zur Verfügung standen. Die Sage führt diesen aus Ägypten
gebürtigen Abkömmling des Stammes Levi in die Wüste Horeb
oder Sinai, wo seine Seele von einer wunderbaren Feuervision er-
22
§ 3. Die Wüste und Ägypten. Moses
leuchtet wurde, in der ihm „Jahve, der Gott Israels“, erschien. Der
Gott des Berges Sinai, dieses Olymps der nordarabischen Wüste,
der der Gönnergott des Volkes Israel werden sollte, sendet Moses
aus, die Heldentat der Befreiung der Geknechteten zu vollbringen,
damit sie „Gott auf diesem Berge dienen“. Die in Ägypten ein-
getretenen Wirren und die Katastrophe, die die Ägypter an der
Meerenge des Roten Meeres ereilte (in der Nähe des heutigen
Suezkanals), gab den Gefangenen Gosens die Möglichkeit, aus dem
Lande ihrer Unterjochung unter der Führung Moses auszuziehen.
Die Befreiten begeben sich zunächst zum Berge Sinai und ver-
nehmen dort aus dem Munde Jahves, durch Moses' Vermittlung,
die ersten Gebote der Religion, der Sittlichkeit und des rechten
Gemeinlebens. Vermutlich galt der Sinai ehedem auch den Israeliten
für heilig, gleichwie dem in der Nähe dieses Berges ansässigen und
ihnen verwandten Stamme der „Keniter“, eines Zweiges der um-
herziehenden Midjaniter aus der Gruppe der „hebräischen“ Völker-
schaften. Der biblischen Sage nach trat Moses noch vor dem Aus-
zug aus Ägypten in verwandtschaftliche Beziehungen zu der in
der Wüste Sinai lebenden Familie des midjanitischen Priesters Jitro,
dessen Tochter er ehelichte; später folgte er den Ratschlägen seines
Schwiegervaters bei der Anleitung des Volkes in der Wüste, sowie
den Anweisungen eines anderen Mitgliedes dieser Familie, des
Keniters Hobab, der der Führer der Israeliten durch die Wüste war.
Die Annäherung an den Priester des Sinaigottes, der auf dem Gipfel
des Berges in den Gewitterwolken seinen Sitz hatte, mag auf den
Entschluß Moses' eingewirkt haben, diesen heiligen Berg zur Stätte
seiner religiösen Offenbarung zu erwählen. Hier spielte sich durch
Moses' Vermittlung die „Schließung des Bundes“ („Brith“) zwischen
dem Volke Israel und seinem Gott Jahve ab, ein Akt, der die Be-
festigung des geistigen Bündnisses der einzelnen Stämme zum
Ziele hatte. Ihre innere Organisierung begann aber erst auf der
nächsten Etappe des Weges von Ägypten nach Kanaan, in der
den Grenzen des südlichen Kanaan naheliegenden Oase Kades, wo
sich augenscheinlich noch Überreste israelitischer Geschlechter be-
fanden, die sich dort früher niedergelassen hatten. Schon der Name
des Ortes („Kades“ = Heiligtum) zeugt davon, daß dort der Mittel-
punkt irgendeines Kultes1) war. Hier hat Moses, wie die Sage
1) Mit dem Namen Kades wurden mehrere Mittelpunkte des Kultes an ver-
23
Der Stamm Israel zwischen Babylonien und Ägypten
erzählt, Recht und Ordnung unter den Israeliten gestiftet. Die
Wasserquellen des Ortes, die von den Bewohnern der Wüste als
Gottesgaben verehrt wurden, erhielten dementsprechend die Namen
„En-Mispat“ und „Meribat Kades“ ‘ („Rechtsquelle“, „Gerichtsstätte
bei Kades“ 1). Die Erinnerung an jene Zeit hat sich in der alten
religiösen Hymne erhalten (Deut. Kap. 33, 2—4)*-
„Jahve kam von Sinai und erstrahlte (seinem Volk) von Seir,
Glänzte auf vom Gebirge Paran und kam von Meribat Kades.
Ein Gesetz hat uns Moses verordnet, (sein Besitztum) ist die Gemeinde Jakobs.“
Diese ganze Tätigkeit des Führers auf dem Wege von Ägypten
nach Kanaan hatte indessen nur die Bedeutung eines Vorbereitungs-
aktes: es war die Zusammenfassung einer halb nomadenhaften,
später geknechteten Völkerschaft, die sich eben erst anschickte,
auf eigenem Boden seßhaft und frei zu werden. Dem Volke,
das dem primitiven Nomadenzustande zu entwachsen begann
und sich von dem fremden Joch befreit hatte, wurde nun in
seinem Drange nach Erlangung eines eigenen Landgebietes jenseits
der Wüstengrenzen eine mächtige religiöse Sanktion zuteil. Das
nationale und das religiöse Moment sind in dem großen, von Moses
vollbrachten Werke unlösbar miteinander vereint. Wir wissen nicht,
wie es zustande kam, aber wir sehen die geschichtlichen Ergebnisse
des vollbrachten Werkes: eine Gruppe einzelner Geschlechter, die
sich zu einem bestimmten Zwecke verbunden hatten, zieht nach
Kanaan, wo die Oberherrschaft Ägyptens bereits geschwächt ist,
und erwirbt sich in hartem Kampfe ein Landgebiet, also die Haupt-
bedingung für eine nationale Konsolidierung. Das erste Stadium
des Ausscheidens Israels aus dem umgebenden Völkergemisch ge-
langt zu einem Abschluß und es beginnt das zweite Stadium: die
teri itoriale Absonderung.
schiedenen Orten benannt: das syrische Kades auf dem Orontes, Kades-Naftali
an der phönizischen Grenze u. a. Das Sinai-Kades heißt in der biblischen
Erzählung Kades-Barnea.
x) Der Name „Me-meribat-Kades“ (Num. 27, i4 und Deut. 32, 5i) ist
dem Sinne nach mit ,,En-Mispat“ gleichbedeutend. Der irrtümliche Text .,Meri-
baboth Kades in Deut. 33, 2 muß augenscheinlich gelesen werden: ,,me-meribat-
Kades“, wie es aus dem Kontext in dem weiter angeführten Zitat erhellt.
24
Zweites Kapitel
Die Eroberung Kanaans und die Riehterzeit
§ 4. Kanaan und Tr ans Jordanien
Kanaan (Kinahna in den babylonischen Keilinschriften, das
hebräische hieß von altersher das Land, das als schmaler
Landstreifen zwischen dem Mittelmeer im Westen, dem Jordan
im Osten, dem Libanongebirge im Norden und der Wüste, die
Asien von Ägypten trennt, im Süden liegt. Im Osten wird dieser
Landstreifen durch den Jordan von dem ihm parallellaufenden Ge-
biet — Trans Jordanien — geschieden, das an die syrische Wüste
angrenzt. Diese beiden Landstriche standen viele Jahrhunderte
lang in enger Verbindung miteinander und erhielten in späterer
Zeit von den Griechen die gemeinsame Bezeichnung Palästina nach
dem Namen des die südliche Küstenebene bewohnenden Volkes, den
„Pelistim“ oder Philistern. Das ganze Palästina faßte im Altertum
einen Flächenraum yon kaum mehr als 5oo Quadratmeilen, vom
3i. bis zum 34- Breiten- und vom 34* zum 36. Längengrade.
An der nördlichen Grenze Kanaans stehen sich zwei Bergmassive
gegenüber: der Libanon und der Antilibanon (Hermon). Die Ge-
wässer, die von diesen Höhen herabfließen, strömen zu Bächen zu-
sammen und bilden die Quelle des Hauptflusses Palästinas, des
Jordan. Der Jordan zieht sich schnurgerade von Norden nach
Süden hin, durchfließt den See Kineretli oder Genezareth (Gali-
läisches Meer) und mündet im Süden in das Tote Meer oder den
Salzsee (Jam-ha’melah). Dieser Fluß durchströmt ein tiefes Tal,
das sich in der Bichtung nach Süden hin immer mehr senkt, so
daß an der Mündung des Flusses in den Salzsee der Wasserspiegel
des Flusses und des Sees 4oo Meter unter dem Meere liegt. Der
rasche Wasserlauf des unteren Jordan macht ihn hier fast un-
brauchbar für die Schiffahrt.
25
Die Eroberung Kanaans und die Richter zeit
Das Gebiet vom Jordan bis zum Mittelmeer hin füllen Gebirgs-
ketten mittlerer Höhe (von 800—1200 Meter), Abzweigungen der
beiden nördlichen Riesen, des Libanon und des Hermon. Zwei
Gebirgszüge, das Ephraimgebirge in der Mitte des Landes und das
Judagebirge im Süden, durchqueren Kanaan, und dazwischen liegen
Täler, die im Altertum durch ihre Fruchtbarkeit berühmt waren,
so das Jesreel- oder Esdrelontal (Emek-Jesreel) zwischen dem
Berge Tabor im Innern des Landes und dem Berge Karmel an der
Meeresküste, ferner das Tal Saron und die Niederung Schefela.
Im äußersten Süden breitete sich das unfruchtbare Gebiet Negeb
aus, allmählich in die Wüste übergehend, die sich bis zum Sinai
hinzog. Kanaan wurde also von der Natur selbst in drei Quer-
streifen geteilt, von denen der nördliche (später Obergaliläa) zur
phönizischen Mittelmeerküste tendierte, der mittlere (Niedergaliläa
und Samaria) zu der Meeresküste zwischen Akko-Haifa und Jaffa,
und der südliche (Judäa) zur philistäischen Küste zwischen Jaffa
und Gaza. Transjordanien ist vorherrschend von Plateaus erfüllt,
die stufenweise gegen Westen, zum Jordan zu, absteigen. Darum
fließen auch alle Flüsse in diesem Teil Palästinas in westlicher
Richtung. Die Flüsse Jarmuk und Jabbok (Zerka) münden in den
unteren Jordan, und der südlicher verlaufende Arnon fließt direkt
ins Tote Meer. Arnon und Jabbok trennten späterhin das südliche
Herrschaftsbereich Moabs und Ammons von dem nördlichen israe-
litischen, von Gilead und Basan. Das israelitische Transjordanien
war deshalb auch unter dem allgemeinen Namen Gilead bekannt.
Das Klima Palästinas ist durchaus uneinheitlich, trotz der ge-
ringen Ausdehnung des Landes. Gebirge und Hochebenen weisen
ein gemäßigtes Klima auf, dasselbe wird aber tropisch in der
Küstenebene und besonders in der tiefen Einsenkung des Jordan,
in der Nähe des Toten Meeres. Die Jahreszeiten wechseln in der
Weise ab, daß von Mai bis November trockenes Wetter anhält,
während die regnerische Zeit von November bis Februar dauert.
In den warmen Frühlingsmonaten März und April wächst und reift
das Getreide. Im westlichen Landstrich, in Kanaan, blühten im
Altertum Ackerbau und Weinbau. Die Bergabhänge in Judäa waren
mit Weinstöcken und Olivenbäumen bedeckt, und auf den galiläi-
schen Ebenen standen die Felder voll Ähren. Transjordanien mit
seinen Steppen war mehr für Viehzucht und Milchwirtschaft ge-
26
§ 4. Kanaan und Trans Jordanien
eignet. Einen krassen Gegensatz bilden die Gebiete der zwei Seen,
des Kinereth und des Toten Meeres. Das Wasser des Kinereth ist
süß und überreich an Fischen, auf den Ufern des Sees wachsen
Wein sowie Öl- und andere Obstbäume. Das Wasser des Toten
Meeres ist übersättigt von verschiedenen Salzen und Harz, das an
den Ufern Asphaltlager bildet (daher die griechisch-römische Be-
zeichnung „Asphaltsee“); Fische können in diesem dicken Wasser
nicht existieren. Die Ufer zeigen eine Wüste mit seltenen Oasen.
Die kleineren Flüsse in Palästina trocknen in der heißen Jahreszeit
aus, füllen sich aber wieder in der Regenzeit und überfluten bei
ihrem Austreten die Ufer.
Die geographische Lage Kanaans als eines Korridors zwischen
Babylonien und Ägypten lenkte von jeher die Aufmerksamkeit der
beiden rivalisierenden Staaten auf dieses Land und benahm ihm die
Möglichkeit, sich zu einer selbständigen politischen Einheit zu ent-
wickeln. Die westliche Küste bildete den Anziehungspunkt für die
Gebieter des Euphratufers einerseits, für die Beherrscher des Nil-
landes andererseits. An der östlichen Grenze aber, in der an Trans-
jordanien sich anschließenden syrisch-arabischen Wüste, wimmelte
es von semitischen Nomadenstämmen, die auch ihre Blicke, gierige
Blicke durch das Wandern erschöpfter Nomaden, auf das „Land mit
Wasserbächen, Quellen und Seen, die in den Tälern und auf den
Bergen entspringen, ein Land mit Weizen und Gerste, mit Wein-
stöcken, Feigen- und Olivenbäumen“ (Deut. 8, 7—8) warfen. Und
in jenen Zwischenpausen, in denen die Oberhoheit Babyloniens oder
Ägyptens in Kanaan schwächer wurde und die einheimischen kleinen
Staaten dem Eindringen der „Barbaren“ nicht mehr standzuhalten
vermochten, zogen diese kriegerischen Scharen in das Land und
eroberten das eine oder das andere Stück davon. Solche Völker-
wanderungen ereigneten sich in Kanaan und Transjordanien perio-
disch, und in einer dieser Perioden zeigte sich auf dem Wellen-
kamm über den eindringenden Menschenfluten das Volk Israel.
In der Zeit, als die aus Ägypten und der benachbarten Wüste
zugezogenen „Stämme“ Israels auf der Sinaihalbinsel und um die
Oase Kades umherirrten, sich langsam Kanaan nähernd, war dieses
Land in seinem Innern und an seinen Grenzen von einem bunten
Gemisch aus hauptsächlich semitischen Völkerschaften bewohnt.
Im Innern des Landes lebten Kanaaniter, eine Gruppe kleiner
27
Die Eroberung Kanaans und die Richterzeit
Völkerschaften, deren Namen nur in den biblischen Erzählungen
erhalten geblieben sind (Jebusiter, Hiwwiter u. a.). Das von ihnen
bewohnte Landgebiet zerfiel in viele kleine Stadtstaaten, /äeren
Fürsten zu jener Zeit in lockerem Vasallenverhältnis zu Ägypten
standen. Unter den einheimischen Völkerschaften Kanaans ragten
besonders die Phönizier hervor, die sein nordöstliches Küstengebiet
bewohnten, zwischen dem Libanon und dem Mittelmeere, — unter-
nehmungslustige Seeleute, die für die Entwicklung des internatio-
nalen Handels im Altertum von größter Bedeutung waren. Ihre
Hauptzentren befanden sich in den beiden Küstenstädten Sidon und
Tyrus, weshalb sie auch unter dem Namen „Sidonier“ und „Tyrer“
bekannt waren, bis die Griechen ihnen in späterer Zeit den Namen
„Phönizier“ beilegten. Zur Zeit des Einzuges der Israeliten in
Kanaan hatten sich die Phönizier allem Anscheine nach zum ersten
Male auf jenem Landgebiete festgesetzt, das später nach ihnen
benannt wurde, nachdem sie die früheren Beherrscher des Landes
— Hetiter und Amoriter — von dort verdrängt hatten.
Eine Folge der Verdrängung der ehemaligen Beherrscher des
phönizischen Gebietes, der Amoriter, ist vielleicht ihr Vor-
dringen nach Osten, in das transjordanische Gebiet, wo es ihnen
kurz vor dem Einzuge der Israeliten gelang, einen bedeutenden
Staat zu gründen, mit dem Ansprüche auf die Oberherrschaft über
die kleinen Nachbarstämme. Die Kämpfe mit den Israeliten und
der Sieg der letzteren (s. folgenden §) versetzte den Amoritern den
Gnadenstoß: seit dieser Zeit kommen sie für die Geschichte Kanaans
nicht mehr in Betracht. Ihr Landgebiet in der Mitte Transjordaniens
fällt den Israeliten zu und im Norden werden die Aramäer ihre
geschichtlichen Nachfolger.
Im südöstlichen Transjordanien und im Hinterlande des Toten
Meeres saßen zwei kleine Völkerschaften aus der Gruppe „Ibrim“:
die Moabiter und die Ammoniter. Die Ammoniter hatten ihren
Zufluchtsort längs des Oberlaufes des Flusses Jabbok, der in den
unteren Jordan mündet, die Moabiter südlicher, im Gebiete des
Arnon, der in das Tote Meer fließt. Am äußersten Ende Palästinas
ließ sich der dritte Stamm, der hebräischen Gruppe nieder, die
Edomiter, nach der Sage von Esau und Jakob „Stammesbrüder“
der Israeliten. Die Edomiter, welche das in die arabische Wüste
übergehende Steppenland Araba bewohnten, vermischten sich im
§ 5. Die Eroberung Transjordaniens und Kanaans
Laufe der Zeit mit den umher wandernden Arabern und mit den
anderen Beduinen der Wüste. (In der Bibel wird dies durch die
Erzählung von der Vermählung Esaus mit einer Ismaelitin-Araberin
und mit noch zwei Frauen aus anderen Völkerschaften versinnbild-
licht. Gen. 28, 9 und 36, 2—3.) Zu diesen Völkerschaften der
Wüste gehörten auch die Midjaniter und die Keniter, deren Mittel-
punkt der Berg Sinai bildete, wo sie für einige Zeit mit den um-
herziehenden Israeliten in nähere Beziehungen traten.
Der südwestliche Küstenzipfel Kanaans zwischen Jaffa und
Gaza stand zur Zeit des Eindringens der Israeliten vor einer politi-
schen Umwälzung: Im XII. Jahrhundert wurde dieser Küstenstrich
von den Philistern erobert, einer nichtsemitischen Völkerschaft,
augenscheinlich einer Abzweigung der Hetiter, die von den Ägäi-
schen Inseln oder von Kleinasien herkamen. In kurzer Zeit hatte
dieser kraftvoll organisierte Stamm im Süden des Küstenstrichs
dieselbe Bedeutung erlangt, die die Phönizier im Norden hatten.
§ 5. Die Eroberung Tr ans Jordaniens und Kanaans
Das bunte Völkergemisch Palästinas und die Unbestimmtheit
seiner politischen Lage infolge der Schwächung der ägyptischen
Souveränität gaben dieses Land den fremden Eroberern preis. An
der Wende des XIII. und des XII. Jahrhunderts wiederholt sich
das, was bereits zwei Jahrhunderte früher, zur Zeit des Eindringens
der Chabiru und der inneren Wirren in Kanaan, geschehen war.
Nach dem Tode des Pharao Ramses II. setzte die Loslösung der
asiatischen Provinzen ein, die unter der Oberherrschaft Ägyptens ge-
waltsam vereinigt worden waren. Eine Reihe von Aufständen unter
dem Pharao Merneptah, zwischen 12 35—1215, und die Wirren
im Innern Ägyptens gaben den aus dem „Sklavenhause“ erlösten
Israeliten die Möglichkeit, sich mit ihren Stammesbrüdern oder mit
den ihnen verwandten Stämmen zu vereinigen, die in der Wüste
Sinai und in der Nähe der Oase Kades umherzogen, um von dort
gemeinsam weiter nach Kanaan zu wandern. Durch eine großzügige
religiöse Handlung, die mit dem Berge Sinai und der Persönlichkeit
Moses’ in engstem Zusammenhänge stand, in einen festen nationalen
Verband zusammengefügt, bereiteten sich die Israeliten in Kades
auf einen Kriegszug vor in das Land, das sie als das gelobte Land
29
Die Eroberung Kanaans und die Richter zeit
betrachteten, das Gott noch ihren Vorfahren, die ehedem dort an-
sässig gewesen waren, verheißen hatte. Von hier aus verfolgten sie
aufmerksam die Ereignisse in den Nachbargebieten Transjordaniens
und Kanaans, indem sie den zum Einfall günstigen Augenblick ab-
warteten. Die biblische Sage erzählt, daß aus Kades nach Kanaan
„Kundschafter“ ausgesandt wurden zur Erforschung des Landes;
sie kehrten zurück mit guten Nachrichten von der Fruchtbarkeit
des Bodens, versetzten aber das Volk in große Furcht durch ihre
Erzählungen von der Riesenstärke der einheimischen Bevölkerung,
die den Eroberern kraftvollen Widerstand entgegenzusetzen vermöge.
Aus diesem Grunde wurde statt des direkten Vorrückens nach
Norden, durch das spätere „Philisterland“, vorsichtshalber ein Um-
weg gewählt. Auf der Suche nach Land bogen die Israeliten um
den Süden Palästinas und begaben sich durch die Wüste in östlicher
Richtung, an dem Landgebiete Edoms und Moabs vorbei, nach
Transjordanien. Während eines der in Palästina so häufigen Zwiste
unter den einzelnen Stämmen gelang es den Israeliten, augenschein-
lich mit Hilfe eines Teiles der einheimischen Bevölkerung, in das
Land einzudringen. Dieser Bürgerkrieg war wohl eine der Folge-
erscheinungen jener Völkerwanderung im Lande Palästina, die
durch die Denkmäler Tell-el-Amarnas aus dem XV. Jahrhundert
bezeugt wird (s. oben § i). In der biblischen Erzählung, die Hin-
weise auf ältere Quellen enthält (Num. Kap. 21), werden die Er-
eignisse folgendermaßen dargestellt: Die einstmals allmächtigen
Amoriter zogen aus dem Norden nach dem Süden Transjordaniens
und besetzten die Länder der Moabiter bis zum Arnon. Der
Amoriterkönig Sihon setzte sich in der großen moabitischen Stadt
Hesbon fest. Zu dieser Zeit zogen die Israeliten unter Moses'
Führung gen Hesbon. Die von Sihon gegen sie ausgesandte Streit-
macht erlitt eine Niederlage. Die israelitischen Krieger verdrängten,
vielleicht mit Hilfe der Moabiter, die Amoriter aus Hesbon und her-
nach auch aus dem ganzen mittleren Landstrich Transjordaniens
bis zum Jabbok. Die Moabiter behaupteten ihren Landbesitz nur
südlich vqm Arnon, während das ganze nördlich von diesem Fluß
gelegene Gebiet, nämlich Gilead und Basan, den neuen Eroberern,
den Israeliten, zufiel. Auf diese Weise faßten die israelitischen
Landsucher, dank dem glücklichen Zusammentreffen verschieden-
artiger Umstände, mit einem Schlage festen Fuß in Transjordanien.
3o
§ 5. Die Eroberung Trans Jordaniens und Kanaans
Dieser entscheidende Moment der israelitischen Geschichte hinterließ
seine Spuren in dem ältesten Volksepos, dessen Sagen einstmals in
dem „Buche der Kriege Jahves“ zusammengefaßt waren, und eben-
diesem in der Folge verschollenen Buche entnimmt der biblische
Geschichtsschreiber das folgende Fragment eines Volksliedes, das
die ehemalige Macht der Amoriter besingt:
„Kommt nach Hesbon, gebaut und befestigt werd’ Sihons Stadt!
Ja, Feuer ging aus von Hesbon, eine Flamme von Sihons Stadt!
Die verzehrte (die Städte) Moabs (und fraß) die Höhen des Arnon.
Weh dir, Moab, du bist verloren, des Kamos Volk! *)
Er läßt seine Söhne fliehen, seine Töchter sind Raub (des Königs).“
Israel stand an der Schwelle Kanaans. Der schmale Jordan-
streifen trennte die Eroberer von dem fruchtbaren Landgebiete jen-
seits des Flusses, von der „Palmenstadt“ Jericho. Die müden
Wanderer sehnten sich danach, dieses Land zu betreten, das ihnen
ein ruhiges, seßhaftes Leben verhieß. Die Sage hat jenen Drang
des Volkes durch Moses' Sehnsucht in der Todesstunde versinnbild-
licht, da er vom Gipfel des moabitischen Berges Nebo das ganze
Land Kanaan übersieht, das zu betreten ihm nicht mehr be-
schieden war. An die Stelle des dahingeschiedenen Führers trat sein
Gefährte Josua ben Nun aus dem ephraimitischen Stamme. Der
Augenblick war zum Einfall in Kanaan äußerst günstig: durch das
ganze Land hatte sich die Kunde verbreitet von dem Eindringen der
gewaltigen Eroberer, die den mächtigen amoritischen König nieder-
gerungen hatten, und die Kleinkönige Kanaans erzitterten vor der
vom Osten heranziehenden neuen Macht. Um diese Zeit setzten die
israelitischen Streitkräfte über den Jordan, erstürmten, nicht ohne
Hilfe eines Teiles der einheimischen Bevölkerung, das feste Jericho
und schlugen in der benachbarten Stadt Gilgal ihr Lager auf. Hier
wurde aus einem Steinhaufen ein Denkmal zur Erinnerung an den
Einzug in Kanaan errichtet (der Name Gilgal bedeutet Haufen,
Menge, Hügel). Von hier aus wurden Einbrüche in die nahe-
gelegenen Gebiete des südlichen und mittleren Kanaan unter-
nommen.
*) Num. 21, 27—3o. Daß auch dieses Lied zu dem Zyklus der alten Lieder
von den „Kriegen Jahves“, d. h. von den nationalen Kriegen, gehört, ist aus
den Versen i4—20 desselben Kapitels zu ersehen, wo ähnliche Lieder von Moab
und von dem dort gegrabenen Brunnen erwähnt werden unter der Quellenangabe:
„Buch der Kriege Jahves“.
Die Eroberung Kanaans und die Richterzeit
In das südliche Randgebiet Kanaans drang zuallererst die krie-
gerische Heerschar des Stammes Juda ein, der sich scheinbar zu
jener Zeit, zusammen mit dem Stamme Simeon, von dem all-
israelitischen Verbände losgelöst und beschlossen hatte, sich aus
eigener Kraft ein Land zu erobern x). Mit Hilfe der Keniter, eines
verbündeten Stammes aus der Sinaiwüste, der in den kanaanäischen
Negeb eingedrungen war, besetzten die Stämme Juda und Simeon
das Nachbargebiet südlich von Jerusalem. Diese von den übrigen
Israeliten abgesonderte Gruppe setzte sich in dem errungenen Ge-
biete fest und beteiligte sich nicht mehr an der Eroberung des
mittleren und nördlichen Kanaan, die teilweise von dem Verband
der übrigen Stämme, teilweise von einzelnen Stämmen auf eigene
Faust vollbracht wurde. Ein Stamm hatte damals den Vorrang in
dem Verbände: es war dies der Stamm Ephraim mit seinem An-
führer Josua.
Das mittlere Kanaan, d. h. das ganze Gebiet nördlich von Jeru-
salem mit dem Jesreeltal in seiner Mitte, zerfiel in eine Menge
kleiner Stadtrepubliken oder „Königreiche“, die einer ausreichenden
Wehrmacht ermangelten. In den meisten Fällen begegneten die
Israeliten hier nur geringem Widerstand der einzelnen Städte und
unterwarfen sie ohne besondere Kraftanstrengung. Nur selten gab
es bedeutendere Schwierigkeiten zu überwinden, wobei öfters Kriegs-
listen angewendet werden mußten (so bei den Eroberungen in der
Gegend von Betel, der späteren Hauptstadt Ephraims). Häufig kam
die ortsansässige Bevölkerung, die schon durch den den Bezwingern
voraufgehenden Ruf mürbe gemacht war, ihnen entgegen und
beteuerte ihre bedingungslose Unterwerfung (Gibeoniten). Jedoch
wurden die Eroberer manchmal auch durch gegen sie gebildete
Koalitionen der kanaani tischen Kleinfürsten in ihrem Vormarsch
aufgehalten. Fünf „amoritische“ Fürsten in dem Gebiete Jerusa-
lems (die Städte Jerusalem, Hebrjpn, Lakis u. a.) zogen gegen das
Heer Josuas ins Feld, erlitten aber eine Niederlage bei der Stadt
Gibeon: ein Hagel vom Himmel herab und ein Hagel von israeliti-
1) Es wird vermutet, daß Juda noch in der Wüste, vor der Überquerung
des Jordan, vom Stämmebund abgefallen war und in den kanaanäischen Negeb
unmittelbar aus der angrenzenden Oase Kades einfiel. In diesem Sinne wird
auch das I. Kap. der ,,Richter“ gedeutet, das das Gesamtergebnis der kanaanäi-
schen Kriege zusammenfaßt.
32
sehen Pfeilen schlug das Heer der Verbündeten in die Flucht.
In einem alten Volksliede heißt es, daß Gott, das Gebet Josuas
erhörend, die Sonne innehalten ließ und den Tag verlängerte, damit
Israel seine Schlacht zum siegreichen Ende führe:
„Sonne, zu Gibeon halt an,
Und Mond, im Tal Ajjalon!
Und die Sonne hielt an und der Mond blieb stehen,
Bis das Volk sich gerächt an seinen Feinden I“
Die Länder der verbündeten Fürsten wurden besetzt, außer der
Stadt Jerusalem oder Jebus, wo sich der mächtige Stamm der
Jebusiter festgesetzt hatte, der noch lange seine Unabhängigkeit be-
hauptete. Dann wurden die Zentralgebiete Kanaans erobert, durch
die sich das Ephraimgebirge hinzieht. Leichter wurden Gebirgs-
gegenden erobert, wo die einheimischen Bewohner den gewandten
Wüstenreitern nicht gewachsen waren; dagegen vermochten viele
feste Städte sich zu behaupten, auch die Küstenstädte hielten stand.
An diesen Kriegen nahmen die Stammesgruppen der Josephiten
(Ephraim, Manasse) und der Benjamiten besonders regen Anteil.
Späterhin wurde der mittlere Landstrich Kanaans von eben diesen
Stammesgruppen in Besitz genommen.
Aus dem mittleren Kanaan wandten sich die Israeliten gegen das
nördliche Kanaan (das spätere Obergaliläa). Hier am Meromsee
kam es zu einer Schlacht mit den verbündeten Fürsten des Nordens,
die sich unter der Anführung Jabins, des Königs von Hasor, ver-
einigt hatten. Trotz der vorzüglichen Ausrüstung der Verbündeten,
trotz der zahlreichen Reiterei und der vielen Schlachtwagen wurden
sie von den Israeliten geschlagen und bis zur phönizischen Grenze
zui ückgedrängt. Damit findet der Überlieferung nach der Sieges-
lauf jener Periode seinen Abschluß, in der der Ephraimit Josua
die Mehrheit der Stämme anführte. Nach langjährigen Kriegen war
Kanaan immer noch nicht ganz besetzt: viele Städte innerhalb des
besetzten Landes, besonders im Norden, blieben noch in den Händen
der einheimischen Bevölkerung. Die Eroberung war nicht voll-
ständig; die weitere Verdrängung der ortsansässigen Bevölkerung
durch die Israeliten kann nur langsam vor sich gehen und füllt
die ganze sogenannte „Richterperiode“ aus.
Das eroberte Land wurde unter den Israeliten nach dem Ge-
schlechtsprinzip verteilt: jeder Geschlechfcsgruppe oder jedem
3 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
33
§ 5. Die Eroberung Trans Jordaniens und Kanaans
Die Eroberung Kanaans und die Richter zeit
„Stamm“ („Sebet“) wurde ein gewisses Gebiet zugeteilt, ge- Diese
wohnlich dasjenige, an dessen Eroberung der betreffende Stamm datier
unmittelbar, manchmal auch ohne Beistand der übrigen Stämme, heißt
beteiligt war. In den Steppen Trans Jordaniens ließen sich die ^
Hirtenstämme Rüben und Gad nieder. Im Süden Kanaans, westlich packt
vom Toten Meere, setzte sich der Stamm Juda fest, der von seinen se^n ^
Bruderstämmen im Innern des Landes durch die dazwischenliegen- die ®
den Herrschaftsbereiche der Jebusiter in Jerusalem und dessen zu di<
Umkreis getrennt war. In seiner Nähe, in den Steppen des Negeb, daß 5
nomadisierte der kleine Stamm Simeon, der späterhin unter den „Israe
benachbarten Nomaden der Wüste spurlos verschwunden ist. In der schafl
Mitte Kanaans behaupteten sich die Stämme Ephraim und Manasse, tische
Benjamin und Dan. Die nördliche Stammgruppe endlich: Issachar, daß {
Sebulon, Ascher, Naftali nahm das Land zwischen dem Oberlauf Zeitpi
des Jordan und der phönizischen Meeresküste in Besitz. Das Ge- „Isra<
schlecht Levi, dem der große Gesetzgeber Moses angehörte, besaß rieten
keinen eigenen Gebietsteil, sondern war „in Israel zerstreut“, in den nalen
Landgebieten der übrigen Stämme, wo die Leviten späterhin einen Üherf
besonderen Priesterstand bildeten. In späterer Zeit erfolgte manche daher
Änderung in der Gebiets Verteilung, teils durch übermäßige Ge- des P
drängtheit, teils durch nachbarlichen Zwist veranlaßt. Die Daniten unter]
zogen aus dem Zentrutn Kanaans nach dem äußersten Norden geben
hinauf, zur Grenze Phöniziens. Zwei Geschlechtergruppen aus dem hatte,
Stamme Manasse, Gilead und Machir, siedelten aus dem mittleren die P
Kanaan nach Transjordanien über, in das Gebiet Gilead (es erhielt zugs,
diesen Namen von den neuen Ansiedlern), in nächste Nachbarschaft *n
der dort ansässigen Hirtenstämme Rüben und Gad. Ansie<
Im Verlaufe der ganzen Zeitperiode der Eroberung Kanaans ver- von J
nehmen wir nichts von einer Intervention Ägyptens, des früheren nepta.
Schutzherrn dieses Landes, zugunsten seiner Vasallen, der kanaaniti- „Hori
sehen Fürsten. Wenigstens erwähnen die biblischen Überlieferungen r^* ^
nichts davon. Nur auf einem einzigen ägyptischen Denkmal wird (um
andeutungsweise eines Feldzuges des Pharao jener Zeit nach Kanaan jedoc
Erwähnung getan. Auf einer Säule, die im Jahre 1896 in den Volke
Ruinen des „Totentempels“ bei Theben aufgefunden wurde, ist raone
eine lange Inschrift erhalten geblieben, in der die großen Siege des südlic
Pharao Merneptah über die in Aufruhr geratenen Libyer in Afrika setzte
sowie über verschiedene Völkerschaften in Asien verherrlicht werden. gewai
3*
34
§ 5. Die Eroberung Tr ans Jordaniens und Kanaans
Diese Ereignisse sind mit dem fünften Regierungsjahre Merneptahs
datiert, d. i. um i2 3o vor der christlichen Ära. In der Inschrift
heißt es u. a.: „Libyen ist verwüstet, Friede ist im Hetilerlande;
in Kanaan ist Beute gemacht; gefangen geführt ist Askalon, ge-
packt Gezer, Jenoam vernichtet, Israel — seiner Leute sind wenig —
sein Same ist nicht mehr.“ Von welchem Sieg über Israel ist hier
die Rede? Die Mehrzahl der Forscher vermutet, daß sich gerade
zu dieser Zeit der Auszug der Israeliten aus Ägypten ereignete und
daß sich das befreite Volk auf dem Wege nach Kanaan befand.
„Israel“ konnte damals noch nicht seine Stellung unter jenen Völker-
schaften und Städten Kanaans innehaben, über welche der ägyp-
tische Pharao gesiegt haben soll. Wenn man auch annehmen will,
daß die Eroberung Kanaans durch die Israeliten in eine frühere
Zeitperiode fällt oder daß dort schon vorher Gruppen des Stammes
„Israel“ gelebt hätten, die nicht in die ägyptische Knechtschaft ge-
rieten, so bleibt doch die Tatsache unerklärlich, daß in den natio-
nalen Überlieferungen Israels keine Spur von dem verheerenden
Überfall des Pharao Merneptah erhalten geblieben ist. Es bleibt
daher nur die Annahme übrig, daß in der prahlerischen, die Siege
des Pharao verherrlichenden Hymne irgendeine Ungenauigkeit mit-
unterlaufen ist, da sich dieser viel eher gegen die ihm unter-
gebenen aufständischen Völkerschaften in Afrika zu verteidigen
hatte, oder aber daß hier von dem „Siege“ über Israel in der Wüste
die Rede ist, von jener rein negativen Folgeerscheinung des Aus-
zugs, die darin bestand, daß kein „Same Israels“ mehr übrig blieb
in Ägypten. Jedenfalls ist es ausgeschlossen, daß in der auf die
Ansiedlung in Kanaan unmittelbar folgenden Periode die Israeliten
von Ägypten angegriffen worden wären. Nach dem Tode Mer-
neptahs setzte in Ägypten ein Interregnum ein, wobei irgendein
„Horiter“, aus Syrien oder Palästina gebürtig, den Thron an sich
riß. Der Gründer der zwanzigsten Dynastie, der Pharao Ramses III.
(um 1200—1170), stellte die Ordnung in Ägypten wieder her,
jedoch auch unter ihm erneuerte sich der Ansturm der „nördlichen
Völker“ Syriens und Palästinas gegen die Grenzgebiete des Pha-
raonenlandes. Den Truppen Ramses' gelang es, diese Kriegsscharen
südlich von Phönizien in die Flucht zu schlagen. Zu derselben Zeit
setzte sich an der südlichen Meeresküste Kanaans der hier ein-
gewanderte Stamm der Philister fest, dessen Herrschaftsbereich
3*
35
Die Eroberung Kanaans und die Richter zeit
an das Landgebiet Ägyptens grenzte. Diese neuen Bewohner
Palästinas versperrten den Ägyptern für lange Zeit den Zutritt in
das Innere Kanaans. Im XII. Jahrhundert, in der Zeit des Aufbaus
des israelitischen Kanaan, wird von Ansprüchen Ägyptens auf die
Oberherrschaft in Palästina weder in ägyptischen noch in israe-
litischen Quellen Erwähnung getan.
§ 6. Die Stammesverfassung und die tfSchoftim(c. Die Hegemonie
Ephraims
Die Verteilung der Israeliten in dem neu eroberten Landgebiet
nach Geschlechtern und Stämmen entsprach durchaus dem Stadium
der Entwicklung, in dem sie sich zu jener Zeit befanden. Zwischen
den einzelnen Gruppen des Volkes Israel bestanden wohl stammes-
Yerwandtschaftliche, zum Teil auch religiöse Bande, es fehlte ihnen
aber an nationalpolitischem Einigungsgeiste. Von dem erwachten
Bedürfnis nach einem festen Wohnsitz bewegt, schlossen sich die
israelitischen Stämme zeitweilig zusammen, um für das gemeinsame
Ziel der Eroberung eines Landgebietes zu kämpfen; sobald aber
dieses elementare Bedürfnis befriedigt war, löste sich der Stämme-
verband auf; die kriegerische Gesinnung büßte an Intensität ein;
ein jeder Stamm setzte sich auf seiner Erdscholle fest, von dem
schwierigen Prozeß des Übergangs vom nomadisierenden zum seß-
haften Lebenswandel gänzlich in Anspruch genommen; zu den
Ureinwohnern traten die Ankömmlinge in enge Beziehungen und
paßten sich auf diese Weise der Lebensart der Ackerbauer an. Das
Landgebiet verband nicht immer die einzelnen Stämme, es trennte
sie auch manchmal voneinander: das kam in jenen Fällen vor, wo
zwischen den Gebietsanteilen des einen und des anderen Stammes
sich noch nicht bezwungene Städte und Gegenden befanden, die
von den kanaanitischen Ureinwohnern besiedelt waren. Wie bereits
erwähnt, blieben nach dem ersten Einfall der Israeliten in Kanaan
sowohl die Meeresküste wie auch viele Gegenden im Innern des
Landes, besonders im Gebiet der Ebenen, in den Händen der ein-
heimischen Bevölkerung; dort eben lebten die Kanaaniter, die israe-
litischen Stämme voneinander trennend. Aber auch im Landbereich
eines jeden Einzelstammes war die israelitische Bevölkerung mit der
einheimischen untermischt.
36
§ 6. Die Stammesverfassung und die f,Schoftim<{
Von der kräfteverzehrenden Eroberungsarbeit befreit, vermochte
das Volk sich nun mit voller Energie der Anpassungstätigkeit an die
neuen physischen Lebensbedingungen zuzuwenden. In dieser Zeit-
periode konnten sich die israelitischen Stämme noch mit einem
primitiven Gemeinwesen begnügen. Jeder Stamm besaß seinen
Ältesten oder Regenten, der den Titel „Richter“ oder „Schofet“
führte (dem Namen nach mit dem „suffet“ in Karthago identisch,
vielleicht auch tatsächlich mit dieser phönizischen Institution ver-
wandt). In Friedenszeiten stand der Schofet seinem Stamme vor;
in Kriegszeiten war er der Anführer im Felde. Unter den Schoftim
gab es auch Helden, die sich durch ihre Kriegsleistungen bleibenden
Ruhm im ganzen israelitischen Volke erwarben. Diese traten in
Zeiten der ßedrängnis auf, wenn einem oder mehreren Stämmen
Gefahr drohte und sie sich zu gemeinsamer Verteidigung vereinig-
ten, indem sie zugleich die Stammesbrüder aus fernen Gebietsteilen
zu Hilfe riefen. Der Führer eines solchen Verbandes vereinigte
zeitweilig eine ganze Gruppe von Stämmen unter seiner Gewalt,
und sein Einfluß breitete sich weit über die Grenzen des ihm unter-
stehenden Landanteiles aus. Derartige kurzfristige Föderationen
zu Verteidigungszwecken stellen jene Zellen dar, aus denen sich
späterhin die Staatsordnung herausbildete, die an Stelle der patriar-
chalischen Geschlechtergemeinschaft treten sollte.
Über eine dieser Föderationen, deren Entstehungszeit nur un-
gefähr bestimmt werden kann (zwischen 1200—1170), berichtet
das biblische „Buch der Richter“, das sich dabei auf ein unbedingt
zuverlässiges Dokument stützt, auf das „Deboralied“, das älteste
uns erhalten gebliebene Werk des israelitischen Heldenepos. Im
nördlichen Kanaan brach ein Krieg aus. Die einheimischen Völker-
schaften, deren Landbesitz mitten unter den Anteilen der israeliti-
schen Stämme verstreut war, zwischen dem Kinerethsee und den
Bergen Tabor und Karmel, verbanden sich, um die Israeliten aus
dem Lande zu verdrängen. Scharen der Verbündeten, mit dem Feld-
heirn Sisera an ihrer Spitze, unternahmen Überfälle auf israelitische
An Siedlungen und hielten deren Einwohner fortwährend in Schach.
„Die Pfade feierten, und die auf den Wegen gingen, wandelten krumme
Pfade.“ Viele Ansiedlungen wurden von den Banden Siseras unter-
jocht und tributpflichtig gemacht. Auch allen übrigen Stämmen
drohte Gefahr, da die Erfolge der aufsässig gewordenen Ur-
37
Die Eroberung Kanaans und die Richterzeit
einwohner mit Leichtigkeit das Zeichen zum allgemeinen Aufstand
und zur Rückeroberung des eben erst von den Israeliten besetzten
Landes geben konnten. Aber vorerst gerieten in unmittelbare Be-
drängnis die vier nördlichen Stämme: Naftali, Ascher, Sebulon,
Issachar. Diese kleinen Gruppen konnten aus eigener Kraft dem
Feinde nicht standhalten und waren also auf die Hilfeleistung der
im benachbarten mittleren Kanaan wohnenden stärkeren Ephraimiten
und Manassiten angewiesen. Allein sollte das Zentrum dazu be-
wogen werden, den Randgebieten beizustehen, so mußte die bereits
erloschene kriegerische Gesinnung und das Bewußtsein der Ge-
meinsamkeit der Interessen aller Stämme zu neuem Leben erweckt
werden. Diese Aufgabe erfüllte Debora, ein weises Weib, das unter
den Ephraimiten lebte. Ob sie wirklich, wie die Überlieferung be-
richtet, eine Richterstellung innehatte und „Prophetin“ war, ist
nicht festzustellen, zweifellos ist jedoch, daß sie das politische
Feingefühl eines Volksführers und die nationale Begeisterung eines
Propheten besaß. Das patriotisch gesinnte Weib rief das Volk zu
neuen Heldentaten, spornte es zu einem heiligen Kriege an, zum
„Kriege Jahves“, indem es einen zündenden Aufruf sowohl an die
Führer der nördlichen Stämme als auch an ihre eigenen ephraimiti-
schen Landsleute ergehen ließ. Dem Aufrufe Deboras leistete als
erster Barak (dieser Name bedeutet auf hebräisch „Blitz“), ein
Krieger aus dem Stamme Issachar, Folge. Er sammelte am Fuße
des Tabor ein ziemlich großes, aus Wehren einiger nördlicher und
mittlerer Stämme zusammengesetztes Heer. Diesen Volkswehr-
truppen trat nun Sisera mit zahlreicher Reiterei und „eisernen
Streitwagen“ entgegen. An den Ufern des Flusses Kison, bei den
Städten Megiddo und Taanak im Jesreeltal, stießen die feindlichen
Heere aufeinander. Die Tapferkeit der Kämpfer für die nationale
Freiheit behielt die Oberhand: die israelitische Volks wehr schlug
das Heer der Verbündeten in die Flucht. Sisera selbst floh und
suchte Zuflucht in dem Zelt einer den Israeliten freundlich ge-
sinnten Familie aus dem Stamme der Keniter. Die Zeltbewohnerin
Jael — so lautet die Sage — empfing Sisera mit geheuchelter
Freundlichkeit, gab ihm Milch und bereitete ein Lager, um ihm
hernach im Schlafe den Kopf mit einem Hammer zu zerschmettern.
Der Verband der Völkerschaften des nördlichen Kanaan löste sich
auf, und die israelitischenStämme des Nordens durften wieder aufatmen.
38
§ 6. Die Stammesverfassung und die „Schoftim“
Aus dem uns erhalten gebliebenen „Deboralied“ (Buch der
Richter, Kap. 5) können wir ersehen, welche Stämme an diesem
nördlichen Krieg teilgenommen hatten und welche Stellung die
übrigen Stämme dabei einnahmen x):
„Israel zog hinab wie Ritter,
das Volk Jahves zog hinab wie Helden.
Von Ephraim (stiegen sie herab zu Tale),
hinter (ihm) Benjamin mit seinen Scharen.
Von Machir stiegen herab Gebieter
und von Sebulon, die mit dem Szepter des Ordners einherziehn,
und die Fürsten in Issachar mit Debora
und wie Issachar so Barak:
in die Ebene ward er getragen von seinen Füßen.
In Rubens Sippen gab es schwere Erwägungen:
Was saßest du zwischen den Hürden,
zu hören das Flöten bei den Herden?
In Rubens Sippen gab es schwere Erwägungen.
Gilead blieb ruhig jenseits des Jordans,
und Dan geht in die Fremde auf Schiffen.
Asser saß stille am Meeresstrand,
blieb ruhig bei seinen Buchten.
Sebulon ist ein Volk, das sich dem Tode preisgibt,
und Naftali auf den Höhen des Gefilds.“
In dieser Aufzählung der Stämme werden Juda, Simeon, Levi
und Gad gar nicht erwähnt. Juda war bekanntlich vom Zentrum
durch die dazwischenliegenden Herrschaftsbereiche der Jebusiter in
der Umgegend Jerusalems getrennt, Simeon stand den Nomaden der
Wüste näher als seinen ansässigen Stammesbrüdern. Die Priester-
gruppe der Leviten besaß keinen eigenen Landesanteil und war „in
Israel zerstreut“ (Gen. 49* 7). Der Stamm GadV ist wahrschein-
lich mit der geographischen Bezeichnung seines Landgebietes ge-
meint: „Gilead jenseits des Jordans“, wo sich die Gileadgruppe des
mittleren Stammes Manasse mit ihm vermischte. Eine andere
Gruppe der Manassiten, die sich am Jordan, westlich von Gilead,
niederließ, erscheint im Deboralied unter dem Namen „Machir“.
Die ganze Last der Kriegsführung lag also auf den nördlichen
Stämmen, die einen Bund mit einigen Gruppen aus den mittleren
Gebieten geschlossen hatten.
■*■) An den Stellen, wo der massoretische Bibeltext entstellt und daher unklar
ist, lehnt sich die Übersetzung an die in Kittels „Biblia Hebraica“ (1910) an-
geführten Lesarten der Septuaginta und anderer alter Manuskripte an.
Die Eroberung Kanaans und die Richter zeit
Für kurze Zeit vereinigte sich die Mehrzahl der zerstreuten
Stämme, die sich ihrer Zugehörigkeit zum Einen „Volke Jahves“
bewußt geworden waren. Allein nach dem Kriege löste sich der
Stämmebund wieder auf, und ein jeder Stamm ging weiterhin
seinen eigenen Weg. Jedoch der Keim eines Mittelpunkts blieb
auch in jener Zeit erhalten. Der große Stamm Ephraim, der in
der Mitte des Landes seinen Wohnsitz hatte, erhob fortgesetzt An-
sprüche auf die Oberherrschaft über die anderen Stämme. Diese
Ansprüche mochten sich auch auf religiöse Vorrechte stützen. In
dem Herrschaftsbereiche Ephraims, in der Stadt Silo, befand sich
nämlich das älteste Heiligtum der Israeliten: die „Lade Jahves“
(aron Jahve), die nach der Sage die Israeliten auf ihren Feldzügen
bei der Eroberung Transjordaniens und Kanaans begleitet hatte. Der
Tempel von Silo, wo diese Lade untergebracht war, lockte viele
israelitische Pilger aus verschiedenen Orten an, und auf diese
Weise erhielt die Vorzugsstellung der Ephraimiten eine gewisse
religiöse Sanktion. Allein dieser Keim eines geistigen Mittelpunktes
war noch allzu schwach, um die Stämme zu einem dauernden
Nationalverband, der die Grundlage zu einer Staatsverfassung hätte
bilden können, zusammenzufügen.
§ 7. Der Kampf mit fremden Eindringlingen. Monarchistische
Tendenzen (Gideon, Abimelek)
Innere Kämpfe wie die, welche zur Zeit Deboras ausgefochten
werden mußten, stellten eigentlich nur eine Fortsetzung der nicht zu
Ende geführten Eroberung Kanaans dar. Diese Verteidigungskriege
waren nur eine unausbleibliche Folge jenes Angriffskrieges, den die
Israeliten bei ihrem Eindringen in das Land geführt hatten: die
unterworfenen einheimischen Völkerschaften im Bunde mit ihren
unbezwungenen Nachbarn suchten sich an den Eroberern zu rächen
und riefen so auf der Gegenseite eine mehr oder weniger einmütige
Gegenwehr hervor. Allein Israel hatte nicht nur mit inneren,
sondern auch noch mit äußeren Feinden zu kämpfen. So überfielen
z. B. die Völkerschaften des südöstlichen Grenzgebietes — Moab,
Ammon, Edom — nicht selten die in den Nachbargebieten lebenden
israelitischen Stämme: Juda hatte sich namentlich gegen seinen
4o
§ 7. Der Kampf mit fremden Eindringlingen
Steppennachbar Edom*) zu wehren, und der Stamm Benjamin,
der im Jericho gebiet seinen Sitz hatte, wurde nur allzu oft von
seinen Nachbarn jenseits des Jordan, den Moabitern, belästigt. Die
Urkunde berichtet, daß der moabitische König Eglon mit seinen
Truppen den Jordan überschritten und die „Palmenstadt“ (Jericho)
besetzt hätte, um hernach die Benjamiten tributpflichtig zu machen.
Von dieser erniedrigenden Abhängigkeit wurden indessen die Ben-
jamiten durch den heldenmütigen Ehud erlöst, der dem moabiti-
schen Despoten beim Darbringen des Tributes die Lanze in den
Leib stieß; diese Heldentat wurde das Zeichen zum Aufstand gegen
das Fremden joch: die Israeliten besetzten die Übergänge über den
Jordan, versperrten auf diese Weise den Feinden den Rückzug und
vernichteten dann die in ihr Landgebiet eingebrochenen Moabiter.
Viel öfter noch hatten aber von den kriegerisch gesinnten Moabitern
und Ammonitern ihre unmittelbaren Nachbarn jenseits des Jordans,
die Israeliten Gileads und der Steppenlandschaften, zu leiden. Die
langjährigen Kämpfe der Bewohner Gileads mit den die Grenz-
gebiete besiedelnden Ammonitern bildeten die Grundlage für die
Jeftah legende. Ein Mann dunkler Herkunft aus dem Stamme
Gilead, der zunächst, von seinen Stammesbrüdern ausgestoßen, zum
Anführer einer Räuberbande wurde, wird hernach von den Ältesten
Gileads heimgerufen, um seinem Stamme im Kampfe gegen die
Ammoniter beizustehen. Jeftah willigt ein, die Führung des Heeres
zu übernehmen, jedoch unter der Bedingung, daß er im Siegesfalle
zum Oberhaupt Gileads ernannt werde. Jeftah besiegte die Am-
moniter und befreite sein bedrücktes Vaterland. Diese Erzählung
aus dem „Buch der Richter“ wird von einem tragischen Ende ge-
krönt: der unheimlichen Legende von der Tochter Jeftahs, die einem
unbedachten Gelübde des Vaters zufolge Gott als Opfer dargebracht
wird.
Aber ganz besonders hatte Israel unter den verheerenden Über-
*■) Wir haben Grund anzunehmen, daß die Geschichte von dem Kampfe des
judäischen ,,Richters“ Otniel mit ,,Aram“ (Rieht. 3, 8—ii) sich auf Edom
bezieht (im Texte konnte ein Fehler mitunterlaufen sein: statt DIN), da
Juda zu Beginn der Richterzeit mit dem entfernten Aram wohl kaum Krieg
führen konnte, um so mehr, als Aram zu jener ‘Zeit noch gar nicht so weit war,
einen machtvollen Staat zu bilden. Der zweifelerregende Name „Aram-Aaharoim“
mag an dieser Stelle eine spätere Glosse sein, eine Folge der erwähnten Ent-
stellung.
4i
Die Eroberung Kanaans und die Richterzeit
fällen der nomadisierenden Völkerschaften der syrisch-arabischen
Wüste zu leiden. Das Eindringen der Nomaden in den Besitzstand
der ansässigen Bevölkerung dauerte fort und die umherirrenden ehe-
maligen Genossen Israels in der Wüste, die Midjaniter und die
übrigen „Bne-kedem“ (Kinder des Ostens, der Wüste), bewegten
sich fortwährend, das Gebiet Transjordaniens überquerend, in der
Richtung nach dem fruchtbaren Ackergebiete Kanaans hin. Diese
Beduinen unternahmen immer wieder Raubüberfälle auf das Land
der Israeliten und vernichteten während der Erntezeit die Frucht
der Äcker. „. . . So oft die Israeliten gesät hatten, zogen die
Midjaniter, die Amalekiter und die im Osten heran und zogen
gegen sie heran. Und sie griffen sie (die Israeliten) an und ver-
nichteten die Früchte des Landes bis nach Gaza hin und ließen
keinerlei Lebensmittel in Israel übrig, auch nicht Schafe, Rinder
und Esel. Denn sie selbst samt ihren Herden und Zelten kamen so
massenhaft wie Heuschrecken; sie und ihre Kamele waren ohne
Zahl, und sie drangen in das Land ein, es zu verheeren. So wurde
Israel durch die Midjaniter sehr geschwächt . . .“ (Rieht. 6, 3—6).
Gegen dieses entfesselte Element der Wüste, das die bodenständige
Kultur bedrohte, vermochten die selbst erst vor kurzem ansässig
gewordenen israelitischen Stämme nicht anders als mit vereinten
Kräften anzukämpfen.
Eine besondere Anziehungskraft besaß für die Nomaden das
fruchtbare Jesreeltal, das sich durch die Landgebiete Manasses und
Ephraims hinzog. Hier trat den eindringenden Midjanitern kraft-
voll ein Ackerbauer aus dem manassitischen Geschlecht Abi’eser
in Ofra entgegen. Er hieß Jerubbaal, was wohl mit der in seiner
Familie herrschenden Verehrung des kanaanitischen Baal zusammen-
hing, wurde aber späterhin, als er das Volk im Namen Jahves in den
Kampf mit den Feinden führte, Gideon (Haudegen, Held) genannt.
Das durch die Ermordung seiner Brüder und die Ausplünderung
seiner Familie wachgerufene Gefühl der Blutrache wächst in der
Seele Jerubbaal-Gideons zu einer stürmischen patriotischen Begeiste-
rung, die in dem Aufruf zu einem heiligen Kriege ihren Ausdruck
findet. Eine Volkswehr aus Manassiten und Kriegern aus den be-
nachbarten nördlichen Stammen hatte sich bald kampfbereit zur
Verfügung gestellt, jedoch nimmt Gideon aus der ganzen Mann-
schaft nur eine kleine Schar auserlesener Helden mit sich und über-
42
§ 7. Der Kampf mit fremden Eindringlingen
rumpelt zur Nachtzeit das midjanitische Nomadenlager in dem Tale
Jesreel. Mit dem Rufe: „Das Schwert für Jahve und Gideonl“
brachen die israelitischen Helden bei Fackelschein in das feindliche
Lager ein. Die in Verwirrung geratenen Midjaniter stürzten in
wilder Flucht zum Jordan, um sein östliches Ufer zu erreichen,
wurden jedoch am Rückzug verhindert: der eilends auf gebotene
Heerbann Ephraims verlegte den Fliehenden die Furten des Flusses.
Der Krieg wurde jenseits des Jordan zu Ende geführt, wo Gideon
die Überreste der flüchtigen Midjaniter und der „Söhne des Ostens“
aufs Haupt schlug und zwei ihrer Häuptlinge hinrichten ließ.
Mit reicher Beute beladen kehrte Jerubbaal-Gideon von seinem
siegreichen Feldzuge heim. Er galt nun als nationaler Held, als
„Krieger Jahves“. Das Volk, dank dem starken Arme dieses
Führers zu ruhigem Leben und friedlicher Arbeit zurückgeführt,
fühlte das Bedürfnis nach einer beständigen und einheitlichen
Obergewalt, die ihm auch in Zukunft Ruhe sichern würde. Die
Stammesbrüder Gideons aus den Stämmen Manasse und Ephraim
boten ihm die Königswürde an, die in seinem Geschlecht erblich
werden sollte. Die moralisierende biblische Urkunde behauptet zwar,
daß Gideon die Königswürde ausgeschlagen hätte mit der Be-
gründung, daß Jahve allein Israels König sei, allein aus dem
weiteren Bericht der Chronik ist zu ersehen, daß Gideon doch über
eine Art Herrschergewalt verfügte. In seiner Heimatstadt Ofra
besaß er einen großen Harem, wo ihm seine zahlreichen Frauen
siebzig Söhne geboren haben sollen. In derselben Stadt errichtet
Gideon eine eigenartige Bildsäule Jahves („Efod“), die er aus dem
bei den Midjanitern erbeuteten und eingeschmolzenen Goldgerät
hersteilen ließ. Offenbar befestigte sich der Jahvekultus infolge
des im „Heiligen Kriege“ errungenen Sieges wie auch infolge des
Aufkeimens der neuen Königsgewalt, allein bei den damaligen
religiösen Vorstellungen schien die sichtbare Gestalt der Gottheit
auch im nationalen Kultus Israels trotzdem unumgänglich zu sein.
Der Versuch, die erbliche Königsgewalt unter den mittleren
Stämmen zu befestigen, führte nach dem Tode Gideons zu einem
kläglichen Mißerfolg. Von einer seiner Frauen, einer Kanaanäerin
aus der halbisraelitischen Stadt Sichern, hatte Gideon einen Sohn
namens Abimelek (ein symbolischer Name, der „mein Vater — ein
König“ oder „Vater des Königs“ bedeutet); dieser ehrgeizige Sohn
43
Die Eroberung Kanaans und die Richter zeit
beschloß, seine zahlreichen Brüder, die Anspruch auf die Königs-
würde erheben konnten, aus dem Wege zu räumen. Er kam zu
seinen Stammesbrüdern, den Sichemiten, und sagte zu ihnen: „Was
frommt euch mehr: wenn siebzig Männer, alle Söhne Jerubbaals,
über euch herrschen, oder wenn ein Mann über euch herrscht?
Dazu bedenkt, daß ich von eurem Bein und Fleisch bin!“ Die Be-
wohner Sichems zogen es vor, ihren Landsmann zum König zu
haben; sie versahen ihn mit Geldmitteln aus dem Tempelschatz des
einheimischen Baal-berit („Bundesbaal“ — vielleicht der Beschützer
des zwischen Kanaanitern und Israeliten in Sichern geschlossenen
Bundes). Mit diesem Gelde dang er sich Banditen und erschlug
mit ihrer Hilfe fast alle seine fürstlichen Brüder. Bald jedoch
machte sich unter den Einwohnern Sichems eine rebellische Stim-
mung gegenüber dem grausamen Thronräuber bemerkbar, der in
den Landgebieten Manasses und Ephraims über „ganz Israel“
herrschen wollte. Der einzige am Leben gebliebene Bruder Abime-
leks, Jotam, wiegelt die Sichemiten gegen ihn auf. Auf dem Gipfel
des Berges Gerisim, so berichtet die Sage, trägt er seine kluge
Parabel vor von dem stechenden Dornbusch, der König der Bäume
geworden war, nachdem alle edlen Obstbäume diese Ehre aus-
geschlagen hatten. Unter der israelitischen Bevölkerung Sichems
kommt es zu einer Verschwörung gegen den König. Das Haupt
der Verschwörung, Gaal ben Jobaalx), erklärt, daß Abimelek nur
auf die Oberherrschaft über seine Stammes genossen mütterlicher-
seits, die Kanaaniter Sichems, nicht aber über die Israeliten An-
spruch erheben könne. Indessen nahm die Verschwörung ein kläg-
liches Ende: Abimelek bestrafte die Verschwörer, und als der Auf-
stand sich dann über die ganze Stadt ausbreitete, verwüstete er sie
völlig und ließ sogar den Turm Sichems in Flammen auf gehen,
wo viele der aufständischen Einwohner im Schutze der Gottheit
Baal-berit Zuflucht gesucht hatten. Aber traurig war auch das
Ende des Usurpators, der zum Despoten geworden war: bei der
Züchtigung einer anderen Stadt, Tebes, will er auch hier an den
Turm, in den die Einwohner sich geflüchtet hatten, Feuer legen —
1) Dies ist der Name des biblischen Helden nach der Septuaginta, statt des
tendenziösen Namens Gaal ben Obed, was Sohn eines Sklaven bedeutet.
„Jobaal konnte „Jo-Baal“ heißen, d. h. „Jahve ist Baal“, Gebieter der Stadt
— das Losungswort der israelitischen Einwohner den einheimischen Verehrern
des Baal zum Trotz.
§ 8. Das Philister joch
da wirft ein Weib einen Mühlstein vom Turme herab und zer-
schmettert dem König den Schädel.
So mißlangen die ersten Versuche der Aufrichtung einer Königs-
herrschaft im Zentrum des israelitischen Landgebietes, allein in
voller Kraft blieben jene Gründe, die eine staatliche Organisation
notwendig machten. Es war klar, daß, sobald die Gefahr eines
Überfalles von außen her ständig werden und dem größten Teil
des israelitischen Landes drohen würde, die zeitweilige und
lokale Zentralisation der Macht zu einer beständigen und durch-
gängigen werden, mit anderen Worten, daß das Land eine mon-
archistische Verfassung erhalten müsse. Dies geschah auch tat-
sächlich, als an der südwestlichen Küstengrenze des israelitischen
Herrschaftsgebietes die mächtige kriegerische Völkerschaft der
Philister auftauchte und mit den Israeliten den Kampf um die
Herrschaft in Kanaan aufnahm.
§ 8. Das Philister joch und das Streben nach einer staatlichen
Vereinigung
Im XII. Jahrhundert sonderte sich von dem bunten Gemisch
der Völkerschaften Kleinasiens und der Jonischen Inseln das
Küstenvolk der Philister ab (in der Bibel „Pelistim“ genannt) und
diang während der damaligen Völkerwanderungen in das Küsten-
gebiet Kanaans ein. Das nordwestliche Küstenland war zu jener
Zeit schon von den Phöniziern besetzt, während die südwestliche
Küste von den Israeliten noch nicht in ihrem ganzen Umfang in
Besitz genommen war; an dieser Küste, die sich von Jaffa bis zu
den Grenzen Ägyptens hinzog, setzten sich die kriegerischen Ein-
dringlinge fest. Von dem Auftaiuchen dieses „Seeräubervolkes“ an
den Grenzen Ägyptens berichtet eine Inschrift auf dem Denkmal
des damaligen Pharao * Ramses III., wo es „Pursati“ genannt wird.
Die Ankömmlinge, die, wie die Israeliten glaubten, von der Insel
Kreta hergekommen waren, gehörten nicht zur semitischen Völker-
gruppe. Nach und nach lehnten sie sich jedoch in Sprache und
Religion an die kanaanäischen Ureinwohner an x). Die Meeresküste
1) In der Bibel werden die Philister manchmal Kreter (Krethim: s. Sam.
3o, 14; Ez. 25, 16; Zeph. 2, 5) genannt. Die philistäischen Krieger in der
Leibwache des Königs David wurden ,,Krethi und Plethi“ genannt. Der oft vor-
kommende Hinweis auf die Herkunft der Philister von der Insel Kaftor oder
45
Die Eroberung Kanaans und die Richterzeit
des Philisterlandes, die sich von Jaffa bis Gaza und weiter bis
zur ägyptischen Grenze hinzog, hatte keine große Bedeutung für
den Handel, da sie natürlicher Häfen entbehrte; jedoch bildete der
an der Küste gelegene Landstrich einen der Handelswege für die
Karawanen, die Waren aus Ägypten nach Syrien und wieder zurück
beförderten. Diese günstige geographische Lage des Landes und
der kriegerische Geist der Bevölkerung bewirkten die schnelle
Machtentfaltung des Philisterstaates. Derselbe bestand aus fünf
Städten: Asdod, Askalon, Gaza, Gat, Ekron. An der Spitze einer
jeden Stadt stand ein Fürst, jedoch gab es unter den fünf Philister-
fürsten (Seranim) ein ständiges Bündnis. Ein kriegerisches und
zugleich politisch gut organisiertes Volk, waren die Philister den
einer festen föderativen Ordnung ermangelnden Israeliten äußerst
gefährlich. Diese unternehmungslustigen Neuankömmlinge suchten
die Übermacht in Kanaan an sich zu reißen.
Die Gefahr drohte zuallererst dem nächsten Nachbarn der
Philister: dem israelitischen Stamme Dan. Im Buch der Richter
ist uns ein Zyklus von Volkslegenden erhalten geblieben, die von
dem Guerillakrieg ^berichten, den der danitische Recke Schimschon
oder Simsonx) gegen die Unterdrücker seines Stammes führte,
wobei er wunderbare Heldentaten vollbringt, bis ihn die Philister
schließlich gefangen nehmen und ihm die Augen ausstechen. Der
ungleiche Kampf endet mit der Verdrängung der Daniten aus dem
Küstengebiet bei Jaffa, das sie seit der ursprünglichen Eroberung
Kanaans besetzt hielten. Die Daniten beschlossen, nach dem Norden
auf ihre Beziehungen zu dieser Insel (Gen. io, i4; Arnos 9, 7; Jerem. 47, 4)
beslärkt in der Vermutung, daß unter Kaftor die Insel Kreta gemeint ist. —
Bei den Griechen, den alten Landsleuten der Philister, hieß Kanaan nach dem
Namen der Bewohner seiner südlichen Küste Palästina, und dieser Name ver-
drängte mit der Zeit den babylonisch-hebräischen Namen des Landes. In den
biblischen Erzählungen wird den Philistern besonders oft die Bezeichnung ,,die
Uribeschnittenen“ (Arelim) beigelegt, zum Unterschiede nicht nur von den
Israeliten, sondern auch von den kanaanitischen Ureinwohnern, die den Brauch
der Beschneidung der männlichen Säuglinge einhielten (vgl. Rieht. i4, 3; i5, 18;
I. Sam. i4, 6; 17, 26, 36; 3i, 4 usw.).
1) Der hebräische Name Schimschon bedeutet Sonnig, Sonnenmann. In
diesem poetischen Namen des israelitischen Herakles wollen manche einen Hin-
weis auf den Zusammenhang der Legende mit dem Sonnenkultus sehen, wobei sie
auch in den Einzelheiten der Sage (die langen Haare als Machtquelle Simsons
sollen den Sonnenstrahlen entsprechen usw.) eine Bestätigung dieses Zusammen-
hanges finden.
§ 8. Das Philisterjoch
überzusiedeln, wo ihnen die friedliche Nachbarschaft der Phö-
nizier keinerlei Befürchtungen einflößte. Der Chronist berichtet,
daß die Daniter zunächst Kundschafter aussandten zur Erforschung
eines geeigneten Landgebietes. Am Fuß des Hermon, in der Gegend
der Jordanquellen, entdeckten die Kundschafter ein schönes Tal, in
dessen Mitte die Stadt Lais gelegen war. Die Einwohner der Stadt
waren „Sidonier“, die von der phönizischen Küste hergekommen
waren und hier eine Kolonie gegründet hatten; sie lebten ruhig und
sorglos („nach der Weise der Sidonier“, fügt der Chronist hinzu)
und waren nicht imstande, sich gegen bewaffneten Überfall zu
wehren. Nachdem die Daniten dies von ihren Kundschaftern er-
fahren hatten, rückten sie mit ihren Familien, mit Hab und Gut,
nach dem Norden vor. Die danitischen Krieger überfielen un-
erwartet die friedlichen Einwohner der Stadt Lais, plünderten
ihre Häuser und legten an die Stadt Feuer. Hernach eroberten sie
die ganze Umgegend und setzten sich daselbst fest. Die zerstörte
Stadl Lais wurde von neuem aufgebaut und erhielt den Namen
Dan. Die Daniten errichteten in dieser Stadt einen Tempel zu Ehren
Jahves. Es war dies der äußerste nördliche Grenzpunkt des israe-
litischen Herrschaftsgebietes.
Nach der Vertreibung der Daniten drangen die Philister immer
weiter gegen den Mittelpunkt des israelitischen Landgebietes vor.
Hier besetzten sie das ganze Sarontal und wurden zu gefährlichen
Nachbarn des bedeutendsten israelitischen Stammes, der Ephrai-
miten. An der Verteidigung des ephraimitischen Herrschafts-
bereiches war auch dem größten Teil der übrigen Stämme gelegen,
da dieser Gebietsanteil im Mittelpunkte des Landes lag; überdies
befand sich dort, in der Stadt Silo, das nationale Heiligtum der
Israeliten: der Tempel mit der „Lade Jahves“. Die Notwendigkeit
einer Vereinigung der Volkskräfte lag nunmehr klar zutage. Dem
Philisterbunde mußte ein Bund Gesamt-Israels gegenübergestellt
werden.
Der politischen Einigung der Nation ging eine religiöse Be-
wegung voraus, die in dem Silotempel ihren Mittelpunkt fand. An
der Spitze dieser Bewegung stand Eli, der Oberpriester Silos. Ein
geistlicher Würdenträger, war Eli zugleich Schofet des ephraimiti-
schen Stammes und nahm regen Anteil an den Vorbereitungen zu
den Kriegen mit den Philistern. Einer dieser Kriege brach aus,
4,7
Die Eroberung Kanaans und die Richterzeit
als Eli schon sehr alt war. Das israelitische Heer trat den ein-
gedrungenen Philistern, deren Hauptlager in Afek aufgeschlagen
war, im Sarontal entgegen. Schon der erste Zusammenstoß mit
dem Feinde wurde zu einer Niederlage für die Israeliten. Da be-
schlossen die Volksältesten, die heilige „Lade Jahves“ aus dem
Tempel zu holen und den israelitischen Kriegern voranzutragen, um
die religiöse Begeisterung hervorzurufen. Die Lade wurde in das
israelitische Lager gebracht, von zwei Söhnen Elis begleitet. Als
die Philister davon Kunde erhielten, wurden sie von Angst erfüllt;
sie fürchteten, daß das Heiligtum Jahves ihr Verderben herauf-
beschwören würde. Sie sammelten daher all ihre Kräfte und
kämpften mit wütender Hartnäckigkeit. Das israelitische Heer
wurde geschlagen: 3o ooo Mann ließen nach der Sage ihr Leben
im Felde. Unter den Gefallenen waren auch die beiden Söhne
Elis. Die heilige Lade fiel den Philistern in die Hände, was einen
besonders schweren Schlag für das israelitische Volk bedeutete.
Ein israelitischer Krieger kam vom Schlachtfelde nach Silo; seine
Kleidung hing in Fetzen herab und war mit Staub bedeckt. Der
hochbetagte Priester saß aber an den Toren der Stadt und harrte
voll Unruhe der Nachrichten über den Ausgang der Schlacht. Der
Bote näherte sich ihm mit raschen Schritten und sagte: „Geflohen
ist Israel vor den Philistern; dazu ist dem Volk eine große Nieder-
lage beigebracht. Auch deine beiden Söhne, Chophni und Pinechas,
sind tot und die Lade Gottes ist genommen!“ Von dieser Nach-
richt erschüttert, fiel der Greis von seinem Sitz, brach sich im
Fallen das Genick und verschied auf der Stelle.
Die Philister, durch den errungenen Erfolg ermutigt, drangen
immer weiter und weiter in das Innere des Landes vor und brachen
nun in die heilige Stadt Silo selbst ein. Sie zerstörten die Stadt
und ihren Tempel, der dort seit der Eroberung Kanaans gestanden
hatte. Die dem Heiligtum geweihten Priester flüchteten in das
Städtchen Nob, im Landgebiete der Benjamiten. Seit dieser Zeit
hörte Silo auf, der religiöse Mittelpunkt für das Volk zu sein, und
so büßten auch die Ephraimiten ihre ehemalige Vorzugsstellung
unter den übrigen Stämmen ein. Die heilige Lade befand sich „in
Gefangenschaft“ bei den Feinden; sie wurde in die philistäische
Stadl Asdod gebracht und im Tempel des Götzen Dagon auf-
gestellt. Bald darauf — so erzählt die Chronik -— mußten die
48
*
§ 8. Das Philisterjoch
Einwohner Asdods Zeugen wunderlicher Erscheinungen werden.
Als sie nämlich eines Tages in ihren Götzentempel traten, sahen sie,
daß Dagon von seinem Gestell heruntergestürzt war und am Boden
vor der Lade Jahves ausgestreckt lag. Zur selben Zeit befiel die
Bewohner Asdods und der Umgegend eine ansteckende Seuche: ihre
Körper bedeckten sich mit furchtbaren Eitergeschwüren. Da be-
gannen die Einwohner der Stadt zu klagen, daß das israelitische
Heiligtum Unheil über sie herauf beschworen hätte und sie verlangten,
daß es an einen anderen Ort gebracht werde. Die Lade wurde nach
der Stadt Gat überführt, allein auch hier verbreitete sich dieselbe
Krankheit; aus Gat brachte man das Heiligtum nach Ekron, jedoch
die Einwohner von Ekron brachen in Wehklagen aus: „Sie haben
die Lade des Gottes Israel zu mir hergeschafft, um mich und mein
Volk zu tötenI“ Da beschlossen die Philister, dem Rate ihrer
Priester folgend, das erbeutete Heiligtum den Israeliten zurück-
zusenden. Sie stellten die Lade auf einen Wagen, spannten junge
Kühe davor und ließen ihnen freien Lauf. Die Kühe brachten die
Lade in die israelitische Grenzstadt Betsemes; von dort wurde sie
nach dem kleinen Ort Kirjat-Jearim gesandt, der im Gebietsteil des
Stammes Juda lag. Hier stand die Lade Jahves viele Jahre in einem
Privathause und die israelitischen Einwohner der Umgegend wall-
fahrteten zu dem Heiligtum. — Die Bedeutung dieser Erzählung
liegt nicht so sehr in ihrer historischen Glaubwürdigkeit als viel-
mehr in den lebendigen Farben, mit denen sie Leben und Glaubens-
weise jener Epoche schildert.
Die Israeliten befanden sich in einer schweren Lage. Ein be-
deutender Teil des mittleren und südlichen Kanaan war von den
Philistern eingenommen x). In der benjamitischen Stadt Gibea resi-
dierte ein philistäischer Vogt. Die Philister belegten mehrere Städte
mit ihren Garnisonen und verboten den Einwohnern, Waffen bei
sich zu tragen. Dieses fremdländische Joch rief eine große Gärung
im Volke hervor. Es traten exaltierte „Nebiim“ auf, Propheten
oder agitierende Prediger, die das Land durchwanderten und das
Volk in feurigen Worten zum heiligen Kriege gegen die Unter-
1) Außer den ephraimitischen und benjamitischen Grenzländern besetzten
die Philister auch jene Landanteile des Stammes Juda, die sich an den Küsten-
strich anschlossen, wie dies aus der biblischen Schilderung der erst später ge-
führten Kriege Sauls und Davids zu ersehen ist.
4 D u b n o w , Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
49
MMM
Die Eroberung Kanaans und die Richter zeit
drücker aufriefen. An der Spitze dieser Propheten stand Samuel
ben Elkanah aus der Stadt Rama, an der Grenzscheide der Gebiets-
anteile Benjamins und Ephraims.
In ganz jungen Jahren kam er nach dem Tempel in Silo, wo
zu jener Zeit Eli Oberpriester war, und wurde, wie die Sage erzählt,
seit seiner frühesten Jugend „dem Dienste vor Jahve geliehen“. Er
scheint ein Kenner der in den Priesterkreisen bewahrten religiösen
Traditionen gewesen zu sein. Samuel machte eine bewegte, unruhige
Zeit in der heiligen Stadt durch. Er war Zeuge der Niederlage der
Israeliten im Kriege mit den Philistern bei Afek, er sah die Er-
beutung der Lade, den Tod des Oberpriesters Eli und die Zer-
störung Silos. Damit nahm auch der Tempeldienst Samuels ein
Ende, zugleich ergab sich aber für ihn die Möglichkeit, in viel
weiteren Volkskreisen seine Wirksamkeit als Prediger und Prophet
zu entfalten. Er ging durch das Land, dem Volke das Wort Gottes
predigend und überall den patriotischen Geist zu neuem Leben er-
weckend. Mit feuriger Beredsamkeit suchte er die Israeliten zu
bewegen, sich im reinen nationalen Jahvekultus geistig zu einigen,
da die geistige Einigung auch die politische Befreiung mit sich
bringen würde. Das in Vergessenheit geratene Wort Moses' wurde
im Munde Samuels wieder lebendig. Das Volk lauschte den Reden
des Propheten und erkannte ihn als seinen Führer an. Er wurde
zum Schofet der Stämme des kanaanäischen Mittelgebietes: Ben-
jamin und Ephraim. An Stelle des zerstörten Silo erhob er für
eine Zeitlang die benjamitische Stadt Mizpa zum religiösen Mittel-
punkt. Hier versammelte sich von Zeit zu Zeit das Volk, um den
begeisterten Prophezeiungen des Sehers zu lauschen, die die künftige
Befreiung von dem Fremden joch verkündeten. Sollten aber diese
Worte zur realen Tat werden, so bedurfte es neben dem geistigen
Führer noch eines tapferen Feldherrn, der das Volk in den Kampf
mit seinen Unterdrückern zu führen imstande wäre.
§9. Die Königswahl Sauls
Jetzt war der Augenblick gekommen, wo die Israeliten das tiefe
Bedürfnis nach einer politischen Vereinigung unter der Führung
eines Feldherrn-Königs empfanden. Sie sahen sich von kleinen
Völkerschaften umgeben: von Phöniziern, Philistern, Ammonitern,
5o
§ 9. Die Königswahl Sauls
Moabitern, deren jede ihren Feldherrn-Herrscher hatte, während
Israel, der Mittelpunkt Kanaans, noch keine einheitliche Staats-
ordnung besaß. Dem Volke wurde klar, daß eben dieser Mangel
einer einheitlichen Organisation die Ursache von Israels Schwäche
bildete. Da reifte in den breiten Volksschichten der Entschluß, der
Labilität der patriarchalischen Geschlechterordnung ein Ende zu
machen und einen König zu wählen, der das vereinigte Volk
regieren, wie auch sein Anführer im Felde werden sollte. Der
innige Zusammenhang zwischen Monarchismus und Landesverteidi-
gung tritt hier klar zutage. Die Volksältesten Israels — so be-
richtet der biblische Chronist — kamen zu Samuel nach Rama
und sagten zu ihm: „So setze denn einen König über uns, daß er
uns regiere. Wir wollen auch so sein wie alle Völker, und unser
König soll uns Recht sprechen und vor uns herziehen und unsere
Kriege führen!“ Zu diesem Tatsachenbericht fügte der spätere
Redaktor der Überlieferung hinzu, daß Samuel sich zunächst dem
Wunsche des Volkes gegenüber ablehnend verhielt, weil er darin
eine Verletzung der Idee der Theokratie erblickte, die nur Jahve
allein als den König Israels anerkannte. In einer begeisterten, form-
schönen Rede schilderte Samuel jenes Sklaven joch, dem das Volk
nach der Wahl eines Königs, der zum Despoten werden könnte,
unweigerlich verfallen würde. Es ist dies eine der machtvollsten
prophetischen Reden gegen alle Selbstherrscher. Allein diese Worte
können nicht von Samuel gesprochen worden sein, dessen Lebens-
aufgabe doch gerade in der Errichtung eines Königtums in Israel
bestand. Diese Rede wurde Samuel allem Anscheine nach von einem
der späteren Demokraten in den Mund gelegt, zur Zeit des Kampfes
des Prophetismus gegen das entartete Königtum in dem israeliti-
schen oder judäischen Staate. Der historische Samuel wird wohl
dagegen der Forderung der Volksältesten mit Freuden entgegen-
gekommen sein, da er tiefer als alle anderen die Notwendigkeit
einer politischen Vereinigung der Einzelstämme fühlte. Nach dem
Berichte derselben Chronik arbeitete er in der Tat unausgesetzt an
der Verwirklichung dieser Idee. Seine ganze Wirksamkeit ging
darauf aus, die Wahl eines Königs möglichst zu beschleunigen und
zwar eines Königs, der den Erwartungen des Volkes voll und ganz
entsprechen sollte; zugleich aber hegte der Prophet seinerseits die
Hoffnung, daß der künftige König im Geiste der Theokratie
5 t
4*
Die Eroberung Kanaans und die Richter zeit
handeln werde. Die Enttäuschung in dieser Beziehung trat erst
viel später ein.
Der gesuchte König und Feldherr war bald gefunden. Es war
ein Benjamiter aus Gibea, Saul ben Kis, ein Mann von Riesenwuchs,
voll Kühnheit und von feurigem Temperament. Saul, der Sohn
eines Ackerbauers, wurde von den Predigten der verzückten agi-
tierenden „Propheten“, die zum heiligen Kriege auf riefen, aufs
Tiefste berührt. Eines Tages begegnete Saul einem „Propheten-
trupp“, der unter Trommelschlag von einem Hügel herunterkam,
von einer begeisterten Menge begleitet. Im Kreise dieser be-
geisterten Patrioten „kam der Geist Jahves“, wie der Chronist sich
ausdrückt, „über Saul“, er geriet selbst in Verzückung und „ver-
wandelte sich in einen anderen Menschen“. Der friedliche Acker-
bauer wurde, von den Predigten der Propheten begeistert, zu einem
feurigen Patrioten, der ganz von der Idee der nationalen Be-
freiung ergriffen war. In diesem Kreise ereignete sich augen-
scheinlich auch das Zusammentreffen Samuels mit Saul. Die Ver-
bindung von Kühnheit und Enthusiasmus in dem Landmann aus
Gibea fesselte den Propheten und gab ihm die Überzeugung, daß
er der berufene König Israels sei. Diesen Gedanken suchte nun
Samuel dem Volke einzuflößen und forderte es auf, Saul zum
Könige zu wählen.
Noch vor seiner Königswahl hatte Saul Gelegenheit, sich aus-
zuzeichnen und Heldenruhm zu erwerben. Die Ammoniter be-
drängten die Israeliten am östlichen Jordanufer. Unter Anführung
ihres Königs Nahas belagerten sie die Stadt Jabes in Gilead. Durch
die lange Belagerung entmutigt, waren die Bewohner schon bereit,
sich zu ergeben unter der Bedingung, daß die Feinde ihr Leben
schonen und einen Vertrag mit ihnen abschließen sollten. Allein
die Wehrlosigkeit der belagerten Stadt veranlaßte die Ammoniter,
das Anerbieten zurückzuweisen und die unbedingte Übergabe zu
fordern. Die Bewohner der Stadt verhöhnend, soll Nahas zu
ihnen gesagt haben: „In der Weise will ich einen Vergleich mit
euch eingehen, daß ich jedem von euch das rechte Auge aussteche
und damit ganz Israel einen Schimpf antue!“ Über die verächt-
liche Behandlung, die ihnen zuteil wurde, tief empört, sandten die
Bewohner von Gilead Boten über den Jordan zu ihren israelitischen
Brüdern und flehten sie um Hilfe an. Die Boten kamen nach
52
rp^-p-rr»
1) Auf diesen Vorgang (i. Sam. u, i4—i5) ist auch die Parallelerzählung
aus i. Sam. io, i ff. von dem Ausgießen des Öles auf das Haupt Sauls zum
Zeichen seiner Königswahl zu beziehen. Interessant ist es auch, den Bibelvers:
,,Da nahm Samuel die Ölflasche und goß sie über sein Haupt aus, dann küßte
er ihn und sprach: Damit hat dich Jahve zum Fürsten über sein Volk Israel
gesalbt“ mit den Angaben aus den Amarnabriefen zu vergleichen. „Manahbiria“
— so berichtet ein kanaanäischer Kleinfürst aus dem XIV. Jahrhundert — ,,hat
meinen Großvater zum König eingesetzt und Öl auf sein Haupt gegossen.“ Die
kanaanäischen Fürsten sandten zuweilen Boten nach Ägypten, um Öl zu diesem
Zwecke von dort zu holen. Es war dies augenscheinlich ein in Kanaan ein-
gebürgerter Brauch, eine Symbolhandlung zur Weihe der Königsmacht, die auch
die Israeliten übernommen hatten.
§ 9. Die Königswahl Sauls
Gibea, der Heimatstadt Sauls, und berichteten von der verzweifelten
Lage der Leute in Gilead. Das Volk vernahm den traurigen Bericht
der Boten und begann laut zu weinen und zu klagen. Saul, der
gerade mit seinen Rindern vom Felde zurückkehrte, wollte wissen,,
was das Volk zu solchen Ausbrüchen der Trauer veranlaßt hätte.
Als man ihm von der schrecklichen Lage des heimgesuchten Gilead-
landes berichtete, entbrannte er vor Zorn und sein Entschluß war
schnell gefaßt. Er ergriff ein paar Rinder, zerstückelte sie und
sandte die Stücke durch Boten ins ganze Gebiet Israels mit dem
Aufruf: „Wer nicht (mit) auszieht hinter Saul und Samuel her,
dessen Rindern soll es so ergehen V‘ Eine Welle der Begeisterung
ging durch Israel und in kurzer Zeit sammelte sich um Saul ein
zahlreiches Heer. Mit diesem Heerbann überschritt er den Jordan,
überfiel jählings das Ammoniterlager bei Jabes, schlug die Feinde
und befreite die Einwohner der belagerten Stadt.
Im Triumph kehrte Saul an der Spitze des siegreichen Volks-
heeres nach dem an dem westlichen Jordanufer gelegenen Gilgal
zurück. In dieser Stadt, wo einst der Denkstein des Einzugs Israels
in Kanaan errichtet worden war, versammelte sich das von Samuel
berufene Volk, um die Wahl des ersten israelitischen Königs zu
sanktionieren. Saul wurde unter begeistertem Jubel des Volkes zum
Könige ausgerufen*). Dies geschah um die Mitte des XI. Jahr-
hunderts vor der christlichen Ära und damit beginnt die „Königs-
zeit“ in der Geschichte Israels.
Drittes Kapitel
Die ursprüngliche Kultur Israels
§10. Die babylonisch-kanaanitische Grundlage
Ein Volk, das im Laufe von Jahrhunderten alle Kulturländer
Vorderasiens durchwanderte und das dabei, im Prozeß seines Aus-
scheidens aus dem Gemisch der semitischen Völkerschaften, seine
eigene Individualität bekundete, um schließlich an die Errichtung
eines eigenen Staates zu gehen, — dieses Volk mußte auf seinem
Wege notwendigerweise einen gewissen Vorrat an materiellen und
geistigen Kulturgütern anhäufen. Nur im Besitze eines solchen
Kulturschatzes kann eine bestimmte Stammeseinheit danach streben,
ihr Leben in Form eines abgesonderten Kollektivganzen zu gestalten,
indem sie das Allgemeine in Besonderes verwandelt und ihrer
Weltanschauung und Lebensweise alles anpaßt, was sie früher ihrer
Umgebung mit elementarer Notwendigkeit entnommen hat. Worin
bestand nun der ursprüngliche Kulturgehalt Israels in der vorkönig-
lichen Periode? — Eine Antwort darauf gibt uns das Milieu, in
dem das Volk in jener vorhistorischen Epoche sein Dasein führte.
Das Wandern und das seßhafte Leben im Gebiete zwischen Babylon
und Ägypten, das jahrhundertelang dauerte, mußte es notwendig
mit sich bringen, daß die hebräisch-israelitische Stammesgruppe
viele Bestandteile beider Kulturen, sowohl der babylonischen als
auch der ägyptischen, sich zu eigen machte. Die Folgen all dieser
kulturellen Einflüsse konnten erst nach der territorialen Absonde-
rung Israels in Kanaan zutage treten, nachdem das Volk dort festen
Fuß gefaßt und sich die Möglichkeit errungen hatte, in seinem
eigenen Geiste die der Umgebung entnommenen Kulturelemente in
voller Freiheit zu verarbeiten.
54
§ 10, Die babylonisch-kanaanitische Grundlage
Zunächst muß festgestellt werden, daß in Kanaan trotz der
Nähe von Ägypten und trotz der lange andauernden ägyptischen
Souveränität über dieses Land die ältere babylonische Kultur doch
viel tiefere Wurzeln geschlagen hatte als die ägyptische. Das ist
schon daraus zu ersehen, daß sogar unter der Oberhoheit Ägyptens
die kanaanäischen Fürsten in ihrem Briefwechsel mit den Pha-
raonen sich der babylonischen Sprache und der Keilschrift, nicht
der Hieroglyphen, bedienten 1). Auch die religiösen Kulte in Kanaan
hatten mit den babylonischen mehr Berührungspunkte als mit den
ägyptischen. Aus babylonischen Elementen entstand die unterste,
ursprüngliche Schicht der Kultur Kanaans. Auf dieser erwuchs
eine zweite, rein kanaanäische, einheimische Schicht, die unter der
Einwirkung natürlicher und wirtschaftlicher Eigenheiten des Landes
und der lokalen religiösen Kulte sich bildete. Das Volk Israel,
welches in die kanaanitische Bevölkerung eingedrungen war, mußte
auch diese örtlichen Einflüsse über sich ergehen lassen. Schließlich
erhob sich über den beiden Schichten, der babylonischen und
der kanaanäischen, eine rein israelitische Schicht, in dieser frühen
Epoche noch unbedeutend, doch schöpferische Kräfte in sich
bergend, die in Zukunft zur Entfaltung gelangen sollten. Aus der
gegenseitigen Durchdringung der diesen drei Schichten angehören-
den Elemente bildete sich die Kultur des irsraelitischen Volkes in
der vorköniglichen Periode.
Zu der Zeit, als die Israeliten in Kanaan ansässig wurden, blühte
daselbst schon ein reges ländliches und städtisches Leben: Ackerbau,
Handwerk und Handel hatten bereits eine ziemlich hohe Ent-
wicklungsstufe erreicht. Nur im äußersten Süden Kanaans und in
Transjordanien war neben der agrar-industriellen Wirtschaft auch
der halb nomadenhafte Zustand noch vorherrschend: das Hirten-
leben und das Hausen in Beduinenzelten. Von der Entwicklung
einer städtischen Kultur im damaligen Kanaan zeugen die kürzlich
zu Ende geführten Ausgrabungen in den zentralen Teilen des
Landes: die Bauüberreste der Städte Taanak, Megiddo, Gezer,
Lakisch, Jericho. Es wurden massive Festungswälle um die Städte
*) Außer der oben ($ i) erwähnten Sammlung Yon Tontafeln aus dem
XV. Jahrhundert, die in den ägyptischen Bauüberresten von Tell-el Amarna auf-
gefunden worden sind, wurden später (1903) ähnliche Tafeln mit babylonischer
Schrift in Kanaan selbst ausgegraben, in Taanak, im Tale Jesreel. Sie enthalten
einen Briefwechsel kanaanäischer Fürsten.
55
Die ursprüngliche Kultur Israels
herum entdeckt, ferner große Steinbauten und schöne Paläste, ver-
schiedenartige Hausgeräte, eine Menge Götterbilder und Bildsäulen,
schließlich Schriftstücke (in babylonischer Keilschrift) — Spuren
der Kultur des zweiten Jahrtausends vor ‘ der christlichen Zeit-
rechnung. Die Israeliten vermochten allem Anscheine nach nur
allmählich sich dem komplizierten Stadtleben anzupassen. Als
neue Ansiedler, die sich das Nomaden- oder Halbnomadenleben
nur nach und nach abgewöhnten, konnten sie mit den Phöni-
ziern in Handel und Baukunst nicht wetteifern. Sie bildeten vor
allem die Klasse der Landleute: der Ackerbauer, Weingärtner,
Gärtner, deren Erzeugnisse in großen Mengen in die Städte
gebracht und zum Teil nach Ägypten und anderen Ländern aus-
geführt wurden. Das Volk Israel, welches Kanaan zuerst durch die
Kraft der Waffen unter seine Gewalt gebracht hatte, unterwarf es
sich nachher, im Laufe von Jahrhunderten, durch seiner Hände
Arbeit, indem es die Grundlage für das Wirtschaftsleben des Landes
errichtete. Gideon, der Weizen drischt und Saul, der noch am
Vortage seiner Salbung hinter dem Vieh hergeht, sind die typischen
Vertreter israelitischer Landbewohner aus ehrbaren Familien. Die
israelitische Stadt unterschied sich oft nur wenig von einem großen
Dorfe (Gideons Ofra, Sauls Gibea).
Vieles von dem Primitiven, das der patriarchalischen Ge-
schlechterverfassung eigentümlich ist, hat sich noch in den Sitten
erhalten. Die orientalische Sitte der Blutrache galt als unantastbar;
das Vergeltungsrecht („Auge um Auge“) war die Norm der Recht-
sprechung. Die Sage berichtet über einen tragischen Fall der Blut-
rache, der zur Richterzeit eine ganze Stadt zum Opfer fiel. Im
benjamitischen Gibea wurde \on einigen Ortsansässigen die Frau
eines zugewanderten Ephraimiten entführt und vergewaltigt. Der
Mann der Unglücklichen, der an der Schwelle des Hauses, wo er
als Gast weilte, ihren Leichnam fand, brachte ihn in seine Vaterstadt
und ließ den Racheruf an seine Stammesgenossen ergehen. Die
Ephraimiten und die Männer aus den angrenzenden Erbanteilen
versammelten sich, überfielen Gibea, machten alle seine Einwohner
nieder und ließen die Stadt in Flammen aufgehen. Alle leisteten
gemeinsam den Eid, ihre Töchter nie einem Manne aus dem Stamme
Benjamin zum Weibe zu geben. Dann aber wurden die Nachbarn
von Mitleid mit dem verstoßenen Stamme, dem wegen Weib er -
56
§ 10. Die babylonisch-kanaanitische Grundlage
mangels das Aussterben drohte, erfüllt, und da, erzählt die Sage,
ersann man im Rate der verbündeten Stämme ein Mittel zur Rettung
der Benjamiten ohne formellen Eidesbruch: man beschloß, den
benjamitischen Jünglingen die Entführung von Weibern aus der
Mitte der Mädchen freizugeben, die am Volksfesttage in den Wein-
gärten Silos Reigentänze aufzuführen pflegten. Die Jünglinge
zeigten sich der Aufgabe gewachsen, und der bedrohte Stamm
begann sich wieder zu mehren. — Ein Widerhall der patriarchali-
schen Lebensführung ist auch aus allen jenen Volkserzählungen des
Richterbuches herauszuhören, die mit dem Kehrreim beginnen oder
schließen: „Zu jener Zeit gab es keinen König in Israel; jeder tat,
was ihm gutdünkte.“
Die sozialen und rechtlichen Verhältnisse wurden bei der da-
maligen patriarchalischen Lebensführung allem Anscheine nach
durch Normen des landesüblichen Gewohnheitsrechts geregelt. In-
dessen sehr früh schon gewinnt neben diesen Normen auch das
geschriebene Recht seine Bedeutung. Ein Überrest ist erhalten ge-
blieben in jenem kurzgefaßten Gesetzeskodex, der als „Bundes-
buch“ x) bezeichnet und in der biblischen Tradition mit der Sinai-
offenbarung und mit dem Wirken Moses' in Zusammenhang ge-
bracht wird (oben, § 3). In diesem Buche sind die wichtigsten
Gesetze gesammelt, die die Familien-, Vermögens- und Wirtschafts-
verhältnisse regeln, sowie Bestimmungen über die Gerichtsordnung
und über manche Seiten des Religionskultes enthalten. Die Ge-
drängtheit und Einfachheit dieser Gesetzesformeln zeugt von ihrer
uralten Herkunft und spiegelt zugleich die Lebensformen eines
Zeitalters wider, in dem sie als Rechtsnormen galten. Die auf-
fallende Übereinstimmung vieler Paragraphen des Bundesbuches
mit den Paragraphen des babylonischen „Hammurapi-Kodex“ ent-
schleiert das Entstehungsgeheimnis des israelitischen Kodex. Dieses
Gesetzbuch ist der von den Führern Israels gehegte Zweig des-
jenigen babylonischen Rechts, das seit Hammurapi in ganz Vorder-
asien, also auch in Kanaan, vorherrschend war. Manche Bestim-
mungen dieses allgemeingeltenden Rechts mochten vielleicht noch
x) Der Anfangsvers dieses Kodex lautet: ,,Und das sind die Rechtssatzungen
(Mispatim), die du ihnen (den Israeliten) vorlegen sollst.“ In dem Schlußkapitel
desselben Abschnitts (24, 7) heißt es: ,,Dann nahm er (Moses) das Bundesbuch
und las es dem Volke laut vor.“
5 7
Die ursprüngliche Kultur Israels
zur Zeit des frühen, halbseßhaften Lebens der Israelstämme im
südlichen Kanaan und in der Oase Kades (viele Ausführungen
des Bundesbuches sind dem Leben der Hirten und Viehzüchter
angepaßt) Anwendung gefunden haben, um erst später von Moses
ihre national-religiöse Sanktion zu erhalten; im ganzen aber konnte
dieses kurzgefaßte bürgerliche Gesetzbuch erst nach der Eroberung
Kanaans in Kraft treten. Die folgenden Parallelstellen aus dem
babylonischen und dem israelitischen Gesetzbuche (aus dem letzteren
in seiner ursprünglichen Form, ohne die offenbar aus späterer Zeit
stammenden Interpolationen) führen sowohl das beiden Büchern
Gemeinsame als auch das sie voneinander Unterscheidende klar vor
Augen und werfen zugleich ein helles Licht auf die Lebensweise
und das Rechtsbewußtsein des Volkes in diesem Zeitalter:
Kodex Hammurapi:
1. Gesetzt, jemand hat eine Angehörige
des freien Standes geschlagen und
sie dadurch veranlaßt, ihre Leibes-
frucht (frühzeitig) von sich zu
geben, so soll er io Sekel Silber
für ihre Leibesfrucht darwägen . . .
Ist das betreffende Weib gestorben,
so wird man eine Tochter von ihm
töten . . . Hat er jemandes Sklavin
geschlagen und sie dadurch ver-
anlaßt, ihre Leibesfrucht von sich
zu geben, so soll er 2 Sekel Silber
darwägen ... ist die befreffende
Sklavin gestorben, so soll er ^
Mine Silber darwägen ($209—214)»
2. Gesetzt, jemand hat einem An-
gehörigen des freien Standes ein
Auge zerstört, so wird man ihm
sein Auge zerstören. Hat er jemandes
Sklaven ein Auge zerstört oder je-
mandes Sklaven einen Knochen ge-
brochen, so soll er die Hälfte seines
Wertes (dem Herrn) darwägen. Ge-
setzt, jemand hat einer ihm gleich-
stehenden Person Zähne ausgeschla-
gen, so wird man ihm Zähne aus-
schlagen . . . Und hat er einem Frei-
gelassenen Zähne ausgeschlagen, so
soll er i/g Mine Silber darwägen
(S 196—201).
3. Hat ein Kind seinen Vater ge-
Bundesbuch:
1. Und wenn Männer sich raufen und
dabei an ein schwangeres W eib
stoßen, so daß ihre Leibesfrucht
abgeht, dabei aber kein weiterer
Schaden entsteht, so soll der Schul-
dige um soviel Geld gebüßt werden
als der Ehemann der Frau ihm auf-
erlegt. (Ex. 21, 22.)
2. Entsteht aber ein bleibender Scha-
den (bei dem Überfall), dann gilt*
Leben um Leben, Zahn um Zahn,
Hand um Hand, Fuß um Fuß,
Brandmal um Brandmal, Wunde
um Wunde, Beule um Beule . . .
Und wenn jemand seinem Sklaven
oder seiner Sklavin ins Auge schlägt,
so daß er es zerstört, so soll er
ihn zur Entschädigung für sein Auge
freilassen (weiter — entsprechend
„für den Zahn“, Ex. 21, 23—27).
3. Wer seinen Vater oder seine Mutter
58
§ 10. Die babylonisch-kanaanitische Grundlage
schlägt, soll mit dem Tode be-
straft werden (21, i5).
4. Wenn ein Rind einen Mann oder
eine Frau totstößt, so ist das Rind
zu steinigen, sein Fleisch aber darf
nicht gegessen werden; der Eigen-
tümer des Rindes bleibt jedoch
straflos. War aber das Rind schon
längst stößig und sein Eigentümer
deshalb öfter verwarnt, hat es aber
nicht (gehörig) gehütet, so soll das
Rind, wenn es einen Mann oder
eine Frau tötet, gesteinigt und auch
sein Eigentümer mit dem Tode be-
straft werden; wird ihm (aber) eine
Geldbuße auferlegt, so soll er als
Lösegeld für sein Leben soviel be-
zahlen, als ihm auf erlegt wird . . .
Wenn das Rind einen Sklaven oder
eine Sklavin stößt, so soll der (Be-
sitzer) ihrem Mann dreißig Seke]
Silber bezahlen; das Rind aber soll
gesteinigt werden (Ex. 21, 28—32).
5. Wenn jemand einem anderen einen
Esel oder ein Rind oder ein Schaf,
kurz über ein Tier zum Hüten
übergibt und dieses umkommt, oder
etwas bricht oder weggeschleppt
wird, ohne daß ein Augenzeuge da-
für da ist, so soll es ein Eid bei
Jahve unter ihnen zum Austrag
bringen, ob der Betreffende sich
nicht am Eigentum des anderen ver-
griffen hat, und der Eigentümer
muß (den Verlust) hinnehmen, und
jener braucht nicht zu ersetzen.
Ist es ihm aber gestohlen worden,
so soll er dem Eigentümer Ersatz
leisten. Ist es zerrissen worden, so
mag er es als Beweis beibringen; er
braucht für das Zerrissene keinen
Ersatz zu leisten (Ex. 22, 9—12).
6. Wenn jemand einem anderen Geld
oder Kostbarkeiten zum Aufbewahren
übergeben hat und es wird dies aus
dem Hause des Betreffenden ge-
stohlen, so muß der Dieb, wenn er
ausfindig gemacht wird, doppelten
Ersatz leisten. Wenn (jedoch) der
Dieb nicht ausfindig gemacht wird,
schlagen, so wird man ihm die Hand
abschneiden.
4. Gesetzt, ein Rind hat, während es
die Straße entlang ging, jemanden
so gestoßen, daß es seinen Tod ver-
anlaßt hat, so entstehen daraus
keinerlei rechtliche Ansprüche. Ge-
setzt, jemandes Rind ist stößig und
hat ihm (dem Eigentümer) seinen
Fehler bereits gezeigt, er hat ihm
jedoch die Hörner nicht gestutzt
(und) sein Rind nicht fest angebun-
den, und dann hat das betreffende
Rind einen Angehörigen des freien
Standes so gestoßen, daß es seinen
Tod veranlaßt hat, so soll er 1/3
Mine Silber geben ($ 2Öo—Ö2).
5. Gesetzt, jemand hat einen Hüter
gemietet, damit er Rindvieh oder
Kleinvieh weide . . . hat er (der
Hüter) das, was ihm übergeben
worden ist, zugrunde gehen lassen,
so soll er Rind für Rind, Schaf für
Schaf dem Eigentümer der Tiere
ersetzen . . . Ist, in einer Viehhürde
eine „göttliche Berührung“ ein-
getreten oder ein Löwe hat ge-
mordet, so soll der Hirt vor einem
Gotte einen Reinigungseid leisten,
dann soll den in der Hürde ent-
standenen Schaden der Eigentümer
der Hürde ihm abnehmen (S 261
—266).
6. Gesetzt, jemand hat etwas ihm Ge-
höriges zur Aufbewahrung über-
geben, und dann ist dort, wohin er
es gegeben hat, sei es infolge Ein-
bruchs oder auch infolge von Ent-
wendung etwas ihm Gehöriges zu-
sammen mit irgend etwas, was dem
Eigentümer des Hauses gehört, ab-
Die ursprüngliche Kultur Israels
soll der Hauseigentümer vor Gott
(vor Gericht) treten (und einen
Schwur leisten), (um feststellen tu
lassen), ob er sich nicht am Eigen-
tum des anderen vergriffen hat (Ex.
22, 6—7).
handen gekommen, so soll der
Eigentümer des Hauses . . . (es)
im vollen Betrage dem Eigentümer
der Habe ersetzen . . . (S 12 5).
Diese Parallelstellen zeigen, wie aus dem gemeinsamen Stamme
des altorientalischen Rechts bei den Babyloniern und den Hebräern
sich gleichartige Gesetzbücher abzweigten. Zugleich aber fallen
auch manche Unterschiede der beiden Gesetzbücher in die Augen,
welche durch die unterschiedliche Lebensweise und die Eigenart
des Rechtsbewußtseins bedingt sind. Im babylonischen Gesetz wird
die Grenze zwischen dem Freien und dem Sklaven viel schärfer
gezogen als im israelitischen; das letztere hat überhaupt viele Härten
des Sklavenrechts beseitigt, indem es vor allem bindende Fristen zur
Freilassung der hebräischen Sklaven festsetzte (Ex. 21, 2—11).
Dagegen ist die sittliche Begründung der Gesetze, die uns hie' und
da im israelitischen Kodex begegnet, allem Anscheine nach einer
späteren Redaktion zugutezuhalten.
Nimmt man an, daß zur Richterzeit das „Bundesbuch“ bereits
als ein heiliges, geschriebenes Gesetz vorlag, so ist es wohl möglich,
daß auch der von der Überlieferung mit diesem Buche in Zu-
sammenhang gebrachte Dekalog (die zehn Sinaigebote) bei den
Priestern in Form von Inschriften auf Stein- oder Erztafeln auf-
bewahrt wurde. Überhaupt ist es nicht unwahrscheinlich, daß der-
artige von der Gottheit sanktionierte, einfache, sittlich-rechtliche
Normen, wie z. B. „Du sollst nicht töten“ oder „Du sollst nicht
stehlen“, durch Schriftzeichen fixiert wurden und gleichsam eine
Einleitung zum bürgerlichen und strafrechtlichen Gesetzbuch bil-
deten. In dem um das XVI. Jahrhundert vor der christlichen
Zeitrechnung abgefaßten ägyptischen „Totenbuche“ finden wir
gleichsam ein Gegenstück zum biblischen Dekalog. Das, was der
Dekalog in Form von unmittelbaren Geboten oder Verboten aus-
spricht, findet sich im „Totenbuche“ in Form einer Antwort, die
der Verschiedene im Jenseits seinem Richter, dem Gotte Osiris,
gibt. Hier einige Beispiele.:
Dekalog:
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht stehlen.
Totenbuch:
Ich habe nicht getötet.
Ich habe nicht gestohlen.
60
§11. Jahveismus und Baalismus
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst gegen deinen ISä hsten nicht
als falscher Zeuge aussagen.
Du sollst nicht deines Nächsten Weib
begehren.
Du sollst nicht deines Nächsten Haus
begehren.
Ich habe nicht die Ehe gebrochen.
Ich habe nicht Lüge geredet.
Ich war nicht unzüchtig im Tempel
Gottes.
Ich habe nicht zum Töten angestiftet.
Daß sowohl der Dekalog als auch das ursprüngliche bürgerliche
Gesetzbuch zur Richterzeit in Form von Schriftdenkmälern vor-
liegen konnten, i$t auch aus den neuesten Funden zu ersehen, die
das Vorhandensein eines Schrifttums in Kanaan schon im XV. Jahr-
hundert klar beweisen. Das in Kanaan eingezogene Volk Israel ver-
stand es, seine Gesetze in babylonischer Keilschrift auf Tafeln von
ganz derselben Art einzuprägen, wie sie in Amarna und Taanak
gefunden worden sind. Diese Keilschrift mochte eine Geheimkunst
der israelitischen Priester gewesen sein und vielleicht ist sie es
gerade, die in der biblischen Erzählung gemeint ist, in der es heißt,
daß die Erz- oder Stein tafeln („Luchoth“) der Sinaigebote mit
„göttlichen Schriftzeichen“ (miktab elohim, Ex. 32, 16) beschrieben
waren, zum Unterschiede von der später erfundenen „menschlichen“
oder weltlichen Schriftart.
§ 11. Die ursprüngliche Religion Israels; Jahveismus und Baalismus
Was bildete den Inhalt der religiösen Weltanschauung Israels
in der vorköniglichen Zeit? Inwieweit war sie schon damals von
dem monotheistischen Prinzip durchdrungen? Daß das Volk Israel,
soweit wenigstens unsere Blicke reichen, das Stadium eines kom-
plizierten Polytheismus von der Art des babylonischen übersprungen
hat, unterliegt keinem Zweifel. Allein zwischen den beiden
äußersten Polen, der naturalistischen Vielgötterei einerseits und
dem absoluten Monotheismus andererseits, war noch ein Zwischen-
stadium zu überwinden: die „Eingötterei“ oder der Henotheismus,
d. h. die Anerkennung eines besonderen Gottes für jeden Stamm,
der sein Gönner und Schicksalslenker war und dessen Verehrung
oftmals mit dem Kultus der lokalen, die Naturmächte versinnbild-
lichenden Gottheiten Hand in Hand ging. In der Richterzeit machte
Israel gerade dieses Entwicklungsstadium seines religiösen Bewußt-
6i
Die ursprüngliche Kultur Israels
seins durch, dessen Überbleibsel allerdings noch viel später mit den
rein monotheistischen Tendenzen gar oft in Widerstreit gerieten.
In nomadischem oder halbseßhaftem Zustand, an kein Land-
gebiet gebunden oder sich in fremden Ländern niederlassend,
pflegen sich die Urvölker gewöhnlich auf eine allgemeinste vage
Gottheitsvorstellung zu beschränken. In diesem Zustand besaßen
auch die Israeliten die allen Semiten gemeinsame Vorstellung von
dem höchsten Wesen, das über Natur und Menschen waltet; dieses
wurde mit den Gattungsnamen El oder Elohim bezeichnet (sie ent-
sprechen den babylonischen Ilu oder Ila), in denen der Begriff der
Kraft, der Macht zum Ausdruck kommt. Diese allgemeine Bezeich-
nung der Gottheit hat sich auch in dem Namen des Volkes selbst
erhalten: Isra-el, ferner auch in den Namen einzelner Persönlich-
keiten (Eleasar, Elijahu, Samuel)1). Aus der engen Berührung
mit der babylonischen Kultur schöpfte die hebräisch-israelitische
Völker gruppe jene in Vorderasien so verbreiteten Vorstellungen von
dem Urchaos, der Erschaffung der Welt und der Menschen, der
Sintflut, die späterhin in umgearbeiteter Form in die harmonisch
aufgebaute Kosmogonie der Genesis aufgenommen wurden 2). Allein
der komplizierte Polytheismus des babylonischen Religionssystems
eignete sich nicht für diese Nomaden oder Halbnomaden, da er mit
dem Stadtleben und den Eigenheiten einer ausgebauten Staats-
ordnung in engstem Zusammenhang stand. Im Lande des Euphrat
hatte jede große Stadt ihre Gottheit mit dem ihr geweihten Tempel,
wobei der Fürst oder der Stadtvogt nur als Statthalter dieser Gott-
heit galt. (Ur — die Stadt der Mondgottheit Sin, Larsa — die
Stadt des Sonnengottes Schamasch, Uruk — der Mittelpunkt des
Kultus der babylonischen Venus, Istar, usw.). Das vorkanaanäische,
vorstaatliche Leben Israels schuf dagegen einfache, nicht im Boden
wurzelnde religiöse Vorstellungen, die Elemente eines naturhaften,
von einem bestimmten Ort und Volk unabhängigen Monotheismus
auf wiesen. Nur unmittelbar vor der Eroberung Kanaans, als die
israelitischen Stämme sich zu einem Volke vereinigten, kommt der
*) Im Kanaan des XV. Jahrhunderts bildete die Partikel „Ilu“ einen Be-
standteil der Königsnamen; so hat z. B. der Name des Königs Yon Tyrus
Ilumilki oder Milkiil (in den Amarnabriefen) die Bedeutung „Ilu“ — oder „El
— mein König“.
2) Siehe unten S 5o—5i.
62
§ 11. Jahveismus und Baalismus
Begriff eines besonderen Volksgottes zur Entfaltung, als dessen
ursprünglicher Wohnsitz der Berg Sinai galt.
Dieser Gott, der den Eigennamen Jahve (JHVH, HUT) trägt,
wird der Gott Israels, sein Gönner und Oberhaupt, das Symbol
seiner Einheit* 1). In diesem Sinne bergen die sagenhaften, an Moses
gerichteten Worte eine tiefe historische Wahrheit in sich: „Ich
bin Jahve. Ich bin Abraham, Isaak und Jakob als Gott der All-
mächtige, el-schaddaj (Gattungsnamen für die Gottheit, die Kraft,
Gewalt bezeichnen), erschienen, aber mit meinem (Eigen-) Namen
Jahve habe ich mich ihnen nicht bekanntgegeben“ (Ex. 6, 2—3).
Und in der Tat, die Individualisation der israelitischen Gottheit
begann erst seit dem Zeitalter Moses’; der Name Jahve sanktioniert
den ältesten Glaubensgehalt und die ältesten Volkssitten. Zum
Volksgotte geworden, hört Jahve auf, eine lokale Sinaigottheit zu
sein. Im Deboralied wird er „aus Edoms Gefild einherkommend“
und das Sinaigebirge in Beben versetzend dargestellt. Es erscheint
hier der sich bewegende, an keinen Ort gebundene Gott: „Jahve
kam vom Sinai und erstrahlte (seinem Volk) von Seir, glänzte auf
vom Gebirge Paran und kam von Meribat-Kades“ (Deut. 33, 2).
Diese spätere Formel stellt Jahve gleichsam als den Begleiter
des israelitischen Volkes bei allen seinen Wüsten Wanderungen dar.
Je weiter das Volk in der Eroberung und in der Besiedlung
Kanaans fortschreitet, um so heimischer wird auch Jahve im
nationalen Landgebiete Israels. Er ist das Oberhaupt der israe-
litischen Streitmacht; alle nationalen Kriege sind „Kriege Jahves“
(milchamoth Jahve); er schwebt über dem umherziehenden Pal-
ladium, der „Lade Jahves“, die das israelitische Heer stets auf
seinen Zügen begleitet; er kommt für eine Zeitlang im Tempel
Silos zur Ruhe, wo die heilige Lade aufgestellt wird. Überhaupt
entsprechen die verschiedenen Gestaltungen Jahves den aufeinander-
'
1) Eine allseitig befriedigende Erklärung des Namens Jahve gibt es vorläufig
noch nicht. Die Richtigkeit der biblischen Erklärung („der Seiende, der Immer-
seiende, der Ewige“, Ex. 3, i4) steht noch immer nicht fest. Die Vermutung,
daß der Name Jahve in der Form Ja schon früher in Babylon gebräuchlich
war (Delitzsch), ist durch die wissenschaftliche Kritik nicht bestätigt worden.
Das aramäische Jau. (im Königsnamen Jaubidi, der mit Ilubidi identisch ist,
u. dgl.) taucht zu einer Zeit auf, als der Name des israelitischen Nationalgottes
Jahve im Orient schon bekannt war und konnte einfach den Israeliten entlehnt
worden sein (vgl. unten S 48).
63
Die ursprüngliche Kultur Israels
folgenden geschichtlichen Schicksalswendungen im Leben des israe-
litischen Volkes. Das Volk schuf den Gott nach seinem Ebenbilde.
Es war dies ein historischer Gott, der Lenker der historischen
Schicksale des Volkes, zugleich aber auch deren Erzeugnis.
Eine so bedeutsame Veränderung wie die Umwandlung einer
umherziehenden Völkerschaft in eine ansässige, eine Umwandlung,
die mit dem Boden Kanaans und seinen Ureinwohnern verbunden
war, mußte notwendigerweise auch in den religiösen Begriffen und
dem Kultus Israels große Änderungen nach sich ziehen. Die kana-
anitischen Bodenkulte dringen in die israelitische Volksreligion ein.
Als die Israeliten sich mitten unter den Kanaanitern niederließen,
fanden sie dort viele einheimische religiöse Kulte vor, die sowohl
mit den Bodeneigentümlichkeiten als auch mit den Überlieferungen
der ortsansässigen Bevölkerung zusammenhingen. Der kanaanitische
Gott Baal (Herr) wurde als eine die Erde befruchtende Kraft, als
Gönner des Landbaues: des Ackerbaues, des Garten- und Weinbaues,
sowie als Beschützer des betreffenden Ortes, des Gaues oder der
Stadt, verehrt. Verschiedene Ortschaften hatten ihre verschiedenen
Baal-Gottheiten, die besondere Beinamen führten: Baal-berit in
Sichern, Baal-Sebub in Ekron. Der Name Baal findet sich als Be-
standteil in den Benennungen vieler Ortschaften (Baal-Meon, Baal-
Gat, Baal-Hermon), sowie in den Namen hervorragender Männer
(Jerubbaal, Esbaal). Die Baal zur Seite stehende weibliche Gottheit
ist Baala oder Baalita, die gewöhnlich mit dem Namen der babylo-
nischen Göttin der Kinderzeugung, Istar, bezeichnet wird, die in
Kanaan auch Astarte oder Aschera hieß. Die Kultuszeremonien zu
Ehren beider Gottheiten gingen gewöhnlich unter freiem Himmel
vor sich, auf Anhöhen oder in Hainen, wo man zur Opferdarbrin-
gung Altäre und Räuchertische aufzustellen pflegte. Die Ver-
ehrungsstätte des Baal kennzeichnete gewöhnlich eine steinerne
Säule (Masseba), die nach obenhin zugespitzt war, während als
Astarte-Mal eine oben abgerundete Säule oder ein Baumstamm
(„Aschera“) diente. Außerdem gab es auch noch Hausgottheiten,
kleine Götzenbilder der Astarte, die als Amulette oder Zaubermittel
dienten. Bei den Ausgrabungen in den Ruinen der alten Städte
Kanaans (Gezer, Taanak) sind viele derartige kleine Götzenbilder
unversehrt aufgefunden worden. Die Mehrzahl dieser Bildwerke
sind babylonische oder ägyptische Darstellungen der weiblichen
64
§ 11. Jahveismus und Baalismus
Gottheit (Istar und Hator), die also im kanaanitischen Kultus ein
fremdländisches Element bildeten.
Die in Kanaan heimisch gewordenen Israeliten konnten sich bis
za einem gewissen Grade dem Einflüsse dieser bodenständigen
Kalte nicht entziehen. Als Neulinge in der Ackerbaukultur über-
nahmen sie die Arbeitsweise sowie überhaupt die örtlichen Bräuche
der Einwohner, mit denen sie in enge, oft sogar in verwandtschaft-
liche Beziehungen traten. Dadurch kamen sie auch mit den ört-
lichen religiösen Kulten in enge Berührung. Ob ein Israelit mit
einem Einheimischen an einem Tische aß, einen Handelsvertrag
mit ihm abschloß oder eine Ehe mit einem seiner Familien-
mitglieder einging — in allen diesen Fällen mußte er an einer ein-
heimischen religiösen Zeremonie teilnehmen, an der Verehrung der
göttlichen Gönner der betreffenden Ortschaft. Ob er pflügte, säte
oder Wein anbaute — immer pflegte er die üblichen Riten zu
Ehren dieser Gottheiten zu vollziehen; zur Erntezeit mußte er an
dem fröhlichen Jahreszeitfeste teilnehmen, das zu Ehren des Baal,
dem man die Ernte zu verdanken glaubte, gefeiert wurde. Die
religiösen Hauptfeierlichkeiten hingen mit dem Jahreszeitwechsel
und mit dessen Bedeutung für das Leben des kanaanitischen Land-
mannes zusammen. Auf diese Weise entstanden die israelitischen
Jahresfeste, die zunächst einen ausschließlich landwirtschaftlichen
Charakter hatten, dem sich erst später eine national-historische Be-
deutung zugesellte: Chag-haabib, Chag-ha’kazir, Chag-haasif, Fest
des Ährenreifens, der Getreideernte und der Weinlese, die in viel
späterer Zeit zum Passahfest, zu Schebuoth und Sukoth wurden x).
Der Verkehr mit den neuen kanaanitischen Nachbarn brachte
also gewisse Verwicklungen in den religiösen Vorstellungen des
Volkes mit sich. Baal und Aschera hatten Jahve nicht verdrängt,
sie standen aber neben ihm oder vielleicht einen Rang tiefer unter
ihm. Hier trat eine Teilung der Funktionen zutage: Jahve wurde
als der nationale Gott, die Baale aber wurden als die örtlichen Gast-
herren verehrt. So sahen wir z. B., daß in Jerubbaal-Gideons Fa-
milie der Kultus des Baal und der Aschera, deren Opferaltäre sich
am Vaterhause des Volksführers befanden, gehalten wurde; schon
1) ,,Bundesbuch“, Ex. 23, i4—x6; vgl. auch daselbst 34, 18—22; s. unten
S 46 und 48.
ß Dabßow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
65
Die ursprüngliche Kultur Israels
die Einschließung des Namens der Gottheit in den Namen Jerubfeaai
bezeugt eine Pflege des entsprechenden Kultes. Zugleich aber er-
richtet der sich zum nationalen Kriege rüstende Jerubbaal einen
Opferaltar für Jahve, „Jahve Schalom“ genannt, und läßt nach
seinem Siege über die Midjaniter eine Orakelbildsäule Jahves (Efod)
aus dem vom Feinde erbeuteten Golde gießen. Die biblischen Über-
lieferungen späterer Redaktion, deren Verfasser die Vergangenheit
vom Standpunkte des strengen prophetischen Monotheismus be-
urteilen, stellen solche Gegensätze als fortwährende „Abfälle“ von
Jahve und „Wiederbekehrungen“ zu ihm dar. Dies entspricht aber
nicht der Wirklichkeit: zu jener Zeit bestand noch ein primitiver
religiöser Synkretismus, die verschiedenen Kulte bestanden neben-
einander, sich gegenseitig ergänzend. Die Wirtschafts- und Haus-
gottheiten brauchte man im Alltagsleben, sie vermochten aber doch
“nicht die Stelle des Volksgottes auszufüllen. Die Weltanschauung
Israels war mit Jahve aufs engste verknüpft als mit dem Schöpfer
des Volksschicksals und dem Oberhaupte im Kampfe mit dem
Feinde. Die patriotische Erregung in Zeiten der Kriegsgefahr oder
der Siege war stets von einer Neubelebung des Kultes Jahves als
des nationalen Gönnergottes und als des Erretters aus der Not be-
gleitet. So bedeutete z. B. der Sieg Israels über Moab oder Ammon
zugleich auch den Sieg Jahves über den feindlichen Gott Kamos.
Und ganz dem Geiste der Zeit entsprechend ist es, wenn beim Streit
um die Landesgrenzen der sagenhafte Jeftah folgendes zum Am-
moniterkönig sagt: „Nicht wahr, wen dich dein Gott Kamos ver-
treiben heißt, den vertreibst du? Und wen immer Jahve, unser
Gott, uns vertreiben heißt, den vertreiben wir!“ (Rieht, n, 2 4).
Der offizielle Jahvekultus hatte zur Richterzeit seinen Haupt-
tempel im mittleren Kanaan, in der ephraimitischen Stadt Silo. In
derselben Gegend befand sich augenscheinlich noch ein zweiter
Tempel von geringerer Bedeutung, in der Stadt Betel1). Aus den
Berichten über den Philisterkrieg erfahren wir, daß im Silotempel
oder „Zelt“ die heilige Lade auf gestellt war, in der vielleicht das
„Bundesbuch“ und die Gesetzestafeln aufbewahrt wurden. Im
Dienste des Tempels standen Priester aus dem Stamme Levi, dem
1) Rieht. 20, 26; auch 2, 1, wo statt des massoretischen Bochim in den
Septuagintatexten es richtig Betel heißt, das symbolisch auch „Bochim“, Vers 5
desselben Kapitels entsprechend, genannt wird.
66
§ li. Jahveismus und Baalismus
nach der Überlieferung auch Moses angehörte. Im Kreise der Silo-
Priesterschaft wurde augenscheinlich der Geist des reinen Jahveismus
aufrechterhalten; diesem Kreise entsproß Samuel, der Verkünder
der geistigen Wiedergeburt, der Moses’ Ideal der nationalen Einheit
zu neuem Leben erweckte. Allein während der zur Richterzeit
herrschenden Zersetzung des Gemeinwesens und des gesamten
geistigen Lebens vermochte das Silo-Heiligtum kein national-
religiöser Mittelpunkt zu werden. In den Landanteilen der ein-
zelnen Stämme gab es lokale „Häuser Jahves“, wo die Riten des
Gottesdienstes sich wohl wenig von denen des Baalkultes unter-
schieden. Es ist uns bekannt, daß im Verkehr mit der Gottheit zur
damaligen Zeit das Befragen Jahves durch den Priester über den
Erfolg des einen oder des anderen Unternehmens sowie das Wahr-
sagen von großer Bedeutung war. Der Priester spielte hier vor-
züglich die Rolle eines Orakels. Oft wurde ein Levit zum Ver-
mittler zwischen dem Volk und Jahve. Die Leviten errichteten an
verschiedenen Orten ihre Privattempel, wo sich als Hauptgötze
ein Orakel, „Efod“, befand, das durch den Mund des Priesters in
Jahves Namen weissagte, wo ferner andere kleinere Hausgötzen,
„Terafim“, Unterkunft fanden. Zu dem von Gideon errichteten
Efod strömte, wie es heißt, sogar „ganz Israel“ herbei. Wie groß
die Bedeutung der Orakel zu jener Zeit war, ist besonders aus der
Geschichte von dem „Schnitzbild Michas“ (Rieht. 17—18) zu
ersehen. Die Kundschafter der Daniten, die sich vom Süden her
nach dem Norden auf die Suche nach einem neuen Landanteil be-
gaben (§ 8), kamen unterwegs zu einem Privattempel auf dem
Ephraimberge, der einem Ortsbewohner namens Michajahu oder
Micha gehörte (die Partikel jahu im vollständigen Namen Michas
bedeutet seine Ergebenheit dem Kulte Jahves). Im Tempel befanden
sich: eine silberne Bildsäule Jahves oder „Pessel“, das Orakel
„Efod“, die Hausgötzen, „Terafim“, und anderes für den Gottes-
dienst bestimmtes Gerät. Der Priester dieses Tempels war ein
junger Levit, der den Besuchern des Heiligtums die Orakelsprüche
vermittelte. Die Boten der Daniten fragten den Priester, ob ihre
Nachforschungen erfolgreich sein würden. Der Priester kündigte
ihnen im Namen des Jahveorakels Erfolg an. Als die Daniten,
nachdem sie günstige Nachrichten von ihren Kundschaftern erhalten
hatten, bald darauf einen Feldzug nach dem Norden unternahmen,
ß*
67
Die ursprüngliche Kultur Israels
wollten sie das Heiligtum Michas in ihrem eigenen Landbereich
besitzen. Sie überfielen es, raubten das gesamte Zubehör des
Tempels und brachten es mitsamt dem levitischen Priester in ihre
neue Kolonie. Nach der Einnahme der Stadt Lais, die auf den
neuen Namen Dan getauft wurde, stellten die Daniten in dem von
ihnen errichteten neuen Tempel die Bildsäule Jahves und andere
von Micha geraubte Götzenbilder auf. Dieser abgesonderte Tempel
im nördlichen Randgebiete Kanaans blieb nach der Sage „die ganze
Zeit über, die das Gotteshaus zu Silo bestand“, erhalten, was die
nördlichen Stämme von den südlichen in religiöser Beziehung un-
abhängig machte.
Hatte Israel dem kanaanitischen Bodenkultus auch solche
Bräuche wie das Menschenopfer entlehnt? — Die Ausgrabungen
zeugen davon, daß in Kanaan zu jener Zeit die Opferung der
erstgeborenen Kinder noch üblich war. Es war dies eine Dar-
bringung an Baal oder Astarte zum Danke für die Fruchtbarkeit der
Familie, ähnlich wie auch die Erstlinge der Getreidepflanzen und
Obstbäume denselben Göttern als Dankesgabe für die Ernte der
Felder und Gärten geopfert zu werden pflegten. Oft wurden auch
„Bauopfer“ dargebracht: in das Fundament eines Neubaues wurde
ein Menschenopfer eingemauert, was die Dauerhaftigkeit des Hauses,
das sich nun unter dem Schutze des Geistes des Verstorbenen be-
fand, sichern sollte. Dumpfe Nachklänge dieser barbarischen Sitten
sind aus der Sage von dem tragischen Los der Tochter Jeftahs
herauszuhören sowie aus den ältesten Vorschriften über die Gott-
weihung der Erstgeborenen (sowohl der Menschen wie der Tiere),
unter Gewährung eines „Auslösungsrechts“, d. h. eines Rechtes,
das Menschenopfer durch das Opfer eines Schafes oder Rindes zu
ersetzen (Ex. i3, i, i3; 22, 28 im „Bundesbuche“). Es ist wohl
anzunehmen, daß Israel in dieser Zeitperiode von den „kanaaniti-
schen Greueln“ des Menschenopfers nicht angesteckt war und es
durch das Opfern von Vieh-Erstlingen auch tatsächlich ersetzte.
Daß an Stelle Isaaks (in der Sage von der Opferdarbringung
Abrahams) ein Widder geopfert wird, bedeutet gleichsam eine
bildliche Ergänzung zu der alten Gesetzesvorschrift, die eine der-
artige Auslösung unmittelbar fordert. Das Ende der Erzählung von
Jeftahs Tochter ist dunkel und gibt Anlaß zu einer Auslegung in
dem Sinne, daß das junge Mädchen der Gottheit geweiht wurde,
68
§ 11. Jahveismus und Baalismus
ähnlich wie Jungfrauen sonst dem landesüblichen Astarte- oder
Ascherakultus zur „heiligen Prostituierung“ preisgegeben wurden;
zu dieser Annahme berechtigen nämlich die Worte der Legende, daß
die Tochter Jeftahs in den Bergen umherirrte und zusammen mit
ihren Gespielinnen „ihre Jungfrauschaft beweinte“ (Rieht, n,
37—38). Im allgemeinen gibt es aber keinen Anhaltspunkt für die
Behauptung, daß bei den Israeliten dieser Epoche barbarische
Kultformen üblich gewesen wären. Die israelitische Volksreligion
bildete zu jener Zeit ein verschiedenartiges Gemisch von Glaubens-
formen und Bräuchen, hohen Begriffen und rohem Aberglauben,
aber sie wird wohl kaum jene primitiven Formen der Götzen-
verehrung übernommen haben, die der einheimischen, von jeher
mit dem Boden verwachsenen und mit den Bräuchen der Urzeit
vertrauten Bevölkerung eigen waren. Nach seinen Wanderungen
kam Israel nach Kanaan mit höheren Religionsbegriffen, die wohl
bis zu einem gewissen Grade durch die örtlichen Einflüsse modifi-
ziert werden, nicht aber gänzlich in die Abgründe des Heidentums
untersinken konnten.
69
Zweites Buch
Das vereinigte Königreich unter
den ersten Königen
(Um 1030—930)
§ i2. Allgemeine Übersicht
Um die Mitte ^des XI. Jahrhunderts vor der christlichen Ära ge-
langte der Übergang der Israeliten von der patriarchalischen
Stammesordnung zu einer staatlichen Verfassung zum Abschluß.
Das Volk hatte bereits zwei Entwicklungsperioden hinter sich:
i. jene Epoche, in der es ohne eigenes Land ein nomadisches oder
halbseßhaftes Leben in bewohnten Ländern oder Wüsten zwischen
Mesopotamien und Ägypten führte; 2. jene Zeit, da es nach der Er-
oberung Kanaans sich allmählich an das seßhafte Leben in seinem
eigenen Landgebiete gewöhnte, aber einer allgemeinen staatlichen
Verfassung noch ermangelte. Nun bricht die dritte Periode seiner
Geschichte an: die Periode der Staatserrichtung. Die geschichtliche
Evolution Israels geht nach bestimmten Gesetzen vor sich: das
Nomadenvolk wird zum seßhaften Volke, um hernach zur politi-
schen Nation zu werden. Diese neue Umwandlung wurde mit Not-
wendigkeit nicht nur durch die innere, sondern auch durch die
äußere Lage herbeigeführt. Im XI. Jahrhundert waren alle Israel
umgebenden Völker schon in kleineren oder umfassenderen Staats-
verbänden organisiert. Die Philister im Südwesten, Edom im Süden,
Moab und Ammon im Osten, die Aramäer im Norden — sie alle
umschließen in engem Kreise das israelitische Land, stets bereit, es
bei günstiger Gelegenheit zu überfallen. Nur die Phönizier an der
nordwestlichen Küste lebten in friedlicher Nachbarschaft mit Israel.
Das Eindringen der fremden Völker, besonders der Philister, in ihr
Land bewog schließlich die voneinander abgesonderten israelitischen
Stämme, sich unter der Oberhoheit eines gemeinsamen königlichen
Volksführers zu vereinigen. Der Volkswille gab sich mit voller
Klarheit in der durch die biblische Überlieferung übermittelten For-
derung kund: „So setze denn einen König über uns; wir wollen
73
Das vereinigte Königreich
auch so sein wie alle Völker, und unser König soll uns Recht
sprechen und vor uns herziehen und unsere Kriege führen!“
Der tapfere Saul aus dem benjamitischen Stamme, der erste vom
Volke gewählte König, vermochte sich nur durch seine Heldentaten
im Kampfe um die Volksfreiheit auf dem Throne zu behaupten. Er
war König und Krieger zugleich, der Anführer eines Volkes, das
sein Landgebiet vor dem einbrechenden Feinde verteidigte. Das
Losungswort seiner Regierungszeit war der Selbstschutz des Volkes.
Unter seinem Nachfolger David, dem Begründer der judäischen
Dynastie, erreicht der gekräftigte israelitische Staat eine höhere Ent-
wicklungsstufe. Das geeinigte Volk verläßt seine Verteidigungs-
stellung und geht zum Angriff über. Es bildet sich ein mächtiger
Staat, der sich mit der Erhaltung seines Besitzes nicht mehr begnügt
und nach Expansion strebt. Den Helden Davids (den „Gibborim“),
die an der Spitze der Volkswehr stehen, gelingt es, die früheren
gefährlichen Feinde zu unterwerfen und tributpflichtig zu machen.
Nunmehr ist der israelitische Staat von einer Kette von Vasallen-
staaten umgeben, die dem mächtigen Herrscher aus Juda untertan
sind; die kanaanitischen Ureinwohner im Inneren des Landes werden
allmählich von dem israelitischen Volke aufgesaugt. Auf diese
kurze Periode der Machtentfaltung folgt eine Zeit der ruhigen Ent-
wicklung von Kultur und Wirtschaft. Von außen her gesichert,
geht das Volk an die Vervollkommnung seines innerstaatlichen
Lebens. Der israelitische Krieger der David-Zeit entledigt sich
unter Salomo seiner Waffenrüstung und wird ein friedlicher Bürger.
Er wohnt ungestört „unter seinem Weinstock und unter seinem
Feigenbaum“ oder rüstet mit Hilfe seiner phönizischen Nachbarn
Handelsschiffe aus, um sie ins weite Meer hinauszuschicken. Das
städtische Leben gewinnt immer mehr an Ausdehnung, das wirt-
schaftliche Gedeihen macht rasche Fortschritte. Nunmehr wetteifern
die Israeliten nicht so sehr mit den kriegerischen Philistern als mit
den handelstüchtigen Phöniziern. Die Entwicklung des Wirtschafts-
lebens führt zu einer teilweisen Verminderung der Kriegsmacht des
Staates, was ihn bald wieder zur Zielscheibe der Angriffslust seiner
äußeren Feinde macht.
Jedoch sind die äußeren Feinde für die politisch gestärkte
Nation weniger gefährlich als der wieder zutage tretende innere
Zwiespalt. Der alte Geschlechterzwist bricht von neuem durch die
74
§ 12. Allgemeine Übersicht
Hülle der staatlichen Einheit. Die Ephraimiten, die einstmals in der
vorköniglichen Zeit den Vorrang oder das Ältestenrecht unter den
israelitischen Stämmen hatten, können den Verlust ihrer Vorzugs-
stellung, die nun Juda zugefallen ist, nicht verwinden. Juda begann
erst unter Saul eine Rolle in der Geschichte zu spielen, nahm aber
sehr bald eine vorherrschende Stellung unter den anderen israeliti-
schen Stämmen ein: dem Stamme Juda gehörte die Dynastie Davids
an und in seinem Herrschaftsbereiche befand sich auch die neue
Hauptstadt des Reiches: Jerusalem. Nun beginnt ein Kampf um
die Hegemonie. Eine antidynastische Rewegung macht sich schon
unter David bemerkbar (der Aufstand Sebas). Die allzu straffe Zen-
tralisation der Verwaltung sowie die übermäßige Steuerbelastung
unter Salomo fördern diese Rewegung und führen einen schweren
Rruch herbei. Nach hundertjähriger Einheit zerfällt der Staat in
zwei getrennte Königreiche: in das nördliche ephraimitische (israe-
litische) und in das südliche judäische.
Kurz aber bedeutungsvoll ist diese Zeitperiode in der Geschichte
des israelitischen Volkes. Unter den drei Königen Saul, David und
Salomo kommt es zu einer intensiven Entfaltung nicht nur der
politischen, sondern auch der geistigen Individualität der israeliti-
schen Nation. Der Jahvekultus wird im Lande vorherrschend; er
beginnt die einheimischen Kulte aufzusaugen, ebenso wie der Staat
die einzelnen Geschlechter und Stämme auf gesaugt hat. Die natio-
nale Religion entfaltet sich auf Kosten der volkstümlichen Religion.
Die politische und religiöse Zentralisation gehen Hand in Hand.
Ganz besonders wird die religiöse Einigung gefördert durch die
Errichtung des prächtigen Zentraltempels in Jerusalem. Damit
überschreitet aber die auf die Spitze getriebene Zentralisation jene
Grenzen, die einem jungen, noch Überreste des Geschlechtsseparatis-
mus in sich tragenden Volke von Natur aus gesetzt sind. Die»
zentripetalen Kräfte der Nation nehmen immer mehr ab, während
die zentrifugalen Kräfte immer mehr die Oberhand gewinnen, um
schließlich ausschlaggebend zu werden.
?5
Erstes Kapitel
Das Königtum Sauls
(Um io3o—1010)
§ 13. Die Feldzüge gegen die Philister und die Amalekiier
Als Saul zum König ausgerufen wurde, befand sich Israel in
einer äußerst traurigen Lage. Die Philister hielten viele Städte im
Inneren des Landes besetzt; sogar das benjamitische Gibea, die
Heimatstadt Sauls, war mit einer philistäischen Garnison belegt. Um
die Einwohner der eroberten Städte wehrlos zu machen, vertrieben
die Philister nach der Überlieferung alle Schmiede aus dem
Lande, so daß niemand da war, der für die Israeliten Waffen
schmieden oder Schwerter und Lanzen schärfen konnte. Nun blickte
das unterjochte Volk voll Zuversicht auf den neuen König, der
seine Tapferkeit bereits im transjordanischen Feldzuge erprobt
hatte. Saul rechtfertigte auch bald die auf ihn gesetzten Hoff-
nungen. Mit größter Energie bereitete er sich darauf vor, sein
Vaterland vom fremden Joche zu befreien.
So verwandte Saul die ersten Jahre seiner Regierung zur Aus-
bildung eines stehenden kampffähigen Heeres. Er bildete eine
Kriegerschar aus 3ooo auserlesenen Kriegern. Es war dies die
Kerntruppe der israelitischen Streitmacht, an die sich in Kriegs-
zeiten eine Volkswehr anschließen sollte. An der Spitze des Heeres
standen Saul selbst und sein ältester Sohn Jonathan. Der junge
Königssohn zeichnete sich durch hervorragende Tapferkeit und
feurigen Patriotismus aus. Von dem heißen Wunsche beseelt, sein
Volk von den Unterdrückern zu befreien, gab Jonathan den ersten
Anlaß zu einem entscheidenden Kriege mit den Philistern: er tötete
in Gibea den Befehlshaber der philistäischen Garnison. Die Kunde
§ 13. Die Feldzüge gegen die Philister und die Amalekiter
von dieser Heldentat verbreitete sich im ganzen Lande und spornte
überall das Volk zum Kampfe mit den Feinden Israels an.
Als die philistäischen Fürsten von dem Vorgefallenen Kunde
erhielten, setzten sie ein großes Heer mit Reiterei und Streitwagen
gegen die Stadt Gibea in Bewegung. Sie schlugen ihr Lager in
dem nahegelegenen Mikmas an einem Bergpaß auf, während das
israelitische Lager sich in Gibea befand. Den Philistern stand eine
große Übermacht zur Verfügung, da die Volkswehr, die sich dem
Kriegertrupp Sauls zugesellt hatte, nur sehr gering an Zahl war.
Der Waffen beraubt, verbargen sich nämlich viele Israeliten vor
dem Feinde in Höhlen und Bergschluchten oder flüchteten über
den Jordan. Allein die Tapferkeit der kleinen beherzten Schar
der Vaterlandsverteidiger erreichte mehr als eine starke Armee zu
leisten vermocht hätte. Die sorglosen Philister, ihres Sieges sicher,
zerstreuten sich plündernd in der Umgegend von Mikmas und
hinterließen in ihrem befestigten Lager nur einen kleinen Truppen-
teil. Diese Sorglosigkeit des Feindes machte sich der kühne Jonathan
zunutze. Das Philisterlager befand sich auf einem steilen, fast un-
ersteigbaren Berg, der von einem tiefen Graben umgeben war.
Jonathan, der die ungenügende Bedeckung des Lagers ausgekund-
schaftet hatte, erklomm unbemerkt mit seinem Waffenträger die
steile Felswand und machte den feindlichen Posten nieder, wodurch
im Lager große Bestürzung entstand. Die Philister, in der Meinung,
dieser Vorhut folge ein großes Heer, flohen entsetzt. Saul und
seine Kriegerschar, die die Flucht der Philister von Gibea aus be-
merkt hatten, stürzten sich auf die Feinde und schlugen sie aufs
Haupt. Die in den Bergen verborgenen israelitischen Landleute
kamen jetzt aus ihren Verstecken heraus, überfielen, mit Keulen
und Brechstangen bewaffnet, einzelne Philisterhaufen und ver-
nichteten sie.
Die Schilderung dieses Krieges durch den alten Chronisten (der
seinen Stoff allem Anscheine nach dem Volksepos „Die Kriege
Jahves“ entnommen hat) enthält folgende Einzelheiten, in denen
durch das Kolorit der Epoche hindurch die primitiven national-
religiösen Vorstellungen jener Zeit klar zutage treten. Um den
Philistern die Rettung durch Flucht unmöglich zu machen, befahl
Saul seinen Kriegern, die Feinde unausgesetzt zu verfolgen. Im
Namen Jahves schwuren seine Krieger, die von dem Feinde hinter-
77
4
Das Königtum Sauls
lassene Beute nicht zu berühren sowie vor Anbruch des Abends
keine Speise zu sich zu nehmen. Den ganzen Tag hindurch waren
sie dem fliehenden Feinde auf den Fersen. Erst spät abends, nach
Sonnenuntergang, gönnten sich die erschöpften Verfolger Ruhe
und stärkten sich mit Speise und Trank. Von Hunger gequält,
stürzten sie sich gierig auf das von den Philistern im Stich ge-
lassene Vieh, schlachteten es und aßen das frische Fleisch, von
dem das Blut noch nicht abgeflossen war, was eine Verletzung des
religiösen Brauches bedeutete. Saul war sehr empört darüber, be-
eilte sich aber, das Vergehen seiner Krieger gutzumachen. Er ließ
einen großen Stein als Altar errichten, um das Vieh darauf zu
schlachten, wobei bestimmte Teile der geschlachteten Tiere Gott
als Opfer dargebracht wurden. Als das Volk sich mit Speise ge-
stärkt hatte, beschloß Saul, mitten in der Nacht die Verfolgung
des Feindes wieder aufzunehmen. Der im Lager anwesende Priester
befragte dem Brauche gemäß das Orakel Jahves, den „Efod“, ob
der Ausgang der Schlacht erfolgreich sein würde; allein das Orakel
schwieg. Dies galt als Zeichen dafür, daß jemand im Volke sich
versündigt hatte, und nun suchte man den Schuldigen durch das Los-
orakel ausfindig zu machen. Nach der Sage, die für die damaligen
Orakelbräuche sehr bezeichnend ist, soll Saul sich mit folgenden
Worten an den Efod gewandt haben: „Wenn diese Verschuldung
an mir oder meinem Sohne Jonathan haftet, so laß Urim er-
scheinen; haftet sie aber an deinem Volke Israel, so laß Tumim
erscheinen!“1) Aus der Antwort des Orakels erhellte, daß der
Königssohn Jonathan der Schuldige war. Von dem Schwur des
Volkes nicht unterrichtet, hatte Jonathan noch vor Anbruch des
*■) Dieser Vers ist, außer den zwei letzten Worten, in dem späteren mas-
soretischen Texte des ersten Buches Samuelis (i4, 4i) weggelassen, hat sich aber
in der griechischen Septuaginta (wobei „urim“ mit klar und ,,tumim“ mit gerecht
übersetzt wird), sowie in den alten lateinischen Codices erhalten. Urim und
Tumim entsprachen augenscheinlich den Orakelzeichen: ja und nein. Überhaupt
macht sich im traditionellen massoretischen Text die Tendenz bemerkbar, den
heidnischen Brauch des Orakelbefragens zu vertuschen. An einer Stelle desselben
Kapitels (i4,i8) heißt es im massoretischen Text: „Da gebot Saul dem Ahia:
Bringe die Lade Jahves! Die Lade Jahves war zu der Zeit bei den Israeliten.“
ln der griechischen Übersetzung aus dem alten, nicht korrigierten Text heißt
es dagegen: „Bringe den Efod; denn er (Ahia) trug damals den Efod vor den
Israeliten her.“ Als eine bildliche Gestaltung Jahves war der Efod, das Orakel,
dem späteren Redaktor ein Dorn im Auge.
§13. Die Feldzüge gegen die Philister und die Amalekiter
Abends etwas Honig genossen, den er in einem Bienenstock mitten
im Felde gefunden hatte. Für diesen wenn auch unfreiwilligen
Bruch des Volksschwures war er der Todesstrafe verfallen; allein
das ganze israelitische Heer verlangte mit lauter Stimme, daß
Jonathan seine Schuld verziehen werde. Dem Willen des Volkes
wurde Genüge getan, und das Leben des jungen Helden war ge-
rettet. So endete der bedeutungsvolle Tag, an dem den Israeliten
der Sieg über die philistäischen Heerhaufen verliehen worden war.
Eine Folge dieses Sieges war augenscheinlich die Säuberung des
benjamitischen und ephraimitischen Landgebietes von den philistäi-
schen Garnisonen. Allein die Kriegsmacht * der feindlichen Völker-
schaft war noch lange nicht gebrochen. Einige Jahre darauf er-
neuerten sich die Einfälle der Philister, die jedesmal durch tapferen
Widerstand der Israeliten zurückgeschlagen werden mußten.
Der erfolgreiche Kampf mit den Philistern hatte das National-
bewußtsein im ganzen Lande bedeutend gestärkt. Allein der allzu
große patriotische Eifer verführte manchmal den König Saul auch
zu Taten, die durch die Aufgaben der Staatsverteidigung keineswegs
gerechtfertigt erscheinen. Ein etwas verschwommener Bericht der
Urkunde deutet darauf hin, daß Saul auch gegen die friedlichen
einheimischen Kanaaniter, die noch ihre religiöse und nationale
Eigenart beibehalten hatten, gewalttätig vorgegangen sei. So hat
er die ortsansässige Völkerschaft der Gibeoniten im benjamitischen
Landgebiete, die einstmals bei der Eroberung Kanaans von den
Israeliten verschont worden war, teilweise vernichtet, teilweise mit
Gewalt zum israelitischen Glauben bekehrt. Dagegen lagen dem
gegen die räuberische Völkerschaft der Amalekiter geführten Aus-
rottungskriege eher praktische, nämlich wirtschaftliche Erwägungen
zugrunde.
Der Amalekiterfeldzug, der vom Chronisten in der sagenhaften
Form eines „heiligen Krieges“ dargestellt wird, beruht zweifellos
auf einer geschichtlichen Tatsache. Jene Nomadenvölkerschaften
Transjordaniens und der Südsteppe, die zur „Richterzeit“ (§ 7)
durch ihre Einfälle so oft die Ruhe der Israeliten gestört hatten, ver-
mochten jetzt in das Innere des gutgeschützten Landes nicht mehr
einzudringen; manche dieser Völkerschaften überfielen aber oft die
Randgebiete, nämlich den südlichen Teil der judäischen Besitzungen
und die Anteile der Stämme Transjordaniens. Besonders viel Unheil
Das Königtum Sauls
richteten bei den Israeliten die Überfälle der wilden Amalekiter an,
die zwischen der südlichen Grenze Kanaans und der Sinaiwüste
umherzogen. Die Israeliten hegten von jeher einen Haß gegen diese
Räuber der Wüste; die Sage erzählt von einem alten Gelübde, „die
Amalekiter bis auf den Namen von der Erde zu vertilgen“, weil sie
noch zu Moses* Zeiten die in der Wüste umherirrenden Israeliten
hart bedrängt hätten. Während der Regierung Sauls bot sich nun
die Gelegenheit zur Züchtigung dieser Beduinen. Saul beschloß,
ihr Räubernest an der südlichen Grenze der Zerstörung preis-
zugeben. Die Volkswehr, der auch Krieger aus dem Stamme Juda,
dem nächsten Nachbar Amaleks, mit angehörten, verwüstete unter
Sauls Anführung das Nomadenland der Amalekiter, tötete die Ein-
wohner und nahm ihren König gefangen. Der Urheber dieser
Strafexpedition oder des „heiligen Krieges“ war der greise Prophet
und Volksfreund Samuel, und die biblische Urkunde, die hier von
einer theokratischen Tendenz beherrscht ist, bringt die ganze Sache
in engsten Zusammenhang mit einem angeblich daraus entstandenen
Zerwürfnis zwischen König und Prophet.
Der Prophet Samuel kam zu Saul und gebot ihm im Namen
Jahves: „So ziehe denn hin und schlage Amalek und vollstrecke den
Bann an allem, was ihm gehört und schone ihn nicht, sondern laß
sterben Männer wie Weiber, Knaben wie Säuglinge, Rinder wie
Schafe, Kamele wie Esel!“ Saul sammelte ein großes Heer und zog
zur südlichen Grenze. In den Amalekiterländern lebte auch die den
Israeliten freundschaftlich gesinnte Völkerschaft der Keniter. Vor
Beginn des Krieges veranlaßte nun Saul die Keniter, das Land zu ver-
lassen, damit sie nicht gemeinsam mit den Amalekitern zu Schaden
kämen. Als die Keniter fort waren, drangen die Israeliten in das
Land der Amalekiter ein, erschlugen Menschen und Vieh und ver-
nichteten ihr Hab und Gut. Nur den Amalekiterkönig Agag nimmt
Saul lebendig gefangen; auch ein Teil des Edelviehs bleibt ver-
schont. Saul und seine Krieger hatten Mitleid mit Agag und wollten
ihn nicht dem Tode preisgeben; auch das noch am Leben gebliebene
Vieh vernichteten sie nicht trotz des Gebotes des Propheten. Als
Samuel in das Lager kam, berichtete ihm Saul, daß das Gebot
Jahves erfüllt, der Feind geschlagen und sein Besitz vernichtet
sei. „Was bedeutet aber dieses Blöken von Schafen, das zu meinen
Ohren dringt, und das Brüllen von Rindern, das ich höre?“ fragte
hart der Prophet. Der König erwiderte ihm, daß er nur Agag am
Leben gelassen und das Heer nur einen Teil des den Amalekitern
entführten Viehes verschont hätte, daß es aber bereit sei, dieses
Vieh Jahve als Opfer darzubringen. Da rief Samuel: „Gehorsam
80
§ lh. Das Eingreifen des Stammes Juda (David)
ist besser als Opfer I Weil du den Befehl Jahves gering geachtet
hast, so hat auch er dich zu gering geachtet für das Königtum.“
Reumütig sagte nun Saul: „Ich habe ja gesündigt — aber erweise
mir jetzt wenigstens vor den Augen Israels die Ehre, daß du mit
mir umkehrst, damit ich mich vor Jahve niederwerfe!“ Samuel
machte ihm von neuem bittere Vorwürfe, erfüllte aber dennoch
seine Bitte. Dann ließ er den König Agag herbeiführen und sagte
zu ihm: „Wie dein Schwert Frauen der Kinder beraubt hat, so soll
deine Mutter wie keine andere der Kinder beraubt sein!“ Darauf
wurde Agag in Gilgal enthauptet. Danach begab sich Samuel in
seine Stadt Rama, Saul aber kehrte nach Gibea zurück. Es entstand
ein Riß zwischen König und Prophet, und sie sahen einander nicht
mehr wieder.
Was in Wirklichkeit zwischen dem König und dem Propheten
vorgefallen war, wissen wir nicht. Der weitere Verlauf der Er-
eignisse deckt die der Sage zugrunde liegenden Tendenzen auf. In
der hier wiedergegebenen Erzählung tritt das Bestreben des späteren
Geschichtschreibers zutage, jene Umwälzung zu rechtfertigen, die
den Übergang der königlichen Gewalt von dem benjamitischen Ge-
schlecht Sauls auf die judäische Dynastie Davids zur Folge hatte. In
Wirklichkeit aber war diese dynastische Umwälzung das Ergebnis
einer viel verwickelteren politischen Lage.
§ lä. Das Eingreifen des Stammes Juda und das Hervortreten
Davids
Über die innere Verwaltung des Staates zu Sauls Zeiten ist uns
sehr wenig bekannt. Klar ist nur eins: die Vereinigung der ver-
schiedenen Staatsteile war in jener Zeitperiode noch nicht vollendet,
sie war vielmehr noch im Werden begriffen. Die unmittelbare Ge-
walt Sauls erstreckte sich augenscheinlich nur auf die Mitte des
Landes, auf das Landgebiet der Stämme Ephraim und Benjamin;
die Randgebiete dagegen wurden erst nach und nach in den neuen
Staatsverband einbezogen. Die Residenz Sauls war seine Heimat-
stadt Gibea, der der Name Gibea Sauls (Gibeat Saul) beigelegt
wurde; hier führte der König mit seiner Familie ein bescheidenes
Leben, das sich wenig von der einfachen Lebensweise der
früheren „Schoftim“ unterschied. Saul hatte vier Söhne, von denen
zwei in der Geschichte eine Rolle spielen: der Held des Philister-
krieges Jonathan und der künftige Thronfolger Esbaal. Die nächste
6 D u b n o w , Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
81
Das Königtum Sauls
Umgebung des Königs bildeten seine benjamitischen Stammesbrüder.
Eines besonderen Einflusses am Hofe Sauls erfreute sich sein naher
Verwandter Abner, der sich durch seine 'Kriegstüchtigkeit aus-
zeichnete. Abner wurde zum Oberhaupt des gesamten israelitischen
Heeres ernannt.
Während der Regierungszeit Sauls hatte sich in Nob bei Gibea
eine Art religiösen Mittelpunktes gebildet. Dort lebten die nach der
Zerstörung des Silotempels übriggebliebenen Priester aus dem Ge-
schlechte Elis (§ 8). Sie errichteten hier einen kleinen Tempel, wo
sich das Orakel Jahves, der Efod, und andere bei den Kultus-
zeremonien gebräuchliche Gegenstände befanden. An der Spitze
der Priester und Leviten von Nob stand Ahimelek, der Urenkel Elis.
Ahimelek oder Ahia x) begleitete Saul auf seinen ersten Feldzügen
und weissagte ihm im Namen des Orakels. Als „Krieger Jahves“
war Saul um die strenge Befolgung der Kultusriten der nationalen
Religion besorgt sowie um deren Säuberung von heidnischen Ele-
menten. Die Sage erzählt, daß Saul zwecks Ausrottung des heid-
nischen Aberglaubens im Volke alle Zauberkünstler und Weis-
sagerinnen aus dem Lande vertrieb. Jedoch die spätere Über-
lieferung, die im Geiste der Theokratie und der Verherrlichung der
Dynastie Davids gehalten ist, stellt Saul als nicht genügend gottes-
fürchtig hin. Sie behauptet, daß der Prophet Samuel, der Saul
zum Throne verholfen hatte, sich in seinen Hoffnungen getäuscht
sah. Der zum Symbol der Theokratie gewordene Samuel soll einige
scharfe Konflikte mit Saul gehabt haben, die zum Bruch zwischen
dem König und dem Propheten führten. Einer dieser Konflikte
wird mit dem oben erwähnten Zug gegen die Amalekiter in Zu-
sammenhang gebracht. Augenscheinlich wurde der Unwille Samuels
dadurch hervorgerufen, daß der König, durch fortwährende Kriege
in Anspruch genommen, der inneren Verwaltung wenig Aufmerk-
samkeit schenkte und es versäumte, einen allnationalen Mittelpunkt
des Jahvekultes an Stelle des zerstörten Silo zu schaffen, wo zugleich
auch das vernachlässigte Volksheiligtum, die Lade Jahves, Unter-
kunft finden könnte. Unsichtbare Fäden führen von diesem ge-
spannten Verhältnis zwischen König und Prophet zu dem nun be-
*■) Allem Anscheine nach ist der im I. Sam. erwähnte Ahia mit Ahimelek
(i4, 3, 18 und Kap. 21—22) identisch.
§ lh. Das Eingreifen des Stammes Juda (David)
ginnenden Kampfe der Dynastien, der nicht so sehr durch die
Rivalität der einzelnen Persönlichkeiten als durch die Nebenbuhler-
schaft der Hauptstämme verursacht wurde, deren jeder die Vor-
herrschaft für sich beanspruchte.
Nach der Zerstörung des Silotempels, als der mittlere Stamm
Ephraim seine Vorzugsstellung eingebüßt hatte, erhielt der benjami-
tische Stamm, dem auch der König Saul angehörte, den Vorrang.
Der politische Mittelpunkt verschob sich aus der Mitte des Landes
nach dem Süden hin. Allein er sollte noch südlicher verlegt werden:
in den Herrschaftsbereich Judas. Benjamin war nur ein Übergang
zwischen Ephraim, der seine Vormachtsstellung eingebüßt hatte, und
Juda, dem sie nun zufallen sollte. In der vorköniglichen Zeit lebte
Juda ganz abgesondert von den anderen Stämmen und nahm — in
seinem Gebirgslande eingeschlossen — nur sehr selten an den An-
gelegenheiten des gesamten Volkes Anteil. Zum ersten Mal wird
der Stamm Juda unter Saul in die Sphäre der gesamtnationalen
Interessen hineingezogen, als der Mittelpunkt des Reiches ganz in
die Nähe des judäischen Landgebietes rückte. Der Zug Sauls gegen
die Amalekiter wurde offenbar im Interesse und unter regster An-
teilnahme der Judäer unternommen, denen an der Züchtigung dieser
Wüstenräuber, ihrer nächsten Nachbarn, am meisten gelegen war.
Kurz nach dem Amalekiterfeldzug erschien am Hofe Sauls jener
Mann, dem es beschieden war, zum Gründer der mächtigsten und
lebenskräftigsten nationalen Dynastie zu werden und die Hegemonie
für den judäischen Stamm zu gewinnen.
Unter den Kriegern, die Saul auf seinen Feldzügen begleiteten,
befanden sich auch Söhne des ehrwürdigen Greises Isaj, der in
der judäischen Stadt Bethlehem lebte. Besonders tat sich unter
ihnen David hervor, ein schöner, kluger und tapferer Jüngling.
Seine Jugend hatte David auf den Weiden in der Umgegend Beth-
lehems verbracht, wo er das Vieh seines Vaters hütete. Die Sage
hat ihn mit einer Begabung für Gesang und Musik ausgestattet (er
soll ein kunstreicher Harfenspieler gewesen sein). Dabei zeichnete
er sich auch durch ungewöhnliche Tapferkeit aus: er tötete einst
einen Löwen und einen Bären, die, auf Beute ausgehend, seine
Herde überfallen hatten. Die Vorzüge des Jünglings lenkten die
Aufmerksamkeit des Königs auf ihn. Zu jener Zeit kam es oft zu
Plänkeleien mit den Philistern, die in die Besitzungen der Ben-
6*
83
Das Königtum Sauls
jamiten und der Judäer immer wieder einfielen; manchmal sollte
ein Zweikampf der feindlichen Anführer oder „Gibborim“ die
Fehde zum Austrag bringen. In einem dieser Zweikämpfe tat sich
der junge David hervor und fesselte so die allgemeine Aufmerksam-
keit. In der biblischen Chronik ist folgende in epischem Stile ge-
haltene Erzählung von diesem Ereignis erhalten geblieben:
Die Philister versammelten einst ein Heer in der Nähe Beth-
lehems und wollten Israel mit Krieg überziehen. Vierzig Tage lang
standen beide Heere einander gegenüber, ohne die Schlacht zu
beginnen. Da trat ein Krieger aus dem Philisterlager hervor, ein
Mann von Riesenwuchs mit Namen Goliath, und rief den Israeliten
zu: „Wählt einen von euch aus, daß er gegen mich auf trete; ver-
mag er mit mir zu kämpfen und besiegt er mich, so wollen wir
euch untertan sein, bin aber ich ihm überlegen und besiege ihn,
so werdet ihr uns untertan und müßt uns dienen!“ Als Saul dies
vernahm, ließ er durch das ganze Land einen Ruf ergehen: Der-
jenige unter den Israeliten, der den Riesen Goliath besiege, bekomme
die Königstochter zum Weibe sowie große Reichtümer. Allein der
Anblick des philistäischen, schwer bewaffneten Riesen jagte allen
einen derartigen Schrecken ein, daß keiner den Zweikampf mit ihm
wagen wollte. Goliath aber kam jeden Tag vor das Lager der
Israeliten, rief nach einem Gegner und verhöhnte die Israeliten
wegen ihrer Feigheit. Um diese Zeit kam der Hirte David aus
Bethlehem, um sich nach dem Ergehen seiner im Lager befindlichen
Brüder zu erkundigen. Als er die kecke Herausforderung Goliaths
vernahm, wurde er zornig und entschloß sich, den Kampf mit
ihm aufzunehmen. Alle wunderten sich über den verwegenen Ent-
schluß Davids, Saul aber sprach zu ihm: „Du kannst diesem
Philister nicht gegenübertreten, denn du bist ein Knabe und er ein
Kriegsmann von Jugend auf.“ David aber antwortete, er wolle
die Ehre seines Volkes verteidigen und hoffe auf den Beistand
Jahves. Da gab ihm Saul seine Königsrüstung, legte ihm den
Panzer an, setzte ihm den ehernen Helm aufs Haupt und umgürtete
ihn mit seinem Schwert. David aber, an die schwere Rüstung nicht
gewöhnt, fühlte sich in allen seinen Bewegungen gehemmt. Er legte
die königliche Rüstung ab, nahm einen einfachen Stock in die
Hand sowie fünf glatte Steine in seine Hirtentasche und stellte
sich so dem philistäischen Riesen. Als Goliath den israelitischen
Kämpfer erblickte, ergrimmte er und rief: „Bin ich denn ein Hund,
daß du mit Stöcken zu mir kommst?“ David blieb in einer ge-
wissen Entfernung von Goliath stehen, nahm einen Stein aus der
Tasche und schleuderte ihn so gewandt nach dem Feinde, daß er
die Stirn des Riesen traf. Goliath stürzte in seiner schweren Rüstung
zu Boden. David aber schleuderte noch einige Steine nach ihm,
84
§ 1h. Das Eingreifen des Stammes Juda (David)
dann lief er heran, ergriff das Schwert des Riesen und hieb ihm
den Kopf ab. Als die Philister ihren Helden tot daliegen sahen,
ergriffen sie voll Schrecken die Flucht. Die Israeliten verfolgten
die Feinde unter der Anführung Sauls und vernichteten sie. Durch
diesen wunderbaren Sieg erwarb sich David großen Ruhm. Als
Saul und David an der Spitze des Heeres aus dem Feldzuge
zurückkehrten, kamen ihnen die israelitischen Frauen singend und
tanzend entgegen und riefen: „Saul hat seine Tausende geschlagen,
David aber seine Zehntausende!“ x)
David wird nun der Waffenträger Sauls. Durch sein wunder-
bares Harfenspiel bezaubert er den König* Saul litt an Schwer-
mutsanfällen oder, wie es in der Überlieferung heißt, „ein böser
Gottesgeist quälte ihn“. Nur David vermochte in solchen Augen-
blicken den Trübsinn des Königs durch sein kunstvolles Harfen-
spiel zu verscheuchen. Er hatte bald die ganze Familie Sauls für
sich gewonnen; der kühne Königssohn Jonathan wurde sein Rusen-
freund, die jüngste Tochter Sauls, Mikcil, entbrannte in Liebe zu
dem jungen Helden und wurde später sein Weib. Die Heldentaten
Davids, die den Sieg Israels über seine Feinde und Bedrücker her-
beigeführt hatten, machten ihn zum Liebling des Volkes. Der
Kriegsruhm Sauls verblaßte im Glanze des Heldenruhmes des
judäischen Jünglings. „Saul hat seine Tausende geschlagen, David
aber seine Zehntausende“ — dieses geflügelte Wort kennzeichnete
den Umschwung der Volkssympathien. Da nun die Königswürde
zu jener Zeit als Preis für Tapferkeit im Felde galt, mochte im
Bewußtsein des Volkes der Gedanke lebendig werden, daß der junge
Held aus Bethlehem des Thrones würdiger sei als der ehedem aus-
erwählte Saul. Besonders volkstümlich dürfte dieser Gedanke im
Stamme Juda geworden sein.
So wandelte sich allmählich die zunächst verborgene Neben-
buhlerschaft Sauls und Davids in offene Rivalität. Sobald der
König in seinem Eidam einen gefährlichen Nebenbuhler erblickte,
der der benjamitischen Dynastie den Thron streitig machen könnte,
*) Sam. Kap. 17. An einer Stelle der Urkunde (II. Sam. 21, 19) wird
„Goliath aus Gat“ von einem Einwohner Bethlehems, Elhanan, besiegt, einem
aus der Heldenschar („Gibborim“) Davids; das Ereignis selbst aber wird in die
Königszeit Davids verlegt. Diese Verwechslung von Namen und Daten in der
Überlieferung entkräftet indessen keineswegs die Bedeutung der Erzählung des
Chronisten von den Heldentaten Davids in seinem Kampfe mit den Philistern
noch zu Sauls Lebzeiten.
85
Das Königtum Sauls
schlugen seine freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Ge-
fühle für David in erbitterte Feindschaft um. Der wachsende Ruhm
Davids weckte in der Seele Sauls wachsenden Argwohn und Neid.
Während seiner düsteren Schwermutsanfälle glaubte Saul, daß
David die Volksgunst für sich zu gewinnen bestrebt sei, um die
Königsmacht an sich zu reißen, und daß er eben mit dieser Absicht
des Königs Schwiegersohn geworden sei. In diesen Augenblicken
empfand der kranke und gereizte König einen solchen Haß gegen
David, daß er ihm sogar nach dem Leben zu trachten begann.
Eines Tages, so berichtet der Chronist, als David wieder einmal
Vor dem Könige Harfe spielte, um seinen Trübsinn zu verscheuchen,
warf Saul plötzlich in furchtbarem Zorn seinen Speer nach ihm
und nur durch eine geschickte Wendung entging David dem Tode.
Da beschloß David, dem Hofe des Königs fernzubleiben, was aber
den Argwohn Sauls nur noch erhöhte. Der Königssohn Jonathan
versuchte, seinen Vater mit David zu versöhnen, allein alle seine
Mühe blieb vergeblich. Von Verfolgungswahn ergriffen, sann Saul
darauf, seinen Nebenbuhler zu beseitigen. Eines Tages gebot er
seinen Knechten, David in dessen eigenem Hause bei Morgengrauen
zu töten. Allein Mikal, die davon Kunde erhalten hatte, veranlaßte
ihren Mann, in der Nacht durch das Fenster zu fliehen und die
Stadt zu verlassen; als die Mörder am anderen Morgen kamen,
fanden sie David nicht mehr im Hause.
Der biblischen Überlieferung zufolge floh David nach Rama,
wo der greise Prophet Samuel lebte. Es ist anzunehmen, daß gerade
zu jener Zeit (nicht aber früher, wie die theokratische Sage wissen
will, I. Sam. 16, i—13) die Annäherung zwischen Samuel und
David zustande kam, wobei Samuel in dem Jüngling den geeigneten
Nachfolger Sauls erblickte. Samuel sanktionierte gleichsam durch
seine religiöse Autorität die Bestrebungen der Partei Davids.
So wurde das Zerwürfnis in der königlichen Familie zu einem
politischen Kampfe. Der argwöhnische Saul setzte seinem nunmehr
vogelfrei gewordenen Schwiegersöhne nach; David verbarg sich
vor ihm in der Umgegend von Rama. Hier suchte ihn sein treuer
Freund, der Thronfolger Jonathan, auf, um ihm Trost zuzusprechen.
Eines Tages, am Neumondfest, als die königliche Familie und der
Hofstaat gemeinsam Mahlzeit hielten, versuchte Jonathan eine Ver-
söhnung Sauls mit David einzuleiten; Saul aber geriet in Wut gegen
86
§15. Der Kampf Sauls mit David
seinen Sohn und rief ihm zu: „Solange David auf dem Erdboden
lebt, wirst weder du noch dein Königtum feststehen. So laß denn
David vor mich bringen, denn er ist ein Kind des Todes.“ Allein
Jonathan ließ sich durch diese dynastischen Erwägungen nicht
überreden. Er ging wieder insgeheim zu David aufs Feld und riet
ihm, noch weiter zu fliehen, da der Zorn des Königs unermeß-
lich sei.
§15. Der Kampf Sauls mit David
Der weitere Verlauf des Ringens Sauls mit David wird in der
von einseitigen dynastischen Tendenzen beherrschten Chronik in
der Form dargestellt, daß der von Gott verstoßene König Saul
den gottbegnadeten David unausgesetzt verfolgt, obwohl der himm-
lische Wille ihn zu seinem Nachfolger ausersehen hatte. Dies ist
zu beachten, wenn man die nachfolgenden Begebenheiten aus dem
historischen Drama, wie es in den alten Überlieferungen wieder-
gegeben wird, richtig deuten will.
Für David brach nun, wie es heißt, eine Zeit schwerer Wander-
jahre an. Er begab sich zunächst nach der „Priesterstadt“ Nob.
Der Oberpriester des Tempels, Ahimelek, empfing ihn freundlich
und versah ihn mit Nahrungsmitteln und Waffen. Von dort eilte
David weiter zur philistäischen Grenze und verbarg sich in der
Bergfeste Adullam, im Landgebiet seines Stammes. Bei seinen
judäischen Stammesbrüdern fand er nicht nur Zuflucht, sondern
auch tatkräftigen Beistand. Hier mochte zuerst der Gedanke an
einen Kronprätendenten aus dem Stamme Juda auf getaucht sein.
Dieser Gedanke verbreitete sich zunächst in der Familie Davids in
Bethlehem, hernach aber auch in weiteren Kreisen. Durch den
Zwang der Umstände wurde David zum Mittelpunkte einer politi-
schen Bewegung, die gegen die gesetzliche Dynastie gerichtet war.
Die Sage erzählt, daß sich allerlei unzufriedene Elemente, von
ihren Gläubigern verfolgte Schuldner sowie allerhand waghalsige
Abenteurer, um ihn versammelten. Der in Ungnade gefallene könig-
liche Krieger wurde so zum Anführer einer zügellosen Beduinen-
bande.
Die Gerüchte von den Abenteuern Davids bestärkten nur den
von Saul gehegten Argwohn. Er erklärte David für einen Auf-
87
Das Königtum Sauls
wiegier und verfolgte in unbarmherzigster Weise alle, die unter
dem Verdacht näherer Beziehungen zu ihm standen. Als Saul
hinterbrächt wurde, daß David in Nob gewesen und dort von den
Priestern freundlich empfangen worden war,“ befahl er Ahimelek
und die anderen Priester aus Nob zu sich nach Gibea und sprach
grimmig zu ihnen: „Warum habt ihr David, meinem Feinde, Brot
und ein Schwert gegeben? Warum habt ihr Gott (das Orakel
Jahves) für ihn befragt, so daß er als Feind wider mich auf treten
könnte?“ Ahimelek gab zur Antwort, daß die Priester David mit
der dem Eidam des Königs ziemenden Ehrerbietung empfangen
hätten, ohne die wahre Ursache seiner Flucht zu kennen. Allein
Saul ließ keine Ausrede gelten. Er befahl seiner Leibwache,
Ahimelek, seine Familie sowie die anderen Priester niederzumachen;
die Stadt Nob und ihr Tempel wurden der Zerstörung preisgegeben.
Nur ein Sohn Ahimeleks, Ebjatar, entrann dem Tode. Er floh zu
David, das gerettete Orakel, den Efod, mit sich führend.
Unterdessen wanderte David an der Spitze seiner bewaffneten
Bande von Ort zu Ort; meist hielt er sich in der judäischen Wüste
auf. Zu seinen Freischärlern gesellten sich auch seine aus Beth-
lehem gekommenen Verwandten, von denen die Söhne seiner
Schwester, Joab und Abisai, sich durch besondere Tapferkeit aus-
zeichneten. Die Freischar Davids unternahm von Zeit zu Zeit kühne
Überfälle auf einzelne Philisterhaufen. Als David Kunde davon
erhalten hatte, daß die Philister die Grenzstadt Keila (Kegila) ver-
wüstet hätten, eilte er mit seinem Kriegertrupp dahin, schlug die
Philister in die Flucht und befreite die bedrohte Stadt. Er durfte
dort aber nicht lange verweilen. Als Saul von seiner Anwesenheit
in Keila Nachricht erhielt, beschloß er, die Stadt zu belagern, da
er seinen Feind in einer „Stadt mit Toren und Riegeln“ leichter
in seine Hand zu bekommen hoffte als in der weiten Steppe.
David berief den Priester Ebjatar mit dem Efod zu sich und fragte
ihn: „Werden die Bürger von Keila mich Saul ausliefern?“ Das
Orakel gab eine bejahende Antwort, und David beeilte sich, den
gefährlichen Ort mit seiner Schar zu verlassen.
Nach seiner Flucht aus Keila irrte David von einem Orte zum
anderen, da Saul mit einem großen Kriegertrupp ihm stets auf
den Fersen war. In der Wüste Siph hätte ihn Saul beinahe ein-
geholt; aber plötzlich kam die Nachricht von einer von außen her
88
§15. Der Kampf Sauls mit David
drohenden Gefahr, und der König mußte zurückkehren, um gegen
die ein dringenden Philister ins Feld zu ziehen. Nach Beendigung
des Feldzuges nahm Saul von neuem die Verfolgung Davids auf,
der sich nunmehr in der an das Tote Meer angrenzenden Wüste,
bei der Oase En-Gedi, aufhielt. Hier kamen die Leute Sauls und
Davids oft in Fühlung miteinander, ohne daß es jedoch zu einem
entscheidenden Treffen beider Parteien gekommen wäre.
Durch die ganze Lage der Dinge war David gezwungen, das
unstete Leben eines Beduinen zu führen. Er zog mit seiner Krieger-
schar im Gebirgsland bei Hebron umher, der Bevölkerung Schrecken
ein jagend und von ihr Tribut verlangend, wie es der orientalischen,
noch heute unter den Arabern herrschenden Sitte entsprach: der
Tribut war gleichsam ein Entgelt für den Schutz vor sonstigen
Überfällen gewalttätiger Räuber, der auf diese Weise dem Einzelnen
gewährt wurde. Sehr bezeichnend für die Sitten jener Zeit ist die
Geschichte von dem reichen Viehzüchter Nabal, der während des
Schafschurfestes in Karmel (Kurmul bei Hebron) der Kriegsschar
Davids das verlangte „Geschenk“ verweigerte. Als die Leute Davids
zu Nabal kamen und eine Gabe von ihm verlangten, weil sie seine
Hirten nicht mißhandelt und seine Herde unberührt gelassen hätten,
antwortete ihnen Nabal unwirsch: „Wer ist David? Heutzutage
gibt es genug Knechte, die ihrem Herrn da vonlaufen.“ Da gerieten
die Leute Davids in Zorn und umzingelten die Besitzung des geizigen
Viehzüchters, um sie zu verwüsten. Allein das kluge und schöne
Weib Nabals, Abigail, trat David und seinen Kriegern entgegen,
brachte ihnen reiche Geschenke und bat sie, ihres geizigen Mannes
Haus zu schonen. Ihre Bitte wurde erhört. Als Nabal, der auf
dem Feste zu viel getrunken hatte, wenige Tage darauf starb, warb
David um Abigail, nahm sie zum Weibe und kam so zu einem
großen Landbesitz.
Allein ein ruhiges Leben war David auch hier nicht beschieden.
Jetzt kam der Zeitpunkt, da er auch in Juda nicht länger gefahrlos
verweilen durfte, weil er überall von den Kriegern Sauls verfolgt
wurde. So war er gezwungen, mit seiner aus 600 Mann bestehenden
Freischar bei den Philistern, den Feinden Israels, mit denen er
noch vor kurzem so tapfer gekämpft hatte, Zuflucht zu suchen.
Von einem der philistäischen Könige oder Fürsten, Akis von Gat,
wurden die Flüchtlinge mit Freuden empfangen, weil er von David
89
als dem Feinde des israelitischen Königs Hilfe gegen die Israeliten
erhoffte. Auf die Bitte Davids wurde ihm und seinen Leuten die
Landstadt Ziklag als Wohnsitz zugewiesen. Von hier aus unter-
nahm er mit seiner Kriegerschar Feldzüge gegen die Amalekiter
und andere Völkerschaften, die südlich von Kanaan umherzogen,
und kehrte mit reicher Beute zurück. Akis aber versicherte er, daß
seine Überfälle den südlichen israelitischen Landgebieten gegolten
hätten. Diese patriotische List wird ihm vom Chronisten besonders
hoch angerechnet.
Das Spiel Davids war sehr gewagt: als philistäischer Untertan
wäre er gezwungen gewesen, an einem Feldzuge der Philister gegen
sein eigenes Volk teilzunehmen, was ihn notwendigerweise hätte zum
Verräter machen und ihm für seine ganze Zukunft verderblich werden
müssen, wenn ein glücklicher Zufall ihn von dieser Schmach nicht
gerettet hätte. Eines Tages, als die philistäischen Fürsten einen
Feldzug gegen die Israeliten unternahmen, wurde nämlich auch
David mit seinen Kriegern dem Heere Akis, eingereiht. Allein die
anderen philistäischen Fürsten sagten zu Akis: „Was sollen diese
Hebräer? Ist das nicht David, dem zu Ehren man im Reigen sang,
daß er zehntausend Philister geschlagen hätte? Womit könnte sich
der die Gunst seines Herrn (Saul) besser wieder erwerben als mit
den Köpfen dieser Leute (der Philister)?“ Akis fügte sich und
sandte David mit seinem Kriegertrupp zurück nach Ziklag. Hier
erwartet ihn aber eine traurige Überraschung. Während seiner
Abwesenheit hatten die räuberischen Amalekiter Ziklag überfallen,
die Stadt in Brand gesteckt und die Weiber und Kinder der israe-
litischen Krieger mit sich fortgeschleppt. Als David und seine
Krieger die verwüstete Stadt erblickten, begannen sie laut zu klagen.
Der Priester Ebjatar, der den Kriegertrupp begleitete, tröstete David
und verkündete ihm die Weissagung des „Efod“, daß er die Räuber
einholen und ihnen die Beute abjagen würde. David nahm 4oo
Mann mit sich und setzte den Amalekitern nach. Er überraschte sie
im Felde, wo sie aßen, tranken und guter Dinge waren inmittejn
der gefangenen Weiber und Kinder. Die Krieger Davids überfielen
die Räuber, erschlugen sie, befreiten ihre Weiber und Kinder und
ergriffen von ihrem geraubten Gute von neuem Besitz.
ISSBSiM
IMMi
§ 16. Sauls Ende
§16. Sauls Ende
Als Saul Kunde davon erhielt, daß die Philister sich zu einem
Kriege rüsteten, bot er seinen Heerbann auf und zog dem Feinde
in das Jesreeltal, bis an den Berg Gilboa, entgegen. Hier erwartete
er voll Unruhe das Herannahen der Philister. Nach jahrelangen
Vorpostengefechten stand nun eine Entscheidungsschlacht mit den
vereinigten feindlichen Kräften bevor. Böse Ahnungen umdüsterten
das Gemüt des Königs. Er hatte Jahve über sein Schicksal befragt,
aber keine Antwort erhalten. Er versuchte es nun sogar, sich mit
Hilfe jener Zauberer und Weissager Gewißheit zu verschaffen, die
er einst selbst aus dem Lande vertrieben hatte, erfuhr aber auch
auf diese Weise nichts Erfreuliches.
Die poetische Sage erzählt, daß Saul sich einst nächtlicherweile
zu einer Zauberin geschlichen hätte, die in Endor wohnte. Er ver-
kleidete sich, um nicht erkannt zu werden, kam in das Haus der
Weissagerin und bat sie, ihm den Geist Samuels zu beschwören
(Samuel war zu jener Zeit nicht mehr am Leben). Bald erschien
im geheimnisvollen Nachtdunkel die Gestalt eines Greises, in dem
Saul den Propheten erkannte. Saul vernahm die zornige Frage
Samuels: „Warum beunruhigst du mich, daß du mich erscheinen
lässest?“ Da rief Saul aus: „Ich bin in großer Not. Die Philister
liegen im Kampfe mit mir, und Gott ist von mir gewichen. Sage
mir, was ich tun soll.“ Samuel sprach: „Jahve ist von dir gewichen,
weil du der Stimme Jahves nicht, gehorcht hast, und hat dein Reich
David gegeben. Der Herr wird dich und Israel in der Philister
Hände geben; morgen wirst du und deine Söhne mit mir sein.“
Bei diesen Worten erzitterte Saul und fiel erschöpft zu Boden.
Nur schwer gelang es der Weissagerin, ihn aufzurichten und durch
Speise seine schwindenden Kräfte zu erhalten1).
Die Philister näherten sich dem israelitischen Lager. Wie einst-
mals in den Zeiten Elis und Samuels befand sich das Schlachtfeld
1) An dieser Erzählung ist mehr die Meisterhand des Künstlers als die des
Geschichtsschreibers zu erkennen. Dem Verfasser kommt es auf die scharfe
Gegenüberstellung zweier Begegnungen Samuels mit Saul an: der ersten, als
der Prophet dem jungen Landmann auf seiner Suche nach den entlaufenen
Eselinnen begegnet und ihm seine verheißungsvolle Zukunft verkündet, und der
letzten, bei der der Bote aus dem Jenseits dem niedergerungenen König gegen-
übersteht.
9*
Das Königtum Sauls
auch diesmal im Mittelpunkte des Landes, im Gebiete des Jesreel-
tales. Im Gilboagebirge entspann sich eine blutige Schlacht. Die
Philister siegten. Tausende von israelitischen Kriegern ließen ihr
Leben auf den Abhängen Gilboas. Jonathan und zwei andere Söhne
Sauls fielen durch das Schwert der Feinde. Saul selbst ward durch
feindliche Pfeile verwundet. Den herannahenden Tod ahnend, sprach
er zu seinem Waffenträger: „Zücke dein Schwert und durchbohre
mich, damit nicht diese Unbeschnittenen kommen und ihren Mut-
willen mit mir treiben.44 Aber der Waffenträger hatte nicht den
Mut, die Hand gegen seinen König zu erheben. Da stürzte sich
Saul selbst in sein Schwert. Durch den Tod des Königs tief er-
schüttert, stob das israelitische Heer auseinander. Am anderen
Morgen fanden die Philister die Leiche Sauls und hängten sie als
Siegestrophäe an der Stadtmauer von Betsean auf. Als die Ein-
wohner von Jabes in Gilead, die Saul seinerzeit von den Am-
monitern errettet hatte, davon Kunde erhielten, sandten sie einige
kühne Männer nach Betsean, um die Leiche des toten Königs von
dort zu holen. In der Nacht raubten die Leute von Gilead die
Leiche Sauls und brachten sie über den Jordan nach Jabes, wo
sie ehrenvoll bestattet wurde.
David, der zu jener Zeit in Ziklag weilte, erfuhr durch einen
Amalekiter, der vom Schlachtfelde dorthin gekommen war, von
dem Tode Sauls und seiner Söhne. Der Bote glaubte, so erzählt
der Chronist, daß er für die Freudenbotschaft von David reich be-
lohnt werden würde und gab vor, selbst den König getötet zu haben.
Allein David rief zornig: „Wie, du hast dich nicht gescheut, Hand
anzulegen, um den Gesalbten Jahves ums Leben zu bringen?44 und
befahl, den Amalekiter mit dem Tode zu bestrafen.
Das tragische Ende Sauls und Jonathans wurde in einem Volks-
liede besungen, das der Dichter David in den Mund legt und das
jedenfalls aus jener Zeitperiode stammt1). In diesem Liede tritt
im Gegensatz zu der tendenziös zugestutzten biblischen Überlieferung
die unmittelbare Trauer des Volkes über den Untergang seiner
Helden hervor:
A) Der Chronist verweist auf das „Sefer ha’jaschar“ (II. Sam. i, 18), eine
verschollene Sammlung ältester Stücke des Volksepos, als auf die Quelle dieses
Liedes.
92
§ 16. Sauls Ende
„Die Zier1) liegt, o Israel, erschlagen auf deinen Höhen!
Wie sind die Helden gefallen!
Tut es nicht kund zu Gat,
meldet es nicht in den Gassen von Askalon,
daß sich der Philister Töchter nicht freuen,
nicht jubeln die Töchter der Unbeschnittenen!
Ihr Berge von Gilboa,
nicht Tau, nicht Regen falle auf euch, ihr Truggebilde!
Denn da ward der Helden Schild weggeworfen,
der Schild Sauls, ungesalbt mit Öl.
Saul und Jonathan, die geliebten und gütigen!
Im Lehen wie im Tode blieben sie vereint;
Sie, die schneller waren als Adler,
stärker als Löwen.
Ihr Töchter Israels,
weinet über Saul,
Der euch kleidete in Purpur und Wonnen,
, * der Goldschmuck heftete auf euer Gewand!
Wie sind die Helden gefallen inmitten des Kampfes —
Jonathan auf deinen Höhen erschlagen!
Wie sind die Helden gefallen,
zunichte die Rüslzeuge des Streites!
So endete das erste Königtum in Israel, ein Königtum voll
Unruhe und Sorge. Ein bescheidener Landmann, den seine patrio-
tische Begeisterung auf den Gipfel des Volksdaseins erhoben hatte,
verlor Saul auf dieser Höhe jenes seelische Gleichgewicht, das für
die planmäßige Aufrichtung des Staates so unentbehrlich ist. Ein
stürmisch veranlagter Charakter, verfügte er nicht über die Aus-
dauer eines organisierenden Staatsmannes. Im Andenken des Volkes
lebt Saul als ritterlicher Kriegsheld und als Beschützer des Volkes
fort; aber weder im Volksliede noch in der Chronik tritt er als
der auf, der den Staat errichtet oder zur geistigen Vereinigung
seines Volkes beigetragen hätte. Diese komplizierte Aufgabe sollte
seinen Nachfolgern überlassen bleiben.
1) Der Übersetzung der Septuaginta zufolge (oxrpXcooov) wäre die richtige
Lesart: „die Säule Israels“, die dem Worte „hazebi“ im massoretischen Texte
(hazebi. mazebat) entspricht.
Zweites Kapitel
Das Großkönigtum Davids
(Um 1010—970)
§ 17. Esbaal und David
Von den männlichen Nachkommen Sauls blieb nur noch sein
Sohn Esbaal*) am Leben. Es war dies allem Anschein nach ein
schwacher, zum Regieren wenig geeigneter Mann, dem aber sein
tapferer Heerführer Abner, ein Verwandter Sauls, in treuer Er-
gebenheit beistand. Die Stammesbrüder des verstorbenen Königs,
die Benjamiten, sowie die Einwohner Gileads, die Saul von dem
Ammoniterjoche befreit hatte, verlangten, daß die Königsmacht
seinem Geschlechte erhalten bleibe und an seinen gesetzlichen
Erben übergehen solle. Esbaal verlegte seinen Wohnsitz nach
Transjordanien, in die Stadt Mahanajim in Gilead, wo er sich
unter dem Schutze der Truppen Abners befand. Er hatte seinen
Wohnsitz augenscheinlich aus dem Grunde gewechselt, weil er
in größerer Entfernung von den Philistern leben wollte, die seit
ihrem letzten Siege das mittlere Landgebiet unausgesetzt bedrohten.
__________ ♦
*) In dem Originaltext der „Bücher Samuelis“ wird überall statt des
Namens Esbaal (der „Baalmann“) der Name Isboset („Mann der Schmach“) ge-
braucht, während in 1. Chron. (8,33), wie auch in älteren Abschriften von
griechischen und lateinischen Bibelübersetzungen, der Name Es- oder Eisbaal
sich erhalten hat. Die Namensänderung rührt von den späteren frommen
Schreibern her, die den Namen des Heidengottes „Baal“ in den israelitischen
Eigennamen durch das Wort „Boset“ (Schmach) zu ersetzen pflegten. Analog
im Namen des Sohnes Jonathan: Meribaal-Mefiboset. Die griechische Haupt-
übersetzung der Bibel, die Septuaginta, richtet sich nach dem traditionellen
hebräischen Text und hat überall die Namen Ießoö9*e, Me(LKpißoö9,e — ein
Beweis dafür, daß die Lesart Isboset und Mefiboset (oder Memfiboset) gegen
das II. Jahrhundert vor der christlichen Ära sich bereits eingebürgert hatte.
9^
§ 17. Esbaal und David
An diesem entfernten Zufluchtsort, wohin sich der kleinmütige
Sohn des verstorbenen Königs zurückgezogen hatte, wurde Esbaal
von den Benjamiten und den Einwohnern von Gilead zum Könige
ausgerufen. Ihnen schlossen sich die Ephraimiten und die nörd-
lichen Stämme an. Nur der Stamm Juda blieb seinem Helden
David treu, den er für geeigneter hielt, das Reich vor dem äußeren
Feinde zu schützen. Der Treue seiner Landsleute sicher, über-
siedelte David sogleich nach dem Tode Sauls aus dem philistäi-
schen Ziklag in die judäische Stadt Hebron. Hier kamen die
Volksältesten von Juda zu ihm und riefen ihn zum Könige aus.
Auch die Einwohner Gileads versuchte David für sich zu gewinnen,
fand aber bei ihnen keinen Anhang.
So erhielt das israelitische Volk gleichzeitig zwei Könige:
David herrschte über den Stamm Juda und Esbaal über alle
anderen Stämme. Es entspann sich ein Bürgerkrieg, wobei es
zu häufigen Treffen zwischen den Truppen beider rivalisierenden
Könige kam. Dem tapferen Kämpfer für das Haus Sauls, Abner,
trat der Neffe und Heerführer Davids, Joab, ein gewandter Krieger,
entgegen. In den meisten Fällen behielten die Truppen Davids
die Oberhand, öfters wurde der Ausgang der Schlacht durch
Zweikämpfe der „Helden“ der feindlichen Heere entschieden. So
kam es, daß in einer dieser Schlachten in der Nähe von Gibeon
das Heer Joabs den Sieg davontrug. Allein den Triumph des
Sieges trübte ein trauriger Vorfall: der Bruder Joabs, der tapfere
Asael, „leichtfüßig wie eine Gazelle auf dem Felde“, wurde von
Abner erschlagen. Joab verbarg seinen Grimm in der Tiefe seines
Herzens und beschloß, sich mit eigener Hand an dem Mörder
seines Bruders zu rächen.
Die Lage Esbaals wurde immer unsicherer. Bald kam noch
ein Bruch zwischen ihm und seinem Vormund Abner infolge eines
Familienstreites hinzu. Abner hatte nämlich eigenmächtig das
Kebsweib (Pileges, Konkubine) Sauls, Rispa, zu sich genommen,
was nach den Sitten der Zeit nur dem Nachfolger des verstorbenen
Königs gebührte. Esbaal erblickte darin eine Verletzung der gel-
tenden Bräuche, vielleicht auch einen Anschlag auf seine königlichen
Rechte und machte seinem Vormund Vorwürfe. Der erzürnte
Abner erwiderte: „Heute übe ich Liebesdienste an dem Hause
deines Vaters Saul und habe dich nicht in Davids Hände geraten
,95
lassen — und heute machst du mir Vorwürfe um eines Weibes
willen! Ich werde das Königtum dem Hause Sauls abnehmen,
um Davids Königtum über Israel und Juda aufzurichten von
Dan bis Beerseba!“x) Abner machte seine Drohung wahr. Viel-
leicht hatte er auch die Überzeugung gewonnen, daß David als
Feldherr und Staatsoberhaupt den unbegabten Esbaal weit über-
ragte. Abner begann mit aller Energie für die Vereinigung des
gesamten Volkes unter der Gewalt Davids zu wirken. Es gelang
ihm, seine Stammesbrüder, die Benjamiten, sowie die Volksältesten
der anderen Stämme für den judäischen König zu gewinnen. Er
erwies David auch einen persönlichen Dienst: mit seinem Beistände
gelang es David, sein erstes Weib, Sauls Tochter Mikal, die man
während seines Kampfes mit Saul von ihm getrennt und einem
anderen Manne gegeben hatte, von Esbaal zurückzuerhalten. Diese
Wiederanknüpfung der verwandtschaftlichen Bande mit dem Hause
Sauls hatte für David auch eine wichtige politische Bedeutung.
Nach seiner erfolgreichen Wirksamkeit für die Sache Davids begab
sich Abner nach Hebron, um persönlich mit David zu verhandeln;
da aber ereilte ihn der Tod. Der zornentbrannte Heerführer Joab
nahm jetzt die Gelegenheit wahr, der rohen Sitte der Blutrache
gemäß, Abner, den Mörder seines Bruders Asael, in eine Falle zu
locken und im Tore von Hebron zu erschlagen. David wurde durch
diesen jähen Tod in tiefe Trauer versetzt, da Abner aus seinem
Gegner zu seinem treuen Verbündeten geworden war und den
größten Teil des Volkes für ihn hätte gewinnen können. In einem
kurzen Trauerliede, das David zugeschrieben wird, macht sich der
Unwille des Volkes über den schmählichen Tod Abners geltend,
der von der Hand eines Bluträchers in dem Augenblicke fiel, da
er für die nationale Sache zu wirken begann: „Er mußte den Tod
eines Gottlosen sterben: deine Hände waren nicht gebunden, deine
Füße nicht in Fesseln geschlagen; wie einer von Ruchlosen fällt,
bist du gefallen!“
Nach dem Übertritt Abners zu David hatte der in Mahanajim
verbliebene Esbaal jeden Halt verloren. Seine früheren Anhänger
l) Die Stadt Dan, das vormalige Lais, war am äußersten Nordende des
israelitischen Landes gelegen, Beeresba aber an seinem äußersten Südende. Daher
die übliche Redewendung „von Dan bis Beerseba“, was soviel bedeutete wie:
von einem Ende bis zum anderen.
Das Großkönigtum Davids
§ 18. Das Zentrum in Jerusalem
fielen einer nach dem anderen von ihm ab und gingen zu David
über. Zwei seiner Heerführer beschlossen, den kraftlosen König
zu beseitigen, wobei sie im Sinne seines Nebenbuhlers zu handeln
glaubten. Sie drangen zur Mittagszeit, als Esbaal schlief, in sein
Schlafgemach ein und ermordeten ihn auf seinem Lager. Dann
nahmen sie das Haupt des Erschlagenen mit sich und brachten es
David nach Hebron, reichen Lohn von ihm erwartend. Aber
David war, nach dem Bericht des Chronisten, über diesen Meuchel-
mord tief empört und befahl, die Mörder hinzurichten. Das
Haupt Esbaals wurde an der Seite Abners in Hebron bestattet.
Diese Ehrenbezeugungen dürften dem verstorbenen Rivalen nicht
so sehr aus unmittelbarem Gefühl als aus politischer Berechnung
erwiesen worden sein: der Nachfolger und Schwiegersohn Sauls
mußte dem Vertreter der früheren Dynastie, als deren Fortsetzer
er sich betrachtete, die letzte Ehre erweisen.
Aus allen Berichten der Chronik kann nur ein historischer
Schluß mit Sicherheit gezogen werden. Die Mehrzahl des Volkes,
die zunächst der Dynastie Sauls gewogen war, fiel hernach von
Esbaal ab, als sich bei diesem Prätendenten ein Mangel gerade an
jenen Fähigkeiten kundtat, die die Entstehung der Königsgewalt
überhaupt erst möglich machten. Die Philistergefahr war noch
nicht vorbei; nach dem tragischen Tode Sauls drohte dem Lande
eine neue Unterjochung durch die fremden Eindringlinge; darum
mußten sich alle Stämme, manche davon mit Unterdrückung ihrer
Sonderneigungen, wohl oder übel um einen Mann vereinigen, der
sich schon längst den Ruhm eines Helden erworben hatte. Die
Wahl Davids zum Könige von ganz Israel war eine politische Not-
wendigkeit geworden.
§ 18. David — König von ganz Israel. Das Zentrum in Jerusalem
So wurde David nach siebenjähriger Herrschaft über Juda
zum Alleinherrscher des israelitischen Volkes. Die Volksältesten
aller Stämme kamen zu ihm nach Hebron und vollzogen feierlich
das Salbungszeremoniell, das Symbol der Thronbesteigung1). Das
Land, das durch die inneren und äußeren Wirren der letzten
t) Über diesen Brauch vergleiche oben $ 9, Anmerkung.
7 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
97
Das Großkönigtum Davids
Jahre schwer bedrückt war, setzte nunmehr alle seine Hoffnungen
auf den neuen vom Volke gewählten König. Diese Hoffnungen
sollten auch nicht unerfüllt bleiben.
Eine der ersten Maßnahmen Davids war die Errichtung eines
neuen politischen und geistigen Mittelpunkts im Lande, das bisher
in einzelne Landanteile zerstückelt war. Das Land hatte noch keine
Hauptstadt, kein Zentrum zur Pflege des Gottesdienstes. Zur
Zeit der Hegemonie Ephraims war die Stadt Silo mit ihrem
Tempel der Sammelpunkt der Stämme des mittleren Kanaan.
Unter Saul war wohl seine Heimatstadt Gibea, im Landanteil
Benjamins, zur königlichen Residenz geworden, sie wurde aber
weder zum politischen noch zum geistigen Mittelpunkt des Landes;
der weniger bedeutende religiöse Mittelpunkt in Nob wurde während
des blutigen Kampfes zwischen Saul und David bis auf den Grund
zerstört. Es galt also vor allem, das Symbol des vereinigten Volkes,
eine allisraelitische Hauptstadt, zu errichten. Diese nationale Tat setzte
aber einen Feldzug voraus, der das Land von den Überresten der
Herrschaft der kanaanitischen Ureinwohner befreien sollte.
An der Grenzscheide der Landgebiete Benjamins und Judas,
auf einem hohen Bergplateau, mitten zwischen Hügeln und Tälern
lag die alte kanaanitische Stadt Jerusalem. Schon vor der Er-
oberung des Landes durch die Israeliten, als es sich noch unter
der Oberhoheit Ägyptens befand, war sie als die Residenz eines
kanaanäischen Kleinfürsten bekannt. Auf den Denkmälern des
XV. Jahrhunderts wird diese Stadt unter dem Namen Urusalim
erwähnt (§ i). Nach der Eroberung Kanaans gehörte das natürlich
befestigte Jerusalem zu denjenigen Städten, die noch in den Händen
der Ureinwohner verblieben waren, und zwar befand es sich zu
Davids Zeiten in der Gewalt der Jebusiter. Die Jebusiter, die
sich in dieser Bergfeste festgesetzt hatten, lebten sorglos mitten im
israelitischen Herrschaftsbereich und fühlten sich vor Überfällen
sicher: die Stadt war durch die Felsenburg Zion (Mezudat Zion)
geschützt, die die Stadtbewohner für unbezwingbar hielten. Nach-
dem der Stamm Juda im israelitischen Volke die Vormachtstellung
erlangt hatte, durfte dieses Zwischengebiet, das Juda von den
anderen Stämmen trennte, nicht weiter unter fremder Herrschaft
bleiben. Die Einigung des israelitischen Landes mußte zu Ende
geführt werden; dies war die Aufgabe Davids zu Beginn seiner
98
§ 18. Das Zentrum in Jerusalem
Regierung. Er zog gegen die Jebusiter ins Feld und verlangte die
Übergabe der Festung. Als die Jebusiter dies ableimten, belagerte
das Heer Davids Jerusalem, bemächtigte sich bald der Festung
Zion und vertrieb die Jebusiter aus der eroberten Stadt. David
verließ Hebron, wo er sieben Jahre verbracht hatte, und machte
Jerusalem zu seiner ständigen Residenz. Sein Wohnsitz wird
die Zionsburg, die nach ihm Ir-David (Davidsburg) genannt
wird; in seiner nächsten Nähe werden für diejenigen von seinen
Kriegern oder „Helden4* Wohnstätten erbaut, die auf seinen
früheren Streifzügen seine treuen Begleiter gewesen waren und
nun den Kern seiner Streitmacht bildeten. Aus der phönizischen
Stadt Tyrus kamen bald Bauleute und Maurer und erbauten in
der Davidsburg einen Palast aus Zedernholz. Die Bevölkerung
Jerusalems vermehrte sich zusehends, und die Stadt gewann an
Ausdehnung. Im Mittelpunkte des südlichen Kanaan gelegen,
zwischen den Landbereichen der Judäer und der Benjamiten,
gelangte sie zu großer Blüte und wurde zur Hauptstadt des israeli-
tischen Reiches.
David gedachte jedoch seine Residenz auch zur heiligen Stadt
zu machen, zum Mittelpunkt des nationalen Kultes. Zu diesem
Zwecke mußt© das alte Volksheiligtum Silos, die „Lade Jahves“,
nach Jerusalem überführt werden. Seit der Zerstörung Silos
befand sich die Lade, nach ihrer Befreiung aus der kurzen phi-
listäischen „Gefangenschaft“, in einer entlegenen judäischen An-
siedlung Kirjat-Jearim (§ 8), in der Umgegend Jerusalems1). Dahin
begab sich David, von einer großen Volksmenge begleitet; in einem
feierlichen Zuge, unter Freudenrufen des Volkes, unter Posaunen-
klang und Reigentänzen wurde das Heiligtum nach Ir-David über-
führt. Hier wurde die Lade in einem Zelte aufgestellt, in dem ein
Altar zur Opferdarbringung errichtet wurde. Zum Oberpriester
in diesem provisorisch eingerichteten Tempel wurde Ebjatar ernannt,
der Sohn des in Nob getöteten Ahimelek, der David mit dem Orakel,
dem „Efod“, auf allen seinen Wanderungen begleitet hatte. Der
andere Oberpriester Zadok stand im Dienste der großen Bama,
einer Altarkapelle auf einer Anhöhe, die sich in der benjamitischen
*) In den Texten (II. Sam. 6,2 in Verbindung mit I. Chron. i3, 6) ist
von dem Orte Baalat oder Baalat Jehuda als von einem mit Kirjat-Jearim
identischen die Rede. Vergleiche noch Jos. i5, 9 und 18, i4*
7*
99
Das Großkönig tum Davids
Stadt Gibeon befand. Von dieser Zeit ab wird ein regelmäßiger
Gottesdienst abgehalten. Wenn man der vom Chronisten mitgeteilten
Sage, die allerdings das viel später eingeführte Tempelzeremoniell
zum Vorbild hatte, Glauben schenken soll, so beginnt von nun ab
neben der Opferdarbringung das Singen von religiösen Hymnen
oder „Psalmen'3 4 durch levitische Chöre mit Musikbegleitung eine
wichtige Rolle im Gottesdienste zu spielen. Als Sänger und Mu-
sikant soll David selbst an den levitischen Chören teilgenommen,
ja sie sogar dirigiert haben. Im Zusammenhang damit steht auch
das sagenhafte Auftreten Davids als Psalmendichter in der späteren
biblischen Überlieferung. Geschichtlich steht nur die Tatsache fest,
daß unter David jene Zentralisierung des Jahvekultes einen be-
scheidenen Anfang genommen hat, die erst durch seinen Nach-
folger Salomo zu Ende geführt wurde.
§ 19. Die Kriege Davids und die Erweiterung des Landgebietes
Nach ihrem über Saul errungenen Siege bei Jesreel im Gilboa-
gebirge erneuerten die Philister ihre Versuche, sich die israelitischen
Grenzgebiete untertänig zu machen. In David erblickten sie zunächst
ihren Verbündeten und Vasallen und ließen ihn in Frieden. Allein
als David zum Herrscher über das ganze israelitische Volk ausgeru-
fen wurde und sich in seiner neuen befestigten Hauptstadt Jerusalem
festsetzte, witterten die Philister eine neue Gefahr. Nun kam es
zu häufigen Kämpfen zwischen ihnen und den Israeliten, in denen
die Krieger Davids Wunder an Tapferkeit vollbrachten. In der
biblischen Chronik sind einige Fragmente aus den Sagen über
diese Heldenkämpfe verstreut, die einem verschollenen Volksepos,
wohl in der Art der griechischen Ilias1), entnommen sind. Das
Heer Davids besaß eine auserlesene Kerntruppe von „Gibborim“,
nach der Überlieferung dreißig Helden an der Zahl; dazu gehörten
der Heerführer Joab, sein Bruder Abisai, die tapferen Krieger Benaja
ben Jojada, Eleasar ben Dodo und andere. In der Chronik werden
sie folgendermaßen kurz charakterisiert: der eine „schwang seinen
3) Augenscheinlich dem ,,Buche der Kriege Jahves“ oder dem ,„Buche
Jaschar“.
IOO
§ 19. Die Kriege Davids
Speer über 3oo Erschlagene, über 800 Erschlagene auf einmal“,
cL h. er vernichtete in einer Schlacht so viele Feinde; Eleasar ben
Dodo „schlug die Philister, bis seine Hand müde am Schwerte
erstarrte“; Benaja ben Jojada trat einem bewaffneten „Ägypter“
nur mit einem Stock entgegen, entriß ihm den Speer und stach ihn
mit demselben nieder. Die Überlieferung berichtet auch von
selbstverleugnenden Treuebezeugungen dem König gegenüber. Auf
einem Feldzuge bekam David großen Durst; Wasser gab es aber
nur in einem Brunnen an den Toren Bethlehems, wo ein Philister-
posten Wache hielt. Da wagten sich drei Helden aus der Leib-
wache des Königs unter Lebensgefahr durch den Wachtposten
hindurch, schöpften Wasser und brachten es David. Aber der
König sagte: „Bewahre mich Jahve davor, daß ich so etwas tun
sollte. Das hieße, das Blut der Helden, die mit Daransetzung
ihres Lebens hingegangen sind, trinken!“ Die Krieger liebten und
schützten ihren Führer. Nach einem Treffen, in dem David in
Gefahr gewesen war, von einem philistäischen Riesen erschlagen
zu werden, erklärte die Heldenschar dem König: „Du darfst nicht
mehr mit uns in den Kampf ziehen, daß du die Leuchte Israels
nicht auslöschest!“ Vor jeder Schlacht befragte der König den
Priester, der das Orakel, den „Efod“, mit sich führte, ob er ins
Feld ziehen solle. So prophezeite ihm das Orakel vor einer großen
Schlacht in der Ebene Refaim einen erfolgreichen Ausgang; in
der Tat erlitten die Philister eine große Niederlage, ergriffen die
Flucht und ließen ihre Götzen im Felde zurück. Ein anderes
Mal „befragte David Jahve“ in derselben Ebene Refaim und erhielt
folgende Antwort: „Ziehe nicht hinauf, ihnen entgegen; wende dich
gegen ihren Rücken und komme vom Bakagehölz her über sie;
wenn du aber das Geräusch des Einschreitens in den Wipfeln
des Bakagehölzes hörst, dann brich los, denn dann ist Jahve aus-
gezogen vor dir her, um im Lager der Philister eine Niederlage
anzurichten.“
Alle diese Heldentaten, die vornehmlich in einzelnen Treffen
vollbracht wurden, führten zur völligen Verdrängung der Philister
aus dem Herrschaftsbereiche Israels. Aber damit allein wollte
sich David nicht zufrieden geben. Um die Macht der Philister
endgültig zu brechen, fiel er mit seinem Heere in ihr Land-
gebiet ein und eroberte die Stadt Gat und das sie umgebende
101
Das Großkönigtum Davids
Gebiet1). Diese Eroberung bedeutete einen entscheidenden Um-
schwung in den Beziehungen der kämpfenden Völker: das Volk
Israel, das sich bisher nur gegen die Überfälle der Philister ver-
teidigt hatte, ging nun selbst zum Angriff über und bemächtigte
sich eines Teiles des philistäischen Landgebietes. Dieser Erfolg
mochte auch dadurch mitbedingt worden sein, daß die Philister
gerade zu jener Zeit sich von neuem auch gegen ihre Küsten-
nachbarn, die Ägypter, zu verteidigen hatten.
Durch ein ganzes Jahrhundert zogen sich somit die Kämpfe mit
den Philistern hin, bis die Macht dieses kriegerischen Völkchens,
das die Oberherrschaft in Kanaan an sich reißen wollte, schließlich
gebrochen war. Israel war nun von seinem gefährlichsten po-
litischen Gegner befreit. Vereitelt waren alle langjährigen Be-
mühungen des kleinen Volkes, von dem schmalen Küstenstrich
her in die Weiten des urbaren Jesreeltales einzudringen und zu
Beherrschern Palästinas zu werden. Von nun ab kommt den
Philistern keine größere politische Bedeutung zu als den anderen
Völkerschaften der Grenzgebiete Palästinas: Moab, Ammon, Edom.
Nachdem die langwierigen Kämpfe mit den Philistern ein Ende
gefunden hatten, wandte sich David gegen seine südwestlichen Nach-
barn, Ammon und Moab, die in den vorangegangenen Zeiten die
Israeliten Transjordaniens gar oft bedrängt hatten. Den Anlaß zum
Kriege gab nach dem Bericht des Chronisten das herausfordernde
Benehmen des ammonitischen Königs Hamm David gegenüber.
Ads nämlich der ammonitische König Nahas, dessen Grausamkeit
einst den jungen Saul zur Abwehr auf gerufen hatte (§9)? gestorben
war, sandte David Boten an seinen Sohn Hanun, zu dem er in
freundschaftlichen Beziehungen stand, um ihn „zu trösten“, d. h.
ihm sein Beileid auszudrücken. Hanun und die ammonitischen
Würdenträger, von den Kriegserfolgen Davids wohl unterrichtet,
schöpften den Verdacht, daß die israelitischen Boten das Land
auskundschaften und so den Einfall der Israeliten vorbereiten
wollten. Der König befahl, die Boten zu ergreifen, ihnen Bärte
und Kleider zur Hälfte abzuschneiden und sie in diesem schmäh-
1) Der Urkundentext ist an dieser Stelle ganz verstümmelt: statt „Meteg-
haama“ (II. Sam. 8,1) muß es nach dem richtigen Paralleltext aus. I. Chron.
(18, 1) „Gat ubnoteha“, Gat und seine Umgehung,, heißen.
102
§ 19. Die Kriege Davids
liehen Zustande aus seinem Lande zu weisen. Das konnte nur
als eine Herausforderung betrachtet werden. Tatsächlich traf Hanun
zugleich Kriegsmaßnahmen und schloß ein Bündnis mit den ara-
mäischen Königen von Damaskus und anderen Gebieten Syriens.
Daraufhin zog die Heldenschar Davids unter Joabs Anführung zur
Hauptstadt der Ammoniter, Rabbat-Ammon. Vor den Toren der
Stadt traf Joab einerseits mit den Ammonitern, andererseits mit
den ihnen zu Hilfe eilenden Aramäern zusammen. Um nicht
zwischen zwei Feuer zu geraten, teilte er sein Heer in zwei Teile:
der eine, unter der Anführung seines Bruders Abisai, trat den
Ammonitern entgegen, der andere, unter seiner eigenen Führung,
wandte sich gegen die Aramäer. Die aramäischen Hilfstruppen
wurden bald in die Flucht geschlagen, und die Ammoniter waren
gezwungen, in ihre Hauptstadt zurückzukehren und sich dort zu
verschanzen. Nach einer längeren Belagerung gelang es Joab, einen
Teil der ammonitischen Hauptstadt, die sogenannte „Wasser stadt“,
einzunehmen, und David, der mit Verstärkungen hinzugekommen
war, vollendete schließlich die Eroberung. In der den Siegern
zugefallenen Beute befand sich auch eine massive goldene Krone
des ammonitischen Königs, reich mit Edelsteinen verziert. Das
durch die lange Belagerung gereizte Heer Davids züchtigte die
Ammoniter sowohl der Hauptstadt wie der anderen Städte in
grausamer Weise. Das gleiche Los ereilte auch ihre Nachbarn,
die Moabiter, die augenscheinlich an dem ammonitisch-aramäischen
Bündnis gegen Israel mitbeteiligt waren. Wenn man der alten
Kriegssage Glauben schenken soll, so wurden die bezwungenen
Moabiter in Reihen nebeneinander auf die Erde gelegt, mit einem
Strick gemessen und von je drei Reihen wurden zwei dem Tode
preisgegeben, nur eine am Leben gelassen. Die unterjochte Völker-
schaft mußte David einen Tribut zahlen; auch die stolzen Ammo-
niter wurden vermutlich zu Vasallen Davids.
Nun galt es, den neuen Feind zu bekämpfen, der während der
Regierung Davids zum ersten Mal als ernster Gegner auftrat und
in Zukunft zu einer großen Gefahr für Israel werden sollte: die
Aramäer. Diese nordöstlichen Nachbarn Israels waren zu jener
Zeit, wie die Bevölkerung des vorisraelitischen Kanaan, eine Gruppe
getrennter einzelner Völkerschaften, deren jede ihr kleines Fürsten-
tum im Gebiete des heutigen Syrien hatte. Solche kleine Fürsten-
ioo
Das Großkönigtum Davids
tümer waren die Städte Damaskus, Rehob, Hamat und Maaka.
Obwohl ihr Bündnis mit den Ammonitern ein so klägliches Ende
genommen hatte, ließen sich die Aramäer in einen selbständigen
Krieg mit David ein. Der König Hadadezer von Zoba ging mit
dem Fürsten von Damaskus ein Bündnis ein, und beide sandten
gemeinsam ein Heer gegen die Israeliten aus. David tritt selbst an
der Spitze seiner Krieger dem Heere der Verbündeten entgegen,
die in einer Reihe von Schlachten in Transjordanien von den
Israeliten geschlagen werden. Die Stadt Damaskus, die künftige
Hauptstadt des vereinigten Aram, wird tributpflichtig, und es wird
daselbst ein Vogt Davids eingesetzt. Der aramäische König von
Hamat erklärte sich freiwillig als Vasall Davids.
Nach einer blutigen Schlacht im Salztal, im Gebiet des Toten
Meeres, unterwarf David auch die Edomiter, die an der südlichen
Grenze lebten. In den Hauptstädten Edoms setzte er seine Vögte
ein, und das Land blieb lange Zeit hindurch eine Provinz des
israelitischen Reiches. Die Angliederung Edoms eröffnete den
Israeliten den Zugang zum Roten Meere und zu dessen Häfen, die
sie später für die Schiffahrt benützten.
Während David seine kriegerisch gesinnten Nachbarn unter-
warf und züchtigte, stand er mit seinen friedlichen nordwestlichen
Nachbarn, den Phöniziern, in freundschaftlichen Beziehungen. Die
phönizischen Handelsstädte konnten durch die Entfaltung eines
starken Reiches, das den kriegerischen Völkerschaften die Waffen
aus der Hand schlug, nur gewinnen. Der König der Hafenstadt
Tyrus schloß mit David einen Freundschaftsbund, der in späterer
Zeit wichtige wirtschaftliche Vorteile mit sich brachte (§ 2 3).
So vollzog sich die große Wendung im politischen Geschick
Israels. Dem israelitischen Volke, das seinen Staat zunächst zum
Selbstschutze, unter stets drohenden feindlichen Überfällen, er-
richtet hatte, gelang es nun, nicht nur sein Landgebiet und seine
nationale Unabhängigkeit zu sichern, sondern auch über die Grenz-
länder die Oberherrschaft zu gewinnen oder mindestens deren
Herrscher ständig in Schach zu halten. Das vereinigte israeli-
tische Reich wurde zu einer „Großmacht“ des Ostens, zum mäch-
tigsten Staate zwischen Babylonien und Ägypten. Dies war vor
allem das Verdienst des Stammes Juda, dem eine neue Dynastie
entsprossen war und der die Hegemonie über die anderen Stämme
io4
§ 20. Die inneren Verhältnisse
erlangt hatte. An dieses historische Verdienst dachte vielleicht der
unbekannte alte Dichter, der dem Stammvater Jakob folgende Ver-
herrlichung Judas in den Mund legt:
„Juda, dich, dich werden preisen deine Brüder,
Es packt deine Hand das Genick der Feinde,
Vor die werden sich beugen die Söhne deines Vaters“ (d. h. die verwandten
Völkerschaften).
Dieselbe Zeitperiode mochte jener Dichter im Auge haben,
der im Namen des Zauberkünstlers Bileam weissagte (Num. 2 4,
17—18):
„Es geht ein Stern auf aus Jakob,
und ein Szepter erhebt sich aus Israel;
Der zerschlägt die Schläfen der Moabiter
und den Scheitel aller Söhne Seths.
Und Edom wird Untertanenland
und Seir, sein Feind, wird Untertanenland,
Israel aber verrichtet große TatenI“
§ 20. Die inneren Verhältnisse. Das Königshaus
David führte den geeinten israelitischen Staat zu neuer Macht-
entfaltung, die auf seiner militärischen Starke beruhte. Um diese
Macht auf der einmal erreichten Höhe zu erhalten, mußte David
ein großes stehendes Heer zur Verfügung haben. Den Kern dieser
Armee bildete jene königliche Leibwache oder Garde, deren Auslese
die obenerwähnten ruhmreichen „Gibborim“ oder Helden waren.
An den Feldzügen aber beteiligte sich auch das bewaffnete Volk.
In Kriegszeiten mußte jeder Stamm eine bestimmte Anzahl kampf-
fähiger Männer vom zwanzigsten Lebensjahre ab dem Heere zur
Verfügung stellen. Der Heerführer aller Truppen war der Neffe
Davids, Joab, ein echter Haudegen, die Tapferkeit, aber auch die
Grausamkeit selbst. Andere heldenmütige Krieger aus der aus-
erlesenen Leibwache des Königs hatten den Oberbefehl über ein-
zelne Truppenteile. So stand an der Spitze der aus Ausländern
philistäischer ujid hetitischer Herkunft bestehenden Söldnertruppe
„Krethi und Plethi“ (Kreter oder Philister) Benaja ben Jojada,
einer von den dreißig „Gibborim“, von deren Heldentaten Sagen-
haftes erzählt wird (§ 19).
Das Vorherrschen militärischer Organisation ist das Be-
zeichnendste für das gesamte Staatsleben zur Zeit Davids. Allein
Das Großkönigtum Davids
^uch auf dem Gebiete des bürgerlichen Lebens machen sich An-
zeichen eines gewissen Fortschrittes bemerkbar. So werden am
königlichen Hofe oberste Staatsämter eingerichtet: das Amt eines
Staatssekretärs oder Berichterstatters (Maskir), eines Staatsschrei-
bers (Sofer) und eines persönlichen „Freundes“ oder Ratgebers
des Königs (Joez). Als Ratgeber hat sich hohen Ruhm der weise
Ahitofel erworben, dessen Ratschläge in wichtigen Angelegenheiten
den Weissagungen des Orakels gleichgestellt wurden. Am Hofe
Davids befanden sich auch zwei „Propheten“: Gad und Nathan,
die in religiös-sittlichen Fragen das entscheidende Wort führten.
David beteiligte sich persönlich an allen wichtigen Gerichtsver-
handlungen, wobei er sich in der Rechtsprechung nicht nur durch
die Grundsätze der Gerechtigkeit, sondern auch durch allgemein
geltende Normen des Gewohnheitsrechts, das mit den höchsten
sittlichen Gesetzen nicht immer im Einklang stand, leiten lassen
mußte. Dies trat besonders bei solchen Rechtsangelegenheiten zu-
tage, denen sich Elemente einer persönlichen oder Blut-Rache bei-
mischten. In der biblischen Chronik ist uns folgende Episode
erhalten geblieben, die die Schattenseiten jener alten Sitten scharf
hervortreten läßt.
Es herrschte einmal andauernde Hungersnot im Lande, die die
Folge einer großen Dürre war. Das Volk erblickte in dieser seiner
Not eine von Gott verhängte Strafe für irgendeine unbekannt
gebliebene Sünde. Das befragte Orakel Jahves verkündete durch
den Priester, daß das Volk für die Sünden des Königs Saul leide,
der die Gibeoniten (§ i3) vernichtete, ungeachtet des alten Ge-
löbnisses der Israeliten, diese friedlichen ortsansässigen Kanaaniter
zu verschonen. Da berief David die noch am Leben gebliebenen
Gibeoniten und schlug ihnen ein Lösegeld für das ihnen wider-
fahrene Unrecht vor; allein die Gibeoniten weigerten sich, ein
Lösegeld zu nehmen und verlangten, daß ihnen erlaubt würde,
der Sitte der Blutrache gemäß, an der Nachkommenschaft Sauls
die Rache zu vollstrecken. David war gezwungen, dieser grausamen
Forderung Genüge zu tun. Die Gibeoniten ergriffen zwei Söhne
Sauls von seinem Kebsweib Rispa sowie fünf seiner Enkel und
hängten sie auf einem Hügel bei Gibeat-Saul auf. Die von Sinnen
gekommene Rispa betrauert voll Verzweiflung die unschuldigen
Opfer; viele Tage und Nächte hindurch, „vom Beginn der Ernte,
§ 20. Die inneren Verhältnisse
bis Regen vom Himmel niederfiel“, sitzt sie auf dem Felde bei den
teuren Leichen, sie vor den Raubtieren und den Vögeln bewachend.
David gelang es jedoch, wenigstens einem einzigen Enkel Sauls,
nämlich Meribaal oder Mefiboset, des Jonathan Sohn, das Leben
zu retten. Seiner Freundschaft mit Jonathan eingedenk, nahm
David dessen schwachen, lahmen Sohn Meribaal in Jerusalem auf
und speiste ihn an seinem königlichen Tische. Jedoch die Ben-
jamiten, die Stammesbrüder Sauls, hegten Groll gegen David, in
dem sie den eigentlichen Urheber der Vernichtung von Sauls
Geschlecht erblickten. Das Klagen Rispas im Felde, die Klagen
um eine zugrunde gegangene Dynastie, klang noch lange in trau-
rigem Widerhall in der Seele des Volkes nach und weckte feind-
selige Gefühle gegen die neue triumphierende Dynastie . . .
Den Fremden gegenüber, die im israelitischen Reiche lebten,
verhielt sich David völlig tolerant. In der Leibwache des Königs
und sogar unter den Heerführern befanden sich Männer aus ver-
schiedenen kanaanitischen Völkerschaften: Hetiter, Philister und
andere. Die meisten von ihnen verloren allmählich ihre Stammes-
eigenheiten und gingen ganz in Israel auf. Dadurch erklärt sich
auch der rasche Zuwachs der israelitischen Bevölkerung. Die Ur-
kunde berichtet, daß eine von David zu Zwecken der Kriegeraus-
hebung unternommene Volkszählung im ganzen Lande „von Dan
bis Berseba“, d. i. vom Norden bis zum Süden, eine Zahl von
i 3oo ooo kampffähigen Männern ergab. Will man diese pri-
mitive Statistik zur Grundlage nehmen und annehmen, daß auf eine
Familie aus fünf Personen ein kampffähiger Mann entfällt, so
kann daraus gefolgert werden, daß die ganze Bevölkerung sich auf
sechs Millionen Menschen belief. Davon gehörten, derselben Quelle
zufolge, über ein Drittel dem Stamme Juda an (5ooooo Kampf-
fähige).
Wie in allen Staaten des Orients war das politische Leben auch
bei den Israeliten oft mit den Verhältnissen innerhalb der könig-
lichen Familie aufs engste verknüpft. Die Familie hatte ihre
Grundlage in der damals herrschenden Sitte der Vielweiberei. David
besaß viel mehr Weiber und Kebsweiber als sein Vorgänger. Von
seinen Wanderungen brachte er zwei Weiber heim: die Witwe des
reichen Geizhalses Nabal, Abigail, und Aliinoam aus Jesreel. Diese
beiden Frauen hatte David in Ziklag und später in Hebron bei sich.
107
Das Großkönigtam Davids
In Hebron nahm er auch während der Wirren unter Esbaal seine
erste Frau, die Königstochter Mikal, wieder in sein Haus auf. Hier
und in Jerusalem wurden noch andere Weiber in die Familie des
Königs aufgenommen, zuletzt Batseba, die Heldin einer tragischen
Geschichte und zugleich die zukünftige Mutter des Thronerben.
Von allen diesen Weibern hatte David Söhne und Töchter. Nur
Mikal blieb kinderlos. Als Tochter des zugrunde gegangenen Königs
Saul und Schwester Esbaals, der seinen Thron an David verloren
hatte, war Mikal wohl nicht mehr von jener Liebe zu ihrem könig-
lichen Gemahl erfüllt, die sie einstmals für den bescheidenen
Jüngling aus Bethlehem gehegt hatte. Das politische und geistige
Streben Davids war ihr fremd. Eine naive Sage schildert in fol-
gender Weise diese Beziehungen zwischen König und Königin. Als
die Feier der Überführung der heiligen Lade in die neue Haupt-
stadt Jerusalem veranstaltet wurde, ging David in freudiger Er-
regung mitten unter dem Volke tanzend einher, ohne seiner könig-
lichen Würde zu gedenken. Mikal, die aus dem Fenster des Palastes
der Feier zusah, blickte mit Verachtung auf den tanzenden Ge-
mahl herab und trat ihm mit folgenden Worten entgegen: „Wie
ehrenvoll hat sich heute der König von Israel benommen, indem
er sich vor den Augen der Mägde seiner Untertanen entblößte!“
David aber erwiderte schroff: „Vor Jahve will ich tanzen, der
mich vor deinem Vater und seinem ganzen Hause erwählt hat,
um mich zum Fürsten über Israel zu bestellen. Aber bei den
Mägden, von denen du sagtest — bei ihnen möchte ich Gnade ge-
winnen!“
Der älteste Sohn Davids war Amnon, den ihm sein Weib
Ahinoam geboren hatte. Auf ihn folgten Absalom, der Sohn
Maakas, und Adonia, der Sohn der Haggit. Viel später wurde
David ein Sohn von seinem letzten Weibe, Batseba, geboren.
Diesem jüngsten Sohne, der den Namen Salomo erhielt, war es
beschieden, das israelitische Königtum zu erben. Die Geschichte
der Begegnung mit Batseba bildet einen wichtigen Abschnitt in der
sagenhaften Lebensbeschreibung Davids; poetische Schilderung und
moralisierende Belehrung sind in dieser biblischen Erzählung mit-
einander vermischt. Hier legt der alte Geschichtschreiber die
Schattenseiten des großen israelitischen Königs mit unverhohlener
Offenheit bloß.
108
§ 20. Die inneren Verhältnisse
Eines Tages erging sich David auf dem flachen Dache seines
Hauses und sah von weitem ein badendes Weib von ungewöhnlicher
Schönheit. David fragte, wer sie sei, und erfuhr, daß es Batseba
sei, das Weib des Heerführers Uria, eines Hetiters aus des Königs
Leibwache. Von der Schönheit Batsebas berauscht, entbrannte
David in leidenschaftlicher Liebe zu ihr und befahl, sie in seinen
Palast zu bringen. Uria befand sich zu jener Zeit »nicht in
Jerusalem, da er sich an dem Feldzuge gegen die Ammoniter be-
teiligte, wo er unter dem Oberbefehl Joabs vor der ammonitischen
Hauptstadt Rabbat-Ammon stand. Indessen merkte David, daß
seine Beziehungen zu der fremden Ehefrau nicht ohne Folgen
bleiben würden. Er begann auf Mittel zu sinnen, Uria zu beseitigen
und das geliebte Weib als seine gesetzliche Gemahlin in seinen
Harem zu führen. Von Leidenschaft geblendet, ließ sich David
zu einem Verbrechen verleiten. Er sandte Joab einen geheimen
Befehl: Uria solle während der Schlacht dorthin gestellt werden,
wo das Treffen am härtesten sei, und beim Andringen des Feindes
solle ihm kein Beistand geleistet werden. Joab tat, wie der König
ihm befohlen. Uria fiel in dem harten Kampfe mit den Ammo-
nitern, und Batseba blieb als Witwe zurück. Als die Zeit ihrer
Trauer um war, nahm David Batseba in seinen Palast und machte
sie zu seinem Weibe.
Diese Handlungsweise Davids betrübte seinen Hauspropheten
Nathan. Der weise Prophet kam zum König und erzählte ihm
die folgende Geschichte: „Es waren zwei Männer in einer und der-
selben Stadt, der eine reich, der andere arm. Der Reiche besaß
Schafe und Rinder in großer Menge, der Arme besaß nichts
außer einem einzigen Lämmchen, das er sich gekauft und auf-
gezogen hatte und das bei ihm groß wurde; von seinen Bissen aß
es, aus seinem Becher trank es, an seinem Busen schlief es und
galt ihm wie eine Tochter. Nun kam einst Besuch zu dem reichen
Manne; da konnte er es nicht über sich bringen, eines von seinen
Schafen oder Rindern zu nehmen, um es seinem Gaste zuzubereiten,
sondern er nahm das Lamm des armen Mannes und bereitete es
dem Manne zu, der ihn besucht hatte.“ Als Nathan mit seiner
Erzählung zu Ende war, rief David zornig aus: „Der Mann, der
das getan hat, ist ein Kind des Todes, und das Lamm muß er
siebenfältig erstatten dafür, daß er eine solche Tat begangen und
kein Erbarmen geübt hat!“ Der Prophet aber erwiderte dem
König: „Du bist der Mann. Gott hat dich zum König über Israel
gesalbt und aus Sauls Händen errettet und dir das Haus Israel
übergeben — und du hast Uria durch das Schwert der Ammoniter
ermordet und sein Weib dir zum Weibe genommen. Dafür wird
Gott für dich Unheil aus deinem eigenen Hause erstehen lassen, und
das Schwert soll nicht weichen aus deinem Hause!“ David wurde
von tiefem Reuegefühl ergriffen und rief: „Ich habe mich gegen
109
Das Großkönigtum Davids
Jahve versündigt!“ — Bald darauf gebar ihm Batseba einen Sohn,
dem Nathan den Beinamen „Jedidija“, d. i. „Freund Jahves“, bei-
legte. Es war dies Salomo, der künftige König Israels.
Alle diese Begebenheiten am Hoflager Davids sind in der
moralisierenden Darstellung der späteren Prophetenschule zu uns
gelangt. Hier tritt Davids Charakter zutage, so wie er in der
Vorstellung der späteren Generationen fortlebte. Indessen, wenn
man von den Elementen der Sage und Belehrung äbsieht, so kann
aus der Gesamtheit der Angaben der Chronik sowohl auf die
Kompliziertheit des Charakters des wirklichen David, wie auch auf
die Verwickeltheit der noch vor kurzem fast patriarchalisch ein-
fachen sozialen Verhältnisse geschlossen werden.
§21. Der Aufstand Absaloms und die Verschwörung Sebas
Die orientalische Art des Familienlebens Davids wurde zur
Quelle vieler Verwicklungen und Wirren, die die letzten Regierungs-
jahre dieses großen Volksführers ausfüllten. Die persönliche Riva-
lität der einzelnen Mitglieder der königlichen Familie ging in eine
Palastrevolution über, um schließlich zu einem organisierten Auf-
stand zu werden. Der älteste Sohn Davids, Amnon, der sich als
Thronerben betrachtete, zeichnete sich durch ein zügelloses Tem-
perament aus. In wahnsinniger Leidenschaft für seine schöne
Halbschwester Tamar entflammt, lockte er sie in sein Haus und
entehrte sie. Nachdem er seiner Leidenschaft Genüge getan hatte,
verstieß er das Mädchen in roher Weise, statt sie zu heiraten, was
er nach den Sitten jener Zeit wohl tun konnte, da Tamar die
Tochter seines Vaters von einem anderen Weibe, von Maaka, war.
Der stolze Absalom, ein Vollbruder Tamars, beschloß nun, ihre
verletzte Ehre zu rächen. Eines Tages, am Schafschurfeste, ver-
anstaltet Absalom das übliche Mahl und lädt alle seine Brüder,
Amnon miteinbegriffen, in sein Haus ein. Während des Mahles
stürzen sich die Diener Absaloms auf Amnon und stoßen ihn
nieder. Die Kunde von diesem Vorfall versetzt den König in
tiefste Trauer. Der Brudermörder, voll Furcht vor dem Zorn
des Vaters, flieht zu seinem Großvater mütterlicherseits, Talmai,
dem Fürsten des aramäischen Landbesitzes Gesur in Transjordanien,
wo er drei Jahre verweilt. Inzwischen hat der Schmerz des Königs
i io
§ 21. Der Aufstand Absaloms und die Verschwörung Sebas
um den ermordeten Sohn nachgelassen, und durch Vermittlung der
nächsten Hofbeamten, besonders' auf die Fürbitte Joabs hin, ge-
lingt es Absalom, die väterliche Vergebung zu erlangen und nach
Jerusalem zurückzukehren.
Allein die Rückkehr des in Ungnade gefallenen Königssohnes
sollte David keine Freude bereiten. Absalom war äußerst ehrgeizig
und trachtete nach dem königlichen Throne. Der äußere Glanz
blendete ihn. Er fuhr durch die Straßen Jerusalems in einem
prächtigen Wagen, den fünfzig Trabanten zu begleiten pflegten.
Voll männlicher Kühnheit, schön von Gestalt, mit langem Locken-
haar, war Absalom der Liebling des Volkes geworden. Diese Er-
gebenheit des Volkes nützte er bald für seine Zwecke aus. Er
faßte den Entschluß, durch einen Aufstand die königliche Gewalt
an sich zu reißen. Es ist wohl möglich, daß dieser Entschluß
im Zusammenhang mit der erwarteten Abänderung der Thronfolge-
ordnung zugunsten des jüngsten Königssohnes Salomo in ihm
reif wurde. Die Urkunde erzählt, zu welchen demagogischen
Kniffen Absalom griff, um seinen Vater im Volke unpopulär zu
machen. Dem greisen David wurde es nämlich schwer, mit den
vielen Staatsgeschäften fertig zu werden, und es kam oft vor,
daß er die Klagen oder Gesuche mancher Bürger nicht anzuhören
vermochte. Viele Bittsteller mußten unbefriedigt von dannen gehen.
Wenn Absalom einem solchen unzufriedenen Bittsteller begegnete,
pflegte er ihm zu sagen: „Was du sagst, ist ja schön und wahr,
aber beim König ist niemand, der dir Gehör schenkt! Wenn man
doch mich zum Richter im Lande bestellte, daß zu mir käme,
wer irgendeinen Handel oder eine Rechtssache hätte, ich verhülfe
ihm zu seinem Rechte!“ Allmählich gelang es Absalom auf diese
Weise, viele Anhänger unter dem Volke und sogar unter den könig-
lichen Würdenträgern für sich zu gewinnen. Auch der weiseste
„Ratgeber“ Davids, Ahitofel, nahm Partei für den Königssohn.
Nunmehr seiner Macht sicher, begab sich Absalom mit seinen
Anhängern in die Stadt Hebron. Von dort aus entsandte er Auf-
wiegler in alle anderen Städte und vereinbarte mit ihnen das Zeichen
zur allgemeinen Erhebung.
David war von der Kunde über den Aufstand seines Sohnes
tief betroffen. Der König war auf einen Bürgerkrieg nicht vor-
bereitet und befürchtete einen plötzlichen Anschlag der Rebellen
in
Das Großkönigtum Davids
auf die Hauptstadt. Darum beschloß er, Jerusalem zu verlassen
und fern vom Herde des Aufstandes sich zum Feldzuge zu rüsten.
Rührend schildert der Chronist diesen tragischen Moment im Leben
Davids. Der König verließ Jerusalem mit einem Teil seiner
Familie, von seiner treuen Leibgarde begleitet, unter der sich auch
ein ihm ergebener Philistertrupp aus dem bezwungenen Gat befand.
Als die Einwohner den greisen König erblickten, der seine Haupt-
stadt verlassen mußte, brachen viele in lautes Weinen aus. Die
Priester Zadok und Ebjatar nahmen die Lade Jahves und wollten
dem Könige folgen; allein David befahl ihnen, mit dem Heiligtum
in Jerusalem zu verbleiben, indem er so zu ihnen sprach: „Wird
Jahve mir gnädig sein, so wird er mich zurückführen und mich
ihn selbst und seine Wohnung schauen lassen. Ist aber sein Ge-
danke: Ich habe kein Gefallen an dir — da bin ich, er tue mit mir,
wie es ihm gut dünktI“ Der albe Freund des Königs, der weise
Chusaiy der nach dem Verrat Ahitofels zum Ratgeber Davids
geworden war, wollte auch mit ihm ziehen. David aber sprach zu
ihm: „Wenn du mit mir gehst, so bist du mir eine Last; gehst
du aber nach der Stadt zurück und sagst zu Absalom, dein Diener
will ich, o König, sein, — so kannst du mir Ahitofels Rat zunichte
machen . . . Was immer du aus dem Königspalast erfährst, magst
du immer an die Priester Zadok und Ebjatar berichten . . . Durch
ihre Vermittlung könnt ihr an mich gelangen lassen, was ihr
irgend in Erfahrung bringt!<e
Nach der Flucht Davids aus Jerusalem wuchs die politische
Gärung immer mehr an. Der fast erloschene Funke der Unzu-
friedenheit unter den früheren Anhängern der Dynastie Sauls
loderte von neuem hell auf. Kaum hatte David Jerusalem ver-
lassen, als man ihm mitteilte, daß der in der Hauptstadt zurück-
gebliebene Enkel Sauls, Meribaal (Mefiboset), sich in den Kopf
gesetzt hätte, die benjamitische Dynastie seines Großvaters wieder-
herzustellen. Als ein Benjamit, ein Verwandter Sauls, Simei ben
Gera, David unterwegs traf, warf er Steine nach ihm und rief:
„Hinaus, hinaus, du Blutmensch, du Nichtswürdiger! Jahve hat
all das Blut des Hauses Sauls, an dessen Stelle du König geworden
bist, über dich gebracht, und Jahve hat das Königtum deinem
Sohne Absalom übergeben, und nun bist du im Unglück!“ Davids
Neffe Abisai, der den König begleitete, wollte den frechen Ben-
112
§ 21. Der Aufstand Absaloms und die Verschwörung Sebas
jamiten niederstoßen. Allein David hielt ihn mit folgenden Worten
davon zurück: „Wenn mein Sohn, der von meinem Leibe gekommen
ist, mir nach dem Leben steht, wieviel mehr denn dieser Ben-
jamit? Laßt ihn, er mag fluchen, denn Jahve hat es ihn geheißen!“
Der lief erschütterte König setzte mit seiner Leibwache den Weg
zum Jordan hin fort.
Inzwischen wurde Jerusalem von Absalom und einer großen
Menge seiner Anhänger in Besitz genommen. Er bemächtigte sich
des Palastes seines Vaters und sogar seines Harems und ließ sich
zum Könige ausrufen. Der kluge Ahitofel riet Absalom, sogleich
mit einem auserlesenen Heere David nachzusetzen und ihn zu über-
rumpeln, ehe er Zeit haben würde, seine Streitkräfte zu sammeln.
Chusai, der von diesem gefährlichen Ratschlag erfuhr, trat vor
Absalom, spielte sich als sein wahrer Freund auf und suchte ihn
zu überreden, dem Rate Ahitofels keine Folge zu leisten. „Du
kennst deinen Vater“ — sagte er — „und seine Leute, was für
Helden sie sind und wie grimmen Mutes, einer Bärin auf dem
Felde gleich, der die Jungen geraubt sind; dazu ist dein Vater
ein Kriegsmann, der hält nicht Nachtruhe mit den Leuten. Ich
rate: es soll ganz Israel von Dan bis Beerseba um dich versammelt
werden . . . und du ziehst in eigener Person in ihrer Mitte aus.
Stoßen wir dann auf ihn ... so fallen wir über ihn her . . . und
wir wollen auch nicht einen übriglassen.“ Absalom folgte auch
wirklich dem Rate Chusais, nicht ahnend, daß dieser nur Zeit
für David gewinnen wollte, damit sich der König zur Nieder-
werfung des Aufstandes rüsten könne. Und in der Tat beeilte
sich der König, durch die Boten Chusais und der Priester von der
ihm drohenden Gefahr benachrichtigt, den Jordan zu überschreiten
und nach Gilead zu gelangen. Als Ahitofel sah, daß Absalom den
Weg des sicheren Verderbens gewählt hatte und seine Anhänger
mit sich in den Abgrund hinabziehe, verließ er ihn, ging in sein
Haus und erhängte sich.
Während Absalom untätig in Jerusalem verweilte, schlug David
sein Lager in Mahanajim, der früheren Residenz seines Rivalen
Esbaal, auf und sammelte seine Streitkräfte für den entscheidenden
Kampf mit den Aufrührern. Nun bot auch Absalom seinen Heer-
bann auf und zog nach Transjordanien, um gegen David zu
kämpfen. Das Heer der Rebellen war groß, es fehlte ihm aber
8 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
113
Das Großkönigtum Davids
an einem leitenden Kriegsplan, während die erfahrungsreichen
Heerführer Davids, insbesondere Joab und Abisai, umsichtig und
sachkundig ihre Vorbereitungen trafen. In dem Walde Ephraim
(oder Ephron) kam es zu der Entscheidungsschlacht. Die Truppen
Davids siegten und schlugen die Scharen Absaloms in die Flucht.
Absalom selbst, der auf einem Maultier durch ein Walddickicht
flüchtete, geriet unter die Zweige einer hohen Eiche, verfing
sich an seinen langen Haaren in ihrem Laub und blieb, als das
Maultier weiter galoppierte, an dem Baume hängen. Der daher-
kommende Joab durchbohrte den hängenden Absalom mit drei
Wurfspießen; die Leiche des Getöteten wurde vom Baume ge-
nommen, im Walde in eine Grube geworfen und diese mit einem
Steinhaufen bedeckt. David war durch den gräßlichen Tod des
aufrührerischen Sohnes so erschüttert, daß er darüber sogar den
errungenen Sieg vergaß. Die Vaterliebe ließ im ersten Augenblick
alle politischen Erwägungen verstummen. Der hochbetagte König
saß, wie der Chronist berichtet, allein in seiner Kammer und
flüsterte mit Tränen in den Augen: „Mein Sohn Absalom! 0 wäre
ich doch statt deiner gestorben, Absalom, mein Sohn, mein Sohn!“
Nach dem Tode Absaloms blieb David noch einige Zeit in Trans-
jordanien, fern von seiner Residenz, da er der dort eingetretenen
Ruhe nicht recht traute. Es zeigte sich aber bald, daß der Miß-
erfolg des Aufstandes auf seine Teilnehmer ernüchternd gewirkt
und eine David wohlgesinnte Stimmung im Volke hervorgerufen
hatte. Oft waren folgende Äußerungen zu vernehmen: „Der König
hat uns aus der Gewalt unserer Feinde befreit und er hat uns aus
der Gewalt der Philister errettet: nun aber ist er vor Absalom aus
dem Lande geflohen; Absalom hingegen, den wir zum Könige über
uns gesalbt hatten, ist in der Schlacht gefallen — nun denn! was
zögert ihr, den König zurückzuführen?“ Das noch vor kurzem
aufrührerisch gesinnte Volk bereute nunmehr seine revolutionäre
Verirrung. Allein die Versöhnung mit dem Könige bedeutete
noch nicht das Einverständnis mit der Hegemonie des königlichen
Stammes Juda. Die Volksältesten der nördlichen Stämme, „Israels“
im engeren Sinne, beschlossen aus eigenem Antrieb, ohne sich mit
den Vertretern des Stammes Juda vorher verständigt zu haben, den
König bei seinem Übergang über den Jordan feierlich zu empfangen
und ihm ihre Ergebenheit zu bezeugen. Als sie an den Jordan kamen,
ii4
§ 21. Der Aufstand Absaloms und die Verschwörung Sebas
erfuhren sie, daß die Volksältesten Judas ihnen zuvorgekommen
waren und den König schon über den Fluß gesetzt und in Gilgal
aufgenommen hatten. Nun kam es zu einem Zusammenstoß. Die
Volksältesten der nordisraelitischen Stämme warfen den Judäern vor,
daß sie den König geraubt und heimlich über den Jordan gebracht
hätten, ohne auf die Abgesandten der anderen Stämme zu warten,
die die Mehrheit der Nation repräsentierten. Die Judäer erwiderten,
daß ihnen als den Stammesgenossen des Königs der Vorrang ge-
bühre. Dieser dynastische Hochmut der Judäer empörte die übrigen
Israeliten. Sie erklärten, daß zehn israelitische Stämme zehnmal
mehr Recht auf den König hätten als der eine Stamm Juda. Der
alte Geschlechterzwist unter den Stämmen wurde wieder lebendig
und äußerte sich in dem Einspruch der Mehrheit des Volkes gegen
die Hegemonie der Minderheit.
In diesem Augenblick tritt ein eifriger Benjamit, Seba ben
Bikri, vor das in Gilgal versammelte Volk und, in die Posaune
stoßend, ruft er aus: „Wir haben kein Teil an David und kein
Erbe am Sohne Isaj’s — gehe jeder in seine Heimat, Israel!“ Das
war ein Aufruf zu einem neuen Aufstande. Viele folgten dem
Rufe Sebas; nur die Judäer blieben dem Könige treu und be-
gleiteten ihn von Gilgal nach Jerusalem. David befahl seinen
Heerführern, Seba zu verfolgen und die aufrührerischen Scharen
zu zerstreuen, ehe es ihnen gelänge, die festen Städte zu besetzen.
Die Truppen des Königs unter Anführung Joabs jagten wie ein
Sturm durch das ganze Land. Bei ihrem Herannahen sagte sich
die Bevölkerung von Seba los und ergab sich David. Nur die
Stadt Abel-bet-Maaka im nördlichen Dangebiet, in der Seba sich
mit seiner Schar verschanzt hatte, hielt den Truppen Davids stand.
Joab umgab die Stadt mit Belagerungswällen und schickte sich an,
sie zu stürmen. Das jagte den Einwohnern von Abel großen
Schreck ein. Ein Weib, das in der Stadt für weise galt, erstieg
die Festungsmauer und schrie zu Joab herüber: „Man frage doch
nach . . ., was die Getreuen Israels verordnet haben! Du suchst
eine Stadt und Mutter in Israel zugrunde zu richten: warum ver-
dirbst du das Erbe Jahves?“ Joab gab zur Antwort, daß er die
Stadl verschonen würde, wenn die Einwohner ihm den Rebellen
Seba freiwillig herausgeben wollten. Die Einwohner willigten ein.
Sie hieben Seba den Kopf ab und warfen ihn Joab von der Mauer
115
8*
Das Großkönigtum Davids
herunter. Da stieß Joab ins Horn, und das Heer zog sich von der
Stadt zurück. Die antidynastische Bewegung war nun endgültig
unterdrückt, und das Land fand für eine Zeitlang Ruhe. Die
Flammen des Bürgerkrieges erloschen, allein tief unter der Asche
glommen noch Funken der Feindseligkeit zwischen Nord und Süd.
Später sollten diese Funken wieder hell auf lodern und den großen,
unabwendbaren Zwiespalt zwischen „Israel“ und „Juda“ hervor-
rufen.
§ 22, Der Streit um die Thronfolge
In seinen letzten Lebensjahren war David krank und bedurfte
der Ruhe. Allein auch im höchsten Alter war ihm diese Ruhe
nicht beschieden, da ein Streit um die Thronfolge noch zu seinen
Lebzeiten entbrannte. Nach dem Tode Amnons und Absaloms kam
das Thronfolgerecht Adonia zu, dem Sohne Davids von seinem
Weibe Haggit. Um seinen Vorrang vor den anderen Königssöhnen
geltend zu machen, begann Adonia ein prunkvolles Leben zu führen;
gleich Absalom fuhr er in einem prächtigen Wagen durch die
Straßen, während fünfzig Trabanten vor ihm herliefen, was an-
scheinend ein ausschließliches Vorrecht des Thronfolgers war. Auf
der Seite Adonias als des gesetzlichen Thronfolgers standen die
einflußreichsten Staatsmänner: der Heerführer Joab, der Priester
Ebjatar und einige von den königlichen Prinzen. Zu gleicher
Zeit bildete sich aber am Hofe auch eine andere Partei, die den
jüngsten Sohn Davids von seinem besonders geliebten Weibe Bat-
seba, Salomo, auf den Thron bringen wollte. An der Spitze dieser
Partei standen der Oberbefehlshaber der königlichen Leibwache
Benaja und der Priester Zadok, die in ihren Ämtern mit Joab und
Ebjatar wetteiferten. Diese Partei wurde von Batseba und dem
Priester Nathan unterstützt, die einen großen Einfluß auf David
ausübten. Sie zwangen den greisen, augenscheinlich unschlüssigen
König, einen Schwur zu leisten, daß er Salomo den Thron ver-
erben werde.
Von den Ränken der Gegenpartei in Kenntnis gesetzt, ent-
schlossen sich Adonia und seine Anhänger zu einer Kundgebung,
die für ihre Sache verderblich werden sollte. Eines Tages, als man
schon den nahen Tod Davids erwartete, veranstaltete Adonia ein
116
§ 22. Der Streit um die Thronfolge
feierliches Opfermahl. Zum Feste waren Würdenträger und Prinzen
geladen, nur die Anhänger Salomos fehlten an der Tafel Adonias.
Hier wurde Adonia von seinen Anhängern zum Könige ausgerufen.
Die Anwesenden riefen: „Es lebe der König Adonia!“ Dieses allzu
plumpe Vorgehen gereichte der Partei Salomos nur zum Vorteil.
Die Königin Batseba und der Prophet Nathan eilten zu David,
berichteten ihm das Vorgefallene und bestanden auf einer sofortigen
Bekundung seines königlichen Willens zugunsten Salomos. Da
gestattete der kranke König, Salomo noch zu seinen Lebzeiten
feierlich zu salben. Auf Befehl Davids wurde der junge Salomo
in Begleitung der Priesterschaft und der Truppen auf einem Maul-
tier durch die Stadt bis zur Quelle Gihon geführt, dort salbte
der Priester Zadok sein Haupt mit Weihöl und rief ihn unter
Posaunenklang zum Könige aus. In einem festlichen Zuge, unter
Freudenrufen des Volkes, kehrte Salomo in den Palast zurück, wo
er feierlich den Thron bestieg. Bald darauf starb David, nachdem
er vierzig Jahre lang über Israel geherrscht hatte (die siebenjährige
Herrschaft über Juda in Hebron mitein gerechnet).
Die sturmbewegte, aber ruhmreiche Regierung Davids ist im
Andenken des Volkes für alle Zeiten bewahrt geblieben. Als das
Symbol der nationalen Macht hat David sich der geschichtlichen
Erinnerung Israels eingeprägt. Nach den schwachen Versuchen
eines politisch-schöpferischen Aufbaues unter Saul hat David als
erster die voneinander gesonderten israelitischen Stämme politisch
vereinigt, Nord und Süd, Israel und Juda, wenn auch nur für
kurze Zeit, zusammengebracht. In dem Lande, das durch das
Erbanteilsystem zerstückelt war, schuf er als erster einen politischen
und religiösen Mittelpunkt in Jerusalem. Die Sage schreibt David
auch noch andere Eigenschaften zu: sie schildert ihn als einen tief
religiösen Menschen, in dem Stolz und Demut, die Härte eines
Kriegers und die Weichherzigkeit eines Dieners Gottes neben-
einander wohnten; er erscheint zugleich als Held des Schwertes
und des Geistes, als Gründer des Staates und als Beschützer des
Jahvekultes; später wird er sogar vor allem als ein Held des
Geistes, als die personifizierte Frömmigkeit hingestellt; den Krieger
verwandelt die Sage in einen Gerechten, den Staatsmann in einen
Psalmensänger . . . Das ist freilich nur ein Ergebnis rückschauen-
der Betrachtung. In späterer Zeit, als die Dynastie Davids mit
117
Das Großkönigtum Davids
dem „Überreste Israels“ organisch verwuchs, als sie wie ein Fels
mitten in den Stürmen und Schiffbrüchen der Geschichte un-
erschüttert blieb, wurden auf die Persönlichkeit des Gründers
dieser Dynastie jene lichten und erhabenen Züge übertragen, welche
die durch das läuternde Feuer des prophetischen Wortes hindurch-
gegangenen Generationen in die Gestalt eines idealen Königs hine in -
dachten. Für die Nachwelt wurde David so zum Vorbild des
ersehnten nationalen Königs. Wenn die biblischen Chronisten
ein günstiges Urteil über einen König fällen wollten, so sagten
sie: „Er tat, was Jahve wohlgefiel, ganz wie sein Ahnherr David
getan hatte.“ Wenn das Urteil schlecht ausfiel, schrieben sie da-
gegen: „Er tat, was Jahve mißfiel, nicht wie sein Ahnherr David.“
Und noch lange Zeit nach dem Erlöschen der Dynastie Davids
träumte das Volk von einem Befreier, einem „Messias“ aus dem
Hause Davids . . . Die geschichtliche Kritik muß nach Möglichkeit
den realen David von seinem im Spiegel der Tradition idealisierten
Abbild zu scheiden suchen; sie kann aber nicht umhin, in der
Tatsache der Entstehung der David-Legende selbst einen Beweis
dafür zu erblicken, daß der Schöpfer der nationalen Einheit
Israels in der Tat ein ganz ungewöhnlicher Mann gewesen ist,
der in die Erinnerung des Volkes für viele Jahrhunderte das Bild
seines großen schöpferischen Werkes einprägte und dem die
geeinigte Nation ihr Dasein verdankt.
Drittes Kapitel
Die Regierung Salomos
(Um 970—930)
§ 23. Die bürgerliche und wirtschaftliche Verfassung
Zu Beginn der Regierungszeit Salomos spielte sich der letzte
blutige Akt jenes Dramas ab, das noch zu Lebzeiten Davids in
der königlichen Familie seinen Anfang genommen hatte. Salomo
konnte sich auf dem Throne nicht sicher fühlen, solange sein
Halbbruder Adonia und dessen so einflußreiche Anhänger, wie
der Heerführer Joab und der Priester Ebjatar, noch am Leben
waren. Adonia hatte sich nach außen scheinbar in sein Los ge-
fügt; Salomo befürchtete aber nicht ohne Grund, daß der Präten-
dent bei der ersten besten Gelegenheit, von der ihm gewogenen
Partei unterstützt, den Versuch machen würde, den Thron an sich
zu reißen. Darum machte sich Salomo einen zufälligen, unüber-
legten Schritt Adonias zunutze, um seinen Rivalen zu verderben.
Adonia wollte die junge schöne Abisag aus dem Harem Davids,
die dessen Pflegerin in seinen letzten Lebensjahren gewesen war,
zu seinem Weibe machen. Salomo erblickte darin einen An-
schlag auf das Thronerbe (wie ehemals Esbaal in der Forderung
Abners, daß ihm das Kebsweib Sauls zugesprochen werde). Er
gebot dem Oberbefehlshaber seiner Leibwache, Benaja, Adonia zu
töten, was unverzüglich ausgeführt wurde. Zugleich befahl er
auch, den Heerführer Joab als den Parteigänger Adonias zu er-
morden. Joab flüchtete in das „Zelt Jahves“ und ließ sich am
Altar nieder, aber auch der heilige Ort schützte ihn nicht vor
dem Schwerte des Mörders. Auf Befehl des Königs drang Benaja in
das Tempelzelt ein und verlangte, daß Joab den heiligen Ort
1 *9
Die Regierung Salomos
verlasse; Joab verweigerte dies und wurde von Benaja am Fuße des
Altars niedergemacht. Einen anderen Parteigänger Adonias, Eb-
jatar, entsetzte Salomo seines Priesteramtes und verbannte ihn
aus Jerusalem nach dem Städtchen Anatot. So fielen die ältesten
Mitarbeiter Davids, die gemeinsam mit ihm für die Errichtung
des Staates gewirkt hatten, aber unglückseligerweise in den Streit
um die Thronfolge mit hineingezogen worden waren. Auch der
alte Feind der Dynastie Davids, Simei ben Gera, der getreue Vor-
kämpfer der gefallenen benjamitischen Dynastie, wurde erschlagen.
Die im Orient bei der Besteigung des Thrones übliche barbarische
Beseitigung der Nebenbuhler*) blieb auch diesmal nicht aus und
erst danach, erzählt der Chronist, „hatte die Herrschaft in Salomos
Hand festen Bestand“.
Das von Bürgerkrieg und dynastischem Streit befreite Land
sehnte sich nun nach friedlicher Arbeit. Es setzte eine Periode
des Staatsaufbaues ein, dem sich der junge König mit dem ganzen
Feuer seiner jugendlichen Kraft hingab. Salomo hatte von seinem
Vater ein Reich geerbt, das nach langwierigen Kriegen vor den
Einfällen der Nachbarvölkerschaften gesichert war. Nun sollte
das, was David durch seine Siege errungen hatte, erhalten und
weiter ausgebaut und für das Volk sollte die Möglichkeit
einer friedlichen Arbeit in Ackerbau und Gewerbe geschaffen
werden. Das wurde unter Salomo erreicht. Salomo war kein
kriegerischer, sondern ein friedlicher König, wie das auch schon
durch seinen Namen symbolisiert wird (Schelomo — von dem
Worte Schalom, Friede). War David als Krieger, als Einiger
oder „Sammler“ des Reiches groß geworden, so erwarb sich
Salomo hohen Ruhm als Stifter der bürgerlichen und volkswirt-
schaftlichen Ordnung.
Während der Regierung Salomos war die alte Geschlechter-
ordnung stark ins Wanken geraten. An Stelle der ursprüng-
lichen Einteilung des Landgebietes nach dem ethnischen Stammes-
prinzip wurde jetzt das verwaltungstechnische Prinzip dem Aufbau
*) Die Sage von dem eines Macchiaveil würdigen Testamente Davids
(I. Kön. 2, i—9) erscheint als eine ganz offenbare und dazu noch mißlungene
Erfindung. Zum Zwecke der Rechtfertigung der dynastischen Grausamkeiten
ausgedacht, verleiht sie ihnen einen noch bösartigeren Anstrich, indem sie sie
als das Ergebnis einer vorhergehenden Vereinbarung zwischen dem im Sterben
liegenden König und seinem Nachfolger darstellt.
§ 23. Die bürgerliche und wirtschaftliche Verfassung
des Staates zugrunde gelegt. Salomo teilte das israelitische Reich
in zwölf steuerpflichtige Bezirke ein, deren Grenzen nicht immer
mit den Grenzen der Stammesanteile zusammenfielen. An der
Spitze eines jeden Bezirkes stand ein Vogt („Nezib“), der während
eines Monats im Jahre mit den Naturalleistungen seines Bezirks
den Unterhalt des königlichen Hofes bestreiten mußte. Den Ober-
befehl über alle Vögte führte Asaria ben Nathan, der in Jerusalem
am königlichen Hofe lebte. Außer den Naturalleistungen hatte
das Volk auch Geldsteuern zu entrichten; der Hauptsteuereinnehmer
war Adoniram. Unter den höchsten Würdenträgern am Hofe
Salomos befanden sich auch einige von den nächsten Mitarbeitern
Davids. Benaja, der unter David an der Spitze der königlichen
Hauswache gestanden hatte, wurde unter Salomo zum Oberbefehls-
haber des gesamten Heeres ernannt, an Stelle des ermordeten Joab.
Der seines Amtes entsetzte Ebjatar wurde durch Zadok, den
ehemaligen Priester der „großen ßama“ oder des Altars in Gibeon,
ersetzt1). Mit Ebjatar erlosch das alte Priestergeschlecht Elis,
das mit den Traditionen Silos eng verknüpft war. Zadok wird zum
Begründer einer neuen Jerusalemer Dynastie von Oberpriestern,
der ein langes Bestehen beschieden war — bis zur Entstehung des
Hasmonäerreiches. Ähnlich wie David standen auch Salomo
Staatsschreiber, Berichterstatter und persönliche Ratgeber, „Freunde
des Königs“ (reah ha’melech), zur Seite.
Neben dem Ausbau der bürgerlichen Verwaltung entfaltete
sich Handel und Gewerbe. Der biblische Chronist erzählt,
daß zu Salomos Zeiten die Israeliten ein ruhiges Leben führten,
„ein jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum“.
Dieser bildliche Ausdruck darf nicht in dem Sinne ausgelegt werden,
daß das Volk ausschließlich dem Ackerbau oder der Landwirt-
schaft obgelegen hätte. In der Tat bildete der Ackerbau die
Grundlage der Volkswirtschaft im israelitischen Staate, daneben
gelangte aber auch der Binnen- und Außenhandel zu bedeutender
Entfaltung. Um diese Zeit traten die Israeliten in besonders regen
*■) Das in i. Kön. (4,4) Gesagte: ,,Zadok und Ebjatar waren Priester“
(unter Salomo) widerspricht den Angaben desselben Buches (2, 27), denen zu-
folge Salomo Ebjatar des Priesteramtes entsetzt hatte. Es liegt hier ein
offenbarer Fehler des Redaktors vor, der in die Liste der Würdenträger Salomos
einige aus der Liste Davids miteingeschlossen hat, in der derselbe Satz vorkommt
(II. Sam. 20, 25).
12 I
Die Regierung Salomos
Verkehr mit den auf höchster Kulturstufe stehenden Reichen des
Orients, mit Ägypten und Phönizien. Ägypten hatte damals an-
scheinend aufs Neue Ansprüche auf die Oberhoheit in Pa-
lästina erhoben; unter diesen Ansprüchen mochte vor allem das
der ägyptischen Grenze zunächst liegende philistäische Land ge-
litten haben, das durch die Siege Davids geschwächt war. Die
gleiche Gefahr drohte aber auch dam benachbarten israelitischen
Landgebiet. Die in der Nähe der philistäischen Küste gelegene
kanaanäische Stadt Gezer fiel in die Hände der Ägypter. Aber
Salomo zog es vor, mit den ägyptischen Pharaonen in Frieden zu
leben. Er ging ein Bündnis mit Ägypten ein und nahm sogar
die Tochter des Pharao zum Weibe, wobei ihm die Stadt Gezer
als Mitgift zufiel. Diese persönlichen Beziehungen des Königs
von Israel zu dem Herrscher Ägyptens förderten auch den
Handelsverkehr zwischen den beiden Ländern. Aus Ägypten wurden
nach Kanaan und von dort nach anderen Ländern Rosse und
Streitwagen in so großen Mengen ausgeführt, daß Salomo sich
genötigt sah, besondere „Städte“ oder Lager für diese Waren zu
erbauen. In dieser Zeitperiode kam besonders die internationale
wirtschaftliche Bedeutung des israelitischen Landes zur Geltung,
als einer großen Karawanenstraße zur Beförderung von Waren
zwischen Mesopotamien und Ägypten, zwischen Asien und Afrika;
Kanaan war von einer Menge solcher Transithandelsstraßen
durchkreuzt. Auf Salomos Befehl wurden auf diesen Straßen
an verschiedenen Stellen bequeme Rastpunkte für die Karawanen
sowie auch Warenlager gebaut; hier befanden sich die Zollämter,
wo der Durchfuhrzoll für die beförderten Waren erhoben wurde.
Dies alles bildete für den israelitischen Staat eine neue Einnahme-
quelle.
Hatte der Verkehr mit Ägypten zur Entwicklung des Karawanen-
handels im israelitischen Kanaan beigetragen, so gaben die Be-
ziehungen zu Phönizien den Israeliten den ersten Anstoß zur
Beschäftigung mit der Schiffahrt und dem Seehandel. Nach einem
jahrhundertelangen Kampfe mit seinen südwestlichen, kriegerischen
Nachbarn, den Philistern, trat Israel zu seinen nordwestlichen Nach-
barn, den friedlichen Phöniziern, in innige kulturelle Beziehungen.
Der Verkehr mit Phönizien, der schon unter David seinen Anfang
genommen hatte, wurde unter seinem Nachfolger besonders rege.
122
§ 23. Die bürgerliche und wirtschaftliche Verfassung
König Salomo schloß nämlich ein Bündnis mit Hiram, dem König
der reichen Handelsstadt Tyrus, und dieses Bündnis erwies sich als
für beide Seiten in gleicher Weise förderlich. Die Tyrer brachten
Zedernbauholz vom Libanongebirge in das israelitische Land und
sandten dorthin ihre Zimmerleute und Maurer, zugleich erweiterten
die Israeliten mit Hilfe der Tyrer ihren Seehandel. In der phö-
nizischen Handelsflotte, die eine Fahrt nach Tarsis (Tartessus im
südlichen Spanien) unternommen hatte, befand sich auch ein Schiff
des Königs Salomo, das die Erzeugnisse der afrikanischen Länder
nach Jerusalem heimbrachte. Tyrische und israelitische Kaufleute
rüsteten gemeinsam große Schiffe aus, in denen sie Fahrten nach
dem „Goldland“ Ophir unternahmen (ein unbekanntes Land an der
arabischen Meeresküste, im südlichen Arabien oder in Äthiopien).
Die Schiffe liefen von den Häfen Esion-Geber und Elat aus,
am Meerbusen von Akaba, der sich vom Roten Meere bis zu den
südlichen Grenzen Palästinas hinzieht. Diese Gegend grenzte an
die Besitzungen der Edomiter, die noch unter David in Abhängigkeit
von Israel gerieten, wodurch den Israeliten der Zugang zum Roten
Meere eröffnet wurde. Von hier aus nahm die israelitisch-tyrische
Flotte ihren Weg längs der Ufer des Roten Meeres nach Südosten,
zu den Küstenstädten Arabiens und Indiens, die zu beiden Seiten
des arabischen Meerbusens gelegen waren. Jede von diesen See-
fahrten nahm beinahe drei Jahre in Anspruch. Nach dieser Frist
kehrte die Flotte in den Ausgangshafen zurück, mit Gold und
anderen Edelmetallen sowie mit Elfenbein, wertvollen Holzarten,
Gewürzen, aromatischen Stoffen und anderen Luxusgegenständen
schwer beladen. Alle diese exotischen Waren wurden auf Kamelen
aus den Häfen des Roten Meeres durch die Wüste nach Jerusalem
gebracht. Die Israeliten fanden an diesen bisher unbekannten
Schätzen der tropischen Länder ein großes Wohlgefallen, und die
reichen Klassen der Bevölkerung gewöhnten sich allmählich an
Luxus. „Und der König“ — so erzählt mit offenbarer Über-
treibung der Chronist — „machte das Silber in Jerusalem so
häufig wie die Steine, und die Zedern wie die Maulbeerfeigen-
bäume in der Niederung“. Die komplizierte Stadtkultur begann
somit im israelitischen Bauernlande heimisch zu werden; auf der
Grundlage der Naturalwirtschaft entfaltete sich nunmehr Handel
und Gewerbe.
120
Die Regierung Salomos
§ 24. Die Errichtung des Tempels in Jerusalem
Schon in den ersten Jahren seiner Regierung war Salomo
bemüht, Jerusalem das Aussehen einer Großstadt nach Art der
anderen orientalischen Hauptstädte zu verleihen. Das Bestreben, die
Hauptstadt mit prächtigen Bauten zu schmücken, wurde zur Leiden-
schaft des Königs, die den größten Teil seines Lebens in Anspruch
nahm. Zunächst trat er an jenes Werk heran, dessen Ausführung,
wie die Urkunde berichtet, der letzte Wille seines Vaters gewesen
war, nämlich an die Errichtung des großen Tempels Jahves in
Jerusalem. Der von David errichtete Tempel war ein bescheidenes,
zeltartiges Gebäude, in dem die Lade Jahves und das für den
Gottesdienst bestimmte Gerät untergebracht war; es war dies ein
Überrest des primitiven Nomadenlebens, der sich mitten in der
bodenständigen Lebensführung erhalten hatte. Auf einem Hügel
im östlichen Teil Jerusalems neben dem königlichen Palaste sollte
nun ein dauerhafter und geräumiger Tempel errichtet werden.
Zu diesem Tempelbau wurden große Mengen von Holz, Steinen
und Metall benötigt. Steine waren in Kanaan selbst reichlich vor-
handen. Tausende von phönizischen und israelitischen Arbeitern
brachen sie in den Bergen, behauten sie zu Quadern und beförder-
ten sie dann zur Baustätte. Holz wurde von Phönizien geliefert,
das von jeher die benachbarten Länder mit Zedern aus den Wäl-
dern des Libanon versorgte. In einem Vertrage Salomos mit dem
tyrischen Könige Hiram hatte sich dieser verpflichtet, Zedern- und
Zypressenholz auf dem Meereswege nach Jerusalem zu liefern
(wahrscheinlich bis Jaffa, dem Jerusalem zunächst gelegenen Hafen
des Mittelmeeres). Nach dem Berichte des Chronisten wurden
3o ooo Israeliten vom Könige herangezogen, die das Holz auf dem
Libanon schlagen mußten. Sie waren in drei Schichten zu je
ioooo Mann eingeteilt; diese Schichten lösten einander ab, indem
eine jede einen Monat arbeitete und zwei Monate ruhte. Auch
sandte Hiram geübte Maurer und Zimmerleute aus Tyrus nach
Jerusalem. Für das Baumaterial und die Baumeister zahlte
Salomo ein Entgelt vom Ertrage seines Landes: Hiram bekam
alljährlich, solange die Bauarbeiten dauerten, ein gewisses Quantum
Weizen und Öl. Da Hiram auch das zur inneren Ausstattung des
Tempels notwendige Gold lieferte, so verpfändete ihm Salomo
124
§ 24. Die Errichtung des Tempels in Jerusalem
zwanzig Städte im nördlichen Randgebiet des israelitischen Staates,
das an die phönizischen Besitzungen angrenzte. Dieses veräußerte
Gebiet, Kabul genannt, wurde ein Bestandteil des späteren Ober-
Galiläa.
Als das Baumaterial herbeigeschafft war, schritt man an die
Errichtung des Tempels. Der Tempel wurde aus Quadersteinen
gebaut und die Mauern innen mit Zedernholztafeln ausgelegt, in
die Blumen, Palmen und Cherubim (Figuren mit ausgebreiteten
Flügeln) eingeschnitzt waren; diese Holzschnitzereien an den
Wänden waren überdies noch mit Gold überzogen. Das Tempel-
haus bestand nach der traditionellen Beschreibung aus zwei Haupt-
teilen: einem äußeren und einem inneren. Der innere befand sich
in dem entferntesten Hinterraum des Gebäudes und wurde „Debir“
(später „Allerheiligstes“) genannt. Dort standen zwei große ge-
flügelte, goldüberzogene Cherubim, aus ölbaumholz geschnitzt, und
bargen unter ihren ausgebreiteten Flügeln das älteste Volksheiligtum,
den „Aron“ oder die Lade Jahves. Im „Debir“, dem Wohnraume
Gottes, herrschte stets ein geheimnisvolles Halbdunkel. In dem
Außenteil des Tempels, der sogenannten Vorhalle oder „Hechal“,
befanden sich die Rauchfässer und der Schaubrotetisch. Längs
des „Hechal“ zog sich eine prächtige Galerie mit zwei massiven
ehernen Säulen hin. Daran schloß sich ein geräumiger Hof, in
dem sich ein großer Bronzealtar, ein eherner Wasserbehälter zur
Handwaschung der Priester, seines Riesenumfangs wegen später
„ehernes Meer“ genannt, und andere Opfergeräte befanden. Dieser
Hof war für festliche Volksversammlungen bestimmt.
Nachdem der Bau des Gotteshauses vollendet war, ging man
an die Errichtung des Königshauses. Die phönizischen Meister
bauten für Salomo einen prächtigen Palast, der sich unmittelbar
an das Tempelgebäude anschloß und gleichsam von dem nationalen
Heiligtum überschattet war. Der Königspalast bestand aus mehreren
Gebäuden, die durch innere Gänge verbunden waren. Einer der
prächtigen Räume des Palastes, in Form einer Galerie gebaut und
mit zwei Reihen Zedernsäulen geschmückt, wurde das „Libanon-
waldhaus“ genannt. In der „Gerichtshalle“ (ulam ha’mischpat) oder
„Thronhalle“ (ulam ha’kisse) war der prunkvolle Königsthron auf-
gestellt. . Hier sprach Salomo Recht und empfing die Gesandten
fremder Länder. Zu beiden Seiten des Hauptpalastes wurden zwei
Die Regierung Salomos
Gebäude errichtet: in dem einen lebte der König selbst, in dem
anderen die Königin, die Tochter des Pharao, mit ihrem Gefolge.
In einem dieser Gebäude befand sich wohl auch der königliche
Harem. Das Stadtviertel, das den Tempel und die Paläste um-
faßte, war von einer befestigten Mauer umgeben. Es war dies
die Akropolis der Hauptstadt Israels.
Das majestätische Tempelgebäude soll nach den Urkunden in
sieben Jahren und der Palast in fünfzehn Jahren erbaut worden
sein. Nach der Vollendung des Baues wurde die Feier der
Tempeleinweihung veranstaltet. In dem herbstlichen Festmonat
Tischri — so lautet der Bericht des Chronisten, in dem sich
viele spätere Einschaltungen finden — kamen viele Israeliten aus
allen Teilen des Reiches nach Jerusalem. Aus dem in der Davids-
burg sich befindenden „Zelte44 wurden die Lade und die Tempel-
geräte in den neuen Tempel überführt. Die Priester brachten die
Lade Jahves mit den Gesetzestafeln in den „Debir“ und stellten sie
dort unter den ausgebreiteten Flügeln der goldenen Cherubim auf.
Das Halbdunkel, das in dem heiligen Raume herrschte, ließ alles
in phantastischem Lichte erscheinen. Der „Debir“ erinnerte an
den ursprünglichen Wohnort Jahves, den finsteren und majestä-
tischen Sinai. Das Gesicht dem Heiligtum zugewandt, sagte der
König folgenden Spruch:
,,Jahve (der du gesagt), du wolltest im Dunkeln wohnen *),
nun habe ich ein Haus gebaut zur-Wohnung für dich,
eine Stätte zu deinem Wohnsitz für ewige Zeiten * 2)."
*) In einigen Abschriften der Septuaginta wird diesem Vers folgende Zeile
vorangeschickt: ,,Die Sonne am Himmel hat er geschaffen, Jahve", so daß der
nächste Satz so lauten muß: ,,doch hat er wollen wohnen im Dunkeln".
2) Diese Worte (i. Kön. 8, 12—13) scheinen authentisch zu sein.
Mögen sie auch nicht von dem König gesprochen worden sein, so entsprechen
sie doch den religiösen Vorstellungen jener Epoche, die sich Jahve als die
lokale Nationalgottheit dachte, die in den neuen Tempel, in die Nähe des von
ihr begünstigten nationalen Königs, übersiedelte. Das weiter im Text Salomo
zugeschriebene rührende Gebet (Vers i5—53) ist im prophetischen Stile ge-
halten und wohl die Schöpfung einer späteren Zeitperiode, in der sich der
Begriff eines universalen Gottes herausbildete. Der Satz in dem Gebet (Vers
27): ,,Aber sollte wirklich Gott auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und
der höchste Himmel fassen dich nicht, geschweige denn dieses Haus, das
ich gebaut habe" — steht in krassem Widerspruch zu den oben angeführten
einleitenden Versen und ist eine Wiederholung des Gedankens des späteren
Propheten (Jes. 66, 1): „So spricht Jahve: der Himmel ist mein Thron
I2Ö
§ 25. Die Licht- und Schattenseiten der Regierung Salomos
Dann gingen der König und das Volk auf den Tempelhof
hinaus, wo von den Priestern die Zeremonie der Opferdarbringung
auf dem neuen Altar vollzogen wurde. Wunderbar erschien dieses
Ereignis den Zeitgenossen, aber noch mehr wurde es von der Ein-
bildungskraft der Nachkommenschaft ausgeschmückt, die bereits
die ganze Bedeutung des in Jerusalem errichteten religiösen Mittel-
punktes für die Schicksale des israelitischen Volkes wohl zu er-
kennen vermochte.
§ 25. Die Licht- und Schattenseiten der Regierung Salomos
Mit prächtigen Bauten geschmückt, wurde Jerusalem zu einer
verkehrsreichen Stadt, zum Mittelpunkt des politischen, wirtschaft-
lichen und geistigen Lebens des Landes. Sie lockte sowohl die
Einwohner der Provinz an als auch die Fremden aus weitentfernten
Ländern. Das vorher in den Kreis der palästinischen Völker-
schaften gebannte israelitische Beich hatte nun Anteil gewonnen
an der höchsten Zivilisation der Völker Vorderasiens. Die all-
gemeine Aufmerksamkeit lenkte die Persönlichkeit Salomos auf
sich, der — dem Beispiel der ägyptischen Pharaonen und babylo-
nischen Könige folgend — kolossale Gebäude errichtete und so
seine Regierungsperiode in Steinbauten zu verewigen suchte. Die
israelitisch-phönizische Handelsflotte und die Karawanen aus fernen
Ländern trugen überallhin den Ruhm des großen, reichen, er-
leuchteten und weisen Königs. Als „weiser Salomo“ wird er auch
in der späteren Sage bezeichnet. Man erzählte, daß Salomo alle
damaligen Weisen des Orients und alle ägyptischen Priester an
Weisheit übertroffen habe. Er dichtete Sprüche („Maschalim“) und
Lieder; „er redete über die Bäume und redete über die Tiere
und die Vögel und das Gewürm und die Fische“. „Aus allen
Völkern“ kamen Königsboten, um Salomos Weisheit zu ver-
nehmen. Eines Tages, so berichtet die Urkunde, kam aus dem
fernen Land Saba, das in Südarabien oder (der abessynischen Sage
zufolge) in Äthiopien gelegen war, dessen Königin mit einem
zahlreichen Gefolge nach Jerusalem. Sie hatte viel von der un-
und die Erde der Schemel meiner Füße: was für ein Haus wär’s, das ihr
mir bauen wolltet?“ Diese beiden Sätze enthalten eine direkte Verneinung
des Tempelkultes, wie ihn die vorprophetische Epoche kannte.
127
Die Regierung Salomos
gewöhnlichen Weisheit Salomos gehört und war gekommen, „um
ihn mit Rätseln auf die Probe zu stellen“. Der König empfing
die fremde Königin freundlich und erteilte ihr Antwort auf alle
ihre Fragen und Rätsel. Die Königin von Saba vernahm voll
Bewunderung die weisen Reden Salomos und sagte zu ihm: „Du
übertriffst an Weisheit und Vorzügen noch die Kunde, die ich
vernommen. Glücklich deine Diener hier, die dir beständig auf-
warten und deine Weisheit hören dürfen!“ Sie gab dem Könige
viel Gold, Edelsteine und wohlriechende Gewürze und kehrte, auch
von Salomo reich beschenkt, in ihr Land zurück. Der historische
Kern dieser Sage liegt in der Tatsache, daß die Fahrten der israeli-
tisch-phönizischen Schiffe von den Häfen des Roten Meeres an
die Küsten der südarabischen Länder eine Annäherung zwischen
den Fürsten dieser Länder und dem israelitischen König herbei-
führten.
Ähnliche Sagen sind uns in griechischen Quellen (Menander
von Ephesus und Dios) über den Zeitgenossen und Freund Salomos,
den tyrischen König Hiram, erhalten geblieben. Dort wird auf
Grund alter phönizischer Überlieferungen berichtet, daß Salomo mit
Hiram in der Lösung schwieriger Rätsel gewetteifert habe. Offen-
bar gehören alle diese Erzählungen dem Zyklus der im Orient
verbreiteten Sagen an, deren Helden weise, erleuchtete Fürsten
waren. Zu dieser Art volkstümlicher Legenden gehört auch die
bekannte Sage von dem „Salomonischen Urteil“.
Vor das Gericht des Königs traten zwei Weiber. Die eine er-
zählte: „Ich und dies Weib wohnen in einem Hause, und ich gebar
in ihrer Gegenwart im Hause. Drei Tage nach meiner Niederkunft
aber gebar auch dies Weib. Wir waren allein, sonst war niemand
bei uns. Nun starb das Kind dieses Weibes eines Nachts, weil sie
es im Schlafe erdrückt hatte. Da stand sie mitten in der Nacht auf,
nahm mein Kind von meiner Seite und legte es in ihre Arme, ihr
totes Kind aber legte sie in meine Arme. Als ich nun in der Frühe
auf stand, mein Kind zu säugen, siehe, da war es tot, und als ich
mir’s am Morgen ansah, da war es nicht mein Kind, das ich ge-
boren hatte.“ Das andere Weib aber sagte: „Nein, vielmehr ist mein
Kind das lebende und dein Kind das tote.“ Heftig stritten beide
Frauen vor dem König: eine jede behauptete, daß der lebende Knabe
ihr und der tote der anderen gehöre. Schwer war es, die Wahrheit
zu ermitteln. Da stellte sie Salomo in folgender Weise auf die
Probe. Er ließ ein Schwert bringen und sagte in Gegenwart beider
Frauen zu seinen Knechten: „Schneidet das lebende Kind entzwei
128
§ 25. Die Licht- und Schattenseiten der Regierung Salomos
und gebt der einen die Hälfte und der anderen die HälfteI“ Als
die eine der Frauen diesen Befehl hörte, flehte sie den König an,
er möge das Kind nicht zerschneiden lassen, sondern lieber lebendig
der anderen geben. Die andere aber rief: Weder mir noch dir soll
es gehören, schneidet zul“ Auf diese Weise kam die Wahrheit zu-
tage: die wahre Mutter war diejenige, die sich des Kindes erbarmte
und es nicht töten lassen wollte. Der König gebot, ihr das lebendige
Kind zu geben. Das ganze Volk bewunderte die Weisheit und den
Scharfblick Salomos.
Wie allgemein verbreitet solche Legenden im Altertum waren,
ersieht man aus der Tatsache, daß die Darstellung eines ähnlichen
Gerichtes als Wandmalerei in den Ruinen von Pompei gefunden
wurde, daß folglich dieses Motiv auch den Römern wohlbekannt
war. Ähnliche Legenden von weisen Richtern kommen auch in
indischen und chinesischen Schriften vor. Mit diesen Salomo-
nischen Sagen steht auch die spätere literarische Tradition in
Zusammenhang, die diesem König die biblischen „Bücher der
Weisheit“, die „Sprüche“ und den „Prediger“ zuschreibt.
Die Sitten des zivilisierten Orients drangen in das israelitische
Reich, vor allem in Jerusalem ein. Salomo führte das üppige
Leben eines orientalischen Gebieters. In seinem Harem hatte er
Weiber und Kebsweiber verschiedenster Herkunft: Ägypterinnen,
Moabiterinnen, Ammoniterinnen, Phönizierinnen. Der Chronist läßt
in offenbarer Übertreibung die Zahl der Bewohnerinnen des könig-
lichen Harems bis auf tausend steigen. Der internationalen Sitte
gemäß gestattete der König seinen fremdländischen Weibern, wie
auch den Fremden überhaupt, die öffentliche Ausübung ihres ein-
heimischen religiösen Kultes. Die in Jerusalem ansässigen Phönizier
und andere Fremde errichteten auf den Anhöhen Altäre mit den
Bildsäulen ihrer Gottheiten. Auf einem der Hügel, so berichtet
voll Empörung der Chronist, wurden Opferaltäre des moabitischen
Gottes Kamos, des ammonitischen Moloch und der sidonischen
Göttin Astartex) aufgestellt. Der König selbst wohnte manchmal
den Götzenkultzeremonien bei, was die treuen Anhänger des na-
tionalen Jahvekultes in Verwirrung und Empörung versetzte.
1) Des Altars der phönizischen Astarte neben demjenigen des Kamos und
Moloch (Milkom) ist in der Septuaginta, anscheinend der alten Urkunde ge-
mäß, Erwähnung getan; von der Verbreitung des Astartekultes ist übrigens
auch im massoretischen Texte an einer unmittelbar vorangehenden Stelle (i.
Kön. n,5) die Rede.
9 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
129
Die Regierung Salomos
Am Ende der Regierung Salomos trat die Kehrseite dieses glän-
zenden Königtums immer mehr zutage. Trotz der äußeren Pracht
Jerusalems, trotz der reichen Entfaltung von städtischem Leben,
von Gewerbe und Technik befand sich das Volk noch auf einer
sehr niedrigen Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung. Der äußere
Glanz kam dem Volke teuer zu stehen. Die Großkaufleute und
Unternehmer bereicherten sich durch den zu immer höherer Blüte
gelangenden Handel, während die große Masse der ländlichen
und städtischen Bevölkerung nur die Lasten der neuen Ordnung
zu tragen hatte. Die Massen stöhnten unter der Bürde übermäßiger
Natural- und Geldsteuern, die sie für den Unterhalt des könig-
lichen Hofes, der vielen Beamten und für die Errichtung von
öffentlichen Bauten zu leisten hatten. Das israelitische Volk, das
noch vor kurzem ein ganz patriarchalisches Leben geführt hatte,
konnte sich an diese komplizierte und kostspielige Lebensweise nur
schwer gewöhnen. Schon die Dienstpflicht und die Zwangsabgaben,
die bei der Errichtung des Tempels und der königlichen Paläste viele
Jahre lang von der Bevölkerung getragen werden mußten, hatten
die wirtschaftlichen Kräfte des Landes völlig erschöpft. Die ver-
schwenderische Üppigkeit des königlichen Hofes verlangte aber vom
Volke immer neue Leistungen und Opfer.
Um diese Zeit eben, jedenfalls aber unter dem von ihr un-
mittelbar hervorgerufenen Eindruck, mag von einem unbekannten
Eiferer jener leidenschaftliche Ausfall gegen das Prinzip der könig-
lichen Alleinherrschaft verfaßt worden sein, der fälschlicherweise
dem Propheten Samuel zugeschrieben wurde (oben § 7): „Das ist
das Recht des Königs, der über euch herrschen wird: eure Söhne
wird er nehmen und an seinen Wagen und seine Rosse stellen,
daß sie vor seinem Wagen herlaufen, und um sie als Oberste
über Tausend und als Oberste über Fünfzig aufzustellen, und damit
sie sein Ackerland pflügen und seine Ernte einbringen und ihm
Kriegsbedarf und Wagengeräte fertigen. Eure Töchter aber wird
er nehmen, daß sie (ihm) Salben bereiten und kochen und backen.
Von euren Feldern, Weinbergen und Ölpflanzungen wird er die
besten nehmen und sie seinen Beamten geben . . . Von euren
Schafen wird er den Zehnten erheben. Ihr selbst aber werdet seine
Knechte werden“ (1. Sam., Kap. 8). Aus dieser Schilderung läßt
sich der ferne Nachhall eines Volksprotestes heraushören. Sie ist
i3o
§ 26. Politische Schwierigkeiten
im Geiste des revolutionären Propheten Ahia von Silo (§ 26) ver-
faßt, der um das Ende von Salomos Regierungszeit mit Straf-
reden gegen den König auftrat.
§ 26. Politische Schwierigkeiten
Die negativen Seiten der neuen Ordnung traten krasser hervor
als ihre unstreitigen Vorzüge. Die Mängel traten sowohl in der
inneren wie in der äußeren Politik bald zutage. Einerseits ergriff
ein sieh immer steigernder Unwille die am leichtesten entzündbaren
Schichten der Volksmassen, nämlich jene israelitischen Stämme, in
denen der separatistische Geist noch lebendig war und die sich
mit der unumschränkten Hegemonie des Stammes Juda nicht zu-
frieden geben wollten. Andererseits aber erhoben die von David
unterworfenen Fürsten der Nachbarstaaten ihr Haupt, die während
der friedlichen Regierung Salomos die Überzeugung gewonnen
hatten, daß die Israeliten ihre kriegerischen Tugenden nunmehr
eingebüßt hätten.
Die Unzufriedenheit des Volkes machte sich in einem Aufruhr
Luft, an dessen Spitze Jerobeam ben Nebat trat, ein Ephraimit
aus der Stadt Zereda, ein Mann aus niederem Stande. Eine Zeit-
lang befand er sich im Dienste des Königs als Aufseher über die
öffentlichen Arbeiten in Jerusalem. Die Gewandtheit und Energie,
die Jerobeam in dieser Stellung zeigte, veranlaßten Salomo, ihn mit
einem höheren Posten zu betrauen: er wurde zum Fronvogt über
Ephraim ernannt. Diesmal aber täuschte Jerobeam das Vertrauen
des Königs. Die Unzufriedenheit mit der bestehenden Staats-
ordnung war nirgends so stark wie unter den Ephraimiten, die
von jeher den Vorrang Judas und die Oberhoheit der judäischen
Dynastie nicht verschmerzen konnten. Als Ephraimit teilte Jero-
beam durchaus die Gefühle seiner Landsleute, und bald reifte
in seinem ungestümen Geiste der Gedanke eines Aufstandes gegen
das eiserne Regiment des geeinigten Staates, der so viele Opfer von
dem Volke verlangte. Jerobeam trat in nahe Beziehungen zu einem
ephraimitischen Patrioten, dem Propheten Ahia aus Silo, der an-
scheinend gegen Salomo als den Gönner der Götzenkulte im Volke
Stimmung machte. Ahia unterstützte die kühnen Pläne Jerobeams
und prophezeihte ihm Erfolg. Seine Weissagung soll der Prophet,
i3i
9*
Die Regierung Salomos
der Überlieferung gemäß, in folgende symbolische Form gekleidet
haben. Als er Jerobeam eines Tages im Felde begegnete, ergriff
Ahia seinen Mantel und riß ihn in zwölf Stücke; zehn Stücke gab
er Jerobeam mit den Worten zurück: „Nimm die zehn Stücke,
denn so spricht Jahve, der Gott Israels: Siehe, ich will das König-
tum aus der Hand Salomos reißen und will dir zehn Stämme
geben, nur ein Stamm soll dem Hause Davids bleiben.“ Durch die
Worte des Propheten ermutigt und von Machtgedanken beflügelt,
leitet Jerobeam an der Spitze der Ephraimiten die Vorbereitungen
zum Aufstande gegen Salomo. Als der König Kunde davon erhält,
sendet er seine Leibwache aus, um den Aufwiegler zu töten. Allein
Jerobeam verläßt noch rechtzeitig sein Vaterland und flieht nach
Ägypten.
In Ägypten herrschte zu jener Zeit ein Pharao aus einer neuen
Dynastie (der 22.) mit Namen Schischak oder Sosenk, der die
freundschaftlichen Beziehungen zu Israel nicht mehr aufrechterhielt.
Im Gegenteil suchte Schischak die Machtstellung des israelitischen
Königs zu beeinträchtigen und nahm daher den ephraimitischen
Flüchtling und Aufrührer Jerobeam gern in seinem Lande auf.
Schon früher hatte ein anderer Flüchtling, der sich gegen Salomo
erhoben hatte, Zuflucht in Ägypten gefunden. Es war dies Hadad,
ein Sprößling des edomitischen Königshauses. Hadad war noch als
Jüngling nach Ägypten geflohen, als die Edomiter nach einer
blutigen Schlacht von David und Joab unterworfen und zu Vasallen
Israels gemacht worden waren. Der edomitische Königssohn vergaß
nicht seines unterjochten Vaterlands und ersehnte dessen Befreiung.
Solange in Ägypten eine Salomo freundschaftlich gesinnte Dynastie
herrschte, die auch durch verwandtschaftliche Bande mit Salomo
verbunden war, konnte Hadad für seine patriotischen Bestrebungen
keine Unterstützung von Ägypten erhoffen. Als aber Schischak den
ägyptischen Thron bestieg, schritt Hadad an die Verwirklichung
seiner aufrührerischen Pläne. Von dem neuen Pharao unterstützt,
kehrte er in seine Heimat zurück, rief dort einen Aufstand gegen die
Fremdherrschaft hervor und unternahm an der Spitze der edomiti-
schen Kriegscharen Überfälle auf die israelitischen Grenzgebiete.
Das langjährige friedliche Königtum Salomos schwächte den
kriegerischen Geist der Israeliten, was sich seine feindlich gesinnten
Nachbarn und politischen Nebenbuhler zunutze machten. Während
i32
§ 26. Politische Schwierigkeiten
die Edomiter das israelitische Reich im Süden bedrohten, erhoben
sich die Aramäer im Norden. Ein Heerführer des aramäischen
Königs Hadadezer, den einst David besiegt hatte (§ 19), empörte
sich gegen seinen Gebieter. Dieser Heerführer mit Namen Reson
ben Eljada bemächtigte sich der Stadt Damaskus, vertrieb den
dort eingesetzten israelitischen Statthalter und rief ihre Unab-
hängigkeit aus. Von hier aus überfiel er die benachbarten Gebiete
des israelitischen Reiches. Der verweichlichte und unkriegerische
Salomo sorgte nicht in genügender Weise für die Abwehr dieser
Überfälle, wodurch für seine Nachfolger ernste politische Schwierig-
keiten entstanden.
So kam es, daß am Ende der Regierung Salomos sich von
neuem schwere Gewitterwolken am politischen Horizonte zusammen-
ballten. Salomo erlebte die Krise nicht mehr, die bald über das
israelitische Reich hereinbrach. Er starb nach einer langen, fast
vierzigjährigen Regierung (um g3o). Mit seinem Tode findet die
hundertjährige Periode des Bestehens eines vereinigten israelitischen
Reiches ihren Abschluß, eine Periode des intensiven Wachstums,
die Israel einen hervorragenden Platz unter den anderen großen
Zivilisationen des Orients sicherte.
i33
Die Periode der zwei Reiche
(Um 930—720 vor der christlichen Ära)
§ 27. Allgemeine Übersicht
Die Rivalität der einzelnen Geschlechtergruppen oder „Stämme“
innerhalb der israelitischen Nation bewirkte in deren ältester Ge-
schichte eine Reihe aufeinanderfolgender Verschiebungen der
nationalen Hegemonie. Zur „Richterzeit“, als die Geschlechter-
ordnung vorherrschend war, ergab sich die Hegemonie mit Natur-
notwendigkeit auf Grund der geographischen Verhältnisse: die
Vorrangstellung unter den Stämmen fiel dem an Zahl stärksten
„Geschlecht Josephs“ zu, den mittleren Stämmen Ephraim und
Manasse, die sich im Zentralgebiet Kanaans niedergelassen hatten.
Mit der Refestigung der königlichen Gewalt erhält zunächst Ren-
jamin (Saul, Gibea) den Vorrang, hernach Juda, das dem ge-
einigten Volke seine Dynastie, seine Hauptstadt und den nationalen
Tempel in Jerusalem gibt. Der Mittelpunkt des politischen und
religiösen Lebens verschiebt sich somit nach dem Süden. Der
politische Mittelpunkt fällt also mit dem geographischen nicht mehr
zusammen, was schon unter dem Regründer der südlichen Dynastie,
David, Unzufriedenheit erregt, nach dem Tode Salomos aber zu
einem unabwendbaren Zwiespalt führt, der schließlich mit der
Reichstrennung endet. Der Streit um die Vormachtstellung zwischen
Ephraim und Juda gelangt dadurch zur Entscheidung, daß die
Widersacher nach hundertjährigem Zusammenleben sich ganz von-
einander trennen: die mittleren, nördlichen und transjordanischen
Stämme schaffen sich einen eigenen politischen Mittelpunkt in
dem Herrschaftsbereiche Ephraims. Das einheitliche israelitische
Reich zerfällt in zwei ungleiche Teile: in das große nördliche
Reich, das israelitische oder ephraimitische, und das kleinere süd-
liche, judäische Reich. Dieser politische Dualismus behauptet sich
im Laufe von zwei Jahrhunderten —720) *).
Während der ersten Jahrzehnte nach der Trennung blutet
1) Zur Chronologie vergleiche Anhang, Note 5.
i37
Die Periode der zwei Reiche
noch die dabei geschlagene Wunde; der Bürgerkrieg erschöpft die
Kräfte der entzweiten Nation; das abgesonderte Ephraim muß eine
Reihe dynastischer Krisen und eine langwierige innere Anarchie
überwinden (den Untergang der Dynastie Jerobeams, die Usur-
patorenherrschaft). Späterhin jedoch nimmt die Anarchie im
Norden ein Ende, auch die brudermörderischen Kriege kommen
zum Abschluß, und beide Reiche betreten den Weg friedlicher
kultureller Entfaltung. Diese neue Phase beginnt mit der Thron-
besteigung Omris, des Begründers einer neuen Dynastie in Samaria,
der Hauptstadt, die dem ganzen nördlichen Reiche dem Namen gab
(um 885).
Von diesem Zeitpunkte an erlangt Ephraim von neuem den
Vorrang. Das unter den ersten Omriden zur Ruhe gekommene und
zu neuer Machterweiterung gelangte nördliche israelitische Reich,
von jetzt ab auch das „samaritische“ genannt, nimmt allmählich
eine bedeutendere Stellung in Kanaan ein als das judäische. Da
es das letztere an Umfang übertrifft und auch an die Hauptstaaten
Vorderasiens, an Phönizien, Aram (Syrien) und Assyrien grenzt,
nimmt das nördliche Reich viel regeren Anteil an den Ereignissen
der damaligen Weltgeschichte als das in sich geschlossene,
an die südliche Wüste angrenzende kleine Reich Juda. In der
internationalen Politik Vorderasiens spielte das „Haus Omris“ eine
größere Rolle als das Davidhaus; Samaria verdunkelte eine
Zeitlang den Ruhm Jerusalems. Der Nachfolger Omris, Ahab,
spielte die Rolle eines ephraimitischen Salomo. Der judäische
König Josafat stellte ihm als Vasall sein Heer zum Kampfe gegen
Aram zur Verfügung. Durch Ahabs Weib, das phönizischer Her-
kunft war, drang die phönizische Kultur in Samaria ein. Dieser
in religiöser Hinsicht nachteilige fremde Einfluß war jedoch von
Vorteil für das wirtschaftliche und soziale Leben. Im israelitischen
Reiche ist Beweglichkeit und Mannigfaltigkeit des sozialen Lebens
zu merken, während Juda in konservativer Eintönigkeit verharrt.
Das nördliche Reich ist es, wo die ersten großen Propheten auf-
treten, Elias und Elischa, deren Wirksamkeit gegen die bösen
Folgen der fremdländischen Einflüsse gerichtet war. Die Predigt
der Propheten, die mitten im Lärm des politischen und sozialen
Lebens hörbar wird, verschärft den Kampf der Kulturen, weckt
die Gedanken und fördert das geistige Schaffen.
i38
§ 27. Allgemeine Übersicht
Allein das Reich Israel hatte auch seine organischen Fehler,
die ihm später zum Verhängnis wurden. Seine Beteiligung
an der internationalen Politik kam ihm teuer zu stehen. Die
häufigen Kriege mit den Nachbarn, besonders mit den Aramäern,
untergruben den Wohlstand des Volkes und beraubten die Dynastien
ihrer Widerstandsfähigkeit. Häufig kam es vor, daß das Bedürfnis
nach einem außerordentlichen militärischen Schutz das Land der
Willkür der Heerführer auslieferte, die seine Notlage ihrem Ehrgeiz
dienstbar machten und die königliche Gewalt an sich rissen. Auf
diese Weise kam die Dynastie Omris zur Herrschaft und auf die-
selbe Weise ging sie zugrunde. Der Heerführer Jehu, von der Partei
der Propheten und der religiösen Eiferer unterstützt, vernichtete die
Omriden und begründete seine eigene Dynastie (842). Unter dem
vierten König aus der Dynastie der Jehuiden, Jerobeam II., er-
reichte das Reich Israel den Höhepunkt seiner Blüte. Es war dies
jedoch nur das letzte Aufflackern der Volkskraft in dem Lande,
über das bald ein schweres Gewitter hereinbrechen sollte. Auf die
Bühne der Geschichte tritt das gewaltige Assyrien, die „Rute der
Völker“. Diese Großmacht, die die kleinen Staaten Vorderasiens zu
verschlingen strebte, drang immer weiter gegen die Grenzen Samarias
vor. Nach Jerobeam II. setzte im nördlichen Reiche eine Zeit der
Wirren ein. Die gewalttätige Absetzung der Dynastien in Samaria,
der Klassenkampf und der Hader der politischen und religiösen
Parteien erschöpften die inneren Kräfte des Reiches, und die harten
Schläge, die es von außen her, von Assyrien, erhielt, besiegelten end-
gültig sein Schicksal. Neue begeisterte Propheten, deren Wirksam-
keit in Schriftdenkmälern verewigt ist (Arnos, Hosea u. a.), predigen
dem Volke, daß der äußere Verfall nur eine Folge des inneren sei.
Sie erstreben eine Läuterung des Jahvekultes und eine Befestigung
des sittlichen Elementes in der Religion; sie rufen zu sozialen und
geistigen Reformen auf, zur Neugestaltung des Staates auf nationaler
Grundlage. Allein zu spät. Nach langem Kampfe fällt das Reich
Israel unter den wuchtigen Angriffen Assyriens und verschwindet
seitdem gänzlich von der Bühne der Geschichte (720).
Der Sturm knickte die weitentfalteten Zweige des hebräischen
Baumes, verwehte und verstreute seine Blätter, der Stamm aber
blieb unversehrt. Das Reich Juda, in der Entfaltung des poli-
tischen und kulturellen Lebens dem Reiche Israel nachstehend,
189
Die Periode der zwei Reiche
hatte aber auch seine Vorzüge vor dem letzteren: die Widerstands-
fähigkeit der Dynastie (Davids), die formale religiöse Einheit, die
durch den nationalen Tempel in Jerusalem aufrechterhalten wurde,
und das Fehlen mächtiger kriegerischer Nachbarn, da die philistäische
Föderation ihre politische Bedeutung schon längst eingebüßt hatte.
Diese Besonderheiten bewirkten wohl die Eintönigkeit des Lebens
der Judäer in dieser Epoche, sie sicherten aber zugleich dem Volke
eine mehr oder minder ruhige Existenz und eine ihre eigenen Wege
gehende Kulturentfaltung. Mit den Omriden standen die Könige
aus dem Geschlechte Davids in freundschaftlichen, ja eine Zeitlang
sogar in verwandtschaftlichen Beziehungen. Phönizische Sitten und
Bräuche drangen auch in Juda ein. Aber aus zweiter Hand, aus
Samaria, übermittelt, fanden sie hier keine so weitgehende Ver-
breitung wie in dem nördlichen Reiche. Die Umwälzung, die die
Dynastie Omris in Samaria vernichtete, fand auch in Jerusalem
Widerhall: der Regentschaft der Königin Atalja, der Tochter Ahabs,
die durch eine Ehe Mitglied des judäischen Königshauses geworden
war, wurde gewalttätig ein Ende gesetzt, wodurch auch das Bündnis
beider Reiche auseinanderfiel. Unter den Jehuiden kam es zu Kon-
flikten zwischen den beiden Reichen, die aber das politische Gleich-
gewicht nicht dauernd zu stören vermochten. Die assyrischen Über-
fälle, die das nördliche Reich zugrunde richteten, verursachten in
dem südlichen nur zeitweilige Wirren. Erst gegen Ende dieser
Epoche gerät auch Juda in die Einflußsphäre Assyriens (Ahas).
Indessen war man in Jerusalem besser zum Widerstand gegen die
fremdländischen Einflüsse gerüstet als in Samaria. Hier in Jerusalem
erhebt sich an der Seite des Königs ein Prophet, gewaltiger als ihn
Ephraim je gesehen hat, in dem die Begeisterung eines religiösen
Verkünders sich aufs innigste verbindet mit dem festen Willen
eines politischen Kämpfers (Jesaja).
Um diese Zeit wird der Prophetismus zu einem Hauptfaktor des
nationalen Lebens. Es entsteht der eigenartige Typus eines Volks-
redners, der in der Gestalt des Propheten bald als politischer Tribun
auftritt, bald als Reformator des Glaubens und der Sitte. Es ist
dies ein Ergebnis immer komplizierter werdender sozialer und wirt-
schaftlicher Verhältnisse innerhalb des Staates selbst wie auch der
Tatsache, daß das Reich Juda immer mehr in die internationale
Politik hineingezogen wird. Der geistige Horizont erweitert sich. Es
i4o
§ 27. Allgemeine Übersicht
entwickelt sich ein Schrifttum, in dem sich die ältesten Volksüber-
lieferungen mit den neuen Anschauungen der Propheten aufs innigste
vermählen. Der Prophetismus ist es, der den Mittelpunkt jener
Umwälzung bildet, der es beschieden war, das israelitisch-judäische
Volkstum zu einem Gärstoff der Weltgeschichte zu machen.
Erstes Kapitel
Der Zwiespalt und die Zeit der Wirren
(Um 93o—885)
§ 28. Die Reichstrennung
Die dunklen Gewitterwolken, die gegen Ende der Regierung
Salomos am Horizonte des vereinigten israelitischen Reiches herauf -
gezogen waren, entluden sich jählings nach dem Tode des Königs.
Der gesetzliche Thronerbe war Rehaheam, der Sohn Salomos von
seinem ammonitischen Weibe Naama. Rehabeam hatte keine be-
sonderen Vorzüge aufzuweisen: weder den Heldenmut eines David
noch die Weisheit eines Salomo. Die treu zur Davidischen Dy-
nastie haltenden Stämme Juda und Ren jamin, deren politischen wie
geistigen Mittelpunkt Jerusalem bildete, waren sogleich bereit, Reha-
beam zum Könige auszurufen. Allein die übrigen Stämme, besonders
die Ephraimiten, waren unschlüssig. In ihnen wirkte noch jene
Unzufriedenheit mit den Gepflogenheiten des verflossenen Regimes
nach, die unter Salomo in dem fehlgeschlagenen Aufstandsversuche
des Ephraimiten Jerobeam zutage getreten war. Der alte separa-
tistische Geist machte sich von neuem geltend als Gegenwirkung
gegen die Vorherrschaft der südlichen Stämme, denen die nationale
Hegemonie zugefallen war.
Sobald der nach Ägypten geflüchtete Jerobeam vom Ableben
Salomos Kunde erhielt, kehrte er in sein Vaterland zurück und be-
gann von neuem seine Wühlarbeit gegen die Dynastie Davids. Dabei
wurde er, wie es scheint, von dem Pharao Schischak unterstützt, der
vordem ihm als politischem Flüchtling Asyl in seinem Lande ge-
wählt hatte. Eine Überlieferung, die in dem Originaltext der Königs-
bücher sich nicht erhalten hat, die jedoch in der alten griechischen
Übersetzung zu finden ist1), besagt, daß Schischak (Susakim) die
*) Septuaginta, III. Buch der Könige (I. nach der hebräischen Anordnung)
12, 24 u. f.
l42
§ 28. Die Reichstrennung
Schwester seines Weibes mit Jerobeam verheiratete und ihm bei
seiner Rückkehr in die Heimat seinen Segen mit auf den Weg gab.
Diese Einzelheiten machen auch die spätere Politik des Pharao er-
klärlich, der mit Hilfe Jerobeams anscheinend die Dynastie Davids
schwächen wollte, um hernach Jerobeam selbst zu einem ihm treu
ergebenen Vasallen zu machen. Aus Ägypten kam Jerobeam in die
Hauptstadt des ephraimitischen Anteils, Sichern, die ein Sammel-
punkt aller Gegner der Davidischen Dynastie geworden war. Die
hier versammelten Volksältesten Ephraims und der nördlichen
Stämme, Gegner der Hegemonie Jerusalems, entsannen sich der
alten Gerechtsame, die Könige durch Volkswahl zu bestimmen, wie
es im Falle Sauls und Davids geschehen war. Sie berieten noch über
die zu treffende Wahl, als Rehabeam in Begleitung seiner Ratgeber
in Sichern eintraf. Die Vertreter Ephraims und der nördlichen
Stämme mit gemäßigterer Richtung waren geneigt, Rehabeam die
Königswürde anzubieten, jedoch unter der Bedingung, daß er das
Volk von der schweren Steuerlast, die es unter Salomo zu tragen
hatte, befreie und sich verpflichte, eine Reihe von Verwaltungs-
reformen durchzuführen. „Dein Vater“ — so sprachen die Volks-
ältesten zu Rehabeam — „hat unser Joch hart gemacht, so er-
leichtere du deines Vaters harte Arbeit und das schwere Joch, das
er uns auf erlegt hat, so wollen wir dir dienen.“ Der hochmütige
Rehabeam fühlte sich durch die entschiedene Forderung des Volkes
verletzt, beherrschte sich aber und versprach, nach drei Tagen die
Antwort zu erteilen. Er berief seine Räte, um ihre Meinung zu
erfragen. Die älteren unter ihnen, die noch unter Salomo gewirkt
hatten und reich an Lebenserfahrung waren, erteilten Rehabeam
den Rat, dem Volksbegehren zu entsprechen und in die geforderten
Erleichterungen zu willigen; die jüngeren unter den Hofleuten
aber, die dem hoffärtigen und herrschsüchtigen König gefällig sein
wollten, redeten ihm zu, die Forderung des Volkes schroff abzu-
lehnen. Diesem Rate folgte Rehabeam. Als nach der abgelaufenen
Frist die Volksvertreter vor ihn traten, sprach er zu ihnen, der
bildlichen Ausdrucksweise der Überlieferung zufolge, also: „Mein
Vater hat euer Joch schwer gemacht, aber ich will euer Joch noch
schwerer machen; mein Vater hat euch mit Geißeln gezüchtigt,
aber ich will euch mit Skorpionen (Peitschen mit Haken an den
Spitzen) züchtigen.“ Diese Antwort empörte die Ephraimiten. Es
i43
Der Zwiespalt und die Zeit der Wirren
erscholl der alte revolutionäre Ruf: „Wir haben nicht teil an
David — zu deinen Zelten, Israel!“ Jerobeam stellte sich an die
Spitze der Aufrührer. Nun ließ Rehabeam den alten Fronvogt
Adoniram vor das Volk treten, um es zu beschwichtigen; allein
das Volk geriet beim Anblick des verhaßten Vogtes in Wut und
steinigte ihn. Rehabeam blieb nun nichts anderes übrig, als eiligst
seinen Wagen zu besteigen und nach Jerusalem zu fliehen.
Daraufhin fielen die Ephraimiten, d. s. alle nördlichen und trans-
jordanischen Stämme (der Tradition zufolge zehn an der Zahl),
endgültig von der Dynastie Davids ab und riefen Jerobeam zu ihrem
König aus. Rehabeam blieben nur die zwei südlichen Stämme treu:
die Judäer und die mit ihnen vereinten benjamitischen Geschlechter.
Der Chronist berichtet, daß Rehabeam nach seiner Rückkehr aus
Sichern nach Jerusalem einen großen Heerbann aus Judäern und
Renjamiten auf geboten habe, um gegen die abtrünnigen nördlichen
Stämme ins Feld zu ziehen. Allein der Prophet Schema ja, der
„Gottesmann“, sprach zu dem Könige und zu dem Volke also: „So
spricht Jahve: ihr sollt nicht hinauf ziehen und nicht mit euren
Brüdern, den Israeliten, kämpfen; kehrt um, ein jeder in sein
Haus, denn ich habe es so kommen lassen.“ Die versammelten
Krieger gingen auseinander. Der Kampf der beiden Reichsteile, der
für den Augenblick vermieden werden konnte, entbrannte aber später
um so heftiger.
Auf diese Weise zerfiel das große Reich Davids und Salomos
in zwei selbständige Königreiche: in das südliche und das nördliche
(um g3o). Das südliche Reich wurde das judäische oder Juda
(Jehuda) genannt und von einem König aus dem Hause Davids
regiert; das nördliche aber, weit größer an Ausdehnung, hieß das
ephraimiiische oder israelitische (Israel) und erkannte den Ephrai-
miten Jerobeam als seinen ersten gesetzmäßigen König an. Die
Grenze zwischen den beiden Reichen verlief in jenem Landstrich,
der die heilige Stadt des Südens, Jerusalem, von der heiligen Stadt
des Nordens, Betel, trennte.
n In der späteren Tradition wurde das nördliche Reich auch das
Reich der „zehn Stämme“ geheißen. Es umfaßte nämlich die
folgenden zehn Stämme: Ephraim, Manasse (die westliche Hälfte),
Issachar, Sebulon, Naftali, Dan, Ascher, Rüben, Gad und die trans-
jordanische (östliche) Hälfte Manasses. Das judäische Königreich
i44
§ 29. Jerobeam und seine Reform
aber umfaßte die Stämme Juda und Benjamin, den kleinen Stamm
Simeon, der schon seit langem in Juda, in dessen Landgebiet er
lebte, aufgegangen war, sowie die im Lande verstreuten Leviten.
Die Mehrzahl der Leviten scheint sich um Jerusalem und dessen
Tempel gesammelt zu haben, jedoch ein Teil von ihnen blieb auch
nach der Reichstrennung im nördlichen Reiche zurück.
§ 29. Jerobeam und seine Reform
(Um 930—908)
Der in Sichern zum König ausgerufene Jerobeam machte diese
Stadt zu seiner Residenz. Der ephraimitische Stamm war der zahl-
reichste und mächtigste im israelitischen Reiche und darum sollte
sich auch die Hauptstadt im Bereiche der Ephraimiten befinden.
Einige noch ungeklärte Umstände veranlaßten Jerobeam, Sichern
für eine Zeitlang zu verlassen und nach dem transjordanischen Pnuel
bei Mahanajim überzusiedeln. Vielleicht war diese zeitweilige Ver-
legung der Residenz durch den Krieg mit Rehabeam verursacht,
vielleicht bezweckte sie auch eine stärkere Bindung der transjorda-
nischen Stämme an die neue Dynastie.
Sobald Jerobeam sich auf dem Throne sicher genug fühlte,
führte er die Spaltung des Reiches weiter: dem politischen Zwiespalt
folgte der religiöse. Jerobeam, der die nördlichen Stämme der
Dynastie Davids abtrünnig gemacht hatte, riß sie auch von der
Hauptstadt dieser Dynastie, von Jerusalem, und von ihrem gesamt-
nationalen, von Salomo errichteten Tempel los. Die Verfasser der
Königsbücher, die den königlichen Schismatiker als die Verkörperung
alles Lasters und Frevels hinslellen, schildern das Vorgefallene in
folgender Weise: Jerobeam befürchtete, daß seine Untertanen, wenn
sie sich zur Gottesverehrung ständig nach Jerusalem begäben, dort
auch dem judäischen König huldigen würden; um nun sein Volk von
dem Jerusalemer Heiligtum abzulenken, errichtete er zwei Tempel
mit Götzenbildern in Stiergestalt in den Städten Dan und Betel.
In Wirklichkeit ging der religiöse Zwiespalt aber auf viel natür-
lichere Weise vor sich; er war nicht so sehr ein Abfall, ein Schisma,
als eine Wiederherstellung der alten Ordnung. Die Israeliten der
mittleren und nördlichen Stämme waren nämlich schon längst mit
der Konzentrierung des Festgottesdienstes in der entfernten judäi-
10 D u b n o w , Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
x4.5
Der Zwiespalt und die Zeit der Wirren
sehen Hauptstadt unzufrieden: sie vermochten dem Hang zu den
alten Geschlechts- und Lokalkulten, an die sie sich in der patriarcha-
lischen Richterzeit gewöhnt hatten, sowie zu den alten religiösen
Mittelpunkten in Betel, Dan und anderen Orten nicht zu wider-
stehen. Der gemeine Mann, dem der „Baalismus“ noch nicht
fremd geworden war, wollte sein religiöses Heiligtum auf der
nächsten Anhöhe oder im nächsten Hain haben; überdies verehrte
er gern einen Gott, der als greifbares Bild dargestellt werden
konnte. Weder die Zentralisation des Kultes noch sein abstrakter
Charakter sagten ihm zu. Von dieser Stimmung des Volkes ließ
sich Jerobeam in seiner das Volk verführenden Reform leiten. Er
erklärte, daß das Volk sich nicht mehr nach Jerusalem zur Gottes-
verehrung zu begeben brauche. Statt Jerusalem machte er zwei
Städte des israelitischen Reiches zu heiligen Städten: Betel an der
südlichen Grenze und Dan an der nördlichen, wobei er zugleich
überall die Ausübung des Privatgottesdienstes freigab. Die ephrai-
mitische Stadt Betel („Haus Gottes“) pflegte von jeher ihren lokalen
Kultus, weil sich dort, anscheinend am Altar, der heilige Stein
(„Masseba“) befand, der in der Volksüberlieferung mit dem Namen
des Patriarchen Jakob in Zusammenhang gebracht wurde; in Dan
aber befand sich noch zur Richterzeit ein Tempel mit dem Orakel
Jahves (§ io). Jerobeam errichtete in Betel einen neuen großen
Tempel und einen kleineren in Dan und stellte dort Jahvebilder in
Form von goldenen Kälbern auf. Bei seiner Wahl der Stier- oder
Kalbgestalt zur bildlichen Darstellung Jahves war Jerobeam an-
scheinend von dem Apiskultus beeinflußt, den er aus seiner ägyp-
tischen Zeit her kannte. Die Bevölkerung des israelitischen Reiches
sah in allen diesen Reformen weniger eine Neuerung oder eine
Anlehnung an fremdländische Muster als ganz im Gegenteil die
Rückkehr zum alten eingebürgerten Kultus der vorköniglichen
Epoche, der bildliche Darstellungen Jahves gestattete und sich fried-
lich neben dem kanaanitischen Baalkultus entfaltete (§ n). Die
Mehrzahl des Volkes strömte freudig in die neuen Tempel. Da die
Leviten, die den Priesterstand bildeten, in diesen Tempeln den
Gottesdienst nicht verrichten wollten, so setzte Jerobeam dort Laien
als Kultdiener ein oder solche Priester, die im Dienste der Privat-
altäre „auf den Anhöhen“ (Bamoth) standen. Manchmal, an großen
Festen, versah er selbst das Priesteramt am Hauptaltar in Betel.
i46
liehen heidnischen Formen der Gottesverehrung im nördlichen Reiche
als nationale Kultformen von Rechts wegen anerkannt. Dies ver-
anlaßte anscheinend viele Leviten und gottesfürchtige Laien, aus
dem israelitischen Reiche nach Juda auszuwandern, wodurch
die Zahl der Untertanen Rehabeams vermehrt wurde. Nunmehr
wandten sich von Jerobeam auch diejenigen ab, die ihn einst unter-
stützt hatten, wie z. B. der ephraimitische Prophet Ahia von Silo
(§ 26). Die Besten der Nation in beiden Reichen stimmten überein
in der Verdammung des königlichen Demagogen, des Urhebers des
religiösen Zwiespaltes, der Israel von Juda endgültig trennen sollte.
Rehabeam, der in Jerusalem siebzehn Jahre lang (von 980 bis
914) regierte, wollte es bei dem Abfall der nördlichen Stämme von
der Dynastie Davids nicht bewenden lassen. Er ließ sich in einen
erhielt Jerobeam von seinem Gönner, dem Pharao Schischak, in-
einem Einfall in das Reich Juda wählte. Im fünften Jahre der
Regierung Rehabeams (um 925) erschien das ägyptische Heer
Eroberung Judas beabsichtigt haben: er wollte anscheinend nur,
stützte, dem judäischen König einen großen Tribut abnehmen. Dies
gelang ihm auch: er führte viele Kostbarkeiten des Jerusalemer
Rehabeam als Lösegeld gab, um den Rückzug des ägyptischen
und auch dort reiche Beute zu machen. Nach seiner Rückkehr nach
ewigen. Auf einer Mauer des Karnaktempels in der Pharaonen-
Der Zwiespalt und die Zeit der Wirren
zeichnis werden nicht nur judäische, sondern auch israelitische
Städte in der Gegend von Megiddo aufgezählt. Daraus wollte man
den Schluß ziehen, daß der ägyptische Feldzug auch gegen Jero-
beam gerichtet war, was aber weder mit der allgemeinen politischen
Konstellation noch mit den Tatsachen übereinstimmt, die diesen
Feldzug als für das abgefallene nördliche Reich vorteilhaft er-
scheinen lassen. Viel eher ist daher anzunehmen, daß der Pharao
dem Könige von Juda die von diesem im Kriege mit Jerobeam
besetzten israelitischen Städte wegnahm, um sie dem letzteren als
seinem Verbündeten zurückzugeben.
Nach dem ägyptischen Einfall begannen Juda und Ephraim von
neuem einander zu bekriegen. Während der letzten Regierungsjahre
Rehabeams und des dreijährigen Regiments seines Sohnes Abia
dauerten die Zusammenstöße zwischen Ephraimiten und Judäern
fast unausgesetzt an. Es waren dies meistens unbedeutende Plän-
keleien an den Grenzen. Nur einmal kam es zu einer großen
Schlacht, in der nach dem Bericht eines der judäischen Chronisten
das Heer Judas unter der Anführung des Königs Abia am ephrai-
mitischen Berge Zemeraim einen großen Sieg über die Truppen
Jerobeams erkämpfte. Infolge dieses Sieges nahmen die Judäer
dem Feinde mehrere ephraimitische Städte ab, darunter auch das
heilige Betel, das aber bald wieder in den Besitz des israelitischen
Reiches zurückgelangte. Es ist Grund anzunehmen, daß Abia
diesen Sieg mit Hilfe des aramäischen Königs, mit welchem er
verbündet war, erkämpft hat1).
Als frommer Eiferer stellt der alte biblische Geschichtsschreiber
sowohl Rehabeam wie auch Abia als nicht genug gottesfürchtig
hin, da sie die volkstümlichen Lokalkulte neben dem nationalen
Jerusalemer Kultus duldeten. Der Privatgottesdienst auf den
„Bamoth“, den Anhöhen, hatte oft einen halbheidnischen Charakter:
er wurde auf Altären vollzogen, die vor einer steinernen „Masseba“
oder einer Aschera aus Holz errichtet waren. Hier und da wurde
der Aschera-Astartekultus von wollüstigen Orgien der Priester
(„Kadeschim“) begleitet. Die Versuchung ging auch von den könig-
lichen Harems aus, wo die fremdländischen Weiber sich ungestört
dem Götzendienste hingeben durften. Nur der Nachfolger Abias,
*) Vgl. i. Kon. i5, 18—19 und die spätere Quelle: II. Chron., Kap. i3.
i48
0
§ 31. Dynastische Wirren im nördlichen Reiche
Asa, dessen Regierung von sehr langer Dauer war (912—874),
bekundete einen großen Glaubenseifer: er schaffte die fremd-
ländischen Kulte ab und stellte den nationalen Jahvekultus sowohl
in der Hauptstadt als auch in der Provinz, auf den „Bamoth“,
wieder her. Es wird sogar berichtet, Asa habe seiner Mutter Maaka
die königliche Würde entzogen, weil sie „der Aschera ein Schandbild
errichtet hatte41; dieses Astartebild soll auf Befehl des Königs im
Kidrontal bei Jerusalem verbrannt worden sein. Daraus ist zu er-
sehen, daß auch im südlichen Reiche die Zentralisation des natio-^
nalen Kultus in dem Tempel Jerusalems noch nicht erreicht war,
daß es auch dort noch einen langen Kampf zwischen dem offiziellen
und dem volkstümlichen Kultus, zwischen dem religiösen Dogma
und der üblichen Lebensführung, zwischen Gesetz und Brauch aus-
zufechten galt.
§ 31. Dynastische Wirren im nördlichen Reiche
Der ephraimitische König Jerobeam überlebte die beiden ersten
Könige von Juda. Er starb nach einer zweiundzwanzig jährigen
Regierung (um 908). Sein Sohn Nadab herrschte nur zwei Jahre.
Unter ihm setzten dynastische Wirren ein, die einen Zeitraum von
ungefähr fünfundzwanzig Jahren ausfüllten. Im Gegensatz zu
Juda, wo sich das Königshaus Davids endgültig befestigte, besaß
das junge Reich Israel noch keine fest eingewurzelte Dynastie.
Jerobeam erlangte das Königtum durch eigenes Verdienst; seinem
Nachfolger aber, der derartige Verdienste nicht aufzuweisen hatte,
wurde die Obergewalt von einflußreichen Männern, besonders von
Heerführern, streitig gemacht. Es war dies eine sturmbewegte Zeit.
Das neue Reich mußte mit seinen feindlich gesinnten Nachbarn um
seine Existenz kämpfen, besonders mit den mächtigen und kriege-
rischen Aramäern von Damaskus, die öfters in die nordöstlichen
Provinzen eindrangen. In solchen unruhigen Zeiten brachte es die
Machtlosigkeit der Dynastie mit sich, daß das rechtmäßige König-
tum immer wieder von einer Militärdiktatur abgelöst wurde, da
bald der eine, bald der andere der volkstümlichen Heerführer den
Thron an sich riß. Als Nadab mit dem israelitischen Heer die
philistäische Stadt Gibbeton belagerte, verschwor sich sein Heer-
führer Baasa aus dem Stamme Issachar gegen ihn, ermordete ihn
i4g
Der Zwiespalt und die Zeit der Wirren
und vernichtete sodann auch das ganze Geschlecht Jerobeams. Baasa
rief sich zum Könige über die nördlichen Stämme aus und verlegte
seine Residenz nach der Stadt Tirsa im nördlichen Teil des ephrai-
mitischen Landgebietes (er regierte um 906—886).
Baasa erneuerte den Kampf mit Juda, welches damals Asa zum
König hatte. Nachdem er mit den Aramäern Frieden geschlossen
und sich auf diese Weise vor Einfällen vom Norden her gesichert
hatte, zog er seine gesamten Streitkräfte an der südlichen Grenze
gegen Juda zusammen. Er befestigte die Grenzstadt Rama bei
Jerusalem und sperrte so den Judäern den Handelsweg nach dem
Norden, der durch diese Stadt führte. Als der König Asa sich so
blockiert sah — erzählt der Chronist — nahm er viel Silber und
Gold aus den Schätzen des Tempels und des Palastes in Jerusalem,
sandte es nach Damaskus zu dem aramäischen König Ben-Hadad
und ließ ihm sagen: „Ein Bündnis sei zwischen mir und dir,
zwischen meinem Vater und deinem Vater! Auf! brich dein Bündnis
mit Baasa, dem Könige von Israel, daß er von mir abziehe!" So
entwürdigten sich die Könige der zerrissenen Nation, indem ein
jeder, nur um den anderen zu schwächen, den Feind des Vaterlandes
für sich zu gewinnen suchte. Der Prophet Hanani warf dies dem
judäischen Könige vor, allein der erzürnte Asa ließ den Eiferer ins
Gefängnis werfen. Indessen hatte der König sein Ziel erreicht:
durch die reichen Gaben angelockt, ging der aramäische König zu
den Judäern über. Ben-Hadad drang mit seinen Truppen in die
israelitischen Grenzgebiete Dan und Naftali ein und verwüstete
dort mehrere Städte. Da sah sich Baasa gezwungen, von Rama
fortzuziehen, um seine nördlichen Provinzen zu verteidigen. Nun
gewann Asa neuen Mut. Er ließ das Bollwerk, das Baasa um Rama
herum an der Grenze der beiden Reiche errichtet hatte, schleifen.
Aus den Steinen und dem Holz der abgetragenen Festungsbauten
erbaute Asa Festungen in den zwei Grenzstädten seines König-
reiches, in Mizpa und Gibea. Nach dem Zeugnis eines späteren
Chronisten gelang es dem judäischen König auch, den Einfall der
Libyer und Äthiopier (Kuschiten), die durch die Wüste unter der
Anführung Serahs in Juda eingedrungen waren, erfolgreich abzu-
wehren. Man vermutet, daß Serah mit dem ägyptischen Pharao
Osarkon aus der libyschen Dynastie, einem der Nachfolger Schi-
schaks, identisch ist.
§ 31. Dynastische Wirren im nördlichen Reiche
Während das kleine Juda so an Macht immer mehr gewann,
wurde das ausgedehnte nördliche Reich durch dynastische Wirren
von neuem erschüttert. Der Sohn und Nachfolger Baasas, Ela,
war zum Regieren völlig ungeeignet. Er kümmerte sich sehr wenig
um die Bedürfnisse des Staates und ergab sich im Kreise seiner
Hofleute in Tirsa dem Müßiggang und der Völlerei. Im zweiten
Jahre seiner Regierung fiel er einer Verschwörung zum Opfer. Der
Befehlshaber der Streitwagen Sirnri ermordete Ela bei einem fröh-
lichen Gelage und rief sich selbst zum Könige aus. Das israelitische
Heer belagerte zu jener Zeit unter Anführung des Heerführers Omri
abermals die Stadt Gibbeton im Philisterlande. Als das Heer von
der Palastrevolution Kunde erhielt, rief es seinen Führer Omri zum
Könige aus und zog sich von Gibbeton zurück, um Tirsa, wo sich
der Usurpator Sirnri verschanzt hatte, zu erstürmen. Den Kriegern
Omris gelang es bald, von der Hauptstadt Besitz zu ergreifen. Sein
Verderben voraussehend, steckte Sirnri den Königspalast in Brand
und ging selbst in den Flammen unter (um 885).
Damit hatten aber die Wirren noch lange kein Ende gefunden.
Die Mehrzahl des Volkes stimmte der vom Heere getroffenen Wahl
nicht zu und wollte die Militärdiktatur Omris nicht anerkennen.
Diese bürgerliche Partei hatte ihren eigenen Prätendenten, einen
gewissen Tibni ben Ginat. Fast zwei Jahre dauerte der Kampf der
Parteien, bis schließlich die Militärpartei die Oberhand behielt.
Nachdem Omri seine Herrschaft gesichert hatte, setzte er der lang-
wierigen Anarchie ein Ende und wurde zum Begründer einer
Dynastie, die eine neue Ära in der Geschichte des Reiches Israel
anbahnen sollte.
i5i
Zweites Kapitel
Die Omriden in Samarien und das Bündnis
der beiden Reiche
(Um 885—842)
§ 32. Omri und die Gründung Samarias
Nach fünfzigjährigem Kampfe mit Juda und einer langen
inneren Anarchie gelangte das Reich Israel unter Omri zu
einer gewissen Macht (um 885—875). Omri erwies sich nicht nur
als ein tapferer Heerführer, sondern auch als ein kluger Staatsmann.
Begründer einer neuen Dynastie, gründete er auch eine neue Haupt-
stadt an Stelle der früheren provisorischen Residenzen Sichern und
Tirsa. In der Nähe dieser beiden Städte, im Norden des ephrai-
mitischen Landgebietes, befand sich ein prächtiger Hügel, der
inmitten von Gebirgsketten und Tälern gelegen war und einem
reichen Manne namens Schomer gehörte. Dem König Omri gefiel
diese Gegend wohl, die von der Natur selbst befestigt war; er
kaufte dort ein Grundstück und ließ darauf den königlichen Palast
und andere Gebäude errichten. Bald wurden in der nächsten Um-
gebung auch Privathäuser gebaut. So entstand die Stadt Schomron
oder Samaria, die allmählich immer mehr an Ausdehnung gewann.
Samaria wurde zur Hauptstadt des Reiches Israel und blieb
es im Laufe von anderthalb Jahrhunderten, bis zum Untergange
des Reiches selbst. Der Name der Hauptstadt verschmolz so sehr
mit dem Namen des Reiches, daß das letztere häufig das „samari-
tische“ oder kurzweg „Samarien“ genannt wurde.
Der erste König von Samarien bemühte sich vor allem, Frieden
und Ordnung in dem durch Wirren zerrütteten Staate zu stiften.
Auch mit dem judäischen Reiche kämpfte er nicht mehr, wie es
l52
§ 32. Omri und die Gründung Samarias
seine Vorgänger getan hatten. Anscheinend schlossen schon um
diese Zeit beide feindlichen Reiche ein Bündnis miteinander, um
sich mit vereinten Kräften der Überfälle der äußeren Feinde zu
erwehren. Dieses Bündnis der beiden Teile der Nation befestigte
sich unter den nächsten Nachfolgern Omris immer mehr. Wie aus
den weiteren Ereignissen zu ersehen ist, spielte das südliche, isolierte
Reich in den internationalen Beziehungen dem nördlichen gegenüber
gleichsam die Rolle eines Vasallen und folgte ihm unweigerlich in
die Sphäre der Weltpolitik, in die sich das Nordreich immer mehr
verstrickte.
Der König Omri unterhielt ständige Beziehungen zum judäischen
Reich und zum benachbarten Phönizien, das noch unter Salomo
am israelitischen Horizont auf ge taucht war. Die engen politischen
Beziehungen zu Phönizien wurden durch verwandtschaftliche Bande
der Fürstenhäuser noch enger geknüpft: der Sohn Omris, Ahab,
ehelichte Isebel, die Tochter des tyrischen Königs und Priesters
Ethaal. (Etbaal wird in der Bibel als „sidonischer“ König erwähnt,
den Namen Sidon aber gebrauchte man als Bezeichnung Phöniziens
überhaupt.) Die Phönizier begannen nun, sich ungehindert im
israelitischen Lande anzusiedeln, und trugen viel zur Entwicklung
des Gewerbes bei; sie brachten aber auch den Baalkultus und die
freien Sitten eines Seevolkes mit sich, die den patriarchalischen
Sitten der Israeliten durchaus fremd waren.
Als Omri der freundschaftlichen Gesinnung seiner nächsten
Nachbarn, Phöniziens und Judas, sicher war, wandte er sich gegen
seine östlichen Nachbarn in Transjordanien und jenseits des Toten
Meeres. Er unternahm einen Feldzug gegen die Moabiter, die ehe-
mals von David unterworfen worden waren, in der Zeit der Wirren
und des Zwiespalts aber von neuem ihr Haupt erhoben hatten.
Dieser Feldzug wurde anscheinend zur Verteidigung der trans-
jordanischen Stämme unternommen. Sein Ergebnis war eine
Wiederherstellung des Hörigkeitsverhältnisses Moabs zu Israel. Eine
alte Inschrift auf dem Denkmal des moabitischen Königs Mescha,
die dem IX. Jahrhundert vor der christlichen Ära entstammt, hat
folgenden Wortlaut: „Omri war König in Israel geworden und
hatte alsdann Moab viele Tage lang gedemütigt: denn es zürnte
ständig Kamos (der Gott Moabs) über sein Land. Dann folgte
ihm sein Sohn, und auch dieser sagte: Ich will Moab demütigen. ...
i53
Die Omriden in Samarien
Und Omri hatte das ganze Land von Medeba in Besitz genommen
und darin gewohnt (Israel) während seiner Tage und der Hälfte
der Tage (der Regierung) seiner Söhne, vierzig Jahre lang.“ Die
Moabiter entrichteten dem israelitischen König einen alljährlichen
Tribut (s. unten, § 37).
Das israelitische Reich, dessen Kräfte wohl zu einem erfolg-
reichen Kampfe mit dem kleinen Moab ausreichten, war dagegen der
immer zunehmenden Macht seines südöstlichen Nachbarn, Arams
oder Syriens, durchaus nicht gewachsen. Aram setzte sich damals
aus drei Königreichen zusammen, die sich zwischen dem Euphrat
und dem Jordan ausbreiteten: aus Patin oder Paddan-Aram, Hamat
und Damaskus, welch letzteres die anderen an Macht bedeutend
übertraf. Die während der Regierung Davids und Salomos seltenen
Einfälle der Aramäer wurden nach der Reichstrennung immer
häufiger und beharrlicher. Aram-Damaskus, das durch die phöni-
zischen und israelitischen Besitzungen von der Meeresküste ge-
schieden war, war bestrebt, dieses Hindernis zu überwinden, um
seinen Handelskarawanen einen freien Zugang zum Meere zu ver-
schaffen. Omri vermochte diesem Anprall der kriegerischen Ara-
mäer nicht standzuhalten. Nach einem ihrer Einfälle in sein Land
unter der Anführung des Königs Ben-Hadad war er gezwungen,
ihnen einige israelitische Grenzstädte zu überlassen; in der Haupt-
stadt Samaria selbst wurde den Aramäern ein ganzes Stadtviertel als
Wohnort sowie ein Basar eingeräumt.
Auf diese Weise verstrickte sich das israelitische Reich in die
damalige internationale Politik. Omri war der erste König von
Israel, dessen Name auf nichtisraelitischen Denkmälern erwähnt
wird. Die assyrische Diplomatie jener Zeit kennt das israelitische
Reich als das „Land Omris“ oder als das „Haus Omris“ (mat
Humri, bit Humri), dessen in den assyrischen Keilinschriften neben
Aram und Phönizien Erwähnung getan wird.
§ 33. Ahab und Isebel; die phönizische Kultur
Der Nachfolger Omris war sein Sohn Ahab (um 875—853),
der die Phönizierin Isebel zum Weibe hatte. Durch äußeren Prunk
und regen internationalen Verkehr erinnert das Königtum Ahabs
an die „Tage Salomos“. Jeglichen Eroberungsabsichten fernstehend,
i54
§ 33. Ahab und, Isebel
widmete sich Ahab ausschließlich der friedlichen kulturellen Ent-
wicklung seines Staates und war bestrebt, dem Hofleben einen be-
sonderen Glanz zu verleihen. Die Bündnisse mit Juda und Phönizien
schienen Israel den äußeren Frieden zu sichern. Beim Aufbau
der bürgerlichen Ordnung nahm sich Ahab Phönizien, die Heimat
der Königin Isebel, zum Vorbild. Die neue israelitische Königin,
ein Weib von unbeugsamem Willen und despotischem Charakter,
nahm regen Anteil an der Staatsverwaltung. Die Königshäuser
Israels und Phöniziens traten durch diese Ehe in verwandtschaft-
liche Beziehungen zueinander, und nun bemühte sich das königliche
Ehepaar, auch eine Verschmelzung der Kulturen beider Völker
möglichst bald herbeizuführen. Phönizische Kaufleute und Priester
überfluteten Samaria. Schnell fanden hier die Sitten und Bräuche
des reichen Küstenlandes Verbreitung: der Hang zur Üppigkeit und
zum genußsüchtigen, zügellosen Leben, heidnische Kultformen und
auch die damit zusammenhängenden religiösen Begriffe. Das könig-
liche Haus gab das Beispiel einer Lebensführung, welche die Leute
von alter patriarchalischer Gesinnung nur allzusehr verstimmen
mußte. Die Königin Isebel umgab sich mit einer Schar phönizischer
Priester. Auf ihren Wunsch erbaute Ahab in Samaria einen Tempel
mit einem Altar zu Ehren des tyrischen Baal-Melkart; am Altar
befand sich auch der heilige Baum „Aschera“, das Symbol der
Göttin Astarte. In diesem Tempel vollzogen die phönizischen Priester
ihren Gottesdienst nach ihrem religiösen Brauch; ihre Gebete waren
von sonderbaren Gebärden, von Lärm und Tanz begleitet; manche
von ihnen brachten sich im Zustande religiöser Raserei, wie es
heute noch die mohammedanischen Derwische zu tun pflegen,
blutige Verletzungen bei. Diese Kultformen fanden Anhänger auch
in den dem Hofe nahestehenden Kreisen des israelitischen Volkes.
Mochte die phönizische materielle Kultur im allgemeinen einen
wohltuenden Einfluß auf die Entwicklung Israels ausüben, so
brachte der religiöse Kultus des fremden Landes zweifellos nur
schlimme Folgen mit sich. Die alten Verfasser der „Königsbücher“
schildern in düsteren Farben die Gefahr, die damals dem national-
religiösen Geiste Israels durch seine Schwärmerei für die fremd-
ländische Kultur erwuchs: die Mehrzahl des Volkes soll sich dem
„Götzendienst“ ergeben haben, und nur eine unbedeutende Minder-
heit, siebentausend Männer, „beugten nicht ihre Knie vor dem
i55
Die Omriden in Samarien
Baal“. Dieser Bericht der Glaubenseiferer darf durchaus nicht in
dem Sinne verstanden werden, als ob die Volksmassen dem Jahve-
kultus zugunsten Baals entsagt hätten. Hier wiederholte sich nur
die in der Geschichte des Altertums so häufige Erscheinung: die
Aneinanderreihung oder der Synkretismus der Kulte in der Art,
wie es schon zur Richterzeit unter dem Einfluß des kanaanitischen
Baalismus der Fall gewesen war. Die Urkunde selbst bezeichnet diese
Erscheinung mit dem bildlichen Ausdruck: „über beide Schwellen
springen“, d. h. gleichzeitig die Schwelle des Tempels Jahves und
des Tempels Baals überschreiten. In der Vorstellung der Kreise,
zu denen auch Ahab gehörte, war der Baalkultus kein Hindernis
dafür, daß Jahve der oberste nationale Gott Israels bleibe, dem alle
ihm gebührenden Ehren auch fernerhin zu erweisen seien. So gab
auch Ahab selbst, trotz dem Gefallen, das er an dem „Heidentum“
fand, seinen Kindern Namen zu Ehren Jahves. Seine beiden Söhne
und seine Tochter hießen: Ahctsja, Joram, Atalja. (Die Endung
„ja“ und die Vorsilbe „Jo“ in den Eigennamen sind Abkürzungen
des Wortes „Jahu“ oder Jahve *)) Der absolute Monotheismus war
in dem israelitischen Volke noch so wenig entwickelt, seine Vor-
stellungen von dem Einen Weltgott waren noch so unbestimmt,
daß viele Verehrer Jahves in dieser Vermischung der Kulte keine
Vermischung entgegengesetzter Weltanschauungen zu erkennen ver-
mochten. Die Religion erschien dem Geiste des Gläubigen jener
Zeit gewöhnlich als Ritus, nicht aber als Lehre, und er merkte es
nicht, daß er zugleich mit den Formen auch verschiedenartige Be-
griffe vermengte.
Nur wenige aus dem Volke gaben sich von dem Widersinn
dieses religiösen Dualismus Rechenschaft. Dieser Minderheit ge-
hörten gottesfürchtige Männer an, bisweilen feurige Fanatiker, die
die alte nationale Tradition in Ehren hielten und mit donnernden
Predigten gegen diesen Doppelglauben und gegen die fremdländische
Kultur überhaupt vor das Volk traten. Im Volke hießen solche
*■) Auf den Tonscherben, die im Jahre 1911 an dem Orte, wo sich der Palast
Ahabs in Samaria befand, aufgefunden worden sind und die Aufzeichnungen über
die dem König dargebrachten Gaben enthalten, sind sowohl der Gottesname Jahve
(Jau) als auch Baal als Bestandteile von Namen anzutreffen; aus den Namen sind
auch Andeutungen auf den von Jerobeam eingeführten Kultus des Stieres als
einer Darstellung Jahves herauszulesen.
i56
§ 33. Ahab und Isebel
Prediger und Lehrer „Propheten Jahves", zum Unterschiede von
den heidnischen Priestern und Magiern, die die „Propheten Baals"
genannt wurden. Die Propheten Jahves, die die Anbeter der phöni-
zischen Kultur in offener Rede geißelten, wurden von der Königin
Isebel, mit Zustimmung Ahabs, in grausamer Weise verfolgt. Die
Urkunde berichtet, daß sie sogar den Befehl erteilte, alle Eiferer
des altisraelitischen Glaubens zu vernichten. Viele Verteidiger der
nationalen Kultur gingen zugrunde, andere ^flohen und verbargen
sich in Höhlen und Bergschluchten, wohin ihre Anhänger ihnen
insgeheim Nahrung brachten. So verbarg der Oberbefehlshaber
Obadja (der Name bedeutet „Diener Jahves") hundert „Propheten
Jahves" in einer Höhle und versorgte sie dort mit Brot und Wasser.
Die Reaktion gegen den fremdländischen Einfluß äußerte sich
in zweierlei Formen: in einem Protest gegen den fremdländischen
Kultus und in einem Protest gegen die fremde Kultur. Manche
von den „Eiferern Jahves", denen die Stadtbevölkerung äußerst
verderbt erschien, entfernten sich in die Steppen und Berge, um
dort ein reines Leben zu führen. Ohne Hoffnung, andere von der
Sünde zu erretten, waren sie bestrebt, wenigstens ihr eigenes Seelen-
heil zu finden. Die Sekte der Rechabiten, an deren Spitze Jonadab
ben Rechab stand, verneinte gänzlich jegliche Kultur, die mit
Ackerbau und Gewerbe verbunden war. Die Rechabiten lebten in
Zelten inmitten der Steppen und trieben Viehzucht nach Art ihrer
primitiven hebräischen Nomaden-Ahnen. Sie mieden die Versuchungen
des Stadtlebens und schwärmten für die Rückkehr des Volkes zu
den schlichten patriarchalischen Sitten. Dem Berichte eines späteren
Propheten zufolge blieben die Rechabiten auch noch nach drei-
hundert Jahren dem Vermächtnis ihres Meisters Jonadab treu:
„Nimmermehr sollt ihr oder eure Kinder Wein trinken, noch ein
Haus bauen, noch Samen aussäen, noch einen Weinberg pflanzen
oder in Besitz haben, sondern in Zelten sollt ihr wohnen euer Leben
lang." Den Rechabiten schlossen sich die Abstinenten oder Nasiräer
an: sie lehnten den Genuß des Weines ab, entsagten jeglichem Über-
maß an Speise und ließen ihr Haar lang wachsen *). Diese beiden
Gruppen oder Sekten leisteten der in das Volk ein dringenden frem-
x) Vgl. II. Kön. io, i5ff., Amos 2, 11—12 und Jerem. 35, wo fragmen-
tarische Mitteilungen über die Rechabiten und Nasiräer zu finden sind.
iÖ7
Die Omriden in Samarien
den Kultur passiven Widerstand. Allein eine wichtigere Rolle fiel
den Helden des aktiven Widerstandes zu, den leidenschaftlichen
Streitern und Wahrheitseiferern, den Propheten Jahves.
§ 34. Der Prophet Elias und sein Kampf um die nationale Kultur
An der Spitze der Volkspropheten, die gegen die fremdländische
Kultur ankämpften, Itand ein Mann voll religiöser Begeisterung,
Elijahu oder Elias (Eli-Jahu, d. i. mein Gott-Jahve), aus Tissbi in
Gilead gebürtig. Als strenger Jahve Verehrer und Verteidiger natio-
naler Eigenart erblickte Elias in der neuen Lebensordnung den
Keim des Zerfalls der Nation. Er war voller Empörung über die
phönizische Kultur mit ihrer Lasterhaftigkeit, wie auch über jenen
religiösen Dualismus, kraft dessen diejenigen, die Jahve offiziell
als den Gott Israels anerkannten, gleichzeitig zu Ehren Baals Altäre
errichteten. In der Persönlichkeit des Elias vereinigte sich der
strenge Asket mit dem feurigen Streiter, der weltfremde Nasiräer
mit dem Volkstribun. Bald irrte er in der Wüste umher, fern von
den Eitelkeiten des Stadtlebens, bald wieder kam er wie ein Gewitter
über Samaria und geißelte in leidenschaftlichen Predigten die Laster
des Königs und seiner Umgebung. Schon durch sein Äußeres und
seine Lebensweise zog Elias die Aufmerksamkeit des gemeinen
Volkes auf sich: er kleidete sich in ein grobes härenes Gewand,
trug sehr langes Haar, entsagte dem Genuß von Fleisch und Wein
und zeigte überhaupt Widerwillen gegen Bequemlichkeiten und
physische Freuden. Man erblickte in ihm einen „Gottesmann“, der
Wunder zu vollbringen vermag, und Volkssagen um woben seinen
Namen. So erzählte man, daß, als Elias sich in einer Einöde am
Jordan verbarg, um den Verfolgungen der Königin Isebel zu ent-
gehen, zweimal täglich, morgens und abends, Raben zu ihm ge-
flogen kamen und ihm Speise brachten. Eine andere Legende be-
richtet, wie Elias, als er im Hause einer armen Witwe in der
phönizischen Stadt Zarphat weilte, den kleinen Sohn dieser Witwe,
der auf dem Sterbebette lag, ins Leben zurückrief. Als einmal im
Lande Hungersnot herrschte und der armen Witwe nichts als eine
Handvoll Mehl und etwas Öl übrigblieb, die nur für eine einzige
Mahlzeit ausreichen konnten, weissagte ihr Elias, daß sie aus diesem
kleinen Vorrat noch viele Tage Brot backen und sich damit bis
i58
%
§ 3U. Der Prophet Elias und sein Kampf um die nationale Kultur
zur neuen Ernte ernähren werde; und diese Weissagung ging in
Erfüllung.
Von einem Vorrechte Gebrauch machend, das öfters den vom
Volke verehrten „Gottesmännern“ zuteil wurde, fand Elias den Mut,
dem König selbst die nackte Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Der
Prophet geißelte die religiöse Verirrung und die sittlichen Vergehen
Ahabs. Zu einem entscheidenden Zusammenstoß zwischen dem
König und dem Propheten gab folgender Vorfall Anlaß. Neben
dem Palaste Ahabs in Jesreel befand sich der Weinberg des
Jesreeliten Nabot. Der König, der einen Garten vor seinem Palaste
anlegen lassen wollte, bat Nabot, ihm den Weinberg für Geld zu
verkaufen oder gegen einen anderen einzutauschen. Allein Nabot
weigerte sich, das ihm teure Erbe der Väter dem König abzutreten.
Dies stimmte den König so traurig, daß er bettlägerig wurde und
jegliche Nahrung von sich wies. Da kam die Königin Isebel zu
ihm und fragte: „Warum ist dein Geist erbittert und warum issest
du nichts?“ Der König erzählte ihr von seinem Mißgeschick. Isebel,
über die Weichherzigkeit ihres Mannes aufgebracht, sprach zu ihm:
„Du bist ja ein schöner König über Israeli Steh auf, iß und laß
dein Herz guter Dinge sein, ich werde dir den Weinberg des
Jesreeliten Nabot verschaffen.“ Um ihr Ziel zu erreichen, befahl
Isebel, Nabot gerichtlich zu verfolgen, weil er angeblich in Gegen-
wart von Zeugen „Gott und König gelästert“ hätte. Darauf wurden
zwei falsche Zeugen gedungen und unredliche Richter bestellt; so
gelang es Isebel, den unschuldigen Nabot des Verbrechens zu über-
führen. Der Richterspruch verurteilte ihn zum Tode durch „Sekila“
(Steinigung), sein Weinberg aber wurde dem Könige zugewiesen.
Als Elias von dieser Missetat hörte, kam er zu Ahab und sprach:
„Du bist Mörder und Erbe zugleich I Darum spricht Jahve so:
An der Stelle, da die Hunde Nabots Blut aufgeleckt haben, werden
die Hunde auch dein Blut auf lecken; ich will dein Haus wie das
Haus Jerobeams und wie das Haus Baasas machen.“ So sprach
der Prophet und ging davon. Bemerkenswert an seinen Worten
ist die Kühnheit des Protestes sowohl gegen den Despotismus als
auch gegen die soziale Ungerechtigkeit.
Es gab allerdings auch Augenblicke, in denen der König und
seine Würdenträger, unter der Einwirkung plötzlich hereinbrechen-
der Heimsuchungen, die Wiederherstellung des Jahvekultus als des
Die Omriden in Samarien
ausschließlichen wünschten; in solchen Augenblicken wurde Elias zum
Helden des Tages. So geschah es einmal, daß Samarien von einer
großen Not heimgesucht wurde: drei Jahre lang gab es keinen
Regen, das Korn auf den Feldern gelangte nicht zur Reife, und
die Bevölkerung erlitt alle Schrecken der Hungersnot1). Viele
erblickten darin ein Zeichen des Zornes Jahves, der das Land für
die Sünden seiner Bewohner züchtigen wollte. Der erzürnte Gott
mußte irgendwie versöhnt und das sollte durch Elias erwirkt
werden; allein er war nirgends in Samaria aufzufinden. Eines
Tages, als der König Ahab das Land durchzog, traf er den Pro-
pheten. Als er ihn erblickte, rief der König: „Bist du es, Ver-
derber Israels?“ Elias aber sprach: „Nicht ich stürze Israel ins
Verderben, sondern du und dein Haus, indem ihr Jahve verlassen
habt und indem du dem Baal nachgewandelt bist.“ Der Prophet
erklärte dem König, daß das Land nur durch die Wiederein-
führung der nationalen Religion errettet werden könne. Unter dem
Druck der schweren Heimsuchung entsprach Ahab der Forderung
des Propheten, und Elias begann nunmehr einen entschiedenen
Kampf gegen die Parteigänger des dualistischen Kultes. In der
Volkslegende von den Wundern des Propheten Elias wird uns
dieser Kampf in folgendem unheimlich anmutenden Bilde vor
Augen geführt:
Elias verlangte, daß Ahab alle Priester oder „Propheten“ Baals
auf den Berg Karmel berufen möge, wo er, Elias, dem ganzen Volke
zeigen werde, wer der wahre Gott sei, Jahve oder Baal. Der König
willigte ein. Am festgesetzten Tage versammelten sich auf dem
Karmel 45o Priester des Baal* 2) sowie eine große Menge Volkes;
auch Elias und Ahab waren zugegen. Es wurden zwei Altäre auf-
gestellt; der eine für Baal, der andere für Jahve. Vor das versammelte
Volk tretend, sagte Elias: „Wie lange wollt ihr springen über beide
Schwellen? Wenn Jahve der Gott ist, so wandelt ihm nach, wenn
*■) Über eine gleichzeitige Dürre in Phönizien unter dem König Etbaal be-
richtet auch der alte Geschichtsschreiber Mennnder von Ephesus (s. die „Jüdischen
Altertümer“ von Joseph Flavius, Buch VIII, i3), woraus zu ersehen ist, daß
diese Mißernte für ganz Palästina schwere Folgen hatte.
2) Im biblischen Texte heißt es weiter: „Und 4oo Propheten der Aschera“
(I. Kön. 18, 19), aber dies stimmt nicht mit dem weiteren Text überein, wo
ausschließlich von den Baalpriestern die Rede ist. Vermutlich haben wir es hier
mit einem redaktionellen Zusatz zu tun, der sich auf die Tatsache gründet, daß
sich bei den Altären des Baal gewöhnlich auch ein Symbol der Astarte-Aschera
befand, sei es in Form eines heiligen Baumes oder eines Haines.
160
§ 35. Kriege mit den Aramäern
aber Baal, so wandelt dem nach.“ Das Volk schwieg. Da sprach
Elias zu den Priestern Baals: „Nun gebe man uns zwei Farren. Den
einen Farren möget ihr zerschneiden und auf die Holzscheite legen,
ohne Feuer anzumachen, und ich will den anderen Farren zurichten,
ohne Feuer anzumachen. Dann sollt ihr euren Gott anrufen, und
ich will Jahve anrufen, und der Gott, der mit Feuer antworten wird,
der soll Gott sein.“ Die Priester gingen darauf ein. Sie legten ihr
Opfer auf den Altar und schrieen von morgens bis mittags: „Baal,
Baal, erhöre uns!“ Allein kein Feuer ließ sich sehen. Elias ver-
höhnte sie, indem er sagte: „Ruft nur laut, er ist doch ein Gott.
Denn er ist wohl in Gedanken, oder ist beiseite gegangen, oder ist
unterwegs; vielleicht schläft er auch und wird dann aufwachen!“
Die Priester begannen lauter zu rufen, tanzten wilde Tänze um den
Altar herum und ritzten sich in der Erregung „nach ihrer Art“ mit
Messern die Haut, so daß das Blut herabfloß; allein Baal blieb taub
und stumm. Da legte Elias sein Opfer auf einen Altar, den er aus
Steinen auf gebaut hatte, und begann zu beten: „Jahve, Gott Abra-
hams, Isaaks und Israels, heute soll es kund werden, daß du Gott
bist in Israel, und ich dein Knecht, und daß ich auf dein Wort
alles dies getan habe. Erhöre mich, Jahve, erhöre mich!“ Kaum
hatte Elias diese Worte ausgesprochen, als ein Feuer ausbrach und
das Opfer auf dem Altar Jahves verbrannte. Das versammelte Volk,
von der Nichtigkeit des Baalkultes überzeugt, stürzte sich auf die
Priester, stieß auf Befehl des Elias alle nieder und warf ihre
Leichen in den Fluß Kison. Bald darauf entlud sich ein Gewitter,
und der Regen machte der Dürre ein Ende. Nunmehr war der
König Ahab bereit, sich dem Willen Jahves und seines Pro-
pheten zu beugen; allein die Königin Isebel, die von dem Vor-
gefallenen Kunde erhielt, schwur, daß sie Elias für die Vernichtung
ihrer Priester mit dem Tode bestrafen werde. Da floh Elias nach
Juda und von dort in die Wüste: er ging weit in die Wüste hinein
und kam zum „Berge Gottes“, Horeb (Sinai). Hier irrte der Pro-
phet umher, in Höhlen und Schluchten inmitten der majestätischen
Felsen Zuflucht suchend. Hier erschien ihm in einer wunderbaren
Vision Jahve selbst und verkündete ihm das Herannahen einer Um-
wälzung im israelitischen Reiche.
§ 35. Kriege mit den Aramäern; das Gespenst Assyriens
Der friedlich gesinnte Ahab wurde in seinen letzten Regierungs-
jahren in eine Reihe von Kriegen hineingezogen, deren Urheber
die Aramäer von Damaskus mit ihrem kriegerischen König Ben-
Hadad II. waren. Das Fürstentum von Damaskus gelangte um
diese Zeit zu einer hohen Macht und stellte sich an die Spitze
11 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
161
,
.
■
'
.
Die Omriden in Samarien
bild Assyriens auf, das bald ganz Vorderasien verdüstern sollte. Ein
Erbe der ehemaligen babylonischen Hegemonie in Mesopotamien,
war Assyrien seit dem IX. Jahrhundert von einem unwiderstehlichen
Expansionsdrang beherrscht. Von den Ufern des Euphrat und
Tigris dringt es unaufhaltsam immer weiter zur Mittelmeerküste
vor. Aram, Phönizien und Israel-Juda stehen ihm im Wege. Die
unmittelbare Aufgabe Assyriens besteht nun darin, Aram und Phö-
nizien zu überrennen, um alsdann auch Israel zu Boden zu werfen.
Der dröhnende Anmarsch Assyriens wird schon während der
Regierung Ahabs hinter der sichtbaren Bühne der Geschichte ver-
nehmbar. Der assyrische König Assurnasirpal (885—860) zieht
mit seinen zahllosen Heeresmassen durch die zwischen dem Tigris
und dem Libanon gelegenen Länder und gelangt bis zum „großen
Meere des Landes Amurru“, d. i. bis zum Mittelmeere. Er unter-
wirft das zunächst liegende aramäische Fürstentum „Patin“ oder
Paddan-Aram an der Grenze Syriens und Mesopotamiens, dringt
dann längs des Libanon weiter nach der palästinischen Küste vor
und empfängt Tribut von den phönizischen Königen von Tyrus,
Sidon, Byblos, Arvad und anderen Städten. (Den Inschriften zu-
folge bestand der Tribut aus Gold, Silber, Kupfer, Metallgeräten
sowie Libanonzedern.) Sein Nachfolger Salmanassar II. (860—825)
dringt schon in das Herz Arams, Damaskus, ein und führt einen
hartnäckigen Kampf mit eben jenem König Ben-Hadad (Bir-ldri
oder Hadad-Idri auf den assyrischen Denkmälern), mit dem auch
Ahab kämpfte. Im Jahre 854 führt Salmanassar sein Heer von
Ninive aus gegen die Könige des „Hetiterlandes“ oder die Aramäer.
Bei Karkar, im aramäischen Fürstentum Hamat, kommt es zu einer
Schlacht zwischen den Assyrern und den verbündeten aramäisch-
palästinischen Heeren, und die Inschrift auf dem assyrischen Denk-
mal, die die Heldentaten Salmanassars verherrlicht, berichtet, daß
der assyrische König in diesem Feldzug zwölf verbündete Fürsten
Arams und der benachbarten palästinischen Länder besiegt hätte.
Hier wird, neben Bir-ldri von Damaskus und Irchilina von Hamat
sowie den phönizischen Königen und dem Könige Ammons, auch
„Ahab von Israel“ (Aha-ab-bu Sir-ila) im Verzeichnis der Ver-
bündeten erwähnt, der sich mit 10000 Kriegern und 2000 Streit-
wagen stellte. Ahab beteiligte sich also an der Koalition der ara-
mäisch-palästinischen Fürsten gegen den assyrischen Eroberer. Ob
i64
§36. Ahab und Josafat
dies ein Ergebnis der freundschaftlichen Beziehungen zwischen
Israel und Phönizien oder des erzwungenen zeitweiligen Bündnisses
mit Aram-Damaskus war, ist schwer zu entscheiden. Es ist wohl
möglich, daß der Krieg der Verbündeten gegen Assyrien gerade zur
Zeit des Waffenstillstandes zwischen Israel und Aram geführt
wurde, als Ahab auf die Erfüllung des später nicht eingehaltenen
Versprechens Ben-Hadads wartete. Jedenfalls erhellt aus den assy-
rischen Inschriften mit Bestimmtheit die Tatsache der aktiven Be-
teiligung Israels an der damaligen internationalen Politik. Die
assyrische Gefahr zeigte sich damals dem israelitischen Reiche noch
in der Ferne und bedrohte unmittelbar nur seinen Nachbar und
Rivalen Aram. Vielleicht war dies auch der Grund des Andrängens
Arams gegen Westen, gegen den sichereren Landbereich Israels. Aus
den hebräischen Urkunden erfahren wir, daß Ahab auch in seinen
letzten Regierungsjahren einen Krieg gegen Damaskus führte, einen
Krieg, der diesmal ein Angriffskrieg war und die Rückeroberung
des entrissenen Teiles des israelitischen Landgebietes bezweckte. In
diesem Kriege war der judäische König der Verbündete Ahabs. Im
Kampfe mit Aram leistete ihm also der Sohn gerade jenes judäischen
Königs Asa. Beistand, der ehemals mit Beihilfe Arams selbst gegen
das israelitische Bruderreich ins Feld gezogen war (§ 3i).
§ 36. Ahab und Josafat. Der Tod Ahabs
Zu derselben Zeit, als in Samarien Ahab herrschte, war in Juda
Josafat, der Sohn Asas (um 874—85o), König. Die Chronisten be-
zeichnen die Regierung Josafats als eine Zeit des Wohlstandes und
der Ruhe. Juda blieb unbehelligt von jenen Kriegen und inneren
Kämpfen, die den Wohlstand Samariens unterwühlten. Äußere
feindliche Mächte bedrohten es nicht. Die Edomiter waren die
Vasallen der judäischen Könige; einer der edomitischen Fürsten
verwaltete das Land als Statthalter des judäischen Königs. Der
Aufstandsversuch der Edomiter gegen Juda, in dem sie von ihren
Nachbarn Moab und Ammon unterstützt wurden (was der spätere
Verfasser der „Chronik“ in unklarer Form erwähnt), war fehl-
geschlagen. Josafat, der die Oberhoheit über Edom besaß und die
Wege zum Roten Meere in seiner Hand hatte, suchte den unter Salomo
begonnenen Seehandel mit Arabien oder Indien zu erneuern. Dabei
mmmmmmskm
Die Omriden in Samarien
Tag zur Neige ging. Da erging ein Ruf an die Truppen: „Ein
jeder in seine Stadt und ein jeder in sein Land!“ Josafat kehrte
nach Jerusalem zurück, die Leiche Ahabs aber wurde in dem
blutüberströmten Wagen nach Samaria gebracht und dort bestattet.
Die Glaubenseiferer aus der Partei des Elias sahen in diesem tra-
gischen Ende eine Strafe Gottes für die Zulassung des Baalkultus
und anderer fremdländischen Unsitten, die man alle dem israeli-
tischen König zur Last legte.
§ 37. Die Nachfolger Ahabs. Der Prophet Elischa
Der Nachfolger Ahabs war sein Sohn Ahasja, der nur zwei
Jahre regierte (853—852). Er ließ sich in Fragen der Staats-
verwaltung anscheinend von seiner Mutter Isebel leiten und war
in den Kreisen der nationalen Propheten unbeliebt. Der Chronist
berichtet, daß ihm eines Tages ein Unfall zustieß: er fiel aus
dem Fenster seines Palastes und zog sich schwere Verletzungen
zu. Von seinem heidnischen Aberglauben beherrscht, sandte Ahasja
Boten in die philistäische Stadt Ekron, um die Priester des dortigen
Baal (Baal-Sebub) zu befragen, ob er sich von seinen Verletzungen
erholen würde. Diese Handlungsweise des Königs erregte den
Unwillen der Besten des Volkes und die Entrüstung des Propheten
Elias. „Es gibt wohl keinen Gott in Israel, daß der König euch
hinschickt, Baal-Sebub, den Gott von Ekron, zu befragen?“ —
so sprach er zornig zu den Boten des Königs, denen er unterwegs
begegnete. Bald darauf starb Ahasja, und sein Bruder Joram
(852-—84^) bestieg den Thron.
Die kurze Regierung Jorams war äußerst sturmbewegt. Der
Knoten der internationalen Beziehungen knüpfte sich immer fester.
Über dem „Reiche Omris“ zogen sich von allen Seiten schwere
Wolken zusammen. Nach dem Tode Ahabs fielen vom israelitischen
Reiche die tributpflichtigen Moabiter ab, die von Omri unterworfen
worden waren. Der moabitische König Mesa rief die Unabhängig-
keit seines Landes aus und verweigerte den Israeliten den alljähr-
lichen Tribut, der aus großen Stier- und Hammelherden bestand.
(Die Moabiter trieben als Steppenbewohner vornehmlich Viehzucht.)
Joram nahm sich vor, den abtrünnigen Vasallen zu züchtigen. An
dem Feldzuge gegen Moab beteiligte sich auch der judäische König
168
§ 37. Die Nachfolger Ahabs. Der Prophet Elischa
Josafat. Er kam Joram zu Hilfe mit seinem Heere, zu dem sich
ein Kriegertrupp der Edomiter unter der Anführung ihres Königs,
eines Vasallen Judas, gesellte. Das Heer der Verbündeten durch-
zog die edomitische Wüste, wo es durch Wassermangel zu leiden
hatte; hernach drang es in Moab ein und verheerte das Land. Die
Truppen zerstörten Städte und Ansiedlungen, zerstampften die Äcker
und warfen Steine darauf, verschütteten die Brunnen und rissen
die Bäume heraus. Mesa verschanzte sich mit dem Rest seines
geschlagenen Heeres in der moabitischen Festung Kir-Hareset (dem
späteren Kerak). Dort wurde er von den Verbündeten belagert. Da
versuchte Mesa mit seiner Kriegerschar die die Stadt umschließende
feindliche Kette zu durchbrechen; allein auch dies gelang ihm nicht.
In tiefster Verzweiflung — so berichtet der Chronist — ergriff der
moabitische König seinen ältesten Sohn und opferte ihn auf der
Festungsmauer, vor den Augen der Verbündeten, dem Gotte Kemosch,
da er auf diese Weise den Gott seines Volkes zu versöhnen hoffte.
Dies entflammte den Mut der moabitischen Krieger von neuem; sie
stürzten sich in einen verzweifelten Kampf und schlugen die Be-
lagerer von der Festung zurück. Darauf trennten sich die Ver-
bündeten, und die Moabiter erlangten ihre Unabhängigkeit wieder.
Der König Mesa verewigte die Befreiung seines Landes in einer
Inschrift auf einem Denkmal, das er bei dieser Gelegenheit an
einem Altar, der „Bama“, errichtete. Dieses bedeutsame Denkmal,
das, wenn man die übliche Prahlerei der Sieger in Abzug bringt,
für die Geschichtsforschung äußerst ergiebig ist, hat folgenden
Wortlautx):
„Ich bin Mesa, der Sohn des Kemoshona, König von Moab, der
Daibonite. Mein Vater ist. dreißig Jahre über Moab König gewesen,
und ich ward König nach meinem Vater. Da machte ich diese Höhe
1) Der Stein des Königs Mesa wurde im Jahre 1868 unter den Überresten
von Dibon, östlich vom Toten Meere, aufgefunden. Als die ortsansässigen Araber
von dem Vorhaben der europäischen Gelehrten, den Stein, der den Einheimischen
als Talisman galt, mitzunehmen, erfahren hatten, zerschlugen sie ihn in Stücke;
die Bruchstücke wurden jedoch gesammelt, wieder zusammengestellt und nach
Paris in den Louvre gebracht, wo sie aufbewahrt werden. Ein Abdruck der In-
schrift wurde noch vor der Zertrümmerung des Steines gemacht. Die Inschrift
besteht aus 34 Zeilen; die Schriftzeichen gehören dem ältesten Schrifttypus der
hebräisch-phönizischen Lettern an. Es ist die älteste der althebräischen Inschriften,
die bisher auf gefunden worden sind. Das Denkmal ist um 84o vor der christ-
lichen Ära errichtet.
Die Omriden in Samarien
Tode Ahabs ihren Einfluß auf die Verwaltungsangelegenheiten be-
halten, dieser Einfluß war aber für die Eigenart des Volkes von
Nachteil und lief dem Ideal der Propheten Jahves zuwider. Die
nationale Partei gewann die Überzeugung, daß der Frieden im Lande
unmöglich sei, solange das „Haus Omri“ am Ruder bleibe. Die
Prophetenpartei benutzte die Gärung im Volke, um eine scharfe
Opposition gegen die Dynastie Omris ins Leben zu rufen und eine
Staatsumwälzung vorzubereiten. Das Haupt dieser Opposition war
der Prophet Elischa ben Schafat (Elisa), ein Jünger des Elias. Zur
Zeit Jorams war Elias nicht mehr am Leben; er hatte sich aber
in der Person Elischas einen Nachfolger herangebildet. Die Sage
erzählt, daß Elias eines Tages Elischa auf dem Felde traf, wo
er hinter seinem Pfluge einherging; der Prophet kam heran und
warf seinen Mantel über ihn: damit forderte er den jungen Land-
mann auf, in die Reihen der Kämpfer für die Sache des Volkes
zu treten. Elischa folgte Elias, begleitete ihn überallhin und diente
dem heiligen Manne bis zu dessen Ende. (Der Volkssage zufolge
starb Elias nicht wie alle Menschen, sondern „Jahve ließ ihn im
Sturme gen Himmel fahren“ vor den Augen des Elischa.) Vor
seinem Tode übergab der Prophet dem noch jugendlichen Elischa
die Führerschaft seiner Jünger, Bne ha’nebiim, der jungen Pro-
pheten, die Elischa als denjenigen anerkannten, auf dem „der Geist
des Elias ruht“. Schon zur Zeit der Regierung Jorams war Elischa
im Volke beliebt, und der König sah sich genötigt, in Zeiten der
Wirren den Ansichten des Propheten Rechnung zu tragen, so z. B.
während des moabitischen Feldzuges und während der Belagerung
Samarias durch die Aramäer. In der Volkslegende wird Elischa
gleich seinem Meister als Wundertäter dargestellt: er heilt Kranke
und Sterbende, sättigt viele mit einem kleinen Nahrungs Vorrat,
schlägt die Feinde mit Blindheit usw. Sogar Fremde glaubten an
die wundertätige Kraft des israelitischen Propheten; so kam der
aramäische Feldherr Naaman eigens zu ihm, um sich vom Aussatz
heilen zu lassen.
Diese sagenhafte Darstellung der Persönlichkeit Elischas ver-
hüllt für die Nachkommenschaft seine historische Gestalt und die
Rolle, die er tatsächlich im politischen Leben des israelitischen
Reiches gespielt hat. Diese Rolle aber war viel bedeutender als
diejenige eines heilkundigen Wundertäters. Elischa machte seine
172
§ 38. Der Untergang der Omriden
Ideen auf andere Weise volkstümlich als sein Meister Elias. Elias
war ein Glaubenseiferer, ein begeisterter Prediger, der die Welt-
anschauung des Volkes zu beeinflussen bestrebt war; Elischa da-
gegen war vorzüglich ein politischer Agitator, das Haupt der
Oppositionspartei. Der erste hoffte noch, den König und das Volk
auf den Weg der Wahrheit zu bringen, der andere hatte diese
Hoffnung bereits aufgegeben und erblickte das einzige Heil in
einer Staatsumwälzung. Um diese Umwälzung herbeizuführen, ging
Elischa eine geheime Verschwörung mit Jehu, dem Oberbefehls-
haber der israelitischen Truppen, ein. Der ehrgeizige Heerführer
teilte aus ganz anderen Gründen die Ansicht Elischas über die
Notwendigkeit einer dynastischen Umwälzung: er ersehnte die Ab-
setzung Jorams, um sich selbst den Weg zum Throne zu bahnen.
Und als es nun geschah, daß der verwundete Joram, mitten im
Kriege mit den Aramäern, sich nach Jesreel begab und Jehu an
der Spitze des israelitischen Heeres im Lager bei Ramot-Gilead
zurückließ, da nahte der Augenblick, in dem sowohl der Traum
des ehrgeizigen Feldherrn als auch der geheime Wunsch des Pro-
pheten ihre Erfüllung finden sollten.
§ 38. Die Auflehnung Jehus und der Untergärig der Omriden
Die Geschichte der dynastischen Umwälzung, die von dem Heere
in Gemeinschaft mit der Prophetenpartei durchgeführt wurde, wird
in den „Königsbüchern“ folgendermaßen dar gestellt:
Eines Tages kam einer von den „Jüngern des Propheten“ (Bne
ha’nebiim) in das israelitische Lager bei Ramot-Gilead mit einem
geheimen Auftrag von Elischa an den Oberbefehlshaber Jehu. Der
Gesandte des Propheten rief Jehu von seinen Kriegsgefährten weg
und führte ihn in ein entlegenes Gemach. Hier nahm der Gesandte
Öl aus einem Kruge, salbte das Haupt Jehus und sagte: „So
spricht Jahve, der Gott Israels: Ich salbe dich zum König über
Jahves Volk, über Israel. Du sollst das Haus Ahabs, deines Herrn,
schlagen und ich will das Blut der Propheten an Isebel rächen!“
Er sprach es, entfernte sich mit raschen Schritten und verschwand.
Als Jehu zu seinen Gefährten zurückkehrte, fragten sie ihn, was
diesen „Verrückten“ zu ihm geführt habe. Nach einigen aus-
weichenden Antworten gestand ihnen Jehu die Wahrheit. Da stießen
Die Omriden in Samarien
zischen und kanaanitischen Gottheiten wurde im Lande strengstens
untersagt.
Die Wiederherstellung des Jahvekultes mittels so vieler Grau-
samkeiten erregte den Unwillen sogar der national gesinnten Kreise.
Hundert Jahre später, als auch die Dynastie Jehus gestürzt wurde,
erblickte der Prophet Hosea darin eine Strafe Gottes für die
„Blutschuld von Jesreel“.
§ 39. Atalja und die Palastrevolution in Juda
Zu derselben Zeit, als Jehu das Geschlecht Ahabs in Samaria
ausrottete, regierte ein Weib aus diesem Geschlecht in Juda und
spielte hier die Rolle einer zweiten Isebel. Es war dies Atalja, die
Tochter Isebels und Ahabs und das Weib des Sohnes des judäischen
Königs Josafat. Nach dem Tode Josafats (um 85o) folgte ihm
in Juda sein Sohn und später sein Enkel auf dem Throne, die
dieselben Namen trugen wie die damaligen Könige Samariens. Der
Sohn Josafats und der Gemahl Ataljas, Jehoram oder Joram, er-
wies sich als ein ebenso schlechter Landesherr in Juda wie Joram-
ben-Ahab in Samarien. Unter ihm sagten sich die Edomiter von
ihrem Vasallen Verhältnis zum judäischen Reiche los und „setzten
einen König über sich“. An der Spitze seiner Reiterei unternahm
Joram einen Feldzug gegen die widerspenstigen Vasallen, konnte
aber die abgefallene Provinz nicht mehr zurückgewinnen. Der
Abfall Edoms sperrte den Judäern den Zugang zum Roten Meere
und setzte dem Seehandel mit Arabien und Indien ein Ende. Auch
die westlichen Nachbarn erhoben ihr Haupt. So fiel die Stadt
Libna, an der philistäischen Grenze, von Juda ab. Eines Tages
(so berichtet die spätere Urkunde) brachen die Philister in Juda
ein zusammen mit den „Arabern, die auf seiten der Kuschiten
standen“, plünderten den Königspalast und führten die Angehörigen
des Königshauses in die Gefangenschaft; die Gefangenen wurden
allem Anscheine nach bald losgekauft, da das Ganze nichts weiter
als ein räuberischer Überfall war. Indessen zeugten derartige Vor-
fälle von einer Schwächung des Staates. In seinen letzten Lebens-
jahren hatte Joram an einer „Krankheit der Eingeweide“ zu leiden,
die nach achtjähriger Regierung seinen Tod herbeiführte (843).
Sein junger Sohn und Thronerbe Alias ja herrschte nur ein Jahr.
176
§ 39. Atalja und die Palastrevolution in Juda
Wie bereits erwähnt, weilte er bei seinem Oheim Joram-ben-Ahab
gerade zu der Zeit, als die von Jehu eingeleitete blutige Umwälzung
vor sich ging. Durch einen der Krieger Jehus schwer verwundet,
kam Ahasja bis zur Stadt Megiddo und starb daselbst. Seine Leiche
wurde nach Jerusalem überführt und im königlichen Grabe Davids
bestattet.
Nach dem jähen Tode Ahasjas wurde seine Mutter Atalja Re-
gen tin in Juda (842)- Sie sollte an Stelle von Ahasjas Thronerben
bis zu dessen Volljährigkeit das Land regieren; aber das ehrgeizige
Weib begnügte sich nicht mit dieser bescheideneren Stellung, sondern
wollte ihr Leben lang das Haupt des Reiches bleiben. Sie befahl
ihrer Leibwache, diejenigen Prinzen aus dem Geschlecht Davids
umzubringen, die Anspruch auf den Thron erheben konnten. Nur
ein kleiner Sohn Ahasjas, Joas (der spätere König Jehoasch), da-
mals noch im Säuglingsalter, entging dem Blutbad: der kleine
Königssohn wird von seiner Tante Joscheba, der Gemahlin des
Oberpriesters Jojada, entführt, in einem Nebenbau des Jerusalemer
Tempels verborgen gehalten und dort im geheimen erzogen. Seeths
Jahre lang herrschte Atalja in Juda und verwaltete das Reich,
ganz ihrer phönizischen Mutter Isebel würdig. Sie war bestrebt,
dem eben in Samaria aufgehobenen Baalkultus in Jerusalem zur
Vorherrschaft zu verhelfen. In der heiligen Stadt, wo sich der
Tempel Salomos erhob, wurde ein „Haus Baals“ errichtet, mit
Götzenbildern und einem Opferaltar; das Priesteramt in diesem
Tempel versah ein gewisser Mattan. Die Königin hatte anscheinend
eine ihr ergebene Partei in den Hofkreisen. Jedoch die Mehrzahl
des Volkes war über ihr gesetzloses Handeln aufgebracht. Die
Kunde von der nationalen Umwälzung in Samaria belebte auch
den Mut der Patrioten in Jerusalem. Es bildete sich eine revolu-
tionäre Partei, die Atalja absetzen und den gesetzmäßigen Thron-
erben Joas auf den Thron bringen wollte.
An der Spitze dieser Partei stand der Oheim des minderjährigen
Prinzen, der Oberpriester Jojada, unter dessen Leitung er erzogen
wurde. Als Joas sieben Jahre alt geworden war, beschloß Jojada,
seinen Umwälzungsplan zur Ausführung zu bringen. Zu diesem
Zwecke verschwor er sich mit den Befehlshabern der Leibwache.
An einem Sabbat führte er den siebenjährigen Joas aus den inneren
Gemächern des Tempels auf die Außengalerie, stellte ihn auf eine
12 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
177
Die Omriden in Samarien
Erhöhung, setzte ihm die Königskrone auf das Haupt und rief ihn
zum Könige von Juda aus. Das versammelte Volk huldigte ihm,
blies in die Posaunen und rief: „Es lebe der König!“ Als Atalja
den Lärm in der Nähe des Tempels vernahm, eilte sie dahin und
erblickte den kleinen Prinzen mit der Königskrone auf dem Haupte.
Da sah sie, daß sie verraten war, und rief: „Verrat! Verrat!“ Der
Oberpriester Jojada befahl der Leibwache, die Königin aus dem
Tempel zu führen, sie aber nicht anzurühren, solange sie den
heiligen Ort nicht verlassen habe. Sobald Atalja herauskam und
sich zum Palaste begeben wollte, wurde sie von der Leibwache
ergriffen und ermordet (um 836). Das Volk brach in das „Haus
Baals“ ein, zerstörte dort alle Altäre und Götzenbilder und schlug
den Priester Mattan nieder. Joas bestieg den judäischen Thron,
und bis zu seiner Volljährigkeit regierte in seinem Namen der
Oberpriester Jojada.
So kam es, daß im Laufe eines Jahrzehntes sowohl im Reiche
Israel wie auch im Reiche Juda die Wiederherstellung des reli-
giösen Kultes und der Staatsverwaltung im nationalen Geiste zur
Tatsache ward.
178
Drittes Kapitel
Die Jehuiden in Samarien und der Kampf
der beiden Reiche
(8 /i 2—740)
§ 40. Jehu, Joahas und Joas in Samarien
Der Sturz der Omridendynastie ereignete sich gerade zu der
Zeit, als das Reich Israel in einen Krieg mit den Aramäern
verwickelt war. Zugleich mit der Krone der Omriden übernahm
Jehu die schwerbelastete Erbschaft ihres Königtums: das Land
hatte sich unausgesetzt der hartnäckigen Feinde von außen her zu
erwehren. Die achtundzwanzig Jahre währende Regierung Jehus
(84^—8i4) war eine unruhvolle Zeit für das israelitische Volk.
Dem Begründer der neuen Dynastie gelang es wohl, dem nationalen
Prinzip im inneren Staatsleben teilweise wieder zur Vorherrschaft
zu verhelfen, nicht aber, die internationale Lage seines Landes
günstiger zu gestalten. Nach der blutigen Umwälzung, der das mit
den Phöniziern verwandte „Haus Ahabs“ zum Opfer gefallen war,
wurde das Bündnis zwischen Samarien und Phönizien zweifellos
gelöst. Indessen hatte das israelitische Reich, obwohl es nunmehr
die Freundschaft von Tyrus eingebüßt hatte, doch weiterhin unter
der Feindschaft von Damaskus zu leiden. Der neue aramäische König
Hasael führte einen ebenso hartnäckigen Kampf mit Samarien wie
seine Vorgänger und brachte viel Unheil über die Israeliten. In
den „Königsbüchern“ finden wir eine rührende Erzählung darüber,
wie der Prophet Elischa dieses traurige Los seines Landes vorher-
gesagt hat. Als Hasael noch einfacher Heerführer in Damaskus
war, kam er zu Elischa als zu einem heiligen Manne und einem
Wahrsager, um ihn über den Ausgang der Krankheit des Königs
12*
*79
Die Jehuiden in Samarien und der Kampf der beiden Reiche
Ben-Hadad zu befragen. Der Prophet verkündete unter Tränen,
daß der kranke König sterben und Hasael den Thron besteigen
werde. „Warum weint mein Herr?“ — fragte Hasael. „Weil ich
weiß — versetzte Elischa — was du den Israeliten tun wirst; du
wirst ihre Festungen in Brand stecken, ihre Jünglinge mit dem
Schwert töten, ihre Säuglinge zerschmettern und ihre Schwangeren
aufschlitzen!“ — Diese Sage zeigt uns, in welcher Weise sich die
aramäischen Überfälle in der Erinnerung des israelitischen Volkes
widerspiegelten. Die Truppen Hasaels verwüsteten besonders die
transjordanischen Gebiete Gileads und Baschans (vielleicht im Bunde
mit den Ammonitern), knechteten deren Einwohner aus den Stäm-
men Rüben, Gad und Manasse und verübten jene Greueltaten, von
denen in der Weissagung Elischas die Rede ist.
Von den Aramäern immer wieder belästigt, versuchte Jehu, bei
ihrem mächtigen Feind, Assyrien, Hilfe zu suchen. Dadurch kann
wohl die Tatsache erklärt werden, daß Jehu schon im ersten Jahr
seiner Regierung (84^) dem assyrischen König Salmanassar II.
reichen Tribut darbrachte. Die assyrische Urkunde berichtet darüber
im Zusammenhang mit dem Feldzuge Salmanassars gegen Hasael.
„In meinem achtzehnten Regierungsjahre — so rühmt sich Sal-
manassar seiner Siege — überschritt ich zum sechzehnten Mal den
Fluß (Euphrat). Hasael von Damaskus verließ sich auf die Masse
seiner Truppen und bot seine Truppen in Menge auf (gegen mich).
Den Saniru, eine Bergspitze gegenüber dem Libanonx), machte er
zu seiner Festung. Mit ihm kämpfte ich. Eine Niederlage brachte
ich ihm bei.“ (Ferner wird von reicher Beute, von der Flucht
Hasaels nach Damaskus, von dem Vorrücken der Assyrer gegen
das Gebirge Hauran und von der Verwüstung vieler dort gelegener
Städte berichtet.) „In jener Zeit — so schließt die Inschrift —
empfing ich Tribut vom Tyrer, Sidonier und Jaua aus dem Lande
Omri1 2).“ Auf einem Obelisk Salmanassars, der den Feldzug von
84^ verewigen sollte, sind tributdarbringende Männer abgebildet,
1) Saniru ist offenbar mit dem Berge Senir beim Hermon, dem Amman
oder Antilibanon identisch, von dem im Hoheliede (4, 8) gesagt wird: „Mit mir
vom Libanon, o Braut, mit mir vom Libanon komm doch, komm fort vom
Gipfel des Amana, vom Gipfel des Senir und des HermonVgl. auch Deutr.3,’9.
2) In Assyrien wurde, wie bereits erwähnt, mit dem Namen Bit-Humri oder
Mat-Humri, d. i. „Haus Omris“, das ganze Reich Israel bezeichnet. (Ent-
sprechend Amos 1, 4: „Bet-Hasael“ statt Aram.)
180
§ 40. Jehu, Joahas und Joas in Sarnarien
die sich dem assyrischen König zu Füßen werfen; darüber prangt
die folgende Inschrift: „Tribut Jauas von Bet-Omri: Silber und
Goldbarren. . . (Es folgt eine Aufzählung der kostbaren Ge-
fäße, die dem König dargebracht wurden.) Bemerkenswert ist
jedoch, daß in der Inschrift eines späteren Obelisken über den
Feldzug von 83g nur Phönizier: „Tyrer, Sidonier, Byblier“, nicht
aber Israeliten als Tributdarbringende erwähnt werden. Dies mag
vielleicht dadurch zu erklären sein, daß Hasael, der den Israeliten
durch seine Überfälle Schrecken ein jagte, Jehu von direkten Be-
ziehungen zu Assyrien fernhielt.
Unter dem Sohn und Nachfolger Jehus, Joahas (8i4—797),
wurde das israelitische Reich immer wieder von Hasael und seinem
Sohn Ben-Hadad III. belästigt. Eine Folge der aramäischen Über-
fälle war der völlige Verfall der Wehrmacht Samariens. Dem Be-
richte des Chronisten zufolge stand Joahas nur noch ein unbedeuten-
des Heer zur Verfügung, das sich im ganzen aus ioooo Mann
Fußvolk, 5o Reitern und io Streitwagen zusammensetzte. Allein
derselbe israelitische Chronist deutet unklar an, daß „Jahve Israel
einen Helfer gesandt habe, der es aus der Gewalt Arams be-
freite“. Einen Schlüssel zur Enträtselung dieser Andeutung gibt
uns eine zeitgenössische assyrische Inschrift, in der es heißt, daß
der assyrische König Adad-Nirari (812—783) Tyrus, Sidon und
das Land Omri (Mat Humri), Edom und Philistäa tributpflichtig
gemacht, den aramäischen König in Damaskus gefangengenommen
und ganz unter seine Botmäßigkeit gebracht habe. Diese Ereignisse
fallen ungefähr in das Jahr 8o3. Es ist wohl möglich, daß der
von dem „Land Omri“ an Assyrien entrichtete Tribut ein Entgelt
für den gegen die Aramäer geleisteten Beistand bildete und daß
eben dies die „Errettung“ des Landes vor den Einfällen der un-
gestümen Nachbarn zu bedeuten hatte.
Das durch fortwährende Kriege entkräftete Land erholte sich
etwas unter dem Sohne des Joahas, Joas (797—781). Der neue
König schlug die Aramäer bei Afek in der Jesreelebene und gewann
viele der von ihnen besetzten Städte zurück. Wie wir weiter sehen
werden (§ ki), lebte unter Joas die Urfehde zwischen dem israeli-
tischen und dem judäischen Reiche wieder auf.
Von den inneren Angelegenheiten des israelitischen Reiches
unter den drei ersten Königen der Jehuidischen Dynastie ist uns
Die Jehuiden in Samarien und der Kampf der beiden Reiche
beinahe nichts bekannt. Vermutlich machte sich der Einfluß der
nationalen Partei sowohl auf dem Gebiete der Staatsverwaltung als
auch auf demjenigen des religiösen Kultes viel mehr geltend als
unter den Omriden, obwohl die gestrengen biblischen Chronisten
auch den Jehuiden es zum Vorwurf machen, daß sie „nicht ab-
ließen von der Sünde des Hauses Jerobearns“. Der Prophet Elischa,
der Jehu zur nationalen Restauration anregte, hatte in der ersten
Zeit einigen Einfluß auf die Verwaltungsangelegenheiten. Er starb
in sehr hohem Alter während der Regierung Joas’, dem er noch
am Vorabend seines Hinscheidens einen dreifachen Sieg über Aram
prophezeit haben soll. Der Kampf des Elias und Elischa gegen
die fremdländischen Einwirkungen mußte schon aus dem Grunde
von gewissem Erfolg begleitet gewesen sein, weil Phönizien, der
Verbündete der gefallenen Omriden-Dynastie, der ehedem einen
bedeutenden kulturellen Einfluß auf Samarien ausübte, nun gänz-
lich vom israelitischen Horizonte verschwunden war.
§ Ul. Jehoasch, Amazia und Usia in Juda
Im judäischen Reiche herrschte nach dem von der Priester-
partei durchgeführten Umsturz Jehoasch oder Joas (836—796).
Bis zur Volljährigkeit des Königs wurde das Land von seinem
Oheim und Vormund, dem Jerusalemer Priester Jojada, verwaltet.
Solange Jojada lebte, stand der König unter dem ausschließlichen
Einfluß der Priesterschaft, was auch in den Regierungsmaßnahmen
der ersten Zeit seiner Herrschaft zur Geltung kam. Als Joas voll-
jährig geworden war, beauftragte er zuallererst die Priester, die
Reparatur der baufälligen Teile des Salomonischen Tempels in x4n-
griff zu nehmen. Zu diesem Zwecke wurden Geldsammlungen im
ganzen Lande veranstaltet. In Jerusalem warfen die Spender das
Geld in die Öffnung eines Kastens hinein, der neben dem Altar
im Tempelhof auf gestellt war. Für das gesammelte Geld wurden
die nötigen Baumaterialien angeschafft sowie Zimmerleute und
Maurer angestellt. Ob die Reparatur des Tempelgebäudes zu Ende
geführt wurde, ist uns aber unbekannt. Ein unerwarteter Einfall
der Aramäer mochte vielleicht störend dazwischen gekommen sein.
Nach einem erfolgreichen Einfall in Samarien dirigierte nämlich
König Hasael seine Streitmacht gegen Süden , hin und näherte sich
iS 2
§ 41, Jehoasch, Arnazia und Usia in Juda
Juda, wohin die Aramäer bisher noch nicht vorgedrungen waren.
Der Feind hatte sich bereits der philistäischen Stadt Gat bemächtigt
und marschierte auf Jerusalem zu, allein Joas beugte der Not vor,
indem er von demselben Mittel Gebrauch machte, zu dem die un-
kriegerischen judäischen Könige schon oft gegriffen hatten: er
entnahm dem Jerusalemer Tempelschatz viel Gold und Silber und
sandte es Hasael als Lösegeld. Durch die reichen Gaben be-
schwichtigt, zog sich der aramäische König wieder in sein Land
z/urück.
Nach dem Tode Jojadas trübte sich das gute Verhältnis zwischen
dem König und den Priestern, weil diese anscheinend eine zu große
Macht in den Staatsgeschäften gewonnen hatten. Es kam, wie es
schon so oft geschehen war, zu einem Konflikt zwischen der
Königsgewalt und den Verfechtern der strengen Theokratie. Der
König — so legt es der spätere Verfasser der „Chronik“, ein Partei-
gänger der Theokratie, aus — ließ sich von den weltlichen Würden-
trägern beeinflussen und wandte nun seine Gunst den Übertretern
der Gesetze Jahves zu. Dadurch entspann sich zwischen ihm und
dem Sohne Jojadas, Zecharja, ein heftiger Streit. Zecharja er-
innerte den König daran, daß er den Königsthron dem Oberpriester
verdanke, und bedrohte ihn öffentlich mit dem Zorne Gottes. Der
gereizte König Keß Zecharja auf dem Tempelhofe umbringen.
Zecharja starb mit den Worten: „Jahve sieht es und wird es
ahnden!“ Die grausame Mordtat des Königs erregte den Unwillen
der Priesterschaft und des Hofes. Es kam zu einer Verschwörung,
und zwei Hofleute ermordeten Joas auf seinem Lager, so Rache
für das Blut des Sohnes Jojadas nehmend.
Die erste Tat des Sohnes und Nachfolgers Joas’, Amazia (um
796—782), war die Hinrichtung der Mörder seines Vaters. Aber
auch ihm gelang es nicht, feste Ordnung im Staate zu stiften.
Der neue König trachtete nach Kriegsruhm und unternahm einige
Feldzüge gegen seine Nachbarn. Zunächst wandte er sich gegen
die Edomiter, die schon unter dem König Jehöram Juda abtrünnig
geworden waren. Die Edomiter verschanzten sich in ihren unersteig-
baren Bergen, doch gelang es Amazia, in die Berggegend vorzu-
dringen. In einer Schlacht in der Nähe des Salztales schlug er
die Edomiter und erstürmte ihre Hauptfestung Sela („Fels“, Petra).
Nach dem errungenen Siege über die Edomiter ließ sich Amazia
i83
Die Jehuiden in Samarien und der Kampf der beiden Reiche
zu einem unvorsichtigen Schritte verleiten: er sandte dem israeli-
tischen König Joas eine Herausforderung zum Kriege. Über die
Ursache der Feindschaft der beiden Könige wird uns in der Ur-
kunde nichts berichtet. Mit dem Untergange der Omriden hatte die
Freundschaft zwischen Samarien und Juda, die bis dahin auf ver-
wandtschaftlichen Beziehungen beruhte, sehr bald ein Ende ge-
nommen. Unter den Jehuiden erwachte von neuem die Urfehde
zwischen den beiden Reichen, und dies mochte Amazia veranlaßt
haben, sich von dem vasallenartigen Verhältnis des kleinen Juda zum
nördlichen israelitischen Reiche loszusagen. Wenn dies tatsächlich
der Grund der Herausforderung Amazias war, so ist auch die darauf
erteilte hochmütige Antwort des israelitischen Königs begreiflich.
Joas soll nämlich, dem Bericht des Königsbuches zufolge, mit
folgender Parabel geantwortet haben: es wollte einst der winzige
Dornbusch sich mit der hohen Libanonzeder messen, wurde aber
von den wilden Tieren des Libanonwaldes zerstampft. „Du denkst,
du habest die Edomiter (vollständig) geschlagen! Und so treibt
dich nun dein Übermut, dich mit noch größerem Ruhm zu be-
decken! Jetzt aber bleibe nur daheim! Warum willst du das
Unglück herausfordern, daß du zu Falle kommst und Juda mit
dir?“ — ließ Joas Amazia sagen. Allein Amazia ließ sich durch
die Mahnung nicht zurückhalten und führte seine Truppen gegen
den israelitischen König. Bei Bet-Semes kam es zu einer Schlacht
zwischen den Judäern und den Israeliten. Die Judäer erlitten eine
Niederlage, Amazia selbst wurde gefangengenommen. Das israeli-
tische Heer rückte bis nach Jerusalem vor und zerstörte einen Teil
der Stadtmauer. Nachdem Joas ein reiches Lösegeld aus den
Schätzen des Jerusalemer Tempels und Palastes ausgehändigt worden
war, gab er Amazia frei und kehrte nach Samaria zurück. Diese
Niederlage, die Amazia durch seinen Leichtsinn verschuldet hatte,
erregte einen starken Unwillen in der Bevölkerung Jerusalems
gegen den König. Lange gärte es in den Tiefen der Volksseele,
bis schließlich die Unzufriedenheit zum Durchbruch kam. Amazia
ereilte dasselbe Schicksal, dem auch sein Vater zum Opfer gefallen
war. Jerusalem geriet in hellen Aufruhr, der König floh nach
Lakis, wurde aber von den Aufrührern eingeholt und ermordet.
Als gesetzmäßiger Thronerbe wurde der sechzehnjährige Königs-
sohn Asarja oder Usia anerkannt.
i84
§ 41, Jehoasch, Amazia und Usia in Juda
Die langjährige Regierung Usias (um 782—740 x)) war für
Juda eine Zeit der äußeren Machtentfaltung und des inneren
Wohlstandes. Dem neuen König gelang es bald, die Wunden zu
heilen, die seine eines gewaltsamen Todes gestorbenen Vorgänger
dem Staate geschlagen hatten. Um das Reich vor feindlichen Über-
fällen zu schützen, vermehrte der König (dem Bericht der späteren
„Chronik“ zufolge) seine Streitmacht und baute einige Festungen
in den Grenzmarken. Er stellte den unter Amazia zerstörten Teil
der Jerusalemer Stadtmauer wieder her, ließ Türme erbauen und
stellte dort Steine und Feuer schleudernde Geschütze auf. Die
judäischen Krieger wurden mit neuen Speeren, Schilden und Helmen
ausgerüstet; auch wurde die Zahl der von Ägypten bezogenen Streit-
wagen und Rosse bedeutend vermehrt. Alle diese Rüstungsmaß-
nahmen waren nicht gegen das zu jener Zeit mächtig gewordene
israelitische Reich gerichtet, mit dem Juda das ehemalige Bündnis
wieder erneuerte, sondern gegen die kleinen südlichen und west-
lichen Fürstentümer, die das Land durch ihre Einfälle belästigten.
So vollendete Usia den Sieg seines Vaters über die Edomiter, indem
er den Hafen Elat am Roten Meere zurückeroberte. Dies er-
möglichte den Judäern die Wiederaufnahme des überseeischen, seit
dem Tode Josafats brachliegenden Handelsverkehrs mit den Häfen
des arabischen Meerbusens. Eine spätere Überlieferung berichtet,
daß Usia auch den Philistern und Arabern, die das Land von Westen
und von Süden her überfielen, mehrere Niederlagen beigebracht
habe. Den Philistern gewann er mehrere Städte ab, darunter auch
Asdod. Zugleich förderte der König, der selbst große Landbesitz-
tümer in verschiedenen Gegenden seines Reiches sein eigen nannte,
die Entwicklung von Landwirtschaft und Gewerbe. Auch unterhielt
1) In der biblischen Urkunde ist der Hinweis auf die Gleichzeitigkeit der
Regierungen Amazias und Usias in Juda und andererseits Jehoaschs und Jero-
beams II. in Samaria unklar und widerspruchsvoll (vgl. II. Kön. i4, 17—20
und i5, 2). Daher sind die mit der allgemeinen chronologischen Ordnung nicht
übereinstimmenden und übertriebenen Angaben über die Dauer der Regierungen
Amazias (29 Jahre) und Usias (Ö2 Jahre) durchaus nicht genau zu nehmen. Die
Übertreibung hinsichtlich der Dauer der Regierung Usias rührt vielleicht daher,
daß sie die zehnjährige Regentschaft des Thronerben Jotam während der Krankheit
seines Vaters (s. unten) miteinbegreift. Die in unserem Text angeführten, aller-
dings nur annähernd richtigen chronologischen Daten sind mit dem an den
assyrischen Annalen verglichenen Synchronismus der Königsbücher in Überein-
stimmung gebracht. S. Anhang, Note 5.
Die Jehuiden in Samarien und der Kampf der beiden Reiche
Juda um diese Zeit rege Handelsbeziehungen zu Phönizien mid
Ägypten. Luxuswaren aus diesen beiden Kulturländern überfluteten
das kleine Juda und verlockten die Bevölkerung zu Prunksucht
und Verschwendung. „Sein Land war voll Silber und Gold, —
so spricht der zeitgenössische Prophet (Jesaja) — unzählbar sind
seine Schätze, sein Land war voll Rosse, unzählbar sind seine
Wagen.“
Auf diese glücklichen Zeiten werfen jedoch einige traurige
Ereignisse ihre dunklen Schatten. So wurde das Land während
der Regierung Usias von schweren Katastrophen heimgesucht: ein
heftiges Erdbeben, das durch ganz Palästina ging, zerstörte viele
Ansiedlungen in Juda und brachte viele Menschen ums Leben,
Dürre und Heuschreckenplage versetzten der Landwirtschaft einen
harten Schlag1). In der zweiten Hälfte der Regierung Usias kam
es wieder einmal zu einem Zusammenstoß zwischen König und
Priesterschaft, wie es auch schon unter seinem Großvater ge-
schehen war. Der König unterfing sich, in den Wirkungskreis
der Tempelpriesterschaft einzugreifen. Eines Tages — so erzählt
die spätere Urkunde — drang Usia in den Jerusalemer Tempel
ein, um auf dem Altar Räucherwerk darzubringen, was von Rechts
wegen nur den Priestern allein zukam. Der Oberpriester und die
anderen geistlichen Würdenträger verlangten, daß der König den
Tempel verlassen und von seinem Vorhaben Abstand nehmen solle.
Allein Usia schenkte ihnen kein Gehör und trat an den Räucher-
altar heran. Plötzlich merkten die Hofleute, daß die Stirn des
Königs aussätzig wurde. Der Aussätzige entfernte sich sogleich
aus dem Tempel. Das Volk erblickte aber hierin eine Strafe Gottes
für die Entweihung des Heiligtums. Vom Aussatz befallen, mußte
Usia seine letzten Lebensjahre an einem abgeschiedenen Wohnorte
verbringen, Avährend sein Sohn und Thronerbe Jotam statt seiner
den Staat verwaltete.
Jotam (um 740—735 * 2)) verfolgte die gleichen Ziele wie sein
Vater. Unter ihm wurde die Befestigung Jerusalems, insbesondere
*) Hinweise auf diese Elementarereignisse sind in den Büchern der Propheten
verstreut: Amos 1, 1 u. l\, 6f.; Sach. i4, 5.
2) Der alte Chronist rechnet mit einer sechzehnjährigen Regierungsdauer
Jotams, die aber anscheinend auch die 10—11 Jahre seiner Regentschaft zu
Lebzeiten seines Vaters rniteinschließt.
186
§ 42. Die Blütezeit Samariens. Der Prophet Amos
des oberen Stadtviertels, wo sieb der Tempel befand, noch weiter
geführt; auch wurden Kastelle und Türme in den Provinzstädten
errichtet. Dem Berichte des späteren Chronisten zufolge unterwarf
Jotam die Ammoniter und nahm ihnen mehrere Jahre lang einen
Tribut ab, der aus Geld und Getreide bestand. Jedoch am Ende
seiner Regierung tauchte am politischen Horizonte des Orients
eine Macht auf, die für alle syrisch-palästinischen Reiche eine
gleich schwere Gefahr bedeutete: es war dies der assyrische Er-
oberer Tiglatpileser III., der mit der Gewalt seiner Waffen die
„westlichen Länder“ an der Mittelmeerküste bedrohte. Stürmische
Zeiten standen nunmehr dem bisher friedlichen Juda bevor (s.
unten, § 44).
§ 42. Jeroheam II. und die Blütezeit Samariens. Der Prophet Amos
Nach langen Jahren der Wirren und der verheerenden Kriege
kam auch das nördliche Reich für eine Zeitlang zur Ruhe. Die
vierzigjährige Regierung Jeroheams II. (781 — 74o), des Zeit-
genossen des judäischeji Königs Usia, bildete nach außen hin
die glänzendste Periode in der Geschichte des israelitischen Reiches.
Die beiden Bruderreiche lebten zu jener Zeit in Frieden miteinander;
sie wurden sich der Zwecklosigkeit des noch unter den Königen
Amazia und Joas geführten Kampfes endlich bewußt. Auch gegen
seinen Erzfeind Aram hatte sich das israelitische Reich gesichert.
Jerobeam bezwang nicht nur die benachbarten Aramäer von Da-
maskus, sondern auch ihre Stammesgenossen in Hamat, an der
Grenze Mesopotamiens. Als Sieger zog er in Damaskus ein und
brachte die ehemaligen Bedrücker gänzlich unter seine Botmäßig-
keit. Durch die Einfälle ihrer mächtigen Nachbarn, der Assyrer,
geschwächt, vermochten die Aramäer den Israeliten nicht stand-
zuhalten und waren gezwungen, ihnen alle bisher eroberten trans-
jordanischen Städte zurückzuerstatten. Mit gleichem Erfolg be-
kriegte Jerobeam in Transjordanien die Moabiter und andere feind-
liche Völkerschaften1). Der Prophet Jona ben Amitthai aus Gat-
*) Aus Amos (6, i3) ist zu ersehen, daß die Israeliten zu jener Zeit auf
die Eroberung der moabitischen Städte Karnaim und Lodebar stolz waren. Auf
diesen Feldzug mögen sieb vielleicht auch die Kapitel i5—16 des Buches des
Propheten Jesaja beziehen, wo das traurige Los des verwüsteten Moab zur Dar-
stellung kommt.
187
Die Jehuiden in Samarien und der Kampf der beiden Reiche
Hepher spornte den König zu diesen Feldzügen an, die die Wieder-
' Herstellung des israelitischen Reiches in seinen alten Grenzen zum
Ziele hatten. Infolge der Siege Jerobeams, erstreckte sich das
israelitische Reich wie ehedem vom Libanongebirge bis zum Toten
Meere oder nach dem biblischen Ausdruck „vom Weg nach Hamat
bis zum Steppenmeere“ („Jam ha’araba“).
Vor den Einfällen der Nachbarn gesichert, konnte sich nun-
mehr die Revölkerung des israelitischen Reiches ungestört der
friedlichen Arbeit hingeben. Der Handel mit den phönizischen
Städten und den fernen Ländern trug zur Rereicherung des Staates
bei. Paläste der Reichen schmückten Samaria; der Luxus fand in
der Hauptstadt noch mehr Verbreitung als zu den Zeiten Isebels und
Ahabs. Der König Jerobeam II. besaß zwei Paläste: eine Winter-
und eine Sommerresidenz. Die Reichen und Vornehmen ließen
sich Wohnhäuser aus glatten Quadersteinen mit Elfenbein Ver-
zierungen erbauen. In den Gemächern saßen sie bei fröhlichen
Gelagen und ihre Weiber spielten bei dieser schwelgerischen
Lebensführung die Hauptrolle. Doch zugleich mit dem Reichtum
der oberen Klassen kommt auch die Armut der arbeitenden Massen
immer mehr zum Vorschein. Die allzu große wirtschaftliche Un-
gleichheit brachte die üblichen Folgeerscheinungen im sozialen
Leben mit sich. Viele erwarben ihren Reichtum durch Retrug und
Gewalttätigkeit, durch Bedrückung der Schwachen und Beraubung
der Armen. Die Reichen liehen den Armen ihr Geld zu Wucher-
zinsen, und die säumigen Schuldner wurden von den unbarm-
herzigen Gläubigern ihrer letzten Habe beraubt oder gar zu Sklaven
gemacht. In Jahren des Mißwachses trieben die Reichen auch
Getreidewucher; falsches Maß und Gewicht herrschte im Handel.
Die Richter und Vögte standen aber den Starken, nicht den
Schwachen zur Seite: sie ließen sich von den Bedrückern bestechen
und hörten nicht auf die Klagen der Bedrückten. Die Sitten
wurden immer verderbter und zugleich lockerten sich auch die
religiösen Bindungen immer mehr.
Neben dem politischen Mittelpunkte des Reiches, Samaria,
spielte auch der alte religiöse Mittelpunkt Betel eine wichtige
Rolle. Dort befand sich der Haupttempel des israelitischen Reiches
mit einem großen Opferaltar und einer zahlreichen Priesterschaft.
An den Festtagen kamen der König und die Würdenträger in die
188
§ 42. Die Blütezeit Samariens. Der Prophet Amos
heilige Stadt, um der Opferzeremonie beizuwohnen; daher wurde
auch der Betel-Tempel das „königliche Heiligtum“ („Mikdas
meleah“) genannt. Der Opferkultus drängte die unmittelbare
Äußerung des religiösen Gefühls zurück. Daneben hatte sich noch
der alte Volkskultus des Goldenen Kalbs als Darstellung Jahves
erhalten; und auch Überreste des kanaanitisch-phönizischen Baal-
und Astartekultus, um dessen Ausrottung sich früher Jehu bemüht
hatte, waren im Volke noch immer lebendig. Eine ganze Reihe
von Heiligtümern mit gemischtem Kultus gab es auch noch in
Samaria, Dan, Gilgal, Mizpa und dem transjordanischen Gilead.
Die im Dienste der Tempel und Altäre stehenden Priester waren
weit davon entfernt, wahre Seelsorger zu sein: bei der Ausübung
ihres Priesterberufes waren sie oft nur auf Geldgewinn erpicht und
gingen in sittlicher Hinsicht mit schlechtem Beispiel voran.
Gegen die Verderbtheit der oberen Klassen und der offiziellen
Priesterschaft trat mit feurigen Predigten der Prophet Amos auf,
einer der ersten Propheten, deren Reden in schriftlicher Form an
uns gelangt sind. Aus Tekoa, einem judäischen Städtchen bei
Bethlehem, gebürtig, lebte Amos dort als ein friedlicher Landmann
und Viehzüchter. Unbekannt sind uns die Umstände, die ihn aus
dieser friedlichen Lebensführung heraus nach dem an der judäi-
schen Grenze gelegenen Betel, der geistigen Hauptstadt des israeli-
tischen Reiches, führten. Hier bekam der judäische Landmann,
in dem ein urwüchsiger Denkergeist lebendig war, die Verirrungen
und Laster zu Gesicht, die in den oberen Bevölkerungsschichten
Wurzel gefaßt hatten, und sein Herz empörte sich. Was ihn be-
sonders mit Entrüstung erfüllte, war die Verschwendungssucht der
Reichen, die Bestechlichkeit der Beamten und die politische Kurz-
sichtigkeit der Staatslenker, die sich in der nun eingetretenen
Friedensperiode ausschließlich dem Genuß und der Sorglosigkeit
liingaben, ohne dem von Assyrien heraufziehenderi Kriegsgewitter
auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Mit glühen-
der Beredsamkeit geißelt Amos in seinen öffentlichen Reden die
Laster der oberen Schicht der israelitischen Gesellschaft. Er weist
auf die gefährlichen Zersetzungssymptome im Staatsleben hin, das
von außen gesehen so glanzvoll erschien. Er fand den Mut, voraus-
zusagen, daß großes Unheil über das Land und das Königshaus
kommen müsse, wenn die soziale Ordnung keine Änderung erfahre.
189
Die Jehuiden in Samarien und der Kampf der beiden Reiche
Den diensteifrigen Patrioten, die auf die Erweiterung der Grenzen
des israelitischen Reiches „von Hamat bis Araba“ so stolz waren,
erwiderte er: „Schon lasse ich wider euch, ihr Israeliten — so
spricht Jahve — ein Volk auf treten, das soll euch bedrängen vom
Zugang nach Hamat bis zum Tal der Araba.“ Den Priestern von
Betel behagten die Reden des ungebetenen Weissagers sehr wenig.
Einer von ihnen, Amazia, hinterbrachte dem König Jerobeam, daß
der Judäer Arnos das Volk gegen die Obergewalt aufwiegele und
durch Voraussagung eines baldigen Unterganges des Staates die
Gemüter in Erregung versetze. Der Priester forderte Arnos auf,
Betel unverzüglich zu verlassen, in sein heimatliches Juda zurück-
zuwandern und dort nach Belieben seine Prophetie zu treiben. „Aber
in Betel — so sprach er zu Arnos — darfst du fortan nicht mehr
auf treten; denn dies ist ein königliches Heiligtum und ein Hof-
tempel.“ Arnos aber versetzte: „Ich bin weder ein Prophet noch
ein Prophetenschüler, sondern ein Schafzüchter bin ich und ziehe
Maulbeer feigen. Aber Jahve hat mich hinter der Herde weggeholt
und Jahve sprach zu mir: Gehe hin, tritt gegen mein Volk Israel
als Prophet auf!“ Arnos predigte mit der Begeisterung eines Men-
schen, der überzeugt ist, daß Gottes Geist aus seinem Munde redet.
„Der Löwe hat gebrüllt, — so rief er aus — wer sollte sich nicht
fürchten? Jahve hat geredet — wer müßte nicht Prophet werden?“
Arnos hatte das Vorbild des Elias, des furchtlosen Anklägers, vor
sich; allein zum Unterschiede von seinem Vorgänger war er mehr
ein Mann des Wortes als der Tat.
Arnos stand nicht allein in seiner geistigen Opposition: ihm zur
Seite stellte sich der Prophet Hosea, der die „Sünden Samarias“
in noch schärferer Weise geißelte; jedoch die Wirksamkeit Hoseas,
die in der ruhigen Periode Jerobeams II. ihren Anfang nahm, er-
reichte ihren Höhepunkt in der Zeit der Wirren, die auf den Tod
dieses Königs folgten und die dem Untergange des Reiches Israel
unmittelbar vorausgingen (§ 43). Die Reden des Arnos und Hosea,
in denen sich eine umfassende religiös-sittliche Weltanschauung
offenbart, eröffnen eine neue Ära in der Geschichte der geistigen
Entwicklung des israelitischen Volkes1).
*) Über den Prophetismus s. unten, § 49-
Viertes Kapitel
Der Einbruch Assyriens und der Untergang*
des nordisraelitischen Reiches
(740—720)
§ 43. Der Kampf um die Krone und die Einmischung Assyriens.
Der Prophet liosea
Die langjährige Regierung Jerobeams II. war der letzte ruhige
Zeitabschnitt in der Lebensgeschichte des israelitischen Reiches.
Dem Tode Jerobeams folgte von neuem eine Zeit der Wirren. Die
gewaltsame Beseitigung der Dynastien, dieses Erbübel des nördlichen
Reiches, wurde wieder zu einer gleichsam alltäglichen Erscheinung.
Der Sohn Jerobeams II., Zacharja, regierte nur sechs Monate. Ein
gewisser Schallum zettelte eine Verschwörung gegen den König an
und ermordete ihn. Mit dem Tode Zacharjas erlischt die Dynastie
der Jehuiden, die fast hundert Jahre lang den Thron fest in der
Hand gehabt hatte. Diese Dynastie, die inmitten des Kriegslärmes
den blutüberströmten Thron der Omriden bestiegen hatte, mußte
ihn gleichfalls infolge eines blutigen Umsturzes verlassen, am Vor-
abend neuer, noch gefährlicherer innerer und äußerer Wirren.
Ehrgeizige Emporkömmlinge machten das Land zu einem Schau-
platz unausgesetzter Kämpfe um die Königskrone. Ehe noch der
Usurpator Schallum die Früchte seiner Gewalttat ernten konnte,
wurde er von einer anderen Partei abgesetzt, deren Haupt Menahem
hen Gadi aus der Stadt Tirsa war (um 740—786 1)). Von Tirsa
begab sich Menahem nach Samaria, wo ein Teil der Bevölkerung
ihn zum Könige ausrief. Der größere Teil des Volkes war jedoch
1) Über die chronologischen Daten vgl. Anhang, Note 5.
Der Untergang des nordisraelitischen Reiches
gegen Menahem, was notwendigerweise zu einem Bürgerzwist führen
mußte. Die Einwohner der Stadt Tipsah (Tapuah) weigerten sich,
den Usurpator einzulassen. Daher belagerte Menahem die Stadt,
besetzte sie und metzelte alle Einwohner nieder, ohne sich sogar
der schwangeren Frauen zu erbarmen. Schon griff der Bürgerkrieg
mit allen seinen Schrecken immer weiter um sich, als die dröhnen-
den Schritte des reichezermalmenden Assur dem Zwist im Landes-
inneren für eine Zeitlang Einhalt geboten.
Längst schon war das dumpfe Getöse der assyrischen Heer-
scharen, bisher von dem Lärm der immer wieder ausbrechenden
Kriege mit Aram übertönt, bis in das israelitische Reich gedrungen.
Im Laufe eines ganzen Jahrhunderts hatte Aram unter dem un-
mittelbaren Anprall der vorwärtsdrängenden assyrischen Macht zu
leiden, den Israel aber nur indirekterweise zu spüren bekam, indem
seine Könige sich von Zeit zu Zeit veranlaßt sahen, die Gebieter
Assurs durch Tribut zu besänftigen (oben, §§ 35, 4o). In der Mitte
des VIII. Jahrhunderts gelangt Assyrien zur höchsten Machtent-
faitung. Eine Gefahr für ganz Asien droht von den Ufern des
Tigris, aus Ninive, der Hauptstadt der assyrischen „Großkönige“:
dort wird das Schicksal der kleinen Staaten entschieden, die auf
dem Wege der siegreichen Weltmacht liegen, von Mesopotamien
zu den Ufern des Mittelmeeres. Nachdem die Assyrer nach
Babylonien auch das ganze übrige Mesopotamien wie auch den
größten Teil Syriens unterworfen hatten, wandten sie sich nun
gegen Palästina. Von allen syrisch-palästinischen Grenzländern
hatten sie bereits Besitz ergriffen mit Ausnahme von Damaskus,
mit dem sie schon lange auf Kriegsfuß standen, und von
dem reichen Küstenland Phönizien, auf das sie gleichfalls ihre
Blicke lenkten. Sodann sollten das israelitische und das judäische
Reich an die Reihe kommen und damit der Weg freigelegt werden
zum Endziel der assyrischen Machtgelüste, zu dem alten Rivalen
Mesopotamiens: Ägypten. Die assyrischen Machthaber nannten sich
„Großkönige“ und gingen darauf aus, die ganze Welt ihrem Willen
untertänig zu machen; in weitausholenden Feldzügen und Er-
oberungen erblickten sie das eigentliche Wesen der königlichen
Gewalt. Die assyrischen Krieger galten überall als unbesiegbar.
Der zeitgenössische Prophet (Jesaja) schildert in folgenden Worten
den assyrischen Krieger: „Da rücken sie eilends, schnell ein. Kein
192
§ 45. Der Kampf um die Krone und die Einmischung Assyriens
Müder und kein Strauchelnder ist darunter; sie schlummern und
schlafen nicht. Nicht löst sich der Schurz ihrer Lenden, nicht
zerreißt der Riemen ihrer Schuhe. Ihre Pfeile sind geschärft und
alle ihre Bogen sind gespannt. Die Hufe ihrer Rosse sind wie
Kiesel, und die Räder ihrer Wagen wie der Wirbelwind. Ein
Gebrüll haben sie wie der Löwe, der knurrt und packt den Raub
und schleppt ihn fort — niemand rettet.“ Die Assyrer waren Er-
oberer von Beruf und ihre gesamte Kultur war vom Geiste des
Krieges und der Gewalttätigkeit durchdrungen.
Als Menahem in Samaria den Thron bestieg, unternahm der
mächtigste der assyrischen Könige, der Unterwerfer Babyloniens,
Tiglat-Pileser oder Pul, einen Feldzug nach Syrien und unterwarf
dort das kleine aramäische Fürstentum Arpad (740). Zuvor warf er
noch die Armenier aus dem kleinasiatischen Reiche Urartu (Ararat)
von Syrien zurück, mit denen die Aramäer ein Bündnis eingegangen
waren. Das in Schrecken versetzte Damaskus und die anderen
Fürstentümer Syriens und Palästinas kauften sich von dem Ein-
dringen der Assyrer durch schwere Tribute los. Unter den Tribut-
zahlenden befand sich auch Menahem, der König von Israel1). Die
Unterwürfigkeit Menahems mag wohl durch seine schwierige inner-
politische Lage zu erklären sein. Ein Usurpator, der das Volk
durch seine Grausamkeit in Erregung versetzte, war er zwischen
zwei Feuer geraten: zwischen den ihm feindlich gesinnten Teil der
Bevölkerung im Landesinneren und den äußeren Feind. Er zog
es vor, beim Feinde Hilfe zu suchen. Durch schweres Lösegeld
gelang es ihm, den Assyrerkönig dazu zu bewegen, das Land in
Frieden zu lassen und seine eigenen Machtansprüche zu unter-
stützen. Es war dies der erste Schritt zur Anerkennung der Ober-
1) In den assyrischen Annalen ist unter dem Jahre 788 bei der Aufzählung
der dem Assyrerkönig tributdarbringenden Könige neben Hiram von Tyrus und
Rassuna (Rezin, Rason) von Damaskus auch Menahem von Samarien (Menihimme
Samarinaai) erwähnt. Der in den gleichen Annalen unter den unterworfenen
Herrschern mitaufgezählte Asriau aus Jaudi gibt uns ein Rätsel auf. Es ist
kaum anzunehmen, daß hier von Asarja (Usia) die Rede ist, obwohl das Ende
seiner Regierung zeitlich mit dem Beginn der Feldzüge Tiglat-Pilesers nach Syrien
zusammen fällt: die biblische Urkunde hätte einen derartigen Einfall Assyriens
nicht mit Schweigen übergehen können, und außerdem lag ja Juda ganz abseits
vom Wege des Eroberers. Man nimmt deshalb an, daß Jaudi der Name einer
syrischen Gegend in der Nähe von Hamat sei. Vgl. die in der Bibliographie zu
diesem Paragraphen angeführten Quellen.
13 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
193
Der Untergang des nordisraelitischen Reiches
hoheit Assyriens über Israel. Um die Tributsumme, die sich auf
1000 Talente Silber belief, aufzubringen, legte Menahem der wohl-
habenden israelitischen Bevölkerung eine besondere Kopfsteuer von
je 5o Schekel auf.
Der baldige Tod Menahems setzte seiner Regierung ein rasches
Ende. Die Dynastie dieses unpopulären Königs erlosch schon mit
seinem Sohne Pekachja, der nur zwei Jahre regierte und einer Ver-
schwörung zum Opfer fiel. An der Spitze der Verschwörung stand
Pekach ben Remalja, der Wagenlenker des Königs. Mit Hilfe von
5o Gileaditen, anscheinend seinen Landsleuten, ermordete Pekach
den König Pekachja in seinem Palast zu Samaria und bestieg selbst
den Königsthron (735). Die Partei, die Pekach zum Throne ver-
helfen hatte, billigte die assyrienfreundliche Politik Menahems
nicht. Sie war im Gegenteil darauf bedacht, im Bunde mit den
von Assyrien bedrückten Völkern, mit den Aramäern und Phöni-
ziern, den Kampf mit diesem Raubstaate aufzunehmen und sein
Joch abzuschütteln. Auch das judäische Reich wollten Pekach und
seine Anhänger in die Koalition gegen Assyrien miteinbeziehen,
ebenso Ägypten, denn auch den Pharaonen war viel daran gelegen,
daß Palästina, der Schlüssel zum ägyptischen Reiche, nicht in die
Hände der Assyrer gerate. So wurde der politische Knoten immer
fester geschürzt und die Verwirrung immer größer. Der Augen-
blick des entscheidenden Kampfes und der endgültigen Katastrophe
kam in greifbare Nähe.
In dieser unruhvollen Zeit wirkte im israelitischen Reiche der
Prophet Hosea ben Beeri mit glühenden Mahnworten. Der Beginn
seiner Wirksamkeit fällt noch in die letzten Regierungsjahre Jero~
beams II. Gleich seinem Vorgänger Arnos sah auch Hosea hinter der
glänzenden Außenseite dieser Regierungsperiode die Anzeichen der
inneren Zersetzung. Er sagte den Sturz der Jehuidendynastie vor-
aus, der noch zu seinen Lebzeiten unter Zacharja, dem Sohne Jero-
beams, zur Tatsache wurde. Es ist wohl möglich, daß Hosea, der
den Regierungskreisen Samarias nahestand, von der geplanten dyna-
stischen Umwälzung unterrichtet war. Im Sturz der Jehuiden er-
blickte der Prophet das Walten der höchsten Gerechtigkeit; eine
Dynastie, die aus dem Blutbad in Jesreel entstanden war, die das
ganze Geschlecht Ahabs ausgerottet hatte, mußte selbst in Blut-
strömen untergehen („Ich will die Blutschuld von Jesreel an Jehus
§ 44. Der Verlast der nördlichen Provinzen
Familie heimsuchen“ — Das Buch Hosea i, 4)* Der Prophet war
Zeuge mehrerer Umwälzungen. Der Bürgerkrieg im israelitischen
Reiche, der häufige Wechsel der Könige, die von den kämpfenden
Parteien auf den Thron gebracht und dann wieder gestürzt wurden
(Schallum, Menahem, Pekachja, Pekach), die große assyrische Ge-
fahr und der durch sie bewirkte politische Zwiespalt, alle diese
Ereignisse fanden in den leidenschaftlichen Reden Hoseas ihren
Widerhall. Voll Bitterkeit spricht er von den Königen Samariens,
die wie „ein Splitter auf der Wasserfläche“ auftauchen, und von
der „Bürde der Könige und Fürsten“. „Ich gebe dir einen König
in meinem Zorn und nehme ihn in meinem Grimm“ — so kündet
der Prophet im Namen Gottes. In grellen Farben schildert er auch
die Ratlosigkeit der regierenden Kreise und der politischen Führer
in jener verhängnisvollen Zeit. „Und Ephraim benahm sich wie
eine Taube, eine einfältige, hirnlose: die Ägypter haben sie herbei-
gerufen, sind nach Assur gezogen“ . . . Der Prophet ahnte, daß
dieses politische Hin- und Herschwanken den Untergang des israeli-
tischen Reiches nach sich ziehen würde, und diese Ahnung wurde
gar bald zur traurigen Wirklichkeit. Hosea war es beschieden, die
Todesqualen seiner Heimat mitzuerleben.
§ 44. Das Bündnis gegen Assyrien und der Verlust der nördlichen
Provinzen des israelitischen Reiches
Um jene Zeit (j35—734) begannen die Völker Syriens und
Nordpalästinas Bündnisse miteinander gegen ihren gemeinsamen
Bedrücker, den „Großkönig“ Assyriens, einzugehen. An der Spitze
eines dieser Bündnisse standen der aramäische König Rezin
(Rassuna) von Damaskus und Pekach ben Remalja von Israel,
die Herrscher jener beiden Reiche, die ehedem jahrhundertelang
in Hader miteinander gelegen hatten. Ihnen schlossen sich die
Hauptstädte Phöniziens, Tyrus und Sidon, an, während die süd-
palästinischen Staaten, Juda, Moab, Ammon u. a., sich dem Bunde
fernhielten. Die nächste Aufgabe der Häupter der Koalition bestand
infolgedessen darin, Juda für ihre Sache zu gewinnen.
Im judäischen Reiche hatte die assyrische Gefahr schon gegen
Schluß der Regierung Jotams (§ 4i) Befürchtungen erweckt; je-
doch ernstlich hatte mit ihr erst sein Sohn und Nachfolger Alias
195
13*
Der Untergang des nordisraelitischen Reiches
(eine Abkürzung des Namens Joahas, 735—720) zu rechnen. Der
junge König, der sich weder durch Kriegstüchtigkeit noch durch
politische Weitsicht auszeichnete, stand vor der Entscheidung der
schwierigen Frage, ob er an dem Bunde der syrisch-palästinischen
Fürsten gegen Assyrien teilnehmen und so Juda in den gefähr-
lichen Krieg mit der Weltmacht mithineinziehen solle. Sein Selbst-
erhaltungstrieb hielt ihn, trotz der nachdrücklichen Aufforderungen
Rezins und Pekachs, von der Teilnahme an der Koalition zurück.
Dieser Verzicht auf den Kampf mit Assyrien mußte aber bei Ahas
notwendigerweise zur Anerkennung der Oberhoheit des „Groß-
königs“ führen und ihn infolgedessen zwingen, den Assyrern gegen
die Verbündeten Vasallenhilfe zu leisten. Aus diesem Grunde be-
trachteten Rezin und Pekach die Weigerung des judäischen Königs,
ihrem Bündnis beizutreten, als einen gegen sie gerichteten unfreund-
lichen politischen Akt. Sie rückten daher mit ihren Truppen gegen
Jerusalem vor. In der Hauptstadt Judas teilte sich die Bevölkerung
in verschiedene Parteien: die einen waren für den Anschluß an die
antiassyrische Koalition, die anderen verharrten in ihrer Gegner-
schaft gegen die Koalition, und die dritten waren sogar bereit, dem
assyrischen König ihre Unterwürfigkeit spontan zu bezeugen. Die
Kriegspartei plante den Sturz Ahas’ und wollte mit Hilfe der Ver-
bündeten einen gewissen Ben-Tabel auf den Thron bringen. Das
Herannahen der verbündeten Könige versetzte Ahas und seine
Würdenträger in große Erregung „und ihre Herzen erbebten —
wie der zeitgenössische Prophet sich ausdrückt —, wie die Bäume
des Waldes vor dem Winde erbeben“. Die Not wurde noch durch
Volksunruhen erhöht, die gerade zu jener Zeit im Süden des
Reiches ausbrachen. Die Edomiter, die von jeher Juda tribut-
pflichtig gewesen waren, nützten nun seine schwierige Lage aus,
um mit Hilfe der aramäischen Truppen Rezins von dem Hafen
Elat am Roten Meere, dem Ausgangspunkte des judäischen See-
handels, Besitz zu ergreifen. Inzwischen verheerten die aramäisch-
israelitischen Verbündeten (einem nachträglichen Bericht des Ver-
fassers der „Chronik“ zufolge) das judäische Land: Pekach brachte
von dort viele Gefangene und eine reiche Beute mit nach Samaria,
und nur auf die inständigen Mahnungen des samaritischen Pro-
pheten Oded hin gaben die ephraimitischen Heerführer ihre ge-
fangenen Stammesbrüder wieder frei. Von Feinden umringt, geriet
196
§ 44. Der Verlust der nördlichen Provinzen
Ahas in größte Verlegenheit. Um aus seiner verzweifelten Lage
irgendwie herauszukommen, unterwirft er sich dem assyrischen
Großkönig. Er schickt — wie die bilderreiche Schilderung der
Königsbücher berichtet — Gesandte zu Tiglat-Pileser und läßt
ihm so sagen: „Dein Knecht und dein Sohn bin ich. Ziehe herauf
und befreie mich aus der Hand des Königs von Aram und aus
der Hand des Königs von Israel, die mich angegriffen haben.“
Zugleich händigten die judäischen Gesandten dem assyrischen Ge-
bieter große Gold- und Silberschätze ein, die ihm Ahas als Ge-
schenk oder Tribut übersandte*). Der assyrische König war mit
der Unterwerfung Ahas', der sich den Feinden Assyriens nicht nur
nicht anschloß, sondern im Gegenteil demütig um seinen Beistand
flehte, durchaus zufrieden. Unverzüglich brach er mit seinen zahl-
reichen Truppen in die Länder seiner aufrührerischen Vasallen
Rezin und Pekach ein (734)-
Als die Verbündeten von dem Eindringen der Assyrer in ihre
Reiche Kunde erhielten, verließen sie Juda und kehrten schleunigst
in ihre Länder zurück. Allein es war schon zu spät: Tiglat-Pileser
hatte bereits Damaskus belagert. Nachdem er sich nach einem hart-
näckigen Kampfe der Hauptstadt Arams bemächtigt hatte, vertrieb
er die Einwohner in die assyrische Provinz Kir; der König wurde
gefangengenommen und umgebracht. Mit der Eroberung von Da-
maskus hatten die Assyrer die gesamten aramäischen Fürstentümer
Syriens unter ihre Gewalt gebracht. Aram wurde Assyrien ein-
verleibt und büßte späterhin sogar seinen Namen ein, der mit der
geographischen Bezeichnung Syrien verschmolz. Hernach drang
Tiglat-Pileser in das israelitische Reich ein und eroberte im Norden
den Gau Galil oder Galiläa, wo sich die Landanteile der nördlichen
Stämme (Naftali u. a.) befanden, und im Osten das ganze Gilead,
den Landbereich der transjordanischen Stämme. Diese Länder
wurden dem besetzten Gebiet von Damaskus zugewiesen, während
die Einwohner in entlegene Gegenden Assyriens weggeschleppt
wurden (734—733 1 2)).
1) In einer assyrischen Inschrift jener Zeit (auf einer Tontafel) wird unter
den Tributpflichtigen Assyriens auch Joahas aus Juda (Jauhasi iadaai) erwähnt.
Zugleich werden hier auch die Nachbarkönige von Moab, Ammon, Edom, Askalon,
Gaza u. a. miterwähnt.
2) In den assyrischen Annalen werden unter dem Jahre 733 die Heldentaten
Tiglat-Pilesers in den Westländern mit folgenden Worten verherrlicht: ,,Seine
*97
Der Untergang des nordisraelitischen Reiches
So ging das israelitische Reich mit einem Male seiner nörd-
lichen und östlichen Gebiete verlustig. Pekach behielt nur noch
den Landbereich Ephraims in seiner Hand,- d. h. den Mittelpunkt
des Landes, wo sich die Hauptstadt Samaria befand. Dieses noch
selbständig gebliebene Gebiet sah sich gezwungen, die Oberhoheit
des assyrischen Königs anzuerkennen und ihm Tribut zu entrichten.
Darum war das Volk gegen Pekach aufgebracht, der durch seinen
Aufstand solches Elend über das Land herauf beschworen hatte.
Es bildete sich eine Verschwörung gegen den König, an deren
Spitze Hosea ben Ela stand; dieser ermordete Pekach und bestieg
mit Hilfe der Assyrer den israelitischen Thron (733). Der neue
König gelobte Assyrien Vasallentreue 1).
Nach seinen Siegen in Palästina und Syrien lebte Tiglat-Pileser
zeitweilig in dem von ihm eroberten Damaskus. Hier nahm der
stolze Gebieter Asiens die Huldigungen und Geschenke der palästi-
nischen Fürsten entgegen, die ihm ihre Vasallentreue bezeugten.
Zu diesen Vasallen, die dem assyrischen König ihre Aufwartung
machten, gehörte auch der judäische König Ahas. Ahas, der frei-
willig die Souveränität Assyriens anerkannt hatte, kam Tiglat-
Pileser mit grenzenloser Demut entgegen und schmeichelte ihm in
jeder Weise. Als König eines winzigen, schwächlichen Reiches sah
er voll Entzücken zu dem „Großkönig“, dem Gebieter der Völker,
auf und bewunderte den Glanz und die Herrlichkeit des Hof-
lebens. In Damaskus lernte Ahas die assyrischen Sitten und reli-
giösen Bräuche kennen, und manches darunter gefiel ihm nur zu
wohl. Der alte judäische Chronist, der das Wohlgefallen Ahas' an
der fremden Lebensführung streng verdammt, erzählt, daß der
König sich den heidnischen Altar, auf dem der assyrische Macht-
haber dem Kriegsgotte Opfer darbrachte, zum Muster nahm. Ahas
sandte aus Damaskus ein Modell oder eine Zeichnung dieses Opfer-
altars dem Oberpriester Uria nach Jerusalem und befahl ihm, da-
selbst einen ähnlichen Altar aufzubauen. Dieser Befehl wurde von
gesamten (des israelitischen Reiches oder Bet-Omris) Städte habe ich auf meinen
früheren Feldzügen zum Gebiete meines Landes gezogen, ihre Einwohner habe
ich in die Gefangenschaft geführt, die Stadt Samaria ihm (dem Könige) allein
übriggelassen.“
*) In der assyrischen Inschrift heißt es: „Pekah, ihren König, stürzten sie
und Hosea (Ausi) setzte ich über sie ein.“
§ 45. Der Untergang Samariens
Uria auch ausgeführt. Der neue Altar wurde im Jerusalemer
Tempelhof an Stelle des ehernen Altars Salomos errichtet, der an
einen anderen Ort gebracht wurde. Nach seiner Rückkehr aus
Damaskus brachte Ahas auf diesem neuen „großen Altar“ selbst
Opfer dar, wie es die assyrischen Könige, die sich als Götter-
eprößlinge betrachteten, zu tun pflegten.
So wurden die nahen Beziehungen zu Assyrien bedrohlich für
die Grundfesten des geistigen Lebens Judas, das bisher von den
Einwirkungen der fremdländischen Kulturen nur wenig berührt
war. In politischer Hinsicht konnte Ahas' assyrienfreundliche Hal-
tung zunächst als zweckmäßig erscheinen, da sie Juda vor dem
furchtbaren Los bewahrte, welches das israelitische Reich betroffen
hatte. Allein damit war zugleich im judäischen Reiche der erste
Schritt zur Anerkennung jener Oberhoheit Assyriens getan, gegen
die der „Rest Israels“ in der nachfolgenden Geschichtsperiode noch
einen schweren Kampf zu bestehen haben wird.
§ 45. Der Untergang Samariens
Nachdem Tiglat-Pileser dem israelitischen Reiche die größere
Hälfte seines Landbereiches genommen hatte, konnte der noch un-
versehrt gebliebene Teil des Staates nur dann fortbestehen, wenn er
sich völlig der Übermacht des assyrischen Gebieters fügte. In der
ersten Zeit ertrugen die Israeliten geduldig das fremde Joch, und
der König Samariens, Hosea (733—725), sandte den festgesetzten
Tribut pünktlich nach Ninive. Nach dem Tode Tiglat-Pilesers (727)
aber setzten in Syrien und Palästina neue Wirren ein. Die Phönizier
in Tyrus, die Philister in Gaza und einige andere Völkerschaften
erhoben sich gegen die „Rute der Völker“. Die aufrührerischen
kleinen Fürstentümer setzten ihre Hoffnungen hauptsächlich auf
den Beistand des großen Rivalen Assyriens: auf Ägypten. Die all-
gemeine Bewegung riß auch den König Hosea mit sich. Er trat
in geheime Beziehungen zu dem ägyptischen König So oder Sewe x)
1) Bis vor kurzem glaubte man annehmen zu dürfen, daß unter diesem
Namen der Pharao Sabakon aus der Äthiopendynastie gemeint sei, allein dieser
war zu jener Zeit noch nicht auf dem Throne. Viel eher ist deshalb zu ver-
muten, daß der biblische So oder Sewe, der ,,König von Mizraim“ (II. Kön.
17, 4), mit dem in den assyrischen Inschriften erwähnten Sibu identisch sei, der
199
Der Untergang des nordisraelitischen Reiches
mit der Absicht, zur Abwehr Assyriens ein Bündnis mit ihm einzu-
gehen. Sich auf den Beistand Ägyptens verlassend, kündigte Hosea
dem Nachfolger Tiglat-Pilesers, Salmanassar V., den alljährlichen
Tribut. AJlein Hosea hatte sich verrechnet: als der über den Abfall
Samarias empörte Salmanassar mit zahllosen Heerscharen in das
israelitische Gebiet eindrang, ließ Ägypten die Israeliten im Stich.
Die Assyrer nahmen eine israelitische Stadt nach der anderen ein,
bis sie schließlich bei Samaria standen und es belagerten. Die
Assyrer wurden bald des Königs Hosea habhaft und warfen ihn
als einen Verräter in den Kerker. Allein die Einwohner Samarias
leisteten dem Feinde weiter verzweifelten Widerstand. Drei Jahre
lang belagerten die Assyrer die gut befestigte israelitische Haupt-
stadt. Erst dem Nachfolger Salmanassars, Sargon (722—721), ist
es gelungen, die Stadt endlich in die Hand zu bekommen.
Nachdem sich der assyrische Eroberer Samariens bemächtigt
hatte, schritt er zur völligen Vernichtung des israelitischen Reiches.
Er griff zu dem erprobten Mittel, durch welches die Assyrer eine
völlige Verschmelzung der unterworfenen Länder mit ihrem Stamm-
land herbeizuführen pflegten: er führte viele Tausende von Israeliten
aus Samaria in die Gefangenschaft und siedelte sie in entfernten
Gegenden Mesopotamiens und Mediens an („in Halach, an dem
Habor, an dem Wasser Gosan und in den Städten der Meder“,
wie es in dem Königsbuche zu lesen ist).
Die dürftigen Berichte der biblischen Urkunde über diese ver-
hängnisvolle Krise der altisraelitischen Geschichte finden in den
erhalten gebliebenen assyrischen Denkmälern ihre Ergänzung. Im
Namen des siegreichen Königs Sargon wird dort folgendes be-
richtet* 1): „Vom Beginn meiner Herrschaft bis zum i5. meiner
Regierungsjahre (im Anfang meiner Regierung und in meinem
ersten Regierungsjahre) belagerte und eroberte ich Samaria (Sa-
merina). 27290 ihrer Bewohner führte ich fort, 5o Streitwagen
Landvogt des arabisch-ägyptischen Grenzlandes Muzri war und eben um diese
Zeit im Bunde mit dem König von Gaza, Hanun, gegen Assyrien kämpfte. Bei
dem damals häufigen Pharaonenwechsel in Ägypten mochte er sich wohl selbst
den Königstitel beigelegt haben. Vgl. Literatur zu § 45.
1) In dem hier folgenden Zitat sind zwei verschiedene, einander ergänzende
Texte: der Annalen und der Inschriften Sargons, mit den textkritischen Ver-
besserungen Wincklers, vereinigt (Keilinschriftliches Textbuch, 37, 38; Gress-
mann, Altorientalische Texte, 116—117).
200
§ 45. Der Untergang Samariens
hob ich von ihnen aus, die übrigen (Bewohner) aber ließ ich ihren
Landbesitz behalten, setzte meinen Statthalter über sie und legte
ihnen den Tribut des früheren Königs auf. . . . Leute aus allen
Ländern, meine Gefangenen, siedelte ich dort an." Aus denselben
assyrischen Inschriften ist zu ersehen, daß ein Jahr nach der
Eroberung Samarias (720) unter den im Lande verbliebenen
Israeliten ein neuer Auf Stands versuch auf gedeckt wurde. Der König
von Aram-Hamat Ilubidi (Jaubidi) bewog die Einwohner von Da-
maskus und Samaria zur Teilnahme an einem antiassyrischen
Bündnis; im Süden schlossen sich der philistäische König Hanun
aus Gaza und der obenerwähnte ägyptische Machthaber Sewe
dem Bunde an. Sargon rückte mit seinem Heere gegen das
Hauptzentrum des Aufruhrs, Karkar, vor und schlug die auf-
rührerischen Heerhaufen Ilubidis; sodann zerstreute er bei der
Küstenstadt Raphia auch das philistäisch-ägyptische Heer Hanuns
und Sewes. Damaskus und Samaria wurden für die Auflehnung
exemplarisch bestraft; anscheinend folgten ihr auch neue gewalt-
same Aussiedlungen der Israeliten nach fernen Ländern1).
Auf diese Weise gehen Samaria und andere israelitische Städte
eines bedeutenden Teiles ihrer Bevölkerung verlustig. Nach fernen
Ländern vertrieben, vermischen sich die Israeliten mit den ein-
heimischen heidnischen Völkerschaften und gehen zum Teil in
ihnen auf. Die leer gewordenen israelitischen Städte aber werden
(dem Bericht der biblischen Urkunde zufolge, der durch die oben-
erwähnte Inschrift Sargons teilweise bestätigt wird) Assyrern,
Babyloniern und Aramäern aus anderen Gebieten des assyrischen
Reiches als Wohnort zugewiesen. Die neuen heidnischen Ansiedler
nehmen im Laufe der Zeit viele israelitische Sitten und Bräuche
!) Unter den die Unterdrückung des Aufstandes betreffenden Prunkinschriften
Sargons befindet sich auch ein Hinweis auf die Unterwerfung „des Landes Jaucht,
dessen Lage fern ist“. Es ist schwer zu entscheiden, ob hier von der aramäischen
Gegend dieses Namens in der Nähe von Hamat (das in der Inschrift unmittelbar
neben Jaudu erwähnt wird) die Rede ist, oder aber von Juda. Es ist indessen
zu erwägen, daß der judäische König um jene Zeit Assyrien untergeben war und
schwerlich an dem Aufstand seiner Nachbarn teilnehmen konnte. Wenn unter
dem ,,fernliegenden Lande Jaudu“ dennoch Juda gemeint ist, so ist anzunehmen,
daß die ,»Unterwerfung“ in diesem Falle nichts weiter besagen will als die
Erhebung eines Tributes in einem Lande, das bereits früher seine Unterwürfigkeit
bezeugt hatte (vgl. die Quellen in der vorhergehenden Anmerkung).
Der Untergang des nordisraelitischen Reiches
an; sie vermischen sich mit den Überresten der israelitischen
Bevölkerung und bilden späterhin eine besondere halbhebräische
Völkerschaft, die unter dem Namen Samariter bekannt ist.
In den „Königsbüchern“ wird über die Entstehung dieser ge-
mischten samaritischen Völkerschaft folgendes berichtet: in der
ersten Zeit nach ihrer Ansiedlung im israelitischen Reiche hatten
die assyrischen Kolonisten viel von den Löwen zu leiden, die sich
in Menge in dem entvölkerten Lande zeigten. Hierin erblickte man
eine von Jahve auf die neuen Ansiedler herabgesandte Strafe, weil
sie ihn, den „Landesgott“, nicht verehrten. Als man dies dem
assyrischen König meldete, befahl dieser, einen von den fort-
geführten israelitischen Priestern nach Samaria zurückzubringen,
damit er die neuen Ansiedler in dem „Kult des Landesgottes“
unterweise. Dieser Priester ließ sich in der Stadt Betel nieder
und weihte die Andersgläubigen in den Jahvekultus ein. Die assy-
rischen, babylonischen und aramäischen Kolonisten machten sich
ihn allmählich zu eigen, während sie zugleich auch den heidnischen
Bräuchen ihrer früheren Heimat treu blieben. Im Laufe der Zeit
gewannen jedoch die israelitischen Elemente in der Kultur der
gemischten Völkerschaft die Oberhand; die Ansiedler eigneten sich
auch Sprache und Sitten der einheimischen Bevölkerung an und
erhoben zwei Jahrhunderte später sogar den Anspruch auf eine
völlige Verschmelzung mit den Judäern des benachbarten Staates.
So ging das israelitische oder nördliche „Zehnstämmereich“
zugrunde, nachdem es nach seiner Trennung von Juda über zwei
Jahrhunderte lang existiert hatte. Und nicht nur das Reich ging
unter, auch der größte Teil seiner Bevölkerung wurde in alle
Winde zerstreut. Infolge des von Assyrien angewandten doppelten
Ansiedlungssystems verloren sich viele von den in fremde Länder
geführten Israeliten unter der dortigen Bevölkerung, während die
in der Heimat zurückgebliebenen Israeliten durch Vermischung
mit den dorthin gebrachten fremdländischen Ansiedlern die Rein-
heit ihres nationalen Typus einbüßen mußten. Jedoch ein großer
Teil der Bevölkerung des nördlichen Reiches bewahrte seinen
Glauben und seine Nationalität, indem er sich in das südliche ju-
däische Reich hinüberrettete und sich mit dem erhalten gebliebenen
Kern der Nation wieder vereinigte. Dieser bedeutende Bevölkerungs-
zuwachs im kleinen Juda trug zu seiner Kräftigung bei und er-
302
§ 45. Der Untergang Samariens
höhte seine Widerstandsfähigkeit im Kampfe mit den äußeren
Feinden. Der „Rest Israels“ wurde von Juda auf gesogen, und
unter den folgenden judäischen Königen wurden Versuche unter-
nommen, auch einen Teil des ehemaligen Landgebietes des nörd-
lichen Reiches (die Rezirke Betels, Samarias, Sichems) mit Juda
wieder zu vereinigen. Nach der großen Katastrophe begann jener
Prozeß der Konzentration der Volkskräfte in Juda, dem es be-
schieden war, mitten in den politischen Krisen des Orieftts, andert-
halb Jahrhunderte hindurch, die Lebensfähigkeit des judäischen
Staates und späterhin der jüdischen Nation aufrechtzuerhalten.
Fünftes Kapitel
Die materielle und geistigeKultur in der Periode
der Reichstrennung
In die Periode der Reichstrennung fällt die Blütezeit des ge-
schichtlichen Jugendalters der israelitisch-judäischen Nation. Diese
Epoche ist reich an dynamischen Erscheinungen: an großen
Schwankungen und Veränderungen im politischen und geistigen
Leben des werdenden Volkstums. Jedoch kann neben der geschicht-
lichen Dynamik in dieser Epoche auch schon von einer Statik die
Rede sein: von den fest gewordenen, bewußt entlehnten oder selb-
ständig gestalteten Formen des materiellen und geistigen Seins.
Über der ältesten Schicht der israelitischen Kultur, die einen Teil
des gesamtorientalischen Kulturschatzes bildete (§ io—n), er-
heben sich um diese Zeit neue Schichtungen von vorwiegend
eigener Färbung. Das in der Periode der Reichstrennung zur Ent-
faltung gelangte Schrifttum bewahrte in erhalten gebliebenen Frag-
menten viele Spuren der israelitisch-judäischen Lebensführung und
Denkweise nicht nur aus der zeitgenössischen Epoche, sondern auch
aus der vorhergehenden Epoche David-Salomos. Daher ist es auch
möglich, in die Formen des Volkslebens während dieser Geschichts-
periode (X. bis VIII. Jahrhundert) sowohl auf sozial-wirtschaft-
lichem als auch auf staatlichem, religiösem und geistigem Gebiete
überhaupt mit ziemlicher Genauigkeit Einblick zu gewinnen x).
1) Als Quellen für die folgende Darstellung dienen nicht nur die Schrift-
denkmäler, die von der wissenschaftlichen Kritik in die Epoche der Reichs-
trennung verlegt werden, sondern auch einige Werke aus der nachfolgenden
Epoche (wie z. B. das Deuteronomium), insofern sie die schon früher ein-
gebürgerten Lebensformen widerspiegeln.
204
§ 46. Das wirtschaftliche und häusliche Lehen
Seit der Zeit, da Israel nach der Eroberung Kanaans ein boden-
ständiges Volk geworden war, bildete der Ackerbau seine Haupt-
beschäftigung. Die ehemaligen Gewohnheiten des freien Nomaden-
lebens wurden durch die Anhänglichkeit an die eigene Scholle ver-
drängt. Auf Wiederherstellung der primitiven Lebensführung, auf
das Hausen in Zelten, legten nur Sekten von der Art der Rechabiten
Wert (§ 33), die die Gesetze der wirtschaftlichen Entwicklung nicht
anerkennen wollten. Die Viehzucht war nur in solchen Gregenden
vorherrschend, wo sie durch die natürlichen Lebensbedingungen
begünstigt war: in dem transjordanischen Steppenlande und in den
südlichen, an die Steppen des Negeb angrenzenden Teilen Judas;
sonst aber herrscht überall eine komplizierte Ackerbauwirtschaft
vor. Seinen Acker bestellen, seinen Olivengarten oder Weinberg
bebauen, galt als der natürlichste Beruf des Menschen. Das Ideal
des Israeliten war, „unter seinem Feigenbäume und in seinem
Weinberge zu sitzen“. Der Boden Palästinas zeichnete sich nicht
durch große Fruchtbarkeit aus und dort, wo er während einer
langen Zeitdauer brachgelegen hatte, verwandelte er sich leicht in
eine öde Wüste. Allein die zähe Arbeit des Ackerbauers und Wein-
gärtners machte aus dem Lande einen üppigen Garten. Ebenen
und Täler bedeckten sich mit Gerste und Weizen; an den Berg-
abhängen blühten Weinberge, Gärten und Olivenhaine. Nicht nur
die Landleute, sondern auch viele Stadtbewohner, die ihre Felder
und Gärten in der Umgegend der Städte besaßen, trieben x\cker-,
Wein- und Gartenbau. Diese Beschäftigungsart stand zu vor-
nehmer Herkunft und hohem geistigen Entwicklungsniveau in gar
keinem Widerspruch. In seiner Jugend ging Saul hinter dem
Pfluge her, und David war ein Hirtenknabe. Der Prophet Elischa
trieb Ackerbau und der Prophet Arnos Viehzucht1).
Das Reifen der Getreidepflanzen beginnt in Palästina mit dem
Frühlingsanfang, und die Erntezeit fällt mit dessen Ende zusammen;
die Weinlese und das Einbringen des gedroschenen Getreides in die
Scheunen ging am Ende des Sommers und am Anfang des Herbstes
l) Ex. 23, io, i5—16, 19, 29; Deutr. 8, 8; 11, i3f.; I. Kön. 19,
19—21; 21, 2 f.; Am. 1, 1 und 7, i4—i5, sowie viele andere Stellen, die
von dem Vorherrschen der Ackerbaukultur zeugen.
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
vor sich. Diesen Höhepunkten des Landlebens entsprachen die
großen Jahresfeiertage: Pessah oder Passah, das Fest der reifenden
Ähren oder der ungesäuerten Brote („Chag ha’abib, Chag ha'mazoth“),
Schebuoth, das Erntefest („Chag ha’kazir“), Sükoth, das Fest des
„Einbringens von der Dreschtenne und von der Kelter“. Diese
ausgesprochen volkstümlichen Festlichkeiten waren von religiösen
Zeremonien begleitet (§ 48), hatten aber in dieser Epoche jene
national-historische Nebenbedeutung noch nicht gewonnen, die ihnen
späterhin von den Vertretern der Geistlichkeit, den Priestern und
Propheten, beigelegt wurde. Sogar das Passahfest wurde anscheinend
noch nicht als Andenken an den Auszug aus Ägypten gefeiert, und
das Essen des ungesäuerten Brotes während dieser Festtage scheint
nur ein Symbol des reifenden Kornes gewesen zu sein, aus dem
man in aller Eile ungesäuerte Fladen zu backen pflegte *).
Zu den ältesten Institutionen der israelitischen Religion, die
einen großen Einfluß auf das wirtschaftliche Leben der Be-
völkerung ausübten, gehörte der Pfliehtruhetag am Schluß einer
jeden Woche, der Sabbat („Sabbat“ = Ruhe). In den zwei Fas-
sungen des Dekalogs (Ex. 20, 11; Deutr. 5, i4—15) wird die
symbolische Bedeutung des Sabbats verschieden gedeutet: nach der
einen Fassung soll der Sabbat ein Andenken daran sein, daß Gott
die Welt in sechs Tagen erschuf und am siebenten ruhte; nach der
anderen soll aber der Sabbat einerseits als ein Ruhetag für jede
Familie eingerichtet worden sein und andererseits als ein Gedenktag
an die Befreiung des Volkes von der Fronarbeit in Ägypten. Am
zutreffendsten jedoch ist die ursprüngliche natürliche Begründung
der Sabbatruhe in dem ältesten Teil des Bibelkodex zum Ausdruck
gebracht, wo es heißt: „Sechs Tage hindurch magst du deine Arbeit
verrichten, am siebenten aber sollst du feiern, damit dein Rind und
dein Esel ruhe und der Sohn deiner Sklavin sowie der Fremdling ein-
mal aufatme* 2).“ Hierin tritt deutlich das rein wirtschaftliche Motiv
zutage. In dem sogenannten „Analogon des Dekalogs“ (Ex. 34, 21)
*) Ex. a3 (Bandesbuch), i4—16; 34, 18, 23. Das geschichtliche Motiv des
Passahfesles („Denn zur Zeit des Monats Abib bist du aus Ägypten ausgezogen“)
mag hier von dem späteren Textredaktor herrühren, der in die Bräuche Motive
hineinzudeuten suchte, die mit dem prophetischen Geist des „Deuteronomium“
übereinstimmen sollten. Ein nationalhistorisches Fest ist das Passahfest höchst-
wahrscheinlich erst zur Zeit des Königs Josia geworden. Vgl. unten SS 38, 83.
2) Ex. 28, 12.
206
§ 46. Das wirtschaftliche und häusliche Leben
tritt das landwirtschaftliche Motiv in den Vordergrund: „Am sieben-
ten Tage sollst du ruhen; selbst in der Zeit des Pflügens und des
Erntens sollst du ruhen.“ Und sogar auf das Land erstreckte sich
das Prinzip der Sabbatruhe: der Boden mußte alle sieben Jahre ein
Jahr „ruhen“ (die Institution der „Schemita“ oder des Sabbat-
jahres). „Sechs Jahre — so lautet das alte Gebot — sollst du dein
Land besäen und seinen Ertrag einheimsen — im siebenten Jahre
aber sollst du es brachliegen lassen und freigeben, so daß die
Armen deines Volkes es (was von selbst nach wächst) essen können,
und was die übriglassen, mag das Wild fressen. Ebenso sollst du
verfahren mit deinem Weinberg und deinem Obstgarten.“ Dieses
von humanem Geiste erfüllte Gesetz konnte sich nur aus dem
Grunde durchsetzen, weil es (das Brachliegenlassen des Landes usw.)
der Eigenart der Ackerbaukultur Palästinas entsprach. In späterer
Zeit entstand eine noch kompliziertere Institution, das „Halljahr“,
welches alle 5o Jahre nach dem siebenten Sabbat- oder „Schemita“-
jahr wieder kehrte und mit der Neuverteilung des Landbesitzes ver-
bunden war; allein diese Einrichtung, die von dem humanen Gesetz-
geber geschaffen worden war, konnte wohl kaum in ihrem vollen
Umfange in die Praxis umgesetzt werden x). Neben dem allwöchent-
lichen Sabbatfeste spielte auch das allmonatliche Fest des ,.Neu-
mondes* („Chodesch“) im Volksleben eine Rolle: ein Überrest des
uralten Mondkultes, der sich mit der Zeit in einen Kalendergedenk-
tag verwandelte* 2).
Der Ackerbau blieb auch dann die Grundlage der Volkswirt-
schaft, als sich eine neue wirtschaftliche Schicht, der Handel,
bildete; aber die Lebensführung des Landmannes änderte sich mit
dem Übergange von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft, als
die ländlichen Erzeugnisse: Brot, Wein und Oliven, zur Tausch wäre
im Binnen- und Außenhandelsverkehr wurden. Nur langsam bür-
gerte sich die neue wirtschaftliche Ordnung in dem israelitisch-
*) Ex. a3, io—11; Lev. 25, 2—13.
2) Im Schrifttum der Reichstrennungsepoche wird der Sabbat gewöhnlich
neben dem Neumondsfeste erwähnt („Sabbat we’chodesch“, vgl. II. Kön. 4, 23;
Am. 8, 5; Hosea 2, i3; Jes. i, i3—14), woraus gefolgert werden kann, daß
nicht nur eine kalendermäßige Wechselbeziehung zwischen den Sabbatfesten und
dem Neumondsfeste, sondern auch ein bestimmter genetischer Zusammenhang
zwischen ihnen bestand: die vier Sabbatfesttage des Monats entsprachen den vier
Mondphasen und sind ein Überrest des uralten Kultes dieses Gestirnes.
207
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
judäischen Milieu ein. Die patriarchalischen Sitten konnten sich
lange mit der seelenlosen Öde des Warenumsatzes nicht abfinden.
Am Anfang überließen die Israeliten den Handel als eine unwürdige
Beschäftigung den „Kanaanitern“ oder Phöniziern, „in deren Hand
eine falsche Wage ist und die es lieben, zu überlisten“ (Hosea 12, 8).
Allmählich wurde indessen ein gewisser Teil der Bevölkerung durch
die Macht der Umstände in das Handelsleben mit hineingezogen. Zur
Zeit Salomos bildete der Handel noch ein Staatsmonopol: der König
und seine Regierung rüsteten selbst, meist mit Hilfe der Phönizier,
Karawanen und Handelsschiffe aus, um sie in ferne Länder hinaus-
zusenden. In den Zeiten Ahabs und Josafats entwickelte sich schon
ein freier Handel in beiden Reichen. Beim Friedensschluß mit den
Aramäern verschaffte Ahab den israelitischen Kaufleuten das Recht,
einen besonderen Basar („Chuzoth“) in Damaskus zu besitzen, als
Kompensation für das Vorrecht der Aramäer auf einen eigenen
Handelsbasar in Samaria *). Im allgemeinen war der Binnenhandel
vorherrschend. Mittelmeerhäfen von der Bedeutung eines phöni-
zischen Tyrus oder Sidon standen zu jener Zeit weder Israel noch
Juda zur Verfügung. Jaffa war für diese Zwecke ungeeignet, und
Juda war stets auf den im edomitischen Bereiche am Roten Meer
gelegenen Hafen Elat angewiesen. Von den Karawanenstraßen,
welche Syrien mit Ägypten verbanden, lief die eine längs der
phönizisch-philistäischen Küste, während die andere durch Trans-
jordanien und Südpalästina führte. An der ersten lag Samaria,
an der zweiten Jerusalem.
Unter Jerobeam II. und Usia trägt der aufstrebende Handel
viel zur Entwicklung des Stadtlebens bei. Neben der Arbeit sucht
bereits das Kapital nach Geltung. Das Geldwechselgeschäft kommt
in Schwung; verschiedenartige Darlehensoperationen, vorzüglich
unter Getreideverpfändung, werden landesüblich, der Wucher blüht.
Den Säumigen, der die Zinsen nicht rechtzeitig entrichtete, durfte
der Geldgeber zu seinem Sklaven machen, wie es auch bei allen
anderen Völkern des Altertums üblich war. Die Standesunterschiede
wurden immer größer, ein Abgrund tat sich zwischen reich und
arm auf. Große Ländereien kamen in den Besitz weniger reicher
*) I. Kön. 9, 26—28; 10, 11, i5, 22, 28 („sochare ha’melech“ = die könig-
lichen Kaufleute); 20, 34; 22, 49 f•
208
§ 46. Das wirtschaftliche und häusliche Lehen
Grundherren* Die von demokratischer Gesinnung durchdrungenen
Propheten erhoben lauten Protest gegen die überhandnehmende
soziale Ungleichheit, gegen die Ausbeutung der Armen durch die
Reichen. So erklärt Arnos, daß Gott keine Nachsicht gegen die
üben werde, die „für Geld den Rechtschaffenen verkaufen und
den Armen um eines Paares Schuhe willen, die Geringen auf den
Kopf schlagen und die Elenden aus dem Wege drängen“. Für
das Zinsdarlehen hatte die hebräische Sprache die Bezeichnung
„Neschech“, die soviel bedeutet wie Biß oder Klemme. Das alte
auf Gewohnheitsrecht sich stützende Gesetz kämpfte gegen die
Ausbeutung der Armen durch die Wucherer an: „Wenn du je-
mandem aus meinem Volk, einem Armen neben dir, Geld leihen
mußt, so erzeige dich nicht wie ein Wucherer.“ Allein das Leben
konnte sich nicht nach diesen patriarchalischen Geboten richten:
die glühenden Protestrufe der Propheten vermochten den wirtschaft-
lichen Entwicklungsgang nicht aufzuhalten, der sowohl durch das
innere Wachstum der Volkswirtschaft als auch durch die Teil-
nahme Israels an dem Handelsverkehr der Kulturländer gefördert
wurde 1).
Zugleich war aber auf dem flachen Lande und in den kleineren
Städten vieles aus der älteren patriarchalisch-schlichten Zeit erhalten
geblieben. Die Häuser wurden aus Holz und aus Lehm gebaut;
das flache Dach diente als Nachtlager in der heißen Jahreszeit.
Zumeist waren die Häuser einstöckig, nur die Häuser der Wohl-
habenderen waren durch einen Oberstock oder durch ein Ober-
zimmer („Alia“) vergrößert. Auch die innere Einrichtung war von
großer Einfachheit. So befand sich in der von Elischa bewohnten
Kammer, als er bei vermögenden Leuten als Gast weilte, nichts als
ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Licht. Die Kleidung bestand
in der Regel aus einem Untergewand und einem darübergeworfenen
Mantel, der den unbemittelteren Leuten des Nachts zugleich als Decke
diente. Brot aus Weizen- oder Gerstenmehl, Mehlfladen mit Olivenöl,
Milch, Gemüse, Trauben, Feigen — dies waren die Hauptnahrungs-
mittel. Der Wein war auch für Minderbemittelte erschwinglich.
Fleisch wurde bei Familienfeierlichkeiten genossen sowie bei den
r) II. Kon. 4, i; Am. 2, 6—7; 8, 4—6; vgl. Ex. 22, 24—26; Jes. 3,
14 f-; Deutr. 23, 20 (vgl. Lev. 25, 36—37).
14 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
209
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
Jahresfesten, wenn der Landmann sein Vieh an den nächsten Altar
oder Tempel als Opfer mitbrachte, wobei ein Teil des Opfertieres
am „heiligen Mahle“ (§ 48) verzehrt wurde. Vor dem Genuß des
Fleisches ließ man das ganze Blut abfließen, weil es strengstens
untersagt war, Blut zu genießen1). Allein diese schlichten Lebens-
gewohnheiten verschwanden in jenen Gesellschaftsschichten, die
bereits mit der neuen geldwirtschaftlichen Ordnung in Berührung
gekommen waren, vor allem in den größeren Städten. Der Prophet
Arnos in Betel geißelt die Großen, die sich Häuser aus Quadern
errichten, „gemästete Lämmer und Kälber essen, aus den Schalen
Wein trinken, sich mit kostbarstem öl salben und auf Elfenbein-
lagern schlafen“. Der Jerusalemer Prophet Jesaja stellt die „Töchter
Zions“ aus den höheren Ständen bloß, deren Lebensinhalt ganz in
Putzsucht besteht. Die von ihm angeführte lange Liste des Zu-
behörs der damaligen weiblichen Mode zeugt von einem raffinierten
Luxus, in dem die judäische Aristokratie jener Zeit schwelgte und
der allem Anscheine nach Phönizien, Assyrien und Ägypten entlehnt
war. Für die Bewohner Samarias findet dieser Prophet nur den
einen herabsetzenden Rufnamen: „Die Prasser Ephraims* 2)“. In-
dessen fand die Entfaltung der äußeren Kultur nicht nur in dem
zügellosen Hang zum Luxus und zu Schwelgereien ihren Ausdruck.
Zugleich vergrößerten sich auch die Städte und ihr Wohlstand: an
Stelle der alten Häuser aus Holz und Lehm traten herrliche Quadern-
bauten; in den Großstädten werden Wasserleitungen und Abzugs-
kanäle angelegt; exotische Waren füllen die Marktplätze mit ihrer
Pracht; Edelmetalle und Elfenbein zieren immer häufiger Hausgerät
und -einrichtung. Das Handwerk kommt zur Blüte, auch Anfänge
der Kunst sind bemerkbar, besonders auf dem Gebiete des Bau-
wesens und der Musik3).
Das Familienleben der alten Israeliten unterschied sich nur
wenig von den allgemeinen Familien Verhältnissen der Nachbar-
völker; jedoch standen die Sitten auf einer höheren Stufe. Die
Vielweiberei bildete nur einen Ausnahmefall, während die übliche
Eheform die Monogamie war. Den Königen war es allerdings ge-
A) II. Kon. 4, io; Ex. 22, 26; Deutr. 12, 16, 20 f.; I. Sam. i4, 34-
2) Am. 6, 4—6; Jes. 3, 16—23; 5, u—12,- 28, 1—8.
3) Am. 5, 11; Jes. 2, 7, 16; 9, 9; I, Kön. 20, 34; 22, 3g.
210
stattet, viele Weiber zu besitzen, wahrscheinlich zu Zwecken der
Vermehrung und Befestigung der Dynastie, allein nach Salomo
mißbrauchten auch die Könige nur selten dieses Vorrecht. Sonst
aber, in der Mittelstandsfamilie, galt nur die Kinderlosigkeit als
Grund zur Heirat eines zweiten Weibes*). Die Vielweiberei trat
daher im Volksleben in der Regel nur in Form der Bigamie auf,
wobei die eine Frau oft als eigentliche Gattin galt, während die
zweite nur ein Kebsweib („Pileges“) neben ihr war. Die Kebsweiber
waren meistens Sklavinnen oder im Kriege gefangengenommene
Frauen. Wenn es zwei gleichgestellte Weiber im Hause gab, kam
es nur zu oft zu Familienzwistigkeiten: das verstoßene Weib ver-
folgte mit Mißgunst die bevorzugte Gattin, die Kinderlose die mit
Leibesfrucht Gesegnete2). Vor der Ehelichung einer Jungfrau
händigte der Freier ihren Eltern das übliche „Lösegeld“ oder
„Mohär“ ein, wie es noch heutzutage bei den orientalischen Völkern
gang und gäbe ist (so der „Kalym“ bei den Tataren oder das mit
dem hebräischen „Mohär“ gleichlautende „Mahori“ im Kaukasus);
dieser Entgelt wurde nicht nur in Form von Bargeld oder von
Wertgegenständen geleistet, sondern auch in Form von persönlichen
Diensten (vgl. diesen lebensgetreuen Zug in der Erzählung von der
Eheschließung des Erzvaters Jakob). In den ältesten Zeiten galten
die Ehen unter den nächsten Verwandten nicht als anstößig: so
durfte man sogar seine eigene Halbschwester heiraten (vgl. die
Geschichte von Amnon und Tamar) oder zwei Schwestern zugleich;
später aber wurden Ehen unter sehr nahen Verwandten nicht mehr
zugelassen. Die elterliche Gewalt galt als unumschränkt: auf die
Verletzung von Vater- oder Mutterehre durch Wort oder Tat stand
die Todesstrafe. Dem Vater stand sogar das Recht zu, seine Tochter
als Sklavin oder Magd zu verkaufen3).
Was die Sklaverei betrifft, so nahm sie bei den Israeliten minder
1) Der Verfasser der kunstvollen Lebensbeschreibungen der Erzväter im
i. Buche Moses führt diesen Zug des Familienlebens aus der viel späteren Zeit
als Grund für die Ehelichung Hagars durch Abraham an (Gen. 16, 2 f.). Durch
Kinderlosigkeit wird auch im Kodex Hammurapi die Doppelehe motiviert,
woraus zu ersehen ist, daß bei den Assyrern gleichfalls die Bigamie neben der
üblichen monogamen Ehe anerkannt war.
2) I. Sam. 1, 5—6; Gen. 29, 3i—33; vgl. Deutr. 21, 10, i5.
3) Ex. 22, i5—16; Gen. 29, 18—27; Gen. 20, 12; I. Sam. 18, 17, 27;
II. Sam. i3, 13; Lev. 18, 9, 18; Ex. 21, 7, 15—17.
14*
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
rohe Formen an als bei den Nachbarvölkern. Die Sklaven und Skla-
vinnen galten als Familienmitglieder und ihre Rechte waren durch
bestimmte Gesetze geschützt. Man unterschied zwei Arten von
Sklaven: die bei den Sklavenhändlern gekauften oder im Kriege
erbeuteten fremdstämmigen und die hebräischen (Ebed ibri), die
aus Armut oder als Schuldknechte in die Sklaverei ihrer Stammes-
genossen gerieten. Die Rechte der einen wie der anderen standen
nicht nur unter dem Schutze der Gesetzesvorschriften, sondern auch
des Gewohnheitsrechtes: im ältesten Gesetzbuch (Ex. Kap. 20—2 3)
ist eine strenge Haftpflicht des Herrn für die Verstümmelung des
Sklaven oder der Sklavin festgesetzt; auch die Sabbatruhe war für
alle Sklaven ohne Unterschied der Abstammung vorgeschrieben
(„damit auch dein Sklave ruhen soll“). Das Hauptvorrecht des
israelitischen Sklaven vor dem fremdstämmigen bestand darin, daß
er vor lebenslänglicher Sklaverei geschützt war; der hebräische
Sklave war nur zu einem sechsjährigen Dienst bei seinem Herrn
verpflichtet und mußte im siebenten Jahre von diesem freigelassen
werden. Das Gesetz zieht auch solche Fälle in Betracht, wo der
israelitische Sklave nach Ablauf der sechsjährigen Frist selbst
seinen Herrn nicht mehr verlassen will und aus eigenem Antrieb
bei ihm zurückbleibt. Die Befristung der Knechtschaft eines
Stammesgenossen rührte daher, daß diese Art von Sklaverei in
der Regel eine Schuldknechtschaft war und folglich mit der Be-
gleichung der Schuld durch die geleisteten Dienste gerechterweise
auf hören mußte1). Höchst bemerkenswert ist es, daß die Israeliten
in dieser Epoche nirgends als Sklavenhändler auf treten: diesen
Handel trieben zu jener Zeit in ausgedehntestem Maße die Phönizier
und später die Griechen (Jonier-„Jewanim“ * 2)).
Das Familienrecht im israelitischen Staate floß aus der ge-
meinsamen Quelle jenes Gewohnheitsrechtes der vorderasiatischen
Völker, das unter anderem auch den „Kodex Hammurapi“ (oben,
§ 10) hervorbrachte. Jedoch sieht man bei der Vergleichung der
Bestimmungen dieses Kodex mit den Vorschriften der israelitischen
Gesetzgebung, so wie sie in dem „Bundesbuch“ und in anderen
*) Ex. 21, 2—6; noch menschenfreundlichere Bestimmungen finden sich im
Deutr. i5, 12 f. Nach dem Kodex Hammurapi war die Schuldknechtschaft auf
eine dreijährige Frist beschränkt.
2) Joel 4, 4—6; Ez. 27, -i3.
2 12
§ 47. Gesellschaft und Staat
ältesten Teilen des Pentateuch formuliert sind, wie im Volke Israel
im Laufe der Zeit über der allgemeinen Grundlage der Gesetzgebung
sich eine menschenfreundlichere Schicht erhebt, die die Härten des
alten Brauches allmählich mildert. Bei aller Verwandtschaft der
Grundnormen des Familienrechts im Hammurapikodex und im
Pentateuch tritt auch deutlich das Gegensätzliche an ihnen zu-
tage. Dies wird besonders kenntlich an dem Verhalten des Ge-
setzes der Frau gegenüber: in dem babylonisch-assyrischen Gesetz-
buch tritt uns die Frau stets als untergeordnetes Glied in der
Familie ihres Vaters oder Gatten entgegen; im israelitischen Ge-
setze hingegen ist sie die Gefährtin des Mannes und ihre Interessen
sind in viel höherem Maße gewahrt. Der Kodex Hammurapi ent-
hält eine Strafbestimmung nur für die Verletzung der väterlichen
Ehre, dagegen bestraft das israelitische Gesetz auch die Verletzung
der Mutterehre und verlangt überhaupt, daß Vater und Mutter in
gleichem Maße in Ehren gehalten werden. Die Ehescheidung er-
folgt nach babylonisch-assyrischem Recht einfach auf Verlangen
des Ehemannes, der befugt ist, sein Weib ohne jeden besonderen
Grund fortzuschicken; das israelitische Gesetz aber macht die Ehe-
scheidung von dem Tatbestand einer „schändlichen Verfehlung“
abhängig. Auch verhält sich das israelitische Gesetz dem Sklaven
gegenüber viel humaner als das assyrisch-babylonische Recht1).
§ 47. Gesellschaft und Staat
Scharfe Kastenunterschiede gab es in der israelitischen Gesell-
schaft nicht. Die zwei folgenden Gruppen nahmen in der gesamten
Bevölkerung eine Sonderstellung ein: die mit dem Staate in gar
keiner Verbindung stehenden Fremden („Nochrim“) und die „Fremd-
stämmigen“ („Gerim“), das sind die einheimischen Kanaaniter, die
mehr oder weniger mit dem israelitischen Volke verschmolzen
waren. Der Fremde genießt nur die Gastfreundschaft, es erstrecken
sich aber auf ihn nicht die Vergünstigungen der Gesetze, die den
unbemittelten Schichten der einheimischen Bevölkerung zugute
kommen1 2). Eine ganz andere Stellung nimmt jedoch der Fremd-
1) Vgl. Kodex Hammurapi SS 187 f., 195, 199, 2Ö2—53, 281 u. Gen. 2, 18;
Ex. 20, 12; 21, i5, 17; Deutr. 15; 24, 1; 27, 16.
2) Deutr. i5, 3; 23, 4—9, 21.
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
stämmige, der „Ger“, ein. Ihm steht es von Rechts wegen frei,
sich dem „Kahal Jahves“, d. i. der Ortsgemeinde, anzuschließen
und an allen ihren öffentlichen Handlungen und Feierlichkeiten
teilzunehmen. Das Gesetz nimmt den „Ger“ immer wieder unter
seinen Schutz: man solle ihn nicht bedrücken, man solle ihn in
Rechtsstreitigkeiten nicht benachteiligen; man solle ihm gegenüber
Milde walten lassen gleichwie gegenüber allen anderen schutz-
bedürftigen Mitgliedern der israelitischen Gesellschaft, den Armen,
Witwen und Waisen; neben diesen ist es dem Fremdstämmigen
gestattet, die Erntereste auf den Äckern der Begüterten aufzulesen
und die festgesetzte Unterstützung aus Staatsmitteln zu genießen.
In den späteren Begründungen dieser Gesetzesbestimmungen heißt
es immer wieder: „Einen ,Ger‘ sollst du nicht übervorteilen und
nicht bedrücken. Seid ihr doch selbst ,Gerim‘ gewesen in
Ägypten *).“
Jede Stadt mitsamt den sie umgebenden Siedlungen, „die Stadt
und ihre Töchter“, wie die Bibel sich ausdrückt, bildete ein ein-
heitliches Gemeinwesen. Früher, im patriarchalischen Zeitalter,
stellte eine derartige Einheit das Geschlecht dar (der Stamm, die
Sippe, eine Gruppe blutsverwandter Familien), dagegen tritt im
Zeitalter der Könige die Einteilung nach Geschlechtern allmählich
hinter dem territorialen Prinzip zurück: die Stadtgemeinde („Kahal“,
„Edahs“) trat an die Stelle des Geschlechtes. Die alte patriarcha-
lische Sitte, die Rechtsprechung und die Ahndung in die Hände der
ältesten Mitglieder des Gemeinwesens (der „Sekenim“) zu legen,
blieb jedoch auch in der Königszeit erhalten. Der Ältestenrat
bildete in jeder Stadt das Gerichtskollegium. Die Richter hielten
in der Regel ihre Sitzungen an den „Toren“ der Stadt, d. i. in der
Vorstadt („Schaar“ = Vorstadt) ab, was als ein Wahrzeichen der
ungeschmälerten Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen gelten
sollte. Dabei wurden die mit der Gerichtsordnung zusammen-
hängenden religiösen Handlungen, z. B. die Eidesleistung, an dem
Ortsaltar oder im Tempel vollzogen.' Die richterliche Gewalt kam
außer den Stadtältesten auch noch den Priestern oder Leviten zu* 2).
*) Ex. 20, io; 22, 20; 23, 9f.; Deutr. 10, 18—19; i4, 29; 16, 11 f.;
24, i4 f.; 26, 11 f.
2) I. Kön. 21, 8, 11; Deutr. 17, 8 f.; 19, 12, 17; 21, 2, 5, 19; 22, i5;
25, 7 f.
2 I 4
§ 47. Gesellschaft und Staat
Die Beteiligung der Priesterschaft an der Rechtsprechung war an-
scheinend ursprünglich auf einen bestimmten Kreis von Gerichts-
sachen beschränkt und gewann erst nach und nach mit der all-
mählichen Erstarkung des theokratischen Prinzips an Bedeutung.
Da die Rechtsprechung zu jener Zeit nur selten von der allgemeinen
Verwaltung getrennt war, so waren die Stadtältesten zugleich auch
die Stadthäupter. Der König zog sie manchmal zur Beratung
über die wichtigsten Staatsangelegenheiten heran, wie z. B. zur
Entscheidung über Krieg und Frieden1).
Das Zivil- und Strafrecht dieses Zeitalters erreicht im Vergleich
zu dem althergebrachten Gewohnheitsrecht eine viel höhere Ent-
wicklungsstufe. Die Geschlechtssitte des „Blutrache“, die den An-
verwandten des Getöteten dazu berechtigte, den Mörder zu ver-
folgen und mit dem Tode zu bestrafen, lebte allerdings im Volke
noch weiter fort (wie sie noch heutzutage unter den Arabern
Palästinas anzutreffen ist), allein die Gesetzgebung trug zur Mil-
derung der Grausamkeit dieser Sitte erheblich bei. War der Tot-
schlag nicht vorsätzlich begangen worden, so konnte der Täter in
irgendeinem Tempel an den Stufen des Altars oder in eigens
dafür bestimmten „Zufluchtsstätten“ Schutz suchen, wo der Blut-
rächer („Goel ha’dam“) ihn nicht anrühren durfte. Dagegen war
der Rächer befugt, im Falle eines vorsätzlichen Mordes den Mörder
sogar „vom Altar zu nehmen“, um ihn zu töten. Das Gesetz verbot,
an den Kindern des Mörders das Verbrechen ihres Vaters zu sühnen;
so verschonte z. B. der König Amazia die Söhne der Mörder seines
Vaters* 2). Im Laufe der Zeit trat bei Kapitalverbrechen an Stelle
der Privatahndung die Bestrafung durch das berufene Organ des
Gemeinwesens, durch das Gericht. Nur in Ausnahmefällen ließ sich
das Gericht in seinem Urteile von dem uralten Vergeltungsprinzipe
leiten: „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben.“ Sonst
aber wurde dem Schuldigen eine Geldbuße auferlegt. Der Verstoß
gegen die Grundgebote der Religion, ferner die Gotteslästerung und
die Majestätsbeleidigung wurden mit dem Tode bestraft. Eine der
ältesten Arten der Todesstrafen war die Steinigung („Sekila“), die
x) I. Kön. 20, 7 f. (,,kol sikne ha'arez“ = die Ältesten aus allen Provinzen);
II. Kön. 6, 32 u. io, i.
2) II. Kön. i4, 6; vgl. II. Sam. 3, 27—3o; i4, 7f.; 21, 1 fEx. 21,
i3—14; Num. 35, iif.; Deutr. 19 u. 24, 16.
2 15
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
man in der Regel außerhalb der Stadtgrenzen und unter-'der
Beteiligung des Volkes zu vollziehen pflegte1).
Die Ileeresorganisation im israelitischen und judäischen Reiche
nahm in der Königszeit feste Formen an. Bei wichtigen militäri-
schen Entscheidungen und zu Zwecken der unmittelbaren Landes-
verteidigung wurde nach wie vor die Volkswehr auf geboten; zu-
gleich aber bestand schon der Kern eines stehenden Heeres. Dieses
bildete sich aus jener königlichen Leibwache heraus, die aus ge-
übten Kriegern, zum Teil aber auch aus Freiwilligen zusammen-
gesetzt war, jenen „Recken“, die unter den ersten Königen Saul
und David eine so bedeutsame Rolle gespielt hatten. In der Folge-
zeit trat an die Stelle des freiwilligen Kriegsdienstes die Militär-
dienstpflicht für die jungen Leute aus den begüterten Familien.
Auch die Kriegsrüstungen sowie die sonstigen Hilfsmittel der
Landesverteidigung entwickelten sich zusehends. Mit der Ver-
größerung des Heeres vermehrte sich auch die Zahl der mit
Garnisonen belegten festen Plätze. Unter Ahab waren den Statt-
haltern besondere Abteilungen von militärisch ausgebildeten Knappen
(„naare sare ha’medinot“) unterstellt, mit denen sie sich im Kriegs-
fälle dem Könige zur Verfügung stellten. Diese gut ausgebildeten
jungen Krieger waren die gegebenen Führer der Volkswehrtruppen.
In der Reichstrennungsperiode unternahmen die Israeliten nur selten
Angriffskriege zu Eroberungszwecken, dagegen mußten sie nur
zu häufig Verteidigungskriege führen infolge der damals in den
internationalen Beziehungen herrschenden Beutegier und Macht-
gelüste * 2).
Die königliche Gewalt, die aus der Notwendigkeit heraus, das
Volk gegen seine äußeren Feinde in eine Einheit zusammenzu-
fassen, entstanden war, wies ursprünglich einen rein militärischen
Charakter auf. Der König war der Anführer sowohl der Volks-
wehr als auch des stehenden Heeres. Bei einem Vormarsch oder
bei der Abwehr des Feindes stand der König stets an der Spitze
des Volkes in Waffen. Jedoch mit der Zeit wird in der Person des
Königs der Krieger mit dem Bürger, der Herrscher mit dem Richter
vereinigt. Der König bildete die höchste Gerichtsinstanz nicht nur
*) Ex. 21—22; I. Kön. 21, 13; vgl. Num. i5, 35—36.
2) I. Kön. 20, 14—19; II. Kön. ii, 4; l5, 20; vgl. Num. 1, 2 f.; 26, 2;
I. Sam. 8, 11—12 usw.
2l6
§ 47. Gesellschaft und Staat
in besonders wichtigen Fällen, sondern auch mit gewöhnlichen
Privatklagen durfte man ohne weiteres sich an ihn wenden x).
Es fehlt uns jede Nachricht über die Art der Ausübung der
höchsten Zivilgewalt durch den König. In der Verwaltung scheint
das Prinzip der Dezentralisation vorherrschend gewesen zu sein.
An der Spitze der lokalen Behörden standen die Stadtältesten und
die „Landvögte“. Zur Bestreitung des Unterhaltes des Hofes wurden
noch unter Salomo besondere Natural- und Geldleistungen fest-
gesetzt. Aber auch der Ertrag besonderer Krongüter oder Domänen
mochte dem Königshofe zur Verfügung gestanden haben. So tritt
uns der judäische König Usia in der Urkunde als reicher Guts-
besitzer entgegen: „Er besaß viele Herden in^ der Schefela (Nie-
derung) und in der Ebene, viele Ackerbauer und Winzer auf den
Bergen und auf dem Karmel“ (II. Chron. 26, 10). War der
Königsschatz erschöpft, so nahmen die judäischen Könige zur
Bestreitung der Kriegskosten oder zur Leistung einer Kriegs-
entschädigung die Schatzkammern des Jerusalemer Tempels in
Anspruch, wo unter anderem auch die Volksersparnisse aufbewahrt
wurden nach Art der modernen Staatssparkassen (Rehabeam, Asa,
Joas, Amazia, Ahas).
Weder im Nord- noch im Südreiche hatte die Königsgewalt
despotischen Charakter; ganz im Gegenteil trat in ihr ein demo-
kratischer Zug deutlich hervor. In entscheidenden Momenten des
politischen Lebens pflegte der König die Volksvertreter, die Volks-
ältesten, zu Rate zu ziehen (Ahab, Jehu). Die Propheten aus der
Oppositionspartei sagten den Königen die Wahrheit freimütig ins
Gesicht und geißelten in öffentlicher Rede ihre Missetaten (Nathan,
Ahia, Elias, Elischa, Arnos, Jesaja). Als der reiche Nabot aus
Jesreel sich weigerte, dem König Ahab seinen Weinberg abzutreten,
geriet dieser in Verzweiflung, ebendarum, weil weder Sitte noch
Gesetz den König dazu berechtigten, sich gewaltsam den Besitz
eines friedlichen Bürgers anzueignen. Nur die Tücke der Königin
Isebel brachte es fertig, Ahab in den Besitz des begehrten Grund-
stückes zu setzen. Die im Geiste des orientalischen Despotismus
aufgewachsene Phönizierin Isebel vermochte die sittlichen Grund-
—
*) II. Sam. i4, 5 f.; i5, 2—6; I. Kön. 3, 9, 16 f.; II. Kön. 6, 26; 8, 5;
i5, 5.
2 1 7
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
lagen der Königsgewalt bei den Israeliten nicht zu begreifen und
verhöhnte daher Ahab, indem sie ihn fragte: „So (d. i. in den
engen Schranken von Recht und Gerechtigkeit) willst du deine
Königsgewalt über Israel bekunden?“ Und doch vermochte es
der orientalische Einfluß nicht, den Despotismus am Hofe der
israelitischen Könige, von wenigen Ausnahmen abgesehen, heimisch
zu machen. Sogar den Fremden fiel es auf, daß die „Könige
Israels barmherzige Könige“ waren (I. Kön. 20, 3i). Gewalt-
tätige Tyrannen waren häufiger unter den Usurpatoren zu finden
(Menahem). Allerdings gingen die dynastischen Umwälzungen nicht
ohne Grausamkeiten vor sich (Jehu).
In manchen Reichen des Altertums versah der König zugleich
auch das Amt des Oberpriesters. Derartige Priesterfunktionen übten
auch die ersten Könige Gesamt-Israels aus. So brachten Saul und
David als „gottgesalbte“ Herrscher bei hochfeierlichen Gelegen-
heiten die Opfer selbst dar. In der Folgezeit behielten die Könige
des Nordreiches noch teilweise die hohe Würde eines Oberpriesters.
So pflegte Jerobeam I. — nach dem Zeugnis der Urkunde — manch-
mal selbst die Opfer in Betel darzubringen; unter Jerobeam II.
galt der Tempel von Betel als Hoftempel und die dort amtierenden
Priester waren königliche Beamte. In Juda dagegen, wo die Theo-
kratie viel festere Wurzeln gefaßt hatte, wollte die Priesterschaft
die Oberpriesterwürde des Königs in der Praxis nicht anerkennen,
und es brach, um ,ein Beispiel zu erwähnen, eine allgemeine
Empörung gegen den König Usia aus, als er sich einmal anmaßte,
das priesterliche Amt im Tempel zu Jerusalem persönlich zu ver-
sehen x).
§ 48. Religion und Kultus
Wie in allen Religionen des Altertums, so stand auch in der
Religion der alten Israeliten nicht das Dogma, sondern der Kultus,
der Ritus des Gottesdienstes an erster Stelle. In seinen äußeren
Formen wies der Jahvekultus große Ähnlichkeit mit den Kulten
der kanaanitischen Nachbarvölker auf, und noch zur Zeit der
Reichstrennung war die Volksreligion, besonders im nördlichen
x) I. Sam. i3, 9; i4, 34; II. Sam. 6, i3 und sonst; I. Kön. 12, 32 f.;
Am, 7, 13; II. Chron. 26, 16 f.
2l8
§ 48. Religion und Kultus
Reiche, von heidnischen Elementen nicht frei. Neben den offiziellen
Gottesdienststätten in den Königsresidenzen (Jerusalem in Juda
und Betel in Ephraim) gab es in beiden Reichen auch noch andere
heilige Stätten. In den Provinzstädten Judas strömte das Volk zu
den zahlreichen Altären auf den Anhöhen (Bamoth), wo der Jahve-
dienst nach uralten, vom offiziellen Kultus der Hauptstädte ab-
weichenden Riten geübt wurde; allein große Tempel, die mit
dem Jerusalemer hätten wetteifern können, gab es hier nicht, und
die meisten judäischen Könige waren daher gegen diese lokalen
Volkskulte durchaus duldsam1). Im israelitischen Reiche dagegen
machte sich die Dezentralisation des Kultes viel mehr bemerkbar.
Hier bestanden neben dem Königstempel in Betel ein Jahvetempel
in Dan für die fernen nördlichen Stämme und noch andere Tempel
in der Hauptstadt Samarias, in Gilgal, Mizpa, Sichern und manchen
anderen Städten1 2). Der Gottesdienst auf den Anhöhen und in
den Hainen war hier verbreiteter als in Juda und näherte sich
mehr den heidnischen Kultformen. Die Altäre auf dem Lande
wurden auf Anhöhen in Form von Steinhaufen errichtet; häufig
baute man sie in Hainen, im Schatten einer Eiche, einer Palme
oder eines Tamarindenbaumes. Neben den Altären pflegte man die
Symbole der alten kanaanitischen Gottheiten aufzustellen: ein ver-
ziertes Steindenkmal („Masseba“) oder einen heiligen Baum in
Form von einem nach obenzu breiter werdenden Holzpfahl
(„Aschera“), der dem Standbilde der Göttin der Fruchtbarkeit,
Astarte, ähnlich war (§ n). Hier wurden bei fröhlichem Mahle
oder Trinkgelage im Beisein geschmückter Frauen jene von
„heiliger Prostitution“ zu Ehren der Astarte begleiteten Orgien
oder Bacchanale gefeiert, die bei den Propheten eine so große
Entrüstung hervorriefen (vgl. Hosea an verschiedenen Stellen
seines Buches). In einigen Tempeln des israelitischen Reiches waren
goldene Bildsäulen Jahves in Stiergestalt auf gestellt3). Sogar in
Jerusalem war noch bis zu den Zeiten des Königs Hiskia eine aus
1) I. Kon. 14, a3; i5, i4; 22, 44; II. Kön. 12, 4 (es wiederholt sich der
Satz: „Die Bamoth waren aber noch nicht verschwunden und das Volk opferte und
räucherte auf den Bamoth“).
2) Am. 5, 5; 8, i4; Hosea 4, i5; 9, i5.
3) I. Kön. 12, 28 f.; Hosea 8, 5; 10, 5; i3, 2 usw.
219
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
Erz gegossene Schlange, die das Symbol einer gesundheitspendenden
Gottheit darstellte, anzutreffenx); im nördlichen Reiche, unter den
Omriden, wetteiferte mit dem Volkskultus Jahves jener gemischte
Jahve-Baalkultus, der unter Jehu auf so grausame Weise verfolgt
wurde. Der Baaldienst war bereits aus dem Volksleben ver-
schwunden, allein viele Riten dieses Kultes lebten in der Volks-
religion noch weiter fort.
Die Hauptform des Gottesdienstes bildete die Opferdarbringnng.
Der Mensch der alten Zeit suchte durch Darbringung von Gaben
seinen Gott günstig zu stimmen. Allein das Opfer hatte bei den
Israeliten (wie auch bei den Griechen Homers) auch noch die
praktische Bedeutung, daß das Fleisch des Tieres, wovon ein Teil
zu Ehren Gottes auf dem Altar verbrannt wurde, ebendadurch
rein und im religiösen Sinne genießbar wurde. Das Blut des Opfer-
tieres ließ man ganz auf den Altar fließen, da der Blutgenuß streng
untersagt war2). Auf dem Altar wurden auch Trankopfer von
Weihöl und Wein dargebracht. Als Opfer galt auch das Hinbringen
der ersten Ackerbauerzeugnisse des Jahres, der sogenannten „Erst-
linge“, oder von Proben des eben geernteten Getreides sowie der ein-
gebrach ten Früchte und Trauben in den Tempel zu Weihzwecken.
Der Tempel und der Altar galten als Sitz Gottes; in ihrer Nähe
erhielten alle Familienmahle eine religiöse Weihe. Besonders feier-
lichen Charakter hatten diese Opfermahle während der großen
Festtage. Die drei landwirtschaftlichen Jahreszeitfeste, die in
engstem Zusammenhang mit der ländlichen Lebensweise standen
(§ 46), wurden allmählich in den Bereich des Tempelkultus mit-
einbezogen. „Dreimal im Jahre — so lautete das Gesetz — soll
alles, was männlich ist bei dir, vor dem Herrn Jahve erscheinen.
Und man soll nicht mit leeren Händen vor mir erscheinen.“ Am
Passahfest wurde das Fleisch der Opfertiere zusammen mit den
ungesäuerten Gerstenfladen („Mazoth“) verzehrt, die als Symbol
des auf den Feldern im Frühjahr reifenden Getreides galten. Am
Sommerfest der Frühernte oder dem „Wochenfest“ („Schabuoth“,
sieben Wochen nach dem Passahfest), während des Einbringens
der Ernte, galt anscheinend nicht das ungesäuerte, sondern das
!) II. Kön. 18, 4.
2) I. Sam. i4, 32 f.; Lev. 17, 14; Deutr. 12, 16.
220
§ 48. Religion und Kultus
gesäuerte Weizenbrot als symbolische Speise. Ein wichtiges Tempel-
fest war auch das Herbstfest der „Fruchtlese“ oder das „Laub-
hüttenfest“ („Sukoth“); Baumfrüchte und Palmenzweige, die in
den Tempel gebracht wurden, symbolisierten dieses Fest. Während
all dieser Feste wurden um die Tempel und Altäre herum fröhliche
Volksgelage abgehalten. Jede bemittelte Familie lud Arme, Witwen,
Waisen und Fremdstämmige zu ihrem Mahle ein. Alle „aßen,
tranken und waren fröhlich vor Jahve1)“. Die ländlichen Feste
wurden zu religiösen Feiern, die an manchen Orten in Bacchanale
von der Art der griechischen „Dionysien“ ausklangen.
Im Dienste des Altars oder Tempels stand der Priester
(„Kohen“). Er büßte nach und nach seine ehemalige Bedeutung
als Orakelverkünder ein1 2), da diese Funktion dem Propheten zufiel,
und wurde zum Leiter des öffentlichen Gottesdienstes. Die Tempel-
diener versahen den Opferdienst und erhielten einen gewissen Teil
der Opfergaben als Geschenk. Auch sonst wurden sie von den
Andächtigen mit ländlichen Erzeugnissen beschenkt; das Maß dieser
Gaben wurde später von dem Gesetze genau festgelegt. Das Priester-
amt vererbte sich in Juda vom Vater auf den Sohn. Einer alten
Tradition zufolge leiteten die judäischen Priester ihr Geschlecht
von einem gemeinsamen Ahnen her, nämlich von Aaron, dem
Bruder Moses* aus dem Stamme Levi. Seit den Zeiten des Königs
Salomo war das Oberpriesteramt am Jerusalemer Tempel im Ge-
schlechte Zadoks erblich. Im israelitischen Reiche gab es nach der
religiösen Umwälzung durch Jerobeam I. Laienpriester, die weder dem
Aaroniden- noch dem Levitengeschlecht angehörten. Am wenigsten
konnten die dem volkstümlichen Kultus vorstehenden „Priester der
Anhöhen“ (kohane bamoth) auf vornehme Abstammung stolz sein,
denn gar häufig fehlte ihnen auch die einem geistlichen Würden-
träger geziemende Sittenreinheit3). Die Vertreter der offiziellen
Tempelpriestersehaft, besonders in Jerusalem, blieben auch jetzt die
1) Ex. 23, 14 f.; Deutr. 16; Lev. 23 u. a. In den letzten zwei Büchern
machen sich schon die späteren Bestrebungen bemerkbar, diesen Festen den
Charakter geschichtlicher und offizieller Tempelfeste zu verleihen. S. unten, § 83.
2) In den Urkunden wird das Befragen des ,,Efod“ in der nachdavidischen
Zeit fast gar nicht mehr erwähnt. Die Könige Ahab und Josafat befragen vor
dem Kriege mit den Aramäern nur die Propheten; zu diesem Zwecke gab es eine
besondere Institution: die Hofprophetie.
3) I. Kön. 12, 31; i3, 33; II. Kön. 23, 9, 20.
22 1
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
des Gesetzes Kundigen sowie die Hüter der heiligen Überlieferungen
und des religiösen Schrifttums. Während der Beruf der religiösen
Unterweisung des Volkes den Priestern von den Propheten streitig
gemacht wurde, blieb ihre Autorität in Fragen der religiösen
Bräuche und Riten auch jetzt ungeschmälert: sie machten dem
Volke die Gesetze über „rein“ und „unrein“ in Speise und Trank
klar und unterwiesen es auch in den Regeln der Gesundheitspflege
und der Krankenbehandlung1). Wie die Priester anderer Völker
verfügten auch sie über gewisse medizinische Kenntnisse und traten
als Heilkundige auf; nur wenige von den Propheten wetteiferten
mit ihnen auf diesem Gebiete (Elias, Elischa). Von den Gerichts-
funktionen der Priester war bereits oben die Rede (§ 47)«
Außer dem öffentlichen Gottesdienst gab es auch einen Ritus
innerhalb des häuslichen Lebens. Dieser bestand aus einer Menge
Sitten und Bräuche, die im alten Volksglauben wurzelten. Hierher
gehört auch der Ritus der Beschneidung der männlichen Säug-
linge. Der Brauch der „Vorhautbeschneidung“ wurde in uralten
Zeiten zur Verhütung von gewissen im tropischen Klima ver-
breiteten Geschlechtskrankheiten eingeführt und erhielt erst später
eine religiöse Sanktion. Unbeschnittenen wurde anscheinend die
Ehe und der Eintritt in die Gemeinde der Gläubigen untersagt2).
Die Bedeutung eines Symbols des „Bundes“ (Brith) zwischen Gott
und dem Volke Israel mag der Beschneidungsbrauch erst nach
seiner Abschaffung bei den anderen Völkern erlangt haben, als er
im israelitischen Volke erhalten blieb zur Unterscheidung von den
Unbeschnittenen (Arelim). Die mit Geburt, Eheschließung und
Tod verbundenen Zeremonien zeichneten sich durch patriarchalische
Schlichtheit aus. Am Lager des Toten pflegte man laut zu weinen
und zu jammern, wozu auch spezielle „Klagefrauen“ bestellt wurden.
Zum Zeichen der Trauer schüttete man Asche aufs Haupt, zog statt
des Mantels einen Sack über und umgürtete sich mit einem Strick.
Die Vorstellungen vom Leben im Jenseits waren zu jener Zeit noch
sehr unklar und verworren; man glaubte, daß der Tote nach
seinem Ableben sich zu seinen Ahnen geselle, daß es einen gemein-
samen Wohnort aller Toten, den „Scheol“, gebe, etwa in der Art
x) Deutr. 17, 9 f.; 33, 10; Lev. i3—15.
2) Gen. 17, 10; 21, 4; Ex. 4, 25.
222
§ 48. Religion und Kultus
eines unterirdischen Schattenreichesx). In den Volkssitten finden
sich noch Überreste des primitiven Totenkultes (Animismus) in
Form von „Totenmahlen2)“. Auch glaubte man, die Seelen der
Toten zu Zwecken der Weissagung aus dem Totenreiche herauf-
beschwören zu können (Nekromantie: die Geschichte von der Hexe
zu Endor). Das Gesetz verdammte in schroffer Weise all diesen
Volksaberglauben. Die Zauberkunst und die Hexerei, der Glaube
an Dämonen und Gespenster, wurden von dem Gesetzgeber dem
Götzendienst gleichgestellt3). Die Jahvereligion, die die aber-
gläubischen Volksbräuche als solche verwarf, behielt dennoch
manche von ihnen bei, nachdem sie ihnen eine veränderte sym-
bolische Bedeutung verliehen hatte. Auf diese Weise wurden wohl
verschiedene Amulette beibehalten, die ehedem als Schutzmittel
gegen die bösen Dämonen angewendet wurden, so z. B. die Quasten
am Kleidersaum („Zizith“), das Stirnband („Totafoth“), die Talismane
mit Inschriften an den Türpfosten („Mesusoth“). Im Gesetz wurden
alle diese Amulette zu Andachtsgegenständen umgewandelt, zu sym-
bolischen Zeichen, die die religiöse Stimmung aufrechterhalten und
die Gläubigen an die Gebote Jahves erinnern sollten4).
Was das Dogma anbetrifft, so stellte die israelitische Religion
in der Zeit der Reichstrennung ein Gemisch von verschiedenartigen
religiösen Anschauungen niederer und höherer Art dar. Der gemeine
Mann hatte einen anderen Begriff von der Religion als der An-
hänger der Propheten: jener fügte dem Jahveismus heidnische Vor-
stellungen und Kultformen hinzu, während dieser bestrebt war, den
Jahveismus von heidnischen Elementen durchaus reinzuhalten. Die
Wechselwirkung dieser beiden Richtungen bestimmte die geschicht-
liche Entwicklung der israelitischen Religion. Das Prinzip eines
nationalen oder territorialen Gottes war in der Gedankenwelt des
Volkes noch immer vorherrschend: Jahve ist der Gott Israels, und
Israel ist das Volk Jahves; Jahve ist der Gönner des israelitischen
x) Gen. 37, 35; Jes. i4; 38, 10. Vgl. die übliche Wendung in den Königs-
büchern: „Und es entschlief der König (es folgt der Name des betreffenden
Königs) zu seinen Vätern und ward begraben . .
2) Deutr. 18, 11; 26, i4; Psalm 106, 28.
3) Ex. 22, 17; Lev. 19, 26; 20, 6; Jes. 8, 19.
4) Ex. i3, 16; Num. i5, 38—39; Deutr. 6, 8—9; 11, 18; 22, 12. Vgl.
„Jüdische Altertümer“ von Josephus Flavius, Buch IV, Kap. 8, S i3.
223
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
Landes, ist an dessen Boden gebunden, „wohnt unter seinem Volke“.
Es galt die Auffassung, daß Jahve geradeso ein Privatgott Israels
sei wie Kemosch einer der Moabiter oder wie die verschiedenen
Baale bei den einzelnen kanaanitischen Völkern, und daß sein
Wirkungskreis durch die von Stamm oder Land gesetzten Schran-
ken begrenzt sei (Monolatrie, Henotheismus1)). Der Kultus dieses
Stammesgottes bestand neben den Kulten der lokalen oder fremden
Gottheiten. Nach und nach bildete sich jedoch die Überzeugung
heraus, daß Jahve höher stehe als die Stammesgottheiten anderer
Völkerschaften, daß seine Macht sich nicht nur in den Schicksalen
eines einzelnen Stammes, sondern auch im Leben der gesamten
Menschheit kundtue. Die fremdländischen Gottheiten, die heid-
nischen Götzenbilder und die lokalen oder gar häuslichen Gottheits-
darstellungen verloren immer mehr vor dem überwältigenden Glanze,
der von Jahve ausging, an Bedeutung2). Allerdings wurden noch
immer mit Jahve anthropomorphische Vorstellungen verbunden:
der Gott wurde noch immer in menschlicher Gestalt gedacht, man
glaubte menschliche Leidenschaften ihm zuschreiben zu dürfen3).
Das Volk vermochte die bildlichen Darstellungen der Gottheit noch
nicht zu entbehren. Die Besten der Nation gelangten dagegen nach
und nach zu einer neuen Einsicht: sie predigten, daß Jahve durch
keine bildlichen Darstellungen erfaßt werden könne, daß er, der
nationale Gott Israels, zugleich der alleinige Gott des Universums
sei, der Schöpfer der Natur und der Menschen. Mit diesem dogma-
tischen Begriff verbanden sie ein umfassendes sittliches System:
*) Noch dem König David wird der bezeichnende Spruch in den Mund
gelegt: „Heute (während der Flucht vor Saul) treiben sie mich aus, daß ich
nicht teil an Jahves Eigentum haben soll, indem sie sprechen: ,Fort, diene
anderen Göttern* “ (I. Sam. 26, 19). Vgl. II. Sam. i5, 2Ö.
2) Die Fortschritte des Jahveismus sind auch aus der Tatsache des all-
mählichen Schwindens der Eigennamen mit der Partikel baal und des Häufig-
werdens von theophorischen Namen mit der Partikel Jahve (Jahu, Jo) zu er-
sehen: Joahas, Josafat, Joram, Ahasja u. dgl. mehr. In den neu aufgefundenen
samaritischen Inschriften aus der Zeit Ahabs („Ostraka“, vgl. $ 5o) finden sich
allerdings noch Namen mit der Partikel baal. Es ist anzunehmen, daß nach der
grausamen Ausrottung der Baalverehrer unter König Jehu auch die Namen mit
den heidnischen Bestandteilen gänzlich außer Gebrauch kamen.
3) Diese volkstümlichen Vorstellungen sind in den religiös-dichterischen
Schilderungen der Genesis und anderer Teile des Pentateuch, die zu jener Zeit
von Männern mit einer viel höherstehenden Weltanschauung verfaßt worden sind,
in ausgiebigster Weise verwendet worden.
224
§ 49. Die Entwicklung des Prophetismus
Gott verlangt von seinen Verehrern nicht so sehr die Vollziehung
von sinnfälligen religiösen Zeremonien als die Lauterkeit der Seele
und die Erfüllung der höchsten sittlichen Gebote. Nicht der Kultus,
sondern die Sittlichkeit bildet den Mittelpunkt der Religion. Diese
achthundert Jahre vor der christlichen Ära von den Propheten des
israelitischen und judäischen Reiches proklamierte Idee zeitigte
später eine radikale Umgestaltung der gesamten religiösen Welt-
anschauung des Judentums.
$ 49. Die Entwicklung des Prophetismus x)
In seiner ursprünglichen Form war der Prophetismus eine Er-
scheinung, die Israel neben vielen anderen Völkern des alten Orients
eigen war, und nur in seiner höchsten Entwicklungsphase wird er
zu einem originellen Produkt des geistigen Schaffens Israels.
Das Wort „Nabi“ im Sinne von „Verkünder“, Seher, ist unter
verschiedener Form in allen semitischen Sprachen anzutreffen, von
der assyrischen angefangen bis zur arabischen. So wurden Menschen
genannt, denen der Volksglaube eine geheimnisvolle geistige Kraft
zuschrieb, eine Begabung, die Zukunft vorauszusagen, das Un-
bekannte zu erraten und also auch zu „verkünden“, d. h. in Zeiten
der Volksbewegungen oder der politischen Umwälzungen Anleitungen
zu geben. Diese Begabung war bei dem Nabi mit einem gewissen
Grad von religiöser Verzücktheit verbunden. Diese, die sich in
Zeiten der nationalen Krisen mit politischer Begeisterung vermählte,
verwandelte sich in eine Triebkraft von großer politischer Trag-
weite. Hier liegt die Grenzlinie zwischen den Propheten höheren
und niederen Ranges, zwischen den einfachen Wahrsagern und
den weitsichtigen, für die Öffentlichkeit wirkenden Persönlichkeiten.
Den Ruf eines im Dienste der Öffentlichkeit stehenden Nabi
erwarb sich in Israel zuerst das patriotisch begeisterte Weib der
Richterzeit, Debora2). In dem sagenhaften Bericht über die Wirk-
1) Die Bezeichnung ,,Prophetismus“ gebrauchen wir im Sinne einer Welt-
anschauung oder eines Ideensystems der biblischen Propheten, das sowohl die
Religion wie auch die Ethik und Sozialpolitik mitumfaßt.
2) Moses lassen wir hier unerwähnt, da ihm die Bezeichnung „Nabi“ (Deutr.
34, 10), wie aus dem Zusammenhang zu ersehen ist, in dem allgemeinen Sinne
eines gottschauenden Gesetzgebers beigelegt wird, der seine Erleuchtungen un-
mittelbar von oben empfängt. Andererseits ist in der Schilderung auch des
15 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
225
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
samkeit dieser „Prophetin“ wie auch in ihrem Liede tritt uns eine
Schwärmerin für die nationale Einheit entgegen, die das Volk zum
Zusammenhalten und zur Abwehr der äußeren Feinde auf ruft.
Viel komplizierter erscheint die Gestalt Samuels, die sich an der
Grenzscheide zweier Epochen, der Richter- und der Königszeit,
erhebt. Die Urkunde zeigt ihn in drei aufeinanderfolgenden Stadien
der Prophetie: zunächst kommt man zu ihm als zu einem „Gottes-
manne“ (Wundertäter), um über verschwundene Eselinnen Auskunft
zu erhalten; dann steht er an der Spitze eines ganzen „Propheten-
trupps“ (chebel nebiim), der von einer religiös-patriotischen Ekstase
ergriffen ist; und schließlich agitiert er für die Königswahl Sauls
und steht überhaupt im Mittelpunkte jener politischen Umwälzung,
die ein allisraelitisches Königtum zur Folge hatte. In den Urkunden
wird Samuel mehrfach „ßoe“ genannt, d. i. Hellseher, Voraus-
blickender, wobei der spätere Textredaktor die Erklärung bei-
fügt, daß „die jetzt Propheten (Nabi) genannt werden, vor Zeiten
Seher (Roe) hießen“ (I. Sam. 9, 9). So vereinigte die Volks-
überlieferung in der Persönlichkeit Samuels den Propheten höheren
und niederen Ranges: einen gewöhnlichen Orakelwahrsager, einen
begeisterten Patrioten und den höchsten geistigen Führer der Nation.
Dieser Prophet gibt dem künftigen König Saul, den er zu seinen
Gesinnungsgenossen sendet, folgende Anweisung mit auf den Weg:
„Wenn du dorthin in die Stadt (Gibea) kommst, wirst du einem
Trupp Propheten begegnen, die von der Opferstätte (Bama) herab-
kommen, vor ihnen her Harfe, Pauke, Flöte und Zither, sie selbst
sind verzückt (,mitnabim‘, prophezeien), da wird dann der Geist
Jahves über dich kommen, daß du mit ihnen in Verzückung
gerätst (prophezeist) und dich in einen anderen Menschen ver-
wandelst *).“ Hier kommt in der Prophetie das Moment der religiös-
patriotischen Ekstase, die sich den Seelen mitteilt und einen gewöhn-
lichen Menschen in einen „Propheten“ zu verwandeln vermag, d. i.
in einen begeisterten Kämpfer für die Volkssache, klar zum Aus-
druck.
fremdstämmigen Propheten Bileam das Element der unbewußten Eingebung im
Zustande der Ekstase hervorgehoben: „So spricht Bileam, der Sohn Beors, so
spricht der Mann mit dem geschlossenen Auge, so spricht, der vernimmt Gottes
Worte und den höchsten Gedanken kennt, das Gesicht des Allmächtigen schaut,
hingesunken und enthüllten Auges“ (Num. 24, 3—4, i5—16).
*) I. Sam. 10, 5—6.
226
§ 49. Die Entwicklung des Prophetismus
In der Regierungszeit Davids treten die unklaren Umrisse zweier
Propheten gestalten hervor, Nathans und Gads. Der erste, der die
Sünde des Königs in seiner Parabel vom reichen und armen Manne
geißelt, ist zugleich Hofprophet und Anhänger einer bestimmten
politischen Parteix). Der andere führt den Namen eines „Hof-
sehers“ (Chose ha’melech) und berät oder warnt den König im
Namen Jahves2). In der Regierungszeit Salomos tritt der Prophet
und Agitator Ahia aus Silo mit Strafpredigten hervor. Dieser leistete
zuerst dem Aufrührer Jerobeam in seinem Kampfe mit Salomo
Beistand, sah sich aber dann durch den Mann seiner Wahl ent-
täuscht3). Dann folgt eine Reihe wenig bekannter Propheten
(Schemaja, der „Gottesmann“, unter Rehabeam, Hanani unter
König Asa, Jehu ben Hanani unter Baasa u. a.), die anscheinend
an den politischen Wirren der Reichstrennungsepoche regen Anteil
nahmen4). j
Die gesellschaftliche Bedeutung der Propheten zeigte sich be-
sonders in der Zeit des Elias und Elischa. Die Lebensgeschichte
beider Propheten ist von Volkssagen um woben, die in ihren Lieb-
lingshelden wundertätige Wahrsager im primitiven Sinne des Wortes
„Nabi“ erblicken; in dem Bericht der Urkunde, die diese Elemente
der Volkssagen in sich auf genommen hat, treten jedoch auch die
religiös-politischen Züge in der Wirksamkeit beider Propheten klar
hervor. Diese beiden Propheten des nördlichen Reiches hatten eine
bestimmte Aufgabe auf sich genommen, von der ein jeder einen
Teil zur Ausführung brachte. Elias kämpfte mit aufopfernder
Hingabe gegen den Synkretismus im religiösen Kultus und gegen
den Despotismus des Königs Ahab; Elischa agitierte gegen die
antinationale Dynastie der Omriden, und es gelang ihm, ihren Sturz
herbeizuführen. Beide waren von einer Schar junger „Propheten-
söhne“ (Bne ha’nebiim) umgeben, die oft wichtige politische Auf-
träge ausführten, z. B. bei dem Umsturz Jehus6). Aus diesen
Kreisen kam nicht nur ein religiöser, sondern auch ein sittlicher
Protest gegen die weissagenden Propheten niederen Ranges; nicht
nur die „Propheten Jahves“ treten den „Propheten Baals“ ent-
*) II. Sam. 7, 2 f.; 12; I. Kön. 1, 8 f.
2) I. Sam. 22, 5; II. Sam. 24, nf.; II. Chron. 29, 25.
8) I. Kön. 11, 29; i4, 2 f.
4) I. Kön. 12, 22; 16, 1, 7; II. Chron. 16, 7 f.
5) II. Kön. 9, 1 f.
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
gegen, sondern auch die „wahren“ Propheten den „falschen“ (Nebie
ha’scheker); die unabhängigen Volkstribunen, die den Regierenden
und den Oberen die Wahrheit frei ins Gesicht sagen, wenden sich
gegen die käuflichen Orakelkünder von Beruf, von denen es hieß:
„Wenn sie mit ihren Zähnen zu beißen haben, rufen sie Heil!
Aber gegen den, der nichts in den Mund gibt, erklären sie den
Krieg 1).“ Ein Beispiel eines solchen Konfliktes finden wir bereits
in dem Auftritt, der sich zwischen Micha ben Jimla und Zedekia
ben Kanani am Hofe Ahabs (§ 36) abspielte2). Der Kampf mit
den „falschen Propheten“ bleibt bis zum Untergänge beider Reiche
eine ständige Begleiterscheinung der Prophetie3).
Der Wendepunkt in der Entwicklung des Prophetismus fällt in
das VIII. Jahrhundert. Es erscheint ein neuer, höherer Propheten-
typus. Es ist dies der Prophet, der zugleich Lehrer, Prediger und
politischer Volksredner ist, der inbrünstig eine radikale Erneuerung
der religiösen und sozialen Ordnung auf Grund der höchsten sitt-
lichen Ideale herbeisehnt. Er vollbringt keine Wunder, um das
Volk zu überzeugen, er hält nicht die dunklen Reden eines Orakel-
deuters, sondern verkündet mit der Begeisterung eines Apostels die
erhabensten religiösen, sittlichen und politischen Wahrheiten. Die
neuen Propheten schaffen eine besondere Form der Rede, in der
Pathos mit lyrischer Innigkeit, Beredsamkeit mit Poesie, Prosa mit
gebundener Rede vereint sind. Die Reden dieser begeisterten Männer
wurden von ihnen selbst oder von ihren Jüngern nieder geschrieben
und sind uns als literarische Denkmäler erhalten geblieben. Die
mündliche Prophetie der früheren Zeit macht nach und nach, mit
der zunehmenden geistigen Entwicklung des Volkes, einer Prophetie
in schriftlicher Form Platz. Zu der ersten Gruppe von Propheten
dieser neuen Art gehören Arnos und Hosea im israelitischen Reiche,
Jesaja und Micha in Juda.
Zwei Grundideen sind für diese neue Richtung im Prophetismus
charakteristisch: i. der universale Gottesbegriff und 2. der ethische
Monotheismus. In den Reden Amos’ tritt zum ersten Male der
Übergang von dem Begriffe Jahves als eines Stamm- oder natio-
nalen Gottes zu dem eines universalen Gottes zutage. In der Vor-
1) Micha 3, 5.
2) I. Kön. 22, 8 f.
3) Vgl. Jeremia, Kap. 26—29.
§ 49. Die Entwicklung des Prophetismus
Stellung des Propheten hat Jahve nicht nur die Schicksale des
israelitischen Volkes in seiner Hand, sondern auch die aller anderen
Völker: er ist nicht nur der Gott eines Stammes wie irgendein Baal
oder Kemosch, sondern auch der Gott der Welt, der die geschicht-
lichen Schicksale der gesamten Menschheit lenkt. „Seid ihr nicht
wie die Kuschiten, ihr Israeliten, — so spricht Jahve durch den
Mund des Propheten — habe ich nicht Israel aus Ägypten her-
geführt und die Philister von Kaphtor und die Aramäer aus Kir?“
(Arnos 9, 7). Das will sagen, daß derselbe Gott, der dem Nomaden-
volke Israel Kanaan als seinen ständigen Wohnort zugewiesen hat,
auch die von den jonischen Inseln hergekommenen Philister mit
einem Landgebiet in Palästina bedacht hat, ebenso die Aramäer mit
einem Stammsitz in Syrien. Gott sorgt für alle Völker. Der Prophet
streitet die Auserkorenheit Israels nicht ab, sucht aber dabei klar-
zumachen, daß gerade an die Auserwählten größere Anforderungen
zu stellen sind. „Von allen Völkern der Erde habe ich (Jahve)
nur euch erkannt (erwählt), darum werde ich alle eure Ver-
schuldungen an euch strenger strafen“ (Am. 3, 2). Aus der Idee
eines universalen Gottes zieht Arnos den richtigen Schluß: er
prophezeit auch die Schicksale anderer Völker, die zu jener Zeit
am politischen Horizonte Israels sichtbar waren; im Namen Jahves
droht er diesen Ländern und Völkern: Damaskus, Tyrus, Edom,
Ammon, Moab, mit verschiedenen Strafen, besonders für ihre sitt-
lichen Verfehlungen. Allein während die heidnischen Völker nur
für Grausamkeit und Unmenschlichkeit in ihren Kriegen mit den
Nachbarn bestraft werden sollen, werden Israel und Juda für jede
Verletzung der höchsten Gerechtigkeit und Sittlichkeit im gesell-
schaftlichen und persönlichen Leben verantwortlich gemacht (Arnos,
Kap. 1 und 2). Die Sünde der Judäer besteht darin, daß sie „das
Gesetz Jahves verworfen und seine Satzungen nicht gehalten haben“,
und die Sünde der Israeliten darin, daß sie „für Geld einen Recht-
schaffenen verkaufen und den Dürftigen um eines Paars Schuhe
willen“, daß sie „die Geringen auf den Kopf schlagen und die
Elenden aus dem Wege drängen“. Voll Empörung über die soziale
Ungerechtigkeit sagt Arnos: „Wehe den Sorglosen in Zion und den
Sicheren auf dem Berge Samarias. . . . Sie liegen auf Lagern von
Elfenbein und räkeln sich auf ihrem Diwan, sie essen die Lämmer
von der Herde weg und die Kälber aus dem Stalle, sie gröhlen zum
229
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
Klang der Harfe, sie trinken den Wein aus Schalen und versalben
das beste Öl, aber sie grämen sich nicht um den Schaden (des
Geschlechtes) Joseph!“ (Arnos 6, i—6). An die Frauen des vor-
nehmen Standes wendet sich Arnos mit folgenden wenig liebens-
würdigen Worten: „Hört dieses Wort, ihr Basanskühe auf dem
Berge Samarias, die die Geringen bedrücken, die Dürftigen zer-
malmen, die zu ihrem Herrn sprechen: Schafft uns zu trinken!
Fürwahr, es sollen Tage über euch kommen, so wird man euch
selbst an Angeln und euren Nachwuchs an Fischhaken empor-
ziehen, und ihr werdet durch die Breschen hinausgetrieben!“
(Arnos 4> i—3).
Das Ideal des Guten und des Gerechten ist für den Propheten
nicht abgesondert von der Religion, sondern bildet für ihn ihr
ureigentliches Wesen. Arnos vollbringt eine völlige Umwertung der
Ideale: nicht der Kultus oder die Riten, sondern die sittliche Ver-
vollkommnung ist der Sinn und das Ziel der Religion. Die äußer-
liche Frömmigkeit und den rituellen Eifer der Israeliten verhöhnend,
sagt Arnos im Namen Gottes: „Eure Neumonde hasse ich, verachte
eure Feste und kann eure Feiertage nicht riechen. Eure Gaben
nehme ich nicht gnädig auf und die Mahlopfer von euren Mast-
kälbern sehe ich nicht an. Hinweg von mir mit diesem Geplärre
eurer Lieder, das Rauschen eurer Harfen mag ich nicht hören!
Möge vielmehr Recht sprudeln wie Wasser und Gerechtigkeit wie
ein nimmer versiegender Bach!“ „Fürwahr, es sollen Tage kommen,
ist der Spruch des Herrn Jahve, da will ich Hunger in das Land
senden, nicht Hunger nach Brot und nicht Durst nach Wasser,
sondern danach, das Wort Jahves zu hören, daß sie von einem
Meere zum anderen wanken und von Norden nach Osten umher-
schweifen, um das Wort Jahves zu suchen, ohne etwas zu finden!“
(Am. 5, 21; 8, n).
Als Arnos in den ruhigen Tagen Jerobeams II. von dem heran-
nahenden furchtbaren „Tage Jahves“ weissagte, der Verderben über
das israelitische Reich bringen werde, hatte er wahrscheinlich jene
Gefahr des assyrischen Einfalls im Auge, die zu jener Zeit nur
vorausgeahnt werden konnte. Die Propheten waren stets, dem
Worte eines modernen Geschichtsschreibers zufolge, „die Sturmvögel
der Weltgeschichte“: sie erhoben ihre Stimme am Vorabend ge-
waltiger geschichtlicher Umwälzungen und riefen das Volksbewußt-
280
§ 49. Die Entwicklung des Prophetismus
sein wach. Der unmittelbare Nachfolger des Propheten Amos hatte
es mit der schon tatsächlich eingetretenen Katastrophe zu tun. Der
Prophet Hosea erlebte die ersten Einfälle Assyriens in das israeli-
tische Reich mit und sah die Todeszuckungen seiner dem Unter-
gänge geweihten Heimat. Die furchtbare Volksnot machte es ihm
unmöglich, die Höhen des weltumfassenden Gedankens zu ersteigern
Wie ein Arzt am Lager eines von einem schweren Siechtum Be-
fallenen, sucht er in tiefer Betrübnis die* Krankheitsursachen heraus-
zufinden und ruft sein Volk voll glühender Leidenschaft zu ihrer
Beseitigung auf. Die Hauptursache alles Elends, das über Samaria
herein gebrochen ist, erblickt Hosea im geistigen Wankelmut und in
den religiösen Verirrungen. Oft vergleicht er die israelitische Nation
mit einer unzüchtigen Frau, die ihren gesetzlichen Gemahl, Jahve,
verläßt und ihren Liebhabern, den Baalen, nachläuft. Jahve zürnt
der Untreuen, bewahrt ihr aber doch seine Liebe und harrt ihrer
Wiederkehr. Mit dem „Nachlaufen den Baalen“ meint Hosea nicht
sowohl den Kultus fremder Gottheiten, der um jene Zeit unter
den Israeliten kaum noch verbreitet war, sondern eher jene heid-
nischen Formen, die der Jahvekultus im nördlichen Reiche an-
genommen hatte: er kämpfte gegen die bildlichen Darstellungen
Gottes an, gegen die bacchantischen Ausschweifungen, von denen
der Gottesdienst auf den Anhöhen begleitet war, gegen die Hab-
gier und Sittenlosigkeit der Priester: „Mein Volk befragt sein Stück
Holz (eine Gottesdarstellung aus Holz), und sein Stab gibt ihm
Bescheid 1 Denn ein hurerischer Geist hat es betört, daß sie hurend
ihren Gott verlassen. Auf den Gipfeln der Berge schlachten sie und
opfern auf den Hügeln, unter den Eichen und Weißpappeln und
Terebinthen — ihr Schatten ist so schön! . . . Besucht doch nicht
Gilgal, zieht doch nicht hinauf nach Bethaven (,Haus der Lüge4 —
ein Schmähwort für die heilige Stadt Betel, deren Name soviel be-
deutet wie ,Haus Gottes4). In Stücke soll zergehen das Kalb Sa-
mariens (das Standbild des Kalbes im Tempel). Denn ein Künstler
hat es gemacht, aber Gott ist es nicht44 (Hosea 4> 12L; 8, 5—6).
Angesichts des qualvollen Todeskampfes Israels erinnert Hosea
das Volk an seine geschichtliche Jugendzeit, an den Auszug aus
Ägypten und das Umherirren in der Wüste Sinai, wo Gott und
das Volk Israel der Überlieferung zufolge durch die Offenbarung
vereinigt wurden. „Wie Trauben in der Wüste fand ich Israel,
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
so redet Gott durch den Mund des Propheten — wie eine Früh-
frucht am Feigenbaum erblickte ich seine Vorfahren“ (9, 10). Eine
grenzenlose väterliche Liebe spricht aus dem folgenden Bekenntnis
Jahves: „Als Israel jung war, gewann ich es lieb, und von Ägypten
an habe ich seine Scharen gerufen. Ich selbst gängelte die Ephrai-
miten und nahm sie auf meinen Arm. Wie könnte ich dich daran-
geben, Ephraim, wie könnte ich dich preisgeben, Israel? Mein Sinn
in mir verwandelt sich, zugleich ist mein Mitleid entbrannt. Mein
heißer Zorn soll nicht zur Tat werden, ich will mir nicht so wider-
sprechen, daß ich Ephraim verderbe. Denn ich bin Gott und nicht
ein Mensch“ (11, 1—9). Diese Apotheose der Liebe und der all-
umfassenden Vergebung führt den Propheten zu dem Glauben an
eine geistige und politische Wiedergeburt Israels. Bemerkenswert ist
es, daß beide israelitischen Propheten, sowohl Arnos wie Hosea, die
Wiedergeburt des israelitischen Reiches von der Vorrangstellung
Judas und seiner Dynastie erhoffen. Arnos redet von „der Auf-
richtung der zerfallenen Hütte Davids“ (Am. 11, 9); Hosea stellt
häufig dem zügellosen Ephraim das rechtgläubige Volk Judas
gegenüber und verkündet, daß das reuige Israel sich am „Ende
der Tage“ zu Jahve und zu dem Könige aus dem Hause Davids
hin wenden würde (Hos. 3, 5; l\, i5). Die verhältnismäßig große
nationale und geistige Standhaftigkeit Judas sowie die Dauer-
haftigkeit seiner zwei Hauptstützen, der Davidischen Dynastie und
des Jerusalemer Tempels, ließen die Propheten die Errettung der
ganzen Nation von ihrer Vereinigung unter der Oberherrschaft
Jerusalems erhoffen. Für die Erfüllung dieser Hoffnung kämpfte
der Jerusalemer Prophet Jesaja ben Amoz1), einer der gewaltigsten
Vertreter des judäischen Prophetismus, sein ganzes Leben lang.
Jesaja trat an der Grenzscheide zweier Zeitalter auf, als die
eine Hälfte der israelitischen Nation ihrem Verderben entgegenging,
während die andere krampfhaft nach einer Rettung ausspähte.
Mitten in dem ganz Vorderasien erfüllenden Waffengeklirr, als
Reiche und Völker vom Erdboden verschwanden, rief dieser ge-
waltige Prophet die judäisohe Nation zur Wiedergeburt auf. Nicht
*) Zu den Prophezeiungen Jesajas gehören mit einigen Ausnahmen die ersten
39 Kapitel des Buches Jesaja. Die Kapitel 4o—66 des Buches dagegen rühren
Yon einem oder von mehreren Propheten aus der Zeit des babylonischen Exils
und der persischen Herrschaft her (vgl. unten, S 69).
23a
§ 49. Die Entwicklung des Prophetismus
nur mit dem Wort, sondern auch mit der Tat trug er zu dieser
Erneuerung des Volkslebens bei, die Juda von dem furchtbaren
Los des nördlichen Reiches errettete. Jesaja gehörte anscheinend
den höheren Klassen der Jerusalemer Gesellschaft an und stand in
nahen Beziehungen zu den regierenden Kreisen. Der Tiefsinn eines
Weisen und die Begeisterung eines Dichters vermählten sich in ihm
mit dem Tatsachensinn und der Energie eines Staatsmannes. Die
erste „Vision“, die Jesaja seinen heiligen Beruf offenbarte, fällt in
das Todesjahr des Königs Usia. Jedoch als Staatsmann trat er erst
am Anfang der Regierung Ahas’ auf (§ 44)« Als Jerusalem durch
das Herannahen der verbündeten aramäisch-samaritischen Truppen
Rezins und Pekachs in Schrecken versetzt wurde, ermunterte der
Prophet das Volk und beruhigte Ahas, der, ganz ratlos, bald auf
die Verteidigung seiner Residenz die Hoffnung setzte, bald Unter-
handlungen mit Assyrien einzuleiten suchte. Eines Tages, als Jesaja
Ahas am oberen Kanal begegnete, wo dieser Schutzmaßnahmen
für den Fall einer Belagerung der Hauptstadt traf, wandte sich
der Prophet mit folgenden Worten an den König: „Hüte dich
und halte Ruhe, fürchte dich nicht und dein Herz verzage nicht
wegen dieser beiden rauchenden Stummel von Brandscheiten, bei
dem lodernden Zorn Rezins und der Aramäer und des Sohnes
RemaljasI“ (7, 4)- Mit der internationalen Lage wohl vertraut, sah
der Prophet voraus, daß die Verbündeten gezwungen sein würden,
Juda zu verlassen und daß ihre Länder dem assyrischen König
als Beute zufallen würden; zugleich billigte er aber auch den
Entschluß Ahas' nicht, Juda freiwillig unter die Vormundschaft
Assyriens zu stellen. Die unwürdige Politik Ahas’, der sich demütig
dem Willen Tiglat-Pilesers fügte, verletzte den nationalen Stolz
des Propheten. Das Vasallen Verhältnis zu dem despotischen, die
schwachen Reiche zermalmenden Assyrien widersprach auch dem
sittlichen Gefühl Jesajas. Er riet Juda, sich nicht in die unstete
Politik einer Großmacht verstricken zu lassen, die, nachdem sie die
kleinen Nationen verschlungen habe, selbst von ihrem Verhängnis
ereilt werden würde; er predigte, das judäische Volk möge abseits
stehen und sich ganz seiner inneren Vervollkommnung und Stärkung
hingeben. Unter Hinweis auf den bereits immer weiter um sich
greifenden Verfall des israelitischen Reiches drohte der Prophet
Juda mit dem gleichen Los. Israel sei ein Spielball der politischen
233
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
Leidenschaften geworden, dasselbe werde Juda widerfahren, wenn
es sich nicht auf die ewigen geistigen Quellen seines nationalen
Seins besinne. In den historischen Schicksalen der Völker erblickt
der Prophet den Ausdruck eines höheren Willens: Assur ist nur
„der Stock des göttlichen Zornes. Trotzt wohl die Axt dem, der
damit haut? oder tut die Säge groß gegen den, der sie zieht?“
(Jes. io, 5—15). Das Sittengesetz habe das entscheidende Wort
in der Weltgeschichte; mächtige Staaten seien nur blinde Werk-
zeuge bei dem Vollzug des Todesurteils an dem dem Tode Ge-
weihten; nur den gerechten, nach den Geboten der höchsten Sitt-
lichkeit handelnden Völkern könne die Rettung beschieden sein.
In der Zeit zwischen dem ersten und dem letzten Zusammen-
bruch des israelitischen Reiches (733—720) verkündete Jesaja das
Los des dem Verderben geweihten Samaria mit folgenden harten
und unerbittlichen Worten: „Wehe der stolzen Krone der Trunken-
bolde Ephraims und den welkenden Blumen seines herrlichen
Schmucks auf dem Gipfel des fetten Tals (Samariens) der vom
Weine Berauschten! Schon kommt ein Starker und Gewaltiger des
Herrn (Assur) wie ein Hagelwetter, ein zerschmetternder Sturm,
wie ein Wetter von gewaltigen reißenden Wassern! Er wirft alles
zu Boden, man zertritt mit Füßen die stolze Krone der Trunken-
bolde Ephraims. ... An jenem Tage wird Jahve der Heerscharen
eine schmucke Krone und ein herrlicher Stirnreif dem Reste seines
Volkes (Juda) sein und gerechte Gesinnung geben dem, der zu
Gerichte sitzt, und Heldenkraft denen, die den Kampf zum Tore
hinaus Zurückschlagen!“ (Jes. 28, 1—6). Ein glühender Patriot
Judas, verschmerzte der Prophet den Sturz Samarias, der die
unausbleibliche Folge seines Abfalls von dem gesamtnationalen
Bunde und seines religiös-sittlichen Verfalls war. Aber auch das
heimatliche Juda erscheint Jesaja von dem Wege der Tugend und
vom Ideal eines gerechten Staates weit abgeirrt, und er bedroht es
mit dem Los Samariens, wenn es sich nicht bessern wolle. Er ist
empört über die Seelenruhe der Regierenden in Jerusalem, nachdem
sie in so schimpflicher Weise dem assyrischen König ihre Unter-
würfigkeit bezeugt hatten: „Hört darum das Wort Jahves, ihr Spötter,
ihr Spottlieddichter dieses Volkes in Jerusalem! Ihr habt gesagt:
Wir stehen mit dem Tode in Vertrag und haben mit der Hölle ein
Abkommen, die flutende Geißel wird, wenn sie daherfährt, uns
234
§ 49. Die Entwicklung des Prophetismus
nicht erreichen, denn wir haben Lüge zu unserer Zuflucht ge-
macht und in Trug uns geborgen. . . . Allein Hagel vernichtet die
Lügenzuflucht, und Wasser schwemmt die Trugburg fort; euer
Vertrag mit dem Tode wird gebrochen und euer Abkommen mit
der Hölle gilt nicht. Wenn die flutende Geißel (Assyriens) daher-
fährt, sollt ihr von ihr zermalmt werden“ (28, i4—18).
Tiefe Entrüstung tönt aus den Reden Jesajas in jenen Jahren,
als Ahas, der Protektion Tiglat-Pilesers sicher, auch in Juda
assyrische Sitten heimisch zu machen suchte. Die Nachahmung der
heidnischen Kulte, die Sittenlosigkeit, die soziale Ungerechtigkeit,
alles dies geißelt der Prophet in seinen glühenden Strafreden.
„Ach, wie ist zur Hure geworden die treue Stadt! — so ruft er
einmal aus, den Vergleich seines samaritischen Zeitgenossen Hosea
auf Jerusalem beziehend — Zion, das von Recht erfüllt war, eine
Herberge der Gerechtigkeit, aber jetzt sind dort Mörder. Deine
Führer wurden Aufrührer und Diebsgenossen; sie alle nehmen gern
Geschenke und laufen der Bezahlung nach; den Waisen schaffen
sie nicht ihr Recht, und die Sache der Witwen kommt nicht vor
sie“ (1, 21—23). Voll Empörung tritt der Prophet gegen die-
jenigen auf, die auf unehrlichem Wege Reichtümer anhäufen:
„Wehe denen, die Haus (das eigene) an Haus (das fremde) reihen,
Feld an Feld rücken, bis kein Platz mehr bleibt und ihr allein die
Besitzer im Lande geworden seid. Wehe denen, die frühmorgens
schon dem Rauschtrunk nachgehen und die spät abends noch der
Wein erhitzt! Die Zither und Harfe, Pauke und Flöte und Wein
zum Gelage vereinen, aber nach dem Tun Jahves nicht blicken und
das Werk seiner Hände nicht sehen“ (5, 8—13). Mit Verachtung
blickt der Prophet auf den Hang der Jerusalemer Frauen zu Luxus
und Schmuck herab: „Weil die Frauen Zions so hochfahrig sind,
im Gehen den Hals hochrecken und freche Blicke werfen, immer-
fort tändelnd einhergehen und mit den Fußspangen klirren, wird
der Herr den Scheitel der Frauen Zions grindig machen und Jahve
ihre Scham entblößen“ (3, 16—17). Wie es schon der Prophet
Arnos tat, so tadelt auch Jesaja in scharfer Weise diejenigen, die
die Gesetze von Recht und Gerechtigkeit im sozialen Leben ver-
letzen und zugleich Gott durch Opfer und Gebet wohlgefällig sein
möchten. „Was soll ich mit euren vielen Schlachtopfern? spricht
Jahve. . . . Wenn ihr hereinkommt, mein Antlitz zu sehen (in den
235
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
Tempel), wer hat von eurer Hand gefordert, meine Vorhöfe zu
zertreten? Bringt keine eitlen Gaben mehr dar. Räucherwerk —
ein Greuel sind sie mir! Eure Versammlungen und eure Festtage
kann ich nicht leiden. Auch wenn ihr noch soviel betet, ich höre
nicht; denn eure Hände sind voll Blutschuld. Waschet, reinigt
euch, schafft fort eure bösen Taten mir aus den Augen! Hört auf,
Böses zu tun! Trachtet nach dem Recht, steuert den Gewalttätigen,
schafft den Waisen ihr Recht, führt die Sache der Witwen!“
(i, ii—17). Vor sechsundzwanzig Jahrhunderten erscholl dieser
leidenschaftliche Aufruf zu Recht und Gerechtigkeit, und noch
heute erscheint er ebenso zeitgemäß wie in jener altersgrauen Zeit.
Im gleichen Sinne predigte der Zeitgenosse, vielleicht auch
der Jünger Jesajas, der Prophet Micha von Moreschet. Indem er
im Lose Samarias das Walten der Gerechtigkeit erblickt, erhebt er
zugleich seine Stimme gegen Jerusalem: in der „Tochter Zions“
erblickt er die „Sünde Israels“. Micha warnt das judäische Volk
und die Könige vor „den Satzungen Omris und dem ganzen Treiben
des Hauses Ahabs“ (Micha 6, 16). Wie seinerzeit Hosea, so fleht
auch er in rührenden Worten das ganze Volk an und erinnert es
an den von ihm zurückgelegten geschichtlichen Weg von Ägypten
bis Kanaan. „Jahve rechtet mit seinem Volk und geht mit Israel
ins Gericht: mein Volk, was habe ich dir getan und womit dich
ermüdet? Klage mich an! Führte ich dich doch aus dem Lande
Ägypten und befreite dich aus dem Sklavenhause“ (6, 2—4)- Die
Macht des prophetischen Wortes lag in diesem anschaulichen Ge-
schichtsunterricht, in dem ständigen Betonen der Idee, daß im ge-
schichtlichen Leben der Völker das Sittengesetz das Szepter führe.
Die Formel dieses Gesetzes lautet: der endgültige Sieg gehört nicht
der physischen, sondern der geistigen, der sittlichen Macht und
derjenigen Nation, die über diese Macht verfügt.
Die Augenzeugen des Unterganges Samarias, die beiden judäi-
schen Propheten Jesaja und Micha, erlebten noch die ersten An-
zeichen der Wiedergeburt ihres Vaterlandes, des „Restes Israels“.
Schon in den letzten Lebensjahren Ahas’ ließ sich nämlich die
künftige Rolle seines Nachfolgers, des jungen Königssohnes Hiskia,
als Reformator voraussehen. Auf ihn setzte die nationale Partei ihre
höchsten Hoffnungen.
236
§ 50. Sprache und Schrifttum; die Urquellen der Bibel
§ 50. Sprache und Schrifttum; die Urquellen der Bibel
Ganz wie das Volk Israel selbst, das sich erst nach und nach
von der „hebräischen“ Gruppe der Semiten abgesondert hatte, ge-
hört auch die Mundart der alten Israeliten der umfassenderen
hebräischen Gruppe der semitischen Sprachen an. Der assyrischen
und aramäischen Sprache verwandt, scheint die hebräische Sprache
in ihrer Entwicklung zur Zeit der Ansässigkeit der Hebräer in
Kanaan von der kanaanitisch-phönizischen Sprache unmittelbar be-
einflußt worden zu sein1); davon zeugt die besonders nahe Ver-
wandtschaft der hebräischen Mundart mit der phönizischen. In
ihrer ursprünglichen Form hat sie sich lange auch bei den anderen
Stämmen der Gruppe der „Ibrim“ erhalten: bei den Moabitern, den
Ammonitern und den Edomitern. Hinsichtlich der Moabiter ist
dies hinlänglich erwiesen durch das Denkmal des Königs Mesa
aus dem IX. Jahrhundert vor der christlichen Ära (§ 37). Diese)
Sprache war bis zum babylonischen Exil sowohl im israelitischen
als auch im judäischem Reiche landläufig, nur wurde sie in Juda
im VIII. Jahrhundert als die „judäische“ (jehudith) bezeichnet,
zum Unterschied von der „aramäischen“ oder assyrischen, die zu
jener Zeit der judäischen Volksmasse ganz fremd war und der
nur vereinzelte an den auswärtigen Angelegenheiten beteiligte Per-
sonen kundig waren2). Die Aussprache scheint je nach der Gegend
verschiedenartig gewesen zu sein. So sprachen z. B. die Ephraimiten
das „sch“ wie ein „s“ aus („sibbolet“ statt „schibbolet“. Richter
12, 6). Vielleicht bestanden zwischen Nord und Süd auch manche
Unterschiede hinsichtlich der volkstümlichen Mundarten, jedoch
haben sich in dem ältesten Schrifttum keine Spuren davon erhalten.
Die Sprache der Thora, der prophetischen Bücher und der anderen
Bücher der Bibel war als Schriftsprache das Gemeingut des ge-
samten Volkes.
Schon sehr frühzeitig entwickelte sich bei den alten Hebräern
die Kunst des Schreibens. Ursprünglich scheinen sie sich dabei der
in ganz Vorderasien verbreiteten, im internationalen Verkehr üb-
*■) Vgl. „Sefat Kenaan“ im Buche Jesaja 19, 18.
2) II. Kön. 18, 26—28; Jes. 36, 11—13; die Würdenträger von Jerusalem
bitten den in Gegenwart des Volkes redenden assyrischen Gesandten, sich der
aramäischen, nicht aber der ,,judäischen“ Sprache bedienen zu wollen, damit
seine Worte dem Volke unverständlich bleiben.
237
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
liehen babylonischen Sprache bedient zu haben, sowie der assyrischen
Keilschrift, die im XV. und XIV. Jahrhundert in Kanaan gebräuch-
lich war (vgl. die in Tel-Amarna und Taanak aufgefundenen Briefe
der kanaanäischen Fürsten, oben § i). Die ältesten religiösen Denk-
mäler und Urkunden der Israeliten mochten vielleicht noch in Keil-
schrift auf Stein- oder Tontafeln auf gezeichnet worden sein *). Um
das XI. Jahrhundert kam in Kanaan gleichzeitig bei den Phöniziern
und den Hebräern das Buchstabenalphabet auf, das den Lauten der
Volkssprache angepaßt war. Jedoch lange noch kämpfte die alte
Keilschrift, die für urkundliche Schriftstücke verwendet wurde, mit
der neuen Schriftart um ihre Geltung2). Allmählich verdrängte in-
dessen die leichter erlernbare und für das Volk mehr zugängliche
Buchstabenschrift die Keilschrift ganz und gar3). Diese Buch-
stabenschrift ist uns in einigen hebräischen Inschriften, die unter
den bis jetzt auf gefundenen Denkmälern aus dem Palästina des
IX. und VIII. vorchristlichen Jahrhunderts sich vorfinden, er-
halten geblieben. Die ältesten Inschriften, die in dem Schutte Sa-
marias entdeckt worden sind, stammen aus der Zeit der Könige
Omri und Ahab. Es sind dies Buchstabeninschriften in hebräischer
Sprache, die mit Stift und Tinte auf Tontafeln hergestellt worden
sind4). Darauf sind Namen von Personen und Ortschaften auf-
gezeichnet, die dem Königshofe Wein, Olivenöl und dergleichen
als Naturalabgaben lieferten. Derselben Epoche gehört auch die
*) Vgl. oben, $ io. In der Überlieferung finden wir einen Hinweis auf
das Vorhandensein eines alten literarischen Zentrums im hebräischen Kanaan; die
südlich gelegene Stadt Debir hieß auch die Bücherstadt (Kirjat Sefer, Rieht, i, n),
was an die phönizische Stadt des Papyrus und der Bücher Byblos (daher ßißXiov
= Buch) erinnert.
2) Dies ist aus den zwei unlängst in Palästina bei den Ausgrabungen in der
Gegend des alten Gezer aufgefundenen Tontafeln mit assyrischer Keilschrift zu
ersehen, die zwei Kaufbriefe aus den Jahren 647 und 649 enthalten.
3) Es ist anzunehmen, daß die Buchstabenschrift zur Keilschrift im selben
Verhältnis s!and, wie in Ägypten die Volksschrift zur Priesterschrift (d. i. wie
die demotische zu den Hieroglyphen oder zur hieratischen Schrift). Man kann
vermuten, daß mit dem Ausdruck ,»göttliche Schriftzeichen“ (miktab elohim),
mit denen der Überlieferung zufolge die Sinaitafeln beschrieben waren (Ex. 3i,
18; 32, 16), die Keilschrift gemeint ist, während unter der ,,menschlichen
Schrift“ (cheret enosch; Jes. 8, 1) die Buchstabenschrift zu verstehen ist.
4) In der neueren Literatur heißen diese beschriebenen Tonscherben ,,Ostraka‘ ,
in Anlehnung an die Bezeichnung der griechischen Scherben aus der Zeit des
Aristides, auf die die Namen der zur Verbannung zu Verurteilenden geschrieben
wurden („Ostrakismus“, Scherbengericht). Sie wurden 1910 aufgefunden.
238
§ 50. Sprache und Schrifttum; die Urquellen der Bibel
große hebräische Inschrift auf dem berühmten Denkmal Mesas
(um 84o) an, in der der moabitische König in langer Rede die
Heldentat der Befreiung seines Landes vom Joche des Reiches
Omris verherrlicht (oben, § 87). Kurze Inschriften sind noch auf
einigen Siegeln erhalten geblieben; das älteste von ihnen ist das
in Megiddo auf gefundene Siegel des ffSchemajaf des Knechtes des
Jerobeam“, das anscheinend unter Jerobeam II. als Kanzleisiegel
verwendet wurde und auf dem eine Löwengestalt abgebildet ist.
Und endlich ist eine deutliche hebräische Inschrift, aus mehreren
Zeilen bestehend, in Jerusalem auf der Mauer des durch den
Tempelberg führenden Kanals Siloah erhalten geblieben, der am
Ende des VIII. Jahrhunderts während der Regierungszeit Hiskias
(unten, § 53) angelegt wurde. Bei aller Verschiedenheit der Schrift-
zeichen dieser Inschriften tritt dennoch der Grundtypus der alt-
hebräischen Schrift, der mit dem phönizischen zum Teil ganz
übereinstimmt, deutlich hervor. Der althebräischen Schrift be-
dienten sich viele Jahrhunderte lang die Schöpfer des biblischen
Schrifttums: die Priester, Propheten, Chronisten und Rechts-
kundigen, bis die Schriftzeichenform in der Zeit nach dem
babylonischen Exil sich vervollkommnet und dem Typus der noch
heute in der hebräischen Literatur gebräuchlichen „Quadratschrift“
angenähert hatte (unten, § 82). Man schrieb zuerst auf Tontafeln
(Luach, Luchoth) oder Scherben und späterhin auf Papyrus
(Gillajon), der, zusammengerollt, entweder als Buch oder Brief
(Sefer) oder als Rolle (Megila) bezeichnet wurde Q.
Der Gebrauch der Buchstabenschrift erleichterte die Fixierung
des angehäuften Vorrats an mündlichen Überlieferungen, sei es
religiösen, geschichtlichen oder gesetzgeberischen Inhalts, in den
Schriftdenkmälern. Der Buchstabenschrift bedienten sich sowohl
die offiziellen Hüter der Überlieferungen, die Priester, als auch
Laien, die königlichen Schreiber oder Chronisten; und später be-
mächtigte sich dieses Werkzeugs auch der sprühende, schöpferische
Geist der Propheten, seitdem sie über die Grenzen der ausschließlich
mündlichen Ausdrucksform hinausgegangen waren. Man kann mit
Bestimmtheit behaupten, daß die ganze Königsperiode der israeli-
tischen Geschichte stets, wenn auch in verschiedenem Maße, ein
*■) Ex. 32, 16; Jes. 8, 1; Habak. 2, 2; Jerem. 32, nf.; 36, a f.
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
Zeitalter der Schrift und der Literatur gewesen ist. Für die vor-
königliche Zeit dagegen ist höchstens das Vorhandensein einiger
weniger Keilschriftdenkmäler anzunehmen, namentlich kleiner Ton-
platten oder „Tafeln“, in die die Grundgesetze oder die „Heiligen
Gebote“ der Religion eingeritzt zu werden pflegten.
Einen bedeutenden Aufschwung hat das Schrifttum sicherlich
schon unter den ersten Königen Gesamt-Israels erlebt: unter David
und Salomo. Diesen beiden Königen standen bereits „Maskirim“
und „Soferim“, das sind Sekretäre und Schreiber, zur Seite, die
außer den ihnen von Amts wegen obliegenden schriftlichen Arbeiten
höchstwahrscheinlich auch die Aufzeichnung der zeitgenössischen
Ereignisse mitübernahmen. Jedenfalls steht es fest, daß unter
den nachfolgenden Königen eine solche Chronographie in beiden
Reichen gepflegt wurde. Das erhellt daraus, daß der spätere Ver-
fasser der „Königsbücher“ immer wieder auf die „Chronik der
Könige Israels“ und auf die „Chronik der Könige von Juda“
(„dibre ha’jamim le’malche Israel“ und „dibre ha’jamim le’malche
Jehuda“) als auf die ausführlicheren Quellen Rezug nimmt. Mit
der Entwicklung der Schreibkunst ging man daran, auch die alten
geschichtlichen und religiösen Überlieferungen, die bis dahin in dem
Gedächtnis der geistigen Führer des Volkes oder in den Volkssagen
und Volksliedern aufbewahrt wurden, in aller Ausführlichkeit auf-
zuzeichnen. Diese Volkssagen und -lieder waren in zwei Rüchern
gesammelt, auf die sich die späteren Redaktoren der „Thora“ und
der Chroniken mehrfach berufen; es sind dies „Sefer milchamoth
Jahve“ (Buch der Kriege Jahves) und „Sefer ha’jaschar“ (Buch
des Rechtschaffenen oder, nach einer anderen gleichfalls wahr-
scheinlichen Deutung, das „Buch der Lieder“). Da standen das
Klagelied Davids auf den Tod Sauls und das Siegeslied der Debora
sowie noch viel ältere Lieder, die die Wanderungen Israels in der
Wüste unter der Führung Moses' oder den Sieg Israels über die
Amoriter oder die Eroberung Kanaans unter Josua und manch
andere wichtige historische Begebenheit besangen x). In diesen
*) Num. 21, i4, 17, 27; 2 3—24 (die Erzählung von Bileam, namentlich
seine rhythmisch gebundenen Reden); Jos. 10, 12—13; II. Sam. 1, 18 f. Diesem
Zyklus mögen vielleicht auch der Anfang des Liedes von dem Auszug aus Ägypten
(Ex. i5, 1) sowie der Todessegen Jakobs und Moses’ (Gen. Kap. 49 und Deutr.
Kap. 33) angehören, in denen die Eigenheiten der Lebensweise eines jeden
Stammes gekennzeichnet sind.
§ 50. Sprache und Schrifttum; die Urquellen der Bibel
Büchern war sozusagen das Heldenepos des israelitischen Volkes
zusammengefaßt. Die dort gesammelten epischen Lieder und Sagen
bildeten zusammen mit der großen Menge der mündlichen Über-
lieferungen den Stoff für die spätere pragmatische Geschichts-
schreibung.
Es ist unmöglich, mit Genauigkeit die Zeit der Abfassung des
Grundtextes der „Thora“ (des Pentateuch) zu bestimmen. Es kann
aber als sehr wahrscheinlich angenommen werden, daß die ältesten
Bestandteile dieser Bücher noch in den Zeiten Davids und Salomos
abgefaßt wurden, während ihre literarische Bearbeitung zu Ende
der Reichstrennungsepoche, in das VIII. Jahrhundert, fällt, als die
Wirksamkeit der Propheten der Entfaltung des Schrifttums einen
neuen Schwung gab. Die alten nationalen und religiösen Über-
lieferungen wurden im Kreise der Propheten eifrig gesammelt und
gedeutet. Arnos erinnert das Volk in seinen Reden an den Auszug
aus Ägypten, an die vierzigjährige Wanderung in der Wüste Sinai,
an den Untergang Sodom und Gomorrhas zur Zeit des Stammvaters
Abraham als an allgemein bekannte geschichtliche Tatsachen. Der
Prophet Hosea kennt die Überlieferungen der Thora über den
Stammvater Jakob, über Moses, über Einzelheiten der Lebensweise
in der Wüste, als Jahve, wie er sich ausdrückt, Israel „gängelte“.
Der judäische Prophet Micha beruft sich auf verschiedene im
Pentateuch berichtete Ereignisse: „Führte ich (Jahve) dich doch
aus dem Lande Ägypten und befreite dich aus dem Sklavenhause.
Und sandte vor dir her Mose und Aaron und Mirjam. Mein Volk,
denke doch daran, was Balak, der König von Moab, im Sinne hatte
und was Bileam, der Sohn Beors, ihm antwortete; denke daran, wie
es war von Sittim bis nach Gilgal (bei der Eroberung Kanaans1)).“
Aus alledem ist zu ersehen, daß im VIII. Jahrhundert bereits ein
Kern der „Heiligen Schrift“ da war, in dem Erzählungen von den
Erzvätern sowie von dem Zeitalter Moses’ enthalten waren. Die
Schriftsteller der Prophetenschule bearbeiteten die Volkssagen und
verwandelten sie in belehrende Erzählungen mit tiefem ethischen
Gehalt. Die vereinzelten Erinnerungen des Volkes an seine Ver-
1) Stellen in den Büchern der ältesten Propheten mit unzweideutiger Be-
rufung auf die Thora: Am. 2, 9—10; 3, 1; 4, 11; 5, 25; Hosea 9, 10; 11, 1 f.;
12, Ix, 13; i3, 4—5; Micha 6, 3—5; 7, 15; Jes. 1, 10.
16 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
2 Al
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
gangenheit wurden in zusammenhängende geschichtliche Darstellun-
gen von ausgesprochen religiösem Charakter verarbeitet. Diese
ideenbestimmte Umbildung der alten Überlieferungen ging gleich-
zeitig im israelitischen und im judäischen Reiche vor sich. In
den schriftlichen Sammelwerken systematisch geordnet, bildete
dieser Stoff den Kern der heiligen Bücher der Nation. So ent-
standen die originellsten Bestandteile der Bücher der „Thora“, d. i.
des Pentateuch oder, wenn man das Buch Josua über die Eroberung
Kanaans hinzunimmt, des Hexateuch.
Wie in jedem anderen alten, von einer Gemeinschaft ge-
schaffenen Schrifttum setzt sich auch der Kern der „biblischen“
Literatur aus verschiedenen Bruchstücken, Fragmenten, zusammen,
an die sich dann in allmählicher Aufschichtung neue Lagen des
Textes über den alten ansetzen. Die Verfasser der Bücher
sammelten und faßten die Fragmente zusammen, reihten sie in
bestimmter Anordnung aneinander, beleuchteten und erklärten sie
im Geiste der in diesem Kreise vorherrschenden religiösen An-
schauungen oder politischen Tendenzen. Da aber die Abfassung der
Bücher in beiden Reichen, im israelitischen und im judäischen,
parallel vor sich ging, so kamen häufig zwei verschiedene Versionen
eines und desselben Überlieferungszyklus zustande. Liest man auf-
merksam die beiden ersten Teile des Pentateuch, die Bücher der
„Genesis“ und des „Exodus“, wo die ältesten Volksüberlieferungen
dargelegt sind, so bemerkt man an verschiedenen Stellen das Neben-
einanderbestehen zweier paralleler Wiedergaben derselben Erzählung
oder einzelner Episoden. So besitzen wir zwei verschiedene Les-
arten der Erzählung von der Weltschöpfung: nach der einen, der
kosmogonischen Version (Gen. Kap. i und Anfang von Kap. 2)
ist die Welt aus dem Chaos in sechs Tagen erschaffen worden, in
deren Verlauf sich allmählich aus den anorganischen Formen die
organischen entwickeln, nach dem Pflanzenreich das Tierreich
entsteht, bis schließlich der Mensch als die Krone der Schöpfung
erschaffen wird; nach der anderen, der geozentrischen Version hin-
gegen (2. und 3. Kap.) erschuf Gott aus dem Staub der Erde zu-
erst den Menschen, und erst daraufhin ergänzte er seine Schöpfungs-
tat durch die Erschaffung von Tieren und Vögeln; der Mensch
aber, dem der Garten Eden von Gott als Wohnstätte zugewiesen
ward, versündigte sich an Gott durch seinen Ungehorsam, mußte
3^2
§ 50. Sprache und Schrifttum; die Urquellen der Bibel
sein Vergehen mit der Vertreibung aus dem Garten der Glückselig-
keit büßen und ward zu schwerer Arbeit verdammt. In der Er-
zählung von der Sintflut (6. bis 8. Kap.) sind zwei verschiedene
Fassungen vereinigt: nach der einen dauerte die Sintflut ungefähr
hundert Tage, nach der anderen aber ein volles Jahr; eine ganze
Reihe von Widersprüchen läßt sich auch in den einzelnen Episoden
dieser Erzählung feststellen, woraus gefolgert werden kann, daß
ihr zwei nicht in Übereinstimmung miteinander gebrachte Quellen
zugrunde liegen. Noch evidenter tritt diese Verschiedenheit der Dar-
stellung in den die Stammesverhältnisse und politische Tendenzen
wiedergebenden Sagen hervor, wie z. B. in der Erzählung von den
Söhnen des Erzvaters Jakob, den Stammvätern der zwölf Stämme
Israels. Die eine Gruppe von Erzählungen stellt die Erstgeburt
des Stammes Ruhen oder die Vorrangstellung des Geschlechtes
Josephs (Ephraims) in den Vordergrund, die andere dagegen betont
die hervorragend wichtige Rolle Judas, was mit voller Klarheit auf
einen ephraimitischen Verfasser im ersten Falle und auf einen
judäischen im zweiten Falle hinweist. Auch lassen sich in der
Beleuchtung der Ereignisse oder in der Ausdeutung der Gesetze
divergierende Tendenzen im Pentateuch feststellen: die Ereignisse
werden bald im Geiste der für die höchste Sittlichkeit kämpfenden
Propheten („Deuteronomium“ und viele Stellen in anderen Büchern)
dargestellt, bald in demjenigen der Priester, der offiziellen Sach-
walter der äußeren Kultformen und Riten („Leviticus“ und viele
andere Stellen der anderen Bücher).
Daraus zog die wissenschaftliche Kritik den Schluß, daß der
Text des Pentateuch im Laufe mehrerer Jahrhunderte zu ver-
schiedenen Zeiten und in verschiedenen Kreisen umgearbeitet wurde,
bis man ihn schließlich im V. Jahrhundert endgültig zusammen-
faßte. Die weitere wissenschaftliche Analyse erhärtete die Hypothese
von den vier Fassungen des Pentateuch, von denen zwei der Reichs-
trennungsepoche und die zwei anderen den folgenden Jahrhunderten
angehören. Die ersten zwei Fassungen unterscheiden sich nicht nur
durch die Art der Wiedergabe der Überlieferungen, sondern schon
durch ein bestimmtes äußeres Merkmal: in der einen wird zur
Bezeichnung Gottes vorzüglich der Eigenname „Jahve“ gebraucht,
in der anderen der Gattungsname „Elohim1)“. Man vermutet, daß
1) Vgl. Anhang, Note 6.
243
16*
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
der erste Verfasser, der Jahveist, den Text der in den ersten Büchern
der Thora enthaltenen Überlieferung im IX. oder VIII. Jahrhundert
in Juda fertigstellte, während der andere, • der Elohist, seinen pa-
rallelen Text in Samarien, hundert oder fünfzig Jahre vor dessen
Untergang, abfaßte. Später wurden beide Texte einfach zusammen-
gefügt, durch Anreihung neuer Bücher erweitert und mit Erläute-
rungen im prophetischen oder im priesterlichen Geiste versehen.
Der prophetischen Redaktion liegt das vom Geiste sittlicher Be-
lehrung getragene und im VII. Jahrhundert zu Jerusalem (s. unten,
§ 58) der Öffentlichkeit übergebene Gesetzbuch, das „Deuterono-
mium“, zugrunde, weshalb diese Redaktion auch als die des Deute-
ronomisten bezeichnet wird, während die priesterliche Redaktion
mit der Bekanntmachung des Priesterkodex, „Leviticus“, im V. Jahr-
hundert zusammenhängt und die letzte Schichtung im Texte des
Pentateuch (s. unten, § 83) bildet. Die Hand eines geübten Re-
daktors und Auslegers ist auch in den an den Pentateuch sich
anschließenden historischen Büchern der Bibel (Josua, Samuel,
Könige) wiederzuerkennen: über dem Unterbau des aus alten Ur-
kunden geschöpften Tatsachenmaterials erhebt sich ein aus späterer
Zeit stammender Überbau: die systematisch durchgeführte Dar-
stellung und Bewertung der Ereignisse im Geiste der erhabensten
Ideale des Prophetismus nach der auch im „Deuteronomium“ zur
Anwendung gebrachten Methode.
Somit wurden in der Reichstrennungsepoche die Grundlagen
des biblischen Schrifttums errichtet, sowohl was seinen Sagenschatz
als auch was die Teile gesetzgeberischen und chronographischen
Inhalts betrifft. Es wurde der Kern der Thora durch ihre beiden
ersten Bücher und manche Teile ihrer übrigen Bücher geschaffen.
Aus der gleichen Epoche stammt auch die erste Zusammenfassung
der Urkunden der Richterzeit und der Zeiten Sauls, Davids, Salomos,
ferner der israelitischen und judäischen Könige bis zum VIII. Jahr-
hundert. Bald darauf entstanden auch die Schöpfungen der ersten
„Buchpropheten“: des Arnos, Hosea, Jesaja und anderer.
§ 51. Die ersten Schichtungen des biblischen Schrifttums
Die ersten zwei Bücher des Pentateuch, in denen die religiösen
Überlieferungen über die Weltentstehung, die Stammväter Israels,
244
§ 5i. Die ersten Schichtungen des biblischen Schrifttums
über die Wanderung zwischen Ägypten und Kanaan und über die
gewaltige Offenbarung Moses* gesammelt sind, spiegeln den ge-
schichtlichen Weg der Nation wider sowie jene kulturellen Ein-
wirkungen, die sie auf diesem Wege erfahren mußte (§§ i—3).
Der Einfluß der babylonischen Mythologie tritt in der Erzählung
des Buches „Genesis“ über die Weltschöpfung und die Sintflut
ebenso klar zutage, wie der Einfluß des babylonischen Kodex
Hammurapi in dem ältesten Kern der israelitischen Gesetzgebung,
dem „Bundesbuche“, unverkennbar ist (§ io). Hier wie dort wirkte
dieselbe Atmosphäre der vorderasiatischen Kultur, in der gewisse
Glaubenselemente und Sagen hin und her schwirrten, aus einem
Land in das andere, von einem Volk zum anderen hinüber wandernd
und überall sich den Existenzbedingungen eines jeden Volkes an-
passend. Die unwillkürliche Aneignung der allgemein verbreiteten
Überlieferungen in der ältesten Zeit, in der Zeit des Nomaden-
lebens Israels und in den ersten Jahrhunderten seiner Seßhaftigkeit
in dem von Elementen babylonischer Kultur erfüllten Kanaan,
wandelte sich mit der Zeit in eine bewußte Verarbeitung dieses
angehäuften Kulturschatzes. Im Geiste der erlesensten Männer des
israelitischen Volkes nahmen diese allgemeinen Vorstellungen des
alten Orients von dem Uranfange der Welt und der Menschheit
eine besondere, individuelle Gestalt an und wurden einer radikalen
religiös-sittlichen Umprägung unterzogen; nichtsdestoweniger schim-
mern ihre ursprünglichen Grundzüge noch durch die dichte nationale
Verschleierung durch. Bei aller Verschiedenheit der Gesinnung bleibt
dennoch eine große inhaltliche Ähnlichkeit zwischen der biblischen
und der babylonischen Kosmogonie bestehen, wie sie einerseits im
Buche der Genesis, andererseits in den assyrisch-babylonischen Keil-
inschriften dargestellt wird.
Die biblische Erzählung von der Weltschöpfung entspricht
ihrem wesentlichen Inhalte nach einer Urdarstellung der babylo-
nischen Kosmogonie, die in dem Epos „Enurna elis“ (auf sieben
im Britischen Museum aufbewahrten Tafeln der Keilinschriften-
Bibliothek Assurbanipals) und in anderen Denkmälern des assyro-
babylonischen Schrifttums enthalten ist1). Der Unterschied besteht
1) Über diese uralte Mythologie erstattete im III. vorchristlichen Jahrhundert
der babylonische Priester Berossos den Griechen Bericht in seinem Werke: Ba-
245
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
nur darin, daß in den babylonischen Mythen der Kosmogonie die
Theogonie vorangeht, d. i. die Erzählung von der Erschaffung der
Götter selbst und von ihrem gegenseitigen Kampfe, der mit dem
Siege des Gottes und Weltlenkers Marduk über das Urchaos in der
Gestalt der „Göttermutter“ Tiamat endete, während der Redaktor der
biblischen Erzählung die des Weltschöpfers unwürdige Theogonie
beseitigte; indessen behielt auch er einen Überrest der alten Über-
lieferung in Form des Bildes von dem Schwinden des finsteren
Chaos (Tehom-Tiamat) vor der Macht des schöpferischen Lichtes
bei. Die stufenweise vor sich gehende Weltschöpfung und die
Aufeinanderfolge der einzelnen Schöpfungsakte ist im wesentlichen
in den biblischen und in den babylonischen Quellen übereinstimmend
dargestellt. Die Erschaffung des Menschen ist in beiden Quellen
beinahe gleich stilisiert. Hier einige Parallelstellen:
Biblische Erzählung
Aus dem Text des Elohisten
(Gen. i)
„Es war aber die Erde wüst und
leer, und Finsternis lag auf dem Tehom
(Wasserelement), und der Geist Elohims
schwebte über den Wassern. Da sprach
Elohim: Es werde Licht 1 Und es ward
Licht. ... Und Elohim machte eine
Feste als eine Scheidewand zwischen
den Wassern unterhalb der Feste und
den Wassern oberhalb der Feste. Und
Gott nannte die Feste Himmel . . .“
„Da sprach Elohim: Es sollen
Leuchten entstehen an der Feste des
Himmels, um zu scheiden Tag und
Nacht, und sie sollen als Zeichen
dienen und Zeiten, Tage und Jahre
bestimmen,. . .“
„Dann sprach Elohim: Laßt uns
Menschen machen nach unserem Bilde,
uns ähnlich, und sie sollen herrschen
über die Fische im Meer und über
die Vögel im Himmel und über das
Vieh und das Gewürm, das auf der
Erde umherkriecht. Und Elohim schuf
Babylonische Erzählung
Aus den sieben Tafeln
„Als oben der Himmel noch nicht
benannt, unten die Feste mit Namen
noch nicht gerufen war, da mischten
Apsu (der Ozean), der Uranfängliche,
Mummu (die Welt) und Tiamat (der
Meeresabgrund in Gestalt einer Göttin)
ihre Wasser in eins zusammen. Da
existierten noch keine Götter, (aber
später) wurden gebildet die Götter . . .“
(Weiter folgt eine ausführliche Schil-
derung des Kampfes der Götter mit-
einander, der damit endet, daß der
Gott Marduk die Göttin des Chaos
Tiamat umbringt, ihre Leiche in zwei
Teile schneidet und so das Himmels-
gewölbe und die Meeresoberfläche er-
schafft, das Wasser vom Himmel schei-
dend. Allen Göttern weist er be-
stimmte Wohnstätten an, dem Anu im
Himmel, Ellil (Bel) auf der Erde, Ea
im Wasser. Am Himmelsgewölbe bildet
er Standorte für die Abbilder der
Götter, die Sterne, um der Zeit Gren-
zen abzustecken, Jahre und Monate).
byloniaka, das dem Seleukidenkönig Antiochus I. Soter (281—262) gewidmet ist.
allein seine Darstellung weicht von den ursprünglichen, in den alten Keil-
inschriften Assurbanipals enthaltenen Mythen bedeutend ab.
246
§ 51. Die ersten Schichtungen des biblischen Schrifttums
den Menschen nach seinem Bilde, nach
dem Bilde Elohims schuf er ihn, als
Mann und Weib schuf er ihn.“
Aus dem Text des Jahveisten
(Gen. 2)
„Es gab auf Erden noch keinerlei
Gesträuch auf den Fluren, und noch
keinerlei Kräuter waren auf den Fluren
gesproßt, denn Jahve hatte noch nicht
regnen lassen auf die Erde, und Men-
schen waren noch nicht da, um den
Boden zu bebauen; es stieg aber ein
Wassersprudel von der Erde auf und
tränkte die ganze Fläche des Bodens.
Da bildete Jahve-Elohim den Menschen
(adam) aus Staub vom Ackerboden
(adama) und blies in seine Nase
Lebensodem.“ (Nachdem Jahve allerlei
Pflanzen im Garten Eden hatte er-
stehen lassen, erschuf er, den Bedürf-
nissen des Menschen entsprechend, ver-
schiedene Tierarten und zu allerletzt das
Weib aus einer Rippe Adams.)
„Als Marduk das Wort der Götter
nun hörte, tat er seinen Mund auf und
sagte zu Ea, was in seinem Herzen ist:
,Mein Blut will ich sammeln, Bein will
ich hinzufügen und will hinstellen Men-
schen. Ich will Menschen erschaffen,
die (die Erde) bewohnen, ihnen sei der
Kult der Götter auferlegt.' . . .“
Im Gilgames-Epos (s. unten) fin-
det sich ein Parallelstück zu der Er-
zählung von der Erschaffung Adams
und Evas in der Form eines Mythus
von der Erschaffung eines Doppel-
gängers oder Gefährten des Gilgames,
namens Eabani, bei der die Göttin
Aruru behilflich war: „Aruru riefen
die Götter, die großen (und sagten):
Du, Aruru, hast (Gilgames) erschaffen;
nunmehr erschaffe ein Ebenbild von
ihm. . . . Als Aruru dies hörte, schuf
sie ein Ebenbild Anus in ihrem Sinne.
Aruru wusch ihre Hände, Lehm kniff
sie ab und spie darauf.“ Und so er-
schuf sie den Helden Eabani.
Die Schilderung des Glückseligkeitsgartens Eden im Buche der
Genesis sowie seine dort genau bezeichnete geographische Lage
zwischen Euphrat und Tigris sind gleichsam eine Anspielung auf
den altbabylonischen Ursprung der israelitischen Kosmogonie. In
der Erzählung von der dämonischen Schlange als dem Erzfeinde
des Menschen klingen die babylonischen Mythen nach von dem
Kampfe der Götter mit den Drachen, diesen dämonischen Mächten,
die zugleich ein Symbol des Bösen und der Vernichtung waren.
Die Sage von dem „Baume des Lebens“ und dem Sündenfall als
der Ursache der Verdammung des Menschen zu Leid und Ver-
gänglichkeit findet ihr Gegenstück in der babylonisch-kanaanäischen
Sage von dem Sohne des großen Gottes Ea, der als Mensch namens
Adapa erschaffen ward, ein Name, der mit dem Namen des bibli-
schen Erdensohnes „Adam1)“ fast gleichlautend ist. Der allwissende
Ea soll seinen geliebten Adapa vor der Annahme der „Todesspeise“
1) Der Adapa-Mythus ist in drei Lesarten in der Bibliothek Assurbanipals
erhalten geblieben, während noch eine vierte unter den Tafeln Tel-Amarnas zu-
sammen mit dem Briefwechsel der kanaanäischen Fürsten des XV. Jahrhunderts
mit den ägyptischen Pharaonen auf gefunden wurde (s. oben, S 1).
247
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
und des „Todestrankes“ aus den Händen des Himmelsgottes Anu
gewarnt haben, als aber Adapa in den Himmel emporstieg und vor
das Angesicht des Anu trat, da wurde ihm die Lebensspei.se und
der Lebenstrank geboten: in seiner Unwissenheit entsagte er der
einen Gabe wie der anderen und vernahm nun aus dem Munde des
Anu: „Er hat selbst dem Leben (der Unsterblichkeit) entsagt, bringt
ihn zurück zu seiner Erde!“ So büßte der Mensch für alle Zeiten
seine Unsterblichkeit ein.
Eine besonders weitgehende Übereinstimmung der babylonischen
und der israelitischen Sagen über die Anfänge der Welt weist die
Sintflutlegende auf. Dies ist aus den folgenden Parallelstellen zu
ersehen, die einerseits der biblischen Noahgeschichte, andererseits
dem großen assyrischen Gilgames-Epos entnommen sind, welches
sich auf zwölf Tafeln in der Keilinschriften-Bibliothek des Assur-
banipal erhalten hat1).
Genesis (Kap. 6—8)
„Und Gott sprach zu Noah: Baue
dir einen Kasten aus Gophcrholz; mit
lauter Zellen mußt du den Kasten er-
bauen. . . . 3oo Ellen betrage die
Länge des Kastens, 5o Ellen seine
Breite. Denn ich werde alsbald die
Flut Wasser über die Erde kommen
lassen, um alles Fleisch unter dem
Himmel, das lebendigen Odem in sich
hat, zu vertilgen; alles, was auf Erden
ist, soll umkommen. . . . Du sollst in
den Kasten eingehen, du und deine
Söhne und dein Weib und die Weiber
deiner Söhne mit dir. Und von allem
Lebendigen sollst du je zwei mit dir
hineinnehmen in den Kasten, je ein
Männchen und ein Weibchen soll es
sein. Und nach sieben Tagen, da
kamen die Wasser der Flut über die
Erde. ... Es brachen auf alle Brunnen
der großen Tiefe, und die Fenster des
Himmels taten sich auf. Da strömte
der Regen auf die Erde, vierzig Tage
Gilgames-Epos, Taf. XI
(Die Erzählung wird dem Ahnen
des Gilgames, Utnapischtim, einem
Einwohner der Stadt Surippak am
Euphrat, in den Mund gelegt. Der
Gott des Wassers Ea sagt zu ihm):
„0 Mann von Surippak, reiß ein das
Haus, baue ein Schiff, laß Hab und
Gut, sorge für das Leben. Bringe
hinein lebende Wesen aller Art in das
Schiff. Dessen Maße seien genau ab-
gemessen, entsprechen sollen sich seine
Breite und Länge. Auf den Ozean laß
es herab.“ (Weiter eröffnet Ea dem
Utnapischtim die bösen Absichten Enlils,
des Gottes der Erde, der alles Lebende
durch den Sturzregen zu verderben be-
schlossen hat. Utnapischtim folgte dem
Rate Eas und baute ein Schiff von
120 Ellen Länge und Breite, brachte
seine Familie und sein Vieh auf das-
selbe hinauf und verschloß die Tür.
Am festgesetzten Tage erhob sich ein
Sturm, Regen strömte herab und die
1) Die spätere Wiedergabe der babylonischen Sintflutlegende durch den
Priester Berossos (oben, Anmerk.) ist eine Umgestaltung der älteren Version. Der
Held der neueren Rezension trägt statt des Namens Utnapischtim den Namen
Ksisutras.
2 48
§ bl. Die ersten Schichtungen des biblischen Schrifttums
und vierzig Nächte lang. . . . Und die
Wasser schwollen an und wuchsen ge-
waltig auf der Erde; da fuhr der
Kasten dahin auf dem Wasser. ... Da
kam um alles Fleisch, das sich auf der
Erde regte, sowohl Mensch als Vieh. . . .
Nur Noah blieb übrig und was bei ihm
im Kasten war. Da gedachte Gott an
Noah und an all die wilden Tiere und
an all das Vieh, welches bei ihm im
Kasten war, und Gott ließ Wind über
die Erde gehn, so daß die Wasser
sich senkten. Und es schlossen sich die
Brunnen der Tiefe und die Fenster
des Himmels, und dem Regen vom
Himmel wurde Einhalt getan. . . . Und
im siebenten Monat, da saß der Kasten
auf einem der Berge Ararats auf. Und
die Wasser nahmen immer weiter ab . . .
und die Gipfel der Berge wurden sicht-
bar. Noah öffnete das Fenster des
Kastens und schickte den Raben aus;
der flog weg hin und her, bis das
Wasser von der Erde weggetrocknet
war. "Hierauf schickte er die Taube
von sich aus, um zu erfahren, ob sich
die Wasser vom Erdboden verlaufen
hätten; aber die Taube fand keinen
Ort, wo ihr Fuß ruhen konnte; da
kehrte sie zu ihm in den Kasten
zurück, denn noch war Wasser über
die ganze Erde hin. . . . Hierauf wartete
er noch weitere sieben Tage, da schickte
er abermals die Taube aus dem Kasten;
da kam die Taube zur Abendzeit zu
ihm und siehe! sie hatte ein frisches
Ölblatt im Schnabel. Da erkannte Noah,
daß sich die Wasser von der Erde ver-
laufen hätten. Hierauf wartete er noch
weitere sieben Tage und ließ die Taube
ausfliegen, und diesmal kehrte sie nicht
wieder zu ihm zurück. . . . Da ging
Noah heraus aus dem Kasten, und seine
Söhne und sein Weib und die Weiber
seiner Söhne mit ihm; und alle Tiere
und alle Vögel und alles Gewürm, das
auf der Erde kriecht, gingen heraus
aus dem Kasten. Da erbaute Noah
Jahve einen Altar und nahm von allen
reinen Tieren und von allen reinen
Erde ward in Dunkel gehüllt. Die
Götter flohen von der Erdoberfläche
zum Himmel, zu Anu und ,,duckten sich
wie Hunde“. Die Göttin Istar ,,schrie
wie eine Gebärende“. Weiter setzt der
Held seine Erzählung folgendermaßen
fort): ,,Sechs Tage und Nächte geht
der Wind, wirft der Südsturm das
Land nieder. Als der siebente Tag
herbeikam, ließ ab der Südsturm im
Kampfe, den er einem Heere gleich
gekämpft hatte. Das Meer beruhigte
sich. Ich blickte auf das Meer, indem
ich Wehklagen erschallen ließ. . . . Ich
öffnete die Luke, das Licht fiel auf
mein Antlitz. Ich ließ mich nieder,
indem ich saß und weinte. . . . Bald
stieg eine Insel empor. Der Berg Nasir
hielt das Schiff fest, ohne es schwan-
ken zu lassen. Als der siebente Tag
kam, ließ ich eine Taube hinaus, sandte
sie weg. Die Taube zog fort und kam
wieder zurück, da ein Ort zum Sitzen
nicht da war. Ich ließ eine Schwalbe
hinaus und ließ sie los. Es flog die
Schwalbe fort und kehrte zurück. Ich
ließ einen Raben hinaus und ließ ihn
los. Es flog der Rabe weg, sah die
Verminderung der Wasser . . . und
kehrte nicht zurück. Da ließ ich hin-
aus alles nach den vier Winden und
brachte ein Opfer dar auf der Spitze
des Berges. Die Götter sogen ein den
Geruch, die Götter sogen ein den
Wohlgeruch . . .“
249
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
Vögeln und brachte Brandopfer dar auf
dem Altar. Und Jahve roch den lieb-
lichen Duft (des Opfers) . .
Diese Parallelstellen wie auch eine Reihe anderer altorientali-
scher, die Sintflut betreffender Versionen legen Zeugnis davon ab,
daß nicht nur der allgemeine Inhalt, sondern auch manche Einzel-
heiten der Legende bei den verschiedenen Völkern Vorderasiens in
nahezu identischer Form sich erhalten haben: nicht einmal die
spätere religiös-sittliche Verarbeitung dieser in der ganzen Welt
verbreiteten Legende durch das israelitische Schrifttum vermochte
es, die Spuren ihrer Herkunft endgültig zu verwischen1).
Die Sage von dem „Turmbau zu Babel“, zu der im assyro-
babylonischen Schrifttum kein unmittelbar dazugehörendes Gegen-
stück zu finden ist, ist dennoch ganz und gar von der Atmosphäre
jener uralten Zeit durchdrungen, als die Hebräer noch mit dem
Boden Babyloniens aufs engste verwachsen waren. Die Errichtung
des hohen „in den Himmel“ ragenden Turmes, damit „die Völker
nicht in alle Länder zerstreut werden“, erinnert unwillkürlich an
die Erbauung des hohen Tempelturmes unter Hammurapi, um „die
zerstreuten Landbewohner“ zu sammeln. Die biblische Erzählung
von dem Mißerfolg des „Turmbaues“ und der darauf erfolgten
Verwirrung der Sprachen und Zerstreuung der Völker ist offen-
sichtlich durch die ein Jahrtausend lang im Volke erhalten-
gebliebene Erinnerung daran beeinflußt, daß Babylonien (mitsamt
dem angrenzenden Arabien) einstmals die Geburtsstätte der Semiten
war, daß von dort her „sich alle Völker über die Erde ausbreiteten“,
das hebräische, das dort seine erste Etappe zurücklegte und sich die
ersten Anfänge seiner Kultur zu eigen machte, nicht ausgenommen.
Daß man zur Zeit der Abfassung des Buches der Genesis ziemlich
genaue Kenntnisse von der Verzweigung der Rassen und von der
Verteilung der Völker auf der Erdoberfläche besaß, erhellt aus der
höchst bemerkenswerten „Völkertafel“ in Gen. Kap. io. Alle Völker
sind hier in drei Gruppen ein ge teilt, entsprechend ihrer Abstammung
von den drei Söhnen Noahs: von Sem, Ham und Jafet. Den Se-
x) Die in verschiedenen Formen im ganzen alten Orient (Babylonien, As-
syrien, Ägypten, Syrien, Indien usw.) verbreitete Sintflutlegende bildete späterhin
einen Bestandteil auch der griechisch-römischen Mythologie und Dichtkunst (die
Legende von Deukalion und Pyrrhus in den „Metamorphosen“ Ovids).
§ 51. Die ersten Schichtungen des biblischen Schrifttums
miten werden die Edomiter, die Assyrer, die Aramäer, Hebräer und
Araber beigezählt; den Hamiten die Ägypter, die Völkerschaften
Afrikas sowie die Kanaaniter; den Jafetiden endlich Meder und
Perser sowie die Jonier (Griechen) und andere. Politische Er-
wägungen mochten die Verfasser der Tafel dazu bewogen haben,
die Kanaaniter aus der semitischen Gruppe in die Gruppe der
Hamiten zu versetzen: es geschah dies, um die Tafel in Überein-
stimmung zu bringen mit der Legende über den Fehltritt Harns
seinem Vater Noah gegenüber, wofür Kanaan, des Ham Sohn,
dazu verdammt wurde, ein Knecht der Nachkommen Sems zu sein
(Gen. 9, 20—26). Die Unterwerfung Kanaans durch die Israeliten
sollte durch ein vorgeschichtliches Urteil sanktioniert werden. Und
dennoch stimmt die biblische Rassengruppierung in vielen Punkten
mit den linguistischen Lehren der modernen Wissenschaft überein.
Überhaupt bedeutete die Kosmogonie des Buches der Genesis
für die vorgeschrittensten Geister des VIII. Jahrhunderts sowie in
den späteren Zeiten für das ganze Volk eine einheitliche und ab-
gerundete Lehre über den Ursprung der Welt und der Menschheit.
Auf dem Unterbau der Sagen des alten Orients errichtet, hat jedoch
diese Lehre, wie man sich aus den angeführten Proben überzeugen
kann, die grobsinnliche Mythologie des Heidentums überwunden
und sich bis zu den Höhen eines durchdachten religiös-philosophi-
schen Systems auf geschwungen, das eine befriedigende Lösung für
die tiefsten Probleme des menschlichen Geistes in sich barg. Der
Geist des prophetischen Monotheismus hat aus dem Stoffe der
Volkssagen die Grundlagen für eine Weltanschauung geschaffen,
der es beschieden war, jahrtausendelang den menschlichen Geist zu
beherrschen. Das erste Kapitel der Genesis war für jenes Zeitalter
eine ebenso wichtige wissenschaftliche Offenbarung wie für die
neuere Zeit die Lehren eines Kepler und Galilei: nur daß im Bibel-
text die wissenschaftliche Erklärung des Weltursprungs in eine
religiöse Form gehüllt ist. Gott erscheint hier nicht als eine
Schöpfung der Natur oder als eine Versinnbildlichung dieser oder
jener Naturkraft, sondern als der Schöpfer der Natur, als der ewig
Seiende, nie Gezeugte; die Welt ist das Werk Gottes, nicht aber
ein ihm feindliches Prinzip, das er im Kampfe überwindet; der
Mensch, nach dem „Ebenbilde Gottes“ geschaffen, ist selbst des
göttlichen Geistes teilhaftig. Wenn in dem Kapitel von der Welt-
2ÖI
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
Schöpfung (nach dem Text des Elohisten) eine allmähliche Ent-
wicklung der Welt aus der anorganischen Materie bis zu den
höchsten organischen Formen zur Darstellung gebracht wird, so
behandeln die darauffolgenden Kapitel die ethischen Probleme:
des Guten und des Bösen, der idealen, paradiesischen Glückseligkeit
und der realen Wirklichkeit des Leidens und des Todes (die Er-
zählung vom Sündenfall), der sittlichen Verderbtheit des Menschen-
geschlechts als des Grundes seines Unterganges (Sintflut), ferner
die Verteilung der Völker auf dem Erdboden (Erzählung von dem
Turmbau zu Babel und die Völkertafel). Die Bedeutsamkeit der
biblischen Kosmogonie als Ganzes genommen bestand darin, daß
sie eine für jene Zeit befriedigende Antwort gab auf religiöse,
wissenschaftliche und moralische Fragen, daß sie insbesondere den
menschlichen Geist in die Grenzen einer strengen und wohlgeord-
neten Weltanschauung wies.
Der gewaltigen Sage von dem Ursprung der Welt folgt die Sage
von den Urahnen Israels: den Erzvätern. Israel bildet ein Bindeglied
in der Kette des Weltgeschehens, und seine Stammväter (Abraham,
Isak, Jakob, Joseph) sind herrliche Menschentypen, Muster erhabener
Sittlichkeit und Frömmigkeit, wenn ihnen auch manche menschliche
Schwäche nicht fremd bleibt. Durch den dichten Schleier der Sage
und der poetischen Verklärung treten viele wahrheitsgetreue Züge
der geschichtlichen Wirklichkeit hervor. Richtig ist im allgemeinen
der Weg, auf dem die Völkerschaften der „Ibrim“ zwischen Meso-
potamien, Kanaan und Ägypten (oben, § 2) wanderten, dargestellt.
Jedoch kommen infolge der Verschiedenheit jener zwei dem Be-
richte zugrunde liegenden Texte, des ephraimitischen und des judäi-
schen, bald die politischen Tendenzen des einen, bald des anderen
der beiden rivalisierenden Reiche zum Vorschein. Der ephraimitische
Verfasser ist bestrebt, seine Stammväter zu verherrlichen; er erzählt
von Joseph als dem Lieblingssohne des Erzvaters Jakob, den er
allen anderen Söhnen vorzog; er läßt Jakob die Vorrangstellung
Ephraims im Geschlechte Josephs anerkennen (Gen. 48, i4—20),
die Tempelstadt des nördlichen Reiches Betel wird als eine heilige
Stätte dargestellt, die noch zu den Zeiten des Erzvaters Jakob dazu
ausersehen wurde, eine Wohnstätte Gottes zu werden (Gen. 28,
17—22; 35, 6—7; i4—15). Andererseits sucht der judäische Ver-
fasser die politische Vorrangstellung des Stammes Juda zu be-
2 52
§ 51. Die ersten Schichtungen des biblischen Schrifttums
gründen, indem er Rüben die Erstgeburt streitig macht und die
Bedeutung des Geschlechtes Josephs herabsetzt (Gen. 35, 22; 49,
4, 8—10: „Jehuda, dich werden deine Brüder loben; vor dir
werden deines Vaters Kinder sich neigen. Der Stab des Herrschers
wird aus deiner Mitte nicht verschwinden“); der Verfasser weist
Juda nach der Entführung Josephs nach Ägypten eine leitende
Stellung in der Familie Jakobs zu (Gen. Kap. 43—44)* Überhaupt
hat sich in diesem unübertrefflichen historischen Epos, dessen
Helden die Erzväter sind, das frische Kolorit seiner Entstehungszeit
erhalten wie auch viele Einzelheiten der damaligen Lebensweise und
der Widerhall der zeitgenössischen politischen Kämpfe. Wie sich eine
spätere Zeit in ihrer Charakterisierung der Vorzeit spiegelt, darin
liegt der besondere Wert der Erzählungen des Buchs der Genesis.
Das nationale Epos im zweiten Teil des Pentateuch, der
„Exodus“, bildet eine neue Etappe im Schaffen des alten Israel.
Die ägyptische Knechtschaft, die Riesengestalt Moses1), der Aus-
zug aus Ägypten, die wunderbare Offenbarung Gottes am Sinai,
die Wüstenwanderung und der Zug nach Kanaan — alles dies ist
hier mit einer außergewöhnlichen geistigen und künstlerischen
Kraft zur Darstellung gebracht. In den anschließenden Teilen des
4. Buches Moses (Numeri) sind viele Episoden aus dem Wüsten-
leben auf Grund der Sagen aus dem alten Heldenepos „Die Kriege
Jahves“ dargestellt. Im Mittelpunkt dieses Zyklus der heiligen Über-
lieferungen steht das „Gesetz Moses“, das sich auf zwei Grundsäulen
stützt: auf die zehn Sinaigebote (Dekalog) und auf das „Bundes-
buch“. Der Kern der alten Gesetzgebung, der zum Teil aus dem
Stoff des Gewohnheitsrechts sich bildete und schon seit langer Zeit
in den Priesterkreisen bewahrt wurde (oben, §§ 3 und 10), erscheint
hier in der Form einer religiösen Offenbarung. In diesem Text
der Grundgesetze rühren, wie es scheint, die das eine oder das
andere Gesetz begleitenden Erläuterungen der sittlichen Motive von
den Verfassern aus der Reichstrennungsepoche her. So sind z. B.
im „Bundesbuche“ die Gesetze von der Barmherzigkeit gegen Sklaven,
1) Es ist bemerkenswert, daß auch manche Einzelheiten in der Moses-Sage
mit solchen der babylonischen Sage übereinstimmen. So erzählt die Legende von
dem uralten Könige Sargon I. (um 2600), daß seine Mutter ihn im geheimen
zur Welt brachte, in einen Korb steckte und in den Euphrat setzte, aus dem
ihn ein Wasserschöpfer heraushob.
253
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
Witwen, Waisen und Schuldner motiviert: „Wird er (der Benach-
teiligte) zu mir (Gott) schreien, so werde ich ihn erhören, denn
ich bin gnädig“ (Ex. 22, 26); „Die Fremdlinge sollt ihr nicht
unterdrücken, denn ihr wißt um der Fremdlinge Herz, denn auch
ihr seid Fremdlinge in Ägypten gewesen“ (Ex. 2 3, 9 usw.). Eine
Warnung für die Anhänger des gemischten Kultes im israelitischen
Reiche ist aus dem ausführlich dargelegten Gebot des Dekalogs
herauszuhören, nach dem alle Arten der bildlichen Darstellungen
der Gottheit aufs strengste verpönt sind (Ex. 20, 4—6). Zur Be-
kämpfung des von Jerobeam eingeführten Kultes des Kalbes ist die
farbenreiche, Entrüstung sprühende Erzählung von der frevelhaften
Anbetung des goldenen Kalbes in der Wüste und von dem durch
diesen Abfall hervorgerufenen Grimme Jahves und Moses’ verfaßt
(Kap. 32). Dieses Kapitel konnte ein Mann von der Gesinnung des
Propheten Hosea schreiben mit seinen entrüsteten Reden über das
„Kalb von Samaria“, das „in Stücke zerschlagen“ werden soll
(Hosea 8, 5—6). Der die Vernichtung der Götzen herbeisehnende
Erzähler läßt dieses Strafgericht an dem sagenhaften Kalb in der
Wüste vollziehen und hat Freude an seiner Schilderung, wie der
Götze in Flammen auf ging und die Asche in alle Winde verweht
ward.
Außer den Grundtexten der beiden ersten Bücher und zum
Teil des vierten Buches der „Thora“, die bereits in zwei Fassungen
fertiggestellt waren und nun der endgültigen Zusammenfassung
harrten, lagen anscheinend zu jener Zeit auch schon einzelne Teile
der anderen Bücher vor, die aber noch nicht ganz fertig waren
i^oder der Öffentlichkeit noch vorenthalten bleiben sollten. Zu den
letzteren gehörte vielleicht auch die Sammlung der Sakralsatzungen
des „Priesterkodex“, der ein Berufsgeheimnis der Tempeldiener
bildete und erst in späterer Zeit unter Esra in den Bestand der ver-
öffentlichten Thora in ergänzter und umgearbeiteter Form eingefügt
wurde (§ 83). Es ist möglich, daß zur Zeit der ersten Propheten
auch einige Kapitel des Moralkodex, des Deuteronomium, abgefaßt
wurden, der aber erst hundert Jahre später vollendet und veröffent-
licht wurde (§ 58).
Gegen Ende der Reichstrennungsepoche lagen anscheinend auch
schon die Geschichtsbücher der Bibel in erster Rezension vor:
„Josua“, „Richter“, beide Bücher „Samuelis“ und die „Bücher der
254
§ 51. Die ersten Schichtungen des biblischen Schrifttums
Könige“, mit Ausnahme von etwa zehn der letzten Kapitel. Die
Verfasser dieser Bücher machten sich den Stoff des alten Epos
„Die Kriege Jahves“ und „Das Buch des Rechtschaffenen“ für
die Darstellung der Zeit der Eroberung Kanaans zunutze, ferner die
Bücher der amtlichen Chroniken für die Darstellung der Königszeit
seit David und Salomo. Die ersten Verfasser beschränkten sich ver-
mutlich ausschließlich auf die Zusammenfassung des Stoffes und
auf eine kurzgefaßte Glossierung der Ereignisse, so daß erst die
nachfolgenden Jahrhunderte dieser Reihe der biblischen Geschichts-
bücher jenen Glanz der Darstellung und jene wohlgeordnete
pragmatische Form verliehen, welche sie zur höchsten Leistung der
alten Geschichtschreibung machte (§ 67 und 84)- An die Ge-
schichtsbücher reihten sich die Reden der ersten Buchpropheten
an, die mit den politischen Ereignissen des einen oder anderen
Zeitabschnitts in Zusammenhang standen. Jedes prophetische Buch
trägt an der Spitze die Namen der Könige, als deren Zeitgenosse
der betreffende Verfasser wirkte.
So bildete sich im IX. und VIII. Jahrhundert die Grundschicht
des biblischen Schrifttums heraus. Durch spätere Ergänzungen und
Rezensionen uns teilweise entrückt, kann diese Bibelschicht zu einer
genauen Charakterisierung dieses Zeitalters nicht in vollem Maße
herangezogen werden. Allein schon jene typischen Züge, die
zweifellos bereits im Keime des israelitischen Schrifttums angelegt
waren, zeugen von einer ungewöhnlichen geistigen Kraft des Milieus,
in dem dieser Keim zur Entwicklung kam. Vergleicht man die
tiefsinnige Kosmogonie aus dem Buche der „Genesis“ mit den
ihr zugrunde liegenden Elementen der altorientalischen Mythologie,
so wird es sogleich klar, wie hoch der Genius Israels in seinen,
erlesensten Vertretern über die primitiven Vorstellungen sich erhob,
indem er sie als Grundlage für eine geläuterte religiöse Welt-
anschauung verarbeitete. Alle geschichtlichen Darstellungen der
Thora und der Geschichtsbücher sind von dem einen mächtigen
Gedanken getragen: von dem Gedanken der Einheit und Ver-
nünftigkeit des historischen Geschehens, das von einem höchsten
sittlichen Willen gelenkt wird. Zieht man den Vergleich zwischen
den geistvollen israelitischen Königschroniken (und sei es auch nur
in ihrer ursprünglichen Form) und den aus gleicher Zeit stammen-
den assyrischen Annalen und Inschriften mit ihrer geistlosen Auf-
a55
Die materielle und geistige Kultur in der Periode der Reichstrennung
Zahlung der errungenen Siege, der verheerten Städte und der ver-
nichteten Menschenleben, so begreift man den ganzen Unterschied,
der zwischen dem blendenden Äußeren der assyrisch-babylonischen
Zivilisation und der bescheidenen, aber in die Tiefen des Geistes
weisenden Kultur Israels besteht. Eine Erscheinung von der Größe
des Prophetismus aber, namentlich in seiner höchsten ethischen
Phase, blieb den altorientalischen Völkern überhaupt fremd und
bildete das ausschließliche Gut der israelitisch-judäischen Nation.
256
Viertes Buch
Das Reich Juda unter der Oberhoheit
Assyriens und Babyloniens
(720—586 vor der christlichen Ära)
17 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
§ 52. Allgemeine Übersicht
Nach dem Fall des nördlichen, des israelitischen Reiches blieb
das südliche Reich, Juda, der alleinige Mittelpunkt des nationalen
Lebens. Syrien und ein großer Teil Palästinas, die ehemaligen Land-
gebiete Arams und Samariens, wurden der assyrischen Monarchie
kurzweg einverleibt, während die Kleinstaaten: Phönizien, Philistäa,
Juda, Moab, Ammon die assyrische Oberherrschaft wohl oder übel
anerkennen mußten. Das judäische Reich grenzte nunmehr un-
mittelbar an die Länder der Gebieter Asiens, der Assyrer. Juda
war nicht mehr jenes abgeschiedene, auf sich selbst beschränkte
Land, dessen politisches Leben ganz in den Bündnissen oder Kon-
flikten mit den kleinen benachbarten Völkerschaften auf ging: nun
war es in den Wirbel der Weltereignisse mithineingezogen, und
alle die politischen Strömungen, welche ganz Vorderasien auf-
wühlten, hinterließen ihre Spuren auch in seinen Geschicken. Seit
den Zeiten Alias’ und Tiglat-Pilesers war das judäische Reich in
die Einflußsphäre Assyriens einbezogen, und von diesem Augen-
blicke an erhob sich vor der gesamten Nation die schicksalsschwere
Frage: Unterwerfung oder Widerstand? Besonders kritisch wurde
die Lage des zwischen Mesopotamien und Ägypten gelegenen Juda,
als der Streit dieser beiden Monarchien um die Oberhoheit in Syrien
und Palästina von neuem entbrannte. Die anderthalb Jahrhunderte
der Geschichte Judas vom Beginn der assyrischen Oberhoheit bis
zur Unterjochung durch Neu-Babylonien (735—586) sind ganz von
den Kämpfen der politischen und religiösen Parteien ausgefüllt;
Auflehnung und Unterdrückung, Reform und Gegenreform, Er-
hebung und Niedergang des nationalen Geistes lösen in diesem Ge-
schichtsabschnitt mit periodischer Regelmäßigkeit einander ab.
Die zu behandelnde Geschichtsperiode zerfällt in zwei ungleiche
Teile: über hundert Jahre dauert die von immer wieder ausbrechen-
den Aufständen und Kämpfen um die Unabhängigkeit unterbrochene
17*
25p
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
Oberhoheit xissyriens (720—608); dann sind etwa zwei Jahrzehnte
(608—586) zuerst durch den Kampf mit Ägypten und später mit
Neu-Babylonien ausgefüllt, mit diesen zwei Rivalen, von denen der
erste den mißglückten Versuch machte, das Erbe des in Brüche
gegangenen Assyrien an sich zu reißen, was indessen nur dem
zweiten tatsächlich gelang. Solange Assyrien allmächtig war, war
seine Oberhoheit in Juda unabwendbar, allein ebenso unabwendbar
war auch der Drang zur Unabhängigkeit und der Widerstand gegen
den assyrischen Einfluß, insofern er in all seiner Kulturfremdheit
danach trachtete, das innere Leben des Volkes zu meistern. Ein
Baumstamm mit abgeschlagenen Zweigen, als welcher Juda nach
der Vernichtung des nördlichen Reiches erschien, spürte es mehr
als einmal das bedrohliche Ansetzen der „assyrischen Axt“, nach
dem bildlichen Ausdruck des Propheten Jesaja, aber ebenso oft
prallte der scharfgeschliffene Stahl von dem harten Holze zurück.
Regelmäßig lösen einander die Unterwerfung unter die assyrischen
Einflüsse zur Zeit der einen Könige (Ahas, Manasse) und die Auf-
lehnung gegen sie unter den anderen (Hiskia, Josia), der Synkretis-
mus der Kulturen einerseits und die Wiederherstellung der natio-
nalen Kultur in ihrer Reinheit andrerseits ab. Bedenkt man aber,
daß im Mittelpunkt der altorientalischen Kultur der religiöse Kultus
stand, so ist es nur zu begreiflich, daß die national-politischen
Kämpfe einen ausgesprochen religiösen Charakter annahmen. Der
Assimilierungsprozeß war ebenso mit Duldsamkeit gegen die
Formen des assyrisch-babylonischen Polytheismus verbunden wie
die nationale Idee mit dem Jahvekultus oder mit der höchsten
seiner Formen: mit dem ethischen Monotheismus der Propheten.
Dadurch gewinnt die judäische politische Geschichte des zu be-
handelnden Zeitalters ein besonders tiefes geistiges Interesse.
Den Umschwung bringt die Regierungszeit Josias mit sich, die
mit der Auflösung des assyrischen Reiches (vom Tode Assurbanipals
im Jahre 626 bis zu der Zerstörung von Ninive im Jahre 606)
zusammenfällt. Der Niedergang der fremdländischen Gewaltherr-
schaft ermöglichte es, jenen religiösen Wiederaufbau (Veröffent-
lichung des Deuteronomiums), den man unter dem Einfluß der
Prophetenpartei zu Beginn dieser Periode, unter Hiskia, in die
Wege zu leiten suchte, nunmehr mit viel größerem Erfolg durch-
zuführen. Bald aber wurde die internationale Lage Judas so ver-
^6o
§ 52. Allgemeine Übersicht
wickelt, daß die politische Krise nicht mehr zu vermeiden war.
Zwischen zwei Feuer geraten, zwischen Ägypten und Neu-Babylonien,
wandte sich Juda in seinem Kampfe um die nationale Existenz
bald der einen, bald der anderen Seite zu, kam aber bei beiden
übel an. Die letzten Könige von Juda (Jojakim, Jojakin,
Zedekia) wirken in der Atmosphäre eines politischen Weltbrandes.
Auch hier, wie einstmals im Reiche Israel, geht der Zusammen-
bruch des Staates in zwei aufeinanderfolgenden Etappen vor sich:
zuerst entthront der Eroberer Nebukadressar den König in Jeru-
salem und führt ihn zusammen mit vielen Vertretern der Aristo-
kratie und der gebildeten Schicht in die Gefangenschaft ab („das
Exil Jojakins“, Galuth Jehojachin, 597) und dann wird durch die
heroische Erhebung Judas die Zerstörung Jerusalems und der
völlige Zusammenbruch des iudäischen Reiches herauf beschworen
(586).
Es schien, daß Juda diesen furchtbaren Schlag nicht überleben
werde und daß ihm das Los Samariens und der anderen von den
Großmächten verschlungenen Staaten beschieden sei. Dies geschah
aber nicht. Der Schicksalsschlag hatte das politische Leben der
judäischen Nation nur für eine Zeitlang lahmgelegt, um es später
in neuer Form wieder erstehen zu lassen. Die Errettung der Nation
nach dem Sturze des Staates war aufs innigste mit jener geistigen
Umwälzung verknüpft, die lange vorher durch die Tatkraft der
Propheten vorbereitet worden war. Die Grundidee der Propheten-
lehre bestand darin, daß die Lebenskraft einer Nation nicht in
ihrer äußeren Machtentfaltung, sondern in ihrem Geiste beschlossen
liegt, nicht in der politischen Wirksamkeit des Staates, sondern in
jener sittlichen Betätigung des einzelnen und des Gemeinwesens, die
die Verwirklichung der höchsten Gerechtigkeitsideale zu ihrem In-
halte hat. Die nur militärisch .und politisch mächtigen Nationen
kommen im Laufe der Zeiten unabwendbar zu Fall und werden
von noch mächtigeren und noch rücksichtsloseren vernichtet; eine
Nation aber, die, obwohl politisch schwach, doch geistig stark ist
und durch die Gebote ihrer religiös-sittlichen Lehre sowie durch
ihre kulturelle Eigenart geeinigt ist, wird ihre Lebenskraft und
ihre Einheit in allen Fügungen des Schicksals erhalten können.
Die politischen Nationen vergehen, die geistigen bleiben bestehen.
In eine derartige geistige Nation das judäische Volk zu verwandeln,
261
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
waren die Propheten bestrebt, um es vor der verheerenden Ein-
wirkung der großen Raubstaaten von der Art Assyriens und Ba-
byloniens zu bewahren, die darauf ausgingen, die ihnen unter-
gebenen Völker ihrer Individualität zu berauben. Diese Bestrebungen
der Propheten, die früher nur durch vereinzelte Persönlichkeiten
repräsentiert waren, griffen in der Zwischenzeit zwischen dem
Falle Samariens und dem Untergänge Judas im Volke immer weiter
um sich. In dieser Zeitperiode tritt folgende bemerkenswerte Er-
scheinung zutage: die Propheten, diese eigenartigen geistigen Um-
stürzler, die eine Umwertung aller religiösen, sittlichen und sozialen
Werte der alten Welt vollbracht hatten, stehen nicht immer in
Opposition zu den regierenden Kreisen Jerusalems, sondern es ge-
lingt ihnen zuweilen, die Könige und die Würdenträger unter ihren
Einfluß zu bringen (Jesaja unter Hiskia, Jeremia und andere unter
Josia) und so zu Lenkern der Volksgeschicke zu werden. Nur
langsam vollzieht sich der Prozeß der Umgestaltung des Volks-
bewußtseins unter der Einwirkung der Gedanken des Prophetismus.
Nach und nach wird das Volk auf die ihm bevorstehenden harten
Prüfungen vorbereitet. Die Ergebnisse dieser inneren Entwicklung
sollen schon in der nächstfolgenden Periode, in der Zwischenperiode
des ,,babylonischen Exils“, in aller Deutlichkeit sichtbar werden.
262
Erstes Kapitel
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
(720—608)
§ 53. Die Reform des Königs Hiskia
En einer sturmbewegten Zeit bestieg der König Hiskia (720—
690) den judäischen Thron. Die Regierung seines Vaters Ahas war
mitten im Getöse von Samarias Sturz und der endgültigen Zer-
trümmerung des Brudervolkes zu Ende gegangen. Das nördliche
Reich war nun vernichtet und in eine menschenarme assyrische
Provinz verwandelt. Nur das judäische Reich, das sich unter Ahas
der Oberherrschaft Assyriens gefügt hatte, blieb verschont. Große
Massen der Bewohner des Nordreichs retteten sich vor dem Schwert
des Feindes und der Gefangenschaft durch die Flucht nach Juda,
dessen Bevölkerung dadurch an Zahl bedeutend gewann. Das ju-
däische Volk war nun jener „Rest Israels“, jener unversehrt ge-
bliebene „Stamm“ des nationalen Baumes, auf den die Propheten
und ihre Anhänger all ihre Hoffnungen setzten. Wie unsicher auch
die politische Lage Judas unmittelbar an der Grenze eines vom
Statthalter des assyrischen Königs beherrschten Landes sein mochte,
das judäische Volk blickte doch voll Mut in die Zukunft. Die
religiös denkenden Judäer konnten nicht umhin, die Hand der
Vorsehung darin zu erblicken, daß zur selben Zeit, als das ehemals
von der Dynastie Davids und seiner heiligen Hauptstadt abgefallene
Nachbarreich zugrunde ging, die heilige Stadt Jerusalem mit dem
Tempel Jahves und das zu ihm haltende Land unversehrt erhalten
geblieben waren. Das Ansehen der Davidischen Dynastie und des
Jerusalemer Tempels wuchs immer mehr in den Augen des Volkes.
Alle Blicke waren auf den jungen König Hiskia gerichtet, dem der
263
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
Prophet noch in seiner Kindheit eine glänzende Zukunft voraus-
gesagt hatte 1).
Es ist unbekannt, ob Hiskia schon in seiner Jugend unter dem
Einflüsse der Propheten stand oder ob die sich vor seinen Augen ab-
spielenden verhängnisvollen Ereignisse ihn erst später von der Wahr-
heit der prophetischen Lehre überzeugt hatten. Jedenfalls stellte
der neue König einen schroffen Gegensatz zu seinem Vater Ahas
dar. Die assyrienfreundliche antinationale Politik Ahas’ war Hiskia
zuwider. Sich auf die nationale Partei stützend, suchte der neue
König folgenden zwei Aufgaben gerecht zu werden: der Wieder-
herstellung des reinen Jahvekultes, der bisher von heidnischen
Elementen entstellt war, und der Befreiung des Landes von der
assyrischen Unterjochung. Über den religiösen Restaurationsversuch
Hiskias legt ein kurzer Bericht der „Königsbücher“ Zeugnis ab,
ferner die ausführliche Mitteilung des späteren Verfassers der
„Chronik“. Die Berichte beider Quellen stimmen darin überein,
daß Hiskia die von seinem Vater in Jerusalem ein geführten assy-
rischen Götzenkultformen sowie die Überreste der altkanaanitischen
Kulte in der Provinz mit starker Hand ausrottete. Er säuberte den
Königspalast und den Jerusalemer Tempel von den dort aufgestellten
Bildsäulen und Altären der heidnischen Gottheiten; er gebot, das
eherne Schlangenbild („Nehuschtan“), das das abergläubische Volk
von jeher als das Symbol einer gesundheitspendenden Gottheit ver-
ehrte, zu zertrümmern. Zum Zwecke der endgültigen Vereinheit-
lichung des Kultes und seiner Beschränkung auf Jerusalem unter-
sagte es Hiskia, Jahve auf den auf Anhöhen und in Hainen er-
richteten Altären der Provinz Opfer darzubringen. Der spätere
Chronist fügt hinzu, daß es dem Könige auch wirklich gelungen
sei, während der großen Jahresfeiertage Massen von frommen Pil-
gern aus der Provinz in dem Jerusalemer Tempel zu versammeln;
sogar in die Gegenden des ehemaligen nördlichen Reiches sandte
*) Allem Anscheine nach beziehen sich die folgenden aus den Zeiten Ahas’
herrührenden Worte Jesajas auf den noch im Kindesalter stehenden Hiskia:
„Denn ein Kind wird uns gegeben, ein Sohn wird uns gegeben, und die Herr-
schaft kommt auf seine Schulter. Groß ist die Herrschaft, und der Friede ohne
Ende auf dem Throne Davids und über seinem Königreiche, indem er es festigt
und stützt durch gerechtes Gericht von nun an und in Ewigkeit“ (Jes. 9, 5—6).
In den trüben Tagen Ahas’ mochte sich der Prophet mit den Aussichten auf die
Regierung des jungen Königssohnes trösten, auf den die Prophetenpartei an-
scheinend als auf den Erneuerer des nationalen Regimes ihre Hoffnungen setzte.
264
§ 53. Die Reform des Königs Hiskia
Hiskia Boten aus, um die „Ephraimiten und Manassiten“ herbei-
zurufen, und viele folgten seinem Rufe.
All diese Neuerungen waren nur mit dem tatkräftigen Beistände
der Propheten, besonders des großen Propheten Jesaja ben Amoz
(oben, § 49) durchzuführen. Während Jesaja unter Ahas noch der
Oppositionspartei angehörte, gewann er unter Hiskia großen Ein-
fluß auf die Staatsverwaltung. Er war der Führer des Königs
bei dessen großem Reformwerke und sein Ratgeber in Ver-
waltungsangelegenheiten. Jedoch in außenpolitischen Fragen ver-
mochte der König nicht immer den Ratschlägen des Propheten zu
folgen. Jesaja, der seinerzeit die freiwillige Demutsbezeugung Ahas'
dem assyrischen König gegenüber verdammt hatte, fügte sich in die
Tatsache der assyrischen Oberhoheit, als diese sich befestigte, und
hielt jeden aktiven Kampf mit dieser militärischen Großmacht für
gefährlich; die Aufgabe der Regierung bestand seiner Ansicht nach
nur in der Aufrechterhaltung der inneren Autonomie des Volkes
und seiner geistigen Selbständigkeit, nicht aber in der Wieder-
herstellung der verlorenen politischen Unabhängigkeit. Hiskia da-
gegen war für eine aktivere Politik: nur durch die Macht der
Umstände ein Vasall Assyriens geworden, hegte er die Hoffnung,
das verhaßte Joch bei günstiger Gelegenheit abzuschütteln. Er war
daher bestrebt, mit den politischen Feinden Assyriens und mit den
von diesem unterjochten, zur Unabhängigkeit strebenden palästini-
schen Kleinfürsten in nähere Beziehungen zu treten. Auch war er
auf die Verstärkung der Wehrmacht seines Landes bedacht. Un-
weit von Jerusalem waren die Städte des ehemaligen nördlichen
Reiches (Betel u. a.) mit assyrischen Garnisonen belegt; da er die
Möglichkeit eines Überfalles voraussah, befestigte Hiskia die Haupt-
stadt und suchte sie für den Fall einer Belagerung mit Wasser zu
versorgen. Jerusalem besaß innerhalb seiner Stadtmauern kein
fließendes Wasser und bezog es aus außerhalb der Stadt gelegenen
Quellen, hauptsächlich aus der großen Gihonquelle. Um dem Feind
das Abschneiden der Hauptstadt von diesen Quellen unmöglich zu
machen, ließ Hiskia ihr Wasser durch einen unterirdischen Kanal
diesseits der Stadtmauer leiten, die Quellen selbst aber zudecken.
Der Kanal mündete in der Stadt in einen Teich, der unter dem
Namen des „Siloahteiches“ bekannt ist. Die Anlage des Kanals
dauerte mehrere Jahre. Durch den felsigen Erdboden hindurch
265
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
gruben die Arbeiter einen Tunnel von beiden Enden her, wie man
es auch bei den modernen Tunnelbauten zu tun pflegt. Nachdem
mit dem letzten Schlag der Hacken beide Arbeitergruppen zu-
sammengestoßen waren, wurde das Wasser in den Kanal geleitet,
und dieser Augenblick eben ist es, der in der vor einiger Zeit auf-
gefundenen Siloah-Inschrift verewigt wurde 1). Die judäische Haupt-
stadt mußte bald jene Ereignisse über sich ergehen lassen, in deren
Voraussicht alle diese Abwehrmaßregeln getroffen worden waren.
§ 54. Auflehnung gegen Assyrien; der Einfall Sanheribs
In den ersten Regierungsjähren Hiskias unterfing sich das
judäische Volk noch nicht, an eine Auflehnung gegen die assyrische
Oberherrschaft zu denken. Noch war das entsetzliche Los des im
ungleichen Kampfe zugrunde gegangenen Samaria frisch in Er-
innerung, und auch die eigene, wenn auch mit dem schweren Preis
der Erniedrigung erkaufte Ruhe schätzte man noch viel zu hoch.
Allein mit der Zeit verloren diese abschreckenden Erinnerungen
ihre ursprüngliche Schärfe, und die Volksbewegung gegen die
assyrische Oberherrschaft griff immer weiter um sich. Die ersten
tastenden Versuche in dieser Richtung fallen anscheinend in das
Jahr 711. Um jene Zeit erhoben sich gegen Assyrien die Einwohner
der philistäischen Städte; das Haupt des Aufstandes war Azuri, der
König der Stadt Asdod. Die Philister wagten den Aufstand, weil
sie auf den Beistand des Rivalen Assyriens, Ägyptens, und auf ein
Bündnis mit den benachbarten palästinischen Staaten: Juda, Moab,
Edom rechneten. Von dem Aufstande in Kenntnis gesetzt, sandte
der assyrische König Sargon ein Heer nach Asdod unter der An-
führung Tartans (was auf assyrisch mit „oberster Heerführer“
gleichbedeutend ist). In Jerusalem folgte man voll Spannung dem
*) Die hebräische Inschrift lautet: „Dies ist die Geschichte der Durchbohrung
(des Tunnels). . . . Die Arbeiter erhoben die Hacke einer zum anderen hin, und
als noch drei Ellen zu durchbohren waren (zwischen den einander entgegen-
grabenden Arbeitern), konnte man hören, wie sie einander zuriefen, denn es
war ein Spalt im Felsen entstanden. Und am Tag der Durchbohrung schlugen
die Tunnelarbeiter einander entgegen, Hacke gegen Hacke; da flössen die Wasser
von ihrem Ursprungsorle in den Teich, 1200 Ellen“ . . . Diese aus sechs Zeilen
bestehende Inschrift wurde an der Stelle der alten Kanalbauten in Jerusalem im
Jahre 1880 auf gefunden. Es ist anzunehmen, daß sie in unmittelbarem Zu-
sammenhang mit jenen Wasserleitungsbauten des Königs Hiskia steht, von denen
in II. Kön. 20, 20 und II. Ghron. 32, 5, 3o die Rede ist.
266
§ 54. Die Auflehnung gegen Assyrien; der Einfall Sanheribs
Verlauf des Krieges. Die mit der Fremdherrschaft unzufriedenen
Volkskreise waren bereit, dem Beispiel der Philister zu folgen; es
wurde anscheinend schon für ein Bündnis mit den Philistern und
Ägypten gegen den gemeinsamen Feind Stimmung gemacht. Die
Prophetenpartei mißbilligte jedoch dieses gefahrvolle Beginnen.
Eines Tages entledigte sich der Prophet Jesaja seines Mantels und
seiner Schuhe und wanderte so halbnackt und barfuß durch die
Straßen Jerusalems. Als man ihn nach dem Grunde seines be-
fremdenden Betragens fragte, erwiderte er, er wolle zeigen, in wie
schmählichem Aufzug die Ägypter und ihre aufrührerischen Ver-
bündeten von dem Assyrerkönig in die Gefangenschaft abgeführt
werden würden. Bald darauf wurde Asdod, wie vorauszusehen war,
von den Assyrern eingenommen und seine Einwohner wurden ver-
bannt. Der philistäische Aufstand war unterdrückt; Ägypten erwies
sich als ein unzuverlässiger Verbündeter, und die Partei in Juda,
die für den Aufstand war, mußte für eine Zeitlang verstummen x).
Eine viel größere Ausdehnung gewann die Aufstandsbewegung
der unterjochten Völker Vorderasiens gegen Assyrien im Jahre 705,
nach dem gewaltsamen Tode des Königs Sargon, dem sein Sohn
Sanherib (Sinnaheriba) auf dem Throne folgte. Das erste Zeichen
zum Aufstande gab der südliche Teil Mesopotamiens, Babylonien,
das dem nördlichen Teil, dem eigentlichen Assyrien, den Vorrang
streitig machte. Schon unter Sargon hat der Babylonier Merodach-
Baladan den Versuch gemacht, Babylonien von dem assyrischen
Reiche loszureißen und unabhängig zu machen. Nun gaben ihm
die in der Assyrerhauptstadt Ninive infolge des Thronwechsels ent-
standenen Wirren den Anlaß zur Bildung einer umfassenden anti-
assyrischen Koalition der von dem Joch der Militärmacht bedrückten
Kleinstaaten Syriens und Palästinas. Er schickte eine Gesandtschaft
mit Geschenken an Hiskia nach Jerusalem, um auch diesen zur
Beteiligung an dem allgemeinen Bündnis zu bewegen. In Jerusalem
hatte sich inzwischen von neuem eine Aufstandspartei gebildet, und
auch der König selbst schloß sich ihr an. Nicht politische Umsicht,
!) Das Buch Jesaja, Kap. 20. In den assyrischen Annalen Sargons wird
unter dem Jahre 710 die Einnahme Asdods geschildert, wobei Philistäa, Juda
(Jaudi), Edom und Moab als die am Aufstand beteiligten Länder genannt werden.
S. Keilinschriftliches Textbuch zum Alten Testament (3. Aufl. 1909, S. 42). Die
Teilnahme Judas dürfte sich zu jener Zeit höchstens in Vorbereitungsmaßnahmen
geäußert haben.
267
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
sondern ein feuriges patriotisches Gefühl veranlaßte ihn, diese
günstige Gelegenheit zur Erlangung der Unabhängigkeit wahrzu-
nehmen. Hiskia folgte dem Beispiel der palästinischen Nachbar-
völker, der Philister und der Phönizier von Sidon, und sagte sich
von dem Vasallen Verhältnis zu Assyrien los. Während der Nach-
folger Sargons, Sanherib, durch den Aufstand in Babylonien in
Anspruch genommen war, bereitete sich Hiskia eifrig auf den
bevorstehenden Kampf vor. In Befürchtung eines ungünstigen
Ausgangs des Aufstandes in Babylonien verhandelte er mit Ägypten,
wo sich zu jener Zeit die äthiopischen Usurpatoren Sabako und
Tirhaka des Thrones bemächtigt hatten, und sicherte sich ihren
Beistand für den Fall eines Eindringens der Assyrer in Juda. Die
nächsten Verbündeten des judäischen Königs waren aber die phöni-
zischen und philistäischen Könige. In diesem palästinischen Bündnis
nahm Hiskia eine leitende Stellung ein, und als einer der philistäi-
schen Könige, Padi, sich weigerte, dem Bündnis beizutreten, wurde
er von den Großen Ekrons Hiskia ausgeliefert und von diesem
gefangengesetztx).
Der Prophet Jesaja und seine Gesinnungsgenossen billigten je-
doch diesen gewagten Schritt des Königs Hiskia nicht. Grundsätz-
liche Gegner jedes aktiven Eingreifens Judas in die Weltpolitik,
setzten sie auch in diesem Falle weder Hoffnungen auf den Auf-
stand in Babylonien noch auf die Hilfeleistung Ägyptens, das auf
die Begründung seiner eigenen Oberherrschaft in Palästina ausging,
der Übermacht Assyriens jedoch nicht gewachsen war. Als die Ge-
sandten Merodach-Baladans mit Geschenken zu König Hiskia nach
Jerusalem kamen und dieser ihnen in freundlichster Weise die
Schatzkammern seines Palastes zeigte, tadelte Jesaja in schroffer
Weise Hiskias Zuvorkommenheit und prophezeite, daß die Ba-
bylonier in Zukunft, wenn sie zur Macht gelangt seien, Juda
ebenso verheeren würden, wie es jetzt Assyrien nach der Nieder-
werfung des Aufstandes tun werde* 2). In besonders harten Aus-
■*•) Es besteht die Möglichkeit, diesen und die nachfolgenden Berichte der
biblischen Urkunden über den Krieg mit Assyrien an den Ergebnissen der
Assyriologie zu prüfen (die große Inschrift Sanheribs auf dem sogenannten
Taylor-Prisma u. a.). Jedoch ist der wahre Sachverhalt, soweit die Reihenfolge
der Ereignisse in Frage kommt, noch nicht geklärt.
2) Parallele Stellen in Jes. 39, 6—7 und II. Kön. 20, 17—18, in deren
268
§ 54. Die Auflehnung gegen Assyrien; der Einfall Sanheribs
drücken gibt der Prophet seiner Entrüstung über die Verhandlungen
mit dem treubrüchigen Ägypten Ausdruck: „Wehe denen, die nach
Ägypten hinabzogen, um Hilfe zu erlangen und sich auf Kriegsrosse
stützten, — so kündet der Prophet im Namen Jahves — die auf
Streitwagen wegen ihrer Menge und auf Reiter wegen ihrer großen
Zahl sich verließen, aber auf den Erhabenen Israels nicht blickten
und Jahve nicht befragten! . . . Die Ägypter sind aber Menschen,
nicht Gott, ihre Rosse sind ja Fleisch, nicht Geist, und wenn Jahve
seine Hand ausreckt, wird der Unterstützende straucheln und der
Unterstützte fallen, und beide werden zugrunde gehen.“ Den
Untergang Ägyptens und „Kuschs“ (Äthiopiens) prophezeiend, sagt
Jesaja: „Und die Bewohner dieser Küste (Judas) werden an jenem
Tage sprechen: Wenn es denen so ergangen ist, nach denen wir
ausblickten, zu denen wir um Hilfe, um uns vor dem Könige von
Assyrien zu retten, geflohen waren — wie können wir da ent-
rinnen?“ Das positive politische Ideal aber findet seinen Ausdruck
in folgenden Worten des Propheten: „Jahve, der Erhabene Israels,
sprach also: In Umkehr und Ruhe liegt euer Heil, im Stillehalten
und Vertrauen besteht eure Kraft! Aber ihr wolltet nicht und
sagtet: ,Nein! sondern auf Rossen wollen wir dahin fliehen!4 —
deshalb sollt ihr fliehen; ,und auf Rennern wollen wir reiten!4 —
deshalb sollen rennen eure Verfolger!“* 1) Die Ermahnungen des
Propheten fanden aber kein Gehör. Sie wurden von dem Wirbel-
sturm der politischen Ereignisse übertönt, die auch Juda, seinen
König und seine Regierung mit sich rissen. Groß war der Einsatz,
aber groß auch die Hoffnung auf die Befreiung des Landes von
dem Joch Assyriens, gegen welches sich alle unterdrückten Völker
erhoben hatten.
Inzwischen hatte Sanherib den Aufstand in Babylonien be-
zwungen und wandte sich an der Spitze eines Riesenheeres gegen
die aufrührerischen Völker Palästinas. Das Endziel seines Feldzuges
bildete das feindliche Ägypten, das diese Völker stets zur Erhebung
gegen die assyrische Herrschaft aufgewiegelt hatte. Das Heer be-
siegte ohne Mühe die Phönizier, bemächtigte sich Sidons, auch
endgültiger Redaktion zweifellos die Hand des späteren, aus der Zeit nach dem
babylonischen Exil stammenden Redaktors zu bemerken ist.
1) Jesaja 20, 6; 3o, 1—3 und i5—16; 3i, 1—3.
269
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
Tyrus bedrohend, und rückte alsdann gegen Philistäa vor. Schon
war Askalon besetzt, bei Ekron aber wurden die Assyrer auf gehalten.
Hier kamen den Philistern die Ägypter zu Hilfe. Bei Altaku (Elteke)
kam es zu einer Schlacht. Die Ägypter flohen, und Ekron fiel in
die Hände der Assyrer. Juda blieb nun allein, ohne Verbündete,
Auge in Auge mit den grauenerregenden Heerhaufen Sanheribs
(7°i);
Die Assyrer drangen in Juda ein und bemächtigten sich einer
Stadt nach der anderen. Erbarmungslos verheerten sie die besetzten
Städte und Ortschaften, beraubten die Einwohner und führten sie
in die Gefangenschaft ab. Schon näherte sich der Feind der Haupt-
stadt und schlug sein Lager unfern von Jerusalem, bei der Stadt
Lakisch auf. Da verloren König Hiskia und seine Ratgeber gänzlich
den Mut. Um die Hauptstadt vor Verheerung zu retten, beschloß
Hiskia nach einem schweren Seelenkampf, dem assyrischen Gebieter
seine Unterwerfung anzubieten. Er sandte Boten zu Sanherib nach
Lakisch und ließ ihm sagen: „Ich habe unrecht getan, zieh von
mir wieder ab. Was du mir auf erlegst, will ich tragen.“ Sanherib
legte dem judäischen König einen großen Tribut in Höhe von
3oo Talenten Silber und 3o Talenten Gold auf. Hislda lieferte
den Tribut unter Aufbietung aller Kräfte ab: alle Schatzkammern
des Jerusalemer Palastes wurden geleert und sogar die goldenen
Schilde und Verzierungen an den Türen des Vorderraumes (Hechal)
des Tempels mußten abgerissen und hergegeben werden.
Allein Sanherib begnügte sich nicht mit dem empfangenen
Tribut. Da er sich zu dem Feldzug nach Ägypten rüstete, be-
fürchtete er anscheinend, daß die aufrührerischen palästinischen
Fürsten mit dem judäischen an der Spitze hinter seinem Rücken
sich von neuem verschwören würden. Vielleicht erregte auch die
lange Jahre hindurch unter Hiskia fortgeführte Befestigung der
judäischen Hauptstadt neben anderen Schutzmaßnahmen sein Miß-
trauen. Der assyrische König beschloß für alle Fälle, Juda seine
harte Faust fühlen zu lassen und es so zu züchtigen, daß es in
der Folge nie mehr gegen den „König der Könige“ sich zu er-
heben wage. Aus seinem Hauptlager in Lakisch sendet er Boten
nach Jerusalem und verlangt die völlige Unterwerfung und be-
dingungslose Übergabe der Stadt. Der judäische Chronist gibt ein
lebensvolles Bild von den Unterhandlungen der assyrischen Ge-
270
§ 54. Die Auflehnung gegen Assyrien; der Einfall Sanheribs
sandten mit den Regierenden Jerusalems, indem er den Boten
offenbar erdichtete, aber für die politische Lage dieser Zeit höchst
bezeichnende Reden in den Mund legt. Seine Erzählung lautet*):
Die assyrische Gesandtschaft bestand aus drei Würdenträgern:
aus Tartan, dem Oberbefehlshaber der Truppen, Rabsaris, dem
königlichen Obereunuchen, und Rabsaka, dem Obermundschenk.
Die assyrischen Gesandten näherten sich in Begleitung eines Heer-
trupps Jerusalem, erstiegen eine Anhöhe vor der Stadtmauer und
verlangten, daß Hiskia persönlich zum Unterhandeln erscheine. Der
König sandte ihnen seinen Palastobersten Eljakim und seine Staats-
schreiber Schebna und Joah entgegen. An der Stadtmauer be-
gegneten sich beide Gesandtschaften. Die schreckerfüllten Ein-
wohner Jerusalems waren inzwischen auf die Mauer gestiegen, um
den Verhandlungen beizuwohnen. Einer der assyrischen Gesandten,
Rabsaka, wandte sich mit folgenden Worten an die judäischen
Würdenträger: „Sagt doch Hiskia: so spricht der König von Assur:
Worauf gründet sich das Vertrauen, das du hier zur Schau trägst?
Sieh, du verläßt dich auf diesen eingeknickten Rohrstock da, auf
Ägypten, der dem, der sich auf ihn stützt, durch die Hand dringt
und sie durchbohrt . . .“ In diesem herausfordernden Ton redete
Rabsaka noch lange, indem er absichtlich laut „judäisch“ (jehudith)
sprach, damit auch das auf der Stadtmauer stehende Volk seine
Worte hören und verstehen könne. Die Gesandten Hiskias baten
Rabsaka, die Verhandlungen in der offiziellen assyrischen oder
„aramäischen“ (aramith) Sprache zu führen, um das auf der Stadt-
mauer versammelte Volk nicht in Erregung zu versetzen. Rabsaka
erwiderte aber, der König Sanherib hätte ihn nicht nur zum judäi-
schen König, sondern auch zum Volke Jerusalems gesandt. Und
indem er sich an die in Furcht versetzten Einwohner wandte, fuhr
er fort: „So spricht der König von Assur: Laßt euch nicht von
Hiskia betören, denn er kann euch nicht retten. Und laßt euch
nicht von Hiskia mit Jahve vertrösten, wenn er sagt: Jahve wird
uns ganz sicher retten, diese Stadt wird keinesfalls in die Hände
des Königs von Assur gegeben werden. Haben denn die Götter
der Völker ihre Länder aus der Hand des Königs von Assur zu
retten vermocht? Wo sind die Götter von Hamat und Arpad?
Wo sind die Götter von Sepharwaim? Wo sind die Götter des
U Die Reden in den Parallelstellen der Königsbücher (Kap. 18—19) und in
dem Buche Jesaja (Kap. 36—37) sollen ein glänzendes Beispiel jener rheto-
rischen Geschichtsschreibung dar, die später bei den griechischen und römischen
Geschichtsschreibern so beliebt war. Die in diesen Kapiteln geschilderte inter-
nationale Lage entspricht tatsächlich den damaligen politischen Verhältnissen, und
sogar der Ton, auf den die Reden gestimmt sind, stimmt mit der weiter an-
geführten prahlerischen Inschrift Sanheribs völlig überein.
271
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
Landes Samaria1), daß sie Samaria aus meiner Hand gerettet
hätten? Hört nicht auf Hiskia, kommt zu mir heraus, daß dann
jeder von seinem Weinstock und von seinem Feigenbäume essen
und jeder das Wasser seiner Zisterne trinken kann!’*
Als die judäischen Gesandten zurückkehrten und Hiskia die
Worte Rabsakas überbrachten, verlor der König völlig den Mut.
Er sandte den Palastobersten Eljakim und die ältesten Priester zu
dem Propheten Jesaja, um sich von ihm beraten zu lassen und
seine Weissagung zu vernehmen. Der Prophet, der den Aufstand
in seinem ersten Stadium, als ein Angriff geplant wurde, verdammt
hatte, zeigte sich nun, da es den verwegenen, Gott und die Nation
schmähenden Feind abzuwehren galt, voll reger Teilnahme. Jesaja
schloß sich jener patriotisch gesinnten Partei an, die die Hauptstadt
dem Feinde nicht preisgeben wollte. Er beruhigte die Boten Hiskias,
riet, vor den assyrischen Drohungen nicht zurückzuschrecken, und
prophezeite das baldige Verderben des Feindes. Die Hoffnungen des
Propheten stützten sich auf den neuen Feldzug Ägyptens gegen die
Assyrer.
Während der assyrische König mit dem judäischen unter-
handelte, zog der äthiopisch-ägyptische Feldherr Tirhaka mit einem
großen Heere gegen die Assyrer aus« Als Sanherib dies erfuhr,
hob er sein Lager in Lakisch auf und wandte sich mit seinem
Heere zur Grenze Ägyptens, Tirhaka entgegen. Die assyrischen
Gesandten, die unverrichteter Dinge nach Lakisch zurückgekehrt
waren, trafen ihren König dort nicht mehr an. Unterwegs jedoch
sandte Sanherib ein Schreiben an Hiskia mit neuen Drohungen und
der Forderung der unverzüglichen Übergabe Jerusalems. Hiskia,
dem das Gerücht von dem Rückzug des Feindes von Lakisch neuen
Mut eingeflößt hatte, weigerte sich, dieser Aufforderung Folge zu
leisten. Sowohl der König wie auch der Prophet suchten den Mut
des Volkes durch feierliche religiöse Versammlungen im Tempel
und durch patriotische Reden aufrechtzuerhalten. Jesaja veröffent-
lichte das folgende prophetische Sendschreiben, das in Form einer
Antwort auf die anmaßende Forderung Sanheribs verfaßt war:
„Es verachtet dich, es spottet deiner die Jungfrau, Tochter Zion,
hinter dir her schüttelt das Haupt die Tochter Jerusalem. Wen hast
du gelästert und verhöhnt und gegen wen deine Stimme erhoben
1) Der letzte Satz, der im massoretischen Text (II. Kön. 18, 34 und in dem
Parallelbericht im Buche Jes. 36, 19) fehlt, hat sich in der alten Septuaginta
erhalten.
272
§ 54. Die Auflehnung gegen Assyrien; der Einfall Sanheribs
und deine Augen nach oben gerichtet? Gegen den Heiligen Israels!
. . . Und also spricht Jahve über den König von Assur: Er soll
nicht in diese Stadt eindringen und keinen Pfeil hineinschießen,
mit keinem Schilde soll er sie berennen und keinen Wall gegen sie
aufschütten. Auf dem Wege, auf dem er gekommen, soll er zurück-
kehren, und nicht soll er in diese Stadt eindringen.“
Die Hoffnung des Propheten ging viel eher in Erfüllung als
man erwarten konnte. Plötzlich verbreitete sich in Juda die Kunde
von der eiligen Rückkehr des gegen Ägypten marschierenden
Heeres Sanheribs (701). Die Judäer erzählten sich, daß Gott eine
Pest über die Assyrer gesandt und daß der „Engel Jahves“
185 000 Mann in einer Nacht in ihrem Lager vernichtet hätte.
In Ägypten hieß es, daß eine Unmenge von Feldmäusen die Aus-
rüstung und die Vorräte der assyrischen Krieger zernagt hätte und
daß das feindliche Heer sich aus diesem Grunde von der ägyp-
tischen Grenze zurückziehen mußte 1). In Wirklichkeit scheint der
jähe Rückzug Sanheribs durch die Nachricht von einem neuen
Aufstand in Babylonien, dem Mittelpunkte des Reiches, veranlaßt
worden zu sein. Sanherib kehrte nach Ninive zurück, und so wurde
Jerusalem errettet.
Dieser endgültige Mißerfolg hinderte jedoch Sanherib nicht,
seinen siegreichen Zug durch Juda in einer langen, auf Ton-
zylindern eingemeißelten und in den Ruinen des Palastes zu Ninive
aufgefundenen Inschrift zu verherrlichen. In dem üblichen prahle-
rischen Ton verfaßt, mit jener äußersten Übertreibung seiner Siege,
die übrigens für die Berichte der Heerführer aller , Zeiten so be-
zeichnend ist, lautet diese Inschrift (in dem Teil, der Juda betrifft)
folgendermaßen:
„Und von Hiskia, dem Judäer, der sich nicht unter mein Joch
gebeugt hatte, belagerte ich sechsundvierzig feste Städte, mit Mauern
versehene; kleinere Städte ohne Zahl in ihrer Umgebung . . . er-
oberte ich; 200,i5o Menschen, jung, alt, männlich und weiblich,
Rosse, Maultiere, Kamele, Rinder und Kleinvieh ohne Zahl führte
ich von ihnen heraus und rechnete sie als Beute. Ihn selbst (Hiskia)
sperrte ich wie einen Käfigvogel in Jerusalem, seiner Residenz, ein;
1) Eine Überlieferung, die sich auch bei Herodot (II, i4i) erhalten hat.
18 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
273
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
feste Plätze befestigte ich gegen ihn und die aus dem Tore seiner
Stadt Herauskommenden hemmte ich. Seine Städte, die ich ge-
plündert hatte, trennte ich von seinem Lande ab und gab sie an
Mitinti, den König von Asdod, Padi1), den König von Ekron und
Sil-bel, den König von Gaza und verminderte sein (Hiskias) Land.
Zu dem früheren Tribut, der Abgabe ihres Landes, fügte ich den
Tribut und die Geschenke meiner Herrschaft (Kontribution) hinzu
und legte sie ihnen auf. Ihn, Hiskia, überwältigte die Furcht vor
dem Glanze meiner Herrschaft, und das heimatlose Gesindel und
seine regulären Krieger, die er zur Verteidigung Jerusalems, seiner
Residenz, hatte kommen lassen, verfielen in Schrecken. Nebst
3o Talenten Goldes (und) 800 Talenten Silbers ließ er Edelsteine
... (es folgt eine Aufzählung der Schätze und Waffen) und seine
Töchter und Palastfrauen, Musikanten und Musikantinnen nach
Ninive, meiner Hauptstadt, mir nachbringen. Zur Ablieferung seines
Tributs und Erklärung der Untertänigkeit schickte er seinen Ge-
sandten.“
Sanherib verschweigt natürlich in seiner ruhmredigen Schilderung
die Gründe, die ihn veranlaßt hatten, sich von dem „Käfig“, in
dem Hiskia eingesperrt war, d. i. von Jerusalem, zurückzuziehen.
Auf das judäische Volk aber machte gerade dieser Ausgang des
Feldzuges den größten Eindruck: der furchtbare Weltgebieter blieb
an der Schwelle der heiligen Stadt stehen und vermochte nicht
hineinzukommen. Juda blieb unter den gleichen Umständen unver-
sehrt, unter denen zwanzig Jahre früher Samaria zugrunde ge-
gangen war. Dieser historische Kontrast hinterließ einen tiefen
Eindruck in Jerusalem und rief einen mächtigen Aufschwung des
national-religiösen Geistes hervor. Nach langer Bedrängnis atmete
das Volk erleichtert auf. Die von Sanherib verheerten judäischen
Städte wurden wieder aufgebaut und das Land erholte sich all-
mählich von den erlittenen Schlägen. Das Volk sehnte sich nach
Ruhe und sie wurde ihm auch für eine Zeitlang zuteil.
*) Der obenerwähnte Fürst von Ekron, der von Hiskia seiner assyrien-
freundlichen Gesinnung wegen gefangengesetzt wurde. In derselben Inschrift
heißt es vorher, daß Sanherib Padi aus seiner Gefangenschaft in Jerusalem be-
freit und zum Herrscher über Ekron wieder eingesetzt hat. Vgl. Keil. Text.,
S. 44—46.
274
§ 55. Das geistige Leben unter König Hiskia
§ 55. Das geistige Leben unter König Hiskia
Eine hervorragende Persönlichkeit stand zu jener Zeit im Mittel-
punkte des geistigen wie des politischen Lebens des Landes oder
vereinigte vielmehr diese beiden Gebiete in ein organisches Ganzes:
der Prophet Jesaja. Unter Hiskia gelangte die Wirksamkeit des
Propheten zu ihrer höchsten Blüte; er wurde zum geistigen Führer
der Nation, zu ihrem Lehrer und Wegweiser. Keiner von den
Propheten, weder vor Jesaja noch nach ihm, besaß einen so un-
mittelbaren Einfluß auf das gesellschaftliche Leben. Die stür-
mischen Ereignisse, die unter Ahas und Hiskia über Jerusalem
hereinbrachen, befestigten im Geiste des Propheten sein hohes
Ideal der menschlichen Gemeinschaft. Die kriegstüchtige, aber im
Innern unterwühlte und der Zersetzung anheim gefallene assyrische
Monarchie war ihm ein abschreckendes Beispiel für jeden Staat.
Dem Propheten ist der Typus eines militärischen Raubstaates ver-
haßt, dem seine Macht nur ein Werkzeug zum Verschlingen der
kleineren Staaten, zur Verherrlichung seiner Waffengewalt und
seiner rohen, brutalen Kraft ist. Ihm schwebt das Ideal eines
friedlichen, im Geiste sozialer Gerechtigkeit regierten Volkes vor,
das danach strebt, Starke und Schwache gleichzustellen, die ver-
schiedenen Interessen auszugleichen und die Klassengegensätze zu
beseitigen. Juda darf nicht mit Assyrien wetteifern: die „stillen,
fließenden Wasser des Siloah“ (des Siloahteiches, der die Haupt-
stadt Judas mit Wasser versorgte) sollen den „großen und starken
Wassern“ des Euphrat, die weite Landstrecken überfluten, nicht
gleichzukommen suchen. Das judäische Reich der Zukunft er-
scheint ihm als ein ideales Reich des Friedens, der Wahrheit und
der Gerechtigkeit:
„Ein Reis wächst auf aus dem Stumpfe Isajs (der Dynastie
Davids), und ein Zweig sproßt aus seiner Wurzel. Und der Geist
Jahves läßt sich auf ihn (den König) nieder, der Geist der Wahrheit
und des Verstandes, der Geist des Rates und der Kraft, der Geist
der Erkenntnis und der Furcht Jahves. ... Er richtet die Geringen
mit Gerechtigkeit und urteilt über die Elenden des Landes in Gerad-
heit; aber die Gewalttätigen schlägt er mit dem Stocke seines Mun-
des. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Hüften sein. . . . Dann weilt
der Wolf neben dem Lamme, und der Parder lagert neben dem
Böcklein. Rind und Löwe weiden zusammen, und ein kleiner Knabe
leitet sie. Kuh und Bärin befreunden sich, ihre Jungen lagern
18*
275
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
nebeneinander, und der Löwe nährt sich wie die Rinder vom Stroh.
Der Säugling spielt an der Höhle der Otter, und der Entwöhnte
greift mit der Hand nach dem Lager der Natter. Sie tun keinen
Schaden und richten kein Unheil an in •meinem ganzen heiligen
Berglande, denn das Land wird von Erkenntnis Jahves voll sein
wie von Wassern, die das Meer bedecken ‘ (Buch Jes. Kap. 11).
Diese begeisterten Reden von einem brüderlichen Zusammen-
leben der Völker, von dem Verschwinden der Wölfe und Lämmer
unter den Nationen, der Redrücker und der Bedrückten, wurden in
Jerusalem zu einer Zeit gesprochen, als der Wolfsrachen Assyriens
ganze Reiche und Völker gierig verschlang, als die Weltgeschichte
nur der Schauplatz für den jedes sittlichen Zweckes entbehrenden
Kampf roher elementarer Kräfte war. Ganz anders war das Bild,
das dem Propheten in ferner Zukunft vorschwebte: verschwinden
wird der Hader der Menschen und Völker, alle Nationen werden
zu einem von höchsten sittlichen Bestrebungen beseelten Volk von
Brüdern werden, und zum Künder dieses goldenen Zeitalters der
Menschheit ist eben das judäische Volk berufen. Um Juda, um den
heiligen Berg Zion, werden sich die verklärten, nach einem univer-
salen Gotte sich sehnenden Völker scharen:
„In der letzten Zeit wird der Berg Jahves und das Haus unseres
Gottes fest gegründet stehen auf dem höchsten Berge und über die
Hügel erhaben sein, und alle Völker werden zu ihm strömen und
viele Nationen sich aufmachen und sprechen: Auf, laßt uns zum
Berge Jahves hinaufsteigen und zum Tempel des Gottes Jakobs,
damit er uns über seine Wege belehre und wir auf seinen Pfaden
wandeln. Denn von Zion wird die Lehre ausgehen und das Wort
Jahves von Jerusalem. Und er wird zwischen den Völkern richten
und vielen Nationen Recht sprechen; und sie werden ihre Schwerter
in Pflugscharen umschmieden und ihre Spieße zu Winzermessern.
Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben und sie wer-
den den Krieg nicht mehr lernen“ [Jes. 2, 2—4; Micha 1—3).
In den Reden Jasajas und seines Zeitgenossen Micha wird die
Idee des ethischen Monotheismus in schroffen Gegensatz zu seelen-
losem Kultus und nur äußerlich religiösem Ritus gebracht. Beide
Propheten stellen das Heidnische im Ritus dem Götzendienst ein-
fach gleich. Die Seele des Menschen, nicht sein Körper, müsse
sich Gott zuwenden. Der ganze Unterschied zwischen der durch-
geistigten Religion der judäischen Propheten und den Vorstellungen
der assyro-babylonischen Glaubenslehre erhellt z. B. schon aus der
folgenden Gegenüberstellung:
276
§ 55. Das geistige Leben unter König Iiiskia
Buch Micha 6, 6—8
„Womit soll ich vor Jahve treten,
mich beugen vor dem Gott in der
Höhe? Soll ich mit Brandopfern vor
ihn trelen, mit einjährigen Kälbern?
Gefallen Jahve Tausende von Widdern,
unzählige Bäche Öls? Es ist dir ge-
sagt, Mensch, was frommt und was
fordert Jahve von dir? Nichts als
Recht tun, an Liebe seine Freude
haben und demütig wandeln vor
deinem Gott.“
Der Aufschwung des geistigen Lebens während der Regierung
Hiskias läßt vermuten, daß eben um jene Zeit vieles verfaßt oder
gesammelt wurde, was man späterhin in den Bestand des biblischen
Schrifttums aufnahm. Die Predigt der Propheten, die im Volke
neue andachtsvolle Stimmungen wachgerufen hatte, zeitigte auch
ganz neue Formen ihrer Äußerung: die religiösen Hymnen oder
Psalmen.
Hiskia selbst wird ein Dankpsalm in den Mund gelegt, den er
angeblich bei seiner Genesung von einer schweren Krankheit ge-
sprochen haben soll, der aber in Wirklichkeit von dem Chronisten
selbst, wie in der rhetorischen Historiographie üblich, verfaßt oder
aus den im Tempel bei Anlaß einer Genesung vorgetragenen Psalmen
entlehnt wurde:
„Ich dachte, ich muß gehen auf meines Lebens Höhe zu den
Toren des Scheols (der Unterwelt) für den Rest meiner Jahre. Ich
dachte: Nicht sehe ich weiter Jahve im Land der Lebendigen, nicht
schaue ich mehr Menschen bei den Bewohnern der Welt. Meine
Hütte ist abgebrochen und abgedeckt über mir wie ein Hirtenzelt,
du rollst auf wie der Weber mein Leben, schneidest mich ab vom
Trumm. . . . Wie eine Schwalbe so zwitschere ich, girre wie eine
Taube (voll Kummer); es tränen meine Augen nach oben: bedrängt
bin ich, Jahve, tritt für mich ein. . . . Und du hast zurückgehalten
meine Seele von der Grube der Vernichtung, denn du warfst hinter
deinen Rücken alle meine Sünden. Denn nicht dankt dir der Scheol,
nicht preist dich der Tod; nicht harrt, wer zur Grube herabfuhr,
auf deine Treue. Wer da lebt, der dankt dir wie ich heute. Jahve
half mir, so wollen wir Saitenspiel spielen, solange wir leben im
Hause Jahves“ (Jes. 38, io—20).
In dieser Art mochten damals viele „Lieder des Hauses Jahves“
oder Psalmen verfaßt worden sein, die im Jerusalemer Tempel im
Chor gesungen wurden. Die Psalmen waren verschiedenen Inhalts:
277
Babylonische Hymnen
„O Istar, was sollen wir dir
geben? Fette Rinder, feiste Schafe?
Nicht will ich essen fette Rinder,
feiste Schafe; man möge mir geben
prächtiges Aussehen der Frauen,
Schönheit der Männer!“ (S. Schräder,
Die Keilinschriften und das A. T.,
3. Aufl. 1903, S. 5g5; Jeremias,
Das Alte Testament im Lichte des alten
Orients, 3. Aufl. 1916, S. 56i.)
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
es gab Klage- und Trauerpsalmen sowie Dank- und Festpsalmen.
Die Erlösung Judas von den Heerhaufen Sanheribs und die ihr
vorangehende Angst und Verwirrung mochten zur Abfassung der
Psalmen sowohl der einen wie der anderen Art Anlaß gegeben
haben. Es mag hier noch erwähnt sein, daß religiöse Hymnen und
Psalmen auch im babylonischen religiösen Schrifttum verbreitet
waren, wobei die äußere Ähnlichkeit der babylonischen und der
biblischen Psalmen oft sehr auffallend ist (s. unten, § 85).
Das geistige Schaffen jenes Zeitalters äußerte sich übrigens
nicht nur auf dem Gebiete des nationalen „Prophetentums“ und
der religiösen Poesie: die „Männer Hiskias“ („ansche Hiskijahu“,
Sprüche Salomonis 2 5, 1), d. i. ein kleiner Kreis gebildeter Hof-
leute, verfaßten oder sammelten auch Parabeln und kurze Aphoris-
men („Meschalim“), in denen die Lebensweisheit jenes Zeitalters
ihren Ausdruck fand. Diese Sprüche und Parabeln, die ein Gemeingut
des Volkes waren, legte man den Weisen der alten Zeit, besonders
dem König Salomo, in den Mund (s. unten, § 87).
Es wäre gewagt, feststellen zu wollen, welche Teile der Psalmen-
und Sprücheliteratur der geschilderten Epoche angehören. Anderer-
seits ist aber kaum anzunehmen, daß eine Zeitperiode, die solche
gewaltige Propheten hervorbrachte und in welcher deren Worte
zum Teil auch in die Tat umgesetzt wurden, nicht auch für jenes
literarische Schaffen einen Beitrag geliefert hätte, das sich während
einer Reihe von Jahrhunderten, parallel mit der prophetischen
Wirksamkeit und in engstem Zusammenhang mit ihr, entfaltete.
Der biblischen Literatur floß in diesem Jahrhundert der letzten
judäischen Könige zweifellos neue Kraft zu, und die Aufgabe der
folgenden Perioden bestand nun darin, den geistigen Kulturschatz
der Nation, weiter zu vergrößern und zu vermehren.
§ 56. Die Gegenreform des Königs Manasse (690—6U0)
Die von Hiskia durchgeführte Reform hätte sich allmählich im
Volke einbürgern können, wenn der König einen in seinem Geiste
erzogenen und auf die Fortsetzung seiner Richtung bedachten
Nachfolger hinterlassen hätte. Unglücklicherweise starb Hiskia im
dreißigsten Jahre seiner Regierung (um 690), und den Thron be-
stieg sein Sohn Manasse, der noch im Knabenalter stand. Infolge
278
§ 56. Die Gegenreform des Königs Manasse
der Minderjährigkeit des Thronerben wurde das Reich in der ersten
Zeit von den Hofleuten verwaltet, von denen die einflußreichsten
anscheinend der Partei der Reformgegner angehörten. Ihnen mochten
sich auch die alten, noch am Leben gebliebenen Ratgeber Alias’ an-
geschlossen haben, die unter Hiskia ihren Einfluß eingebüßt hatten
und nun unter seinem Nachfolger von neuem sich durchzusetzen
suchten. Erst vor kurzem durch die Prophetenpartei in den Hinter-
grund gedrängt, gingen diese Männer darauf aus, unter dem neuen
König die antinationale Politik Alias’ zu neuem Leben zu erwecken.
Sie brachten den jugendlichen König gänzlich unter ihren Einfluß,
indem sie zunächst in der Zeit der Regentschaft in seinem Namen
das Reich verwalteten und ihn hernach soweit in den Händen hatten,
daß er auch fernerhin ihrem Willen gemäß regierte. Es setzte eine
Periode der Gegenreform ein.
Die innere Reaktion war mit der äußeren, der politischen Re-
aktion aufs engste verflochten. Während der Regierung Manasses
änderte sich auch die Haltung Judas der Oberhoheit Assyriens
gegenüber. Nach der Katastrophe, die zur Zeit Hiskias über
das Heer Sanheribs hereingebrochen war, ließen sich die Assyrer
lange Zeit nicht mehr in Palästina sehen. Sanherib war durch
fortwährende Aufstände in Babylonien in Anspruch genommen
und konnte daher keine neuen Feldzüge nach dem Westen
unternehmen. Zuletzt fiel er seiner antibabylonischen Politik zum
Opfer; er wurde von seinen beiden Söhnen ermordet, die sich mit
der babylonischen Partei verschworen hatten. Sein Nachfolger Asar-
haddon (680—668) neigte einer anderen Politik zu: er ließ Ba-
bylonien in Frieden und wandte sich nach Westen, gegen Ägypten
und die dieses unterstützenden palästinischen Verbündeten. Während
einer ganzen Reihe von Jahren marschierten die zahllosen Heer-
haufen Asarhaddons zur ägyptischen Grenze. Dieser endlose
Kriegerstrom, der durch Palästina zog, riß die einheimischen
Fürsten mit sich. Die Könige Phöniziens, Philistäas, Trans-
jordaniens und Judas mußten dem durch ihre Länder ziehenden
Weltgebieter Tribut darbringen und ihm vielleicht auch Hilfs-
truppen zur Verfügung stellen. Unter den Asarhaddon gehorsamen
Fürsten Palästinas (den Fürsten von Tyrus, Gaza, Askalon, Moab,
Ammon, Edom u. a.) wird in den assyrischen Inschriften für das
Jahr 6^3 auch der Name: Manasse, König von Juda (Menasie sar
279
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
Jaudi), erwähnt. Nach einem langwierigen Kriege gelang es Asar-
haddon schließlich, den äthiopischen König Tirhaka aus Ägypten
zu vertreiben und für eine Zeitlang einen großen Teil des Landes
unter die assyrische Oberherrschaft zu bringen. Diese Waffen-
erfolge Assyriens mußten das gelockerte Vasallenverhältnis Judas
zu Assyrien von neuem fester knüpfen. Die Gegner der assyrischen
Oberherrschaft konnten sich nun nicht länger auf Ägypten stützen
und waren gezwungen, sich vor der Macht der Weltmonarchie zu
beugen, deren Herrschaft sich nunmehr von den Ufern des Tigris
bis zu den Ufern des Nil erstreckte. So wurde Juda noch unwider-
stehliche!* in die Einflußsphäre Assyriens einbezogen.
Dieser Einfluß machte sich nicht nur politisch, sondern auch
kulturell geltend. Der König Manasse und die Würdenträger Jeru-
salems fanden großes Gefallen an der assyrischen Kultur, was
auch den religiösen Kultus unmittelbar beeinflußte. Der Triumph
der heidnischen Gewalt schmälerte in den Augen vieler Judäer die
Allmacht Jahves. Die religiöse Reform Hiskias, die auf die Läu-
terung des Jahvekultes und auf seine Zentralisierung im Jerusalemer
Tempel ausgegangen war, hatte von jeher die Unzufriedenheit eines
gewissen Teiles der Bevölkerung in der Provinz (des Am-ha’arez)
erweckt, der der weiten Entfernung wegen der Möglichkeit be-
raubt war, an den großen Jahresfeiertagen dem Gottesdienst in
Jerusalem beizuwohnen. In diesen Volkskreisen sah man in der
von Hiskia durchgeführten Reinigung des Kultes, nämlich der Ab-
schaffung der „Anhöhen“ und der lokalen Altäre, einen Anschlag
auf die altehrwürdige Volksreligion, eine Hintansetzung der Inter-
essen der Provinz zugunsten der Hauptstadt. Nun begann der König
Manasse damit, daß er von neuem gestattete, überall Altäre auf
Anhöhen zu errichten und daselbst Opfer darzubringen. Die alt-
kanaanitischen und assyrischen Kultformen wurden den nationalen
gleichgestellt. In Jerusalem selbst herrschte ein noch nie da-
gewesenes Gemisch von Kulten. Man errichtete hier sowohl Opfer-
stätten zu Ehren des Baal und Standbilder der Aschera als auch
Altäre auf den Dächern der Häuser zur Verehrung der Himmels-
gestirne, der „Heere“ des Himmels. Heidnische Götzenbilder und
Opferaltäre wurden sogar mitten auf den an den Jahvetempel an-
grenzenden Plätzen auf gestellt. Einige dieser Kulte waren auch
mit Unzucht und rohem Aberglauben verbunden. Unzüchtige
280
§ 56, Die Gegenreform des Königs Manasse
Priesterinnen der Astarte („Kedeschoth“) sowie Zauberer, Hexen-
meister und Geisterbeschwörer (Nekromanten) nisteten sich im
Lande ein. Eine schwüle, unheilschwangere Atmosphäre breitete
sich über diesem heidnischen Bacchanal aus. Das Volk, das den
Kampf für seine Unabhängigkeit aufgegeben hatte, büßte zugleich
seine höchsten Lebensimpulse ein und fiel der Demoralisation an-
heim. Von den höheren Volksschichten griff die Verderbtheit der
Sitten auch auf die unteren Schichten über.
Die Prophetenpartei versuchte diese Gegenreform zu bekämpfen,
jedoch ohne Erfolg. Jeder Protest gegen diese schädlichen Neue-
rungen galt als Verbrechen wider die Staatsordnung und wurde
von dem König und von der entarteten Aristokratie aufs grausamste
unterdrückt. Der große Prophet Jesaja war zu jener Zeit nicht
mehr am Leben. Die spätere talmudische Überlieferung berichtet,
Jesaja hätte sich in der Höhlung eines Zederbaumes vor den Ver-
folgungen verborgen gehalten, wo er jedoch von dem König Manasse
gefunden worden sei, der den Baum mitsamt dem Propheten durch-
sägen ließ. Diese Legende ist ein Widerhall der Erzählungen von
dem Märtyrertum, das die Eiferer für die nationale Religion in jener
Zeitperiode erleiden mußten. Die Jünger Jesajas setzten sein Werk
hingebungsvoll fort, indem sie den König und die Würdenträger
wegen ihrer Verbrechen bloßstellten und sie mit dem Zorne Gottes
bedrohten. Solche Prediger wurden zu Märtyrern ihrer Idee: man
erschlug sie, als wären sie gemeine Hetzer und Unruhestifter. Und
in der Tat, einer reaktionären Regierung mußten die revolutionären
Reden der Propheten in der Art der hier folgenden äußerst ge-
fährlich erscheinen: „Weil Manasse, König von Juda, diese Greuel
getan und auch Juda durch seine Götzen zur Sünde verführt hat,
will ich, Jahve, Unglück über Jerusalem und Juda bringen, daß
jedem, der davon hört, beide Ohren gellen sollen. Und ich will
über Jerusalem die Meßschnur Samarias ziehen und die Setz wage
des Hauses Ahabs anlegen und will Jerusalem auswischen, wie man
eine Schüssel auswischt und nach dem Wischen umstürzt. So will
ich den Rest meines Erbes verstoßen und sie in die Hand ihrer*
Feinde geben . . .“ (II. Kön. 21, 11—15). Derselben Zeitperiode
mag wohl auch die drohende, gegen die Vornehmen Jerusalems
gerichtete Strafrede des Propheten Micha angehören: „Hört ihr
dieses, ihr Häupter des Hauses Jakob, und ihr Gebieter des Hauses
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
Israel, die ihr das Recht verabscheut und alles Gerade krumm
macht, die ihr Zion baut mit Blutvergießen und Jerusalem mit
Frevel! Ihre Häupter sprechen Recht für Geschenke und seine
Priester erteilen Weisung für Lohn und seine Propheten (die
falschen Propheten) wahrsagen für Geld. Und verlaßt euch dabei
noch auf Jahve, indem ihr sagt: Wir haben doch Jahve in unserer
Mitte, uns kann kein Unglück treffen! Darum soll Zion euretwegen
zum Feld gepflügt und Jerusalem ein Trümmerhaufen werden und
der Tempelberg eine Waldhöhe*).“ Solche mutige Züchtigungen
und Drohungen gaben den Feinden der Propheten die Möglichkeit,
die prophetischen Reden als einen Aufruf zum Sturze der bestechen-
den Staatsordnung auszulegen und sie dementsprechend als Staats-
verbrechen ahnden zu lassen.
In der späteren „Chronik“ wird berichtet, der König Manasse
sei eines Tages von den Heerführern des assyrischen Königs
gefangengenommen und gefesselt nach Babylon gebracht worden.
Nach seiner Heimkehr hätte der abtrünnige König Buße getan,
viele heidnische Altäre in Jerusalem zerstört und von neuem
die Befestigung seiner Hauptstadt in Angriff genommen. Dieser
Bericht, der dem Berichte des älteren biblischen Chronisten wider-
spricht* 2), mag vielleicht in seinem politischen Teil ein fernes Echo
jener Feldzüge sein, die der König Asarhaddon und sein kriege-
rischer Nachfolger Assurbanipal (668—626) in die Grenzgebiete
Syriens und Palästinas unternahmen3). Es mag sein, daß während
eines dieser Feldzüge der assyrische König seinem judäischen Va-
sallen für irgendeine Fahrlässigkeit eine Strafe auf er legte. Wie
dem auch sein mochte, jedenfalls konnte dieser Vorfall Manasse
nicht zur „Buße“ im nationalen Sinne bewegen.
3) Der letzte Vers (Micha 3, 12) wird später von Jeremia (26, 18) als ein
Satz angeführt, der von Micha in den Tagen Hiskias gesprochen wurde; indessen
ist es möglich, daß hiermit das Zeitalter Hiskias gemeint ist, zu dem auch die
Zeit der Minderjährigkeit Manasses, in der die Höflinge das Zepter führten, ge-
rechnet wurde.
2) Vgl. II. Chron. Kap. 33 und II. Kön. Kap. 21.
3) In der obenerwähnten assyrischen Inschrift, die von der Unterjochung der
palästinischen Fürsten durch Asarhaddon berichtet, ist auch von einem Heran-
ziehen der Gefangenen zu Zwangsarbeiten die Rede; allein infolge der Text-
verstümmelungen bleibt es unklar, ob zu den Gefangenen auch die dort er-
wähnten Fürsten und namentlich ,»Manasse, der König von Juda“ gehörten. Vgl.
Keil. Text., S. 5i—52 (Inschrift auf dem Prisma B).
282
§ 57. Die Regierung Josias und der Triumph der Prophetenpartei
Die unter Manasse eingetretene Reaktion war um so gefährlicher,
als dieser König sehr lange, fast ein halbes Jahrhundert, regierte.
Und auch nach dem Tode Manasses (64o) konnte die nationale
Partei keine Hoffnung auf einen Umschwung zum Besseren hegen,
da der neue Thronerbe Amon in allen Stücken der Politik seines
Vaters folgte. Eine unerwartete Palastumwälzung beschleunigte je-
doch den Sturz des für das Land so schädlichen Regimes. In
Jerusalem bildete sich eine Verschwörung, der sich auch einige
der königlichen Diener anschlossen; die Verschwörer ermordeten
den König in seinem Palast schon im zweiten Jahre seiner Re-
gierung. Das Volk in der Provinz (Am-ha’arez) war über den Mord
empört, und es gelang ihm, die Hinrichtung der Verschwörer zu
erwirken. Zum König von Juda wurde der achtjährige Sohn Amons,
Josia oder Joschijahu (638—608) ausgerufen.
§ 57. Die Regierung Josias und der Triumph der Prophetenpartei
Um die Mitte des VII. Jahrhunderts vor der christlichen Ära
spielten sich in Vorderasien Ereignisse ab, die der Macht der assy-
rischen Monarchie einen harten Schlag versetzten. Das unter der
Herrschaft des Königs Psammetich I. vereinigte Ägypten streifte
das Joch Assyriens ab und belästigte seinen Erzfeind durch häufige
Einfälle in die palästinisch-syrischen Grenzgebiete. Auch die Meder
waren bestrebt, sich von Assyrien loszulösen und ein selbständiges
Reich auf dem Iran zu gründen. Überdies begann in Vorderasien
eine große Völkerwanderung. Nach Assyrien zogen aus den fernen
Steppen Südosteuropas, über den Kaukasus und Armenien hin, un-
zählige Horden halbwilder Völkerschaften, unter denen die Skythen
am zahlreichsten waren (65o—620). Wie Heuschreckenscharen
stürzten sich diese zahllosen Haufen wilder Reiter auf die Länder
Vorderasiens, töteten die Einwohner oder führten sie in die Ge-
fangenschaft, verheerten die auf ihrem Wege gelegenen Städte und
Ansiedlungen, raubten das Vieh und verwüsteten die Felder. Durch
diesen Einfall der Barbaren erlitt Assyrien großen Schaden. Von
Mesopotamien rückten die Skythen, die Grenzen Phöniziens und
Judas streifend, gegen Ägypten vor. Der König Psammetich kaufte
sich durch reichen Tribut los und bewahrte so sein Land vor der
Verwüstung; einige Grenzgebiete Judas aber sowie philistäische
283
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
Landschaften wurden anscheinend beim Durchzug der barbarischen
Horden stark in Mitleidenschaft gezogen (die Stadt Askalon und
noch andere, dem Bericht Herodots zufolge).
Dem Skytheneinfall, der zu jener Zeit alle Völker des Orients in
Schrecken versetzte, galten, wie man vermutet, die Prophezeiungen
des Jerusalemer Propheten Zephanja, eines Zeitgenossen Josias.
Zephanja erblickte in dieser Völkerwanderung die Anzeichen einer
unmittelbar bevorstehenden Weltumwälzung: „Nahe ist der große
Tag Jahves, — so sprach er — nahe ist er, und eilt gar sehr. . . .
Ein Tag des Grimms ist jener Tag, ein Tag der Angst und Drangsal,
ein Tag der Wüste und Verwüstung, ein Tag der Finsternis und
Dunkelheit, ein Tag der Trompete und des Hornblasens — wider
die befestigten Städte und wider die hohen Zinnen.“ Nach den
Siegen der Ägypter und Meder konnte der Prophet den Untergang
des allmächtigen Assyrien leicht voraussehen und er prophezeite nun
dessen stolzer Hauptstadt Ninive also: „Das ist die fröhliche Stadt,
die so sicher thronte, die in ihrem Sinne dachte: Ich bin’s und
niemand sonst! Wie ist sie doch ein Gegenstand des Entsetzens
geworden, eine Lagerstätte für das Wild! Wer irgend an ihr vor-
überzieht, zischt und schüttelt höhnisch seine Hand.“ Jedoch auch
seinem eigenen, durch die Reaktion unter Manasse demoralisierten
Volk prophezeit Zephanja eine harte Strafe: am „Tage seines
Zornes“ werde Jahve „den Namen Baals und der Götzenpriester
von dieser Stätte (Jerusalem) hinwegtilgen samt denen, die sich
auf den Dächern vor dem Heere des Himmels niederwerfen“ und
sich von Jahve abwenden; er werde den „Oberen und den könig-
lichen Prinzenx) sowie allen denen, die sich in ausländische Ge-
wänder kleiden und über die Schwelle (des heidnischen Tempels)
hüpfen“, nach ihrem Verdienst vergelten; er werde „Jerusalem mit
der Leuchte durchforschen und heimsuchen die, die da steif ge-
worden sind auf ihren Höfen, die da bei sich denken: ,Jahve ver-
mag weder Glück zu geben noch zu schaden4 . . .“ Diese Prophe-
zeiungen gingen zum Teil in Erfüllung, jedoch in anderer Weise:
es war der „königliche Prinz“ selbst, der junge Josia, der die
1) Die Erwähnung der ,»Oberen“ und der ,»königlichen Prinzen“ (Zephanja
i, 8) legt die Vermutung nahe, daß Zephanja in jenen Jahren wirkte, als im
Namen des minderjährigen ,,königlichen Prinzen“ Josia die Obersten das Land
regierten (538—02 8).
284
§ 57. Die Regierung Josias und der Triumph der Prophetenpartei
Säuberung Jerusalems von den heidnischen Überresten auf sich
nahm.
Jede Katastrophe, die die Schwäche und Unbeständigkeit der
mächtigsten Staaten an den Tag brachte, veranlaßte den Menschen
des Altertums zu einer religiös-moralischen Ausdeutung der poli-
tischen Ereignisse. Die Herrschaft der rohen Militärgewalt, als
deren Verkörperung die assyrische Monarchie erschien, mußte not-
wendigerweise viel von ihrem bannenden Zauber einbüßen, als die
Macht dieser Monarchie zur Neige ging. Es drängte sich der Ge-
danke auf, daß es eine höhere und beständigere Macht geben müsse
als die Macht der Waffen: die Macht des Geistes. Die falschen
Götter Assyriens sowie die heidnische Kultur überhaupt büßten ihren
früheren blendenden Glanz ein, und im judäischen Volke erwachte
die Sehnsucht nach einer reinen, von fremden Kulten und un-
lauteren Sitten nicht entweihten, nationalen Religion. Mit dem
Schwinden der assyrischen Herrschaft wurde auch die Einwirkung
der fremden Kultur auf die oberen Klassen des judäischen Volkes
geringer, und die Stimmung für die Erhaltung der nationalen
Eigenart im inneren Leben des Volkes wuchs immer mehr. Diese
Stimmung wurde im Volke von den neuen Propheten, die unter
Josia aufgetreten waren, hochgehalten. An der Spitze der neuen
Prophetenschule stand ein Mann, dessen Name mit allen bedeutungs-
vollen Ereignissen der letzten Geschichtsperiode des judäischen
Reiches eng verbunden ist. Es war dies Jeremia, der Sohn des
Priesters Hilkia aus der kleinen Stadt Anatot bei Jerusalem. Jeremia
trat im dreizehnten Regierungsjahre Josias (626) zum erstenmal
als Prophet in Jerusalem auf. Er war zu jener Zeit noch sehr
jung und ging nur schüchtern an die Erfüllung der Aufgabe, zu
der er sich von Gott berufen fühlte. Der Prophetenberuf erschien
ihm als der höchste geistige Dienst, nicht nur an seiner eigenen
Nation, sondern auch an der ganzen Welt. Der Prophet ist ein
Richter im Geiste, ein Gewissensrichter für die Staaten und Völker,
der nach den unwandelbaren Gesetzen der göttlichen Gerechtigkeit
über sie richtet. Jeremia schien es, als höre er die Stimme Jahves:
„Schau, ich beauftrage dich heute wider die Völker und wider die
Reiche, auszurotten und zu zerstören und zu verderben und nieder-
zureißen und zu bauen und zu pflanzen I“, d. h. den Untergang
oder die Wiedergeburt der Völker ihrem Verhalten gemäß zu be-
285
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
stimmen. Gott sendet den Propheten in den Kampf wider die
menschliche Ungerechtigkeit und rüstet ihn dazu mit der unbeug-
samen Macht des Geistes aus: „Rede zu ihnen (den Judäern) alles,
was ich dir auf tragen werde: erschrick nicht vor ihnen. Ich mache
dich heute zu einer festen Burg und einer eisernen Säule und einer
ehernen Mauer gegenüber dem ganzen Lande, den Königen Judas,
seinen obersten Beamten, seinen Priestern und der Bevölkerung des
Landes; bekämpfen sie dich, so werden sie dich nicht überwältigen.“
Jeremia, der in der Übergangszeit von der antinationalen Reaktion
Manasses zur neuen Reform Josias hervortrat, konnte seine Wirk-
samkeit nicht anders als mit Strafreden beginnen. Auf die unheil-
verheißenden Zeichen der Zeit, auf die Skythenflut und auf die
gesamte Umstellung der politischen Mächte in Asien hinweisend,
rief er das Volk zu innerem, geistigem Zusammenschluß auf:
„Einen siedenden Topf sehe ich — so sprach er — und seine
Öffnung droht vom Norden her. . . . Vom Norden her wird das
Unheil sich ergießen über alle Bewohner des Landes. . . . Ich lasse
über euch kommen ein Volk von fernher — so spricht Jahve —
ein unverwüstliches Volk ist es, ein uraltes Volk, ein Volk, dessen
Sprache du nicht kennst und von dem du nicht verstehst, was es
redet. Es wird deine Ernte und dein Brotkorn verzehren, deine Söhne
und deine Töchter wird es verzehren, es wird zerstören deine festen
Städte, auf die du dich verlässest. . . . Wenn sie aber alsdann sagen:
Wofür hat Jahve, unser Gott, uns alles das angetan? so sollst du
zu ihnen sagen: So wie ihr mich verlassen habt und fremden
Göttern in eurem Lande gedient habt, also sollt ihr der Fremden
Sklaven sein in einem Lande, das euch nicht gehört“ (Jeremia i,
io—19; 5, i5—19). „Hört das Wort Jahves, ihr vom Hause
Jakobs und all ihr Geschlechter des Hauses Israel! So spricht
Jahve: Was fanden eure Väter Unrechtes an mir, daß sie sich
entfernten von mir, daß sie den nichtigen Götzen nachgingen und
so der Nichtigkeit verfielen und nicht sagten: Wo ist Jahve, der
uns hergeführt aus dem Lande Ägypten, der uns durch die Wüste
geleitet und uns brachte in ein fruchtbares Land, zu genießen seine
Früchte und seine Güter? Ihr aber zöget hin und verunreinigtet
mein Land und machtet mein Besitztum zum Greuel. Die Priester
sprachen nicht: Wo ist Jahve? Und die Hüter des Gesetzes küm-
merten sich nicht um mich, und die Priester wurden abtrünnig von
286
§ 58. Die Restaurierung des Gesetzes
mir, und die Propheten weissagten im Namen des Baal“ (2, 4f.). Zu
solchen Reden ohne jede Nachsicht ließ sich Jeremia zu jener Zeit
hinreißen, als es galt, gegen die fremdländischen, unter Manasse
heimisch gewordenen Sitten anzukämpfen und das Volk an sein
geschichtliches geistiges Erbe zu erinnern.
Unter der Wirkung der neuen allgemein-politischen Konstellation
und der eindrucksvollen, der neuen Lage vollauf entsprechenden
Reden der Propheten bildete sich in Jerusalem eine zur Wiederher-
stellung des nationalen Regimes drängende Partei. Diese Partei hatte
anscheinend ihre Anhänger auch unter denjenigen Würdenträgern,
die während der Minderjährigkeit Josias das Land regierten. Der
junge König wuchs unter dem Einfluß der neuen Reformgedanken
auf. Zu reiferem Alter gelangt, bereitete er sich vor, Reformen im
Geiste seines Urgroßvaters Hiskia durchzuführen. Nun fügte es
sich, daß für die in Angriff genommene Reform sich eine fertige
schriftliche Anleitung, eine abgeschlossene Verfassung vorfand. Die
Wiederherstellung des Gesetzes wurde durch ein Buch in die Wege
geleitet.
§ 58. Die Restaurierung des Gesetzes (Deuteronomium)
Im achtzehnten Jahre seiner Regierung (621) gab Josia den
Befehl, alle im Tempel in Jerusalem gesammelten Spenden für
die Reparatur der baufällig gewordenen Teile des Tempels zu ver-
wenden. Die Ausführung des königlichen Befehls übernahmen der
Sekretär oder „Schreiber“ (Sofer) des Königs Safan, der ein Ge-
folgsmann der Propheten war, sowie der Oberpriester Hilkia. Als
man den Umbau begann, fand man in einem der Tempelräume ein
Satzungen und Belehrungen enthaltendes heiliges Schriftwerk. Zu
jener Zeit war es allgemein üblich, Abschriften der religiösen
Bücher in den Haupttempeln unter der Obhut der Priester und
Gelehrten zu verwahren. Den jahrhundertelang in den Tempel-
archiven auf bewahrten Büchern war es nicht immer beschieden,
unverändert zu bleiben: gar oft wurden sie durch allerhand Er-
läuterungen und Belehrungen ergänzt, zu denen jede neu veranstaltete
Abschrift die günstigste Gelegenheit bot. Eine in dieser Weise um-
gearbeitete, mit Belehrungen und Erläuterungen im Geiste der
neuen Propheten versehene Abschrift war nun auch das bei der
287
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
Tempelreparatur in einem der Räume auf gefundene Werk. Es ist
wohl möglich, daß dieses Buch zur Zeit der maßlosen Reaktion
unter Manasse dort verborgen gehalten wurde und daß in derselben
schweren Zeit die Propheten und ihre Gesinnungsgenossen aus der
Priesterschaft in der Weltentrücktheit der Tempelräume ihre neuen
Erläuterungen dem alten Schriftwerk beigefügt hatten; als nun unter
Josia der Geist der Reform das Land erfüllte, erschien es den Priestern
und den Propheten möglich, ja notwendig, das kostbare Werk aus dem
Archiv hervorzuholen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Dabei ging man mit großer Behutsamkeit vor. Der Oberpriester
Hilkia übergab das „Buch der Gesetzeslehre“ (Sefer ha’thora) ins-
geheim dem königlichen Schriftführer Safan, und dieser legte es
in die Hände des Königs und las es ihm dann vor. Der Inhalt des
Buches machte auf den König einen überwältigenden Eindruck.
Seiner Form und seinem ganzen Tone nach unterschied sich
das aufgefundene Buch von jenen heiligen Büchern, die den
im Schrifttum bewanderten Judäern bisher bekannt waren. Das
Buch enthielt den Kern eines religiösen Kodex, in dem zum Teil
die Gesetzes Vorschriften der früheren Bücher der „Thora“ (z. B. des
„Bundesbuches“) wiederholt, zum Teil neue Normen des sozialen
und geistigen Lebens formuliert waren; dieser Kern war aber von
einer Hülle von Belehrungen und Anleitungen umgeben, in denen
die Motive der Gesetze sowie ihre sittliche und nationale Bedeutung
zum Ausdruck kamen. Alles dies war in einen historischen Rahmen
hineingestellt und mit dem Urheber der israelitischen Gesetzgebung,
dem großen Meister Moses, in Zusammenhang gebracht. Das auf-
gefundene Buch war in Form einer Sammlung von Reden verfaßt,
die Moses vor seinem Hinscheiden im transjordanischen Lande dem
Volke gehalten haben soll. Es war dies gleichsam das Abschieds-
vermächtnis Moses'. Der große Meister ermahnt die Israeliten, ihr
Leben in dem Gelobten Lande den Gesetzen Jahves gemäß zu ge-
stalten und die Sitten der sie umgebenden Völker nicht nachzu-
ahmen; die Befolgung der Gesetze und Gebote Gottes werde dem
Volke Frieden und Wohlstand sichern; ihre Übertretung dagegen
werde den „Zorn Jahves“ auf Israel herabbeschwören und den
israelitischen Staat dem Zerfall preisgeben. Dabei ist die Darstellung
der Folgen der Gesetz- und Gottlosigkeit offensichtlich von dem
durch den Fall Samariens hervorgerufenen Eindruck beeinflußt;
288
§ 58. Die Restaurierung des Gesetzes
das Land, heißt es da, werde von einem räuberischen Volke erobert
werden, das „wie ein Adler daherschwebt“, die Einwohner werden
in die Gefangenschaft abgeführt und „unter alle Völker zerstreut
werden“, und von der Nation, die vorher „den Sternen des Himmels
an Menge gleichkam, werden nur wenige übrigbleiben1)“. Zweierlei
sei vor allem zur Erhaltung des Volkes unerläßlich: die Fern-
haltung aller heidnischen Kultformen und fremden Sitten und
die Zentralisierung des nationalen Kultes „an der Stätte, welche
Jahve erwählte, um seinen Namen dorthin zu legen“. Man solle
„alle Stätten zerstören, woselbst die anderen Völker ihre Götter
verehrt haben, auf den hohen Bergen, auf den Hügeln und unter
jedem grünen Baume“, man solle „die Altäre Umstürzen, ihre
Äscheren verbrennen, die Bilder ihrer Götter zertrümmern“. Das
Pilgern zu der „von Gott erwählten Stätte“ an den großen Jahres-
feiertagen, dem Passahfest, dem Schabuoth- und Sukothfest1 2), wird
dem Volke zur besonderen Pflicht gemacht. Die Bekämpfung der
lokalen Kulte zum Zweck der Zentralisierung des Gottesdienstes,
und zwar an einer „erwählten Stätte“, kommt in vielen Kapiteln
des Buches deutlich zum Ausdruck. Die Bestrebungen der judäi-
schen Propheten und ihrer Gesinnungsgenossen unter den Priestern
werden in dieser Sammlung von rituellen Vorschriften und ganz
besonders in den Ergänzungen zu den alten Vorschriften dieser Art
sichtbar.
Der ethische Geist des Prophetismus tritt in den Teilen des
Buches besonders klar zutage, welche Gesetze enthalten, die die
soziale Ordnung betreffen. Es gibt keinen anderen Kodex des Alter-
tums, in dem das Prinzip der sozialen Gleichheit in so kühner Weise
in praktische Gesetzesvorschriften umgesetzt worden wäre; nie nahm
das höchste sittliche Ideal der menschlichen Gemeinschaft so reale
1) Deutr. Kap. 28—29. Manche Stellen überraschen durch die Ähnlichkeit
der „Ermahnungen Moses'“ mit den Reden Jeremias, sogar was den Stil und die
bildliche Ausdrucksweise betrifft. Man vergleiche z. B. mit der obenangeführten
Stelle aus Jeremia 5, i5 (S 57) die folgenden Sätze aus Deutr. 28, 49: „Jahve
wird gegen dich ein Volk von ferne, vom Ende der Erde her, ein Volk auf-
bieten . . . dessen Sprache du nicht kennst ... Es belagert dich in allen deinen
Wohnorten, bis deine hohen und festen Mauern fallen, auf die du dein Ver-
trauen setzest“ usw. Die neue Quelle, die prophetische Auslegung der Gesetze,
fällt hier in die Augen.
2) Deutr. Kap. 12; vgl. Kap. i3 u. 16, 2—7; i4, 24—25.
19 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
289
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
Formen an. Die Grundlage des Gemeinwesens soll das Wohl aller
ohne Ausnahme sein, daher muß der Starke für den Schwachen, der
Wohlhabende für den Unbemittelten sorgen; nicht nur jede Art
von wirtschaftlicher Bedrückung (Wucherzinsen, unbefristete Nutz-
nießung der Sklavenarbeit, Kürzung des Tagelohnes) ist strengstens
verpönt, sondern es besteht auch die Verpflichtung, die unausbleib-
lichen Folgen der wirtschaftlichen Ungleichheit in jeder Weise zu
mildern. Diese Verpflichtung ist in besonderen Gesetzen formuliert,
die den Grundbesitzern vorschreiben, einen Teil der alljährlichen
Ernte oder Lese den Armen zu spenden, alle sieben Jahre die
Schulden zu erlassen und den „armen Volksgenossen“ überhaupt
nach Möglichkeit zu unterstützen. Es ist dies keine Organisierung
einer freiwilligen Wohltätigkeit, sondern eine staatliche Regelung
der Besitz Verhältnisse zur Milderung der Vermögensungleichheit.
Sehr charakteristisch ist die Begründung der Gesetze: „Denn nie-
mals wird es im Lande an Armen fehlen; darum gebiete ich dir
also: tue gern für deinen dürftigen und armen Volksgenossen in
deinem Lande deine Hand auf.“ „Wenn du deinen Sklaven im
siebenten Jahre frei von dir ausgehen läßt, so sollst du ihn nicht
leer ziehen lassen, vielmehr sollst du ihm von deinen Schafen, von
deiner Tenne und aus deiner Kelter eine gehörige Last mitgeben
und sollst daran denken, daß auch du Sklave warst in Ägypten,
und Jahve, dein Gott, dich freigemacht hat.“ Die Richter und
Obersten müssen nach den Gesetzen der Gerechtigkeit, ohne An-
sehen der Person, Recht sprechen und in jeder Weise unbestechlich
sein: „Der Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit sollst du nachjagen!“
„Du sollst einen Sklaven, der sich vor seinem Herrn zu dir ge-
flüchtet hat, seinem Herrn nicht ausliefern.“ Das Verbot, den
Tagelohn eines Arbeiters zu kürzen oder zurückzuhalten, wird fol-
genderweise motiviert: „Je am gleichen Tage sollst du ihm seinen
Lohn auszahlen, ehe noch die Sonne über ihm untergeht, denn er
ist arm und verlangt sehnsüchtig danach.“ Besonders besorgt sind
die Ausleger der Gesetze um das Wohl der „Waisen, Witwen und
Fremdlinge“. Die obenerwähnten landwirtschaftlichen Benefizien
sind vorzüglich zugunsten dieser Klasse der Unbemittelten und
Schutzbedürftigen festgesetzt1).
*) Deutr. Kap. i5, 16, 23 (16—2i), 24 (10—22) u. a.
290
§ 58. Die Restaurierung des Gesetzes
In engstem Zusammenhang mit diesen hohen sittlichen Prin-
zipien des Gemeinschaftslebens tritt auch die nationale Idee des
Prophetismus in den Vordergrund: Die Berufung des Volkes Israel,
die Verkörperung der „Heiligkeit“, d. i. der geistigen Vollkommen-
heit, zu werden. Daraus ergibt sich zugleich die Idee der Aus-
erwähltheit des israelitischen Volkes: „Denn ein Jahve, deinem
Gotte, ein geheiligtes Volk bist du; dich hat Jahve aus allen
Völkern auf dem Erdboden zum Eigentumsvolk für sich erwählt.
Nicht weil ihr an Zahl alle Völker übertroffen hättet, hat Jahve
sich euch zugeneigt und euch erwählt — denn ihr seid das kleinste
von allen Völkern —, sondern weil Jahve Liebe zu euch hat*) . .
Die ganze frühe Jugend des erwählten Volkes sei ein Beweis dafür;
und der Darstellung der geistigen Züge in der Urgeschichte Israels
sind die ergreifendsten Abschnitte des Buches gewidmet1 2). Das
persönliche ethische Element ist hier mit dem nationalen aufs
innigste verflochten; die Vervollkommnung des Einzelnen soll dem
Ganzen, der Nation, dem unsterblichen Gemeinwesen zugute kommen.
Der Weg der Sittlichkeit ist der Weg des Lebens für Volk und
Staat: „Wie du siehst, habe ich dir heute Leben und Glück, Tod
und Unglück vor Augen gestellt.“ Das System der die Lebensfähig-
keit der Nation sichernden Verhaltungsweisen ist keine Utopie: es
findet seine Begründung in den Geboten des Gewissens, im mora-
lischen Imperativ, der in der Seele des Menschen verborgen liegt.
„Das Gebot, das ich dir gebe — so spricht der Meister zu dem
Volke — übersteigt deine Kräfte nicht und ist für dich nicht un-
erreichbar. Nicht im Himmel ist es, daß du sagen könntest: Wer
steigt uns in den Himmel, um es herabzuholen und es uns zu ver-
kündigen, damit wir danach tun? Auch ist es nicht jenseits des
Meeres, daß du sagen könntest: Wer fährt uns über das Meer und
holt es uns herbei und verkündigt es uns, daß wir danach tun?
Sondern überaus nahe liegt dir das Wort, in deinem Munde und
in deinem Herzen ist es, so daß du danach tun kannst3)!“ Das
Zuwiderhandeln gegen diese Gesetze dagegen zieht den Zerfall der
Nation und des Staates als eine natürliche Folge nach sich. Und
1) Deutr. 7, 6—8. Über das Ideal des „heiligen Volkes“ vgl. noch 26, 19;
28, 9 u. a.
2) Deutr. Kap. 1—11.
3) Deutr. 3o. 11—20.
19*
291
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
dies veranlaßt den Ausleger des Gesetzes von neuem, in der ver-
hüllenden Form einer „Weissagung“, von jener Zerstreuung zu
sprechen, der bereits ein Teil des Volkes* zur Strafe für die Über-
tretung der göttlichen Gebote anheimgefallen ist. Er deutet klar
an, daß für die Verbannten des nördlichen Reiches eine Möglich-
keit der Wiederkehr bestehe, wenn sich das Volk von ganzem Herzen
Gott zuwende: „Jahve wird dich wiederum sammeln aus allen den
Völkern, unter die dich Jahve verstreut hat; wenn sich Versprengte,
die zu dir gehören, am Ende des Himmels befinden sollten, wird
dich Jahve, dein Gott, auch von dort holen1).“ Diese Andeutungen
waren so klar, die Übereinstimmung der „alten“ Prophezeiung mit
dem erst vor kurzem Geschehenen so überraschend, daß das im
Tempel aufgefundene Buch den gewaltigsten Eindruck hervorrufen
mußte.
Und in der Tat hatte die Vorlesung des aus dem Tempel ge-
brachten Schriftwerkes Josia in tiefste Erregung versetzt. Nun sah
er mit voller Klarheit, wie weit das judäische Volk von dem Ver-
mächtnis Moses', den Geboten der alten Religion, abgewichen war.
Er war ergriffen davon, daß der alte Meister im Namen Jahves
alles vorausgesagt hatte, was nun die neuen Propheten verkündeten.
Im Falle des israelitischen Reiches und im allmählichen Niedergang
Judas erblickte der König die Erfüllung jener furchtbaren Dro-
hungen und Flüche, die in der verlesenen alten Urkunde aufgezählt
waren, und er befürchtete nun, daß bald auch alles andere Unheil,
das der große Glaubenslehrer den Widerspenstigen angekündigt
hatte, über Juda hereinbrechen würde. In seiner Seelenangst sandte
Josia Safan, Hilkia und noch andere aus seiner Umgebung zu der
Jerusalemer Prophetin Hulda, die als Wahrsagerin einen Ruf genoß.
Die Gesandten fragten die Seherin im Aufträge des Königs, ob das
Land in naher Zeit eine göttliche Heimsuchung für die Sünden
seiner Einwohner, die sich von den alten, durch den Mund Jahves
verkündeten Gesetzen losgesagt hatten, zu gewärtigen habe. Die
Seherin erwiderte, daß Gott es schon längst auf die Züchtigung
des abtrünnigen Volkes von Juda abgesehen und daß allein der
demütige Wandel des Königs Josia Gott dazu bewogen habe, die
über das Volk verhängte Strafe zu seinen Lebzeiten nicht in Er-
!) Deutr. 3o, 3—4.
292
§ 58. Die Restaurierung des Gesetzes
füllung gehen zu lassen. Durch ihre Worte offensichtlich beruhigt,
berief Josia die Volksältesten sowohl der Hauptstadt als auch der
Provinz in den Jerusalemer Tempel und verlas laut, auf einer Er-
höhung stehend, von den Priestern und den Propheten umringt, das
neu entdeckte Buch, und alle Anwesenden mußten sich verpflichten,
die in diesem Buche aufgezeichneten göttlichen Gebote streng zu
beobachten. Das Volk versprach es. Dann wandte sich der König
voll Eifer der Ausrottung der gemischten Kulte und der gesetz-
widrigen Jahve-Dienstformen zu. Altäre und Bildsäulen der heid-
nischen Gottheiten wurden zerstört; das Götzenbild der Aschera
wurde aus dem Tempel geworfen und außerhalb der Stadt, im
Kidrontal, verbrannt. Vernichtet wurde auch der Wagen des Sonnen-
gottes mitsamt den Rossen, die im Tempelhof aufgestellt waren.
Die Jahve-Altäre auf den Anhöhen in der Nähe Jerusalems und in
den Provinzstädten wurden abgeschafft und die in ihrem Dienste
stehenden Priester nach Jerusalem als Tempeldiener zweiten Ranges
oder „Leviten“ versetzt. Die Götzenpriester und -priesterinnen sowie
die Zauberer und Hexen wurden aus dem Lande vertrieben. Josia
rottete die fremdländischen Kulte in seinem Lande mit noch viel
größerem Eifer aus als sein Vorfahr Hiskia. Er drang sogar in das
Grenzgebiet des ehemaligen israelitischen Reiches ein und zerstörte
in der Stadt Betel den alten Tempel, in dem sich gemischte, halb-
israelitische, halb-assyrische Kultformen erhalten hatten. Auf Be-
fehl des Königs wurde von nun ab das Passahfest in Jerusalem,
unter großem Andrang der Stadtbewohner und der Pilger aus der
Provinz, in weihevoller Weise gefeiert, gemäß den Vorschriften
des neu auf gefundenen Kodex. Es war dies nicht mehr ein land-
wirtschaftliches Jahreszeitfest der „Ährenreife“, sondern eine histo-
rische Feier, die man zur Erinnerung an den Auszug der Israeliten
aus Ägypten und an die Geburt der freien Nation veranstaltete. Ein
in der ländlichen Lebensweise wurzelndes Volksfest verwandelte sich
in eine nationale, geschichtliche Feier, gemäß dem neuen Geiste der
Gesetze, der in dem eben auf gef un denen Buch seinen Ausdruck ge-
funden hatte.
Auch der Prophet Jeremia nahm zweifellos regen Anteil an der
Veröffentlichung des Buches, in welchem seine Gedanken zu so
beredtem Ausdruck gekommen waren. Dies ist aus dem n. Kapitel
des „Buches Jeremia“ zu ersehen, in dem der Prophet „die aus
Ui. ; ■«*- .... . _ ... 293
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
Juda und die Einwohner Jerusalems“ auffordert, auf „die Worte
dieses Bundes“ (dibre ha’brith), d. i. auf die neu veröffentlichte
göttliche Verfassung, zu hören und danach zu handeln. Gott sagt
zu dem Propheten: „Sage zu den Leuten von Juda und zu den Be-
wohnern von Jerusalem und sprich zu ihnen: Gehorcht meinem
Befehl und tut gemäß dem, was ich euch befehlen werde. . . .
Verflucht ist der Mann, der auf die Worte dieses Bundes nicht
hört!“ Das will sagen, daß Jeremia selbst einer von denen war,
die die neue Verkündigung Moses’ in den Städten Judas und in
den Straßen Jerusalems dem Volke öffentlich vorlasen und es auf
die neue Verfassung gleichsam vereidigten.
So vollzog sich die Erneuerung der religiösen Gesetzgebung im
nationalen Geiste in der Form einer Restaurierung des alten Ge-
setzes. Dies war die erste Reform, die kraft der Autorität eines
heiligen Buches durchgeführt wurde, eines Buches, in dem das
Gesetz mit Belehrung im prophetischen Sinne vereint war. Unter
Josia veröffentlicht, wurde es später in den Bestand der „Thora“
mit abermaligen Ergänzungen auf genommen. Ihm wurde der Name
Deuteronomium („Mischne-Thora“, zweites Gesetz) beigelegt, da in
ihm viele, in den anderen Teilen nur dogmatisch formulierte Ge-
bote und Satzungen in begründeter, motivierter Form wiederkehren.
Bis dahin ein Geheimnis der Priester und Schriftgelehrten, wird
nunmehr ein Teil des religiösen Schrifttums, der im hinreißenden
Stil der Propheten verfaßt ist, aus dem verborgenen Tempelverließ
hervorgeholt und dem gesamten Volk bekanntgegeben. Die Ideale
der Propheten nahmen die konkrete Gestalt von religiösen, sittlichen
und sozialen Gesetzen an, die den Hauptinhalt des Deuteronomiums
bilden. Somit wurde der Grundstein gelegt für jene Macht des
Gesetzes oder der Thora, für jene Vorherrschaft des Buches im
Volksleben, die den prägnantesten Zug der ganzen späteren Ge-
schichte des Judentums darstellt.
§ 59. Der Niedergang Assyriens und der Kampf mit Ägypten
Inzwischen machte der Zerfall der assyrischen Monarchie, der
Gebieterin des Orients, immer weitere Fortschritte. Eine Provinz nach
der anderen riß sich von dem großen Reiche los, besonders nach
dem Tode seines letzten mächtigen Königs Assurbanipal (von den
§ 59. Der Niedergang Assyriens und der Kampf mit Ägypten
Griechen Sardanapal genannt, 626). So erkämpfte sich Medien
seine Unabhängigkeit von Assyrien unter seinem tapferen König
Kyaxares; Babylonien schüttelte das Joch Assyriens dank den
Heldentaten Nabopalassars ab, eines ehemaligen assyrischen Heer-
führers, der nun eine neue, chaldäische Dynastie gründete und
Babylon zu seiner Residenz machte (625—605). Die letzten assy-
rischen Könige vermochten es nicht, diesem Prozeß der Auflösung
des umfassenden Reiches Einhalt zu tun. Die Hauptstadt des
Reiches, Ninive, hatte ihre ehemalige Anziehungskraft schon ein-
gebüßt, und die Reiche und Völker von den Ufern des Tigris bis
zu den Ufern des Nil waren nun nicht länger ihrem Willen ge-
horsam. Diese Schwäche der souveränen Monarchie machte sich
auch der judäische König Josia zunutze. Er besetzte viele Land-
striche des zu einer assyrischen Provinz gewordenen ehemaligen
israelitischen Reiches und gliederte sie in den Bestand seines Reiches
ein. Die Gewalt der assyrischen Statthalter in dieser vom Zentrum
entfernten öden Provinz war nur gering, und Josia konnte ohne
besondere Mühe viele Städte Samariens in seinen Resitz bringen.
Es ist oben bereits erwähnt worden, daß Josia seine Kultreform
auch auf das alte Heiligtum des israelitischen Reiches, auf die an
den Grenzen Judas gelegene Stadt Retel, erstreckte. Die spätere
„Chronik“ behauptet sogar, daß der judäische König in dem
ganzen, nun von der gemischten Völkerschaft der Samaritaner be-
wohnten, ehemaligen Gebiet Ephraims den halbheidnischen Kultus
abgeschafft hätte. Nunmehr durfte Josia die Wiederherstellung des
hebräischen Staates in seinen alten Grenzen, die Wiedergeburt des
Königreichs Davids erhoffen.
Davon träumten auch die Propheten. Eine der rührendsten
Reden Jeremias (Kap. 3i) legt beredtes Zeugnis ab von dem Jubel
über die Wiedervereinigung mit den ehedem abgefallenen, nun aus
Betel und Samaria nach Jerusalem kommenden Brüdern: „So
spricht Jahve: Ich baue dich wieder auf, und du wirst auf gebaut,
Jungfrau Israel! Du darfst wieder Weinberge pflanzen auf den
Bergen Samarias. Denn einen Tag wird’s wieder geben, da Wächter
rufen auf dem Gebirge Ephraim: Auf, laßt uns hinaufziehen nach
Zion zu Jahve, unserem Gotte!“ Der Zerfall Assyriens gibt dem
Propheten die Hoffnung, daß auch die Nachkommen der dorthin
verbannten Einwohner Samariens aus dem „fernen Norden“, aus
295
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
„allen Erden winkeln“ wiederkehren und sich auf den „Höhen
Zions“ versammeln werden: „In Rama wird Klage laut, bitterliches
Weinen: Rahel (die Urahne Ephraims), beweint ihre Kinder, sie
will sich nicht trösten lassen. . . . Doch so spricht Jahve: Wehre
deiner Stimme das Weinen und deinen Augen die Tränen, denn es
gibt noch einen Lohn für deine Mühe, und deine Kinder sollen
heimkehren aus Feindes Land. Es gibt noch eine Hoffnung für
deine Zukunft: die Kinder sollen heimkehren in ihr Gebiet!“ Die
Vereinigung Israels mit Juda wird auf der Grundlage der geistigen
Reform Josias zustande kommen: „Fürwahr, es kommt die Zeit —
ist der Spruch Jahves — da will ich mit dem Hause Israel und
mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, nicht wie der
Bund war, den ich mit ihren Vätern schloß, als ich sie bei der
Hand nahm, um sie aus Ägypten wegzuführen. . . . Vielmehr darin
soll der Bund bestehen, den ich nach dieser Zeit mit dem Hause
Israel schließen will: ich lege meine Thora in ihr Inneres und
schreibe sie ihnen in das Herz.“
Allein die lichten Träume des Königs und der Propheten von
einer politischen Wiedergeburt und einer Wiedervereinigung der
Nation sollten nicht in Erfüllung gehen. In seinem Bestreben, den
Norden mit seinem Lande zu vereinigen, begegnete Josia dem
Widerstand des ehemaligen Verbündeten Judas, Ägyptens. Nach-
dem Ägypten unter dem König Psammetich zu größerer Macht
gelangt war, ging es in seiner Politik Assyrien gegenüber immer
mehr von der Verteidigung zum Angriff über. Ägypten sann auf
die Eroberung Syriens, das in alten Zeiten eine ägyptische Provinz
gewesen war. Der Sohn Psammetichs, der Pharao Neko II. (610
bis 5 9 4), wollte, in Voraussicht des baldigen Untergangs Assyriens,
seinen Teil von der Erbschaft der dahinscheidenden großen Mon-
archie mit Gewalt an sich reißen und zog mit einem großen Heere
an die Ufer des Euphrat. Um ihr Ziel zu erreichen, mußten die
ägyptischen Truppen durch die ehemaligen israelitischen Land-
gebiete marschieren, von denen erst vor kurzem der König Josia
Besitz ergriffen hatte. Josia war entschlossen, den Ägyptern den
Durchgang zu wehren, da er befürchtete, daß sie, nach der Er-
oberung der benachbarten syrischen Länder, auch Samarien unter
ihr Szepter bringen und hernach auch Juda, den ehemaligen Vasallen
Assyriens, zu ihrem eigenen Vasallen machen würden. Auf Gottes
296
§ 59. Der Niedergang Assyriens und der Kampf mit Ägypten
Beistand vertrauend, zog der judäische König mit seinem Heere
gegen den Pharao Neko aus und verlegte ihm bei Megiddo, am
Berge Karmel, den Weg. Vergebens suchte Neko Josia zu über-
reden, ihm freien Durchzug zu gewähren, da er nicht gegen die
Judäer, sondern nur gegen Assyrien ausgezogen sei; Josia war
unbeugsam. Es kam zu einer Schlacht, die für die Judäer ver-
hängnisvoll war: das judäische Heer wurde geschlagen, und Josia
selbst erlag einer tödlichen Verwundung (608x)). Die Leibwache
des Königs überführte seine Leiche nach Jerusalem. Die Ein-
wohner der Hauptstadt empfingen die Kunde von dem Tode des
geliebten Königs mit Weinen und Wehklagen. Die spätere Urkunde
behauptet, daß der Prophet Jeremia ein Klagelied auf den Tod
des gerechten Josia verfaßt hätte, das noch lange Zeit im Volke
gesungen wurde.
Josia hinterließ drei Söhne: Eljakim, Sallum und Mattanja. Die
Volksmassen (Am-ha’arez), die den Tod ihres Königs an den Ägyp-
tern rächen wollten, riefen dessen zweiten Sohn Sallum zum Könige
aus, der im Gegensatz zu seinem älteren Bruder für die Fortsetzung
des Kampfes mit Ägypten war. Dem neuen König wurde dabei
der dynastische Name Joahas beigelegt. Jedoch waren die Ein-
wohner Jerusalems nicht mehr frei in der Wahl ihres Königs,
denn die Niederlage bei Megiddo hatte Juda unter die Oberhoheit
Ägyptens gebracht. Nach seinem Sieg über die Judäer drang Pharao
Neko bis zum Euphrat vor und bemächtigte sich mehrerer Städte
in Syrien. In der syrischen Stadt Ribla wurde ihm der neuerwählte
judäische König vorgeführt, den er jedoch als den Erwählten der
ägyptenfeindlichen Volkspartei im voraus verurteilt hatte. Neko
befahl, Joahas in Ketten zu legen und nach Ägypten zu bringen,
wo er sein Leben lang in Gefangenschaft blieb. Aus diesem Anlaß
sprach der Prophet Jeremia zum Volke: „Weinet nicht um den,
der tot ist (Josia) und klaget nicht um ihn! Weinet vielmehr um
den, der fortgezogen ist (Joahas), denn er kehrt nicht mehr zurück
und nicht sieht er wieder das Land, wo er geboren1 2).“ Statt Joahas
1) Herodot erwähnt in seiner Geschichte (II, i5g) den Sieg des Pharao Neko
über die „Syrer“ bei Magdola. Vermutlich liegt diesem Bericht des griechischen
Geschichtschreibers eine Überlieferung über die Schlacht der Judäer mit den
Ägyptern bei Megiddo zugrunde.
2) Jerem. 22, 10—12. Aus diesen Versen erhellt die Identität von Sallum
und Joahas.
297
Das Reich Juda unter der Oberhoheit Assyriens
erkannte Neko dessen älteren Bruder Eljakim, der dem Pharao
Vasallen treue gelobt hatte, als den rechtmäßigen König von Juda
an (607). Eljakim bestieg den Thron unter cjem Namen Jojakim1).
Der Pharao belegte Juda, zur Strafe für den bei Megiddo geleisteten
Widerstand, mit einer großen Geldbuße, und Jojakim ließ sie beim
Volke mit unerbittlicher Strenge eintreiben.
1) Es bestand der Brauch, dem König bei seiner Thronbesteigung einen neuen
Namen zu verleihen, indem ein Wortteil des göttlichen Namens Jo oder Ja
(Jahve) vor oder nach der Namenwurzel angehängt wurde. So erhielt von den
drei Söhnen Josias der älteste Eljakim den Namen Jojakim, Sallum wurde Joahas
genannt, und Mattanja, dessen Name an seinem Ende schon die weihevolle
Partikel führte, erhielt den neuen Namen Zedekia oder Zidkia (was etwa ,,Ge-
rechtigkeit Jahves“ bedeutet). Andererseits gingen manche Könige dieser Ehren-
partikel verlustig, wie z. B. der gottlose Ahas, dessen offizieller Name Joahas
war (wie aus den assyrischen Inschriften zu ersehen ist). Manasse und Amon, die
der antinationalen Politik Ahas’ gewogen waren, sind gleichfalls der „theopho-
rischen“ Namenspartikel verlustig gegangen.
298
Zweites Kapitel
Die Oberhoheit Babyloniens
und der Untergang des Reiches Juda
§ 60. Jojakim als Vasall Ägyptens; Jeremia (607—60U)
Der unglückliche Ausgang der Schlacht bei Megiddo und die
Ausdehnung der ägyptischen Oberhoheit auf Syrien und Palästina
machten auf die Judäer einen niederschmetternden Eindruck. Für
das Volk, das sich soeben des assyrischen Joches entledigt hatte,
kam diese neue Knechtung durch Ägypten völlig unerwartet. Nach-
dem das Volk unter Josia von neuem den Weg der nationalen Ab-
sonderung gefunden hatte, hoffte es auch politisch unabhängig
bleiben zu können. Es vertraute auf das Gelöbnis des feierlich ver-
öffentlichten Tempelbuches, demzufolge JahVe die ihm treue Nation
vor allem Unheil und jedem Mißgeschick zu bewahren verhieß.
Statt dessen war der gerechte König Josia, der Eiferer des Jahve-
kultes und treue Gefolgsmann der Propheten, im Kampfe für die
Freiheit in ebenjenem Augenblicke gefallen, als er an das große
Werk der Wiedervereinigung des ehemaligen israelitischen Land-
besitzes mit dem judäischen Reich gegangen war. Dies rief eine
geistige und politische Reaktion in einem großen Teil des Volks-
ganzen hervor, besonders aber in den regierenden Kreisen Jeru-
salems, in denen die Assimilierungstendenzen aus der Zeit Manasses
ihre Wirksamkeit noch nicht gänzlich eingebüßt hatten. Von neuem
fand in die Geister der Gedanke Eingang: wäre es für das kleine
Juda nicht ratsamer, nicht länger gegen den Strom der Welt zu
schwimmen und sich auch im Inneren der Lebensordnung der
herrschenden Mächte anzupassen? Wenn man sich ehedem um
einer ruhigen Existenz willen der assyrischen Kultur unterordnete,
299
Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda
warum sollte man sich nun nicht freiwillig der ägyptischen Lebens-
ordnung fügen? Diese Politik vertrat der neue König Jojakim.
Jojakim hatte kein Verständnis für die Reformen seines Vaters.
Seiner Natur widerstrebte der religiöse und sittliche Rigorismus der
Prophetenlehre, die dem freien Ermessen des Königs Schranken
setzte. Das Ideal eines gottesfürchtigen Herrschers, eines Königs,
der nur ein bescheidener Diener seines Staates ist, war ihm durch-
aus fremd. Er liebte das fröhliche Hof leben, die unumschränkte
Gewalt, die Mannigfaltigkeit und Üppigkeit der religiösen Kulte.
Indem er sich den Niedergang des nationalen Geistes zunutze
machte, hob Jojakim die strengen Gesetze der Reformationszeit
auf und gestattete von neuem die freie Übung der Lokalkulte.
Von neuem tauchten in Jerusalem und in anderen Städten Altäre
mit Götterdarstellungen auf, von neuem wurden die heidnischen
Kultformen dem reinen Jahvekultus beigemischt. Eine hervor-
ragende Stellung gewann zu jener Zeit der babylonisch-ägyptische
Kultus der „Himmelskönigin“ (malkat haschamaim, Jerem. 7, 18
und 44, 17—19), einer Verbindung von Istar und Isis, deren Ver-
ehrung besonders unter den Frauen Verbreitung fand. Auch in der
Staatsverwaltung herrschte große Willkür. Schon am Anfänge seiner
Regierung ließ Jojakim mit übermäßigem Eifer die von Pharao
Neko verlangte Kriegsentschädigung eintreiben, die vor allem von
den niederen Volksmassen (Am-ha’arez) „herausgepreßt“ („nogas“)
wurde. Jojakim wollte in Juda gleichsam die Rolle eines Pharao
spielen. Trotz der Wirren und der schweren Steuerbelastung des
Volkes ließ er sich einen neuen Palast in Jerusalem erbauen, wobei
er den judäischen ßürgern diese Arbeit zur Zwangspflicht machte.
Dem Beispiel des Königs folgten nur allzugern seine Würdenträger.
In den regierenden Kreisen Jerusalems lebte man sorglos, wie ehe-
dem in Samarien, und beachtete kaum das herannahende Gewitter.
Gegen diese aristokratische Reaktion kämpften unermüdlich die
Vertreter der nationalen Demokratie, die Propheten und ihre An-
hängerschaft. Die Propheten mit Jeremia an der Spitze brand-
markten in mutigen Straf reden den König, die Vornehmen und alle
Verehrer der fremdländischen Sitten, enthüllten ihre Missetaten, be-
drohten sie mit der Heimsuchung Gottes, riefen sie zur Buße auf.
Nicht wenig hatten diese Helden der Wahrheit und Gerechtigkeit für
ihren Mut zu leiden: man warf sie ins Gefängnis, verbannte sie, ja
3oo
§ 60. Jojakim als Vasall Ägyptens; Jeremia
brachte sie sogar ums Leben. Einer der Propheten, Uria, predigte
am Anfang der Regierung Jojakims und prophezeite das Verderben
des Landes, wenn sich König und Volk nicht beizeiten besinnen
würden. Als Jojakim von dieser revolutionären Prophezeiung Kunde
erhielt, befahl er, Uria in Haft zu nehmen. Diesem gelang es aber,
nach Ägypten zu entfliehen. Da sandte Jojakim einen seiner
Würdenträger nach Ägypten, der mit Hilfe der ägyptischen Be-
hörden den Flüchtling ausfindig machte und nach Jerusalem
zurückbrachte. Auf den Befehl Jojakims wurde Uria enthauptet
und seine Leiche auf dem für den gemeinen Pöbel bestimmten
Friedhof verscharrt (Jerem. 26, 20f.).
Einer besonders großen Gefahr setzte sich Jeremia aus, dieser
^nächtige Volkstribun, das verkörperte Gewissen des Volkes. Unter
Josia, als sich die nationale Partei am Ruder befand, war Jeremia
einer der eifrigsten Anhänger der Regierung; unter der neuen Re-
gierung Jojakims aber stellte er sich an die Spitze der Opposition.
In seinen öffentlichen Reden geißelte er den Despotismus Jojakims
und zog einen für diesen höchst verletzenden Vergleich zwischen
ihm und seinem Vater: „Wehe dem, der da baut sein Haus mit
Ungerechtigkeit und seine Gemächer mit Unrecht, der seinen Näch-
sten ohne Entgelt arbeiten läßt und seinen Lohn ihm nicht gibt,
der spricht: Ich will mir bauen ein geräumiges Haus und weit-
gedehnte Söller, will täfeln seine Fenster mit Zedernholz und es
ausmalen mit Mennig I Bist du damit König, daß du im Bauen
mit Ahasx) wetteiferst? Dein Vater aß und trank ja auch, aber
er übte Recht und Gerechtigkeit: damals ging’s ihm wohl. . . .
Deine Augen und dein Sinn sind auf nichts als auf deinen Gewinn
aus und auf das Blut Unschuldiger, es zu vergießen, und auf Be-
drückung und Erpressung. Darum also sprach Jahve in betreff
Jojakims, des Sohnes Joschijahus, des Königs von Juda: Man wird
ihn nicht beklagen (nach seinem Tode): ach, mein Bruder! ach
Gebieter! ach seine Majestät! Wie man einen Esel begräbt, soll
man ihn begraben, ihn fortschleifen und hinschmeißen weit draußen
vor den Toren Jerusalems!“ (Jerem. 22, i3—19).
1) Das letzte Wort ist nach dem Text der Septuaginta übersetzt (Ahas statt
Jerem. 22, i5). I11 einigen alten Abschriften der griechischen Übersetzung
heißt es Ahab (König von Israel).
3oi
Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda
Ein Mann, der sich erkühnte, den königlichen Despoten in
solchen Ausdrücken zu brandmarken, konnte auch den Lastern der
Gesellschaft, der Heuchelei der offiziellen Religion, dem falschen
Patriotismus gegenüber keine Nachsicht üben. Schonungslos trat er
in seinen Reden gegen jene scheinheiligen Patrioten auf, die ihre
Missetaten durch eine äußerliche Frömmigkeit zu verhüllen suchten
und heuchlerisch versicherten, daß Jahve Jerusalem um seines hei-
ligen Tempels willen beschützen würde. Zu diesen sprach Jeremia
also: „Setzt euer Vertrauen nur ja nicht auf die trügerischen Reden,
daß ihr sagt: Der Tempel Jahves, der Tempel Jahves ist dies! Wie?
Stehlen, morden und ehebrechen und falsch schwören, dem Baal
räuchern und fremden Göttern nachlaufen, die ihr nicht kennt:
und dann kommt ihr (so spricht Jahve) und tretet vor mich hin
in diesem Hause und sprecht: Wir sind geborgen! Ist denn in
euren Augen dieses Haus, das nach meinem Namen benannt ist,
eine Räuberhöhle geworden? . . . Geht doch hin an meine Wohn-
statt in Silo, woselbst ich in früheren Zeiten meinen Namen wohnen
ließ, und seht, wie ich mit ihr ob der Bosheit meines Volkes Israel
verfahren bin! Nun aber, weil ihr alle jene Freveltaten verübt . . .
so will ich mit diesem (Jerusalemer) Hause, das nach meinem
Namen benannt ist, auf das ihr euer Vertrauen setzt, verfahren,
wie ich mit Silo verfahren bin; ich will euch aus meiner Gegenwart
verstoßen, wie ich eure Brüder, die gesamte Nachkommenschaft
Ephraims, verstoßen habe“ (Jerem. 7, 1—15 und 26, 2 f.).
Als Jeremia eines Tages im Jerusalemer Tempelhof eine seiner
Strafreden hielt, rief er in seiner Hörerschaft einen Sturm der
Entrüstung hervor. Man erblickte in den Worten des Propheten
eine Schmähung des Heiligtums und eine Aufhetzung des Volkes.
Die Priester und falschen Propheten umringten Jeremia und riefen:
„Du mußt sterben, weil du geweissagt, es solle diesem Tempel
ergehen wie dem zu Silo1)!“ Auf dem Platz vor dem Tempel
versammelte sich eine große Volksmenge. Der Lärm erregte auch
die Aufmerksamkeit der königlichen Würdenträger, die gleichfalls
herbeikamen; unter ihnen befand sich Ahikam, der Sohn Safans,
1) Der Zusammenhang dieser Erzählung (Jerem. 26) mit der oben angeführten
Rede Jeremias ist aus der Erwähnung der letzteren in der Erzählung selbst (26,6)
zu ersehen, wobei auch die Zeit: „Am Anfänge der Regierung Jojakims“ genau
bezeichnet ist.
302
§ 61. Der Kampf mit Babylonien; die Gefangenschaft Jojakins
eines der Mitarbeiter an der Reform des Königs Josia. An den
Toren des Tempels wurde eine Versammlung der Volksältesten an-
beraumt, um den des Staatsverbrechens beschuldigten Propheten
abzuurteilen. Die Priester und heuchlerischen Patrioten (die „fal-
schen Propheten“) forderten die Verhängung des Todesurteils über
Jeremia zur Strafe für seine Hetzreden. Jeremia aber antwortete
voll Mut, sich an die Würdenträger und das Volk wendend: „Jahve
hat mich gesandt, alle Worte, die ihr gehört habt, zu weissagen.
Und nun hört auf den Befehl Jahves, daß er sich des Unheils
gereuen lasse, das er euch angedroht. Was mich aber betrifft, nun,
so bin ich in eurer Gewalt! Verfahrt mit mir, wie es euch gut
und recht dünkt! Nur sollt ihr wissen, daß, wenn ihr mich tötet,
ihr unschuldiges Blut über euch bringt!“ Einige der Volksältesten
erinnerten die Versammlung daran, daß den Propheten in früheren
Zeiten das freie Recht zustand, im Namen Gottes die Missetaten
zu geißeln und mit Unheil zu drohen; sie führten auch das Beispiel
Michas, des Zeitgenossen Hiskias, an, der prophezeit hatte, daß
Jerusalem zerstört und der Tempelberg zu einer Waldanhöhe werden
würde. Daraufhin wurde Jeremia vom Gericht freigesprochen. Seine
Rettung verdankte er den Bemühungen seiner Freunde und be-
sonders denen Ahikams. Jedoch nur für kurze Zeit war Jeremia
der Gefahr entronnen; dem unermüdlichen Propheten stand noch
ein harter Kampf mit den machthabenden Klassen bevor.
§ 61. Der Kampf mit Babylonien; die Gefangenschaft Jojakins
(60U—597)
In den ersten Regierungsjahren Jojakims kam es zum end-
gültigen Zerfall der assyrischen Monarchie. Die Meder und Ba-
bylonier (die Könige Kyaxares und Nabopolassar) zerstörten nach
einer dreijährigen Belagerung die prächtige Hauptstadt Assyriens,
Ninive (6o6). Die Großmacht, die das nördliche israelitische Reich
vernichtet und auch nach dem südlichen seine Hand ausgestreckt
hatte, war nun selbst gefallen; die Residenz der „Großkönige“,
wohin die unterjochten Fürsten Asiens demütig ihren Tribut ge-
bracht hatten, war nun dem Erdboden gleichgemacht. Das Haupt-
dogma des israelitischen Prophetismus hatte sich bewahrheitet: nicht
in der materiellen Kraft, sondern im Geiste ist der Odem Gottes.
3o3
Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda
Dieses Gericht der Geschichte entfachte die Begeisterung der Pro-
pheten, und einer von ihnen, Nahum aus ElkoschQ, schilderte in
folgenden farbenreichen Worten die Gefühle, die in den Gemütern
der Gerechten durch die Kunde vom Fall Ninives erweckt wurden:
„Wehe der Stadt der Blutschuld, die ganz Betrug, voll von
Beute, des Rauhens kein Ende! Horch, Peitschen, horch, Räder-
gerassel und jagende Rosse und springende Wagen, bäumende
Reiter und funkelnde Schwerter und blitzende Lanzen! Der Hure
(Ninive), der anmutigen, die die Völker umgarnte! Aber Jahve
zeigt den Völkern deine Blöße und den Königreichen deine Scham.
. . . Und alle, die dich erblicken, werden fliehen und sprechen:
Zerstört ist Ninive! Wer hat Mitleid mit ihr? Woher suche ich
Tröster für sie? . . . Alle, die Kunde von dir vernehmen, werden
klatschen (in die Hände), denn über wen wäre nicht beständig deine
Bosheit ergangen?“
Mit Jubel empfängt der Prophet die Kunde vom Fall der
Despotie. Das vergossene Blut und die Qualen einer langen Reihe
von unterjochten Generationen sind nun gerächt, vernichtet ist
die „assyrische Peitsche“, deren Hiebe jahrhundertelang auf Juda
niedergesaust waren. Und der Prophet Nahum träumt von einer
lichten, freudenreichen Zeit: „Da auf den Bergen erscheinen die
Füße des Freudenboten, der Heil verkündet: feiere, Juda, deine
Feste, bezahle deine Gelübde, denn fortan wird dich nicht mehr
durchziehen der Heillose, er ist gänzlich vertilgt!“ Allein der von
Hoffnungen berauschte Prophet merkte nicht, wie der eben klar
gewordene Horizont von neuem durch Wolken verdüstert wurde.
Der Schatten einer neuen „Rute der Völker“, Babyloniens, ver-
dunkelte bald den Himmel Judas.
Ein anderer Prophet dieser Zeit tut das Erscheinen dieser
neuen Geißel kund: „Ich lasse — so spricht der Prophet Habakuk
im Namen Jahves — die Chaldäer erstehen, das grimmige und
behende Volk, das die Breiten der Erde durchzieht, um fremde
Wohnsitze zu erobern. Schrecklich und furchtbar ist es. . . . Seine
Rosse sind schneller als Parder, und kühner als Wölfe seine Reiter;
sie kommen aus der Ferne, sie fliegen wie ein Adler, der auf dein
Fraß stürzt. ... Es macht sich über Könige lustig, und Fürsten
1) In dem Dorfe „Elkusch“, nördlich von den Ruinen Ninives, zeigte man
noch im 16. Jahrhundert der christlichen Ära das Grab des Propheten Nahum.
Man vermutet, daß Nahum sich unter den aus Samaria Verbannten befand und
in Ninive lebte, das er als eine ihm wohlbekannte Stadt schildert.
3o4
§ 6f. Der Kampf mit Babylonien; die Gefangenschaft Jojakins
sind ihm Gespött. Es lacht über jedwede Festung; es schüttet Erde
auf und erobert sie“ (Habak. i, 6—io). Ein Zeuge des Ein-
dringens des neuen beutegierigen Feindes, wendet sich Habakuk
an Gott mit einem Flehen, in dem auch schon ein Protestton mit-
schwingt: „Warum siehst du die Treulosen mit an, schweigst, wenn
der Gottlose den Frommen zugrunde richtet? Du lassest die Men-
schen werden wie Fische im Meer . . . man zog sie alle fort ins
Garn und raffte sie in das Netz . . (Habak. i, i3—17). Ein
neuer Ton ist in diesem Schrei des nur wenig bekannten Propheten
hörbar: der Zweifel an der Gerechtigkeit des geschichtlichen Ge-
richts, an der Vernünftigkeit der Weltordnung, bei der der Schwache
dem Starken zur Beute fällt. Ein solcher Zweifel mußte not-
wendigerweise in jener Zeitperiode auf kommen, als Juda, kaum
von den Fallstricken des einen Jägers befreit, in die des anderen
hineingeriet. Aus Babylonien war eine Woge im Anrollen, die
Juda verschlingen sollte.
Die Sieger teilten das assyrische Reich untereinander auf, wobei
den Medern seine nördlichen und östlichen Landgebiete zufielen,
während die Babylonier das südliche Mesopotamien erhielten. Das
neue Babylonien betrachtete sich als den gesetzlichen Erben von
Syrien, von dem jedoch Ägypten bereits Besitz ergriffen hatte; so
wurde der Krieg zwischen den beiden Staaten unvermeidlich. Um
diese Zeit starb der babylonische König Nabopolassar, und den
Thron bestieg sein kriegerischer Sohn Nabukdrussur II. oder Nebu-
kadrezzar, wie er von den hebräischen Propheten genannt wird1).
Nebukadrezzar tritt mit seinen Heertruppen dem Pharao Neko ent-
gegen, der sich aus Syrien zum Euphrat gewandt hatte. Bei Kar-
kemisch, am Oberlauf des Euphrat, kam es zu einer entscheiden-
den Schlacht zwischen den Babyloniern und den Ägyptern. Die
letzteren erlitten eine völlige Niederlage und mußten Syrien den
neuen Machthabern überlassen (6o4)-
Gleichzeitig mit Syrien mußte auch Juda als Teil der syrisch-
palästinischen Provinz die Oberhoheit des babylonischen Königs an-
erkennen. Bei der machtpolitischen Umstellung war also Ägypten
1) Die Schreibart ,,Nebukadrezzar“, die mehr den assyrischen Quellen ent-
spricht, ist bei den Zeitgenossen Jeremia und Jeheskel häufiger anzutreffen als
die heute allgemein gebräuchliche „Nebukadnezar“, die nur in den Chroniken und
in dem aus viel späterer Zeit stammenden Buche „Daniel“ vorherrscht.
20 D u b n o w , Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
3o5
Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda
nur ein Durchgangsstadium auf dem Wege von der assyrischen
zur babylonischen Herrschaft. Babylonien ging zu jener Zeit darauf
aus, eine weltbeherrschende Großmacht zu werden, die mit elemen-
tarer Kraft alle auf ihrem Wege liegenden Staaten verschlingt, so
wie die großen Fische nach den kleinen schnappen (wie ein Ver-
gleich Habakuks es ausdrückt). Indessen wollte Juda, das eben erst
von seinem vorübergehenden Hörigkeitsverhältnis zu Ägypten befreit
worden war, die nun bevorstehende dauernde Oberhoheit Babyloniens
nicht ruhig über sich ergehen lassen. In Jerusalem bildete sich
eine Partei kriegerisch gesinnter Patrioten, die dem babylonischen
Eroberer aktiven Widerstand zu leisten gesonnen waren. Zu den
Parteigängern des Kampfes für die Unabhängigkeit zählte auch
der königliche Hof, der im Kampfe mit Babylonien wieder einmal
auf den Beistand Ägyptens rechnete. Allein diese vom nationalen
Ehrgeiz diktierte Politik fand keinen Anklang bei den weit-
sichtigeren Freunden des Volkes, bei Jeremia und seinen Ge-
sinnungsgenossen. Sie sahen voraus, daß der ungleiche Kampf mit
dem mächtigen Babylonien Juda ebenso zugrunde richten würde,
wie Samaria durch den Kampf mit Assyrien zu Fall gekommen
war, während die Unterwerfung unter den Willen des Siegers das
Land, wenn auch nur als Vasallenstaat, unversehrt erhalten würde.
Ihrem Grundgedanken treu, schätzten die Propheten am höchsten
die innere Autonomie, die Freiheit der geistigen Entwicklung. Man
solle mit Aufbietung aller Kräfte dem Eindringen der fremd-
ländischen Kultur in das innere Volksleben Einhalt tun, man solle
fremden, den nationalen Typus entstellenden Einwirkungen keinen
Einlaß gewähren, sinnlos aber sei es, in ungleichem Kampfe die
Volksexistenz aufs Spiel zu setzen, um nur die äußere, politische
Abhängigkeit abzustreifen. Überdies erblickten die Propheten, als
Schöpfer des Systems des ethischen Providentialismus im Gang der
Weltgeschichte, in den Siegen Babyloniens ein von der Vorsehung
vorausbestimmtes Stadium der geschichtlichen Evolution, dem man
einfach Rechnung tragen müsse, mit dem daher jeder Kampf
zwecklos sei. Dies war der Grund, warum der Prophet Jeremia,
der in der Schlacht bei Karkemisch das Verhängnis für Ägypten
und die anderen Staaten des Orients erblickte x), die Regierung und
1) Das Buch Jeremia, Kap. 46, das zweifellos echt ist (trotz Wellhausen, der
die Autorschaft Jeremias abstreitet), stimmt seinem Inhalte nach mit dem un-
3o6
§ 61. Der Kampf mit Babylonien; die Gefangenschaft Jojakins
das Volk Judas mit feurigem Eifer zu überreden suchte, die babylo-
nische Oberhoheit anzuerkennen und Nebukadrezzar, diesem blinden
Werkzeug des Willens Jahves, keinen Widerstand zu leisten. Er
wollte Schlimmeres verhüten. Jeremia prophezeite, daß im Falle
eines Widerstandes Juda ebenso von den Babyloniern vernichtet
werden würde, wie ehemals Samarien von den Assyrern.
Inzwischen rückte das Heer Nebukadrezzars aus dem unter-
worfenen Syrien nach Westen vor und näherte sich Juda. In
Jerusalem wuchs die Verwirrung immer mehr. Angesichts des
herannahenden Unheils wurden an einem Tage des neunten Monats
(etwa im Dezember) ein Fasttag und ein Gottesdienst im Tempel
veranstaltet. Diese Gelegenheit wollte Jeremia für seine Absichten
benützen. Seinem Jünger Baruch trug er auf, alle seine bis dahin
im Laufe von dreiundzwanzig Jahren gehaltenen prophetischen
Reden über die Schicksale Judas, also auch die noch zur Re-
gierungszeit Josias gesprochenen, aufzuzeichnen und am Festtage
im Tempel öffentlich zu verlesen; Jeremia war sicher, daß das
Volk, wenn es die früheren, in Erfüllung gegangenen Prophe-
zeiungen mit den jetzigen vergliche, sich von ihrer Richtigkeit
überzeugen lassen würde. Als nun die Bevölkerung Jerusalems sich
am Fasttage im Tempel versammelte, kam auch Baruch dahin und
verlas laut das prophetische Sendschreiben Jeremias. Die Schluß-
worte des Propheten von der Unabwendbarkeit der babylonischen
Herrschaft versetzten das versammelte Volk in Erregung. Die Hof-
würdenträger, die davon Kunde erhielten, beriefen Baruch zu sich
und ließen sich das Schriftwerk nochmals vorlesen. Durch die
vernommenen Prophezeiungen geängstigt, erstatteten sie dem Könige
Jojakim ausführlichen Bericht. Der König befahl, auch ihm das
Sendschreiben vorzulesen. Von seinen Hofleuten umgeben, hörte
Jojakim ruhig zu; der kalten Jahreszeit wegen hatte er ein Kohlen-
becken vor sich stehen; die verlesenen Teile schnitt er, einen nach
dem anderen, ab und warf sie in das Kohlenbecken, wo sie in
Flammen auf gingen, so daß zuletzt von der Schrift nichts mehr
übrigblieb. Nachdem der König auf diese Weise seine Verachtung
für die politischen Voraussagen des Propheten kundgetan hatte,
bestrittenen 25. Kapitel überein, an dessen Anfang das Datum seiner Entstehung
gesetzt ist: das vierte Jahr der Regierung Jojakims und das erste der babyloni-
schen Oberherrschaft.
307
20*
Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda
befahl er, Jeremia und Baruch festzunehmen und zu ihm zu
bringen; allein den Freunden des Propheten gelang es, sie zu ver-
bergen, so daß die königlichen Diener ihrer nicht habhaft werden
konnten (Jerem. Kap. 36).
Als aber der König, der die Drohung des Propheten so gleich-
gültig hingenommen hatte, bald darauf von dem Herannahen des
babylonischen Heeres erfuhr, verlor er völlig den Mut. Die Kriegs-
partei sah nun selbst ihre Machtlosigkeit ein; auch von Ägypten war
keine Hilfe zu erhoffen. Um den Feind von den Toren der Stadt
fernzuhalten, bezeugte Jojakim dem babylonischen König seine
Unterwerfung (um 602), und so wurde Juda Babylonien tribut-
pflichtig.
Drei Jahre lang entrichtete Jojakim den ihm von Nebukadrezzar
auferlegten Tribut; dann aber sagte er sich von dem babylonischen
Oberherrn los. Der judäische König hoffte anscheinend auf eine
allgemeine Erhebung der Völker der babylonischen Monarchie gegen
ihren Gebieter und auf eine Schwächung der Macht Nebukadrezzars,
hatte sich aber verrechnet. Nicht nur gelang es ihm nicht, die
Unabhängigkeit Judas zu erreichen, sondern er brachte über das
Land auch noch schweres Unheil. Nebukadrezzar, der die benach-
barten Völkerschaften der Moabiter und Ammoniter unterworfen
hatte, hetzte sie zu Einfällen in Juda und zur Verheerung seiner
Grenzgebiete auf, während er selbst erst nach Beendigung der von
ihm geführten anderen Kriege in Palästina einzurücken gedachte x).
Mitten in dieser sturmbewegten Zeit starb Jojakim. Die Ein-
wohner Jerusalems riefen seinen achtzehnjährigen Sohn Jo jakin,
auch Jekonja genannt, zum Könige aus (597). Die Staatsgewalt
riß aber seine Mutter Nehuschta an sich, und alles blieb, wie es
unter Jojakim gewesen war. Die neue Regierung dauerte aber nur
drei Monate. Nebukadrezzar erschien in Juda mit einem zahllosen
Heere und näherte sich Jerusalem, um es zu belagern. Schon am
Anfang der Belagerung sahen die Einwohner Jerusalems, daß die
Hauptstadt der Übermacht der Babylonier nicht standzuhalten ver-
mochte. Da verließen Jojakin und seine Mutter, vom ganzen Hofe
!) Der Bericht der II. Chron. 36, 6, demzufolge „Nebukadrezzar gegen Jo-
jakim heranzog und ihn in Ketten legte, um ihn nach Babylon zu bringen“,
findet weder in den Urkunden der Königsbücher noch in den Büchern der zeit-
genössischen Propheten eine Bestätigung.
3o8
§ 62. Zcdekia und der Kampf der Parteien in Jerusalem
begleitet, Jerusalem und begaben sich in das babylonische Lager,
um Nebukadrezzar persönlich ihre Unterwerfung kundzutun und
seinen Zorn zu beschwichtigen. Allein der stolze Sieger ließ sich
nicht erweichen. Er befahl, Jojakin und seine Mutter in Haft zu
nehmen und als Gefangene nach Babylon zu bringen. Auch viele
vornehme Bürger sowie Priester und Waffenschmiede verbannte
Nebukadrezzar nach Babylonien; die Zahl der Verbannten wird von
der Überlieferung auf ioooo geschätzt. Unter den Weggeführten
befand sich auch der Prophet Jeheskel (Ezechiel), der einem vor-
nehmen Priestergeschlechte angehörte. Als Kriegsentschädigung
führte Nebukadrezzar viel Gold und Silber aus dem Jerusalemer
Tempel und Palast mit sich fort. So wurde Jerusalem gleichzeitig
seiner vornehmsten Bürger und eines großen Teiles seiner Reich-
tümer beraubt. In Juda setzte Nebukadrezzar den Onkel des ver-
bannten Königs, Mattanja, zum Könige ein, der unter dem Namen
Zedekia den Thron bestieg. Der neue König leistete Babylonien
den Vasalleneid.
§ 62. Zedekia und der Kampf der Parteien in Jerusalem
Die Gefangennahme Jojakins und der Jerusalemer Aristokratie
war, mit einem modernen Geschichtsschreiber zu reden, ein „ge-
waltiger Aderlaß, der aber dem Fieber keinen Einhalt zu tun
vermochte“. Die Gärung in Juda hatte nicht aufgehört. Der
schwere Schlag, der der Nation durch die Verbannung ihres Königs
und ihrer Aristokratie versetzt wurde, entfachte nur noch mehr den
Haß gegen Babylonien. Der Zwist zwischen der Partei des Auf-
stands und der Friedenspartei Jeremias trat immer schärfer hervor.
Es war dies eine unausbleibliche, tragische Entzweiung der schwer
verwundeten Nation, deren einer Teil der feindlichen Macht, wenn
auch mit Lebensgefahr, Widerstand zu leisten bestrebt war, während
der andere sich der unüberwindlichen Übermacht fügte zum Zwecke
der Selbsterhaltung und der Sammlung der Kräfte für die Zukunft.
Der König Zedekia, ein unentschlossener Charakter, der in dieser
kritischen Zeit am wenigsten zur Leitung des Staates geeignet war,
schwankte immerzu zwischen der Kriegs- und der Friedenspartei,
zwischen der Politik des Widerstandes und derjenigen der Unter-
werfung. Er achtete den Propheten Jeremia, der die Oberherrschaft
Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda
Babyloniens geduldig zu ertragen riet, um nicht noch sclilimmeres
Unheil heraufzubeschwören; zugleich war er aber auch geneigt,
den ungestümen Patrioten beizupflichten, die die Herrschaft Ba-
byloniens für ebenso vorübergehend hielten, wie es diejenige Ägyp-
tens gewesen war, und durch einen neuen Aufstand das Land von
der drückenden Unterjochung befreien wollten. Der König lenkte
nicht die Ereignisse, sondern fügte sich ihnen, indem er das Werk-
zeug bald der einen, bald der anderen der miteinander kämpfenden
Parteien wurde.
In den ersten Regierungsjähren Zedekias machte sich unter den
palästinischen Völkerschaften eine Bewegung gegen Babylonien be-
merkbar1). Eines Tages (5g4) kamen Gesandte der Moabiter, der
Ammoniter, der Tyrer und der Sidonier nach Jerusalem und mach-
ten Zedekia den Vorschlag, ein Bündnis zum gemeinsamen Kampfe
gegen den babylonischen Eroberer zu schließen. Der Prophet
Jeremia, der das Volk von diesem gefährlichen Beginnen zurück-
halten wollte, erschien nun vor dem Jerusalemer Tempel in einem
befremdenden Aufzug: an seinem Halse hingen Ketten und ein
hölzernes Joch. Er zeigte den fremden Gesandten diese Symbole
der Sklaverei und verkündete, daß Nebukadrezzar ein solches Joch
und solche Ketten denjenigen anlegen werde, die sich gegen ihn
erheben. Sich sodann an den König und die Jerusalemer Würden-
träger wendend, suchte der Prophet sie zu überzeugen, daß es für
Juda besser sei, die babylonische Herrschaft zu ertragen, als sich
dem Aufstande anzuschließen und so der völligen Vernichtung an-
heimzufallen. Die Gegenpartei hatte jedoch ihre eigenen „Pro-
pheten“. Einer dieser kriegerisch gesinnten Propheten, Hananja ben
Azur, prophezeite im Tempel im Namen Jahves, daß die Gewalt
Babyloniens in zwei Jahren gebrochen sein würde, daß der ab-
gesetzte König Jojakin sowie die anderen Verbannten aus der Ge-
fangenschaft zurückkehren und die Judäer wieder zu einem freien
Volke werden würden. Um seine Prophezeiung durch eine anschau-
liche symbolische Handlung zu bekräftigen, nahm Hananja in
1) Jeremia, Kap. 27—28. Die Überschrift am Anfang des 27. Kapitels: „Am
Anfänge der Regierung Jojakims“ ist ein offenbarer Schreibfehler des massoreti-
schen Textes, da im folgenden dritten Vers von einer Gesandtschaft zu Zedekia
die Rede ist. In der griechischen Übersetzung fehlt diese Überschrift ganz,
während es in der syrischen statt „Jojakim“ richtig ,,Zedekia“ heißt.
3io
§ 62. Zedekia und der Kampf der Parteien in Jerusalem
Gegenwart des im Tempel versammelten Volkes das Joch vom
Halse Jeremias und brach es entzwei, indem er sprach: Also wird
das Joch Nebukadrezzars vom Halse aller Völker genommen werden.
Jeremia aber erwiderte ihm: „Jochstangen von Holz hast du zer-
brochen, aber ich werde an ihrer Stelle Jochstangen von Eisen
machen. Ein Joch wird Jahve auf den Hals aller dieser Völker
legen, daß sie Nebukadrezzar dienstbar werden.“ Die Warnungen
Jeremias scheinen doch nicht ohne Wirkung geblieben zu sein.
Die Vernunft behielt diesmal die Oberhand über den leidenschaft-
lichen Drang nach Freiheit, und die Koalition gegen Babylonien
kam nicht zustande.
Allein die Gärung in Jerusalem hatte sich noch nicht gelegt.
Der Haß gegen den babylonischen König, der die Blüte der Jeru-
salemer Einwohnerschaft in die Gefangenschaft abgeführt hatte,
war allzu stark und die kluge Friedenspolitik konnte .daher keinen
dauernden Erfolg haben. Dieser patriotische Eifer der Bevölkerung
Jerusalems wurde besonders von den nach Babylonien verbannten
Freunden und Verwandten Jojakins geschürt. Diese sehnten sich
nach dem Vaterlande, hofften auf seine baldige Befreiung und
führten inzwischen geheime Verhandlungen mit den Jerusalemer
Freunden über die Vorbereitung des Aufstandes gegen Nebu-
kadrezzar. Vergebens warnte die Gefangenen der unter ihnen
lebende junge Prophet Jeheskel, ein Gesinnungsgenosse Jeremias.
Er suchte die Verbannten zu überreden, ihre Gefangenschaft ohne
Murren zu ertragen; er versuchte nicht nur ihre Hoffnungen auf
eine baldige Wiederkehr in die Heimat zu zerstören, sondern pro-
phezeite sogar, daß noch viele von den in Juda Gebliebenen in die
Gefangenschaft geraten würden und daß Gott sich erst dann seines
Volkes erbarmen würde, wenn die Seele des Volkes durch Leiden
geläutert sein werde. Allein die Verbannten in Babylonien schenkten
den Reden Jeheskels ebensowenig Gehör, wie die feurigen Jeru-
salemer Patrioten den Ermahnungen Jeremias. Als Jeremia von
der aufrührerischen Stimmung der Verbannten Kunde erhielt, sandte
er ihnen einen Brief, in dem er sie zu überreden suchte, daß sie
ruhig an dem Orte verweilen sollten, an den das Schicksal sie
verschlagen hatte. „Baut Häuser — so schrieb er ihnen — und
wohnt darin, pflanzt Gärten und genießt ihre Früchte. Nehmt
Weiber und zeugt Söhne und Töchter, und nehmt für eure Söhne
Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda
Weiber und verheiratet eure Töchter, daß sie Söhne und Töchter
gebären und ihr euch mehret und nicht weniger werdet! Kümmert
euch um die Wohlfahrt des Landes, in das Jahve euch weggeführt
hat, und betet für es zu Jahve, denn seine Wohlfahrt ist eure eigene
Wohlfahrt! Wenn volle siebzig Jahre für Babel dahingegangen sind,
werde ich euch an diesen Ort zurückführen . . .“ (Jerem. Kap. 29).
Dieser Brief empörte die Judäer in Babylonien, da er ihre teuersten
Hoffnungen zunichte machen wollte. Einer der Volksältesten, Sehe-
maja Nehelami, sandte ein Schreiben nach Jerusalem an den Priester
Zephanja und forderte, daß nicht jedem vom „Prophetentaumel
Ergriffenen“ das Prophezeien im Tempel gestattet und daß
Jeremia für seine Propaganda unter den babylonischen Gefangenen
bestraft werde. Auch in Jerusalem waren viele gegen Jeremia auf-
gebracht, nannten ihn einen Verräter und einen Freund Nebu-
kadrezzars. Jeremia litt schwer unter dem Bewußtsein, von den
meisten mißverstanden zu werden. Er war von glühender Liebe für
sein Vaterland erfüllt und sah sehr wohl, daß der Aufstand gegen
Nebukadrezzar es endgültig zugrunde richten müßte; aber die für
den Aufstand entflammten Anhänger der Gegenpartei konnten sich
mit der Politik der Unterwürfigkeit und der Tatenlosigkeit nicht
aussöhnen. In diesem tragischen Konflikt zwischen Gefühl und
Vernunft gewann schließlich das Gefühl die Oberhand: das nach
Freiheit lechzende Volk ging in den Kampf mit dem Entschluß,
entweder zu siegen oder zu sterben.
§ 63. Der Aufstand und der Fall Jerusalems
Im Jahre 588 schien endlich für die judäischen Patrioten der
Augenblick gekommen, ihre hochfliegenden Pläne in Taten umzu-
setzen. Der neue ägyptische Pharao Hofra (Apris), der Sohn Psam-
metichs II., hatte gerade einen Feldzug gegen Nebukadrezzar unter-
nommen, um Syrien zu erobern. Um dieselbe Zeit war der babylo-
nische König in einen Krieg mit Tyrus und Sidon verwickelt, wobei
ihm die Phönizier verzweifelten Widerstand leisteten. Unter den
palästinischen Völkerschaften wurden von neuem Vorbereitungen
getroffen zum Kampfe gegen den Gebieter Asiens, das unersättliche
Babylonien. Der Geist des Aufruhrs griff auch in Juda immer
weiter um sich; es führte lebhafte Unterhandlungen mit Ägypten
3l2
§ 63. Der Aufstand und der Fall Jerusalems
über ein Bündnis gegen Nebukadrezzar, und Ägypten sagte ihm auch
seinen Beistand zu.
Nach neunjähriger Vasallentreue verweigerte Zedekia Nebu-
kadrezzar den Tribut und proklamierte die Unabhängigkeit seines
Landes. Als der babylonische König von dem neuen Aufstande
der Judäer erfuhr, geriet er in großen Zorn. Er befand sich zu
jener Zeit bei seinem mächtigen Heere, das in Syrien und an der
Küste Phöniziens stand, und schickte sich an, den Einfall Ägyptens
abzuwehren und den Aufstand in Palästina niederzuwerfen. Sein
Hauptquartier hatte er im Zentrum Syriens, in Ribla, aufgeschlagen.
Von dort aus sandte Nebukadrezzar ein zahlreiches Heer nach Juda
mit dem Befehl, das aufrührerische Land zu verwüsten. Das babylo-
nische Heer fiel in Juda ein, besetzte viele Städte, plünderte sie und
führte die Bewohner in die Gefangenschaft ab. Viele Einwohner der
Provinz flohen beim Nahen des Feindes nach Jerusalem und ver-
mehrten so die ohnehin allzu zahlreiche Bevölkerung der Hauptstadt.
Das hochgelegene Jerusalem mit seinen starken Befestigungen schien
unbezwinglich zu sein, und seine Einwohner waren entschlossen,
his zum Äußersten Widerstand zu leisten.
Im Winter des Jahres 587 (am 10 Tebet) schloß das Heer
Nebukadrezzars Jerusalem ein und umgab es mit einem Belagerungs-
wall. Die Bevölkerung Jerusalems griff zu den Waffen. Die Reichen
gaben ihre in Sklaverei geratenen Stammesbrüder frei. Dies geschah
auf Veranlassung des Königs, der die Gültigkeit des alten Gesetzes
von der Befreiung der hebräischen Sklaven nach sechsjährigem
Dienst wiederherstellte; dabei hatte man wohl die Heranziehung
der freigegebenen Sklaven zum Militärdienst im Auge. Die Ein-
wohner der Hauptstadt wehrten sich mit dem Heldenmut der Ver-
zweiflung. Für kurze Zeit blühte ihnen von neuem die Hoffnung:
der ägyptische Pharao Hofra hielt sein Versprechen und zog mit
einem großen Heer gegen Nebukadrezzar aus. Die Babylonier
mußten sich eiligst von Jerusalem zurückziehen, um sich gegen
die Ägypter zu wenden. Die Bevölkerung Jerusalems jubelte, da
sie darin den ersten Schritt zu ihrer Erlösung erblickte. Die Reichen
Jerusalems, die die Gefahr bereits für überwunden hielten, glaubten
nun nichts Eiligeres tun zu müssen, als die von ihnen Freigegebenen
von neuem in die Sklaverei zu zwingen. Jeremia tadelte sie aufs
schärfste wegen dieser ehrlosen Handlungsweise. Er prophezeite,
3i3
Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda
daß die Babylonier bald wiederkehren würden. Diese unheilver-
kündenden Prophezeiungen erregten den Haß der Bevölkerung. Der
gehetzte Prophet will nun Jerusalem verlassen, um sich in seine
benjamitische Heimat zu begeben, wird aber an den Toren der Stadt
von einem Wacheobersten als Überläufer verdächtigt und fest-
genommen. Man schlägt ihn und wirft ihn in ein im Hauskeller
des Schreibers Jonathan zeitweilig eingerichtetes Gefängnis. Eines
Tages berief Zedekia den Gefangenen heimlich zu sich, und im
Glauben, er hätte sich im Gefängnis eines Besseren besonnen,
fragte er ihn: „Ist ein Wort von seiten Jahves da?“ „Jawohl! —
antwortete kurz Jeremia — der Gewalt des Königs von Babel wirst
du preisgegeben werden.“ Bald darauf wurde Jeremia auf Befehl
des Königs in das Gebäude der Palastwache überführt, wo er
gleichsam in Ehrenhaft gehalten wurde.
Inzwischen gelang es dem babylonischen Heer, die Ägypter zu
schlagen, und Jerusalem wurde von neuem belagert. Die Angriffe
des Feindes wurden immer bedrohlicher und der Mut der Ein-
wohner kam immer mehr ins Wanken. Jeremia aber wiederholte
unablässig seine Mahnung: „Wer in dieser Stadt bleibt, der wird
durch das Schwert und durch den Hunger und durch die Pest um-
kommen; wer sich aber den Chaldäern ergibt, der wird am Leben
bleiben.“ Diese Worte gaben Veranlassung zu dem schmählichsten
Verdacht gegen den Propheten, der aber gleich der trojanischen
Kassandra nur eine tragische Pflicht zu erfüllen hatte. Jeremia
litt unsägliche Qualen: voll feuriger Liebe zu seinem Volke stand
er in dem Verruf eines Volksfeindes; einen Verräter nannte man den
Mann, der, von dem Herannahen der Katastrophe überzeugt, durch
Nachgiebigkeit die Wucht des Schlages mildern und wenigstens
einen winzigen Rest noch erretten wollte1). Die Erregung gegen
*) Auf diese schwerste Zeit im Leben Jeremias beziehen sich wohl die ver-
zweifelten Klagerufe, die sich der Brust des vielgeprüften Propheten entrangen:
„0, wehe meiner Mutter, daß du mich geboren, einen Mann des Streites und
einen Mann des Haders für alle Welt! . . . Allesamt fluchen sie mir!“ (i5, io;
vgl. noch 20, i4—18). Allein schweigen konnte der Prophet nicht: „Denn das
Wort Jahves ward für mich zum Schimpf und zur Verspottung allezeit. Dachte
ich: ich will seiner (Gottes) nicht gedenken und nicht mehr in seinem Namen reden,
aber da war es in meinem Herzen wie Feuer, das glühte verhalten in meinen
Gebeinen; ich mühte mich ab, es auszuhalten, aber ich vermochte es nicht“
(20, 8—9). Nirgends tritt so lebendig wie hier die erhabene Schönheit der Seele
3i4
§ 63. Der Aufstand und der Fall Jerusalems
Jeremia wuchs zu stürmischem Protest, und die Würdenträger er-
klärten dem König: „Laß doch diesen Mann töten! Er macht doch
nur die Kriegsleute mutlos, indem er solche Reden gegen sie führt.“
Der König antwortete: „Er ist in eurer Gewalt! Denn der König
vermag ja nichts gegen euch.“ Auf Befehl der Würdenträger wurde
Jeremia in eine Tongrube geworfen. Dies wäre sein sicherer Tod
gewesen, wenn sich nicht einer der königlichen Sklaven, der Äthio-
pier Ebed-melech, seiner erbarmt hätte. Dieser Sklave berichtete
dem König von der Jeremia drohenden Gefahr; mit Genehmigung
des Königs wurde er an Stricken aus der Grube herausgezogen und
von neuem in dem Gebäude der Palastwache unter gebracht.
In Jerusalem steigerte sich inzwischen die Bedrängnis von Tag
zu Tag. Der Brotvorrat in der von Menschen überfüllten Hauptstadt
war bald erschöpft; die Hungersnot setzte ein. Die Krieger auf den
Festungsmauern fielen unter den feindlichen Pfeilen, und in den
Häusern und Straßen Jerusalems starben die Leute an Auszehrung
und Krankheiten. Männer und Frauen wanderten wie Schatten durch
die Straßen und fielen oft erschöpft zur Erde, Kinder riefen wei-
nend nach Brot. Die ermatteten judäischen Krieger vermochten die
Festungsmauern nicht mit dem gleichen Mute zu verteidigen, den
sie im Anfang an den Tag gelegt hatten. Schließlich gelang es den
babylonischen Kriegern am 9. Tage des Tammus (Juni) des Jahres
586, eine Bresche in die Stadtmauer zu legen und in die Stadt
einzudringen. Nun kommt es zu einer furchtbaren Metzelei. Die
ergrimmten Babylonier töten auf ihrem Wege alle Judäer und er-
barmen sich auch der Frauen und Kinder nicht. Gleichzeitig mit
den babylonischen Truppen drangen auch Räuberhorden der Edo-
miter, der ehemaligen Vasallen Judas, die sich den Babyloniern
angeschlossen hatten, mordend und sengend in die Stadt ein. Der
König Zedekia und einige seiner Würdenträger, von einem Teile
der Truppen begleitet, flohen nachts aus der Hauptstadt in der
Richtung nach dem Jordan. Bei Jericho wurde er aber von babylo-
nischer Reiterei eingeholt. Man brachte Zedekia und seine Söhne
nach Ribla in das Hauptquartier Nebukadrezzars. Der babylonische
zutage, die, von dem Feuer der Wahrheit ergriffen, in ihren Flammen aufgeht,.
Hier liegt einer der prägnantesten Züge der Prophetie und ihres apostolischen
Heldenmuts.
3i5
Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda
König bestrafte seinen treubrüchigen Vasallen in grausamer Weise.
Er ließ die Söhne Zedekias vor den Augen des Vaters hinschlachten,
hernach ihn selbst blenden und in Ketten nach Babylon bringen.
Allein der Grimm des Siegers war dadurch noch lange nicht
gestillt. Er sandte den Oberbefehlshaber seiner Garde, Nebusaradan,
nach Jerusalem mit dem Befehl, die Stadt endgültig zu zerstören.
Der grimmige Heerführer kam nach Jerusalem, nahm alle noch
übriggebliebenen Kostbarkeiten des Jerusalemer Tempels, alle die
kostbaren Geräte und Verzierungen weg und sandte sie als Kriegs-
beute nach Babylon. Zwischen dem 7. und dem 10. Tage des
Monats Ab (etwa im Juli) brannte er den prächtigen, noch aus
Salomos Zeiten stammenden Tempel sowie den königlichen Palast
und andere Prachtgebäude nieder, zerstörte die Festungsmauern
Jerusalems und führte viele Einwohner in die Gefangenschaft ab.
Den Oberpriester des Jerusalemer Tempels, Sera ja, den Priester
Zephanja und die höchsten Würdenträger, sechzig an der Zahl,
ließ er nach Ribla bringen, wo sie in Gegenwart Nebukadrezzars
hingerichtet wurden. Die übrigen judäischen Gefangenen wurden
nach Babylon gebracht. Jerusalem wird leer, nur in der Umgegend
bleiben arme Winzer zurück.
Der von dem Feinde in dem Gebäude der Palastwache auf-
gefundene Prophet Jeremia geriet zunächst auch in die Gefangen-
schaft; später wurde er aber auf Befehl Nebukadrezzars befreit, da
es bekannt wurde, daß er stets Unterwerfung unter den babyloni-
schen König gepredigt hatte. Jedoch machte die eigene Errettung
dem ganz im Gefühl für das leidende Vaterland auf gehenden Pro-
pheten keine Freude. Er stand auf den Ruinen Jerusalems, das er
durch seinen Aufruf zur Unterwerfung vergeblich zu retten ver-
sucht hatte, und beweinte den Untergang des Vaterlandes. So lebt
der trauernde Prophet in der Vorstellung des Volkes fort, das ihm in
seiner Überliefurng jene erschütternden Trauergesänge oder „Jere-
miaden“ in den Mund legte, in denen ein unbekannter Dichter den
Fall Jerusalems und die Zerstreuung seiner Einwohner beklagt1).
In diesen fünf Elegien, die bis auf den heutigen Tag in den
x) KinoEh, Ejcha, die „Klagelieder Jeremias“ im biblischen Kanon. Ein Teil
der Elegien ist, wie es scheint, in der babylonischen Gefangenschaft gedichtet;
es ist indessen nicht ausgeschlossen, daß einige Teile der Klagelieder von dem
„klagenden Propheten“ selbst, Yon Jeremia, herrühren.
3i6
§ 64. Der Statthalter Gedalja; Auswanderung nach Ägypten
Synagogen am Jahrestage der Zerstörung Jerusalems (9. Ab) ge-
lesen werden, ertönt das Wehklagen der zusammengebrochenen
Nation an dem Grabe ihrer Freiheit. Historische Bedeutung haben
jene Abschnitte, in denen die Schrecken der Zerstörung Jerusalems
geschildert werden:
„Ach, wie liegt einsam die Stadt, einst reich an Volk, ist worden
eine Witwe, die einst groß unter den Völkern; bitterlich weint sie
des Nachts, Tränen auf der Wange; keiner ist da, der sie tröste,
unter allen ihren Buhlen; all ihre Freunde sind ihr untreu geworden,
zu Feinden ihr. . . . Geschwunden ist aus der Tochter Zion all ihr
Glanz. . . . König und Beamte weilen unter den Heiden, auch die
Propheten empfangen nicht mehr Offenbarung von Jahve. Es sitzen
am Boden schweigend die Ältesten der Tochter Zion, haben Staub
auf ihr Haupt gestreut, sich mit Sack umgürtet; es haben tief das
Haupt gesenkt die Jungfrauen Jerusalems. Zerflossen sind in Tränen
meine Augen, es glüht mein Inneres ob des Zusammenbruchs der
Tochter meines Volkes, da verschmachten mußten Kind und Säug-
ling auf den Straßen der Stadt. Ihren Müttern riefen sie zu: Wo
ist Brot? da sie verschmachteten wie Todes wunde auf den Straßen
der Stadt, da sie aushauchten ihre Seele am Busen ihrer Mütter. . . .
Sieh her, Jahve, und schaue darein, wem hast du solches getan?“
§ 64. Der Statthalter Gedalja; Auswanderung nach Ägypten
Nach der Zerstörung Jerusalems und der zweimaligen Ver-
bannung der vornehmen und reichen Judäer nach Babylonien
blieben in Juda fast nur gemeine Leute zurück: Ackerbauer und
Winzer. Nebukadrezzar, der das eroberte Land nicht völlig zu-
grunde richten wollte, beließ den zurückgebliebenen Landleuten
ihren Grundbesitz, damit sie ihn bearbeiten und so das Land vor
Verödung bewahren sollten. Zum Regenten über diese friedliche
werktätige Bevölkerung wurde Gedalja eingesetzt, der Sohn jenes
Würdenträgers Ahikam, der ehemals Jeremia vor den Ränken seiner
Freunde gerettet hatte. Gedalja, ein Freund und Gesinnungsgenosse
Jeremias, gehörte der Partei an, die sich in die babylonische Ober-
hoheit als in ein unabwendbares Verhängnis fügte, und dies war
auch der Grund, warum Nebukadrezzar gerade ihn zum Statthalter
in Juda eingesetzt hatte. Dem Propheten Jeremia ließ Nebukadrezzar
die Wahl: entweder nach Babylon zu gehen und dort unter dem
persönlichen Schutze des Königs zu leben oder in Juda zu bleiben
3i7
Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda
und Gedalja als Ratgeber bei der Verwaltung des Landes zur Seite
zu stehen. Jeremia wies die Ehrenbezeugungen ab, die ihm der
Feind seines Volkes zuteil werden lassen wollte; er zog es vor, in
seinem Vaterlande zu bleiben, das ihm auch enthauptet, wie es nach
der Zerstörung seiner Hauptstadt war, nicht minder teuer blieb.
Da Jerusalem völlig zerstört war, wählte Gedalja die Stadt
Mizpa, nördlich von Jerusalem, zu seiner Residenz. Hier gedachte
der Statthalter ein neues religiöses und administratives Zentrum für
den Rest der Nation zu begründen. In der benjamitischen Stadt,
wo der erste israelitische König Saul gewählt worden war, fand
auch die schwache judäische Regierung nach dem Untergange des
letzten Königs Unterkunft. Von Gedalja verwaltet, begann das Land
sich von den erlittenen Schlägen ein wenig zu erholen. Die vor dem
Feinde geflohenen Landbewohner kehrten in ihre Siedlungen zurück
und gingen von neuem an die Bearbeitung ihrer Scholle. Frei-
schärlertrupps, die sich in den Bergen verborgen gehalten und sich
den Babyloniern nicht hatten ergeben wollen, kamen zu Gedalja,
gelobten, fürderhin ein friedliches Leben zu führen, und erhielten
die von den Verbannten verlassenen Grundstücke. Unter diesen
heimgekehrten Freischärlertrupps befand sich auch eine größere
Kriegerschar, an deren Spitze ein tapferer Kämpfer für die nationale
Sache, Jochanan ben Koreach, stand. Auch die während des Krieges
nach Moab, Ammon und anderen Nachbarländern geflohenen Judäer
kehrten wieder in ihre Heimat zurück.
Jedoch nicht alle nach Mizpa gekommenen judäischen Krieger
hatten sich mit dem Statthalter des babylonischen Königs aufrichtig
versöhnt. Unter den Heerführern befand sich auch ein Prinz aus
dem Geschlechte Davids, namens Ismael ben Natanja. Aus persön-
lichem Neide gegen den dem Hause Davids fremden Statthalter oder
vielleicht vom Bestreben geleitet, einen neuen Volksaufstand herbei-
zuführen, faßte der Prinz den Gedanken, Gedalja umzubringen. Zu
diesem Verbrechen stiftete Ismael der ammonitische König Baalis
an, bei dem sich dieser nach dem unglücklichen Ausgang des Un-
abhängigkeitskrieges verborgen gehalten hatte. An der Verschwörung
waren auch einige Freunde Ismaels, ehemalige Jerusalemer Hofleute
und Würdenträger, beteiligt. Jochanan ben Koreach warnte Gedalja
vor dem gefährlichen Anschlag Ismaels; allein der Statthalter ver-
traute auf die Gesinnung des Prinzen, der versprochen hatte, sich
3i8
§ 6U. Der Statthalter Gedalja; Auswanderung nach Ägypten
der neuen Ordnung zu fügen, und sah daher von allen Schutz-
maßnahmen ab. Als nun Gedalja einmal aus Anlaß eines Volks-
festes ein großes Festmahl in Mizpa veranstaltete, zu dem auch
lsmael und seine Freunde geladen waren, griffen die Verschwörer
plötzlich zu ihren Schwertern und ermordeten Gedalja sowie viele
der Gäste, unter denen sich auch Babylonier befanden. Um das
Zentrum in Mizpa zu zerstören, zwangen sie die dort ansässig ge-
wordenen Judäer (unter denen auch die Töchter Zedekias waren,
die dort nach der Zerstörung Jerusalems unter der Vormundschaft
Gedaljas lebten), die Stadt zu verlassen, und begaben sich mit ihnen
zum Jordan, um das Ammoniterland zu erreichen. Inzwischen setzte
der Freund Gedaljas, Jochanan ben Koreach, der Schar Ismaels
mit einem Heertrupp nach und holte sie bei Gibeon ein. Jochanan
gelang es, die von lsmael mitgeschleppten Leute zu befreien. lsmael
selbst aber entfloh mit einigen seiner Genossen in das Ammoniter-
land x).
Jochanan, seine Kriegskameraden und die bei ihnen gebliebenen
Leute befanden sich in einer verzweifelten Lage. Sie befürchteten,
daß Nebukadrezzar, von der Ermordung seines Statthalters in Kennt-
nis gesetzt, an allen in Mizpa verbliebenen Judäern Rache üben und
das Land von neuem verheeren würde. Darum beschlossen sie, nach
Ägypten auszuwandern und beim ehemaligen Verbündeten Judas,
bei dem Pharao Hofra, Schutz zu suchen. Allein bevor sie diesen
Plan ausführten, wandten sie sich an Jeremia mit der Bitte um
eine prophetische Weisung und um Rat. Jeremia befürchtete, daß
mit dem Fortzug der Schar Jochanaans Juda seiner letzten zur
Verwaltung des Landes befähigten und geschulten Bürger verlustig
gehen würde, so daß das Volk dann gänzlich der Verwilderung
anheimfallen müßte. Darum war er mit Aufbietung aller Kräfte
1) Das Datum der Ermordung Gedaljas ist nicht mit Genauigkeit festzustellen.
In den Quellen (Jer. 4i> i und II. Kön. 25, 2Ö) wird nur der „siebente Monat“,
d. i. Tischri, erwähnt, den manche Geschichtsschreiber (Kittel u. a.) in das Jahr
der Zerstörung Jerusalems verlegen, die im fünften Monat, im Ab des Jahres
586 erfolgte. Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß die Verwaltung des Landes
durch Gedalja, die die Errichtung eines neuen Zentrums in Mizpa mit sich
brachte, nur zwei Monate gedauert hat. Viel eher ist anzunehmen, daß die Er-
mordung Gedaljas drei bis vier Jahre nach der Zerstörung Jerusalems (582) er-
folgte und die dritte Verbannung der judäischen Gefangenen nach Babylonien,
wovon weiter die Rede ist, zu ihrer unmittelbaren Folge hatte.
319
Die Oberhoheit Babyloniens und der Untergang des Reiches Juda
bestrebt, Jochanan und sein Gefolge in der Heimat zurückzuhalten.
Er verkündete, daß Gott ihnen verbiete, nach Ägypten zu ziehen:
„Wenn ihr dorthin zieht — sprach er — so soll das Schwert, vor
dem ihr euch fürchtet, euch dort erreichen in Ägypten, und der
Hunger, vor dem euch bangt, wird euch dort verfolgen, und dort
sollt ihr umkommen.“ Allein Jochanan und seine Gesinnungs-
genossen hörten nicht auf die Mahnungen des Propheten. Die
Übersiedlung in die Fremde zogen sie dem armseligen Dasein in
der Heimat vor, nahmen viele Familien aus Mizpa und anderen
Ortschaften mit sich und begaben sich nach Ägypten. Jeremia und
sein Jünger Baruch sahen sich gezwungen, ihnen zu folgen.
So kehrte eine Schar Judäer in jenes Land zurück, aus dem vor
rund siebenhundert Jahren ihre befreiten Vorfahren als Nomaden
ausgezogen waren und von dem sie ihre Schritte gen Kanaan
wandten. Der ägyptische Pharao wies den Einwanderern die an
dem aus Ägypten nach Syrien und Palästina führenden Karawanen-
wege gelegene Stadt Taphnis oder Daphne (Tachpanches) als Wohn-
stätte zu. Auch in Memphis und in anderen ägyptischen Städten
lebten Judäer, die schon früher, zur Zeit der Kriege mit Assyrien
und Babylonien, dorthin übersiedelt waren. Alle diese Auswanderer
hegten die Hoffnung, daß die Ägypter die Oberherrschaft Nebu-
kadrezzars in Palästina niederwerfen und den Judäern ihre Heimat
wiedergeben würden. Zwischen den Einheimischen und den judäi-
schen Flüchtlingen herrschten anscheinend freundschaftliche Be-
ziehungen. Ein Teil der Emigranten nahm ägyptische Sitten und
Glaubensformen an, unter anderem auch den einheimischen Kultus
der „Himmelskönigin“ Isis, der dem in Juda erst vor kurzem ge-
pflegten assyrischen Istarkultus, dem sich besonders die Frauen er-
geben hatten, nahe verwandt war. Jeremia tadelte in schärfster
Weise diese Abtrünnigen, die auch die schwersten Leiden nicht
gebessert hatten. Bis zu seinem Lebensende hörte der vielgeprüfte
Prophet nicht auf, seine Brüder zu belehren und ihnen den wahren
Weg zu weisen. Die schweren Heimsuchungen würden — so meinte
er — die judäische Nation läutern und veredeln, so daß sich Gott
endlich des überallhin verstreuten judäischen Volkes erbarmen und
es in seine Heimat zurückführen werde. Jeremia erlebte dies©
bessere Zeit, von der er prophezeite, nicht mehr: er starb in Ägypten.
Die hier begründete judäische Kolonie bestand noch lange Zeit fort
320
§ 64. Der Statthalter Gedalja; Auswanderung nach Ägypten
und bildete den Kern des künftigen Diaspora Zentrums an den Ufern
des Nil1).
Die Zustände in Juda verschlimmerten sich inzwischen zusehends.
Nach der Ermordung Gedaljas sandte der erzürnte Nebukadrezzar
von neuem seinen Heerführer Nebusaradan in das judäische Land,
und dieser führte noch einige hundert judäische Familien in die
babylonische Gefangenschaft ab (582 1 2)). Infolge der Auswanderung
und der Verbannungen war Juda an vielen Orten des größten Teiles
seiner Bevölkerung beraubt. Manche Gegenden waren gänzlich ver-
ödet; einen besonders düsteren Anblick bot das noch vor kurzem
blühende, verkehrsreiche Jerusalem. Sowohl die Nation als auch
das Land waren enthauptet: das Haupt der Nation, die Aristokratie
des Geistes und des Blutes, war nach Babylonien verschlagen; die
Hauptstadt Judas lag in Trümmern; der eine ihrer großen Pro-
pheten lag in Ägypten im Sterben, der andere schmachtete im
babylonischen Exil. Aber auch diese fürchterliche Operation, die die
Geschichte an Haupt und Gliedern des judäischen Volkes vornahm,
richtete es nicht zugrunde. Noch steht der Prozeß des Zusammen-
wachsens des in Stücke geschlagenen Körpers bevor, noch sollen die
zerstreuten Gebeine wieder zu einem Ganzen werden. Und auf die
Frage des Propheten des Exils: „Werden wohl diese Gebeine wieder
lebendig werden?“ wird ihm die Antwort der Geschichte zuteil:
Ja, so soll es sein!
1) Den neuesten Entdeckungen zufolge (s. unten,, S 80), bestand die judäische
Kolonie in Ägypten noch im V. Jahrhundert vor der christlichen Ära, d. i. hun-
dert Jahre vor der Entstehung des großen Diasporazentrums im hellenisierten
Ägypten.
2) ,,Im 23. Jahre der Regierung Nebukadrezzars“ (Jerem. Ö2, 3o), was dem
Jahre 582 entspricht.
32 I
21 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
Das babylonische Exil
und die persische Herrschaft
(586—332 vor der christlichen Ära)
§ 65. Allgemeine Übersicht
Der Fall des judäischen Reiches machte der Jugendperiode des
hebräischen Volkes ein Ende. Diese Epoche begann mit dem Einzug
der nomadisierenden „Kinder Israels“ in Kanaan und endete mit
ihrer Verschleppung in die babylonische Gefangenschaft. Zwischen
diesen zwei Zeitpunkten liegt eine siebenhundertjährige Epoche, die
von großen Ereignissen im politischen und geistigen Leben der
Nation ausgefüllt war. Es wurde das Landgebiet auf den beiden
Ufern des Jordan erobert, zwischen den zwei Weltmächten Meso-
potamien und Ägypten; die dort ansässig gewordenen Gruppen der
„Israeliten“ verschmolzen allmählich zu einem einheitlichen Volke;
wie ein glänzender Meteor flammt die Epoche der ersten Könige
der Gesamtnation auf; aber gleich darauf spaltet sich das vereinigte
Reich in zwei Teile; immer schärfer wird der politische und kul-
turelle Kampf inner- und außerhalb des israelitisch-judäischen
Reiches; es ertönen die unsterblichen Reden der Propheten, die die
Seele des alten Judaismus schaffen; der herbeieilende Gebieter
Asiens, Assyrien, verschlingt das nordisraelitische Reich mit einem
großen Teil seiner Bevölkerung, und anderthalb Jahrhunderte später
verwüstet sein Nachfolger, Babylonien, das südliche Reich Juda, zer-
streut und vertreibt die Blüte des Volkes. An den Flüssen Babylons,
der Wiege des Semitentums, beweinen die Gefangenen die dahin-
geschwundene Jugendherrlichkeit der Nation. Der geschichtliche
Kreis schließt sich nun: die Nachkommen der sagenhaften
Generationen Abrahams und Moses', die im Morgengrauen der
Geschichte die Ufer des Euphrat und Nil verlassen hatten, kehren
nun an die Ufer dieser Flüsse zurück, die einen als Gefangene
und Verbannte, die anderen als freiwillige Auswanderer. So ent-
stand die jüdische Diaspora, eine neue Form des ehemaligen
Nomadendaseins.
325
Das babylonische Exil
Unter schweren Erschütterungen vollzog sich der Übergang der
Nation von ihrer Jugendzeit in das reifere Alter. Das fünfzigjährige
babylonische Exil (586—53j) war gleichsam die Reifeprüfung, der
die judäische Nation von der Geschichte unterzogen wurde. Eine
ähnliche Prüfung hatte im VIII. Jahrhundert das „Israel“ des sama-
ritischen Reiches abzulegen, bestand sie aber nicht und ging zum
größten Teil in der assyrischen Flut unter. Das judäische Volk
dagegen bestand die schwere Prüfung und bewies, daß es Organis-
men gibt, die unter den Schlägen der Geschichte nicht zerschellen,
sondern nur noch fester geschmiedet werden. Die Judäer bewahrten
auch in der Diaspora ihre national-religiöse Einheit, und bald
erlebten sie, wenn auch in geschmälerter Form, eine politische
Wiedergeburt. Der judäische Teil der Nation entging dem Los des
nordisraelitischen dank seiner größeren national-geistigen Stand-
haftigkeit, die auf dem Wege einer langwierigen, eigenartigen
Evolution, bei dauernder Einheit der Dynastie und des religiösen
Zentrums, gereift war. Auch spielte hier die Verschiedenheit der
Methoden eine Rolle, die von den Assyrern bei der Deportation und
Zwangsansiedlung der Bewohner des nördlichen Reichs einerseits
und von den Babyloniern bei der Bevölkerung des südlichen Reichs
andrerseits angewandt wurden. Sargon führte die zwiefache Form
der Ansiedlung durch, indem er die Einwohner Samariens in ferne
Provinzen seines Reiches brachte und im Austausch Einwohner
dieser Provinzen nach Samarien bringen ließ. Nebukadrezzar da-
gegen begnügte sich mit einer einseitigen Ansiedlung, mit der Ver-
bannung der Einwohner Jerusalems nach Babylonien, ohne Juda
mit Fremden zu besiedeln. Eine zwiefache Umsiedlung mußte die
nationale Eigenart notwendigerweise in viel höherem Maße beein-
trächtigen als eine einfache. Daher auch, abgesehen von der
größeren geistigen Konsolidierung der Judäer, der verschiedene
Ausgang der beiden Krisen.
Nicht in dem von Nebukadrezzar verheerten, nunmehr haupt-
sächlich von armen Landleuten bevölkerten Juda, sondern im „Lande
des Exils“, in Babylonien, wohin die Aristokratie des Geistes und
der Abstammung verschlagen worden war, vollzog sich zunächst
jener Prozeß der geistigen Erneuerung, der die Nation nach dem
Untergänge des Staates rettete. Von ihrer Heimat losgerissen und
doch durch gemeinsames Gefühl, gemeinsamen Glauben, gleiche
326
§ 65. Allgemeine Übersicht
Sitten und Zukunftshoffnungen geeint, erfaßten die judäischen Exu-
lanten zum erstenmal die ganze Tiefe der Gedankenwelt ihrer Pro-
pheten und begriffen, daß die Hauptmacht der Nation nicht so
sehr in ihrer Waffenrüstung, nicht einmal in Staat und Territorium
liegt, als vielmehr in geistiger Einigkeit. Sie vermischten sich mit
den Einheimischen nicht und bewahrten treu die Eigenart ihrer
Kultur. So lebten sie an den Ufern des Euphrat wie eine fest zu-
sammenhaltende Familie. In der Fremde gewann der nationale
Selbsterhaltungstrieb an Kraft und es herrschte unter den Ge-
fangenen Babyloniens viel größere Eintracht als früher unter den
freien Bürgern Jerusalems. Der Urquell des geistigen Schaffens,
weit davon entfernt, im Exil zu versiegen, sprudelt hier nur noch
lebhafter. Der Prophet des babylonischen Exils, Jeheskel, und der
Verkünder der Wiedergeburt, „Jesaja II“ (Deuterojesaja), schaffen
Werke, die mit zu den bedeutsamsten des prophetischen Schrifttums
gehören. In den Reden des ersten fand die große Sehnsucht der
ersten Generation der Exulanten ihren vollkommenen Ausdruck,
während in den Reden des andern bereits der zuversichtliche, hoff-
nungsfrohe Ruf zum Wiederaufbau des heimatlichen Landes und
zur geistigen Erneuerung des Lebens ertönt.
Die Wiedergeburt Judas konnte aber erst nach dem Untergange
Babyloniens zur Tatsache werden. Auch die zweite Weltmacht, die
das Erbe Assyriens angetreten hatte, fiel, und die Hegemonie im
Orient ging nunmehr an Persien über, zu dessen Größe der ge-
waltige Eroberer Kyros den ersten Grundstein legte. Die neu-
entstandene Monarchie bezog nun ihrerseits Juda in ihren Herr-
schaftsbereich ein, allein auf andere Weise als dies ehedem ihre
beiden Vorgänger, Assyrien und Babylonien, getan hatten. Gleich
zu Anfang schon erschienen die Perser den Judäern nicht als
Unterjocher, sondern als Befreier. Dem neuen Gebieter Asiens,
Kyros, fiel mit der babylonischen Erbschaft auch das gänzlich
verödete Juda zu, das seiner wertvollsten Bevölkerungsschicht be-
raubt und teilweise von den Nachbarvölkerschaften in Besitz ge-
nommen war. In großzügiger Weise gab er den zerstreuten Judäern
die Möglichkeit, heimzukehren und ihr Land als eine autonome
persische Provinz wieder aufzubauen. Ein Teil der Vertriebenen
machte sich diese Gelegenheit unverzüglich zunutze, der andere Teil,
der auch fernerhin in Babylonien und Persien verblieb, unterhielt
Das babylonische Exil
die lebhaftesten Beziehungen zu seinem Heimatlande und schickte
von Zeit zu Zeit neue Ansiedlerscharen dorthin.
So bedeutete die persische Herrschaft für die Judäer von An-
fang an die Befreiung des Vaterlandes Und die Wiedergeburt der
Nation. Die Rückkehr zum politischen Leben erfolgte allerdings
durchaus nicht in vollem Maße: Judäax) war nicht wieder ein
unabhängiger Staat mit einer nationalen Dynastie an der Spitze
geworden, sondern verwandelte sich in eine theokratische Republik,
die zu einer der persischen Satrapien (Syrien) gehörte. Allein diese
politische Abhängigkeit lastete nicht übermäßig schwer auf dem
Lande, das sich einer ausgedehnten inneren Selbstverwaltung er-
freute. Durch die persische Oberhoheit bis zu einem gewissen Grade
seiner politischen Freiheit beraubt, war das judäische Volk jedoch
gerade dadurch auch der Sorgen um den Schutz des Landes vor
äußeren Feinden enthoben. Lange Zeit hindurch konnte nun Judäa
das Militärregime entbehren, das früher in dem Schutzbedürfnisse
des kleinen Landes seinen Grund gehabt hatte, und die auf diese
Weise frei gewordene Volksenergie durfte sich in vollem Maße der
friedlichen Kulturarbeit zuwenden.
Das erste Jahrhundert der persischen Herrschaft kann das „Jahr-
hundert der Restauration“ genannt werden. Zunächst wird das
menschenleere Zentrum des Landes, Jerusalem und seine Umgegend,
besiedelt, die zerstörten Häuser und der Tempel werden allmählich
wieder aufgebaut und neue Grundlagen der Selbstverwaltung ge-
schaffen. Diese erste Restauration, die mit den Namen Serubbabels
und Josuas im Zusammenhang steht, nahm etwa zwanzig Jahre
(537—516) in Anspruch. Ein halbes Jahrhundert später wurde
eine zweite Restauration notwendig, die eine Erweiterung und Be-
festigung des sozial-geistigen Aufbaues von Judäa zum Zwecke hatte
und mit den Namen Esras und Nehemias verbunden war (458 bis
420). Die Leiter der beiden Restaurationen waren Auswanderer aus
*■) Diese neue Bezeichnung tritt jetzt an Stelle der älteren territorialen Be-
zeichnung „Juda“, mit dessen Grenzen die Grenzen Judäas sich nur teilweise
deckten. Im Zusammenhang damit ist es auch üblich geworden, von nun an von
einer „jüdischen“ Geschichte als der Geschichte des „jüdischen“ Volkes zu
reden, dessen nationale Eigenart in dem Begriffe des „Judentums“ ihren Aus-
druck findet.
328
§ 65. Allgemeine Übersicht
Babylonien (Bne ha’golah), wo die judäische Kolonie von national-
religiösem Geiste tief durchdrungen war. Ihre aufgespeicherten
geistigen Kräfte flössen der Metropole immer wieder zu. Im zweiten
und letzten Jahrhundert der persischen Herrschaft (420—332) be-
festigte sich in Judäa endgültig die theohratische Selbstverwaltung,
die sowohl der politischen Lage des Volkes als auch dem Stande
seiner Kultur in jener Epoche entsprach.
Die Periode der persischen Heerschaft ist auch noch durch eine
andere schicksalsschwere Erscheinung gekennzeichnet: neben dem
Staatszentrum in Judäa bildet sich die Diaspora, ein Netz judäischer
Kolonien außerhalb Palästinas. An erster Stelle steht der Stamm-
vater der hebräischen Diaspora: Babylonien. Zwischen dieser Ko-
lonie und der Metropole entwickelt sich ein lebhafter Verkehr, der
eine gegenseitige kulturelle Beeinflussung zu seiner Grundlage hat.
Weniger bedeutend ist die judäische Kolonie in Ägypten, die um
die Zeit des Falles von Jerusalem von judäischen Auswanderern
begründet worden war, unter denen die mit dem Propheten Jeremia
Gekommenen eine hervorragende Stellung einnahmen (§ 64); jedoch
bestand auch in Ägypten, wie aus neuerdings aufgefundenen Papyris
zu ersehen ist, ein Brennpunkt jüdischer Kultur. Von nun ab
beginnt in der jüdischen Geschichte der sich über Jahrhunderte
hinziehende Dualismus von Judäa einerseits und der Diaspora
andrerseits.
In politischer Hinsicht ziemlich farblos, ist die Periode der
persischen Herrschaft auf dem Gebiete des geistigen Schaffens
jedoch äußerst fruchtbar. Die im babylonischen Exil immer mehr
zunehmende national-geistige Konsolidierung dauert fort und zeitigt
bedeutsame Ergebnisse. Der kritische Übergangspunkt vom Jüng-
lings- zum Mannesalter ist überwunden und es bricht nunmehr ein
Zeitalter gleichmäßiger, normaler Entwicklung an. Die religiös-
sittliche Weltanschauung des Volkes gelangt zu größerer Klarheit
und wird von fremdartigen Beimischungen frei. Die zeitweilige
Losgerissenheit vom Boden während des fünfzigjährigen Exils
untergrub die Macht des kanaanitischen Lokalkultes: den Baalismus
(§§ ii und 48). Der ehedem unter den Massen verbreitete relative
Monotheismus, der neben dem nationalen Jahvegotte die reale
Existenz anderer Stammgötter zuließ, machte nun einem absoluten
Monotheismus Platz, der Jahve als den einzigen Weltgott und das
Das babylonische Exil
jüdische Volk als seinen Auserwählten und Apostel anerkennt. Die
Propheten des babylonischen Exils (besonders Jesaja II) verbanden
mit diesem Ideenumschwung die Vorstellung von einer hohen
religiös-sittlichen Mission der Juden unter den anderen Völkern.
Allein die Wirklichkeit drängte diese Weltsendung in das Reich der
erhabenen Ideale zurück, deren Realisierungsmöglichkeiten noch in
ferner Zukunft liegen. Denn ehe das judäische Volk an die Auf-
klärung der ganzen übrigen Welt heranzutreten vermochte, mußte
es zunächst selbst als geistige Individualität festere Wurzeln fassen.
Hierzu bedurfte es aber der Abschließung gegenüber den anderen
Nationen, um einer Verschmelzung mit ihnen zu entgehen. Nach
einer schweren politischen Krise mußte es zu seiner Organisieruhg
sich einer strengen sozialen und religiösen Zucht unterwerfen, die
sein Aufgehen im Völkergemisch des Orients unmöglich machen
sollte. An Stelle der großen Schöpfer der Ideen traten nun die
praktischen Kulturförderer, die Priester und Schriftgelehrten. Die
Wirksamkeit Esras, Nehemias und ihrer Nachfolger bezweckte die
Einigung und Absonderung der Nation mit Hilfe der nationalen
Religion, der Kultur und alles dessen, was zusammengefaßt „Ju-
daismus*4 genannt wird. Dank der angestrengten Wirksamkeit dieser
Männer wurde die Thora die Verfassung Judäas.
Dabei sollte das Volk den Geboten der Priester und Gelehrten
nicht blind Folge leisten, sondern sich die Prinzipien des Judaismus
mit voller Bewußtheit zu eigen machen. Man begann die alten
Schriftwerke zu sammeln, sie umzuarbeiten und in systematische
Ordnung zu bringen sowie die Schriftkunde im Volke zu verbreiten.
Die früher angehäuften geistigen Schätze wurden zum Grundkapital
der Nation, das auch noch durch neue Geisteserzeugnisse vermehrt
wurde. Diese Neuschöpfungen wurden in alle Teile der Bibel,
namentlich aber in den dritten, unter dem Namen „Schriften“ oder
„Hagiographen“ (Ketubim) bekannten, eingefügt. Die durch die
letzten Rezensionen aus der babylonischen Exilzeit und durch die
des „Schriftgelehrten** Esra ergänzte Thora (Pentateuch) wird zur
Hauptquelle des Studiums der Schriftgelehrten und der Belehrung
für das Volk. Sie wird öffentlich in Volksversammlungen und in
den Synagogen vorgelesen. Die Bildung wird volkstümlich, das
nationale Selbstbewußtsein dringt in die breiten Volksmassen. Das
Volk erhält immer mehr die Prägung einer geistigen Nation, die
33o
§ 65. Allgemeine Übersicht
ihre kulturelle Selbständigkeit viel eher zu behaupten vermag als
die politische. Und gegen Schluß dieser Epoche der persischen
Herrschaft hatte die nationale Kultur des jüdischen Volkes schon
so feste und bestimmte Formen angenommen, daß sie bald darauf
sogar dem mächtigen Ansturm der hellenischen Kultur zu wider-
stehen vermochte, die mit dem Beginn der griechischen Herrschaft
in Vorderasien auch in Judäa eindrang.
33i
Erstes Kapitel
Das babylonische Exil
(586—537)
§ 66. Die judäischen Verbannten unter Nebukadrezzar
Die ersten judäischen Ansiedler in Babylonien waren jene vor-
nehmen Einwohner Jerusalems, die Nebukadrezzar gleichzeitig mit
dem abgesetzten König Jo jakin schon elf Jahre vor dem Fall der
judäischen Hauptstadt (597) nach seiner Residenz gebracht hatte.
Diese ersten Ansiedler glaubten, daß ihre Verbannung nur von
kurzer Dauer sein werde, und hofften, der Fremde bald den Rücken
kehren zu können. Die baldige Wiederkehr in die Heimat bedeutete
für sie indessen nicht nur eine tröstliche Hoffnung, sondern auch
ein praktisches Ziel, zu dessen Erreichung sie geheime Unterhand-
lungen mit ihren Freunden in Juda führten, um einen allgemeinen
Aufstand gegen Nebukadrezzar vorzubereiten (§ 62). Als dieser
Aufstand unter Zedekia tatsächlich ausbrach, schien es den Ver-
bannten, daß ihre Hoffnung auf die Befreiung des Vaterlandes von
dem babylonischen Joch bald in Erfüllung gehen werde. Sie hielten
sich ständig zur Heimkehr bereit und verzichteten darauf, im frem-
den Lande festen Fuß zu fassen. Sie lebten abgesondert, in enger
Gemeinschaft miteinander und ihre Gedanken weilten unausgesetzt
in der Heimat. Dieser Zustand gespannter Erwartung dauerte fort
bis zu dem verhängnisvollen Tage, da Jerusalem fiel (586). Die
Gefangenen erlebten eine schwere Enttäuschung: statt der Rück-
kehr in die Heimat war es ihnen beschieden, den neuen Zuzug
unglücklicher Verbannter von dort mitanzusehen. Neue zahlreiche
Gruppen von Verbannten kamen eine nach der anderen aus dem
verheerten Juda nach Babylonien. Der unglückliche König Zedekia,
den Nebukadrezzar in Ribla hatte blenden lassen, wurde in Ketten
332
§ 66. Die judäischen Verbannten unter Nebukadrezzar
nach Babylon gebracht und in den Kerker geworfen, in dem schon
der frühere König Jo jakin schmachtete. Die neuen Ankömmlinge
brachten traurige Kunde aus der verwüsteten Heimat. In den Herzen
erlosch jede Hoffnung auf eine baldige politische Wiedergeburt.
Nun aber kommt erst der nationale Selbsterhaltungstrieb zu
voller Entfaltung. Das gemeinsame Unglück schloß die Mitglieder
der verwaisten nationalen Familie enger aneinander und erhöhte
das Gefühl der geistigen Zusammengehörigkeit unter den Ver-
bannten. Durch den Zustrom neuer Ansiedler vergrößert, breiteten
sich die judäischen Kolonien in Babylonien zunächst in der Um-
gegend der alten Stadt Nippur aus, am Nebenfluß des Euphrat,
Kebar (nahar Kebar), wo schon die ersten Verbannten aus der
Jojakingruppe mitsamt dem Propheten Jeheskel Unterkunft ge-
funden hatten. Allein mit der Zeit vergrößerte sich die Kolonie
immer mehr, und viele von den Ansiedlern tauchten auch in der
Hauptstadt sowie an anderen Orten auf. Sich in ihr Geschick
fügend, begannen nun die Verbannten, den ihnen ehedem von
Jeremia erteilten Rat zu befolgen: sie bauten Häuser, legten Gärten
an, trieben Ackerbau; viele von ihnen beteiligten sich auch an
Handel und Gewerbe, die in Babylonien zu höherer Entfaltung
gelangt waren als in Juda1). Nebukadrezzar gewährte anscheinend
den Verbannten weitgehende Freiheit in der Wahl ihres Wohnortes
und ihrer Beschäftigungsart sowie in den Angelegenheiten der
inneren Selbstverwaltung. Daher war es ihnen möglich, sich nahe
voneinander niederzulassen und geschlossene Gemeinden zu gründen.
Die von den ersten Gefangenen angenommene Gewohnheit ab-
gesonderter Lebensführung machten sich auch die neuen Kolonisten
zu eigen. Es entstand eine eigenartige Gemeinde- und Sippen-
ordnung, die die verlorene Staatsorganisation ersetzen sollte. Die
Verbannten schlossen sich teilweise nach Geschlechtern, teilweise * V.
1) Von der lanclwirtschaftlichen Betätigung der Verbannten zeugen auch
die Namen der jüdischen Siedlungen: Tel-Abib („Ährenhügel“), Tel-Harscha
(„Acker-“ oder „Pflughügel“). Vgl. Ezechiel (Jeheskel) 3, 15; Esra 2, 59.
Auf die Beteiligung der Juden am babylonischen Handel weisen die bei den
Ausgrabungen in Nippur auf gefundenen Handelsurkunden aus dem VI. und
V. Jahrhundert vor der christlichen Ära hin, in denen eine Menge jüdischer
Namen Vorkommen. (Entdeckungen der amerikanischen Nippur-Expedition von
i8g3; vgl. unten, $ 79.)
333
Das babylonische Exil
nach Landsmannschaften zusammen. So gab es Gemeinden der
ehemaligen Bethlehemiten, Jerichoniten, Verbannter aus Rama, aus
Anatot und anderen judäischen Städten. Die Jerusalemer Ansiedler
zerfielen in Familiengruppen, deren jede sich von einem gemein-
samen Ahnherrn herleitete. Die genealogischen Register einer jeden
Gruppe wurden sorgfältig zusammengestellt und bei ihrem Ältesten
oder Repräsentanten aufbewahrt. Ein aus den Familienältesten
(Sekenim) gebildeter Rat verwaltete die Gemeindeangelegenheiten in
den Grenzen der den Gefangenen gewährten inneren Autonomie.
Wir haben Grund anzunehmen, daß den in Babylonien ent-
standenen jüdischen Gemeinden sich zu dieser Zeit auch die
noch in ihrer Sonderart verharrenden Nachkommen der Ver- )
triebenen aus dem nordisraelitischen Reiche anschlossen. Im
VIII. Jahrhundert tief in das Innere Assyriens verschlagen, verloren
sich viele Israeliten des nördlichen Reiches unter den einheimischen
Völkerschaften; ein Teil von ihnen aber, der sich in den früheren
babylonischen Provinzen Assyriens niedergelassen hatte, vermochte
seine Nationalität während des Zeitraums von i3o Jahren, bis zum
Auftauchen der judäischen Verbannten in Babylonien, aufrechtzu-
erhalten. Dieser unversehrt gebliebene Rest der altisraelitischen Na-
tion vereinigte sich mit den in seiner Nähe angesiedelten Stammes-
brüdern aus Juda. „Israel“ und „Juda“, die sich in der Heimat
gegenseitig befehdet hatten, näherten sich nun einander als Ver-
bannte in der Fremde und verschmolzen schließlich zu einer un-
teilbaren Einheit. Die Propheten jener Zeit erblickten in dieser
Tatsache den Beginn einer Wiedergeburt des zerstreuten Volkes und
prophezeiten die politische Vereinigung des „Geschlechtes Israel“
und des „Geschlechtes Juda“ in baldiger Zukunft (Buch Ezechiel
16, 53 ff.; 37, i6f.).
Die Gemeindeautonomie trat an Stelle der staatlichen Selbständig-
keit, und die Geschlechtsältesten versahen das Amt der Obersten. Im
selben Sinne mußte sich auch eine Änderung im religiösen Leben
vollziehen. Nach der Zerstörung Jerusalems und der Vernichtung
des Tempels wurde der offizielle Tempelkultus mit Opferdar-
bringungen sogar in Juda abgeschafft. In der Fremde konnte
man erst recht nicht daran denken, von dem Vieh oder den Acker-
erzeugnissen, die nicht dem Boden Kanaans entstammten, Jahve
Opfer darzubringen. Der Kultus der drei großen Jahreszeitfeste:
334
§ 66. Die judäischen Verbannten unter Nebukadrezzar
der Ährenreife, der Ernte und der Weinlese war mit dem land-
wirtschaftlichen Leben aufs engste verbunden und hatte außerhalb
Judas seine hauptsächliche Bedeutung eingebüßt. So kam es, daß
unter den Verbannten die Opferdarbringungen durch Andachts-
versammlungen ersetzt wurden und die Jahresfeste rein geschicht-
liche Bedeutung gewannen; sie wurden zu Gedenktagen der großen
Ereignisse der Vergangenheit: des Auszugs aus Ägypten und der
Wanderung in der Wüste. Von besonderer Wichtigkeit wurde der
bescheidene allwöchentliche Festtag, der Sabbat; er wurde zum ge-
heiligten Tag, zum nationalen Hauptfeiertag (Ezech. 20, 12 f.). Die
religiösen Versammlungen, die gewöhnlich am Sabbat veranstaltet
wurden, waren dem Gebet, dem Lesen der heiligen Bücher und
dem Anhören prophetischer Predigten geweiht. Die Betenden wandten
ihr Antlitz nach Westen, in der Richtung nach Jerusalem hin, als
ob sie im Geiste zu dem zerstörten Tempel hinübersähen. Vier Tage
im Jahr, die mit dem Andenken an den Untergang des Reiches ver-
bunden waren: die Jahrestage der Belagerung und der Einnahme
Jerusalems, der Zerstörung des Tempels und der Ermordung des
Statthalters Gedalja wurden zu Fast- und Trauertagen für das
gesamte Volk. Die religiösen Versammlungen förderten die geistige
Gesinnungsgemeinschaft aller Mitglieder der Gemeinde. Hier spra-
chen und lasen die Deportierten in ihrer eigenen Sprache; sie gaben
sich der Erinnerung an ihre ferne Heimat hin und horchten auf
die Reden ihrer Propheten, die in ihnen die Hoffnung auf eine
bessere Zukunft aufrechterhielten. Außer der Heiligung des Sabbats
als des Pflichtruhetages wurden auch noch andere für die Zu-
gehörigkeit zum Judentum bezeichnende Bräuche, wie z. B. die Be-
schneidung und die Speisegesetze, treu befolgt. Überhaupt waren
die Juden bestrebt, sich in ihrer Lebensweise von der sie umgeben-
den Bevölkerung möglichst abzusondern. In den religiösen Ver-
sammlungen der Exilzeit lag bereits der Keim zu der künftigen
Synagoge, die nach der Restauration eine so bedeutungsvolle Er-
gänzung zum Jerusalemer Tempel bilden sollte, während sich aus
der strengen Befolgung des eigenartigen Rituals ein Keim jener
späteren religiösen Zucht herausbildete, die dazu berufen war, an
die Stelle der Staatsgewalt zu treten.
Die entschwundene Heimat lebte in der Erinnerung der Ver-
bannten fort. Ihre heiße Sehnsucht nach dem Vaterlande ergoß
335
Das babylonische Exil
sich in rührenden Hymnen oder Psalmen, von denen einer für alle
Zeiten zum Hymnus der nationalen Trauer geworden ist (Psalm 187):
„An den Strömen Babels, da saßen wir,
Und wir weinten, wenn wir an Zion dachten.
An die Weiden im Lande hingen wir unsere Harfen.
Denn dort begehrten von uns, die uns gefangen hielten, Lieder, und die uns
geplündert, Fröhlichkeit:
,Singet uns eins von den Zionsliedern'!
Wie könnten wir singen das Lied Jahves auf fremdem Boden?
Wenn ich dein vergesse, Jerusalem, so schrumpfe meine Rechte!
Es klebe meine Zunge an meinem Gaumen, wenn ich dein nicht gedenke,
Wenn ich nicht Jerusalem zu meiner höchsten Freude mache.
Gedenke, Jahve, den Söhnen Edoms den Tag von Jerusalem,
Da sie schrieen: legt bloß, legt bloß bis in den Grund hinein.
Tochter Babels, du Verwüsterin, heil dem, der dir vergilt
Dein Tun, das du an uns getan!“
§ 67. Die Entwicklung des Schrifttums; der Prophet Jeheskel
Alle Kräfte des in seiner politischen Entwicklung gehemmten
Volkes wandten sich nun dem geistigen Schaffen zu. Aus ihrem
Vaterlande hatten die Verbannten Denkmäler des Schrifttums mit-
gebracht, die der Hand des Zerstörers entgangen waren. Es waren
dies die heiligen Bücher, die die ältesten Teile der Thora oder des
Pentateuch enthielten, Urkunden und prophetische Schriften (oben,
§§ 5o, 5i, 55, 58). Neben diesen Schriftdenkmälern gab es auch
viele mündliche Überlieferungen geschichtlichen und religiösen In-
halts, die in der Erinnerung der Priesterschaft und der sonstigen
geistigen Führer des Volkes fortlebten. Im Exil mußte ein be-
sonders mächtiges Verlangen sowohl nach dem Studium der aus
der Heimat mitgebrachten heiligen Bücher und Urkunden wach
werden (gehörte doch die Mehrzahl der Verbannten zu der ge-
bildeten Schicht) wie auch nach der Verewigung der mündlichen
Überlieferungen in Schriftdenkmälern, um sie so vor der Ver-
gessenheit zu bewahren. Durch das Lesen von Abschnitten aus
der Thora in den Andachtsversammlungen wurde dem einen Ver-
langen Genüge getan, während die zweite Aufgabe namentlich
der Priesterschaft zufiel. Nach der Zerstörung des Tempels und
der Übersiedlung in die Fremde ihrer Amtspflichten enthoben,
besaßen nun die schriftkundigen Priester Muße genug zur schrift-
lichen Bearbeitung der mündlichen Überlieferungen, die sie besser
336
§ 67. Die Entwicklung des Schrifttums; der Prophet Jeheskel
als die anderen kannten. Ein genialer Geschichtschreiber, der zu
jener Zeit lebte, arbeitete die alten Chroniken in eine pragmatische
Geschichte des jüdischen Volkes von der Eroberung Kanaans bis
zum babylonischen Exil um (die „Bücher der Richter, Samuelis und
der Könige“). Es war dies in der Weltliteratur der erste Versuch,
durch die Ausdeutung und Verallgemeinerung historischer Tatsachen
das Selbstbewußtsein des Volkes zu heben. Die ganze Vergangen-
heit der israelitischen Nation ist hier sinnreich in ein System ge-
bracht und von den hellen Strahlen der Prophetenlehre durchleuchtet,
ganz in der gleichen Weise, wie das vorhistorische Zeitalter und das
„Gesetz Moses“ ein halbes Jahrhundert früher im „Deuteronomium“
ihre Darstellung fanden. (Aus diesem Grunde wird auch die babylo-
nische Rezension der geschichtlichen Bücher die „deuteronomistische“
genannt.) Auch ist es wahrscheinlich, daß gleichfalls um diese Zeit
von den Priestern in Ergänzung der bereits abgefaßten Bücher des
Gesetzes jene Teile der Thora aufgezeichnet wurden, die sich un-
mittelbar auf den Tempelkult und das rituelle Zeremoniell über-
haupt beziehen und die bisher ein priesterliches Geheimnis bildeten
(besonders das dritte Buch des Pentateuch). Über den ältesten
Schichten des biblischen Schrifttums erhob sich so eine neue
Schicht. Der Beruf eines Gelehrten oder „Schriftgelehrten“ (Sofer)
gewann in dieser Epoche hervorragende Bedeutung. Damit setzt
jene intensive Entwicklung des hebräischen Schrifttums ein, die
den prägnantesten Zug der darauf folgenden „Epoche der Schrift-
gelehrten“ bildet.
Jedoch waren die judäischen Exulanten in nicht geringerem
Maße als für das geschriebene für das lebendige Wort der unter
ihnen weilenden Propheten zugänglich. Die Tatsache, daß die Pro-
phezeiung über das traurige Los Israels und Judas zur Wirklichkeit
geworden war, veranlaßte das Volk, auch den Worten der neuen
Propheten, der Nachfolger Jeremias, die nun das Joch des Exils
gemeinsam mit ihren Brüdern trugen, Glauben zu schenken. Der
älteste Prophet dieser Zeit war der einem vornehmen Priester-
geschlecht angehörende Jeheskel (Ezechiel) (§ 61). Er lebte am
Fluß oder Kanal Kebar unter jenen Gefangenen, die noch im
Jahre 597 mit Jo jakin zusammen verbannt worden waren. Von
der Heimat zu einer Zeit losgerissen, als Jerusalem und sein Tempel
noch nicht zerstört waren, gab sich jedoch Jeheskel, im Gegensatz
22 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
337
Das babylonische Exil
zu seinen Exilsgenossen, keiner trügerischen Hoffnung auf einen
Sieg Judas im Kampfe mit dem mächtigen Nebukadrezzar hin. In
der ersten Zeit nahm er unter den nach Babylonien verbannten
politischen Heißspornen dieselbe Stellung ein, die Jeremia unter
ihren Gesinnungsgenossen in Juda beschieden war. Daher haben
auch die ersten, aus dem zehnjährigen Zeitraum zwischen der Ge-
fangenschaft Jojakins und der Zerstörung Jerusalems stammenden
Reden Jeheskels den Charakter von Oppositions- und Strafreden
(Das Buch Ezechiel, Kap. 4—12, i4, 17, 21, 2 3). Es war wohl
kaum ein Zufall, daß Jeheskel seine erste Offenbarung „im fünften
Jahre nach der Wegführung des Königs Jo jakin“, d. i. im Jahre
593 oder 592, empfing, als man sich in Jerusalem und in Ba-
bylonien mit dem Plane eines Aufstandes gegen Nebukadrezzar trug
(§ 62). Nach der Überzeugung des Propheten bedeutete dies eine
Auflehnung gegen den göttlichen Ratschluß, und seine Mission er-
blickte er darin, dies „abtrünnige, widerspenstige Geschlecht“ (bet
ha’meri) strafend zur Rede zu stellen. In den Jahren, die dem
Falle Jerusalems vorangingen, bekämpfte der Prophet erbarmungslos
den Wahn der Deportierten und ihren festen Glauben an die Un-
antastbarkeit der heiligen Stadt und des Tempels; in immer neuen
Wendungen wiederholt er, daß Jerusalem bald zerstört sein würde,
Juda geknechtet und der König Zedekia mitsamt seinen Würden-
trägern in die Gefangenschaft geführt. Der von Zedekia begonnene
Aufstand war ihm durchaus keine nationale Heldentat, sondern
nichts weiter als ein Akt politischen Selbstmords, und in der Glut
des Jerusalemer Patriotismus sah er schon die verzehrenden Flam-
men des Scheiterhaufens voraus, denen Hauptstadt, Tempel, Dy-
nastie sowie der letzte Rest der Staatlichkeit zum Opfer fallen
sollten. Hart waren die Worte des Propheten: sie beraubten die
Judäer ihrer letzten Hoffnung auf baldige Befreiung, sie verhießen
lange Jahre des Exils und eine schwere Leidens- und Bußezeit1).
Als aber die Katastrophe hereinbrach, als die Kunde von dem Falle
Jerusalems die babylonischen Gefangenen in Verzweiflung versetzte,
da änderte sich sowohl Ton als auch Inhalt der Reden Jeheskels.
1) Aus einigen Kapiteln des Buches Ezechiel (Kap. il\ und 20) ist zu er-
sehen, daß manche von den Verbannten auch im Exil heidnischen, hier oder
noch in der Heimat angeeigneten Bräuchen anhingen und durch die Reden des
Propheten überführt wurden.
338
§ 67. Die Entwicklung des Schrifttums; der Prophet Jeheskel
Er hörte nun auf zu tadeln und zu drohen, vielmehr tröstete er seine
trauernden Brüder und suchte ihnen neuen Mut einzuflößen. Die
Vertreter des Unabhängigkeitsideals konnten sich das Fortbestehen
der zertrümmerten Nation ohne staatlich anerkannten Kultus und
ohne Tempel gar nicht vorstellen. Jeheskel bemühte sich nun, die
Gedanken der Verzweifelnden in neue Bahnen zu lenken: die öffent-
lichen religiösen Kulthandlungen sollten durch das Ideal religiös-
sittlicher Vervollkommnung der Persönlichkeit ersetzt werden; an
Stelle der Predigt von der kollektiven Sünde und deren Buße tritt
nun die Lehre von der individuellen Sünde und Reue; statt des
Prinzips der Gesamtbürgschaft der religiösen Gemeinde sucht er
dem Prinzip der persönlichen Verantwortung eines jeden für seine
Handlungen Geltung zu verschaffen. Oft hörte der Prophet ver-
zweiflungsvolle Geständnisse der Deportierten: „Fürwahr, unsere
Abtrünnigkeiten und unsere Sünden lasten auf uns und durch sie
schwinden wir dahin“; „Die Väter haben Herlinge gegessen, aber
den Kindern wurden die Zähne stumpf“. Darauf erwiderte ihnen
Jeheskel:
„Nur die Seele, welche sich vergeht, die soll sterben; ein Sohn
soll nicht die Schuld des Vaters mittragen, und ein Vater soll nicht
die Schuld des Sohnes mittragen; die Gerechtigkeit des Gerechten
soll auf ihm ruhen, und die Gottlosigkeit des Gottlosen soll auf
ihm ruhen. . . . Zeugt nun jemand einen Sohn, und er sieht alle
Vergehungen, die sein Vater beging, und handelt nicht ebenso, ißt
nicht auf den Bergen (Bamoth) und erhebt seine Augen nicht zu
den Götzen des Hauses Israel, verunreiniget nicht das Weib seines
Nächsten, nimmt kein Pfand weg und verübt keine Erpressung,
reicht sein Brot dem Hungrigen und bedeckt den Nackenden mit
einem Gewände; hält seine Hand fern von Frevel, nimmt keinen
Wuchervorteil und Zins und handelt nach Gottes Satzungen, ein
solcher soll nicht sterben wegen der Schuld seines Vaters. . . .
Wenn sich aber der Gottlose von allen seinen Sünden, die er
begangen hat, bekehrt und alle Satzungen Gottes beobachtet und
Recht und Gerechtigkeit übt, so soll er am Leben bleiben und nicht
sterben. . . . Habe ich denn wirklich Wohlgefallen am Tode des
Gottlosen, ist der Spruch des Herrn Jahve, nicht vielmehr daran,
daß er sich von seinem bösen Wandel bekehrt und am Leben
bleibt? . . . Werft ab von euch alle eure Missetaten und schafft
22*
339
Das babylonische Exil
euch ein neues Herz und einen neuen Geist; und warum wollt ihr
sterben, Haus Israel?“ (Buch Ezechiel, Kap. 18).
In der Predigt Jeheskels wird zum erstenmal das Prinzip des
Individualismus in der Religion begründet, ein Prinzip, das der
ursprünglichen israelitischen Weltanschauung, die sowohl jede
religiös gebotene Handlung als auch jede Verfehlung der Gesamt-
heit zurechnete, bisher gänzlich fremd war. Nicht die Gesellschaft,
sondern die Persönlichkeit erscheint Jeheskel als die letzte religiöse
Einheit. Dabei wird das soziale Moment nicht ignoriert, sondern
nur dem persönlichen Prinzip untergeordnet. Der gerechte Lebens-
wandel der Einzelnen hat die Wiedergeburt der Nation als deren Ge-
samtheit zur Folge, nicht umgekehrt. Die individuelle Vervollkomm-
nung führt zur nationalen, die ethische Kultur bildet die Grundlage
für eine höhere soziale Ordnung. In ihrer Gegensätzlichkeit zu den
früheren Anschauungen bedeutete die Predigt Jeheskels eine Tat
von historischer Tragweite: indem sie die Religion des Herzens von
der Religion des Tempels loslöste, rettete sie nach der Zerstörung
des Tempelkultes den persönlichen Glauben. Jedoch das Persönliche
gänzlich von dem Nationalen zu trennen, vermochte der Prophet des
Exils nicht. Oft hörte er um sich herum die Seufzer der Verzweifeln-
den, die die zerstückelte Nation mit einem Haufen zerstreuter und
vertrockneter Gebeine verglichen: „Unsere Gebeine sind verdorrt,
unsere Hoffnung ist geschwunden; es ist aus mit uns!“ In solchen
Augenblicken flammte in der Seele des Propheten von neuem ein
Funke der nationalen Begeisterung auf. Die gedrückte Stimmung
des Volkes und der zuversichtliche Glaube des Propheten finden
ihren Ausdruck in der wundervollen dichterischen Vision Jeheskels
von den toten Gebeinen (Kap. 37). Mitten in einem von Gebeinen
der Dahingeschiedenen erfüllten Felde ertönt die Frage: Werden
wohl diese Gebeine wieder lebendig werden? Und das Wunder
geschieht: dem Worte des Propheten gemäß kommen die Ge-
beine wieder zusammen, überziehen sich mit Fleisch und Haut, und
auch Odem kommt in die toten Leiber; .sie werden wieder lebendig
und „stellten sich auf ihre Füße — eine überaus große Schar!“
Da hörte der Prophet die Stimme Gottes: „Menschensohn, diese
Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe da, sie (die Gefangenen)
sprechen: Unsere Gebeine sind verdorrt, unsere Hoffnung ist ge-
schwunden; es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu
34o
§ 67. Die Entwicklung des Schrifttums; der Prophet Jeheshel
ihnen: So spricht der Herr Jahve: Siehe, nun will ich eure Gräber
öffnen und euch aus euren Gräbern heraufholen und euch ins Land
Israel bringen. . . . Alsdann will ich meinen Geist in euch geben,
daß ihr wieder lebendig werden sollt, und will euch in euer Land
versetzen, und ihr sollt erkennen, daß wie ich, Jahve, geredet habe,
so werde ich es vollführen/1
Jeheskel suchte seine Hörer zu überzeugen, daß diese ver-
heißungsvolle Zukunft nahen werde, sofern nur die Judäer ihre
Sünden im Exil büßen und den Drang nach geistiger Erneuerung
in sich erwecken würden. Die äußere Sühne müsse zur inneren
Wiedergeburt führen. „Ich werde euch aus den Völkern hinweg-
holen — so spricht Jahve durch den Mund des Propheten — und
euch aus allen den Ländern sammeln und euch in euer Land
bringen. Und ich werde reines Wasser über euch sprengen, daß
ihr rein werdet. Und ich werde euch ein neues Herz verleihen und
einen neuen Geist in euer Inneres legen; ich werde das steinerne
Herz aus eurem Leibe entfernen und euch ein Herz von Fleisch
verleihen. ... So sollt ihr denn wohnen bleiben in dem Lande,
das ich euren Vätern verliehen habe; ihr sollt mein Volk sein, und
ich will euer Gott sein. . . . Ich werde die Städte wieder bevölkern,
und sollen die Trümmer wieder aufgebaut werden. Und das ver-
ödete Land wird bestellt werden, und man wird sagen: Dieses Land,
das verödet war, ist wie der Garten Eden geworden, und die Städte,
die in Trümmern lagen und verödet und zerstört waren, sind wohl-
befestigt“ (Kap. 36, 2 4 ff.)'
Die Verschmelzung der Vertriebenen aus dem israelitischen
Reiche mit den judäischen Gefangenen (§ 66), die gerade zu dieser
Zeit eingesetzt hatte, beflügelte die Hoffnungen des Propheten und
gab ihm den Glauben an eine völlige Wiedervereinigung Ephraims
und Judas. Dieser Glaube fand seinen Ausdruck in der Parabel
von den zwei Bäumen. Der Baum Josephs und Ephraims wird von
neuem mit dem Baum Judas verwachsen, und es wird wieder ein
einheitliches Volk in dem geeinigten Lande erstehen, mit einem
König aus dem Geschlechte Davids an seiner Spitze (Kap. 37,
16—28). Der künftige Leiter des Staates wird als guter Hirt den
schlechten Hirten gegenübergestellt, die keine Sorge um ihre Herde
trugen und deren Zerstreuung keinen Einhalt taten, so daß sie
dem „Getiere des Feldes“ zur Beute fallen mußten. Zum obersten
34i
Das babylonische Exil
Hirten der erlösten Nation wird Gott selbst werden und seinen
Willen wird der Fürst aus dem Geschlechte Davids erfüllen
(Kap. 34).
Das in den Visionen Jeheskels neuerstandene judäische Reich
weist Züge einer strengen Theokratie auf. Es ist nicht so sehr ein
politisches wie ein religiöses Gemeinwesen. Jerusalem ist die künf-
tige geistige Hauptstadt, denn dort befindet sich der hehre Tempel.
In den späteren Prophezeiungen Jeheskels (um 572) ist ein aus-
führlicher Entwurf des künftigen Jerusalemer Tempels mit einer
Beschreibung seiner Bauart und seiner inneren Ausstattung ent-
halten. Im neuen Jerusalem wird dem künftigen Herrscher Judäas,
dem nur der bescheidene Titel eines „Fürsten“ (Nassi), nicht aber
der eines Königs, beigelegt wird, eine nicht fest umrissene Stellung
zwischen dem Volke und der Hierarchie der Priester aus dem Ge-
schlechte Zadoks eingeräumt. Tempel und regierende Priesterschaft
stehen im Mittelpunkt der von Jeheskel entworfenen Verfassung
des zu erneuernden Staates (Kap. 4o—48). Diese Grundgesetze
stimmen mit den Geboten des Deuteronomium und des „Priester-
kodex“ (Leviticus) überein und nehmen zum Teil die theokra tische
Verfassung des künftigen Judäa vorweg, in der der weltliche Herr-
scher des Staates und der geistige Hirte des Volkes in der Person
des Jerusalemer Hohepriesters tatsächlich vereint waren. In solchen
Idealen des Propheten ist der Einfluß seiner priesterlichen Ab-
stammung bemerkbar: am Ende seines Lebens scheint die kirchliche
Gesinnung über den Schwung seiner verinnerlichten Frömmigkeit
die Oberhand gewonnen zu haben.
Auch der Form nach unterscheiden sich die Reden Jeheskels von
denen seiner Vorgänger: sie haben zum Teil die Form von himm-
lischen (Mareoth Elohim, Kap. 1, 10 u. a.) oder irdischen Visionen
(so die erwähnte Vision von den toten Gebeinen), teilweise die von
Allegorien. In den Allegorien bedient sich Jeheskel der Vorführung
bestimmter Gegenstände (z. B. zweier Holzstücke mit den Inschriften
„Juda“ und „Ephraim“ in der Parabel von den zwei Bäumen) oder
gewisser symbolischer Handlungen (Kap. f\, 5, 12 u. a.). Auch das
messianische oder eschatologische Moment kommt oft in den Reden
Jeheskels, wenn auch in verschleierter Form, zum Ausdruck: so
spricht er von dem Jüngsten Gericht über Israel (der Läuterungsakt
in der „Wüste der Völker“, Kap. 20) sowie über alle anderen Völker
§ 68. Die Siege Kyros und die Hoffnungen der Judäer
(der Krieg Gog-Magogs, Kap. 38—39). Die Vorstellung von der
Zukunft erscheint hier in phantastischer Verhüllung, wie es auch
nicht anders sein konnte in einer Zeit, wo alles rings um den
Propheten in Nebel gehüllt war und nur eine beschwingte Phantasie
die Geister von der traurigen Wirklichkeit abzulenken vermochte.
§ 68. Die Siege Kyros und die Hoffnungen der Judäer
Die Regierung Nebukadrezzars dauerte über vierzig Jahre, bis
502. Unter ihm befestigte sich die Oberhoheit Babyloniens in
Vorderasien. Die Gewalt des am Erbe Assyriens gleichfalls be-
teiligten Medien erstreckte sich über Armenien und einen Teil
Kleinasiens; es war nun bestrebt, sich den Ausgang zum Ägäischen
Meer zu erzwingen. Hier trat ihm aber das reiche, halbgriechische
Lydien in den Weg, an dessen Grenzen alle Anstürme des medischen
Königs Kyaxares erfolglos zerschellten. Der alte Rivale der meso-
potamischen Monarchie, Ägypten, hielt schließlich Frieden, nach-
dem er von Nebukadrezzar mit aller Wucht zurückgeschlagen
worden war. In Palästina und dem größten Teil Syriens war
die babylonische Oberhoheit unbestritten; der ägyptische König
Amasis II. getraute sich nicht, sie anzutasten. Der babylonische
König hauste in diesen Ländern ganz nach seinem Belieben: aus
dem zerstörten Juda brachte er Leute, aus dem unterworfenen
Phönizien die besten Libanonzedern für seine Bauten. Die erhalten-
gebliebenen Inschriften Nebukadrezzars zeugen davon, daß er mehr
auf die Errichtung prächtiger Bauten in seinen zwei Residenzen,
Babylon und Borsippa, bedacht war als auf kriegerische Unter-
nehmungen. Er baute großartige Paläste, deren einer von märchen-
haften, auf hohen Dämmen angelegten „schwebenden Gärten“ um-
geben war. Auch wurden dicke Mauern und feste Schutzvorrichtungen
rings um Babylon aufgeführt. Die Pracht und Macht des gefallenen
Ninive schien in dieser neuen Hauptstadt Asiens am Ufer des Euphrat
neu erstanden zu sein. Wer mochte glauben, daß diese prunkvolle
Residenz schon in einigen Jahrzehnten einem Eroberer zur Beute
fallen und vom Los Ninives ereilt werden würde?
Bald nach dem Tode Nebukadrezzars setzten innere Wirren ein.
Sein Sohn Ewil-Merodach (Amel-Marduk) herrschte nur zwei Jahre
(562—60). In der Geschichte der Judäer ist diese kurze Regierung
343
Das babylonische Exil
durch ein freudiges Ereignis gekennzeichnet: Ewil-Merodach be-
freite den judäischen König Jo jakin aus dem Gefängnis in Babylon,
wo dieser 35 Jahre lang geschmachtet hatte, zog ihn in seine un-
mittelbare Nähe und räumte ihm eine der ehrenvollsten Stellungen
an seinem Hofe ein. Wer weiß, welche Folgen die Gunst Ewil-
Merodachs den Judäern gegenüber noch hätte zeitigen können, wenn
er länger König geblieben wäre; allein nach zweijähriger Regierung
wurde er von seinem Schwager Neriglissar (Nergal-sar-ussur) ab-
gesetzt, der den Thron an sich riß. Der Usurpator herrschte vier
Jahre. Sein minderjähriger Sohn, der ihm folgte, wurde von miß-
günstigen babylonischen Würdenträgern ermordet, die einen Mann
aus ihrer Mitte, Nabanaid oder Naboned, auf den Thron brachten
(555). Der neue König erwies sich als ein zu schwacher Regent für
eine so ausgedehnte Monarchie, wie es Babylon war. Sein Augen-
merk war einzig auf die Errichtung neuer prächtiger Gebäude in
Hauptstadt und Provinz und auf die Wiederherstellung der alten
Tempel gerichtet, während gerade um diese Zeit das in Vorderasien
zeitweilig stabilisierte politische Gleichgewicht wieder ins Wanken
geriet. Vom Iran her drohte Babylonien eine neue Gefahr: der Ein-
fall der Perser.
Um die Hälfte des VI. Jahrhunderts lehnte sich der junge per-
sische König Kyros (Kurusch, Koresch), der ein Vasall des großen
medischen Königs Astiagas, des Nachfolgers des Kyaxares, war,
gegen seinen Souverän auf, und es gelang ihm, diesen zu besiegen.
Kyros unterwarf die Hauptstadt Mediens Ekbatana sowie viele Pro-
vinzstädte und rief sich zum Könige des vereinigten medo-persischen
Reiches aus (55o). Auf seinem siegreichen Zuge näherte sich der
Eroberer den Grenzen des lydischen Reiches in Kleinasien, durch
welches sich die früheren medischen Könige vergebens einen Durch-
gang zum Ägäischen Meere zu bahnen versucht hatten. In Befürch-
tung eines Einfalls beeilte sich der lydische König Krösus, mit
Ägypten und den Griechen von Lacaedemonien ein Schutzbündnis
einzugehen, dem sich auch der babylonische König Nabunaid an-
schloß. Jedoch ohne die Ankunft seiner Verbündeten abzuwarten,
zog Krösus unüberlegterweise nur mit seinem eigenen Heere den
Persern entgegen. Kyros schlug die Lyder, schloß Krösus in seiner
Hauptstadt Sardes ein, die er bald darauf besetzte, und dehnte seine
Macht so über das ganze griechische Kleinasien bis zum Ägäischen
§ 69. Der Prophet der Wiedergeburt (Jesaja 11)
Meere und bis an die Grenzen Griechenlands aus (546). Darauf
begann Kyros, energisch zu einem Kriege mit Babylonien zu rüsten;
als die persischen Heertruppen die babylonischen Landgebiete über-
flutet hatten, konnte das ehedem so mächtige, nun zerrüttete Reich
dem neuen Eroberer aus dem Iran nicht standhalten.
Die Kunde von den Siegen des Kyros versetzte ganz Vorderasien
in große Erregung. Einen besonders gewaltigen Eindruck machte
die Nachricht auf die in Babylonien weilenden judäischen Ver-
bannten. Nach jahrzehntelangem Exil, als sie bereits jede Hoffnung
auf eine Befreiung aufgegeben hatten, leuchtete ihnen nun diese
Hoffnung von neuem auf. Die Gerüchte von der Großmut des
persischen Königs, von seinem humanen Verhalten den unter-
worfenen Völkern und seiner Duldsamkeit den fremden Glaubens-
formen gegenüber steigerte noch mehr die freudige Erregung der
Gefangenen. Sie hatten nun allen Grund zu hoffen, daß Kyros
sie nach der Eroberung Babyloniens von dem furchtbaren, von
Nebukadrezzar ihnen auferlegten Joch befreien und ihnen die Er-
laubnis erteilen werde, in das heimatliche Judäa zurückzukehren,
sobald es aus einer babylonischen eine persische Provinz ge-
worden war.
§ 69. Der Prophet der Wiedergeburt (Jesaja II)
Ein Widerhall dieser Begeisterung für den Gedanken der
Wiedergeburt wird für uns aus den Reden eines anonymen Pro-
pheten vernehmbar, dessen Werke, die Krönung des schöpferischen
Genius des Prophetentums, in der zweiten Hälfte des „Buches
Jesaja'4 (Kap. 4o—6o) Aufnahme gefunden haben, aus welchem
Grunde man auch übereingekommen ist, dem „großen Anonymus“
den Namen Jesaja der Zweite (Deuterojesaia) beizulegen 1).
!) Daß die Prophezeiungen des Buches Jesaja, von dem 4o. Kapitel an-
gefangen, nicht' mehr dem Propheten aus der Zeit Sanheribs, sondern einem
viel späteren Propheten, und zwar aus der Zeit des Kyros, zuzuschreiben sind,
erhellt schon unmittelbar aus dem Inhalt vieler dieser Kapitel. Manche Bibel-
kritiker teilen auch noch die zweite Hälfte des Jesajabuches in zwei Untergruppen
ein: dem babylonischen Deuterojesaia wird namentlich die Urheberschaft der die
Wiedergeburt kündenden Kapitel 4o—55 zugesprochen, während die elf letzten
Kapitel (56—66), in denen von dem Leidenswege des Volkes die Rede ist, einem
noch späteren Verfasser, der in Judäa kurz vor der durch Esra inaugurierten
345
Das babylonische Exil
Dieser unter den babylonischen Verbannten lebende Prophet
war ganz von dem Ideal der sozialen und geistigen Erneuerung
seiner Nation beseelt und durchdrungen. Während auf den Reden
Jeheskels die lange Nacht des Exils mit ihren düsteren Träumen
lastet, erstrahlt in den Prophezeiungen Jesajas II ein Abglanz der
anbrechenden Morgenröte; ein ermutigender Aufruf zur Befreiung,
zu einem neuen Leben, zu umfassender Wirksamkeit wird in ihnen
laut. Der Prophet vernimmt die Stimme Gottes, die zu den Führern
des judäischen Volkes also spricht: „Tröstet, tröstet mein Volk!
Redet Jerusalem zu Herzen und ruft sie heran; denn ausgedient
hat sie ihre Heerpflicht, ihre Schuld ist bezahlt. . . . Eine Stimme
ruft: In der Wüste bahnt den Weg Jahves, schafft in der Steppe
eine grade Straße für unseren Gott!“ . . . „Auf den höchsten Berg
steig hinauf, du Freudenbotin Zions, erhebe mit Macht deine Stimme,
erhebe sie furchtlos, sage den Städten Judas: Seht da, euer Gott!
. . . Er weidet wie ein Hirt seine Herde, mit seinem Arm sie sam-
melnd; die Lämmer trägt er im Gewandbausch, leitet sacht, die sie
säugen“ (Kap. 4o). „Zieht aus von Babel, flüchtet aus Chaldäa,
mit Jubelstimme verkündet, laßt hören, bringt’s hinaus bis zum
Ende der Erde: Erlöst hat Jahve seinen Knecht Jakob!“ (48, 20).
Als der Vollstrecker des göttlichen Willens in dieser Schicksals-
wendung erscheint der persische Eroberer Kyros:
„So sprach Jahve von seinem Moschiach (Gesalbten, Messias),
von Kyros: ,Ich habe seine rechte Hand ergriffen, so daß ich
Völker vor ihm nieder warf und die Lenden der Könige entgürtete
(sie entwaffnete), auf tat vor ihm die Türen und die Tore (der
Restauration gelebt haben soll, zugeschrieben werden (Tritojesaja). Andere wieder
wollen sogar diese beiden Gruppen noch in weitere Fragmente zerstückeln, die
sie verschiedenen Propheten (Ebed-Jahve usw.) zuschreiben. Indessen besteht gar
kein Grund zur Aufstellung derartig verwegener Hypothesen, da ja die Mannig-
faltigkeit des Inhalts in den Prophezeiungen des Deuterojesaia dadurch hinlänglich
erklärt werden könnte, daß der Prophet zuerst in Babylonien wirkte, später aber
in Judäa, während der ersten Jahrzehnte der Restauration, als der hehre Traum
von der Wiedergeburt nur zum Teil sich verwirklichen ließ. Zu den Prophe-
zeiungen Jesajas II oder eines seiner Zeitgenossen sind auch noch die Kapitel i3
und i4 des Buches zuzurechnen, in denen mit gewaltiger Wucht der Fall Ba-
byloniens, gegen welches, wie es heißt, ,,die Meder aufgereizt worden sind“
(Meder und Perser werden bei den Propheten oft verwechselt), geschildert wird,
sowie der Abstieg des babylonischen Großkönigs in die Unterwelt; hierzu ist
vielleicht auch noch Kapitel 35 zu zählen: ,,Die Befreiten Jahves werden heim-
kehren und nach Zion gelangen mit Jauchzen“ usw.
346
§ 69. Der Prophet der Wiedergeburt (Jesaja II)
Städte) blieben nicht verschlossen . . . um meines Knechtes Jakobs
willen und Israels, meines Erwählten. Drum rief ich dich (Kyros)
bei deinem Namen, gab dir Ehrennamen, da du mich nicht kanntest.
Ich bin Jahve, und es gibt keinen sonst, außer mir gibt’s keinen
Gott. Ich rüstete dich, da du mich nicht kanntest, damit man
lernte, wo die Sonne aufgeht und wo sie untergeht, daß neben mir
keiner, ich, Jahve, und es gibt keinen sonst: der gebildet das Licht
und geschaffen die Finsternis, der da wirkt das Heil und das Un-
heil schafft. . . . Ich habe gemacht die Erde und die Menschen auf
ihr erschaffen; meine Hände spannten den Himmel und all sein
Heer bestellt' ich. Ich habe ihn (Kyros) erweckt in Gnaden und
all seine Wege will ich ebnen; er soll bauen meine Stadt und die
Gefangenen meines Volkes loslassen4“ (Kap. 45).
In allen Prophezeiungen Jesajas II kehrt folgender Gedanken-
gang wieder: die judäische Nation ist durch das Exil von ihrer
Sünde erlöst und es muß ihr nun gerechterweise Befreiung zuteil
werden. Kyros ist der Vermittler bei diesem Befreiungsakte. Viele
mochten dies bezweifelt haben, da diese heilige Sendung nicht einem
Judäer, sondern einem Andersgläubigen anvertraut worden war. Der
Prophet erklärt daher, daß Gott mit Absicht einen König zu seinem
Werkzeug gewählt hätte, jenen großen, die Schicksale der Völker
in neue Bahnen lenkenden Eroberer, der, ohne Gott zu kennen,
unbewußt seinen Willen tue. Die erschütterte Welt solle einsehen,
daß derselbe Gott, der mächtige Reiche in die Gewalt des Kyros
gab, ihn zugleich als Werkzeug für die Wiedergeburt der kleinen
judäischen Nation ausersehen hat, daß das stolze Babylon nur
darum fallen mußte, damit die judäischen Gefangenen wieder ihre
Freiheit erlangen. So werde es der ganzen Welt sichtbar werden,
daß der Gott der Judäer zugleich auch der Lenker der Schicksale
aller anderen Völker sei1). Dies aber sei möglich, weil der judäische
*) Ein interessantes Gegenstück zu der Prophezeiung Jesajas II bildet eine
derselben Zeit entstammende babylonische Inschrift auf dem sogenannten Kyros-
z^linder, in der Kyros von den babylonischen Priestern in gleichlautenden Aus-
drücken als ein Auserwählter des Gottes Marduk gepriesen wird: „Marduk faßte
Erbarmen (mit dem Los Babyloniens). In allen Ländern hielt er Umschau und
suchte einen gerechten Fürsten nach seinem Herzen. . . . Kuras, König von
Ansan, berief er mit Namen zur Herrschaft über die Gesamtheit des Alls. Alle
Umanmander (Meder) warf er ihm zu Füßen, die Schwarzköpfigen (Semiten)
nahm er unter seinen Schutz nach Recht und Gerechtigkeit. Marduk, der große
Gebieter, der Beschützer seiner Menschen, blickte voll Freude auf seine (des
Kyros) gesegnete Taten und sein gerechtes Herz herab und hieß ihn zu seiner
Stadt Babylon schreiten, ihn als Freund und Genosse begleitend. Ohne Kampf
347
Das babylonische Exil
Gott nicht ein Werk von Menschenhand wie die heidnischen Götzen
ist, sondern der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Lenker
der Welt und der Menschen, der nur von den Auserwählten erfaßt
werden kann:
„Wem wollt ihr nun Gott (El) vergleichen und was als Gleichnis >
hinslellen für ihn? Wollt ihr mich dem Götzenbild gleichmachen,
das der Künstler goß und das der Goldschmied mit Gold überzieht
und mit silbernen Ketten anschließt? . . . Wißt ihr’s nicht, wollt
ihr’s nicht hören? Ward’s euch nicht von Anbeginn gesagt? Habt
ihr’s nicht begriffen seit Gründung der Erde? (Gott ist), der da
thront so hoch über dem Rund der Erde, daß ihre Bewohner gleich
Heuschrecken sind, der gespreitet wie einen Flor den Himmel und
ihn gespannt wie ein Zelt zum Wohnen. . . . Hebt auf zur Höhe
eure Augen und seht, wer jene (Sterne) geschaffen, der da ab-
gezählt, austreibt ihr Heer, der sie alle mit Namen ruft . .
(Kap. 4o, i8f.). „In die Knie sank Bel, es wand sich Nebo
(babylonische Gottheiten). . . . Wem könnt ihr mich vergleichen
und gleichmachen? (Doch nicht jenen Göttern), für die sie da
Gold aus dem Beutel schütteln und Silber mit den Wagbalken dar-
wägen, einen Goldschmied dingen, daß er’s zum Gott macht, und
sich beugen, ja niederwerfen davor?“ (Kap. 46* i f.).
Die Idee des Schöpfers der Welt, des allerhöchsten, die Schick-
sale der Menschheit lenkenden Wesens, und die Vorstellung von
Jahve als dem besonderen Gönner Israels fließen also hier in die
einheitliche Idee eines Weltgottes zusammen. Der nationale Gott
der Judäer wird zum universalen, einzigen Gott. Damit ist die
Bestimmung des israelitischen Volkes in der Welt von vornherein
gegeben: es ist das theophorische Volk, der berufene Mittler
zwischen Gott und den anderen Völkern der Erde. Ein „Knecht
ließ er ihn in Babylon einziehen und behütete seine Stadt vor Bedrückung. Den
König Nabunaid, der ihn, Marduk, nicht ehrte, gab er in seine (des Kyros)
Hände.“ Der Unterschied zwischen dem babylonischen Dythyrambus und der
judäischen Prophezeiung besteht indessen darin, daß in der ersteren Kyros erst
nach der Einnahme von Babylon der Dank für die Schonung der eroberten Stadt
und für die gnadenvolle Behandlung der Besiegten ausgesprochen wird, während
in der Prophezeiung des Judäers Kyros nur als ein Werkzeug für die Voll-
bringung einer politischen und sittlichen Weltumwälzung hingestellt wird. Ver-
gleicht man die beiden Urkunden, so drängt sich der Gedanke auf, daß der
örtlich beschränkten heidnischen Anschauungsweise der babylonischen Priester der
universalistische, ethische Monotheismus der jüdischen Propheten mit Absicht
gegenübergestellt ist. Wie dem auch sein mag, in den anderen Prophezeiungen
Jesajas II ist eine derartige gegen das babylonische und sonstige Heidentum ge-
richtete Polemik besonders augenfällig (vgl. unten).
348
§ 69. Der Prophet der Wiedergeburt (Jesaja II)
Gottes“ — so nennt der Prophet mit Vorliebe das israelitische Volk.
Dieses Volk, das zur Realisierung des Ideals der höchsten Wahrheit
und Gerechtigkeit berufen ist, muß Qualen und Demütigungen er-
leiden und ist den Verfolgungen aller Völker preisgegeben, damit
es den endgültigen Sieg davontrage, damit es zum „Lichte der
Völker“, zum Bannerträger der Wahrheit für die ganze Menschheit
werde. Das, was der Prophet Gottes für Israel ist, das ist das Volk
Gottes für alle anderen Völker. Und in dem folgenden Aufruf geht
der individuelle Prophet ganz in dem kollektiven, dem Volke, auf:
„Hört, ihr Gestade, auf mich, und lauscht, ihr Nationen in der
Fernei Jahve hat von Mutterleib mich berufen . . . und zu mir
gesagt: ,Mein Knecht bist du, Israel, an dem ich mich verherrlichen
werde.4 Nun aber spricht Jahve: ,Zu gering ist’s, daß du mir Knecht
seist, sofern ich Jakobs Stämme wieder aufrichte und Israels Be-
wahrte heimbringe. Vielmehr mache ich dich zum Licht der Völker,
daß mein Heil bis ans Ende der Erde reiche!4 So spricht Jahve, der
Erlöser Israels, zu dem, den die Menschen verachten, die Leute ver-
abscheuen, zum Knechte der Tyrannen: Könige sollen sehen und
auf stehen, Fürsten sollen sich vor dir niederwerfen um Jahves
willen, der getreu ist, des Heiligen Israels, der dich erwählt hat44
(Kap. 4g, 1—7).
In diesen Worten ist der Übergang zu der Idee des Volkes als
eines Missionärs und Märtyrers, eines „Knechtes Gottes44 (Ebed
Jahve) angedeutet, der die Wahrheit durch Leiden selbst errungen
hat und dem auch für deren Verkündung an andere ein Leidensweg
beschieden sein muß. Das israelitische Volk mußte aus dem Grunde
so viele Heimsuchungen über sich ergehen lassen, damit durch seine
Leiden auch die anderen Völker von ihren Sünden erlöst werden —
dies ist der Hauptgedanke des berühmten Kapitels aus dem Buche
Jesaja (53), das viele Jahrhunderte später zur Grundlage der christo-
logischen Lehre von dem leidenden Messias-Erlöser wurde. Der un-
geschichtlichen Ausdeutung dieses Kapitels kam die Tatsache zu-
statten, daß der kollektive Messias, das Volk, hier in der Gestalt
des persönlichen Messias, des Propheten, versinnbildlicht ist; allein
diese Metapher ist im Zusammenhang mit den daran anschließenden
Kapiteln des Buches leicht zu durchschauen. Der Prophet spricht
über Israel im Namen der „Völker der Erde44:
„Wer hätte die Kunde, die uns ward, geglaubt, aber der Arm
Jahves, wem war er auch enthüllt? Denn er ging auf vor uns wie
ein junger Trieb und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich; ohne
Das babylonische Exil
Gestalt und Schöne, ihn anzusehen, und ohne Aussehen, um uns zu
gefallen. Verachtet war er und von Menschen verlassen, ein Mann
der Schmerzen und vertraut mit Krankheit: so verhüllten wir vor
ihm das Antlitz. Aber unsere Krankheit, er hat sie getragen, und
unsere Schmerzen, er lud sie auf ... er war durchbohrt für unsere
Missetaten, zerschlagen für unsere Verschuldigungen. Züchtigung uns
zugute lag auf ihm und durch seine Striemen wird uns Heilung/4
So wird vom Nationalismus eine Brücke zum Universalismus
geschlagen. Das Judentum, das eine selbständige Nation ist, wirkt
zugleich für das Wohl der Menschheit. Weit davon entfernt, seine
geistigen Schätze selbstsüchtig für sich allein zu behalten, verteilt
es sie vielmehr an alle Bedürftigen, weil ebendarin seine Sendung
beschlossen liegt. Das babylonische Exil ist eine Schule für das
Volk dieser Mission, das auf mancherlei Weise geprüft werden und
mit vielem in Berührung kommen muß, um seiner Bestimmung
würdig zu werden.
Allein bei diesem Ideal einer nur geistigen Nation bleibt der
Prophet nicht stehen, zugleich lockt ihn auch die Aussicht auf eine
baldige politische Wiedergeburt Judas. Die durch ihre Leiden ge-
läuterte Nation soll in ihre Heimat zurückkehren und dort vor der
ganzen Welt ein Musterbeispiel geistiger Spannkraft in einem
mustergültigen, freien Staate werden. Nicht militärische Macht ver-
heißt der Prophet der befreiten Nation, nicht Herrschaft über andere
Völker durch Schwert und Bedrückung, sondern Bezwingung der
Geister und der Herzen durch die Ausbreitung der Ideen des Guten
und Gerechten. In den Träumen Jesajas II von dem künftigen neu-
erstandenen Juda spielt der Wiederaufbau des Tempels nicht mehr
jene wichtige Rolle, die ihm noch in den Prophezeiungen Jeheskels
zugewiesen worden war, sondern es wird im Gegenteil jede äußer-
liche Frömmigkeit, die der sittlichen Vollkommenheit ermangelt,
aufs schärfste verurteilt (Kap. 58). Auch der verschwommene Sym-
bolismus ist dem Propheten der Wiedergeburt durchaus zuwider. In
den Reden Jesajas II herrscht eine lichte, lebensfrohe Stimmung, es
ertönt in ihnen ein hoffnungsvoller Aufruf zur Tat:
„Werde wach, werde wach, leg* an deinen Schmuck, o Zion;
leg’ an deinen Staat, Jerusalem, heilige Stadt, denn nicht wieder
wird in dich eindringen der Unbeschnittene und Unreine. Rüttle
dich auf vom Boden, erhebe dich, es lösten sich die Fesseln deines
Halses, du Gefangene Tochter Zion!“ „Und Zion sprach: Jahve
hat mich verlassen und mein Herr mich vergessen. Vergäße wohl
35o
§ 70. Der Fall Babyloniens und die Befreiung der Judäer
ein Weib ihren Säugling, sich nicht zu erbarmen des Sohns ihres
Leibes? Und ob ein Weib ihren Säugling vergäße, so will ich doch
dich nicht vergessen; die dich bauen, sind flinker als die dich zer-
störten, und die dich verwüstet, zogen von dir fort. Heb’ auf in
die Runde deine Augen und sieh: alle haben sie (deine Kinder)
sich versammelt und kommen zu dir. . . . Sie werden deine Trüm-
mer wieder aufbauen, und fortan wird’s zu eng sein dem Bewohner
in dir . . (Kap. Ö2 und 4ü)*
§ 70. Der Fall Babyloniens und die Befreiung der Judäer
Die infolge der Kunde von den Siegen des Kyros gespannten
Erwartungen der Judäer gingen bald in Erfüllung, wenn auch nicht
in jener idealen Form, die die hochfliegende Phantasie des Pro-
pheten dem so sehnsüchtig erwarteten Umschwung verliehen hatte.
Einige Jahre nach dem kleinasiatischen Feldzuge rückte Kyros mit
seinem Heere gegen die Hauptstadt Babyloniens vor, nachdem er
vorher bereits einige babylonische Provinzen besetzt hatte. Im Jahre
539 kam es zu einem Zusammenstoß zwischen den Persern und den
Babyloniern bei Sippar. Die große Stadt ergab sich den Persern.
Der sorglose babylonische König Nabunaid leistete dem Feinde
keinen genügenden Widerstand. Ein Teil der babylonischen Be-
völkerung scheint sich gegen seinen kraftlosen König aufgelehnt
und den persischen Sieger als seinen Herrscher begrüßt zu haben.
Die Perser zogen unter der Anführung Gobryas (Ugbars) ohne
Kampf in Babylon ein. Nabunaid wurde abgesetzt. Bald darauf,
im Herbstmonat Marcheschvan, kam auch Kyros selbst nach der
Hauptstadt. Er machte Babylon zu einer seiner Residenzen und
setzte dort seinen Statthalter ein. Kyros behandelte die Besiegten
mit großer Milde, und auch ihre nationalen Götter hielt er in Ehren.
Dies sind die geschichtlichen Tatsachen auf Grund der in den
babylonischen Urkunden auf gefundenen Berichte über den Fall
Babylonsx). Der Bericht des babylonischen Priesters Berossos aus
*■) Hier ein Auszug aus der amtlichen babylonischen Chronik: „Im Monat
Tammus (Juni oder Juli) lieferte Kyros bei Opis, am Ufer des Salsalatakanals,
eine Schlacht dem Heere Akkads und besiegte die Einwohner von Akkad. Am
i4. wurde Sippar ohne Kampf besetzt. Nabunaid floh. Am 16. (Tischri? — im
September) zogen Ugbar, der Statthalter Guttias, und seine Krieger ohne Kampf
in Babylon ein. Infolge seiner Saumseligkeit geriet Nabunaid in Babylon in die
Gefangenschaft. . . . Am dritten Marcheschvan hielt Kyros seinen Einzug in
35i
Das babylonische Exil
viel späterer Zeit stimmt in den Hauptzügen mit diesen Mitteilungen
überein. In anderer Weise berichten über diese Ereignisse die grie-
chischen Quellen (Herodot u.a.): die Babylonier sollen, diesen Aussagen
zufolge, Kyros bewaffneten Widerstand geleistet haben; nachdem
sie in den ersten Schlachten geschlagen worden waren, verschanzten
sie sich in der Hauptstadt in der Hoffnung, daß die von dicken
Mauern umgebene und stark befestigte Stadt dem Feinde standhalten
werde. Kyros belagerte Babylon lange ohne Erfolg, fand aber dann
ein Mittel, sich der Stadt zu bemächtigen. Er leitete die Gewässer
des Euphrat, die durch die Hauptstadt strömten, in einen großen,
außerhalb der Stadt gegrabenen See hinüber. Eines Tages, als die
Babylonier sich aus Anlaß eines Festes sorglos der Freude hin-
gaben, drangen die Perser durch das trockengelegte Flußbett des
Euphrat unbemerkt in die Stadt ein und bemächtigten sich ihrer.
Ein ähnlicher Bericht ist in der späteren, in der biblischen
Apokalypse des „Daniel“ enthaltenen, jüdischen Überlieferung er-
haltengeblieben. Allerdings weichen hier Chronologie und Personen-
namen von denen der übrigen Quellen merklich ab. Der letzte, von
den Persern abgesetzte babylonische König heißt hier Belsazar
(Baltasar). Dieser König soll einmal ein großes Gastmahl für seine
Würdenträger veranstaltet haben, wobei er goldene Gefäße, die einst
Nebukadrezzar aus dem Jerusalemer Tempel entwendet hatte, in
seinen Palast bringen ließ. In jener Nacht, als der König und seine
Gäste sich mit Wein aus den heiligen Gefäßen berauschten, zeigte
sich plötzlich eine geheimnisvolle Hand, die an der Wand des könig-
lichen Saales unverständliche Worte aufzeichnete. Den König befiel
große Angst, und er ließ seine Weisen und Magier herbeirufen, um
die Inschrift zu entziffern; sie vermochten es aber nicht. Da ließ
der König den judäischen Weisen Daniel holen. Daniel entzifferte
sogleich die Inschrift und sprach zum König: „Was aber da (ara-
mäisch) geschrieben steht, ist dies: mene, tekel, peres. Die Deutung
der Sache ist diese: mene: Gott hat dein Reich gezählt und preisu
gegeben; tekel: du bist auf der Wrage gewogen und zu leicht er-
Babyion. Der Stadt wurde die Begnadigung gewährleistet. Kyros verkündete den
Frieden für ganz Babylon. Ugbar wurde zum Statthalter ernannt. Vom Monat
Kislev bis Adar kehrten die Götter heim, die Nabunaid in seine Städte gebracht
hatte. In der Nacht zum n. Marcheschvan ging Ugbar hin und tötete den Sohn
des Königs. Vom 27. Adar bis zum dritten Nissan war Trauer in Akkad.“
§ 70. Der Fall Babyloniens und die Befreiung der Judäer
funden; peres: dein Reich ist zerteilt und den Persern und Medern
gegeben.“ Diese Prophezeiung ging alsbald in Erfüllung: noch in
derselben Nacht wurde der chaldäische König Belsazar ermordet.
Ihm folgte der „Meder Darius“ auf dem Throne. In dieser poetisch
ausgestalteten Sage kommt die Volksanschauung zum Ausdruck, der-
zufolge der Fall des allmächtigen Babylon eine Strafe Gottes für
die Zerstörung Jerusalems und die Entweihung des heiligen Tempels
gewesen sei. Aber es steckt auch ein geschichtlicher Kern darin:
Belsazar oder genauer Bel-Sar-Ussur (den babylonischen Inschriften
zufolge) war tatsächlich ein Sohn und Mitregent Nabunaids, und
auch die obenangeführte offizielle Urkunde spricht davon, daß der
Sohn des letzten babylonischen Königs von dem persischen Statt-
halter Ugbar in der Nacht zum elften Marcheschvan, d. h. acht
Tage nach dem Einzuge des Kyros in Babylon, ermordet wurde.
Die in Babylonien lebenden judäischen Verbannten kamen dem
großen persischen König, in dem sie ihren Erlöser aus fünfzig-
jähriger Gefangenschaft erblickten, mit größter Begeisterung ent-
gegen. Schon früher waren anscheinend Gerüchte über die Hoff-
nungen, die die Judäer auf ihn setzten, sowie über die Lobpreisungen
der judäischen Propheten, die ihn schon nach seinen ersten Siegen
den Gesandten Gottes nannten, zu Kyros gedrungen. Kyros, der den
Besiegten gegenüber stets großmütig war und auch den fremden
Religionen Duldsamkeit entgegenbrachte, konnte nicht umhin, diese
Verehrung der Unterdrückten anzuerkennen, die durch ihn die Be-
freiung zu erlangen hofften und die durch ihre Vertreter sich viel-
leicht auch darum bemühten. Überdies war es für Kyros, der als
Eroberer Babyloniens zugleich zum Herrscher des diesem unter-
gebenen Judäa geworden war, auch in politischer Hinsicht nur von
Vorteil, die große Menge der Verbannten in ihre Heimat ziehen
zu lassen, damit sie das zerstörte Judäa als eine den Persern unter-
tänige Provinz wieder aufbauten. Von dem ihm zu Dank ver-
pflichteten Volke bewohnt, sollte das auf dem Wege von Persien
nach Ägypten gelegene Judäa Kyros als Schutz wehr gegen die
ägyptischen Pharaonen dienen, mit denen er in der nächsten Zeit
Krieg zu führen gedachte. Alle diese Gründe bewogen den per-
sischen Eroberer, den sehnlichen Wunsch der judäischen Verbannten
zu erfüllen. Bald nach der Einnahme Babylons erteilte Kyros den
Judäern die Erlaubnis, in ihre Heimat zurückzukehren und Jeru-
23 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
353
Das babylonische Exil
salem sowie den Tempel Jahves, des „Gottes des Himmels“, wieder
aufzubauen (538). Nach den biblischen Urkunden soll ein dies-
bezüglicher Befehl in Form einer schriftlichen Verordnung ab-
gefaßt und allenthalben im persischen Reiche veröffentlicht worden
sein *). Zum ersten Statthalter setzte der persische Monarch einen
vornehmen Mann mit Namen Sesbazar ein.
Von dem veröffentlichten Freibrief konnten jedoch vorerst nicht
alle Exulanten Gebrauch machen. Nicht leicht war es der zahl-
reichen, seit fünfzig oder sechzig Jahren in Babylonien ansässigen
Bevölkerung, die erworbenen Häuser, Äcker und Gärten zu ver-
lassen und die weite Reise nach Judäa anzutreten. Viele wurden
i) Im Bache Esra (6, 3—5) ist einer in der medischen Hauptstadt Ekbatana
auf gefundenen Verordnung des Kyros Erwähnung getan, in der es unter anderem
heißt: ,,Das Haus Gottes zu Jerusalem soll gebaut werden. . . . Die Kosten
sollen aus dem königlichen Fiskus bestritten werden. . . . Auch soll man die
goldenen und silbernen Geräte des Hauses Gottes, die Nebukadrezzar aus dem
Tempel zu Jerusalem herausgeholt und nach Babylon gebracht hat, zurückgeben
und es möge kommen in den Tempel zu Jerusalem an seinen Ort.“ In demselben
Buche (i, 2—4) sowie in den Büchern der ,,Chronik“ (letzter Vers) wird der
Inhalt dieser Verordnung folgendermaßen kurz zusammengefaßt: ,,Alle König-
reiche der Erde hat Jahve, der Gott des Himmels, mir gegeben, und er hat mir
Auftrag gegeben, ihm ein Haus zu bauen zu Jerusalem in Juda. Wer nun unter
euch seines Volkes ist, mit dem sei sein Gott, und er ziehe hinauf gen Jerusalem
in Juda und baue das Haus Jahves, des Gottes Israels.“ Diese Darstellung des
ehrerbietigen Verhaltens Kyros’ der jüdischen Religion gegenüber könnte vielleicht
als übertrieben angesehen werden, wenn nicht andere Denkmäler auch von seiner
Stellung den babylonischen Kulten gegenüber gleichlautendes Zeugnis abgelegt
hätten. In der bereits erwähnten Zylinderinschrift wird ein nach der Einnahme
von Babylon verkündetes Manifest des Kyros angeführt, in dem von Marduk in
derselben Weise gesprochen wird, wie in den jüdischen Quellen von Jahve: ,,Als
ich in Frieden in Babylon einzog und unter Jauchzen und Jubel im Palaste der
Könige die königliche Wohnstätte einrichtete, machte Marduk, der große Gebieter,
das edle Herz der Einwohner Babylons mir geneigt um deswillen, weil ich täglich
auf seine Verehrung bedacht war.“ Weiter spricht Kyros davon, daß er um alle
inneren Angelegenheiten Babylons und um alle „seine Heiligtümer“ Sorge ge-
tragen, alle weggebrachten Götter Sumer und Akkads in ihre früheren Residenzen
wieder eingesetzt habe, und schließt dann so: „Alle Götter, die ich in ihre Städte
zurückgebracht habe, mögen täglich vor Bel und Nabu um ein langes Leben für
mich flehen.“ Gleich den frommen jüdischen Schriftgelehrten legten also auch
die babylonischen Priester Kyros denselben Hang zur Verehrung der Gottheiten
der unterworfenen Völker bei. Trotz aller tendenziösen Färbung dieser er-
dichteten „Manifeste“ ist doch mit Sicherheit anzunehmen, daß Kyros (ebenso
wie später Alexander der Große und die römischen Eroberer) sich tatsächlich für
die offizielle staatliche Anerkennung der Kulte aller in sein großes Imperium
auf genommenen Länder eingesetzt hat.
354
§ 70. Der Fall Babyloniens und die Befreiung der Judäer
durch die Befürchtung zurückgehalten, daß sie im zerstörten Vater-
lande jene gesicherte Existenz würden entbehren müssen, die sie
sich im „Lande des Exils“ errungen hatten. Trotz alledem betrug
die Zahl der zur Wiederkehr in die Heimat Entschlossenen anfangs
gegen 5o ooo Personen *), unter denen sich viele Priester oder Männer
von priesterlicher Abstammung befanden. Es waren auch solche
darunter, die ihren Stammbaum nicht zu beurkunden, ja nicht ein-
mal ihre israelitische Abstammung zu beglaubigen vermochten (an-
scheinend Nachkommen israelitischer Vertriebener aus Samarien, die
längst alle Verbindung mit dem Vaterlande verloren und sich nun
den Heimkehrenden angeschlossen hatten). An der Spitze der Aus-
wanderer stand Serubbabel, der Enkel des in Babylon gestorbenen
Königs Jo jakin, und der Priester Josua ben Jozadok, der Enkel des
von Nebukadrezzar hingerichteten Jerusalemer Oberpriesters Seraja
(§ 63). Diese beiden Führer, Vertreter der beiden Dynastien Judas,
der königlichen und der priesterlichen, erhielten vom persischen
König bestimmte Vollmachten2). Kyros befahl, die ehemals von
Nebukadrezzar aus dem Jerusalemer Tempel geraubten heiligen Ge-
räte den judäischen Heimkehrenden zurückzuerstatten; wie aus der
obenerwähnten Verordnung zu ersehen ist, erhielten sie auch aus
seinem Staatsschätze einen gewissen Vorschuß zum Wiederaufbau
des Tempels. Die in Babylonien gebliebenen Judäer versorgten ihre
heimkehrenden Brüder mit Geld, Lastvieh und Nahrungsmitteln.
Im Frühjahr des Jahres 537 wanderte eine zahlreiche Gruppe
judäischer Auswanderer aus Babylonien nach dem Heimatlande, dem
heißersehnten Ziele zweier Generationen von Verbannten. Die plötz-
liche Befreiung von der Schmach der Gefangenschaft erschien ihnen
*■) Nach den genealogischen Registern des Buches Esra (Kap. 2) setzte sich
die erste Auswanderergruppe aus 42 36o Freien, 7337 Sklaven und Sklavinnen
und 200 Sängern zusammen. Wahrscheinlich kehrte diese große Menge nicht auf
einmal, sondern nach und nach, gruppenweise in die Heimat zurück.
2) Es bleibt ungeklärt, in welchem Verhältnis Sesbazar, der erste von Kyros
eingesetzte judäische Fürst oder Statthalter (Nassi^ Pecha) zu dem in der Bibel
gleichfalls als „Statthalter Judas“ (pachat Jehuda) bezeichneten Serubbabel stand.
Am verbreitetsten ist die Vermutung, daß „Sesbazar“ nichts anderes als der
persische Name Serubbabels ist und daß somit zum Gebieter Judäas von Anfang
an ein Nachkomme der judäischen Könige ernannt wurde. Nach anderer Auf-
fassung soll Serubbabel erst der Nachfolger Sesbazars gewesen sein, eines vor-
nehmen Judäers oder Persers, der das Statthalteramt in den ersten Restaurations-
jahren innehatte (s. Buch Esra 1, 8 und 5, i4, 16).
Das babylonische Exil
als ein Wunder Gottes, als ein märchenhafter Traum. Diese Jubel-
stimmung der Heimkehr findet in einem späteren Psalm ihren
weihevollen Ausdruck:
„Wenn Jahve wendet Zions Geschick, sind wir den Träumenden gleich,
Dann wird voll Lachen unser Mund und unsere Zunge voll Jauchzen,
Dann wird man unter den Völkern sagen: Großes hat Jahve an diesen getan,
Ja, Großes hat Jahve an uns getan, des sind wir fröhlich!“
356
Zweites Kapitel
Die erste Restauration; Serubbabel und Josua
§ 71. Die Lage in Judäa unter Kyros und Kambyses (537—521)
Traurig sah es in Judäa zu jener Zeit aus, als die erste Aus-
wanderergruppe aus Babylonien dorthin zurückkehrte. Der Mittel-
punkt des Landes, Jerusalem und seine Umgegend, war fast völlig
menschenleer geworden und trug noch Spuren der von Nebu-
kadrezzar angeordneten Verheerung. In der Provinz waren arme
judäische Landleute verstreut, die der babylonische Eroberer dort
zurückgelassen hatte. Jedoch war nicht das ganze Land Judäa in
ihrem Besitz: eines großen Teiles davon hatten sich die Nachbar-
völkerschaften bemächtigt, die sich die Wehrlosigkeit der ein-
heimischen Bevölkerung zunutze machten. Die ehemaligen Vasallen
Judas, die Edomiter, besetzten das an ihr Landbereich anstoßende
südliche Grenzgebiet Judäas, „Negeb“, und waren auf weitere
Ausdehnung ihres Besitzes bedacht. Im Westen hatten sich die
Asdodier niedergelassen, die von der philistäischen Küste gekommen
waren. Die im Osten, in Transjordanien, lebenden Ammoniter waren
anscheinend gleichfalls in kleinen Gruppen nach Judäa vorgedrungen
und hatten sich dort angesiedeltx). Im Norden, im Gebiete des ehe-
maligen israelitischen Reiches, lebte die Völkerschaft der Samari-
taner, die aus einer Vermischung des erhaltengebliebenen Restes der
altisraelitischen Bevölkerung mit den aus Assyrien hingebrachten
fremdstämmigen Ansiedlern entstanden war (§ 45). Auch die Reli-
gion der Samaritaner stellte eine Mischung des alten, im ehemaligen
Samarien üblichen volkstümlichen Jahvekultes mit heidnischen Bräu-
chen dar. Sowohl ihrer Abstammung wie ihrer Religion nach waren
■*■) Nach der Zerstörung Jerusalems mischte sich sogar der Ammoniterkönig
Baalis als Verbündeter des Prinzen Ismael ben Natanja, des Mörders des Statt-
halters Gedalja, in die inneren Angelegenheiten Judas ein ($ 64).
357
Die erste Restauration; Serubbabel und Josua
die Samaritaner nur Halbhebräer. Fremdstämmige Elemente und
fremde religiöse Riten wurden aber in der Periode des fünfzig-
jährigen babylonischen Exils und der völligen Zerrüttung des
Landes auch bei den Judäern selbst heimisch. In viele judäische
Familien wurden fremdstämmige Weiber auf genommen; die hebräi-
sche Sprache wurde .durch die fremden Mundarten der Asdodier
und anderer Nachbarvölkerschaften allmählich in den Hintergrund
gedrängt.
Unter diesen Umständen hatten die Heimgekehrten große Mühe,
das zerstörte Gemeinwesen in der Heimat wiederherzustellen. Sie
waren bestrebt, sowohl die Fremdstämmigen aus den von ihnen be-
setzten Landgebieten zu verdrängen wie das in Trümmern liegende
Jerusalem und die es umgebenden Siedlungen von neuem aufzu-
bauen. Ohne persischen Beistand war es ihnen in der ersten Zeit
nicht möglich, dieser schwierigen Lage Herr zu werden; hingegen
vermochten die mit dem Ausbau der neuen Monarchie beschäftig-
ten persischen Herrscher der palästinischen Provinz wohl kaum
eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist nicht genau
festzustellen, worin der Beistand Persiens bei der Restaurierung
Judäas zum Ausdruck kam. Dem einen Bericht der biblischen Ur-
kunden zufolge soll der von Kyros eingesetzte Statthalter, der oben-
erwähnte Sesbazar, regen Anteil an der Restaurierung genommen
haben; der andere Bericht schreibt den Führern der babylonischen
Auswanderer, dem Prinzen Serubbabel und dem Priester Josua, die
leitende Rolle zu. Fest steht jedoch nur die Tatsache, daß die ersten
aus Babylonien heimgekehrten Auswanderergruppen sich in Jeru-
salem selbst und in seiner nächsten Umgegend niederließen und
dort eine in engster Gemeinschaft lebende Kolonie bildeten.
Eine der Hauptsorgen der Heimgekehrten war die Wieder-
herstellung des Gottesdienstes in Jerusalem. Danach verlangte das
intensive religiöse Gefühl des Volkes, das in seiner Befreiung gleich-
sam die Wiederkehr Jahves in seine heilige Stadt und in seinen
Tempel versinnbildlicht sah. Als der erste Herbstmonat Tischri an-
brach, in den die großen Jahresfeiertage fallen, versammelte sich
in Jerusalem viel Volk aus der Umgegend. An der Stelle, wo
einstmals im Salomonischen Tempel der Opferaltar stand, wurde
mitten unter den Trümmern ein neuer Altar errichtet und der seit
der Zerstörung Jerusalems aufgehobene Opferritus wieder erneuert.
358
§ 71. Die Lage in Judäa unter Kyros und Kambyses
Sodann wurden Vorbereitungen zum Bau eines neuen Jahve-
tempels an Stelle des zerstörten getroffen. Es wurden Verträge mit
den Tyrern und Sidoniern abgeschlossen, die für Geld und Natu-
ralien Zedernholz aus dem Libanon in den Hafen Jaffa zu liefern
bereit waren; auch Steinmetze wurden zum Brechen und Behauen
der Steine gedungen. Als diese Vorbereitungen zu Ende geführt
waren, wurde der Grundstein zu einem kleinen Tempel gelegt. Das
geschah im Frühlingsmonat Ijar, ein Jahr nach der Heimkehr der
Gefangenen in ihre Heimat. Die Häupter und Obersten verschiedener
Gemeinden kamen nach Jerusalem zur Feier der Grundsteinlegung.
Die Priester erschienen von neuem in ihrem Priestergewande, die
Leviten sangen Dankhymnen unter Musikbegleitung, und weit hinaus
erklangen die Freudenrufe des Volkes. Inmitten dieser jubelnden
Menge standen ehrwürdige Greise und weinten laut: sie hatten noch
den ersten Salomonischen Tempel in all seiner Pracht gesehen, und
wenn sie ihn nun mit dem neuen bescheidenen „Hause Jahves“ ver-
glichen, konnten sie sich der Tränen nicht erwehren. Das laute
Schluchzen der Greise mischte sich in die Jubelrufe der Jugend
(um 536).
Allein der Tempelbau konnte infolge der Ränke der „Wider-
sacher Judas und Benjamins“ nicht zu Ende geführt werden. Zu
diesen Widersachern gehörten die Nachbarvölkerschaften, die einen
Teil des judäischen Landgebietes besetzt hielten und die die Bildung
eines neuen jüdischen Zentrums in Jerusalem verhindern wollten.
Auch die den Judäern zum Teil stammverwandten Samaritaner
wurden bald zu ihren Feinden. Als Serubbabel und die judäischen
Volksältesten den Tempelbau begonnen hatten, kamen Gesandte der
Samaritaner zu ihnen und sagten: „Wir möchten zusammen mit
euch bauen; denn wir wenden uns, wie ihr, an euren Gott.“ Es
ist unklar, ob die Samaritaner sich der Jerusalemer religiösen Ge-
meinde anschließen wollten oder aber die politischen Vorteile im
Auge hatten, die ihnen ein Bündnis mit den Judäern bieten konnte;
wie dem auch sein mag, Serubbabel und die Volksältesten wiesen
den Vorschlag der Samaritaner entschieden zurück. Sie befürchteten
anscheinend, daß die Vermischung mit Halbisraeliten die Reinheit
der jüdischen Rasse und Religion beeinträchtigen könnte. Durch
diese Ablehnung gereizt, begannen nun die erbitterten Samaritaner
die Jerusalemer Gemeinde auf jede Weise zu verfolgen und in alle
359
Die erste Restauration; Serubbabel und Josua
Unternehmungen derselben bald mit Gewalt, bald mit List störend
einzugreifen. Sie hetzten auch die persischen Beamten gegen die
Judäer auf; wenn aber diese vor der zentralen persischen Regierung
Klage darüber führten, dann suchten die Samaritaner durch Be-
stechung und Ränke den Erfolg ihrer Vorstellungen zu vereiteln.
So kam es, daß der so feierlich begonnene Tempelbau unterbrochen
werden mußte und während sechzehn Jahren nicht wieder auf-
genommen werden konnte x).
In diesem Zeitraum wurden die Judäer auch noch anderen
schweren Prüfungen unterworfen. Kyros starb und ihm folgte sein
Sohn Kambyses (529—622) auf dem Throne. Sogleich nach der
Thronbesteigung unternahm der neue König einen Eroberungsfeld-
zug gegen Ägypten und Äthiopien. Die Hauptschlachten wurden in
Pelusium, an der philistäisch-judäischen Grenze, geschlagen. Die
Truppenteile des großen persischen Heeres zogen durch Judäa, und
das Land mußte alle Schrecken der Kriegszeit über sich ergehen
lassen. Dabei belästigten auch noch die Nachbarvölkerschaften die
Judäer durch ihre Einfälle und, indem sie sich die Wirren der
Kriegszeit zunutze machten, verübten sie ungestraft die grausamsten
Gewalttaten. Von Persien war keine Hilfe zu erwarten: es hatte
kein Augenmerk für Judäa in jenen Jahren, da die große Um-
wälzung vor sich ging: die Umwandlung Ägyptens in eine persische
Satrapie. Als Kambyses auf dem Rückweg aus Ägypten in Syrien
starb, hatte bereits der Usurpator Gaumata (der falsche Bardia,
*) Diese Darstellung der Ereignisfolge, die sich aus der Zusammenstellung
der nicht leicht auseinanderzuhaltenden Angaben des Buches Esra (Kap. 3, 4
und Anfang des 5.) ergibt, wird von einigen Geschichtsschreibern bestritten, die
die Grundsteinlegung des Tempels in das Jahr 020 verlegen, d. i. in das zweite
Regierungsjahr des Darius, als unter dem Einfluß der Propheten Haggai und
Sacharja der Bau des Heiligtums von neuem in Angriff genommen wurde ($ 72).
Diese neuere Ansicht stützt sich hauptsächlich darauf, daß die Propheten zu
Anfang der Regierungszeit des Darius scheinbar zum ersten Male zur Errichtung
des Tempels auf riefen. Diese Beweisführung ist jedoch nicht stichhaltig, denn die
Grundsteinlegung, die im Jahre 536 erfolgte, schließt nicht aus, daß der Prophet
sechzehn Jahre später zur Errichtung des Tempels aufruft. In der Zwischenzeit
mochten auch die schweren wirtschaftlichen Sorgen des verwüsteten Landes den
Bauarbeiten hinderlich gewesen sein, vor allem die Notwendigkeit, die zerstörten
Privathäuser in Jerusalem wiederherzustellen. Als die elementarsten Bedürfnisse
befriedigt waren, erhoben sich nun von neuem Stimmen für die Errichtung des
neuen Tempels (vgl. Haggai 1, 4; Esra 5, 1 ff., besonders Vers 16 aus der per-
sischen Königsurkunde, deren Authentizität von Wellhausen ohne jeden Grund
bestritten wird).
§ 72. Der neue Tempel; die Propheten Haggai und Sacharja
Smerdis) den persischen Thron an sich gerissen, und die Staats-
ordnung geriet ins Wanken. In Babylonien und Medien flackerten
Aufstände auf. Zu der politischen Schutzlosigkeit Judäas gesellten
sich auch noch wirtschaftliche Sorgen: mehrere Jahre hindurch
hatte das Land unter Mißernten zu leiden, die zum Teil infolge der
Verwilderung des Bodens und der noch ungenügenden Anpassungs-
fähigkeit der neuen Kolonisten an die lokalen Ackerbauverhältnisse
eingetreten waren. Der Verdienst war gering; der Handel konnte
nicht zur Entwicklung gelangen, da die Karawanenstraßen infolge
der Kriegszeit und der Wirren in Persien unsicher wurden. Nur
langsam erhob sich Jerusalem aus den Trümmern, und seine Ein-
wohnerzahl war noch sehr unbedeutend. Eine gedrückte Stimmung
lastete auf dem Volke, die Trauer des Exils schien gleichsam noch
nicht von ihm gewichen zu sein. Die in Babylonien eingeführten
nationalen Fasten am Tage der Zerstörung Jerusalems (§ 66)
wurden auch jetzt noch beibehalten.
§ 72. Der neue Tempel; die Propheten Haggai und Sacharja
(520—516)
Eine günstigere Zeit brach für Judäa mit der Regierung
Darius’ I. Hystaspis (521—485), aus der Dynastie der Achäme-
niden, an. Gebieter einer weitausgedehnten Monarchie, die sich
vom Iran bis Libyen und Äthiopien, „von Indien bis Kusch“, er-
streckte, stellte Darius in den eroberten Provinzen die Ruhe wieder
her und wandte sich dann ihrer inneren Organisierung auf der
Grundlage der Selbstverwaltung unter Aufsicht persischer Satrapen
zu. Judäa, das in den dieser Regierung vorangehenden Wirren den
Nachfolgern des Kyros Treue bewahrt hatte, hoffte nun auf die
besondere Gunst des neuen Königs1). Schon in den ersten Re-
gierungsjahren des Darius wurde für eine baldige Wiederaufnahme
*•) Einige Geschichtsschreiber (Ed. Meyer u. a.) sind dagegen der Meinung,
daß gerade in den ersten Regierungsjahren des Darius, als der Aufstand in Ba-
bylonien und in den anderen Provinzen noch nicht unterdrückt war, auch in
Judäa eine Bewegung für die Erlangung der politischen Unabhängigkeit ent-
standen sei; ein Zeichen einer solchen Bewegung erblicken sie in den messiani-
schen Prophezeiungen von Haggai und Sacharja über Serubbabel als den Regenten
Judäas. Mit dieser Hypothese steht jedoch die Tatsache nicht im Einklang, daß
in denselben Jahren Darius die Errichtung des Tempels in Jerusalem gestattete
und dem ,»Prätendenten“ Serubbabel das verantwortungsvolle Amt eines „Pecha“,
d. i. Statthalters, einräumte (s. unten im Text).
36i
Die erste Restauration; Serubbabel und Josua
des Tempelbaues in Jerusalem Stimmung gemacht, da die judäische
Hauptstadt ohne Gotteshaus nicht ein religiöser und also auch kein
nationaler Mittelpunkt der autonomen Provinz werden konnte. Im
Jahre 520 traten in Jerusalem zwei Propheten, Haggai und Sacharja,
auf, die das Volk zum Wiederaufbau des Tempels zu veranlassen
suchten. Der Prophet Haggai erklärte, daß weder die Armut des
Volkes infolge der Mißernte noch die Unorganisiertheit seines Ge-
meinwesens den Aufschub der Errichtung des „Hauses Jahves“
rechtfertigen könnten, ja daß im Gegenteil diese traurige Lage
nichts weiter als eine Folge der Gleichgültigkeit der heiligen Sache
gegenüber sei. Sich an die Führer des Volkes und an die Reichen
wendend, sagte Haggai:
„Diese Leute da sagen: Die Zeit der Erbauung des Tempels
Jahves ist noch nicht gekommen. Ist es denn Zeit für euch, in ge-
täfelten Häusern zu wohnen, während dieses Haus in Trümmern
liegt? . . . Achtet doch darauf, wie es euch ergeht. Ihr säet viel
aus, aber bringt wenig ein; ihr eßt, aber werdet nicht satt; ihr
trinkt, aber bekommt nicht genug; ihr kleidet euch, aber habt nicht
warm, und wer sich um Lohn verdingt, verdient in einen löchrigen
Beutel. . . . Weshalb das? Dies ist der Spruch Jahves der Heer-
scharen: um meines Hauses willen, weil es in Trümmern liegt, wäh-
rend ein jeder von euch an seinem Hause seine Freude hat. Darum
hielt der Himmel über euch seinen Tau und die Erde ihren Ertrag
zurück, und ich rief Dürre herbei über das Land und die Berge,
den Most und das Öl und alles, was sonst der Boden hervorbringt.“
Der Aufruf der Propheten erweckte den erschlafften Eifer für
die gemeinsame Sache. Serubbabel, der um diese Zeit schon den
Titel eines judäisehen Statthalters (Pecha, Pachath Jehuda) trug,
sowie der Oberpriester und die Volksältesten gingen nun eifrig an
die Errichtung des Jerusalemer Tempels. Die Bauarbeiten wurden
im zweiten Regierungs jahre des Darius auf genommen und nahmen
fast vier Jahre in Anspruch. Im Laufe dieser Zeit mußten die
Führer des Volkes alle ihre Kräfte daran setzen, um das begonnene
Werk zu vollenden und die ihnen entgegentretenden Hindernisse aus
dem Wege zu räumen. Hindernisse nämlich gab es auch jetzt noch
in Übermaß. So kam eines Tages während des Tempelbaues der
persische Statthalter Tatnai, der Verwalter der Satrapie Abar-Nahara
(„Jenseits des Flusses“, d. i. Syriens), mit seinem Gefolge nach
Jerusalem und geriet in große Verwunderung, als er das im Bau
befindliche prächtige Tempelgebäude erblickte. Er fragte die judäi-
§ 72. Der neue Tempel; die Propheten Haggai und Sacharja
sehen Volksältesten, wer ihnen denn die Errichtung dieses Gebäudes
gestattet hätte, und erhielt zur Antwort, daß die Erlaubnis den aus
Babylonien heimgekehrten Judäern noch von König Kyros erteilt
worden sei und daß die Grundsteinlegung schon vor langer Zeit,
unter Sesbazar, dem Statthalter Kyros’, stattgefunden habe. Nach-
dem Tatnai dieses vernommen hatte, erstattete er dem König Darius
über die ganze Angelegenheit unverzüglich Bericht. Der König be-
fahl, in den verschiedenen Aktenaufbewahrungsstätten nachzusuchen,
und bald darauf wurde in der persischen Stadt Ekbatana die Ver-
ordnung des Kyros aufgefunden, in der er die Errichtung eines
„Hauses Gottes“ in Jerusalem genehmigte. Da befahl Darius seinem
Satrapen Tatnai, die Bauarbeiten nicht nur nicht zu behindern,
sondern sie auch durch Vorschuß von Geldmitteln zu unterstützen,
die den von der syrischen Satrapie an den Staatsschatz abzuführen-
den Abgaben entnommen werden sollten.
Der Tempelbau wurde im sechsten Regierungsjahre des Darius
(5i6), am dritten Tage des Frühjahrsmonats Adar vollendet, siebzig
Jahre nach der Zerstörung des ersten Tempels durch die Babylonier.
(Darum rechnet auch die Tradition mit einer siebzigjährigen Dauer
des „babylonischen Exils“.) Josua und Serubbabel veranstalteten
eine feierliche Einweihung des Tempels, und bald darauf wurde
in Freuden das Passallfest begangen, in Anwesenheit großer Volks-
massen, die nach Jerusalem gepilgert waren.
Im jüdischen Volke machte sich nun von neuem ein starker
geistiger Aufschwung bemerkbar. Die Reden des Propheten Haggai
und Sacharja1) erfüllten die Bevölkerung Jerusalems mit Begeisterung
und erweckten in ihnen die Hoffnung auf eine frohe Zukunft. So
sagte Haggai, daß dem neuen „zweiten Tempel“, mochte er auch
dem alten Salomonischen Tempel an Pracht nachstehen, doch strah-
lender Ruhm beschieden sei> denn er werde der Tempel des Friedens
und der Eintracht sein. Der Prophet nannte Serubbabel den „Aus-
erwählten Gottes“ und prophezeite ihm in geheimnisvollen Worten
eine glänzende Zukunft, indem er Anspielungen auf gewisse bevor-
stehende politische Umwälzungen machte (2, 21—23). Noch ge-
*) Von einem Propheten dieses Namens, einem Zeitgenossen Serubbabels, sind
die ersten acht Kapitel des biblischen „Buches Sacharja“ verfaßt; die übrigen
Kapitel (9—14) stammen anscheinend von einem Propheten aus späterer Zeit
(s. unten, Kap. V).
363
Die erste Restauration; Serubbabel und Josua
heimnisvoller sind die begeisterten messianischen Reden des Pro-
pheten Sacharja. Diese Reden sind zum großen Teil in die Form
von poetischen Visionen gekleidet, die die Visionen Jeheskels an
Schönheit der Symbole oft noch übertreffen x). In ihnen spiegelte
sich in verworrenen Umrissen jener Kampf wider, den in den
Restaura tionsjahren die weltliche Partei Serubbabels mit der
Priesterpartei Josuas führte. In diesem wechselvollen Kampfe sollte
entschieden werden, ob das neuerstandene Judäa ein Königreich sein
solle mit einem Regenten aus der Dynastie Davids oder aber eine
theokratisch organisierte Provinz Persiens mit einem Oberpriester
aus dem Geschlechte Zadoks an ihrer Spitze. Der Prophet schwankt
zwischen beiden Richtungen: bald bringt er die ßefreiung der Na-
tion mit der Persönlichkeit Serubbabels in Zusammenhang (indem
er ihn entweder beim Namen nennt oder ihn unter der symbolischen
Bezeichnung „Zemach“ = Sproß im Sinne hat; vgl. 4> 7—io mit
3, 8 und 6, 12); bald wieder nimmt er den Oberpriester Josua in
Schutz, indem er ihn seiner „schmutzigen Kleider“ entledigt (von
Sünden läutert), ihm eine Krone aufs Haupt setzt und ihm eine
Stelle neben dem Throne Serubbabels zu weist (6, 11—12), wobei er
ein „friedliches Einvernehmen“ zwischen den beiden Regenten pro-
phezeit. Dem weltlichen Haupt Serubbabel verkündet der Prophet
die Worte Jahves, die späterhin zum Wahlspruch des Judentums
als einer geistigen Nation geworden sind: „Nicht durch Macht noch
durch Gewalt, sondern durch den Geist“ (wird der Sieg errungen).
Sowohl das Volk als auch seinen Führer sucht Sacharja zu über-
zeugen, daß sie den „Tag kleiner Anfänge“ nicht vernachlässigen
mögen, weil dieser bescheidene ßeginn der Restauration Judäa zu
neuer Blüte bringen werde. Auch entsagt er nicht den lichten
Träumen Jesajas II von der künftigen Aufklärungsmission des
Judentums unter den Völkern der Erde:
„So spricht Jahve: Ich bin auf der Rückkehr nach Zion und
will inmitten Jerusalems Wohnung machen; Jerusalem wird die
treue Stadt heißen und der Berg Jahves der Heerscharen der heilige
Berg. Noch werden Greise und Greisinnen auf den Plätzen Jeru-
salems sitzen, ein jeder mit seinem Stab in der Hand vor der Menge
vou Lebensjahren. Und die Straßen der Stadt werden sich mit
Knaben und mit Mädchen füllen, die auf ihren Plätzen spielen. . . .
Fürwahr, ich werde mein Volk aus den Ländern des Aufgangs der
1) S. z. B. die Vision vom Reiter unter den Myrten (Sach. 1, 8—17).
364
§ 72. Der neue Tempel; die Propheten Haggai und Sacharja
Sonne (Babylon) und aus den Ländern ihres Niederganges (Ägyp-
ten?) erretten und werde sie heimbringen, daß sie inmitten Jeru-
salems wohnen. . . . Noch wird es geschehen, daß Völker und Be-
wohner großer Städte herbeikommen . . . um Jahve der Heerscharen
zu Jerusalem zu suchen. In jenen Tagen wird es geschehen, daß
zehn Männer aus allen Sprachen der Nationen einen Judäer beim
Rockzipfel ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch ziehen, denn
wir haben gehört: Gott ist mit euch“ (Sach. 8, 3—8, 20—2 3).
Als sich unter den Priestern die Frage erhob, ob die im babylo-
nischen Exil aus Anlaß der Zerstörung Jerusalems veranstalteten
Fasten auch weiter beibehalten werden sollten, sagte ihnen Sacharja,
es käme bald eine Zeit, da diese Fasttage zu Festtagen werden
würden (7, 2f.; 8, 19). Dabei sucht er gleich den alten Propheten
dem Volke klarzumachen, daß man nicht durch äußere Werkheilig-
keit, sondern nur durch gute Taten und Wahrhaftigkeit erlöst
werden könne: „Dies ist’s, was ihr zu tun habt! Redet untereinander
die Wahrheit und heilsames Recht richtet in euren Toren; sinnt in
eurem Herzen nichts Böses gegeneinander und habt nicht Gefallen
an lügenhaftem Schwören. Denn solches alles hasse ich, ist der
Spruch Jahves“ (8, 16—17).
Allein nicht alle waren optimistisch genug, um in den „kleinen
Anfängen“ Vorboten einer großen Zukunft zu erblicken. Und viel-
leicht war es gerade der Prophet, der im babylonischen Exil den
majestätischen Traum von der künftigen Weltsendung des „Lichtes
der Völker“ geträumt hatte, der jetzt diesen stolzen Traum über
den kleinen alltäglichen Sorgen vergessen hatte. Der babylonische
Anonymus Jesaja II (§ 69), der in der Nacht des Exils die an-
brechende Morgenröte verkündet hatte, stimmte zwei oder drei Jahr-
zehnte später, als an Stelle des lichten Traumes die trübe Alltäglich-
keit trat, seinen Ton bedeutend herab. In den letzten Prophezeiungen
Jesajas II (Kap. 56—66 des Buches Jesaja, wenn man einen Teil
davon in die Zeit Haggais und Sacharjas verlegt) spiegelt sich be-
reits der graue Alltag des Lebens wider. Wir vernehmen hier
Strafreden gegen die Scheinheiligen, die Gott, der im Himmel
thront, in die engen Wände eines kleinen Tempels einschließen zu
können glauben (Kap. 66), sowie gegen die Anhänger der „Höhen-
kulte“ (Kap. 65). Von neuem ertönt der Entrüstungsschrei über
die Sünden, die das Volk von ihrem Gotte trennen, und eine bittere
Klage über Gott, der an den aus Babylonien Ausgezogenen nicht
365
Die erste Restauration; Serubbabel und Josua
mehr jene Wunder tun wolle, die er in den Tagen Moses’, beim
Auszug aus Ägypten, vollbracht hatte. (Dies ist m. E. der Sinn des
Kap. 63, 7—19.) Und nur von Zeit zu Zeit mischt sich in diese
Klagen ein froher, hoffnungsvoller Ton, nur hie und da flammt
noch ein heller Funke des Vertrauens auf eine baldige nationale
Wiedergeburt Judäas auf (Kap. 60—62).
Die Restaurierung des religiösen Mittelpunktes in Jerusalem
stärkte für eine Zeitlang den sinkenden Mut des Volkes, allein die
lichten Hoffnungen des Propheten sollten nicht in Erfüllung gehen.
Die Tage der Freiheit und der Ruhe waren für Judäa noch nicht
angebrochen. Es blieb nach wie vor eine arme, den persischen Sa-
trapen untergebene Provinz. Dem Davididen Serubbabel war es
nicht vergönnt, die Königskrone zu tragen; nach der Errichtung des
Tempels verschwindet er plötzlich von der geschichtlichen Bühne,
und in den Urkunden wird seiner nicht weiter Erwähnung getan.
Eine spätere, apokryphe Erzählung berichtet, Serubbabel wäre nach
Babylonien zurückgekehrt und dort geblieben. Es gibt eine vielleicht
nicht unwahrscheinliche Vermutung, daß die Entfernung Serub-
babels durch Befürchtungen der persischen Regierung hervorgerufen
worden sei, die in ihm einen judäischen Kronprätendenten erblicken
mochte. Es ist aber auch möglich, daß er dem inneren Kampfe der
Parteien zum Opfer fiel, von denen die eine für einen weltlichen
Regenten aus dem Geschlechte Davids eintrat, während die andere
einen geistlichen Würdenträger aus dem Geschlechte Zadoks an der
Spitze Judäas sehen wollte. Die letzte siegte infolge der zu jener
Zeit im Volke vorherrschenden theokratischen Tendenzen. Die Ver-
waltung der Jerusalemer Gemeinde blieb in den Händen des Ober-
priesters Josua und ging nach seinem Tode an seinen Sohn Jojakim
über.
Die weitere Geschichte Judäas während der Regierung des Da-
rius und seines Nachfolgers Xerxes I. (485—465) ist in völliges
Dunkel gehüllt. Gerade in dieser Zeitperiode, als Persien infolge
der berühmten griechisch-persischen Kriege eine hervorragende Rolle
in der Weltgeschichte zu spielen beginnt, findet sich in den er-
haltengebliebenen Schriftdenkmälern keinerlei Erwähnung der Lage
der Juden in dem persischen Weltreiche. Der zerrissene Faden der
Geschichte wird erst ein halbes Jahrhundert nach der ersten Restau-
ration, in der Regierungszeit Artaxerxes I., von neuem angeknüpft.
366
Drittes Kapitel
Die zweite Restauration: Esra und Nehemia
§ 73. Die inneren Mißstände und. die Verarmung; der Prophet
Maleachi (um 500—450)
Die von Serubbabel und Josua eingeleitete erste Restauration
glich der ersten Aufackerung eines verwilderten Feldes, durch
welche der Ertrag noch lange nicht gesichert ist. Die Wiederher-
stellung des religiösen Zentrums in Jerusalem genügte nicht zur
Beseitigung jener Übel, die durch die noch nicht erfolgte Stabili-
sierung der sozialen Ordnung im Lande entstanden waren. Die von
der Generation Serubbabels erhoffte politische Restauration Judäas
wurde nicht zur Wirklichkeit: der Fürst aus dem GeschlechteDavids
verschwand von der Oberfläche, und das Statthalteramt in Judäa
versahen persische Würdenträger. Das politisch abhängige Land
besaß auch keine feste innere Selbstverwaltung, die bei dem per-
sischen System der Dezentralisation sehr umfassend hätte werden
können; auch in dieser Beziehung harrte Judäa noch der dieser
Aufgabe würdigen Vollbringer. In dieser Zeitperiode stellte Judäa
eine bescheidene religiöse Gemeinde dar, die von einer Oligarchie
der Vornehmen verwaltet wurde, an deren Spitze der Oberpriester
stand. Nach Jojakim, dem Sohne Josuas, wurde dieses Amt von
seinem Enkel Eljaschib (um 46o) bekleidet, der weder die für die
Periode der Organisierung so unentbehrliche Energie noch genügen-
den Unternehmungsgeist an den Tag legte. Neben der an der Spitze
der Verwaltung stehende Oligarchie trat unmittelbar die Geld-
aristokratie. Die wirtschaftliche Ungleichheit trat bereits deutlich
hervor: einem kleinen Häuflein der Vermögenden stand die große
Masse der Besitzlosen gegenüber. Die Reichen nützten ihre nahen
Beziehungen zur Verwaltung durch Bedrückung der Unbemittelten
367
Die zweite Restauration: Esra und Nehemia
aus. In Jahren der Mißernte verkauften oder verpfändeten die armen
Landleute den Reichen ihre Äcker, ihre Weinberge und Häuser, ja
manchmal sogar ihre Kinder, um Geld für ihren Lebensunterhalt
oder für die Entrichtung der Abgaben an den persischen Satrapen
als Zinsdarlehen von ihnen zu erhalten. Die Abgaben lasteten schwer
auf dem Volke: man forderte von ihm einen „Tribut für den König“
und überdies eine „Tischsteuer“ für den Statthalter (lechem ha’
pecha). Die Last der doppelten Abgaben, zugunsten der persischen
Staatskasse wie für die Bedürfnisse der inneren Selbstverwaltung,
drückte allzu schwer auf die unbemittelte Bevölkerung. Besonders
beschwerlich waren die Naturalabgaben für den Jerusalemer Tempel
und die Priesterschaft. Diese bestanden in einem Zehnten und über-
dies in freiwilligen Darbringungen von landwirtschaftlichen Erzeug-
nissen. Nicht leicht war es für die verarmten jüdischen Gemeinden,
ihren Tempelkult aufrechtzuerhalten. Sie mußten das Vieh sowohl
zu den täglichen als auch zu den festlichen Opfern im Tempel
herbeischaffen und den Unterhalt einer großen Zahl von Priestern
und Leviten bestreiten. Dort, wo die Tempelabgaben in Form von
freiwilligen Spenden eingesammelt wurden, suchten viele sich ihnen
zu entziehen, was auf die Lage der Priesterschaft wiederum sehr
ungünstig zurückwirkte.
Auch eine geistige Gefahr war im Anzuge: in die jüdischen
Gemeinden drangen fremde Elemente ein. Viele Heiden aus den
Nachbarvölkerschaften, die Judäa zur Zeit seiner Verödung besiedelt
hatten, befanden sich nun in so unmittelbarer Nähe von den jüdi-
schen Gemeinden, daß eine Annäherung der Familien unvermeidlich
wurde. So wurden die Ehen zwischen Fremden und Judäern immer
häufiger; besonders oft kam es vor, daß Judäer ammonitische oder
philistäische (asdodische) Weiber in ihre Familien auf nahmen.
Manche ließen sich so weit hinreißen, daß sie sich von ihren
jüdischen Frauen scheiden ließen, um fremdstämmige Weiber
heimzuführen. Ehen mit Samaritanern, die ja Halbhebräer waren,
galten als weniger anstößig. Diese sowohl in den höchsten als auch
in den niedrigsten Volksschichten verbreiteten Mischehen wurden
für die Reinheit der jüdischen Rasse und Religion sehr bedrohlich.
Die jüdische nationale Kultur hatte im Volke noch keine so festen
Wurzeln geschlagen, um die fremdartigen Elemente sich assimilieren
zu können, ohne selbst ihrem Einfluß zu unterliegen. Zur Zeit der
368
§ 73. Die inneren Mißstände und die Verarmung; der Prophet Maleachi
Reorganisation seiner inneren Lebensordnung bedurfte das Volk
strenger nationaler Absonderung; sonst drohte ihm die Gefahr,
unter den anderen Völkern aufzugehen, so daß der Judaismus dann
zu einem der damals so zahlreichen religiösen Kulte des Orients
hätte werden müssen, die, jeder universellen Bedeutung bar, später
von dem Strom der Geschichte einfach weggespült worden sind.
Gegen diese Gefahr traten nun die Besten des Volkes auf. Es ent-
stand eine nationale Partei, die das Judentum vor der ihm drohenden
Assimilationsgefahr zu beschützen strebte. Ein dumpfer Widerhall
des damaligen Kulturkampfes dringt bis zu uns aus den wenigen
Reden eines anonymen Propheten, der zwischen 475 und 45o auf-
trat und unter dem symbolischen Namen Maleachi (d. h. „mein —
d. i. Gottes — Gesandter“) bekannt ist. Mit einem klangvollen Akkord
beginnt die Predigt Maleachis (i, 6): „Ein Sohn ehrt seinen Vater
und ein Diener fürchtet seinen Herrn. Nun, wenn ich Vater bin,
wo ist meine Ehre, und wenn ich Herr bin, wo ist die Furcht vor
mir?“ Der Prophet macht seinen Mitbürgern den Vorwurf, daß sie
das dem judäischen Volke zuteil gewordene Vermächtnis nicht be-
achten wollen: „Treubruch hat Juda begangen und Greuel sind in
Juda und in Jerusalem verübt, denn Juda entweiht das Heiligtum
Jahves, indem es Töchter eines fremden Gottes liebt und freit“
(2, 11). Der Prophet tritt gegen die Mischehen auf und geißelt
besonders diejenigen, die sich von ihren gesetzlichen Frauen
scheiden lassen, um fremdstämmige Weiber zu ehelichen. Maleachi
stellt auch die Priester und Leviten bloß, die ihren Tempeldienst
und ihr Amt als Glaubenslehrer vernachlässigen. Zum Unterschiede
von den alten Propheten räumt er der Tempelpriesterschaft die
höchste leitende Stellung in dem Gemeinwesen ein und tadelt die
Unfähigkeit der Hierarchen, sich selbst die ihnen gebührende
Autorität zu verschaffen: „Denn eines Priesters Lippen bewahren
Erkenntnis und Weisung sucht man von seinem Munde; denn der
Bote Jahves der Heerscharen ist er.“ „Ihr aber — so spricht er,
sich an die Priesterschaft wendend — seid vom Wege abgewichen,
habt mit eurer Weisung viele zu Falle gebracht. . . . Darum bringe
auch ich euch bei allem Volk in Geringschätzung und Verachtung“
(2, 7—g). Was nun am meisten nottue, meint der Prophet, ist ein
großer Organisator und Sittenerneuerer. Dies bringt er in folgenden
Wendungen zum Ausdruck:
24 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
Die zweite Restauration: Esra und Nehemia
„Siehe, ich sende meinen Engel, daß er den Weg vor mir bahne,
und plötzlich kommt zu seinem Tempel der Herr, den ihr herbei-
wünscht, und der Engel des Bundes, nach dem ihr begehrt. Wer
aber hält aus am Tag, da er kommt? und wer besteht, da er er-
scheint? Denn er ist gleich dem Feuer eines Schmelzers und gleich
der Lauge* von Wäschern: sitzen wird ein Silberschmelzer und
Reiniger und wird die Leviten reinigen und sie läutern wie Gold
und wie Silber. ... Da werde ich zum Gericht euch nahen und
ein schneller Zeuge sein gegen die Zauberer und die Ehebrecher
und gegen die, die falsch schwören, gegen die Bedrücker der Lohn-
arbeiter, der Witwen und Waisen und gegen die, die den Fremden
mißhandeln“ (Maleachi 3, i—5).
Der Gesandte Gottes, von dem Maleachi redet, erschien auch
bald und unternahm die „Reinigung“ des jüdischen Volkes. Es war
dies aber kein Prophet mehr. Die Prophetie geht ihrem Ende ent-
gegen : Maleachi wird als der letzte oder einer der letzten ihrer
Vertreter angesehen. Die Unbeständigkeit des damaligen sozialen
Gemeinwesens erforderte einen Mann, der Wort und Tat, Predigt
und praktische Wirksamkeit zu vereinigen imstande war, einen
sozialen Reformator voll Energie und Unternehmungsgeist. In Judäa
gab es einen solchen Mann nicht; er kam aus der judäischen Kolonie
in Babylonien, wo sich seit den Zeiten des Exils ein großer Vorrat
an geistigen Kräften und nationaler Energie angesammelt hatte.
§ 74. Esra und der Kampf gegen die Mischehen (U58—445J
Der Priester Esra ben Seraja, der in Babylonien lebte, hatte sich
als gelehrter Mann oder „Schriftgelehrter“, Sofer1), einen Namen
gemacht. Ein tiefer Kenner der schriftlichen und mündlichen Lehre
des Judaismus, setzte er anscheinend jenes Werk des Sammelns und
Rezensierens der heiligen Bücher fort, das in den Gelehrtenkreisen
noch zur Zeit des babylonischen Exils seinen Anfang genommen
hatte (§ 67). Allein er hatte auch ein praktisches Ziel im Auge:
die Glaubenslehre und das „Gesetz Moses“ im Volke zu verbreiten.
„Denn Esra hatte es sich zur Aufgabe gemacht, — so erzählt der
Chronist — das Gesetz Jahves zu erforschen und danach zu handeln
1) In dem Babylonien jener Zeitperiode gab es einen besonderen Stand ein-
heimischer Schriftgelehrter, die in den Diensten der heidnischen Tempel standen.
Sie wurden sapiri genannt, was der hebräischen Bezeichnung soferim genau ent-
spricht.
370
§ 74. Esra und der Kampf gegen die Mischehen
und Satzung und Recht in Israel zu lehren/' Esra sah mit voller
Klarheit, daß die jüdische Nation nur dann innerlich stark sein
könne, wenn ihr ganzes Leben durch eine bestimmte, auf den
Grundlagen der Thora und der alten Überlieferungen aufgebaute
Verfassung geregelt werde. In dieser Richtung eben wirkte er in
den Gemeinden Babyloniens und Persiens. Als er von dem Nieder-
gange der Jerusalemer Gemeinde Kunde erhielt, faßte er den Ent-
schluß, dorthin überzusiedeln, um im Volke den Drang nach neuer
Formung des Lebens zu erwecken. Um aber erfolgreich in Judäa
wirken und das soziale und religiöse Leben im Geiste des Gesetzes
reformieren zu können, mußte Esra über eine offizielle Vollmacht
der persischen Regierung verfügen. Es gelang ihm auch, von dem
persischen König Artaxerxes I. Longimanus (465—4^4) in dessen
siebentem Regierungsjahre eine solche zu erhalten. Esra bekam das
Recht, Beamte und Richter in Judäa zu ernennen und sie zu unter-
weisen, wie sie auf der Grundlage der jüdischen Gesetze verwalten
und richten sollten. Überdies wurde ihm gestattet, in der babylo-
nischen Kolonie für den Jerusalemer Tempel und andere soziale
Bedürfnisse der Metropole Sammlungen zu veranstalten sowie die-
jenigen von seinen Landsleuten mit sich nach Judäa zu nehmen,
die zur Übersiedlung geneigt wären.
Im „Buche Esra" wird diese offizielle Urkunde, ein in aramäi-
scher Sprache abgefaßter und dem Priester Esra eingehändigter
Brief Artaxerxes’ I., angeführt. Er lautete: „Artaxerxes, der König
der Könige, an den Priester Esra, den Gelehrten im Gesetze des
Gottes des Himmels usw. Und nun ist von mir Befehl gegeben,
daß jeder, der in meinem Königreiche zum Volke Israel oder dessen
Priestern oder Leviten gehört und willens ist, nach Jerusalem zu
ziehen, mit dir ziehen darf, dieweil du vom König und seinen sieben
Ministern gesandt bist, die Verhältnisse in Juda und Jerusalem nach
dem Gesetze deines Gottes, das du in der Hand hast, zu untersuchen,
und um dorthin zu bringen das Silber und Gold, welches der König
und seine Minister für den Gott des Himmels, dessen Wohnung zu
Jerusalem ist, gespendet haben, sowie das Silber und Gold, welches
du in der ganzen Provinz Babel erhalten wirst, mitsamt der Spende
des Volkes und der Priester, die für das Haus ihres Gottes in Jeru-
salem spenden. Demgemäß sollst du pünktlich für dieses Geld
Stiere, Widder und Lämmer und die dazu gehörigen Speise- und
Die zweite Restauration: Esra und Nehemia
Trankopfer kaufen und sie auf dem Altar des Hauses eures Gottes
zu Jerusalem opfern. . * . Es ist nämlich von mir, Artaxerxes, Be-
fehl gegeben an alle Schatzmeister in Syrien (Ahar-Nahara): alles,
was der Priester Esra, der Gelehrte im Gesetze des Gottes des Him-
mels, von euch verlangen wird, soll pünktlich geleistet werden. . . .
Euch aber sei mitgeteilt, daß es nicht erlaubt sein soll, all den
Priestern, Leviten, Sängern, Torwächtern, Hörigen und Dienern
dieses Hauses Gottes Geldtribut, Naturalsteuer oder Wegezoll auf-
zuerlegen. Du aber, Esra, bestelle gemäß der Weisheit deines Gottes
Regierungsbeamte und Richter, damit sie dem ganzen Volke in
Syrien Recht sprechen* nämlich allen denen, die die Gesetze deines
Gottes kennen, und wer sie nicht kennt, den sollt ihr sie lehren.
Wer aber das Gesetz deines Gottes und das Gesetz des Königs nicht
befolgt, über den soll pünktlich Urteil gefällt werden, sei es zum
Tode oder zur Verbannung, zu Geldstrafe oder zu Kerker1).“
Dem Rufe Esras folgten in Babylonien gegen anderthalb Tau-
send Männer, die mit ihren Familien nach Jerusalem übersiedeln
wollten. Ihnen schloß sich auch eine Gruppe von Leviten und
Tempeldienern an. Als Treffpunkt für die ganze Auswanderer-
gruppe wurde die Gegend am Ufer des Ahavaflusses oder -kanals
bestimmt. Dort gebot Esra den Versammelten, zu fasten und Gott
um eine glückliche Wanderung anzuflehen, da er es nicht für an-
gebracht hielt, Artaxerxes um ein Militärgeleit für die Übersiedler
und ihre Habe zu bitten. Als Schutz konnten den Auswanderern
jedoch die an Esra ausgefolgten, offenen königlichen Geleitbriefe
an die Satrapen „jenseits des Flusses“, d. i. in Syrien, dienen, das
auf dem Wege nach Palästina gelegen und in administrativer Hin-
sicht diesem übergeordnet war. Am 12. Tage des Nissan (April) trat
Esra an der Spitze der Auswanderer die Reise an und am 1. Ab
(August) kam die Gruppe wohlbehalten in Jerusalem an (458).
Nach dreitägiger Ruhe übergab Esra der Tempelpriesterschaft die
*) Die Authentizität dieser im Buche Esra 7, 11—26 angeführten Urkunde
wurde schon vor langer Zeit von einem der maßgebendsten Geschichtschreiber
des alten Orients, von Ed. Meyer, behauptet, der sie allem, was uns von dem
persischen Staate, seinen Institutionen und seiner Geschichte bekannt ist, durchaus
entsprechend fand. Die später aufgefundenen aramäischen Papyri von Elephantine
haben diese Ansicht Meyers, die von einseitigen Bibelkritikern bestritten wurde,
vollauf bestätigt. S. Ed. Meyer, Die Entstehung des Judentums (1896) und Der
Papyrusfund von Elephantine (1912), S. 3—4- (f
§ 74. Esra und der Kampf gegen die Mischehen
mitgebrachten Spenden und wies den persischen Beamten die Be-*
fehle des Artaxerxes hinsichtlich der Einführung einer neuen so-^
zialen Ordnung in Judäa und der ihm selbst dabei zuerkannten
leitenden Stellung vor.
Dem aus Babylonien gekommenen Reformator schlossen sich
die Vertreter der nationalen Partei Jerusalems an. Von diesen seinen
Gesinnungsgenossen erfuhr Esra indessen noch Schlimmeres als er
erwartet hatte. Er mußte sich überzeugen, daß der Niedergang des
religiös-nationalen Geistes in den verschiedenen Volksschichten
äußerst gefährliche Formen angenommen und daß dies vor allem
seine Ursache in den häufigen Mischehen zwischen Juden und
Fremdstämmigen hatte. Von all dem Vernommenen tief bewegt,
ergoß Esra seine Gefühle in einem langen Bußgebet, das er
öffentlich während des Abendgottesdienstes im Jerusalemer Tempel
sprach. Das Volk war gerührt von dieser aufrichtigen Trauer und
den Tränen des gelehrten Mannes. Einer der Gemeindeältesten,
Sechanja ben Jechiel, wandte sich mit folgenden Worten an Esra:
„Wir haben gegen unseren Gott gefrevelt, daß wir fremde Frauen
von den Völkern des Landes geheiratet haben. Und doch, es gibt
noch eine Hoffnung für Israel. Wir wollen uns jetzt unserem Gott
gegenüber feierlich verpflichten, alle unsere Frauen und was von
ihnen geboren ist, zu verstoßen, ganz nach dem Rate Gottes und
derer, die das Gebot Gottes fürchten. Es möge verfahren werden
nach dem Gesetz! Stehe auf, denn deine Sache ist es, und wir
wollen dir beistehen. Ermanne dich und handle!“ Esra folgte dieser
Aufforderung und nahm allen Anwesenden auf der Stelle den Eid
ab, durch den sie sich verpflichteten, für die Wiederherstellung des
verletzten Gesetzes zu wirken.
Bald darauf beriefen die Obersten und Ältesten die Einwohner
der Hauptstadt und der Umgegend zu einer großen Volksversamm-
lung nach Jerusalem. Den aus Babylonien eingewanderten Familien
(Bne ha’golah) wurde das Erscheinen unter Androhung der Kon-
fiskation ihres Eigentums und der Verstoßung aus der Gemeinde
zur Pflicht gemacht. Die Versammlung fand am 20. Kislev (De-
zember) auf dem Platz vor dem Tempel statt. Es regnete in Strö-
men, und die Versammelten zitterten, wie der Chronist sich aus-
drückt, „wegen des Anlasses und der Regengüsse'*. Esra tat ihnen
seine Forderung kund, derzufolge sie ihre fremdstämmigen Weiber
Die zweite Restauration: Esra und Nehemia
•entlassen und sich gegen die Fremden überhaupt abschließen sollten.
Das Volk stimmte laut der Forderung zu, verlangte aber, daß für die
Ehescheidungssachen besondere aus den Volksältesten und den
Richtern einer jeden Gemeinde gebildete Räte bestellt werden
sollten. Bald darauf wurde in Jerusalem unter der Leitung Esras
ein Rat der Geschlechtsältesten gebildet, der alle Fälle von Misch-
ehen zu untersuchen und deren schnellste Auflösung zu veranlassen
hatte. Es wurde ein Verzeichnis derjenigen Familien aufgesetzt, die
fremdstämmige Frauen aufzuweisen hatten, wobei es sich heraus-
stellte, daß das Verzeichnis viele vornehme Familien nicht nur von
den Laien, sondern auch aus der Priesterschaft umfaßte. Viele
fremdstämmige Weiber und ihre Kinder wurden so aus den jüdi-
schen Familien entfernt1).
Es war dies eine sehr schroffe Maßnahme, denn sie war mit
der Auflösung engster Familienbande und mit der Verletzung per-
sönlicher Gefühle verbunden; allein dieses schwere Opfer war un-
vermeidlich zur Festigung der zerrütteten nationalen Lebensordnung.
Die Ausstoßung der fremdartigen Elemente aus der jüdischen Na-
tion war zur Erhaltung der Reinheit der Rasse, der Religion und
der eigenartigen Volkskultur unumgänglich. Bald darauf sollte
diese außerordentliche Maßregel die strenge Form einer Gesetzes-
vorschrift erhalten (s. unten, § 76).
§ 75. Nehemia und die Befestigung Jerusalems (UU5—433)
Der in Judäa eingeleitete Kampf gegen die Mischehen rief bei
den Nachbarvölkern große Erregung hervor. Die aus Judäa aus-
gewiesenen fremdstämmigen Weiber, die gekränkt zu ihren Familien
heimgekehrt waren, entfachten das Verlangen nach Rache. Um diese
Zeit herrschte in Palästina Unruhe: der syro-palästinische Satrap
Megabyzeus sammelte ein Heer zur Unterdrückung des in Ägypten
ausgebrochenen Aufruhrs und lehnte sich nach dessen Nieder-
werfung selbst gegen den König Artaxerxes auf. Diese anarchischen
Zustände benützten anscheinend die gereizten Fremden, um sich an
*■) Der letzte Satz des ,»Buches Esra” (10, 44) ist im massoretischen Text
offenbar entstellt; verbessert man ihn aber nach der griechischen Septuaginta, so
hat er diesen Sinn: „und sie entließen Frauen und Kinder”.
§ 75. Nehemia und die Befestigung Jerusalems
den Einwohnern Jerusalems zu rächen. Sie drangen in Jerusalem
ein, das damals noch eine wenig befestigte, menschenleere Stadt war,
zerstörten die Überreste der alten Stadtmauer und verbrannten das
Stadttor. So bekamen die Ammoniter, die Asdodier und die Sama-
ritaner freien Zutritt zur Hauptstadt und trieben ihr Unwesen darin
wie in ihrem eigenen Lande.
Alle diese Geschehnisse erfüllten die Patrioten, die Gesinnungs-
genossen Esras, mit schwerer Sorge. Sie sahen nun, daß das Volk
zwecks innerer Abschließung zunächst nach außen abgesondert, daß
Jerusalem zu einer befestigten, geschlossenen Stadt werden müsse,
in die kein Fremder sich mit Gewalt Zutritt verschaffen könne.
Seitdem wurde die Befestigung der Stadt durch widerstandsfähige
Mauern zur Hauptaufgabe der Patrioten. Ihr Haupt Esra, der die
Reformierung der sozialen Ordnung im Sinne des „Gesetzes“ durch-
zuführen begonnen hatte, benötigte einen energischen Landpfleger,
der die äußere Lage der jüdischen Nation unter den Nachbarvölker-
schaften sicherstellen konnte. Ein solcher Mann erschien nun wieder
aus der fernen Diaspora. Es war dies Nehemia ben Hakalja, der am
Hofe Artaxerxes I., in der Hauptstadt Persiens, Susa, die Stellung
des „Mundschenks“ bekleidete.
Es ist unbekannt, ob die Jerusalemer Patrioten ihren einfluß-
reichen Stammesbruder in Susa durch eine besondere Gesandtschaft
um Hilfe ansprachen oder ob dieser selbst ganz zufällig von der
Lage in Judäa Kenntnis gewann. In dem Buche, das in Form von
Memoiren des Nehemia verfaßt ist, wird folgendes erzählt: Als
Nehemia von seinem nach Susa gekommenen Bruder Hanani und
von einigen anderen Bürgern Jerusalems von der betrübenden Lage
der heiligen Stadt erfuhr, befiel ihn große Trauer. Der König
Artaxerxes fragte Nehemia, warum er so traurig sei und so schlecht
aussähe. Darauf sagte Nehemia: „Wie sollte ich nicht schlecht aus-
sehen, da doch die Stadt mit den Gräbern meiner Väter in Trüm-
mern liegt und ihre Tore vom Feuer verbrannt sind?“ — „Was ist
es denn, was du begehrst?“ fragte der König, und Nehemia er-
widerte: „Wenn es dem Könige genehm ist, so wollest du mich
nach Juda entsenden, zur Stadt der Gräber meiner Väter.“ Der
König willigte ein. Nehemia erhielt von dem ihm gewogenen
Artaxerxes nicht nur einen langfristigen Urlaub nach Judäa, sondern
auch außerordentliche Vollmachten zur Ordnung der inneren An-
375
Die zweite Restauration: Esra und Nehemia
gelegenheiten des Landes. Der König gestattete ihm, das halbzer-
störte Jerusalem und seine Festungsmauern wieder aufzubauen. Den
persischen Satrapen und den Vögten Syriens wurde der Befehl er-
teilt, das Unternehmen Nehemias zu unterstützen, ihn mit Bau-
material aus den königlichen Wäldern zu versehen und ihm einen
Kriegertrupp zur Verfügung zu stellen. Innerhalb der Grenzen
Judäas trug Nehemia den Titel eines zeitweiligen Statthalters
(Pecha 1)).
Im Frühjahr des Jahres 445 („im zwanzigsten Jahre des
Königs Artaxerxes“) kam Nehemia aus Susa in Jerusalem an. Zu-
nächst bewahrte er ein strenges Inkognito. In den ersten drei Näch-
ten fuhr er insgeheim, nur von einem kleinen Gefolge begleitet, um
die Stadt herum und besichtigte ihre zerstörten Mauern und ver-
brannten Tore. Sodann setzte er die Volksältesten und die Priester
in Kenntnis von seinen amtlichen Vollmachten und forderte sie
auf, an der patriotischen Sache der Befestigung der Hauptstadt
energisch mitzuwirken. Dem Aufrufe Nehemias leisteten viele Folge,
Laien wie auch Geistliche, Vornehme und Geringe, Bürger Jeru-
salems wie auch Landleute. Es bildete sich eine ganze Armee frei-
williger Arbeiter, die in einzelne Abteilungen zerfiel. Eine jede von
ihnen nahm die Errichtung eines bestimmten Teils der Festungs-
mauer auf sich.
Kaum hatten die Arbeiten begonnen, als schon der Oberste des
samaritanischen Bezirks und das Oberhaupt der Völkerschaft der
Samaritaner, Sanballat1 2), Nehemia in den Weg trat. Ihm schlossen
sich die Vertreter anderer fremdstämmiger Gruppen an: der Ammo-
niter Tobia und. der Araber Gesem. Diese Männer sowie ihre
1) Für die Kenntnis der Ereignisse dieser Epoche finden wir im biblischen
Schrifttum eine Quelle von hervorragendster Bedeutung: die Memoiren Nehemias,
die in dem nach ihm benannten Buche erhalten geblieben sind. Daß in diesem
Buche tatsächlich die authentischen Aufzeichnungen Nehemias erhalten geblieben
sind (mit Ausnahme einiger Einfügungen in die Kap. 7—9), wird nicht einmal
von jenen Kritikern bestritten, die an der Echtheit des autobiographischen
Charakters des mit dem Buche Nehemia einer gemeinsamen Rezension unter-
zogenen Buches Esra (Kap. 8—9) zweifeln.
2) In den neuentdeckten aramäischen Papyri von Elephantine (s. unten, S 8°)
ist von Sanballat als Yon dem Statthalter Samariens (pachat Schomron) die Rede,
was in dem Buche Nehemia unerwähnt bleibt; Josephus Flavius (Altertümer 11,
7, 2) nennt ihn einen „Satrapen Samariens“. Sanballat stand demzufolge Nehemia
an Rang und Einfluß nicht nach.
376
§75, Nehemia und die Befestigung Jerusalems
Stammesgenossen verkehrten früher unbehindert in Jerusalem und
erfreuten sich sogar einer einflußreichen Stellung in der Gesell-
schaft, da sie zu den Vertretern der jüdischen Aristokratie in engen
freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen standen.
Die Befestigung Jerusalems und die Erstarkung der nationalen
Partei mußten nun der Stellung der fremdstämmigen Obersten
notgedrungen ein Ende machen. Darum waren sie von Haß gegen
die nationale Partei erfüllt und suchten ihr und ihrem Haupte
Nehemia in jeder Weise zu schaden. Sie drohten, die Judäer dem
persischen König als Aufrührer zu denunzieren, die die Absicht
hätten, ihre Hauptstadt zu befestigen, um sich sodann von Persien
loszusagen und Nehemia zum Könige auszurufen. Jedoch Nehemia
verstand es, von seiner offiziellen Vollmacht Gebrauch zu machen
und das Ränkespiel der Feinde zu durchkreuzen; er setzte die be-
gonnenen Arbeiten unbeirrt fort. Als Sanballat und Tobia sahen,
daß dank dem Eifer der Einwohner die Stadtmauer sich immer
höher erhob, verhöhnten sie die Judäer, indem sie sagten: „Was
machen diese elenden Juden nur? Wollen wohl die verbrannten
Steine aus dem Schutthaufen wieder lebendig machen? ... Sie
mögen ruhig bauen! Kommt nur ein Fuchs darüber, so reißt er
die Mauer ein!“ Allein die Bauenden beachteten ihre Schmähworte
nicht und setzten ihre Arbeit fort. Als aber die Mauer eine be-
deutende Höhe erreicht hatte und die Breschen geschlossen waren,
versuchten die Feinde, die Arbeit mit Gewalt zu verhindern. Es
wurde Nehemia hinterbracht, daß die Ammoniter, die Samaritaner
und andere Fremde einen Überfall auf Jerusalem planten; jedoch
diese alarmierenden Nachrichten brachten die Arbeit nicht ins
Stocken, sondern veranlaßten die Maurer nur, Vorsichtsmaßregeln
zu treffen. Nehemia bewaffnete alle Arbeiter und befahl einem
Teil von ihnen, die Mauer an verschiedenen Stellen zu bewachen,
während der andere Teil die Bauarbeiten unentwegt fortsetzte; viele
„arbeiten mit der einen Hand, während die andere das Geschoß
hält“ — so heißt es in den Memoiren Nehemias.
Nach zwei Monaten angestrengter Arbeit war die Jerusalemer
Festungsmauer vollendet, und bald waren auch die Stadttore
wiederhergestellt. An den Toren wurden Wachen auf gestellt; den
Schutz der Stadt übernahm der Festungsoberste Chananja. Die Tore
wurden während der Nacht geschlossen und nur am Morgen, wenn
377
Die zweite Restauration: Esra und Nehemia
„die Sonne warm schien“, wieder geöffnet. Die ehedem schutzlose
judäische Hauptstadt wurde nun zu einer befestigten, geschlossenen
Stadt und vermochte die Einfälle der Nachbarn kraftvoll abzu-
wehren.
§76. Die Veröffentlichung der Thora als der Verfassung Judäas
Nach der Befestigung Jerusalems von außen her waren Nehemia
und die jüdischen Volksältesten darauf bedacht, die Zahl seiner Ein-
wohner zu vergrößern. Es wurde beschlossen, daß jeder zehnte
Einwohner der Provinz, den das Los traf, nach der Hauptstadt
über siedeln sollte. Viele siedelten freiwillig in das befestigte Jeru-
salem über, wo die Bevölkerung jetzt besser geschützt war als in
der Provinz. Auch suchte Nehemia die ehedem außerhalb der
Hauptstadt wohnenden Leviten und Tempelsänger nach Jerusalem
zu ziehen. Überdies wurden die genealogischen Register aller aus
Babylonien seit der Zeit Serubbabels heimgekehrten Familien nach-
geprüft.
Viele Sorgen machte Nehemia der zu jener Zeit in Judäa akut
gewordene wirtschaftliche Klassenkampf, der der nationalen Eini-
gung im Wege stand. Die in dem wirtschaftlich zerrütteten Lande
seit langer Zeit zur Gewohnheit gewordene Bedrückung der Besitz-
losen durch die Reichen (§ 73) nahm immer mehr überhand. Die
Reichen, die den Unbemittelten Brot und Geld liehen, nahmen nach
wie vor ihre Äcker, Weinberge, Häuser, ja sogar ihre Kinder zum
Pfände. Durch Jahre der Mißernte und Zwangsabgaben an die
persischen Beamten gänzlich ruiniert, dazu noch von ihren Gläu-
bigern bedrückt, klagten die armen Schuldner Nehemia ihr bitteres
Los. Nehemia beschloß nun, zur Neuregelung der Besitzverhältnisse
von seiner Gewalt Gebrauch zu machen. Er berief alle vermögenden
Gläubiger und stellte sie zur Rede wegen der Gemeingefährlichkeit
ihrer Art, die Armen zu bedrücken: „Wir — so sprach der ent-
rüstete Nehemia — haben unsere jüdischen Brüder, die an die
Heiden verkauft waren, losgekauft; ihr dagegen geht hin und ver-
kauft eure Brüder.“ Er suchte die Reichen zu überzeugen, daß sie
der Sache der Einigung des Volkes, dem Patriotismus, ihre persön-
lichen Interessen zum Opfer bringen müßten. Dabei ging ihnen
Nehemia mit dem Beispiel der Selbstlosigkeit voran, indem er er-
§ 76. Die Veröffentlichung der Thora als der Verfassung Judäas
klärte, daß er selbst den Armen erlasse, was sie ihm an Geld und
Brot schuldeten. Schon vorher hatte er in Anbetracht der Volksnot
auf das „Statthalterbrot“ verzichtet, d. i. auf die Natural- und Geld-
abgaben, die die Einwohner für seinen und seiner Bedienten Unter-
halt entrichten mußten. Die Uneigennützigkeit Nehemias und seine
eindringlichen Ermahnungen verfehlten nicht ihre Wirkung auf
seine reichen Hörer: sie versprachen, die von ihnen geknechteten
Leute freizulassen, den besitzlosen Schuldnern ihre verpfändeten
Häuser, Äcker und Gärten zurückzuerstatten und ihnen alle Schul-
den zu erlassen. Auf Verlangen Nehemias mußten sie dieses Ver-
sprechen noch mit einer feierlichen Eidesleistung bekräftigen.
Während seiner zwölfjährigen Verwaltung Judäas als Statthalter
gelang es Nehemia, eine gewisse Ordnung im sozialen Leben zu
schaffen; damit aber diese Ordnung eine feste und dauernde werde,
war es vonnöten, daß das Volk ihre Berechtigung und ihren engen
Zusammenhang mit den Prinzipien der Thora als der Verfassung
Judäas erkenne. Hier wurde Nehemia der Beistand des gesetzes-
kundigen Esra unentbehrlich, mit dem er sich von nun ab zu ge-
meinsamer Wirksamkeit vereinigte.
Die beiden Führer der Nation teilen die Arbeit untereinander:
Esra übernimmt mit allem Eifer die Verbreitung der „Lehre Moses“
im Volke, während Nehemia als Regent dafür Sorge trägt, daß diese
Lehre in ihrem ganzen Umfange praktisches Gesetz werde. Um den
Erfolg der Sache zu sichern, mußte man mit dem feierlichen Ver-
öffentlichung sakt der Thora als der göttlichen Verfassung beginnen,
d. h. in größerem Umfang jenen Versuch wiederholen, der sich be-
reits unter König Josia als so erfolgreich erwiesen hatte (§ 58).
Über diesen Höhepunkt der Reform ist folgende Erzählung in der
Urkunde erhaltengeblieben, die in den Text des „Buches Nehemia“
(Kap. 8—io) auf genommen ist.
Am herbstlichen Neujahrstage (i. Tischri des Jahres 444) ver-
sammelte sich das Volk auf einem der Plätze Jerusalems, vor dem
„Wassertor“ („Schaar ha’maim“), und verlangte von Esra, daß er
das Buch des „Gesetzes Moses“, welches Jahve Israel geboten hatte,
laut vorlese. Esra kam diese Forderung anscheinend nicht un-
erwartet. Er stieg auf ein hohes, hölzernes Gerüst, und von ge-
lehrten Leviten umringt, verlas er mit lauter Stimme mehrere
Kapitel aus dem Pentateuch. Die Vorlesung dauerte vom frühen
379
Die zweite Restauration: Esra und Nehemia
Morgen bis Mittag, wobei die Leviten den Anwesenden den Text
eingehend erläuterten. Das Volk hörte stehend zu, um so seine
Verehrung für die Heilige Schrift kundzutun. Die Vorlesung und
die sie begleitenden Erläuterungen machten einen mächtigen Ein-
druck auf die Hörer. Sie überzeugten sich, wie weit noch das
Leben des Volkes von den in den verlesenen Gesetzbüchern
aufgezeichneten göttlichen Geboten entfernt war. Viele von den
Anwesenden vermochten ihre Tränen nicht zurückzuhalten. Esra und
Nehemia beruhigten das Volk, indem sie sprachen: „Dieser Tag ist
Jahve, eurem Gotte, heilig; trauert und weinet nicht! Gehet hin,
esset fette Speisen und trinket süße Getränke und versendet Anteile
an die, die nichts haben.“ Das Volk verbrachte den Rest des Tages
bei festlichem Mahle.
Am nächsten Tage, als die Familienhäupter sich wieder bei Esra
eingefunden hatten, erklärte er ihnen die Thora und insbesondere
die religiöse Bedeutung der Feiertage. Dabei besprach er eingehend
das Zeremoniell des unmittelbar bevorstehenden achttägigen „Sukoth“
(Laubhüttenfest), zwischen dem i5. und dem 22. Tischri, das
«in früheren Zeiten als landwirtschaftliches „Fest der Fruchtlese“
gefeiert worden war. Diesmal wurde Sukoth mit allen von der
Thora vorgesehenen religiösen Zeremonien begangen. Alle bauten
sich Zelte oder Laubhütten, die einen auf den Dächern der Häuser,
die anderen in den Höfen; manche schlugen gemeinschaftliche Zelte
in den geräumigen Tempelhöfen oder auf den Stadtplätzen auf. Die
Laubhütten waren mit Blättern und Oliven-, Myrten- und Palmen-
zweigen geschmückt.
Nach den Feiertagen wurden die öffentlichen Vorlesungen wie-
der auf genommen. Den 24. Tischri setzte man als Fast- und Buße-
tag fest. In den Volksversammlungen wurden Abschnitte aus der
Thora verlesen, sodann beichteten die Anwesenden ihre Sünden und
sprachen die Bußformeln. Die Leviten gaben in ihren Predigten
eine farbenreiche Darstellung der Hauptereignisse aus der Ver-
gangenheit der israelitischen Nation, ihrer großen Heldentaten sowie
ihrer verhängnisvollen Fehltritte und betonten, daß eben der Abfall
des Volkes von den Geboten der Thora das judäische Land unter
fremde Gewalt gebracht hätte. Endlich kam es zum Schlußakt all
dieser Volkskundgebungen. Die Vertreter der Jerusalemer Gemeinde
Unterzeichneten einen Vertragsbrief, durch den sie sich verpflich-
§ 77. Der Isolierungsprozeß. Die Absonderung der Samaritaner
teten, die von Gott an Moses gegebenen und in der von Esra über-
reichten vollständigen Abschrift der Thora dargelegten Gesetze und
Gebote treu zu befolgen. Die gesamte Volksmenge bekräftigte diese
Verpflichtung durch ein laut gesprochenes Gelöbnis. So ward das
Volk auf die neue Verfassung vereidigt. In dem schriftlichen Ver-
trag waren unter anderem folgende Hauptverpflichtungen erwähnt:
i. keine Ehen mit Heiden einzugehen1), 2. die Sabbatruhe streng
zu wahren und an diesem Tag jeden Handel zu unterlassen, 3. das
Gesetz vom siebenten Jahre („Schemita“), in dem das Land brach-
liegen und alle Eigentumsansprüche ruhen sollten, zu halten,
4. eine besondere Kopfsteuer für den Unterhalt des Tempels und
für den Opferdienst zu entrichten, 5. den Priestern und Leviten
einen gewissen Teil des Brot-, Gemüse- und Obstertrages (den
levitischen Zehnten) zu geben, wobei alle durch diese Naturalabgabe
gebildeten Vorräte in besonderen, dem Tempel angehörenden Scheu-
nen aufbewahrt und unter die Tempeldiener laut den Bestimmun-
gen des Priesterkodex verteilt werden sollten.
<S 77. Der Isolierunqsprozeß. Die Absonderunq der Samaritaner
(um 432—420;
Die auf die Befestigung der national-geistigen Eigenart des
Judentums gerichteten Reformen Esras und Nehemias bürgerten
sich nicht sogleich im Volksleben ein. Solange Nehemia in Judäa
Statthalter war, hielt er die reformierte Lebensordnung durch
seine Regentenautorität aufrecht. Als er aber nach zwölfjähriger
Verwaltung Judäas nach der Hauptstadt Persiens, an den Hof
Artaxerxes’, zurückberufen wurde (433), geriet die mit so großer
Mühe ins Leben gerufene neue Ordnung in Judäa wieder ins
*) Daß es bis zum babylonischen Exil kein die Ehen mit Heiden unter-
sagendes Gesetz gab, ist aus den zahlreichen Fällen solcher Eheschließungen (so-
gar in den königlichen Familien) zu ersehen, die in der Bibel durchaus nicht als
gesetzwidrige Erscheinungen verzeichnet werden. Die von der Verfassung be-
kräftigte Reform Esras stellt daher einen neuen Gesetzgebungsakt dar, der in
außerordentlicher Form vollzogen wurde, als eine für die Erhaltung der Nation
unentbehrliche Maßregel. Erst im Zusammenhang mit dieser Reform wurden, wie
es scheint, jene Stellen in den Thoratext eingefügt, die auf die Gefährlichkeit
der Mischehen für die israelitische Religion hinweisen (Ex. 34, 16; Deutr. 7,
3 f.). Diese Stellen mögen von Esra öffentlich aus dem ,,Buche der Thora
Moses“ verlesen worden sein, um sodann in die endgültige Fassung der Thora
aufgenommen zu werden.
38i
Die zweite Restauration: Esra und Nehemia
Wanken. Die den Fremden gewogene, während der Verwaltung
Nehemias zurückgedrängte Partei der „Assimilation 1)<< gewann in
Jerusalem von neuem Einfluß dank ihren Verbindungen mit den
Nachbarfürsten und den persischen Beamten. Wiederum tauchten
in Jerusalem hochgestellte Fremde auf. Der Oberpriester Eljaschib
wies seinem Verwandten, dem Ammoniter Tobia, ein geräumiges
Gemach im Tempel zu, und so fand der Feind der Reform sogar
im Schutze des Heiligtums Unterkunft. Die Darbringungen für den
Tempel und die Priesterschaft wurden nur unregelmäßig abgeliefert,
die Sabbatruhe wurde öffentlich verletzt: der Sabbat wurde zum
Markttag bestimmt, an dem die Bewohner der Nachbardörfer mit
ihren Erzeugnissen sowie tyrische Kaufleute mit Fischen und
anderen Waren nach Jerusalem kamen, um auf den Marktplätzen
Handel zu treiben. Wieder wurden Mischehen häufig, wozu der
Enkel des Oberpriesters Eljaschib* 2) selbst ein verlockendes Bei-
spiel gab, indem er die Tochter des Samaritaners Sanballat, des
Feindes Nehemias und der nationalen Partei, zur Frau nahm.
Als Nehemia von der betrübenden Reaktion in Judäa erfuhr,
begab er sich abermals mit Genehmigung des Königs Artaxerxes
und im Besitze der früheren Vollmachten dorthin. Sogleich nach
seiner Ankunft in Jerusalem begann er die Gemeinde von anti-
nationalen Elementen zu säubern. Zuallererst vertrieb er den Ammo-
niter Tobia aus dem Tempelgebäude, warf alle seine Habe hinaus
und befahl, das Gemach rituell zu reinigen, um das zum Gottes-
dienst notwendige Tempelgerät dort unterzubringen. Den Enkel
Eljaschibs, der eine Samaritanerin zum Weibe hatte, stieß Nehemia
aus der Gemeinde aus. Dann traf er Maßnahmen, die dem Tempel
und der Priesterschaft die festgesetzten Abgaben, nämlich den
Zehnten vom Getreide-, Wein- und Olivenertrag, sichern sollten.
Die Befolgung des Gesetzes der Sabbatruhe wurde allen Einwohnern
*) Dieser Ausdruck ist bei den damaligen Verhältnissen mehr im aktiven als
im passiven Sinne zu verstehen: die fremdenfreundliche Partei war der Meinung,
daß das jüdische Volk ohne Selbstbenachteiligung, ja vielmehr zum eigenen Vor-
teil, Fremde, sowohl Samaritaner wie auch Proselyten, assimilieren, d. i. in sich
aufnehmen, könne. Die Partei Esras und Nehemias sah dagegen in der Ein-
beziehung fremdartiger Elemente eine Gefährdung der Reinheit der jüdischen
Kultur, was z. B. ihr Verhalten den Samaritanern gegenüber bestimmte.
2) Der Name des Enkels Eljaschibs, Manasse oder „Menassia“, der im Buche
Nehemias nicht erwähnt wird, findet sich in dem späteren, übrigens chronologisch
unzutreffenden Bericht des Josephus Flavius (Jüdische Altertümer n, 7).
382
§ 77. Der Isolierungsprozeß. Die Absonderung der Samaritaner
Jerusalems zur strengen Pflicht gemacht. Auf den Befehl Nehemias
hielt man die Tore der Stadt vom Freitagabend bis zum Sabbatende
geschlossen, um das Einbringen von Waren in die Stadt zu ver-
hindern; den Stadteinwohnern wurde der Handel am Sabbattage bei
strengster Strafe untersagt. Nehemia entdeckte auch jüdische Fa-
milien, die immer noch fremdstämmige Weiber in ihrer Mitte
hatten; in solchen Familien sprachen die Kinder häufig nicht
hebräisch, sondern die Sprache ihrer Mütter, die aus dem Ammo-
niterlande oder aus Asdod stammten. Nehemia rügte und schalt
solche Familienväter in schärfster Weise, ja strafte sie sogar; so-
dann nahm er den Bewohnern Jerusalems den Eid ab, daß sie sich
fürderhin nicht mehr mit Fremdstämmigen verschwägern würden.
Seit dieser Zeit verschwanden allmählich die Mischehen in Judäa.
So gelangte das große, von Esra und Nehemia unternommene
Reformwerk zur Vollendung. Der unter den damaligen Verhält-
nissen unumgängliche Prozeß der Isolierung des jüdischen Volkes
von den auf einer tieferen Stufe der geistigen Kultur stehenden
Nachbarvölkerschaften kam zum Abschluß. Diese Säuberung des
nationalen Organismus von fremdartigen Elementen trug zu seiner
Gesundung bei und verlieh ihm jene Standhaftigkeit, die das
jüdische Volk seitdem in sturmbewegten und gefahrvollen Mo-
menten seiner Geschichte stets an den Tag gelegt hatte.
Die von Esra und Nehemia durchgeführte nationale Reform
entfremdete der Jerusalemer Gemeinde die Juden der Assimilie-
rungspartei. Diese Mißgestimmten wurden zum Teil aus Jerusalem
vertrieben, zum Teil verließen sie freiwillig die Hauptstadt und
gingen zu ihren Nachbarn, den Samaritanern, mit denen manche
von ihnen verschwägert waren. Die Samaritaner hatten nun jede
Hoffnung auf eine religiöse Vereinigung mit den auf die Reinheit
ihrer Rasse und Religion bedachten Judäern endgültig auf gegeben.
So wurde in ihnen das Bestreben wach, eine abgesonderte, von dem
jüdischen Gemeindewesen und seinem Mittelpunkt, dem Jerusalemer
Tempel, unabhängige religiöse Organisation zu bilden. Um den reli-
giösen Bedürfnissen der Samaritaner Genüge zu tun, beschloß ihr
Führer Sanballat, einen Tempel zu errichten, der mit dem Jeru-
salemer wetteifern sollte. Der neue Tempel wurde in der Nähe der
alt-ephraimitischen Stadt Sichern auf dem durch alte Überlieferun-
gen als „Berg des Segens“ geheiligten Berg Gerizim erbaut. Zum
383
Die zweite Restauration: Esra und Nehemia
Oberpriester dieses Tempels wurde der Eidam Sanballats und Enkel
des Oberpriesters Eljaschib ernannt, jener abtrünnige Manasse, den
Nehemia aus der jüdischen Gemeinde ausgestoßen hatte. Andere aus
Judäa geflüchtete und in ihrer Heimat bloßgestellte Leviten und
Schriftgelehrte bildeten den Kern der samaritanischen Priesterschaft.
Aus der Vermischung altisraelitischer Elemente mit jüdischen
entstand der religiöse Kult der Samaritaner. Als heiligen Kodex
erkannten sie die fünf Bücher der Thora an. In späterer Zeit
fügten sie dem Pentateuch das „Buch Josua“ mit ganz verändertem
Text hinzu, den sie durch erdichtete Legenden aus der Geschichte
Samariens ergänzten. (Als Ephraimit, der seinem Stamme nach der
Eroberung Kanaans die Hegemonie verlieh, wurde Josua von den
Samaritanern, die sich zu den Nachkommen der alten Ephraimiten
zählten, besonders verehrt.) Der ursprüngliche Text der samarita-
nischen Thora unterschied sich nur wenig von dem durch Esra
veröffentlichten jüdischen Text; erst später wurden darin tendenziöse
Änderungen vorgenommen. Die „Bücher der Könige“ und die Reden
der Propheten, in denen die Laster des altsamarischen Reiches scharf
gegeißelt werden, wurden in den Kanon der Heiligen Schrift der
Samaritaner gar nicht aufgenommen, so daß die erhabensten Äuße-
rungen der biblischen religiös-ethischen Weltanschauung ihnen gänz-
lich fremd blieben.
Von dem jüdischen Volke verstoßen, bildeten die Samaritaner
im Laufe der Zeit eine eigene Nation, die zum Todfeinde Judäas
wurde. Diese Halbhebräer, die sich als Erben des ehemaligen israeli-
tischen oder samarischen Reiches betrachteten, hatten auch die alte
Gegnerschaft Ephraims Juda gegenüber geerbt. Und noch viele
Jahrhunderte lang wird dieser Antagonismus zwischen dem los-
gerissenen, allmählich verdorrenden Zweige Israels und dem kraft-
vollen judäischen Stamme unaufhörlich fortdauern.
384
Viertes Kapitel
Judäa und die Diaspora in der persischen
Monarchie
§ 78. Das zweite Jahrhundert der persischen Herrschaft
Nur sehr spärliche Nachrichten sind uns über die äußere Lage
Judäas während des zweiten Jahrhunderts der persischen Herrschaft
(43o—332) erhaltengeblieben. Die letzten biblischen Urkunden
brechen mit der Epoche Esras und Nehemias ab. Dann tritt die
Geschichte Judäas in eine dunkle Zone, in der uns weder hervor-
ragende Persönlichkeiten noch große Ereignisse begegnen. Nur über
das Leben der jüdischen Kolonien außerhalb Palästinas geben uns
die kürzlich in Babylonien und Ägypten aufgefundenen Schrift-
denkmäler einigen Aufschluß. In den Denkmälern und Annalen der
anderen Völker wird das damalige Judäa auch fast gar nicht er-
wähnt, da es keine bemerkenswerte Stellung im politischen Leben
jener Zeit einnahm*). Eine kleine Provinz der von den Achämeniden
(der Dynastie des Kyros und Darius) regierten persischen Monarchie,
nahm Judäa keinen aktiven Anteil an den politischen Bewegungen,
die zu jener Zeit Vorderasien, das südliche Europa (Griechenland,
Italien) und das nördliche Afrika (Ägypten, Libyen, Karthago) er-
schütterten.
Nach dem Tode des Königs Artaxerxes I., des Gönners Esras
und Nehemias, bestieg Darius II. (42 0—4o5) den Thron, dessen
Name als eines Beschützers des jüdischen Kultes nur in den auf
das Leben der Juden außerhalb Palästinas bezüglichen Akten er-
*■) Sogar der griechische ,,Vater der Geschichte“, Herodot, der um 45o eine
Reise durch den Orient unternahm, kennt die Juden nur als „palästinische Sy-
rier“, die den Beschneidungsbrauch üben, und hebt Judäa nicht einmal als ein
besonderes Land hervor (s. „Gegen Apion“, Josephus Flavius, 1, 22).
25 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
385
Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie
wähnt wird; Judäa scheint sich zu jener Zeit eines völlig ruhigen
Lebens erfreut zu haben. Dagegen war die Regierungszeit Arta~
xerxes II. (4o5—35(}) für Judäa eine Zeit großer Drangsal: dem
aufständischen Ägypten war es damals .gelungen, sich für einige
Jahrzehnte von der persischen Herrschaft zu befreien, und während
der unausgesetzten Kriege zwischen Persien und Ägypten mußte das
dazwischenliegende Judäa von den durch das Land ziehenden per-
sischen Truppen, die zur Züchtigung der aufrührerischen Ägypter
ausgesandt wurden, schwere Not leiden. In diese Zeit (um 4oo)
fällt eine traurige Begebenheit, die sich in Jerusalem zugetragen
hat und von der uns auf Grund unbekannter Quellen Josephus
Flavius x) berichtet. Hohepriester in Jerusalem war zu jener Zeit
Jochanan, einer der Enkel Eljaschibs. Auch der Bruder Jochanans,
Josna, erhob Anspruch auf die Hohepriesterwürde. Um sein Ziel
zu erreichen, trat Josua in nahe Beziehungen zum persischen
Satrapen oder „Pecha“ Judäas, Bagoas, und erhielt von ihm das
Versprechen, daß Jochanan des geistlichen Amtes enthoben und
Josua zum Hohepriester ernannt werden würde. Jochanan war über
das gemeine Intriguenspiel seines Bruders tief empört. Eines Tages
kam es im Tempel selbst zu einem Streit zwischen den Brüdern,
und der gereizte Jochanan erschlug dabei seinen Bruder. Da kam
Bagoas mit einem Heertrupp nach Jerusalem und drang gewaltsam
in den Tempel ein. Als die Tempeldiener ihp aufhalten wollten
und ihn zu überreden suchten, den heiligen Raum, zu dem nur
der Hohepriester Zutritt habe, nicht zu entweihen, rief er zornig
aus: „Bin ich denn weniger rein als der, der seinen Bruder im
Tempel ermordet hat?“ Bagoas legte den Judäern eine schwere
Geldstrafe auf: für jedes Schaf, das täglich auf dem Altar des
!) Die Erzählung ist uns in halb sagenhafter Form in den „Altertümern“
11,7 erhaltengeblieben. Die neuesten Entdeckungen in Ägypten (vgl. unten, § 80)
legen es nahe, dieses Ereignis in die Regierungszeit Artaxerxes II., nicht aber in
die des III. (wie man früher annahm) zu verlegen, da die in der Erzählung des
Josephus vorkommenden Namen Jochanan und Bagoas in den aramäischen Papyri
in Zusammenhang gebracht werden mit Geschehnissen aus dem Leben der ägyp-
tischen Juden, die in die letzten Jahre (4io—407) des Königs Darius II., des
Vorgängers Artaxerxes II., fallen. Die Übereinstimmung der Namen, die der
Erzählung des Flavius große Glaubwürdigkeit verleiht, berechtigt auch, die
chronologischen Daten aneinanderzurücken, weshalb wir den zu Jerusalem sich
abspielenden Vorfall in den Anfang der Regierung Artaxerxes II., also ungefähr
in das Jahr 4oo, verlegen.
386
§ 78. Das zweite Jahrhundert der persischen Herrschaft
Tempels geopfert wurde („Tamid“), mußten die Einwohner Jeru-
salems dem persischen Staate eine Steuer von 5o Drachmen ent-
richten. Sieben Jahre lang wurde das Volk durch diese schwer
lastende Steuer bedrückt.
Unter Artaxerxes III. Ochus (35g—338) erhob sich ein Teil
Syriens und Phöniziens (Sidon) gegen die persische Herrschaft, der
Aufstand wurde jedoch bald unterdrückt. Mit diesem Ereignis wird
eine spätere Nachricht in Zusammenhang gebracht, nach der auch
die Judäer, besonders die Einwohner Jerichos, die sich an dem syro-
palästinischen Aufstande beteiligt hatten, von einer schweren Heim-
suchung betroffen wurden: Jericho wurde zerstört und seine Ein-
wohner nach Ilyrkanien, südlich vom Kaspischen Meere, vertrieben
(um 35o)x). Aus den Zeiten Darius III. Kodomans (337—33a),
des letzten persischen Königs vor dem Eindringen Alexanders von
Macedonien, haben wir gar keine Nachrichten mehr über die Lage
der Dinge in Judäa* 2 *).
Im allgemeinen kam es jedoch sehr selten zu einer Ein-
mischung der persischen Obrigkeit in die inneren Angelegenheiten
Judäas. Die zentrale Regierung in Susa war weit von Judäa ent-
fernt; die administrative Gewalt in der Provinz lag in den Händen
der Satrapen, die hauptsächlich um den regelmäßigen Eingang der
Staatsabgaben besorgt waren. Bekanntlich zerfiel die persische
Monarchie in zwanzig bis dreißig Verwaltungsbezirke oder „Sa-
trapien“. Der persischen Bezeichnung des Provinzobersten „Satrap4'
entsprach die aramäische „Pacha“ (Pecha, Pascha), die auch in
offiziellen Schriftstücken verwendet wurde. In großen Satrapien
wurden für einzelne Gebiete Untersatrapen oder Statthalter ernannt,
*) Bericht aus der „Chronik“ des ersten Kirchengeschichtsschreibers Eusebius'
(II, H2—n3). Einer der persischen Heerführer jener Zeit hieß Horofernes undr
stammte aus einem kleinasiatischen Satrapengeschlecht. Die Ähnlichkeit dieses
Namens mit dem des Holofernes, des Helden des apokryphischen Judithbuches
(s. Band II), läßt vermuten, daß die Geschehnisse der hier dargestellten Epoche
den Stoff für die national-epische Erzählung des» biblischen Apokryphen boten,
die diese Begebenheit in eine viel ältere Zeit verlegt.
2) Die Erzählung des Josephus Flavius (Altertümer n, 7) von Sanballat als
einem Satrapen Samariens unter dem „letzten Darius“ und von seinem Schwieger-
sohn Manasse, dem Bruder des Jerusalemer Hohepriesters, beruht auf einem
Anachronismus und ist eigentlich eine Wiederholung der Erzählung des Nehemia
von jenem abtrünnig gewordenen Priester, der hundert Jahre früher lebte
(s. oben, - S 77).
387
25*
Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie
die gleichfalls „Pacha“ hießen. So wurden in der ausgedehnten
Satrapie „jenseits des Flusses“ (Abar-Nahara), die ganz Syrien und
Palästina umfaßte, besondere Untersatrapen, „Pachoth“, für Judäa
und Samarien ernannt. Diese lokalen „Pachoth“ standen zu den
Hauptsatrapen der ganzen Provinz in einer ähnlichen Beziehung
wie etwa der Landrat zu dem Regierungspräsidenten. Im ersten
Jahrhundert der persischen Herrschaft kennen wir zwei Statthalter
Judäas (Pachath Jehuda), die selbst Juden waren (wenn man nicht
auch den rätselhaften Sesbazar dazu rechnet, der übrigens vor der
administrativen Einteilung Persiens in Provinzen unter Darius I.
wirkte): Serubbabel und Nehemia. Ob auch noch nach der Zeit
Nehemias in Judäa jüdische Statthalter im Amte waren oder ob
seitdem nur Perser dieses Amt bekleideten, ist unbekannt. An der
Grenzscheide des V. und IV. Jahrhunderts treffen wir in den
Denkmälern und Überlieferungen den „Pachath Jehuda“ Bagoas, den
obenerwähnten Perser, der mit dem Jerusalemer Hohepriester einen
Zusammenstoß hatte und sich anscheinend auch sonst in die inneren
Angelegenheiten Judäas einmischte. Mit der Zeit freilich verringert
sich die Gewalt des örtlichen Pacha: die Hohepriester übernehmen
immer entschiedener das Amt der weltlichen Regenten und der
Steuervermittler zwischen der Bevölkerung und dem Hauptsatrapen
Syro-Palästinas (welche Funktionen sie auch in der nächsten Epoche
der griechischen Herrschaft ausübten). Von allen Funktionen des
Satrapen: der Administration, der Rechtsprechung und der Steuer-
eintreibung behält er schließlich nur die letzte bei. In Rechtssachen
wendet man sich nur selten an ihn, meist in Fällen von inneren
Parteikämpfen oder von Zusammenstößen mit der fremdstämmigen
Bevölkerung. Sonst lag die Rechtsprechung in den Händen der
autonomen Selbstverwaltung Judäas und erfolgte nach den Gesetzen
der Thora, wie dies Esra von Artaxerxes I. verbrieft worden war.
Überhaupt war die Selbstverwaltung Judäas nur selten Eingriffen
seitens der persischen Regierung ausgesetzt.
Von den offiziellen Vertretern des autonomen Judäa zur Zeit
der persischen Herrschaft, nämlich den Hohepriestern aus dem
Geschlechte Zadoks, sind uns nur einige dem Namen nach bekannt.
Es sind dies in chronologischer Reihenfolgex): Josua ben Jozadok
*) Nehemia 12, 10 und 22; Jos, Flavius, Altertümer 11, 3, 5, 7.
388
§79. Die Diaspora in Babylonien und im Inneren Persiens
unter Serubbabel, sein Sohn Jojakim, sein Enkel Eljaschib (unter
Nehemia), dessen Sohn Jojada und Enkel Jochanan (der Held des
tragischen Zusammenstoßes im Tempel, dessen Name auch in den
ägyptischen Papyri erwähnt wird), endlich Jaddua, ein Zeitgenosse
des letzten persischen Königs Darius III. und Alexanders von
Macedonien. Dieses Verzeichnis ist aber vermutlich unvollkommen:
zwischen Jochanan und Jaddua, die mehr als ein halbes Jahrhundert
voneinander trennt, muß noch ein Hohepriester das Land verwaltet
haben, dessen Name uns indessen unbekannt ist.
§79. Die Diaspora in Babylonien und im Inneren Persiens
Vom VI. Jahrhundert ab war die geographische Bezeichnung
„Judäa“ nicht mehr das Synonym für das judäische Volk, dessen
verschiedene Teile nun auch außerhalb des Landes der Väter an-
sässig wurden. Seit der Zeit des babylonischen Exils und der
darauffolgenden Restauration erscheint Judäa nur als Mittelpunkt
eines umfassenden Kreises, an dessen Peripherie: in Babylonien, in
Syrien, im Iran, in Kleinasien und in Ägypten, bedeutende jüdische
Kolonien verstreut sind. Hat mit dem Fall des nordisraelitischen
Reiches im VIII. Jahrhundert die Diaspora im buchstäblichen Sinne,
d. i. die Zerstreuung, die Auflösung der Israeliten unter den anderen
Völkern, eingesetzt, so schuf der Untergang des Reiches Juda und
seine darauffolgende Wiedergeburt in Form einer persischen Pro-
vinz eine Diaspora im Sinne eines erweiterten Judäa oder eines
Netzes von jüdischen Kolonien, die sich mehr oder weniger zum
geistigen Mittelpunkt in Jerusalem hingezogen fühlten und zuweilen
auch selbst ihren Einfluß auf das Zentrum geltend machten. Zu
diesen einflußreichen Punkten der Diaspora gehörte in erster Linie
Babylonien.
Das hier während des babylonischen Exils entstandene Kultur-
zentrum, das im Laufe eines halben Jahrhunderts gleichsam den
Ersatz für das zerstörte Juda bildete, entfaltete sich auch nach
der Restauration Jerusalems weiter. Im ersten Jahrhundert der
persischen Herrschaft ist das Leben der babylonischen Kolonie mit
demjenigen der Metropole dermaßen verflochten, daß sie von-
einander gar nicht zu trennen sind. Trotzdem die Kolonie viele
Tausende von Verbannten bei der ersten Restauration der Metropole
Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie
wieder zugeführt hatte, behielt sie doch noch sehr erhebliche kul-
turelle Kräfte und vermochte achtzig Jahre später eine neue Gruppe
tatkräftiger Männer mit Esra an ihrer Spitze in das nach Menschen
hungernde Judäa zu senden. Aus dem zweiten Jahrhundert der per-
sischen Herrschaft (43o—332) besitzen wir keine urkundlichen
Berichte über das babylonische Judentum, aber auch über das Judäa
dieser Epoche fehlt uns jegliche Nachricht. Diese Lücke ist nur
zum Teil durch die bei den Ausgrabungen in Babylonien unlängst
auf gefundenen Handelsakten ausgefüllt worden1). Aus den zahl-
reichen Handelsaufzeichnungen und Verträgen, in denen jüdische
Namen Vorkommen, ist zu ersehen, daß die Juden auch in Babylo-
nien eine besondere Vorliebe für „theophorische“ Namen hatten,
d. i. für solche, die am Anfang oder am Ende des Stammnamens
die mit dem Gottesnamen Jahve zusammenhängenden Partikel „ja“,
,,jahu“, „jeho“ (Berachja, Matanja, Gedalja, Jehonathan u. dgl.)
aufwiesen. Zeugen solche Namen von einem national-religiösen
Konservativismus, so bekunden andererseits die in den Schrift-
stücken häufig vorkommenden babylonischen Namen der Juden
(Ardi-Ninib, Tabat-Ischtar u. a., in denen die Namen der lokalen
Gottheiten enthalten sind) auch Spuren einer assimilatorischen An-
passung an das äußere, alltägliche Leben. Diese Angleichung wird
sich aber kaum auch auf das Gebiet der Religion erstreckt haben.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß eine Kolonie, die solche Eiferer
für die Religion und die Nationalität wie Esra in ihrer Mitte barg,
im allgemeinen die Grundlagen des Judaismus zu erhalten suchte.
Und auch nach Esra bestand die enge kulturelle Gemeinschaft
zwischen der Kolonie und Judäa weiter. Die Beziehungen zu dem
religiösen Mittelpunkt der Nation, zum Jerusalemer Tempel, wurden
1) Die amerikanische Expedition, die im Jahre 1898 Ausgrabungen in den
Ruinen der alten babylonischen Hauptstadt Nippur, in der eine bedeutende Zahl
judäischer Ansiedler gelebt hatte, vornahm (s. oben, § 66), entdeckte einige hun-
dert Tafeln mit babylonischer Keilschrift, deren Mehrzahl Handelsurkunden und
allerlei geschäftliche Dokumente aus dem Archiv des babylonischen Handelshauses
Muraschu enthält, die mit Daten aus den Regierungsjahren Artaxerxes I. und
Darius II. (465—4o5) versehen sind. In vielen Dokumenten kommen jüdische
Namen von Personen vor, die anscheinend mit der obenerwähnten Handelsfirma
in geschäftlichen Beziehungen standen. Diese neu auf gefundenen Schriftstücke
hängen mit den von derselben Expedition entdeckten Inschriften aus noch
früherer Zeit zusammen und berechtigen so zu geschichtlichen Schlußfolgerungen
auch hinsichtlich des ganzen zweiten Jahrhunderts der persischen Herrschaft.
§79. Die Diaspora in Babylonien und im Inneren Persiens
zweifellos weitergepflegt, schon aus dem Grunde, weil die babylo-
nischen Juden, im Gegensatz zu den ägyptischen, keinen eigenen
Tempel mit einem Opferkultus besaßen. Nach den Verhältnissen
in späteren Zeiten zu schließen, entrichtete die babylonische Ko-
lonie auch in der Periode der persischen Herrschaft die festgesetzten
Abgaben für den Jerusalemer Tempel, wobei ihre frömmsten Ver-
treter zu den Jahresfeiertagen sogar nach Jerusalem wallfahrteten,
um dem Tempelgottesdienst beizuwohnen.
Abgesehen von den geistigen Beziehungen, mochte zwischen der
babylonischen Diaspora und dem jüdischen Zentrum auch Handels-
verkehr bestanden haben. Die obenerwähnten Schriftstücke von
Nippur lassen keinen Zweifel darüber, daß die Juden in Babylonien
weitausgedehnten Handel trieben. Es gab unter ihnen sowohl selb-
ständige reiche Kaufleute als auch Handelsagenten babylonischer und
persischer Häuser; andere wieder waren Steuerpächter und hatten
finanzielle Beziehungen zum persischen Königshofe. Dieser mate-
rielle Wohlstand eben hielt viele Juden, die während der beiden
Restaurationen auf die Wiederkehr nach Judäa verzichtet hatten, in
Babylonien zurück. Da aber die meisten dieser jüdischen Familien
Verwandte und Freunde in der alten Heimat hatten, wohin mit
Serubbabel und Esra viele Tausende fortgezogen waren, so mag
sich auch ein reger Ausfuhr- und Einfuhrhandel zwischen der
Metropole und der Kolonie entfaltet haben.
Außer in Babylonien gab es jüdische Ansiedlungen auch in den
entfernteren Gegenden des eigentlichen Persien. Man kann mit
großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß in den Gebieten des
Iran, als den ehemaligen Provinzen Assyriens, Nachkommen der
nach den „Städten Mediens“ (§ 45) gebrachten israelitischen An-
siedler erhalten geblieben sind. Aber es lebten dort auch Nach-
kommen der Judäer. Nehemia kam zweimal nach Judäa nicht aus
Babylonien, sondern aus der iranischen Hauptstadt Persiens, Susa;
Von dem Los der persischen Ansiedlungen berichtet uns nur eine
aus unbestimmter Zeit herrührende geschichtliche Sage: die Er-
zählung des biblischen Buches Esther, wie den im Inneren Persiens
lebenden Juden eine große Gefahr drohte und wie sie ihr glücklich
entrannen.
Der Inhalt dieser Erzählung mag hier in den Hauptzügen
wiedergegeben werden: In Susa, am Hofe des persischen Königs
391
Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie
Ahasveros *), der „König war über hundertsiebenundzwanzig Pro-
vinzen, von Indien bis Äthiopien“, gelangte zu großem Einfluß und
großen Ehren ein Mann namens Haman, der von Haß gegen die
Juden erfüllt war. Sich das Wohlwollen des Königs zunutze
machend, verleumdete Haman die Juden als ein abgesondert leben-
des, nur seinen eigenen Gesetzen gehorchendes Volk, das sich über
die Staatsgesetze dreist hinwegsetze. Dem judenfeindlichen Würden-
träger gelang es, den König zur Unterzeichnung einer Verordnung
zu bewegen, nach der die Erlaubnis gegeben werden sollte, alle im
persischen Reiche verstreuten Juden auszuplündern und zu ver-
nichten. Den Juden drohte völlige Ausrottung. Da trat zur Ver-
teidigung seiner verfolgten Stammesbrüder Mardochai auf, ein Nach-
komme der Jerusalemer Exulanten in Babylonien, der dem Königs-
hofe in Susa nahestand und dem König ehemals einen großen
Dienst geleistet hatte. Seine Nichte, eine von ihm erzogene Waise
mit Namen Esther1 2), war ihrer Schönheit wegen in den königlichen
Harem aufgenommen worden, und fand besondere Gunst vor den
Augen des Königs. Als nun Mardochai Esther von der ihren
Stammesbrüdern drohenden furchtbaren Gefahr berichtete, machte
sie all ihren Einfluß beim König geltend, das herannahende Unglück
abzuwenden. Während sie ehedem ihrem Volke fremd gegenüber-
gestanden war, regte sich nun in ihr das Gefühl der Blutsverwandt-
schaft. Esther flehte den König an, seine Verordnung über die
Ausrottung der Juden rückgängig zu machen, und deckte ihm das
1) Nach dem Texte des Buches Esra 6 zu urteilen, ist unter Ahasveros
der König Xerxes gemeint. Josephus Flavius (Altertümer n, 6) und die Septua-
ginta nennen Ahasveros Artaxerxes, indem sie den biblischen Namen Ahasveros
mit demjenigen des Artahsasta verwechseln. Alle Zweifel hinsichtlich der beiden
Namen schwinden jedoch, sobald man ihre damalige aramäische Schreibweise in
Betracht zieht. Auf den in Elephantine entdeckten aramäischen Papyri ist der
Name Xerxes durch den mit Ahasveros gleichlautenden Hasiars wiedergegeben und
der Name Artaxerxes mit Artahsasas.
2) Die auffallende Ähnlichkeit der Namen der jüdischen Helden dieser Er-
zählung Mardochai und Esther mit den Namen der babylonischen Gottheiten
Marduk und lstar ist ein nicht zu verkennender Hinweis auf die damalige Assi-
milation. Über Esther ist ausdrücklich gesagt, daß ihr hebräischer Name Hadassa
(Buch Esther 2, 7) war; dasselbe ist auch hinsichtlich Mardochais anzunehmen,
der sicherlich neben dem offiziellen Namen auch noch einen hebräischen trug.
Daß die Juden die bei den sie umgebenden Einheimischen üblichen Namen sich
zu eigen machten, ist auch aus babylonischen und ägyptischen Inschriften jener
Epoche zu ersehen (S 80).
392
§79. Die Diaspora in Babylonien und im Inneren Persiens
verruchte Ränkespiel Hamans auf. Von der Wahrheit ihrer Worte
überzeugt und der ehemaligen Verdienste Mardochais gedenkend,
erfüllte Ahasveros die Bitte der geliebten Königin: er befahl, den
Urheber des frevelhaften Anschlags, Haman, hinzurichten, und
gestattete den Juden, gegen die sie bedrohenden Feinde eine
Selbstwehr zu bilden. So kam es, daß an dem von Haman zur
Niedermetzelung der Juden vorgesehenen Tage (i3. Adar) diese
selbst wohlbewaffnet ihre Feinde überfielen und sie sowohl in Susa
als auch in der Provinz in großer Menge töteten. Zur Erinnerung
an die Errettung der Juden aus der großen Gefahr, in der sie
geschwebt hatten, wurde der alljährliche Festtag Purim gestiftet,
der bis auf den heutigen Tag vom jüdischen Volke am i4- Adar
(im März) gefeiert wird.
Das Buch Esther, in dem diese Geschichte ausführlich erzählt
wird, hat in der Behandlung von Einzelheiten sagenhaften Charakter
(vgl. z. B. die beabsichtigte Vernichtung aller Juden in Persien und
die darauffolgende Ausrottung einiger Zehntausende Perser) und
weist überdies Spuren einer viel späteren Entstehungszeit auf. Die
neuere geschichtliche Kritik stellte eine weitgehende Übereinstimmung
der Erzählung des Buches Esther mit den Ereignissen der späteren
Hasmonäerepoche fest, als den von dem grausamen syrischen König
Antiochus Epiphanes eingeleiteten Verfolgungen der Juden dank der
heldenhaften Abwehr der Makkabäer ein Ende gesetzt wurde. Auf
Grund dieser äußerlichen Übereinstimmung kamen viele Forscher
zur Überzeugung, daß der Inhalt des Buches Esther jeglicher ge-
schichtlichen Realität entbehre und daß das ganze Buch nichts
weiter sei als ein geschichtlicher Roman, der Persönlichkeiten aus
einer viel späteren Zeit in den erdichteten Gestalten der Vergangen-
heit vor führt. Allein einer so skeptischen Annahme widerspricht
schon der Umstand, daß die in diesem Buche wiedergegebenen
Ereignisse bei den Juden von altersher zum Anlaß eines allnationalen
Volksfestes, des Purim x), geworden sind. Es ist ganz ausgeschlossen,
daß das Volk nicht ein wirkliches Ereignis, sondern nur irgendeine
dichterische Erfindung in der Form eines nationalen Feiertages hätte
!) Purim oder den „Tag des Mardochai“ erwähnt auch das zweite Makkabäer-
buch, Kap. i5, 36. In den ,,Altertümern“ des Josephus Flavius findet sich eine
Wiedergabe des Buches Esther mit rhetorischen Ausschmückungen. Purim wird
hier griechisch „Frurai“ genannt.
393
Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie
verewigen können. Es unterliegt keinem Zweifel, daß etwas dem
biblischen Bericht Entsprechendes, d. h. die Verhütung einer Juden-
metzelei durch Ausnützung höfischer Einflüsse, sich auch tatsächlich
in Susa und in den Städten des inneren Persien unter Xerxes I.
(485—465) ereignet hat. So etwas war unter diesem König, der
sich in den Kriegen mit den Griechen immer wieder Niederlagen
holte und seine Kraft in Palast-Intriguen und Harem-Orgien ver-
geudete, sehr wohl möglich. Im Laufe der Zeit schmückte jedoch
die Volksphantasie diesen Vorfall mit verschiedenen Legenden und
poetischen Übertreibungen aus, und in dieser sagenhaften Form ist
nun die Episode im „Buche Esther“ dar gestellt, das in der späteren
Hasmonäerepoche unter dem offenbaren Einfluß analoger, vom
Verfasser miterlebter Ereignisse niedergeschrieben wurde. In der
Purimsage dringt ein leiser Nachklang von Ereignissen in jenen
jüdischen Kolonien zu uns, die in dem iranischen Persien der
Achämenidenepoche verstreut waren, dabei aber die kulterellen
Beziehungen zu der nahen Diaspora Babyloniens und sogar zu dem
fernen nationalen Mittelpunkt in Judäa nicht abgebrochen hatten.
Über die jüdische Diaspora in anderen asiatischen Provinzen der
persischen Monarchie, in Syrien und Kleinasien, besitzen wir keine
direkten Nachrichten, allein indirekt kann ihre Existenz dennoch
klar erwiesen werden. Daß jüdische Gemeinden im V. Jahrhundert
in dem mit Judäa administrativ in eine gemeinsame Satrapie „Jen-
seits des Flusses“ (Abar-Nahara) vereinigten Syrien vorhanden
waren, erhellt aus dem oben angeführten (§ 74, Anmerk.) Brief
des Artaxerxes, in welchem Esra die Vollmacht erteilt wurde, für
die Juden nicht nur Judäas, sondern auch der ganzen Gegend „Jen-
seits des Flusses“, also auch in Syrien, das er auf dem Wege nach
der Heimat durchzog, Richter zu bestellen. Einer besonderen Unter-
suchung muß die Frage der Existenz einer jüdischen Kolonie im
damaligen Kleinasien unterzogen werden, womit die allgemeine
Frage von der ersten Begegnung der Juden mit den Griechen in
der alten Welt in Zusammenhang steht. Bezeichnend ist es, daß
gerade in den Reden der Propheten jener Epoche zum ersten Male
die „Söhne Jawans“ (die jonischen Griechen) neben den „Söhnen
Judas“ erwähnt werden. Schon der Prophet des babylonischen Exils
spricht von mit Phöniziern Handel treibenden Griechen (Buch
Ezechiel 27, i3). Von einem späteren Propheten der Restaurations-
394
Epoche, Joel (s. unten, § 84), erfahren wir, daß die Phönizier
„die Söhne Judas und Jerusalems den Söhnen Jawans verkauften“
(Joel 4, 6), d. h. daß den Joniern jüdische Gefangene als Sklaven
verkauft wurden (der Sklavenhandel war zu jener Zeit auf den
asiatischen Märkten sehr verbreitet und wurde von den Griechen
gern betrieben). Der Prophet aus der Schlußzeit der persischen
Epoche, dessen Reden im zweiten Teil des Buches Sacharja (§ 84)
erhaltengeblieben sind, sehnt eine Zeit herbei, in der „die Söhne
Judas sich gegen die Söhne Jawans erheben werden“ (Sacharja 9,
i3). Daraus ist zu ersehen, daß in dem Zeitraum zwischen dem
VI. und dem IV. Jahrhundert vor der christlichen Ära Gruppen
von Juden, sei es als Sklaven oder als freie Ansiedler, unter den
jonischen Griechen in Kleinasien und auf den jonischen Inseln auf-
getaucht waren. Es war dies ein Vorspiel zu jener Begegnung der
jüdischen und hellenischen Welt im Zeitalter Alexanders von Mace-
donien, die den Grundstein zu einer großen jüdisch-hellenistischen
Diaspora legte.
§ 80. Die ägyptische Diaspora. Die Kolonie in Elephantine
Eine bedeutende jüdische Kolonie entstand in dieser Epoche in
Ägypten. Von den zerstreuten Volksteilen setzte sich an den beiden
Polen der altorientalischen Zivilisation je eine Gruppe fest: in dem
Lande des zweiten Auszugs, an den Ufern des Euphrat, und im
Lande des ersten Auszugs, an den Ufern des Nil. Die geographi-
schen Grenzen zwischen Asien und Afrika scheinen sich gleichsam
verwischt zu haben in jener Epoche, da Ägypten als Provinz oder
Satrapie dem persischen Reiche ein verleibt wurde. Die Gewalt der
persischen Gebieter, die den ganzen Orient in eine Reihe von Sa-
trapien verwandelten, brachte dadurch die verschiedenen Länder in
nähere Berührung miteinander. Und so besaß nun das restaurierte
Judäa an seinen beiden Flügeln, in Babylonien und in Ägypten, zwei
an der Verbindung mit dem Mittelpunkt der Nation festhaltende
Kolonien.
Die jüdischen Ansiedlungen in Ägypten waren anscheinend schon
zu der Zeit entstanden, als das Joch Assyriens die judäischen Könige
dazu bewogen hatte, bei den ägyptischen Pharaonen Hilfe zu suchen.
In dem kurzen Zeitraum zwischen der assyrischen und der babyloni-
Die ägyptische Diaspora.
Die Kolonie in Elephantine
Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie
sehen Oberherrschaft (608—604) war Ägypten, das die Obergewalt
über Syrien erlangt hatte, sogar zum Schutzherrn Judäas geworden.
Nachdem der Pharao Neko den König Josia bei Megiddo geschlagen
und seinen Nachfolger Joahas nach Ägypten verbannt hatte, mochte
er, nach dem Brauche jener Zeit, auch einige Einwohnergruppen
des unterworfenen Landes dorthin verschleppt haben. Als dann nach
der Zerstörung Jerusalems und der Ermordung des Statthalters Ge-
dalja eine große Anzahl von Flüchtlingen in Begleitung des Pro-
pheten Jeremia (§ 65) nach Ägypten kam, fanden sie dort schon
judäische Ansiedler in den großen Städten Daphne (Tachpanches),
Memphis (Noph), Migdol und Patros vor *). Die mit Jeremia aus-
gewanderte Gruppe war dadurch bemerkenswert, daß an ihrer Spitze
der Heerführer Jochanan ben Koreach und andere „Hauptleute des
Heeres“ (Sare ha’chajalim) standen, die mit ihren Getreuen nach
Ägypten übersiedelten, um der Schmach der Sklaverei im ver-
wüsteten Vaterlande zu entgehen. Es handelte sich also vornehmlich
um eine militärische Emigration, die unter anderem die Entstehung
einer besonderen jüdischen Militärsiedlung zur Folge hatte, welche
an der südlichen Grenze Ägyptens, in der auf einer Insel, mitten
im Nil, in der Nähe der alten Stadt Assuan (Syene, Svene bei dem
Propheten Ezechiel 29, 10) gelegenen festen Stadt Jeb oder Eie-
phantine gegründet wurde. Jeb, die „Stadt der Elephanten“, die
von den Griechen Elephantine genannt wurde, beschützte die süd-
lichen Grenzen des Reiches vor Einfällen der Nubier; „die südlichen
Tore Ägyptens“ wurde sie in den Inschriften genannt. Hier befand
sich eine ständige Garnison, die sowohl aus Ägyptern als auch aus
Söldnertruppen bestand, aus „Griechen, Syrern und Palästinensern“,
unter denen auch Juden waren. Dieser Festungsgarnison schloß
sich jener Heertrupp an, der um das Jahr 58o unter der An-
führung des Jochanan ben Koreach und der „Hauptleute des
Heeres“ in Ägypten anlangte. Die jüdischen Soldaten gründeten in
*) Dies ist aus den Reden oder Sendschreiben des Propheten Jeremia „an
alle Judäer, die sich in Ägypten niederließen“, zu ersehen. In diesen werden die
erwähnten Orte genannt (Buch Jeremia, Kap. 44 f.)* Bs wäre unerklärlich, wie
aus einer wenn auch zahlreichen Emigrantengruppe, die sich in Daphne nieder-
gelassen hatte (Jer. 43, 7), in kurzer Zeit jüdische Gemeinden in verschiedenen
Orten hätten entstehen können, wenn solche Gemeinden dort nicht schon früher
vorhanden gewesen wären.
396
§ 80. Die ägyptische Diaspora. Die Kolonie in Elephantine
Elephantine eine Militärsiedlung, die sich verpflichtete, die Grenze
zu überwachen und in Kriegszeiten zu verteidigen, wofür ihr von
der Regierung besondere Vorrechte eingeräumt wurden. Als die
neuen jüdischen Ansiedler hier und in der nahegelegenen Stadt
Assuan, dem Verwaltungszentrum dieser Provinz, festen Fuß gefaßt
hatten, gingen sie daran, auch ihre geistigen Bedürfnisse zu be-
friedigen. Sie, die ihre Heimat im Augenblick ihres Zusammen-
bruchs, nach der Zerstörung Jerusalems, verlassen hatten, be-
schlossen nun, der Vergangenheit Treue bewahrend, einen kleinen
Jahvetempel mit Altar und Opferdienst in dem Lande zu errichten,
in welches sie das Schicksal verschlagen hatte. So erstand im
VI. Jahrhundert in einer ägyptischen Grenzfestung, mitten unter
den heidnischen Götzentempeln, der Tempel des jüdischen „Gottes
des Himmels“ Jahve oder, wie man ihn in den dortigen Schrift-
stücken bezeichnete, Jahu. Als der König Kambyses im Jahre 02 5
ganz Ägypten eroberte und es unter die persische Herrschaft
brachte, zerstörte er die heidnischen Götzentempel von Elephantine,
verschonte aber den dortigen Jahvetempel, da die Juden überall
als Parteigänger der persischen Herrschaft galten i).
Der Jahve tempel im Randgebiete Ägyptens stand nahezu andert-
halb Jahrhunderte und bildete den geistigen Mittelpunkt der ganzen
x *) Dieser Werdegang der ägyptischen Diaspora erhellt aus der Zusammen-
fassung der Angaben der Bücher Jeremia, Esra und Nehemia einerseits und der
unlängst, im Jahre 190/1—06, entdeckten jüdisch-aramäischen Papyri von Ele-
phantine aus dem V. Jahrhundert andererseits. Die Papyri enthalten eine Reihe
wichtiger Briefe und amtlicher Akten, die von einem regen Verkehr der damaligen
ägyptischen Diaspora mit den Behörden Judäas zeugen; ihre Hauptbedeutung aber
besteht darin, daß sie die Entwicklung der ägyptischen Diaspora von dem Moment
der Auswanderung des Jochanan ben Koreach und seiner ,,Sare ha’chajil“ aus
Judäa bis zur Wende des V. Jahrhunderts klarlegen, da uns nunmehr ihre Nach-
kommen in Elephantine, in einer Militärkolonie, ,,chajala jehudaja“, vereint, ent-
gegentreten, wie sie die Grenzen Ägyptens im Interesse der persischen Obergewalt
verteidigen und ihren Tempel vor den ägyptischen Priestern schützen (s. unten
im Text). Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Kolonisierung Ägyptens durch
Auswanderer aus Judäa schon viel früher, noch vor dem babylonischen Exil, be-
gonnen hatte, allein ihre Einzelheiten bestimmen zu wollen, wie es z. B. Ed. Meyer
in seiner Untersuchung über die elephantinischen Papyri tut (er ist der Meinung,
daß die judäischen Könige den Pharaonen von altersher Soldatentruppen zum
Tausch gegen ägyptische Rosse gesandt hätten, und velrlegt andererseits die Ent-
stehung des Jahvetempels in Ägypten in eine Zeit, die noch der Veröffentlichung
des Deuteronomiums unter Josia vorangeht), hieße auf das Gebiet geistreicher
Hypothesen hinübergleiten.
397
Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie
Diaspora des Nillandes. Allein im Jahre 4io wurde das jüdische
Heiligtum von einer Katastrophe ereilt. Die Priester der lokalen
ägyptischen Götzentempel waren dem Tempel des jüdischen „Gottes
des Himmels“, auf dessen Altar die den Verehrern des Gottes Apis
heiligen Stiere geopfert wurden, von altersher feindlich gesinnt.
Einen besonderen Haß gegen die Juden hegten die Priester des
elephantinischen Götzentempels des Chnub (Chnum), einer der
großen ägyptischen Gottheiten, die in der Gestalt eines Ziegenbocks
mit krummen Hörnern dargestellt und als Gott der Fruchtbarkeit
und Beschützer der südlichen Grenze gegen die Einfälle der Nubier
verehrt wurde. Dieser Haß wurde nicht nur durch religiöse, son-
dern auch durch politische Ursachen genährt: die Juden waren stets
persienfreundlich, während die nationale ägyptische Partei in offenem
oder geheimem Kampfe mit der persischen Regierung lag. Im Jahre
4io („im i4- Jahre der Regierung des Darius“, d. i. Darius II.),
als der Satrap Arsam sich zum königlichen Hofe nach Persien be-
geben hatte, überfielen die Priester des Chnub, nachdem sie den
Festungsobersten Waidrang bestochen hatten, den Jahvetempel in
Elephantine, raubten seine Schätze und zerstörten ihn bis auf den
Grund. Diese Plünderung, an der sich auch Ägypter aus der Stadt-
garnison beteiligten, war das Vorspiel zu einer Erhebung der ägyp-
tischen Patrioten gegen die persische Regierung. Der Aufruhr wurde
nach der Rückkehr des Satrapen im Keime erstickt, jedoch konnte
der jüdische Tempel drei Jahre lang nicht wieder errichtet
werden. Im Jahre 407 sandte die jüdische Gemeinde von Elephan-
tine an den Statthalter Judäas Bagoas (Bagohi) folgendes Schreiben
in aramäischer Sprache:
„An unseren Herrn Bagohi, den Statthalter von Juda (pachath
Jehud), Deine Knechte Jedonja und seine Amtsgenossen, die Priester
in der Festung Jeb. Heil möge unser Herr, der Gott des Himmels,
in reichem Maße (Dir) zu jeder Zeit gewähren und möge Dir zu
Gnade helfen vor Darius, dem Könige, und den Prinzen noch
tausendmal mehr als jetzt; und langes Leben gebe er Dir; und froh
und gesund mögest Du sein zu jeder Zeit!
Jetzt reden Dein Knecht Jedonja und seine Amtsgenossen also:
Im Monat Tammus, im i4- Jahre des Königs Darius (Juli 4io),
als Arsam abgezogen und zum König gegangen war, machten die
Priester des Gottes Chnub in der Festung Jeb eine Vereinbarung
mit Waidrang, der hier Polizeipräfekt war, folgendermaßen: ,Den
Tempel des Gottes Jahu in der Festung Jeb soll man von hier
398
§ 80. Die ägyptische Diaspora. Die Kolonie in Elephantine
entfernen!4 Darauf schickte jener verfluchte Waidrang Briefe an
seinen Sohn Nephajan, der in der Festung Syene Oberkomman-
dierender war, folgenden Inhalts: ,Den Tempel des Gottes Jahu
(agora si Jahu Eloha) in der Festung Jeb soll man zerstören!4
Darauf führte Nephajan Ägypter nebst anderen Kriegern herbei;
sie kamen nach der Festung Jeb mit ihren (Waffen), drangen in
diesen Tempel ein und zerstörten ihn bis auf den Grund. Die
steinernen Säulen, die dort waren, zerbrachen sie, ferner zerstörten
sie die fünf steinernen, aus Quadern gebauten Tore, die in diesem
Tempel waren; nur die Türflügel ließen sie stehen und die bronze-
nen Angeln der Türflügel; das Dach, das ganz und gar aus Zedern-
holz bestand, nebst der Täfelung der Mauern und das übrige, das
dort war, haben sie allzumal mit Feuer verbrannt. Auch die gol-
denen und silbernen Sprengschalen und die Geräte, die in diesem
Tempel waren, haben sie sämtlich fortgenommen und sich an-
geeignet. Schon zur Zeit der Könige von Ägypten (der einheimi-
schen) haben unsere Väter diesen Tempel in der Festung Jeb gebaut,
und als Kambvses (Kanbusi) in Ägypten einzog, fand er diesen
Tempel fertig vor; die Tempel der ägyptischen Götter wurden da-
mals alle niedergerissen, aber diesem Tempel tat niemand irgend-
welchen Schaden. Und nachdem sie so getan, zogen wir nebst Wei-
bern und Kindern Säcke (Trauerkleider) an, fasteten und beteten
zu Jahu, dem Herrn des Himmels, der uns später die Lust sehen
ließ an jenem hündischen Waidrang: man hat die Spange von
seinen Füßen entfernt, und alle Schätze, die er erworben hatte,
sind verlorengegangen; und alle Leute, die diesem Tempel Böses
gewünscht haben, sind getötet, und wir haben unsere Lust an ihnen
gesehen.
Schon vorher, (nämlich) zur Zeit, da dies Unglück uns geschah,
hatten wir einen Brief an unseren Herrn (Bagoas) und an den
Hohenpriester Jehohanan sowie dessen Amtsgenossen, die Priester
in Jerusalem, und auch an Ostan, den Bruder des Anani, und die
Vornehmen der Juden geschickt; doch sie haben uns kein (Antwort)
Schreiben geschickt.
Auch haben wir uns seit dem Tammustage im i4- Jahre des
Königs Darius bis zum heutigen Tage mit Säcken bekleidet und
fasten; unseren Weibern geht es wie einer Witwe; mit Öl haben wir
uns nicht gesalbt und Wein nicht getrunken. Auch sind seit damals
bis auf den (heutigen) Tag im 17. Jahre des Königs Darius Speise-
opfer, Weihrauch und Brandopfer in diesem Tempel nicht dar-
gebracht worden.
Nunmehr sprechen Deine Knechte, Jedonja und ihre Amts-
genossen, und alle in Jeb ansässigen Juden also:
Wenn es unserem Herrn angenehm ist, so kümmere Dich 11m
diesen Tempel, ihn (wieder) aufzubauen. Sieh doch, Leute, die
399
Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie
Wohltaten und Gnadenbeweise von Dir erhalten haben, sind hier in
Ägypten: möge ein Brief von Dir an sie geschickt werden betreffs
des Tempels des Gottes Jahu, daß man ihn wieder aufbaue in der
Festung Jeb dementsprechend, wie er zuvor gebaut war. Und Speise-
opfer, Weihrauch und Brandopfer wird man darbringen auf dem
Altar des Gottes Jahu in Deinem Namen; und beten werden wir
für Dich zu jeder Zeit, wir, unsere Weiber, unsere Kinder und
alle Juden, die hier sind, wenn man so tut, bis daß dieser Tempel
(wieder) auf gebaut ist. Auch wird Dir Opferanteil zuteil werden
vor Jahu, dem Gotte des Himmels, von jedem, der Brandopfer und
Tieropfer ihm darbringt, im Werte von tausend Talenten Silber.
Und was das Gold betrifft, so haben wir deshalb (bereits Nachricht)
geschickt und Kunde gegeben. Alle diese Angelegenheiten haben
wir in einem Briefe in unserem Namen dem Delaja und Salamja,
den Söhnen des Sanballat, des Statthalters von Samarien, mitgeteilt.
Auch hat von alledem, was uns getan ist, Arsam nichts gewußt.
Am 20. Marcheschvan, im 17. Jahre des Königs Darius
(Oktober des Jahres 407 vor der christl. Ära).
Am Schluß des Briefes findet sich ein Hinweis auf die Über-
sendung von Gold, jedenfalls ein Bakschisch für den Satrapen
Bagoas, sowie auf eine ausführlichere, anscheinend mündliche Mit-
teilung durch den Bevollmächtigten. Bald kam von diesem die
Nachricht, daß Bagoas und Delaja den Juden gesatteten, in Jeb
das „Altarhaus“ (Bet madbecha) des Gottes des Himmels, das noch
vor den Zeiten des Königs Kambyses erbaut und vor kurzem
zerstört worden war, wieder zu errichten und wie ehedem Speise-
opfer und Weihrauch auf dem Altar darzubringen. Ob die Juden
in Elephantine von der Erlaubnis wirklich Gebrauch gemacht
haben, ob das zerstörte Heiligtum wieder errichtet wurde, ist uns
unbekannt. Die Juden erhielten nämlich die Genehmigung kurz
vor dem allgemeinen, im Jahre 4o5 ausgebrochenen Aufstand in
Ägypten, der es für lange Jahre von Persien loslöste. Die Wieder-
einsetzung der einheimischen Dynastie mochte den ägyptischen Pa-
trioten, also auch den Priestern des Chnub, zum Vorteil gewesen
sein, den Juden aber sicherlich nur geschadet haben. Über das
fernere Los der Militärsiedlung in Jeb besitzen wir keinerlei Nach-
richt, da die aufgefundenen Papyri mit diesem Zeitpunkt (um das
Jahr 4oo) abbrechen.
Aus dem oben angeführten Briefwechsel und aus einer Reihe
anderer Schriftstücke derselben Sammlung können wichtige Schlüsse
hinsichtlich der kulturellen und wirtschaftlichen Zustände der ägyp-
4oo
§ 80. Die ägyptische Diaspora. Die Kolonie in Elephantine
tischen Diaspora gezogen werden. Die aramäische Sprache der
Schriftstücke, die die offizielle Sprache der westlichen Hälfte der
persischen Monarchie war, war zugleich auch die Umgangssprache
der ägyptischen Juden. In den Schriftstücken werden sie bald
„Juden“, bald „Aramäer“, d. i. aramäisch Sprechende, genannt.
Ihre Namen stimmen meist mit den biblischen überein (xAsarja,
Berachja, Meschulam, Machseja, Nathan u. dgl.), besonders mit
denen, die in den genealogischen Registern der Bücher Esra und
Nehemia Vorkommen; wir stoßen hier jedoch auf Neubildungen von
Personennamen mit der theophorischen Partikel oder auch ohne
diese (so der männliche Name Jedonia, der weibliche Mibtachia)
oder auch auf ganz fremde Namen: babylonische, persische, ägyp-
tische. Die jüdische Gemeinde in Elephantine wird in den Akten
häufig wegen ihrer Garnisonspflichten der Festung gegenüber das
„jüdische Heer“ (chajala jehudaja) genannt. Jede Familie war
einem bestimmten Heeresbanner zugeordnet, und dem Namen einer
Person wurde gewöhnlich auch ihr Banner, „Degel“, beigefügt,
z. B. „Menachem und Ananja aus der Festung Jeb, des Banners
von Adannabi“ (le’degel Adannabi). Die Banner trugen die Namen
der Festungsobersten, die vorwiegend Perser waren (Artaban, Varisat
u. dgl.). In den Papyri kommen auch Juden oder „Aramäer“ vor,
die zu den Bannern der Hauptfestung Syena oder Assuan (Sun)
gehörten. In der jüdischen Militärsiedlung trieb man vorwiegend
friedliche Gewerbe: die Ansiedler besaßen Feld und Haus, manche
von ihnen verfügten über ein bedeutendes Barvermögen und ver-
liehen Geld gegen Schuldverschreibungen. Allerhand Rechtsgeschäfte
(Handels- und Eheverträge, Kaufbriefe) pflegte man in aramäischer
Sprache auf Papyrus zu beurkunden. Diese Aktenstücke wurden
gewöhnlich in Syena, dem Zentrum der Zivilverwaltung dieses
Bezirks, ausgefertigt, wo auch das Zivilgericht seinen Sitz hatte.
Die Parteien wurden vor Gericht im Namen Jahves (Jahus) ver-
eidigt, es kommt aber auch ein Fall vor, wo eine Jüdin in einem
Rechtsstreit mit einem Ägypter einen Eid im Namen der ägyptischen
Göttin Sati leistet. In einer Aufstellung, in der die unter dem
„jüdischen Heere“ zugunsten des Jahvetempels veranstalteten Samm-
lungen verzeichnet sind, kommen auch für „Aschambetel“ und
„Anatbetel“ bestimmte Beträge vor. Es waren dies anscheinend
halbheidnische Gottheiten, Überreste jenes religiösen Synkretismus,
26 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
4oi
Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie
um dessentwillen der Prophet Jeremia im VI. Jahrhundert die
ägyptische Kolonie zur Rede stellte (Buch Jeremia, Kap. 44). Es
ist übrigens auch möglich, daß diese Spenden zugunsten der heid-
nischen Tempel keine freiwilligen waren' daß die Juden gezwungen
wurden, bestimmte Abgaben für die lokalen Heiligtümer zu ent-
richten. Denn das Bestehen mannigfaltiger Kulte kann schwerlich
mit jenem Eifer für den nationalen Jahvekultus in Einklang ge-
bracht werden, der in der oben angeführten Bittschrift klar zutage
tritt. Diejenigen, die um ihres zerstörten Heiligtums willen drei
Jahre fasteten und trauerten, konnten sich wohl kaum zu fremden
Kulten hingezogen fühlen1).
Die Papyri bekunden unter anderem, daß in der ägyptischen
Kolonie das siebentägige Passahfest gehalten wurde. Im Jahre 4*9
sendet ein gewisser Chananja, anscheinend aus Jerusalem, ein
Schreiben an den Obersten der jüdischen Kolonie in Jeb, den oben-
erwähnten Jedonja, in dem er ihn an das Herannahen des Monats
Nissan erinnert sowie daran, daß die Woche vom 15. bis zum
21. des Monats gefeiert werden solle, nichts Gesäuertes in dieser
Zeit genossen, keine Arbeit verrichtet werden dürfe u. dgl., wobei
der Briefsteller sich auf die Verordnung des Königs Darius beruft,
die den Judäern das Feiern des Passahfestes gestattet oder sogar
zur Pflicht macht (in dem verstümmelten Papyrus bleibt dieser
Punkt unklar). Der in den Papyri aus der Zeit Darius II. häufig
erwähnte Jedonja war der Oberste oder Älteste der jüdischen Ko-
lonie in Jeb; sein Name wird oft an der Spitze der Namen der
Jahutempel-Priester angeführt, es ist aber schwer zu entscheiden,
ob er selbst Oberpriester oder nur der weltliche Vertreter der Ge-
meinde war.
Aus der Tatsache, daß die Gemeinde sich mit Bittschriften an
den Statthalter Judäas Bagoas wandte, besonders aber daraus, daß
sie auch an den Jerusalemer Hohenpriester Jochanan schrieb, ist zu
entnehmen, daß die ägyptische Diaspora ständige Beziehungen so-
wohl zu den autonomen Verwaltungsbehörden Jerusalems als auch
zu der persischen Verwaltung der fremden Satrapie unterhielt. Dies
1) Aus diesen Erwägungen heraus sehen wir in den von einigen Gelehrten
(Ed. Meyer u. a.) gezogenen Schlußfolgerungen aus diesem Teil der Akten wenig
begründete Hypothesen.
§ 80. Die ägyptische Diaspora. Die Kolonie in Elephantine
bezeugt, daß die ägyptische Kolonie in religiöser Hinsicht mit der
jüdischen Metropole in offizieller Verbindung stand. Der Verkehr
zwischen der Kolonie und Jerusalem Avurde anscheinend weniger
rege, als in Judäa die strenge Reform Esras und Nehemias durch-
geführt wurde, derzufolge der Tempelkult in vollendeter Form
außerhalb der heiligen Stadt nicht mehr zulässig war. Am Ende
des V. Jahrhunderts scheint der elephantinische Tempel schon der
Rivale des Jerusalemer Tempels geworden zu sein. Dadurch läßt
sich wohl die Tatsache erklären, daß der verzweifelte Aufruf der
ägyptischen Kolonie zur Hilfeleistung bei der Wiederherstellung
ihres zertörten Tempels bei dem Hohenpriester Jochanan und seinen
Amtsgenossen in Jerusalem keinen Anklang fand; dies scheint auch
der Grund gewesen zu sein, weshalb die ägyptischen Juden sich ge-
zwungen sahen, den Satrapen Bagoas und sogar die Erzfeinde der
Jerusalemer, die Söhne des samaritanischen Oberhauptes Sanballat,
um Beistand anzuflehen; gerade zu jener Zeit gingen ja auch die
Samaritaner daran, ihren eigenen Tempel auf dem Berge Gerizim
zu errichten. Jedenfalls haben die neuesten Entdeckungen auf die
bisher in Dunkel gehüllte Geschichte der ägyptischen Diaspora
während der Periode der babylonischen und persischen Herrschaft
ein helles Licht geworfen. Diese neuen Funde machen auch die
ungewöhnlich rasche Entfaltung des jüdisch-hellenistischen Ägypten
in der nächstfolgenden Epoche der griechischen Herrschaft ver-
ständlich: nicht zufällig und nicht plötzlich entstand das jüdische
Zentrum im griechisch-ägyptischen Alexandrien, sondern es Avar nur
eine Fortsetzung und WeiterentAvicklung der früheren Diaspora aus
der persischen Periode1).
£ 1) Nach der Entdeckung der elephantinischen Papyri kann kaum mehr daran
gezweifelt werden, daß sich gerade auf die ägyptische Diaspora der persischen,
nicht aber auf die der späteren griechischen Epoche die bedeutsamen, im 19. Ka-
pitel (V. 18—2 5) des Buches Jesaja enthaltenen Worte eines unbekannten Pro-
pheten beziehen: „An jenem Tage werden fünf Städte im Lande Ägypten die
Sprache Kanaans (hebräisch oder aramäisch) reden und zu Jahve, dem Gotte der
Heerscharen, schwören. Eine von ihnen (den Städten) wird Ir-ha’heres heißen.
An jenem Tage wird es einen Altar Jahves im Lande Ägypten und einen Mal-
stein an seiner Grenze geben. . . . An jenem Tag wird sich Israel als der dritte
zu Ägypten und zu Assyrien (Persien als dem Erben der assyrischen Landgebiete)
gesellen als ein Segen inmitten der Erde, den Jahve der Heerscharen auf sie (den
Dreibund der Völker) legt, indem er spricht: Gesegnet sei mein Volk Mizraim
und Assur, das Werk meiner Hände, und mein Erbbesitz Israel.“ Dieses Fragment
26*
4o5
Judäa und die Diaspora in der persischen Monarchie
mag von einem Propheten des V. Jahrhunderts herrühren, aus jener Zeit, da den
Schwärmern Judäas die Wirklichkeit als die Realisierung der Idee vom Bunde der
drei Kulturvölker erscheinen mochte, was durch die Tatsache symbolisiert war, daß
Israel zu gleicher Zeit einen Tempel in Jerusalem, einen ,,Altar Jahves“ an der
Grenze Ägyptens und ein einflußreiches Zentrum in Babylonien besaß. Im ersten
Vers des Fragments (18) sind unter den fünf Städten außer Elephantine und
Assuan zweifellos diejenigen Städte gemeint, die in der obenerwähnten Rede
Jeremias (Kap. 44) als die ersten Keimzellen der ägyptischen Diaspora erwähnt
werden. Einen Anlaß zu Zweifeln bietet das Schlußwort des Verses, Ir ha her es,
dessen symbolischer Sinn verschiedentlich gedeutet wird: ,»Stadt der Zerstörung“
(buchstäblicher Sinn), „Stadt der Gerechtigkeit“ (Übersetzung der Septuaginta),
„Stadt der Sonne“ (was als eine Andeutung auf Heliopolis betrachtet wird, in
dessen Bezirk sich im II. Jahrhundert vor der christlichen Ära, in der Hasmonäer-
epoche, der Tempel des Honia befand), endlich „Stadt des Löwen“ (auf Leonto-
polis in demselben Bezirk hindeutend). Solange uns über den Tempel in Ele-
phantine nichts bekannt war, hatte die Annahme von der späteren, auf den
Tempel in Heliopolis bezugnehmenden Einschaltung in das Buch Jesaja noch
irgendeine Berechtigung, heute aber liegt kein Grund mehr vor zu einer derartig
fragwürdigen Erklärung der symbolischen und vielleicht durch Schreibfehler ent-
stellten Bezeichnung, die übrigens für den Textsinn im ganzen von untergeordneter
Bedeutung ist. Der Text im ganzen bezieht sich aber zweifellos auf die ägyptische
Diaspora des V., nicht des II. Jahrhunderts, auf die persische, nicht die spätere
griechische Epoche. Das darf schon deshalb nicht unerwähnt bleiben, weil sogar
in der letzten umgearbeiteten wissenschaftlichen deutschen Bibelausgabe von
Kautzsch, die die Quintessenz der deutschen Bibel Wissenschaft (Ausgabe 1922)
enthält, dem Kommentar zum 19. Kapitel des Jesaja noch immer die alte, dieses
Kapitel in die Ptolomäerepoche verlegende Hypothese zugrunde liegt.
4o4
Fünftes Kapitel
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung
des Judaismus
§ 81. Selbstverwaltung und theokratische Verfassung
Die Wiedergeburt Judäas unter Kyros vollzog sich im Zeichen
der religiösen Autonomie. Jerusalem und sein Tempel wurden zum
Mittelpunkt der Restauration. Von einer politischen Wiedergeburt
des jüdischen Staates konnten noch am Vorabend der persischen
Herrschaft der Prophet Jesaja II und in den ersten Jahrzehnten
dieser Herrschaft Haggai und Sacharja träumen; als aber unter
Darius I. die persische Politik in den unterworfenen Provinzen feste
Formen annahm, mußte man sich wohl oder übel mit einer pro-
vinzialen Selbstverwaltung zufrieden geben. Bis zur zweiten Restau-
ration Esras und Nehemias sind noch Schwankungen in dem Typus
der Selbstverwaltung bemerkbar: das weltliche Prinzip kämpft mit
dem geistlichen, wofür die Doppelherrschaft Serubbabels und Josuas
so bezeichnend ist. Die Reform Esras, die die „Thora“ zur Ver-
fassung Judäas proklamierte, machte das Volk für die Idee der
theokratischen Regierungsform empfänglich: lag einmal dem Volks-
leben ein religiöser Kodex, eine Heilige Schrift, zugrunde, so mußte
es nur natürlich erscheinen, daß die geistlichen Würdenträger die
gegebenen Volksführer seien und daß an der Spitze der Verwaltung
der höchste unter ihnen, der Hohepriester des Jerusalemer Tempels,
stehen müsse. Unter Esra und Nehemia entsprachen die Hohe-
priester aus dem Geschlechte Zadoks, was ihre persönlichen Eigen-
schaften betrifft, diesen hohen Anforderungen nur wenig; daher
auch die geistige und administrative Diktatur Esras und Nehemias.
Jedoch nach der von den beiden Reformatoren unternommenen
4o5
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
rücksichtslosen Säuberung wird die Gewalt der Priester, die Hiero-
kratie, mit den Idealen der Theokratie in Einklang gebracht. Der
Jerusalemer Priester wird der offizielle Repräsentant des Volkes;
er ist der Vermittler zwischen der jüdischen Provinz und der per-
sischen Regierung, die durch die Person des syrischen Satrapen
vertreten ist. Die Gewalt wird in dem Priestergeschlechte Zadoks,
dem auch einer der Hauptmitwirkenden an der ersten Restauration,
Josua, angehörte, erblich. Die Dynastie der Zadokiden tritt an Stelle
der königlichen Dynastie der Davididen. Die Hohepriester werden,
wie ehemals die Könige, die „Gesalbten44 ('Kojien-moschiach in der
Thora) genannt, weil sie, gleich den Königen, durch den Akt der
Ölsalbung zu ihrem Amt erhoben werden; sie tragen auch Diadem
und Purpurmantel1). Diesen höchsten Würdenträgern stehen die
Ältesten oder Notabein (Sekenim, Chorirn) zur Seite, die schon unter
Esra und Nehemia an der Spitze der Selbstverwaltung standen* 2).
Das Kollegium der Jerusalemer Ältesten bildete anscheinend die
zentrale Gerusie oder den Senat des Landes, der das höchste Ver-
waltungsorgan und die oberste Gerichtsinstanz darstellte. Ent-
sprechende Institutionen gab es auch in den Landgemeinden, wo
Verwaltung und Rechtsprechung in den Händen der Ältesten des
Ortes lagen. Die letzteren gehörten sowohl der weltlichen als auch
der geistlichen Aristokratie an.
Außer der Tempelgeistlichkeil und dem Geschlechtsadel gab es
noch eine gesellschaftliche Schicht, die auf das soziale Leben Judäas
einen großen Einfluß ausübte. Es waren dies die Soferim oder
„Schriftgelehrten44, „Schreiber44, d. h. Gelehrte, die als die unmittel-
*) S. Lev. Kap. 4, 6, 8, io; Ex. Kap. 28—3o.
2) In den Memoiren Nehemias werden sehr häufig ,,Vornehme und Rats-
herren“ (ha’chorim weha’seganim 2, iG; 4, 8, i3; 5, 7; 6, 17; 7, 5; i3, 11, 17)
als eine besondere Organisation erwähnt. Dies stimmt anscheinend mit der Be-
zeichnung „Oberste und Älteste“ im Buche Esra überein (10, 8: ha’sarim
weha’sekenim) und mit der offiziellen aramäischen Bezeichnung „die jüdischen
Ältesten“ (sabe jehudaja, Esra 5, 5; 6, 7 u. a.). Die Ältesten wurden aus der
Mitte der ,,Familienhäupter“ (rösche ha’abot, Esra 4> 2; Nehemia 8, i3 u. a.)
ernannt, die gleich nach der Heimkehr einiger bekannter Familiengruppen aus
Babylonien unter Serubbabel bereits als an der Verwaltung Beteiligte hervortreten.
Eine Bestätigung für das Vorhandensein eines Ältesten- oder Notabeinrates in
Jerusalem ist auch aus jener Stelle der elephantinischen Bittschrift an Bagoas
(S 80) zu ersehen, die davon berichtet, daß ein gleichlautendes Schreiben dem
„Hohenpriester Jerusalems sowie dessen Amtsgenossen, den Priestern in Jeru-
salem, und den Vornehmen der Juden“ (chore jehudaja) gesandt worden ist.
4o6
§ 81. Selbstverwaltung uncl theokratische Verfassung
baren Fortsetzer der Sache Esras, der Verbreitung der Volksbildung,
galten. Dieser Schicht gehörten weniger Leute priesterlicher Ab-
stammung, Kohanim und Leviten an, als durch ihre Kenntnisse be-
sonders hervorragende Laien. Ihr Einfluß war das Ergebnis jener
geistigen Bewegung, von der gewisse Schichten des Judentums nach
der Reform Esras ergriffen wurden. Einerseits wirkten die Soferim
als Lehrer des Volkes; sie suchten die Kenntnis der Bücher und
besonders der Heiligen Schrift ins Volk zu tragen, indem sie
öffentliche Vorlesungen aus der Thora für Erwachsene veranstalteten
und vielleicht auch Schulen für die Jugend einrichteten; andrerseits
legten sie das Gesetz aus, was in einem durch das „göttliche“ Ge-
setz geregelten Gemein-wesen eine äußerst wichtige Funktion sein
mußte. An der Thora, als dem Heiligen Kodex, durfte nichts ge-
mehrt und nichts gemindert werden; um aber beim Bestehen eines
unantastbaren Kodex den Bedürfnissen des wandelbaren Lebens
durch eine bewegliche Gesetzgebung gerecht zu werden, sah man
sich genötigt, in diesen Kodex allerlei Novellen durch Interpreta-
tion, d. h. durch eine mehr oder weniger freie Auslegung des Buch-
stabens und des Geistes des Gesetzes, hineinzuarbeiten. Auf diesem
Gebiet spielten die Gesetzeskundigen, die Soferim, eine hervorragende
Piolle und darauf beruht ihre große Bedeutung für die jüdische
Selbstverwaltung. Die Soferim bildeten eine freie, demokratische
Geistlichkeit, die mit der beamteten Tempelpriesterschaft wett-
eiferte. Worin sich die Wirksamkeit dieser Gesetzeskundigen oder
„Legisten“ in der jüdischen Selbstverwaltung äußerte und welche
Institutionen sie ins Leben gerufen hat, darüber besitzen wir
keine sichere geschichtliche Kenntnis. Nur in den späteren tal-
mudischen Quellen sind Überlieferungen erhaltengeblieben, die uns
eine zwar sagenhafte, doch von der Wirklichkeit nicht weit ab-
weichende Vorstellung geben von der Wirksamkeit der Soferim
auf dem Gebiete der Selbstverwaltung in jener Zeitperiode.
Die große von Esra und Nehemia berufene Volksversammlung,
in der die Thora als die göttliche Verfassung proklamiert wurde,
hinter ließ tiefe Spuren nicht nur in dem geistigen Leben der Juden,
sondern auch in dem Aufbau ihrer Selbstverwaltung. Die tal-
mudische Überlieferung fügt hinzu, daß diese außerordentliche Ver-
sammlung sich im Laufe der Zeit in einen periodisch zusammen-
tretenden Tag der Volksvertreter verwandelte, bis 120 an der
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Zahl, der die höchste gesetzgebende und gerichtliche Instanz im
Lande bildete. Dieser höchste Rat erhielt die Bezeichnung ,,Große
Versammlung“ (Knesseth ha’gdolah), und seine Mitglieder waren im
Volke noch lange Zeit unter der allgemeinen Bezeichnung „Männer
der Großen Versammlung“ (der Großen Synagoge) bekannt. Unter
ihnen nahmen die Soferim als Fachleute der Gesetzesauslegung
eine hervorragende Stellung ein x).
Den „Männern der Großen Versammlung“ wird in dem ethi-
schen Traktat des Talmud (Pirke aboth) folgender Wahlspruch in
den Mund gelegt: „Seid gelassen im Gerichte; stellet viele Schüler
aus und machet einen Zaun um das Gesetz.“ In diesem Ausspruch
sind die drei Wirksamkeitsgebiete der Versammlung vorgemerkt:
das gerichtliche, erzieherische und gesetzgebende. Schon Esra be-
gann kraft der ihm vom persischen König erteilten Vollmachten
mit der Einrichtung von regelrechten Gerichten in Judäa, und die
Versammlung scheint sein Werk vollendet zu haben, indem sie die
in der Thora dargelegten allgemeinen Prinzipien der Prozeßordnung
durch eine Reihe praktischer Ergänzungen vervollständigte. In
zweiter Reihe war die Versammlung auf die Verbreitung der
judaistischen Lehre im Volke durch Schule und Bethaus bedacht.
Ganz gründlich eigneten sich diese Lehre nur die zum Schrift-
studium besonders Befähigten an, die unter der Leitung der Soferim
die Kunst des Lesens und Schreibens erlernten; das gemeine Volk
dagegen wurde nur durch das Vorlesen in den Versammlungen mit
der Heiligen Schrift bekannt gemacht. Der dritte Punkt des Wahl-
D Die Große Versammlung wird zum erstenmal in einer alten Mischna er-
wähnt, die den Weg der religiösen Tradition zeichnet: ,,Moses empfing die
Thora am Sinai und überlieferte sie dem Josua; Josua den Ältesten; die Ältesten
den Propheten; die Propheten überlieferten sie den Männern der Großen Ver-
sammlung.“ Als den letzten Vertreter dieser Institution betrachtet dieselbe Über-
lieferung Simon den Gerechten, der erst in der Epoche der griechischen Herr-
schaft lebte (Aboth i, i—3). Im Talmud wird die Wirksamkeit der Großen Ver-
sammlung mit derjenigen Esras und Nehemias in Zusammenhang gebracht und
häufig sogar identifiziert, woraus aber nur auf einen möglichen genetischen Zu-
sammenhang der die Reform verwirklichenden Gemeinschaftsinstitutionen mit den
Reformatoren selbst geschlossen werden kann. Die Zahl der Teilnehmer an der
Versammlung belief sich nach der Überlieferung des Jerusalemer Talmuds (Me-
gila i, 5) auf 85, d. h. sie entsprach vollkommen der Zahl der Notabein, die
mit Nehemia die Verpflichtung zur Thorabefolgung Unterzeichneten; im Babylo-
nischen Talmud (Megila, Fol. 17) erhöht sich die Zahl bis auf 120.
4o8
§ 81. Selbstverwaltung und theokralische Verfassung
Spruches: „Macht einen Zaun um das Gesetz“ charakterisiert die
gesetzgebende Wirksamkeit der Großen Versammlung. Viele Thora-
gesetze waren für die praktische Anwendung nicht klar genug oder
sie gestatteten verschiedene Auslegungen. Überdies forderten die
neuen Lebensbedingungen, die neuen sozialen und rechtlichen Ver-
hältnisse auch entsprechende Ergänzungen in der Gesetzgebung. Es
gab zweifellos auch alte mündliche Überlieferungen, die das ge-
schriebene Gesetz ergänzten und in der Erinnerung der Priester und
Schriftgelehrten treu aufbewahrt wurden. Die Große Versammlung
sorgte einerseits für die Legalisierung all dieser mündlichen Über-
lieferungen, andererseits erläuterte sie die Grundgesetze der Thora
und legte sie gemäß den Forderungen der Zeit aus, d. h. sie arbeitete
neue, die Thora ergänzende Gesetze aus mittels der Form einer
„Umzäunung“ ihrer Grundgesetze.
Die Überlieferung schreibt bald den „Männern der Großen Ver-
sammlung“, bald Esra und den Soferim (dibre soferim) eine Reihe
Rechtssatzungen zu, die späterhin im religiösen Leben eine große
Bedeutung erlangten. Diese Gesetze setzten eine bestimmte Ordnung
des rein-geistigen Gottesdienstes fest, der parallel mit dem Opfer-
darbringungskultus im Tempel bestand und diesen in späteren Zeiten
völlig ersetzte. Das Gebet und der Psalm gewannen seit dieser Zeit-
periode eine hervorragende Bedeutung in der religiösen Praxis. Das
alltägliche Hauptgebet „Höre, Israel“ (Schema Israel) und die ersten
der „Achtzehn Segenssprüche“ (Schmona-essre) sollen sich der Tra-
dition zufolge schon zu jener Zeit eingebürgert haben x). Um diese
Zeit wurden auch die die Thora ergänzenden Regeln über die am
Sabbat verbotenen und gestatteten Arbeiten, über hygienische und
sanitäre „Reinheit“ ausgearbeitet. Überdies erscheinen in der Über-
lieferung Esra und die Soferim als Urheber von Reformen allgemein
kultureller Bedeutung, wie z. B. der Umbildung der hebräischen
Schriftzeichen (unten, § 82).
Es ist wohl möglich, daß die talmudischen Überlieferungen über
die Große Versammlung in Einzelheiten von der Wirklichkeit ab-
weichen und daß in ihnen spätere Einrichtungen in eine frühere
Zeit verlegt werden. Allein zweifellos ist die Tatsache, daß es in
dem damaligen Judäa eine höchste Institution von der Art eines
A) Babyl. Talmud: Berachoth, Fol. 33; Megila, Fol. 17, 25 usw.
409
Die jüdische Theokratie and die Entwicklung des Judaismus
Landtages gab und daß sie in einem bestimmten Verhältnis zu dem
Jerusalemer Ältestenrat stand, etwa in der Weise, daß gemeinsame
Beratungen der Ältesten der Hauptstadt mit denjenigen der Provinz
anberaumt zu werden pflegten. Sonst wäre eine Selbstverwaltung
des Volkes überhaupt nicht möglich gewesen. Auch unterliegt es
keinem Zweifel, daß in nicht geringerem Maße als Priester und
vornehme Laien auch Soferim als Gelehrte und Gesetzeskundige sich
an dieser Institution beteiligten. Diesem Umstande hatte es Judäa
zu verdanken, daß die Gewalt der Hohepriester nicht in die Dik-
tatur einer in sich geschlossenen Priesterkaste ausartete, wie es in
anderen Theokratien der Fall war. Judäa war zu jener Zeit eine
geistige Republik, in der der hohe geistige Bildungsgrad besonders
hoch geschätzt wurde und in der dieser auch den aus niederen
Klassen Stammenden den Zutritt zu den höchsten Gesellschafts-
kreisen eröffnete. Die demokratische Intelligenz brachte einen
frischen Strom in die regierenden Kreise und bewahrte so die
Theokratie vor Erstarrung.
§ 82. Das wirtschaftliche Leben und, die Volkskultur
Die Entstehung des persischen Reiches, das den ganzen Orient
vom Iran bis Ägypten zusammenfaßte, mußte notwendig einen
großen Aufschwung des internationalen Handels mit sich bringen,
und dieser Umstand gewann auch auf das wirtschaftliche Leben
Palästinas bedeutenden Einfluß. Infolge der Vereinigung der
erweiterten Diaspora nach dem babylonischen Exil hatten die
Einwohner Judäas die Möglichkeit, mit ihren in Babylonien, im
iranischen Persien und in Ägypten verstreuten Stammesgenossen
ständige Handelsbeziehungen zu unterhalten, indem sich ihnen die
Gelegenheit bot, durch diese Vermittlung ihre landwirtschaftlichen
Erzeugnisse abzusetzen. In dem Schrifttum dieser Epoche finden
sich unklare Andeutungen auf eine Beteiligung der Einwohner Ju-
däas an Handel und Gewerbe: sie schifften sich auf Handelsschiffen
nach dem Meere ein (Sprüche 3i, i4; Psalmen 107, 28), ver-
fertigten Stoffe zum Verkauf an die Kanaaniter (Sprüche 3i, 24),
d. h. an die Phönizier als an die Hauptvermittler bei der Waren-
ausfuhr. Auch der innere Handel gelangte zur Entfaltung. In
seiner Beschreibung des Jerusalemer Marktes erzählt Nehemia, daß
4io
§ 82. Das wirtschaftliche Leben and die Voikskaltür
er jüdische Winzer gesehen habe, die sogar an Sabbattagen Wein
zubereiteten und Weinreben und anderes Obst auf Eseln nach Jeru-
salem führten; auch „Tyrer“ boten dort Fische und andere Waren
feil (Nehem. io, 32; i3, 15—17). I11 der Hauptstadt gab es auch
Markthallen (Bet haTochlim, Neh. 3, 3i—32). Anscheinend herrschte
der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen vor: sie waren der
Hauptgegenstand der Ausfuhr aus Judäa in andere Länder, und
dabei spielte die jüdische Diaspora natürlicherweise eine wichtige
Rolle. Trieben die Juden in der Diaspora vorwiegend Handel, so
blieb doch in Judäa nach wie vor der Ackerbau die Grundlage des
wirtschaftlichen Lebens. Für die Heimat war der jüdische Acker-
bauer und Winzer charakteristischer als der jüdische Handelsmann.
Der Handel entfaltete sich erst in der späteren Epoche der griechi-
schen Herrschaft, aber auch dann standen die Einwohner Judäas
ihren Nachbarn, den Phöniziern, auf diesem Gebiete bedeutend nach,
und die Anbeter der patriarchalischen Sitten verdammten auch viel
später noch den „Kauf und Verkauf, zwischen denen stets Sünde
steckt“ (Ben-Sirach, Kap. 26— 27).
Ein wichtiger Faktor für die gegenseitige Annäherung der Völker
der westlichen Hälf te der persischen Monarchie war die neutrale und
zugleich die offizielle Sprache jener Zeit, die aramäische. Wir
sehen, daß nach dem babylonischen Exil diese der hebräischen so
verwandte Sprache auch in Judäa merkwürdig schnelle Verbreitung
findet. Die althebräische Sprache in ihrer biblischen Form findet
vornehmlich in der Literatur und beim Gottesdienst Anwendung,
während als Umgangs- und Geschäftssprache die in Vorderasien ver-
breitete aramäische Sprache immer gebräuchlicher wird. Nehemia
war empört darüber, daß in vielen Familien die Kinder „nicht
jüdisch reden können“, sondern „asdodisch“, d. i. den lokalen
Dialekt sprechen, und erblickte darin eine Folge der Mischehen;
er merkte aber nicht, daß der nationalen Sprache eine stärkere
Nebenbuhlerin in der internationalen Sprache entstanden war, die
aus denselben Ländern nach Judäa kam, aus denen die Urheber
der Restauration selbst gekommen waren. Zum Teil einer riesigen
Monarchie geworden, vermochte Judäa mit seinem wenig ver-
breiteten Volksidiom nicht auszukommen, sondern mußte sich not-
gedrungen die aramäische Sprache als die Staatssprache der west-
lichen Provinzen Persiens; als die Sprache der Rechtsgeschäfte, des
4i 1
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Handelsverkehrs und der Verträge zu eigen machen. Diese Sprache
verband auch die Juden der Metropole mit ihren Brüdern in der
babylonischen und ägyptischen Diaspora, wo die aramäische Sprache
die nationale gänzlich verdrängt hatte (wie dies auch aus den
elephantinischen Schriftdenkmälern zu ersehen ist). Nach der spä-
teren Literatur zu urteilen, wurde die von der Bevölkerung Judäas
übernommene internationale Sprache stark hebraisiert, und so ent-
stand der aramäisch-hebräische Dialekt, der allmählich den Rang
einer zweiten nationalen Sprache erlangte, die der alten nur an
Heiligkeit nachstand. Dieser Dialekt drang sogar in die religiösen
Versammlungen oder Synagogen ein, wo bei dem öffentlichen Vor-
lesen der Thora der althebräische Text für das gemeine Volk ins
Aramäische (Targum) übersetzt werden mußte.
Zugleich mit der aramäischen Sprache gelangten auch viele
technische Fachausdrücke dieser Mundart in die Umgangssprache,
so vor allem die Terminologie des babylonisch-aramäischen Ka-
lenders. Bis zum babylonischen Exil waren nämlich entweder Ord-
nungszahlen für die Bezeichnung der Monate gebräuchlich („der
i. Monat“ von dem Frühlingsmonate an gerechnet usw.) oder Be-
nennungen, die der Jahreszeit entsprachen, wie z. B. „Abib“ — der
Monat der Ährenreife, Siv — der Monat des Frühlingsstrahlens,
„Bul“ — der Monat des Laubfalles. Allein in den nach dem
babylonischen Exil entstandenen biblischen Büchern (Sacharja, Esra,
Nehemia, Esther) sind bereits neben den alten Bezeichnungen auch
neue anzutreffen, die seither in der hebräischen Sprache heimisch
werden: Nissan, Kislev, Adar u. a. Diese Benennungen der zwölf
Monate sind unmittelbar der assyro-babylonischen und aramäischen
Sprache entlehnt, was auch in der alten talmudischen Überlieferung,
nach der die „Monatsbezeichnungen von den Juden aus Babylonien
mitgebracht waren 1)“, treffend zum Ausdruck kommt. Im folgen-
den die babylonischen und die entsprechenden hebräischen Be-
nennungen der Monate, mit dem Frühlingsmonat (März-April) an-
gefangen: Nissaannu — Nissan, Airu — Ijar, Simanu — Sivan,
Dumusu — Tammus, Abu — Ab, Ululu — Elul, Tasritu — Tischri,
Arahsamna — Marcheschvan, Kislimu — Kislev, Tebitu — Tebet,
■*■) Jerusal. Talmud, Traktat „Rosch-ha’schana“, i, 2.
41 2
§ 82. Das wirtschaftliche Lehen und die Volkskultur
Sabatu — Sebat, Addaru — Adar x). Vermutlich wurde es bei den
Juden, wie auch bei den alten Babyloniern, schon zu dieser Zeit
üblich, alle drei bis vier Jahre einen Monat zur Ausgleichung des
Mondjahres mit dem Sonnenjahre einzuschalten; dieser Schaltmonat
wurde bei den Babyloniern dem Ende des Sommer- oder Winter-
halbjahres als „zweiter Elul“ oder „zweiter Adar“ angehängt, wäh-
rend es bei den Juden Brauch wurde, nur den Monat Adar, den
zwölften, vom Frühlingsmonat an gerechnet, zu verdoppeln. Gleich-
falls um diese Zeit scheint der Übergang vom Frühlings- zum
Herbstneujahr sich vollzogen zu haben: ehedem begann das Jahr
mit dem Frühling, mit dem Monat Nissan (März-April), während
seit der persischen Herrschaft man allmählich den Jahresbeginn
auf den ersten Tag des ersten Herbstmonats Tischri zu verlegen
begann. Dies mag vielleicht mit der am Herbstanfang erfolgten
Verkündigung der Thora als der Verfassung Judäas Zusammen-
hängen (§§ 76 und 83). Alle diese Neuerungen werden verständlich,
wenn man erwägt, daß alle gerichtlichen Akte und Schuldver-
schreibungen im westlichen Persien dem babylonisch-aramäischen
Kalender gemäß datiert wurden und daß also die Lebensbedürf-
nisse selbst nahelegten, den allgemein gebräuchlichen Kalender an-
zuerkennen.
Eine natürliche Folge der Verbreitung der aramäischen Sprache
war auch die Umbildung der altehrwürdigen hebräischen Schrift-
zeichen. Die Volksüberlieferung, die diese Neuerung mit dem
Namen des „Schreibers“ Esra*) in Zusammenhang bringt, beruht
auf geschichtlicher Wahrheit, insofern man weniger die Person
als das Zeitalter im Auge behält. Die alte hebräisch-phönizische
Schriftart, die uns in den Inschriften des IX. bis VIII. Jahrhunderts
*) Bemerkenswert ist noch folgende Übereinstimmung: den assyrisch-babylo-
nischen Monaten entsprach ein symbolischer „Tierkreis“ der zwölf Sternbilder,
deren jedes im Laufe eines Monats einen bestimmten Platz am Firmament ein-
nimmt. Auch mit diesem astronomischen Kreis, einem Überrest des uralten Astral-
kultes, hat der hebräische Kalender den Zusammenhang gewahrt, indem er jedem
Monat ein bestimmtes Sternbild (Masal) zuweist: Nissan — den Widder, Ijar —
den Stier, Sivan — die Zwillinge, Tammus — den Krebs, Ab — den Löwen,
Elul — die Jungfrau (die babylonische Venus Istar), Tischri — die Wage,
Marcheschvan — den Skorpion, Kislev — den Schützen, Tebet — den Steinbock,
Sebat — den Wassermann, Adar — die Fische.
2) Tosephta Sanhedrin 4, 5; Babylonischer Talmud, Sanhedrin 21—22;
JerusaL Talmud, Megila, Kap. 1, S 11.
4i3
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
(§ 5o) erhaltengeblieben ist, bedient sich äußerst unübersichtlicher
und schwer leserlicher, hakenförmiger Schriftzeichen. An Stelle
dieser Schrift tritt nunmehr die aramäische, die man die „assy-
rische“ („Ketab aschuri“ zum Unterschied von „Ketab ibri“) nannte,
die sich durch Einfachheit der Linienführung auszeichnete. Die
neuen, vereinfachten Schriftzeichen des aramäischen Typus ver-
vollkommnten sich nach und nach und näherten sich so jener
Quadratform der hebräischen Schriftart, welche sich einige Jahr-
hunderte später endgültig durchsetzte1). Nur allmählich wurden
die althebräischen Schriftzeichen durch die neuen verdrängt: sind
sie doch noch auf den Münzen aus der Zeit der Hasmonäerepoche
zu sehen; jedoch in 3er Literatur vollzog sich dieser Übergang
schon früher, da die Vereinfachung der Schriftzeichen eine Haupt-
bedingung für jenes Volkstümlich wer den der Schriftkenntnis war,
das den Schriftgelehrten so sehr am Herzen lag. Diese Neuerung
war es gerade, die sehr viel zur Verbreitung der Volksbildung bei-
trug. Nur die Samaritaner, unter denen die Schriftgelehrsamkeit
ein Vorrecht der Priester blieb, behielten in ihren Büchern die alt-
hebräischen alphabetischen Zeichen bei.
Mit der Verbreitung des religiösen Schrifttums im Volke hing
auch die Dezentralisation des Kultes zusammen. In derselben Weise,
wie die gelehrten Laien, die Soferim, mit der offiziellen Tempel-
priesterschaft wetteiferten, so wetteiferten auch die Privatbethäuser
(Bet-ha’knesseth — „Haus der Versammlungen“) oder die „Synagogen“
(wie man sie später im griechischen Zeitalter nannte) mit dem
Tempel von Jerusalem. Die Synagogen in Form von privaten
religiösen Versammlungen kamen zuerst zur Zeit des babylonischen
Exils auf, unter den Verbannten, die mit ihrer Heimat auch den
Tempel verloren hatten. Jedoch auch nach der Restaurierung des
Jerusalemer Tempels ist das Bedürfnis nach religiösen Gemeinde-
versammlungen und noch engeren Zusammenkünften nicht ge-
schwunden. Nach solchen Versammlungen verlangten besonders die
Einwohner der Provinz, die nur selten, an den großen Jahresfeier-
tagen, in der Lage waren, den Zentraltempel aufzusuchen. Anderer-
seits stärkte auch die Verbreitung der verinnerlichten Religiosität im
Ü Die Quadratschrift war in den späteren Jahrhunderten bei der Herstellung
der Thorarollen gebräuchlich und ging nach dem Aufkommen der Buchdrucker-
kunst in vervollkommneter Form in die gedruckten Bücher über.
§ 83. Die letzte Thoraredaktion
Volke das Verlangen nach Synagogen, in denen ein mehr dem per-
sönlichen Gefühle zusagender Gottesdienst eher möglich war als in
dem Haupttempel mit seiner zahlreichen Priesterschaft, seinen pracht-
vollen Levitenchören und seinen prunkvollen Opferdienstzeremonien.
Die Synagogen waren jene Versammlungen der „Frommen“ („Kehal
chassidim“), von denen in den Psalmen die Rede ist1). Es waren
dies nicht nur Bethäuser, sondern auch Lehrhäuser. Hier wurden
periodisch bestimmte Kapitel aus der Thora vorgelesen, denen zum
Schluß Abschnitte aus den Propheten folgten. Die Andachtsstimmung
kam in dem Gesang von religiösen Hymnen oder Psalmen unter
Mitwirkung der ganzen Gemeinde zum iYusdruck; vielleicht wurden
schon zu jener Zeit manche der Gebete volkstümlich, die nach der
Überlieferung von der Großen Versammlung verfaßt worden sind
(§ 81).
Vermutlich hatte die demokratische Geistlichkeit der Soferim in
den Synagogen und religiösen Zirkeln dieselbe Stellung inne, welche
die offizielle Priesterschaft der Kohanim und der Leviten am Jeru-
salemer Tempel einnahm. Die Soferim waren die wahren Lehr-
meister des Volkes. Sie verbargen nicht ihr Wissen wie die Priester,
verwandelten es nicht in ein Berufsgeheimnis, um sich von der un-
aufgeklärten Volksmasse abzuheben, sondern strebten im Gegenteil
danach, dieses Wissen allen Schichten des Volkes ohne Ausnahme
zugänglich zu machen. Ihnen war es zu verdanken, daß die Syn-
agoge zu einem Schulhause, die Thora und die anderen alten Bücher
zu Werkzeugen der Volksaufklärung wurden. Die „Schriftgelehrten“
befestigten im Volke die Macht der Schrift und entwanden so den
Priestern das ausschließliche Vorrecht der Ausschöpfung der Re-
ligionsquellen. Ein mit der Thoraschrift wohl vertrauter Laie war
nicht mehr blindlings der Autorität des Klerus ausgeliefert.
§ 83. Die letzte Thoraredaktion
Der bis zu uns gelangte Thoratext (das Gesetz, der Pentateuch)
hat sich im Laufe von Jahrhunderten aus einer Reihe übereinander -
geschichteter Rezensionen herausgebildet, die in verschiedenen Zeiten
1) Psalm i4g. In einem Psalm aus der Makkabäerzeit werden die Synagogen
„gottgeweihte Versammlungen“ („Moade El“, Psalm 74, 8) genannt.
4i5
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
zu verschiedenen Zwecken unternommen worden sind (§§ io, 5i,
58, 67). Die letzte Redaktion der Thora war das Werk Esras und
der von ihm ins Leben gerufenen Schule der Soferim: sie gaben
dem „geschriebenen Gesetz“ seine endgültige' Form. Die Forscher
aus der „bibelkritischen“ Schule sind der Meinung, daß eben unter
Esra jener sakrale Teil der Thora abgefaßt und ihr einverleibt
worden sei, der Priesterkodex (hebräisch: thorat-kohanim) genannt
wird und den größten Teil des dritten Buches des Pentateuch,
„Wajikra“ oder „Leviticus“, sowie Teile der Bücher „Exodus“ und
„Numeri“, in denen der Ritus des Tempelkultes dargelegt ist, in
sich einschließt; zur selben Zeit, so nehmen diese Forscher an,
wurde im Geiste des Priesterkodex auch der Text der übrigen Teile
des Pentateuch rezensiert, in derselben Weise, wie zur Zeit der Ver-
öffentlichung des „Deuteronomiums“ oder im babylonischen Exil
derselbe Text der prophetischen Rezension des „Deuteronomisten“
unterzogen worden war. Daran scheint nur der Grundgedanke von
dem Vorhandensein zweier paralleler, ihrem Geiste nach voneinander
abweichender Rezensionen der Thora richtig zu sein, nämlich der
prophetischen und der priesterlichen, deren erste das ethische Ele-
ment der Religion in den Vordergrund rückt, während in der andern
das rituale, sakrale vorherrscht. Allein die Ansicht von der späten
Entstehungszeit des Priesterkodex selbst muß als durchaus proble-
matisch angesprochen werden: es ist schwer anzunehmen, daß der
Priester- und Ritualkodex, der das Zeremoniell des einer niedrigeren
Stufe der Religion entsprechenden Opferdienstes regelt, später ent-
standen sei als die Kodices der persönlichen und sozialen Moral,
die eine höhere Stufe des religiösen Schaffens voraussetzen. Der
Priesterkodex, der doch zweifellos das ganze Kultuszeremoniell
(Opferdarbringung, Gottesdienst, Pflichten und Rechte der Tempel-
diener) schon zur Zeit des ersten Tempels regelte, kann unmöglich
erst in der Zeitperiode des zweiten Tempels entstanden sein; viel-
mehr bildete er von jeher einen Teil der Thora, allerdings einen
besonderen, sakralen Teil, der ehedem geheimgehalten und erst nach
der Veröffentlichung der Thora unter Esra Gemeingut des gesamten
Volkes geworden war. Was nun den Charakter der letzten Thora-
rezensionen betrifft, so ist vom geschichtlichen Standpunkt aus nur
eines anzunehmen, daß nämlich in der Zeit Esras und der Soferim
der ganze Pentateuch einer Umarbeitung unterzogen wurde, jedoch
4i6
§ 83. Die letzte Thoraredaktion
nicht im Geiste des Priesterkodex, sondern in demjenigen der Theo-
kratie oder Hierokratie (Priesterherrschaft), die sich zu jener Zeit
in Judäa zu befestigen begann. Man stand vor der Aufgabe, die
Thora als die Verfassung des Landes dem veränderten Typus des
judäischen Staates, d. i. dem politisch abhängigen, von dem Hohe-
priester des Jerusalemer Tempels und von einer Reihe autonomer
Institutionen mit theokratischem Anstrich verwalteten Staate, an-
zupassen. Dieser Anpassungsakt eben wurde von Esra und seinen
Jüngern vollzogen.
Das theokratische Ideal schwebte schon dem Propheten Jeheskel
im babylonischen Exil vor. Der Prophet erblickte in seinen Träumen
das geistige Jerusalem mit dem Hohepriester an seiner Spitze und
mit einem komplizierten Tempelkultus. Die von Jeheskel entworfene
Verfassung des neuen Jerusalem entspricht in vielen Beziehungen
derjenigen, die in ausführlicher Form im dritten Buche der Thora
dargelegt ist1). Vor dem babylonischen Exil stießen jedoch die
theokratischen Bestrebungen der Geistlichkeit auf den Widerstand
der Königsgewalt; zur Zeit der persischen Herrschaft aber, als das
Königtum in Judäa nicht mehr bestand, vermochten sich diese
Bestrebungen frei zu entfalten. Judäa wurde nun eher eine kleri-
kale als eine politische Organisation. In ihrem Mittelpunkt standen
der Jerusalemer Tempel und sein Hohepriester. Dementsprechend
wurden auch die Gesetzesnormen umgebildet und die alten Über-
lieferungen in einem neuen Geiste ausgelegt. Auch die Sagen von
dem vorgeschichtlichen Leben des Volkes wurden nun der neuen
Lebensordnung angepaßt (besonders in den beiden ersten Büchern
der Thora), was der Gesetzgebung den Anschein der Ewigkeit und
der Unabänderlichkeit geben mußte. So tritt in bestimmten Teilen
des Pentateuich das Volk Israel schon zur Zeit seines Nomadisieren^
in der Wüste als eine religiöse, sich um das „Stiftszelt“ scharende
Gemeinde auf, in der den Priestern und Leviten eine Vorrangs-
stellung eingeräumt wird. Neben dem großen Gesetzgeber Moses
erhebt sich hier die sagenhafte Gestalt seines Bruders Aaron, als
des Ahnherrn des israelitischen Hohepriestergeschlechts. Moses selbst
erscheint danach als der Urheber des Tempeldienstes mit allen seinen
Einrichtungen, mit allen Einzelheiten des Opferkultes, sowie als
derjenige, der die Priester in ihre offenbar auf ein Priesterreich
—
x) Vgl. Ezechiel, Kap. 43—47 mit Levit. Kap. 8—9, 21—23 und 25.
27 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
417
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
berechneten Ämter einsetzt; nirgends aber ist in den Sakralpartien
des II., III. und IV. Buches der Thora von einem weltlichen Re-
genten die Rede. Ein Hinweis auf die königliche Gewalt findet sich
nur im Deuteronomium (Kap. 17), das noch unter König Josia
rezensiert und zum Teil veröffentlicht wurde.
In der neu rezensierten „Priesterthora“ bildet die Idee der
Heiligkeit die Grundlage der theokratischen Ordnung: „Ihr sollt
heilig sein, denn ich bin heilig, Jahve, euer Gott“ (Lev. 19, 2).
Die allergrößte Bedeutung wird der religiösen oder ritualen Heilig-
keit beigelegt, die in den Riten der körperlichen „Reinigung“ und
in Vorschriften über Mäßigung bei der Befriedigung physischer
Bedürfnisse zum Ausdruck kommt. Für Priester und Leviten gelten
in dieser Beziehung strengere Regeln als für die Laien. Zu den
allgemeingültigen Normen gehören die Gesetze von erlaubten und
verbotenen Speisearten, von dem Eheverbot in bestimmten Verwandt-
schaftsgraden, von Haus- und Familienhygiene. Viele dieser Gesetze
zielen darauf ab, durch Anhaltung zu Mäßigkeit und Reinlichkeit
die Gesundheit des Menschen zu fördern, die Kraft des Körpers und
die Frische des Geistes in ihm zu erhalten. Nicht ein Hang zum
Asketismus, der der biblischen Weltanschauung durchaus fremd ist,
tritt darin zutage, sondern das Streben nach gesunder Enthaltsam-
keit. Zugleich erhebt das Gesetz auch die Forderung sittlicher
Heiligkeit, d. i. der Realisierung der von den Propheten gepredigten
erhabenen sittlichen Ideale. Bei den alten Propheten waren rituale
und sittliche Heiligkeit, Werkheiligkeit und Moralität oft einander
entgegengesetzt, während sie in der „Priesterthora“ unzertrennlich
miteinander verflochten sind. In einem und demselben Buche ist
sowohl von Opferdarbringungen und religiösen Bräuchen, als auch
von Nächstenliebe, von Schutz der Schwachen und Unbemittelten,
von Gerechtigkeit und sozialer Gleichheit die Rede.
Die in der Zeitperiode Esras vollzogene Reform verwandelte viele
Volksbräuche in religiöse Normen. Die Jahresfeiertage: Passah,
Schabuoth, Sukoth, die ehedem einen in der vorwiegend land-
wirtschaftlichen Lebensweise wurzelnden Charakter hatten (§§ 11,
46, 48), erhalten nunmehr eine ausgesprochen historische und
religiös-rituelle Färbung x). Der ehemalige patriarchalische Brauch,
*) ij Levit. 23, 4—22, 34 f.; Num. Kap. 29. Charakteristisch ist der hier
mehrmals angewandte Ausdruck „mikrae kodesch“, d. i. heilige Versammlungen,
4i8
§ 83. Die letzte Thoraredaktion
die der Jahreszeit entsprechenden landwirtschaftlichen Erzeugnisse in
den Tempel zu bringen und daselbst Familienmahle zu veranstalten,
hat sich noch erhalten, allein im Vordergründe steht nun die Opfer-
zeremonie : der Gemeindebruder tritt ganz hinter den Priester zurück.
Unter den Jahresfeiertagen erlangen um diese Zeit zwei Feste, die
Spuren später Entstehung auf weisen, eine hervorragende Bedeutung:
Jom-teraa („der Tag der Trompetenklänge“) am i.Tage des Herbst-
monats Tischri und Jom-kippur („Tag der Versöhnung“, Jom-
ha’kippurim) am io. Tage desselben Monats1). Der erste dieser
Feiertage fiel mit dem Beginn des herbstlichen Neujahres zusammen
und erhielt späterhin die Bezeichnung Rosch-ha schana („Jahres-
beginn“). Seine ursprüngliche Benennung weist auf den Brauch
hin, diesen Tag durch Trompetenschall zu verherrlichen. Der ge-
schichtliche Ursprung dieser Sitte und ihre symbolische Bedeutung
sind nicht genügend klargestellt2). Man könnte vielleicht diese Feier
mit der obenerwähnten Tatsache (§ 76) in Zusammenhang bringen,
daß am ersten Tage des Tischri in Jerusalem eine große Volks-
versammlung stattfand, in der Esra zum ersten Male das Buch der
Thora dem Volke vorlas und erläuterte: „Jom-terua“ oder „Jom-
ha’sikkaron“ („Gedenktag“) mochte vielleicht zur Erinnerung an
zur Bezeichnung von Sabbattagen und großen Jahresfeiertagen, der in dem ent-
sprechenden von den Feiertagen handelnden 16. Kapitel des Deuteronomium nicht
vorkommt. Bemerkenswert ist es auch, daß im Levit. zum ersten Male die ge-
schichtliche Ausdeutung des Sukothfestes hervorgehoben wird („Damit eure künf-
tigen Geschlechter erfahren, daß ich die Israeliten habe in Hütten wohnen lassen,
als ich sie aus Ägypten hinwegführte“, 23, 43), während im Deuteronomium nur
dem Passahfest ein geschichtliches Motiv zugeschrieben, das Laubhüttenfest da-
gegen als ein rein landwirtschaftlicher Feiertag des „Einheimsens (des Ertrages)
von der Tenne und der Kelter“ (16, i3) hingestellt wird. Die Kapitel über die
Feiertage in Numeri (28—29) entstammen ganz und gar dem Priesterkodex, in-
dem sie teilweise das erwähnte Kapitel aus Levit. wiederholen, teilweise es durch
eine ausführliche Aufzählung der Opferarten vervollständigen. Charakteristisch ist
es auch, daß im Buche Nehemia (8, i3—18) die Sukothfeier, die durch Er-
richtung von privaten und gemeinschaftlichen Laubhütten und durch Vorlesen der
Thora in religiösen Versammlungen gekennzeichnet war, besonders imposant dar-
gestellt wird, wobei das Neue an dieser Feierzeremonie ausdrücklich betont wird.
*) Levit. 23, 24—33; Num. 29, 1—11. Im „Bundesbuch“ (Ex. 21—23)
und im Deuteronomium wird dieser beiden Feiertage nicht Erwähnung getan, und
man kann mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß sie als rein religiöse
Tempelfeste erst in der Zeit Esras eingeführt wurden.
2) Schon bei den alten Babyloniern war es üblich, durch Trompetenklang den
Neujahrstag auszuzeichnen, der bei ihnen gleichfalls bald in die Frühlings-, bald
in die Herbstjahreszeit fiel.
419
27*
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
diesen Akt der Veröffentlichung der Verfassung Judäas gestiftet
worden sein (Nehem. 8, 9—12). Mit diesem Zeitpunkt mag auch
die Übertragung des Neujahrstages vom 1. Nissan auf den 1. Tischri
in Zusammenhang stehen. Auch in diesem Falle tritt die Neujahrs-
feier des wiederkehrenden Lenzes vor der religiösen herbstlichen
Neujahrsfeier zurück1). Eine viel bestimmtere Bedeutung kam dem
Jom-kippur zu: es war dies der Tag des allnationalen Fastens und
der Buße, ein Tag der absoluten Ruhe (der „Sabbat der Sabbate“)
und der geistigen Läuterung. Hier fand das Dogma der religiösen
Heiligkeit seinen höchsten Ausdruck. Die Verletzung der Heiligkeit
führt zu Sünde und Entweihung, während die Läuterung durch
Reue und Buße erreicht wird. Die Buße wird sowohl auf sym-
bolischem Wege, durch Opferdarbringung und Tempelritus, als
auch durch Fasten, Gebet und Reinigung der Seele vollzogen. Der
Ursprung des „Versöhnungstages“ hängt mit der Entstehung des
herbstlichen Neujahrstages zusammen und es liegen ihm auch
gleichartige Motive zugrunde.
Auch der Sabbat, der ursprünglich als Ruhetag festgesetzt wurde
und für das wirtschaftliche Leben des Landes von sehr großer Be-
deutung war, wird nun zu einem Mittel persönlicher Läuterung. Von
den alltäglichen Sorgen abgelenkt, vermag der Mensch sich in die
Sphäre höherer geistiger Interessen zu erheben; und so wird es ver-
ständlich, daß die später eingeführten, den Sabbat umzäunenden
strengen Vorschriften großen erzieherischen Einfluß auf das Volks-
leben gewannen. In dieser Epoche wird auch der Sabbat in den
Kreis der Tempelfeierlichkeiten mit einem besonderen Opferritus
einbezogen.
Der Opferdienst gelangt jetzt zur größten Entfaltung, er ist
aber nur auf einen bestimmten Ort, den Jerusalemer Tempel, be-
schränkt. Es gab viele Arten von Opfern, die je nach Person oder
Anlaß besondere Formen annahmen. Man opferte Hausvieh, Ge-
flügel, Mehl, Gemüse und Früchte, Pflanzenöl, Wein und Weih-
rauch; gewöhnlich wurde das Opfer als gottgeweihte Gabe („01a“)
auf dem Altar ganz verbrannt; außerdem gab es Sühnopfer zur
1) Vgl. „Jüdische Altertümer“ des Josephus Flavius i, 3, 3 und den Ba-
bylonischen Talmud, Rosch-ha’schana 2 £., wo das herbstliche Neujahr als das
normale gilt und das Frühlingsneujalir als ein spezielles.
&20
§ 83. Die letzte Thoraredaktion
Sühne von Sünden oder religiösen Vergehen („Chatath, Ascham“),
Opfer der Versöhnung („Schelamim“) u. dgl. mehr. Die Opfer
wurden im Namen von ganzen Gemeinden oder auch von einzelnen
Persönlichkeiten dargebracht, von Männern und Frauen, von Laien
und Geistlichen, von gemeinen Leuten und Vornehmen. Das all-
tägliche Tempelopfer, Tamid genannt, wurde während des Morgen-
und Abendgottesdienstes auf dem Tempelaltar im Namen des ganzen
Volkes dargebracht; an Wochentagen bestand das „Tamid“ aus zwei
Lämmern und einer gewissen Menge Mehl, öl und Wein, während
an Sabbattagen, Neumonden und Jahresfeiertagen dieses obligato-
rische Gemeindeopfer aus einer größeren Zahl Horn- und Kleinvieh
mit den entsprechenden Zutaten bestand 1). So hatte sich der in den
uranfänglichen Formen der Gottesverehrung wurzelnde Opferkultus
in dem religiösen Leben der Juden nicht nur erhalten, sondern sich
sogar noch entfaltet; allein die Thora war bestrebt, diesen Kultus
durch sittliche Motive zu vergeistigen. Als das Hauptmotiv erscheint
die Läuterung des Menschen von der Sünde des Schlachtens der
Tiere zu Nahrungszwecken: durch den symbolischen Akt des Ver-
brennens gewisser Fleischteile auf dem Altar Gottes wird diese
Sünde gesühnt. Das Blut des geschlachteten Tieres mußte man am
Altar völ% abfließen lassen, und der Genuß von bluthaltigem
Fleisch war streng untersagt, denn „die Seele des Fleisches (Leibes)
ist im Blut“ (Levit. 17, 2—12). Das Opfer sollte somit ein Mittel
der Verklärung roher alltäglicher Handlungen durch religiöse Akte
werden. Es ist dies das Symbol der Reinigung und Heiligung des
Lebens, ein Symbol, das den Übergang von den primitiven Gott-
heitsvorstellungen zu jenen Idealen der Gotteserkenntnis und der
sittlichen „Heiligkeit“ vermittelt, die im Deuteronomium und in
der Lehre der Propheten so klar zum Ausdruck kommen.
Kultus und Sittlichkeit, äußerlicher Ritus und innere Seelen-
reinheit („Heiligkeit“) — dies sind die Bestandteile der vom Geiste
der Thora durchdrungenen Religion. Beide Elemente waren ge-
schichtlich durchaus notwendig. Der Kultus ohne die Sittlichkeit
hätte den Judaismus entseelt und ihn schließlich zum Heidentum
geführt; die Sittlichkeit ohne eigenartige Kultformen hätte die
Volksmassen in den Schranken der religiösen und nationalen
*) Levit. Kap. 1—7 und sonst; Num. Kap. 28—3o.
421
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Disziplin nicht festhalten können, die das jüdische Volk vereinigen
und zu einer einheitlichen geistigen Streitmacht zusammenschmieden
sollte. Die organische Verschmelzung beider Elemente entsprach
den seelischen Bedürfnissen von Menschen verschiedenartigster
Geistesbildung sowie auch den geschichtlichen Aufgaben, die diesem
Zeitalter gestellt wurden.
§ 84. Die geschichtlichen und prophetischen Bücher; der Kern des
Kanons
Der Prozeß des Sammelns und des Umarbeitens der alten Bücher
erstreckte sich nicht nur auf den Grundkodex, die Thora, sondern
auch auf andere Teile des nationalen Schrifttums, die nicht in so
hohem Maße vom Nimbus der Heiligkeit umgeben waren: auf die
geschichtlichen (chronographischen) und auf die prophetischen
Bücher. Daß diese Arbeit erst „in den Tagen Esras und der
Schriftgelehrten“ ihren Abschluß fand, ist auch aus den unwill-
kürlichen Andeutungen zu ersehen, die in den jener Epoche ver-
hältnismäßig naheliegenden Quellen der religiösen Tradition Q er-
haltengeblieben sind. Die wohlgeordnete Reihenfolge, die Kon-
sequenz in der Darstellung und die streng durchgeführte Einheit-
lichkeit der Tatsachenbeleuchtung, die uns heute in den geschicht-
lichen Büchern der Bibel entgegentreten, können nur dadurch er-
klärt werden, daß der gesamte Stoff durch die Hand eines viel-
erfahrenen Redaktors ging. Die Geschichtsbücher sind an uns
nicht in Form von schlichten Urkunden über das Leben des
Volkes, von der Eroberung Kanaans bis zum Falle Judas, gelangt,
sondern in Form von pragmatisch dargelegten Werken der Ge-
schichtschreibung: die Ereignisse werden hier nicht nur einfach
nacherzählt, sondern auch hell beleuchtet, und dies immer von
einem ganz bestimmten Gesichtspunkte aus. Offenbar wurden diese
in der Königszeit entstandenen (§ 5i) und in der Prophetenschule
während der Epoche des babylonischen Exils (§ 67) der ersten
literarischen Bearbeitung unterzogenen alten Urkunden in der
Soferimschule Esras gesammelt, chronologisch geordnet und mit
bestimmten Schlußfolgerungen versehen. So entstand die Sammlung
x) II. Makkabäerbuch 2, i3—i4; Talmud: Baba-batra i5 und auch sonst.
422
§ 8U. Die geschichtlichen und prophetischen Bücher; der Kern des Kanons
der biblischen Bücher, die in den späteren Kanon unter der be-
fremdenden Bezeichnung „Nebiim rischonim“ („Die ersten Pro-
pheten“) nach dem Pentateuch eingefügt wurde und die Bücher:
„Josua“, „Richter“, „Samuelis“ (zwei Teile) und „Könige“ (zwei
Teile) umfaßt.
Nachdem man unter Esra die Redaktion des Thoratextes zu
End(3 geführt hatte, wobei die „Heilige Geschichte“, von der Welt-
schöpfung bis zum Tode Moses', mit dem Gesetzeskodex in orga-
nischen Zusammenhang gebracht war, war dadurch zugleich der
Weg auch für die Rezension der folgenden geschichtlichen Bücher
gebahnt. In ihrer letzten Redaktion setzen sich diese Bücher aus
einer von urkundlich bezeugten Tatsachen gebildeten Grundlage und
aus einem komplizierten Überbau zusammen, bei dem die lange Reihe
der Ereignisse und Begebenheiten in eine regelrechte Verkettung von
Ursache und Wirkung umgeformt ist. Im Mittelpunkte der Er-
zählung steht die Nation, die bald die Gebote Gottes befolgt und
sich darum des Wohlstandes erfreut, bald diese Gebote Übertritt und
daher in Elend verfällt; die Ereignisse geschehen nicht zufällig,
sondern nach einem bestimmten, von oben vorgezeichneten Plane.
Das nordisraelitische Reich mußte zugrunde gehen, weil es von dem
nationalen Kultus abfiel und die Warnungen der Propheten außer
acht ließ. Das Reich Juda blieb, wenn auch als ein bescheidener
„Rest“, erhalten, weil es sich nach langem Hin- und Herschwanken
schließlich besann und den von Gott und den Propheten gewiesenen
wahren Weg betrat. Den gesunden Kern der Nation bildeten in
dieser Darstellung alle diejenigen, die sich um Jerusalem und seinen
Tempel scharten und das Vor walten der geistigen Kräfte im Ge-
meinwesen, die Theokratie im weitesten Sinne, förderten. In dieser
didaktischen Beleuchtung erscheint die Geschichte als ein „an-
gewandter Prophetismus“; in ihr gelangen die religiös-ethischen
Lehren der Prophetenschule zu greifbarer Anschaulichkeit. Der
Geschichtsschreiber wird hier sozusagen zu einem Propheten in um-
gekehrtem Sinne: statt die Zukunft vorauszusagen, erklärt er mit
prophetischem Schwung die Vergangenheit und rechtfertigt sie
durch die Unerbittlichkeit des Sittengesetzes. Übrigens stimmt diese
Ideologie mit dem Prophetismus nicht nur in der Theorie überein,
sondern hängt auch tatsächlich mit ihm zusammen: wie bereits
erwähnt, hatten die Propheten schon früher ihre Hand an die
423
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Urkundenbücher gelegt, so daß die Soferim-Redaktion ihnen nur
den letzten Schliff verlieh und vermutlich die darin angewandte
Methode der Theokratisierung der Vergangenheit im Sinne ihrer
Annäherung an die Gegenwart nur noch nachdrücklicher betonte1).
Um diese Zeit machte man den Versuch, auch noch eine neue,
den damaligen Anschauungen angepaßte Geschichte der israelitischen
und judäischen Könige zusammenzustellen. In den zwei Büchern
der „Chronik“ (hebräisch: Dibre ha’jamim“ und griechisch:
„Paralipomena“) wird die Geschichte des Volkes Israel von König
David bis zum babylonischen Exil dargestellt. Dieser Darstellung
sind umfassende genealogische Tabellen der israelitischen Stämme
und der Familiengruppen, besonders der priesterlichen, voran-
geschickt, die teilweise auf Grund der unter den aus Babylonien
nach Judäa heimgekehrten Familien unternommenen Bestandauf-
nahme entstanden sind (Kap. 9). Als Geschichtschreiber ist der
Verfasser der „Bücher der Chronik“ nur von geringer Selbständig-
keit: er beschränkt sich ausschließlich auf die Wiedergabe des
Inhalts der „Königsbücher“ und einiger anderer, uns nicht mehr
erhaltengebliebener Werke und überzieht alles mit dem Firnis des
Theokratismus2). In seiner tendenziösen Darstellung sucht er ge-
*) Eines der vielen Beispiele der doppelten Rezension ist die sagenhafte Rede
Samuels von den Schäden der Königsgewalt (I. Sam. Kap. 8; s. oben, S 9).
Diese Rede wurde, wie es auch sonst in der klassischen rhetorischen Geschichts-
schreibung üblich ist, von dem prophetischen Redaktor als ein Protest gegen den
königlichen Despotismus verfaßt ($ 25), während die Rezension der Soferim sie
zu einer Apotheose der Theokratie umprägte (,,Jahve aber gebot Samuel: nicht
dich haben sie verworfen [indem sie einen König verlangten], sondern mich haben
sie verworfen, daß ich nicht [länger] König über sie sein soll“).
2) Der Verfasser der ,,Bücher der Chronik“ beruft sich auf folgende alte
Bücher, die nicht in den Bestand der Bibel aufgenommen worden sind: „Die Ge-
schichte des Propheten Nathan“, „Die Weissagung Achias von Silo“, „Die Offen-
barung Iddos, des Sehers“ (II. Chron. 9, 29; das letzte Buch ist mit den eben
dort — 12, i5 und i3, 22 — erwähnten Büchern „Geschichte Iddos des Sehers“
und „Midrasch des Propheten Iddo“ identisch), „Die Geschichte des Propheten
Semaja“ (12, i5), „Die Geschichte Jehus, des Sohnes Chananis“ (20, 34), „Der
Midrasch des Buches der Könige“ (24, 27), „Die von dem Propheten Jesaja ben
Amoz beschriebene Geschichte Usijahus“ (26, 23). Das von dem Verfasser zitierte
„Buch der Könige von Juda und Israel“ hängt anscheinend irgendwie mit unseren
„Königsbüchern“ zusammen, die die Hauptquelle für die „Bücher der Chronik“
bildeten. Es ist aber auch möglich, daß darunter die uns nicht erhaltengebliebene
alte „Chronik der Könige von Israel und Juda“ gemeint ist, auf die sich die
ersten Verfasser der „Königsbücher“ häufig berufen und die dem Verfasser der
„Bücher der Chronik“ noch Vorgelegen haben mögen.
4a4
§84. Die geschichtlichen und prophetischen Bücher; der Kern des Kanons
flissentlich die Vorzüge Judas Israel gegenüber hervorzuheben, ver-
herrlicht die legitime Dynastie Davids und brandmarkt die „ver-
brecherischen“ Könige des Zehnstämme-Reiches, rückt stets die
Tempelpriesterschaft und die ganze komplizierte Tempeltechnik in
den Vordergrund, stellt auch den König David gleichsam als einen
Hohepriester hin und sucht überhaupt die Vergangenheit in den
Ideenbereich seiner zeitgenössischen Epoche hineinzuzwängen. Das
sagenhafte und didaktische Element erdrückt hier völlig die ge-
schichtliche Wirklichkeit. Die „Bücher der Chronik“ stellen so
ihrer ganzen Art nach gleichsam nur einen didaktischen Kommentar
oder einen „Midrasch“ zu den „Königsbüchern“ dar. Von geschicht-
lichem Wert für die in ihnen zur Darstellung gebrachte alte Zeit
sind darin nur die aus alten, uns nicht mehr erhaltengebliebenen
Quellen entnommenen Berichte, aber auch diese sind nur schwer
aus den eigenen Zutaten des Verfassers herauszulösen. Aus derselben
Zeit wie die „Bücher der Chronik“, vielleicht auch von dem gleichen
Verfasser, stammen die der chronologischen Reihenfolge nach letzten
biblischen Chroniken, die Bücher „Esra“ und „Nehemia“, die offi-
zielle Urkunden (in aramäischer Sprache) und Fragmente aus den
Memoiren der beiden Helden der Restauration enthalten. Alle diese
drei Werke wurden, nach manchen in ihnen vorkommenden Wen-
dungen zu urteilen, im IV. Jahrhundert, gegen Schluß der Zeit der
persischen Herrschaft, abgefaßt.
Darüber hinaus griffen die Soferim auch in das prophetische
Schrifttum ordnend ein. Ihre Aufgabe bestand hier vornehmlich
darin, die aufgezeichneten prophetischen Reden nach den Ver-
fassern zusammenzufassen und in den einzelnen Büchern unterzu-
bringen Q. War die Persönlichkeit und das Zeitalter der Wirksam-
keit des Verfassers nicht genügend bekannt, so wurden seine Reden
in das Buch eines anderen bekannten Propheten miteinbezogen (so
die Schlußteile der Bücher Jesaja und Sacharja und manche andere
Kapitel derselben Bücher). In den meisten Fällen wird die Zeit der
Wirksamkeit des Propheten gleich im ersten Vers seines Werkes
vermerkt (Arnos, Hosea, Jesaja I, Micha, Zephanja, Jeremia, Eze-
!) Allerdings gab es um diese Zeit auch schon abgeschlossene Redesammlungen,
die noch zu Lebzeiten des einen oder des anderen Propheten oder bald nach
dessen Tode in ein Buch zusammengefaßt wurden, wie z. B. das Buch der Reden
Jeremias, das sein Jünger Baruch niedergeschrieben hatte (Jerem. 36, 4, 3a; 45, i).
4a5
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
chiel, Haggai, Sacharja I); häufig fehlt aber ein derartiger Hin-
weis, so daß wir bei der Beslimmung des Zeitalters mancher Pro-
pheten uns entweder durch den aufschlußreichen Inhalt ihrer Reden
(Nahum, Habakuk, Jesaja II, Maleachi) oder aber, wenn dieser In-
halt nicht das Kolorit einer bestimmten Epoche trägt (Joel, Obadja,
Jona, Sacharja Kap. 9—i4, viele „fremdartige“ Fragmente in den
Büchern bekannter Propheten), durch vielfach bekräftigte Ver-
mutungen leiten lassen müssen. Die Werke der Propheten der
beiden ersten Gruppen wurden in den vorhergehenden Abschnitten
im Zusammenhang mit den verschiedenen politischen Verhältnissen,
in denen die Wirksamkeit der Propheten zur Entfaltung kam,
charakterisiert; nun erübrigt noch, den geschichtlichen Wirkungs-
kreis für die Propheten der dritten Gruppe festzustellen, deren Zeit-
alter noch immer ein ungelöstes Problem der Bibelwissenschaft
bildet.
Das Buch des Propheten Joel, das im biblischen Kanon zwischen
den Büchern Hosea und Arnos eingefügt ist, ist seinem glänzenden
Stil nach diesen Werken aus der Blütezeit des Prophetismus tat-
sächlich verwandt, jedoch weist manches auf eine viel spätere
Entstehungszeit hin. Es ist hier ausschließlich von Juda und
Jerusalem die Rede, während das Reich Israel mit keinem
Worte erwähnt wird, woraus allein schon zu schließen ist, daß es
aus der Zeit nach dem Falle Samariens stammt. Überdies spricht
der Prophet nie von einem König, sondern wendet sich an die
„Ältesten“ oder Priester (1, 2, i3, i4), wie überhaupt die Priester
und „Altardiener“ (1, 9, i3; 2, 17) im Mittelpunkte seines Inter-
esses stehen, was ein untrügliches Kennzeichen für diejenige Epoche
bildet, in der es keine Könige mehr in Judäa gab und das Volk
von den Ältesten und Priestern geführt wurde, d. i. die Epoche der
persischen Herrschaft1). Dies wird auch noch dadurch bestätigt,
•*■) Dieser Umstand veranlaßte die älteren Forscher (Ewald u. a.), das Buch
Joel in den Beginn der Regierungszeit des Joas in Judäa (um 83o) zu verlegen,,
als infolge der Minderjährigkeit des Königs der Priester Jojada und der Tempel-
klerus das Land verwalteten. Auf diese Weise müßte Joel der Vorgänger sogar
des Amos sein, des ersten Propheten, dessen Reden niedergeschrieben worden sind,
was jedoch der Tatsache widerspricht, daß die „Ältesten und Priester“ bei Joel
nicht als vorübergehende Institution auftreten, sondern als das hervorstechendste
Merkmal einer ganzen Epoche, eben der Zeit der persischen Herrschaft, in die
daher das Buch auch zu verlegen ist.
426
§ 84. Die geschichtlichen und prophetischen Bücher; der Kern des Kanons
daß Joel von der „Zerstreuung Israels unter den Völkern“ und von
der „Wiederkehr der Gefangenen Judas und Jerusalems“ sowie auch
von den Phöniziern spricht, die die Söhne Judas und Jerusalems
den „Söhnen der Jonier“ als Sklaven verkaufen (4, i, 2, 6), was
auf die Zeit nach dem babylonischen Exil hinweist, als die Griechen
Kleinasiens und der jonischen Inseln unter die Gewalt der persischen
Monarchie geraten waren und so mit Palästina in Berührung kamen.
Dies alles veranlaßt uns, die prophetische Wirksamkeit Joels in das
erste Jahrhundert der persischen Herrschaft zu verlegen und ihm
zwischen der ersten und der zweiten Restauration, vor dem „letzten
Propheten“ Maleachi, einen Platz zuzuweisen. Dieser Epoche der
Verarmung und des Mißstandes, als das von der Verheerung noch
nicht wiederhergestellte Judäa sowohl unter Hungersnot als auch
unter innerer Zerrüttung, unter elementaren und sozialen Kata-
strophen zu leiden hatte und die Reformatoren aus der reichen
babylonisch-persischen Diaspora sehnlichst erwartete, dieser Über-
gangszeit eben entspricht die poetische Darstellung der Heu-
schreckenplage, die das Land einer furchtbaren Hungersnot preis-
gibt, die die Priester „zwischen der Vorhalle und dem Altar“ weh-
klagen macht und in einen Aufruf zum „Fasten und Weinen im
Hause Jahves“ ausklingt. Noch mehr entspricht dieser Zeit die
Prophezeiung Joels (Kap. 4) von dem Jüngsten Gerichte Gottes
über die Völker, die die Juden in die ganze Welt verstreut haben.
Das Gericht soll im Tale Josafat (Josafat heißt soviel wie: Gott
richtet) in der Nähe Jerusalems stattfinden und wird in folgenden
Weissagungen vor Augen geführt:
„Denn fürwahr in jenen Tagen und in jener Zeit, wo ich das
Geschick Judas und Jerusalems wandeln werde, will ich alle Na-
tionen versammeln und sie in das Tal Josaphat herunterführen, um
dort mit ihnen ins Gericht zu gehen wegen meines Volks und Erb-
teils Israel, weil sie es unter den Heiden versprengt und mein Land
zerstückt haben; weil sie die Anhörigen meines Volks verlosten, den
Knaben für eine Hure hingaben und das Mädchen um Wein ver-
handelten und zechten. Und was auch habt ihr an mir zu suchen,
Tyrus und Sidon und all ihr Bezirke Philistäas! . . . Habt ihr doch
mein Silber und Gold geraubt und meine schönsten Kleinode in
eure Paläste gebracht und Judäer und Jerusalemer an die Jonier
(bne ha’jewanim) verkauft, um sie weit von ihrer Heimat zu ent-
fernen. Fürwahr, ich werde sie auf stören von dem Ort, wohin ihr
sie verkauftet, und werde euer Tun auf euer Haupt zurückfallen
427
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
lassen. Ich verkaufe eure Söhne und Töchter den Judäern, die
werden sie an eine weit entlegene Nation verkaufen, denn Jahve hat
es geredet!“
Das Weltgericht soll mit dem Triumph Zions und des Geistes,
der ihm entströmt, enden. „Und hernach einmal — so spricht der
Prophet im Namen Gottes — werde ich meinen Geist ausgießen
über jedermann: da werden eure Söhne und Töchter prophezeien,
eure Greise werden Träume haben und eure Jünglinge werden Ge-
sichte schauen. Und auch über die Sklaven und Sklavinnen werde
ich in jenen Tagen meinen Geist ausgießen“ (Kap. 3). Alles, was
am Tage Jahves, am Tage des Weltgerichts, errettet werden wird,
wird auf dem Berge Zion, in Jerusalem eine Zufluchtsstätte finden.
„Juda aber wird immerdar bewohnt sein und Jerusalem von Ge-
schlecht zu Geschlecht“ — so beschließt Joel seine Prophezeiung.
Diese Eschatologie entsprach dem Geiste jener Epoche, als die
Visionen Jeheskels und Sacharjas noch frisch in Erinnerung waren.
Das kleine, nur aus einem Kapitel bestehende Buch des Pro-
pheten Obadja schließt sich jenem Teil der Prophezeiung Joels
an, wo von dem Gericht über die Bedrücker Judas die Rede ist.
So prophezeit Obadja den Untergang Edoms, weil es „sich geweidet
hat an seinem Bruder Jakob am Tage seines Mißgeschicks und sich
gefreut hat über die Judäer am Tage ihres Untergangs, als Fremde
in die Städte (Judas) einbrachen und über Jerusalem das Los
warfen“. Dies bezieht sich offenbar auf die Beteiligung der
Edomiter an der Verheerung Judas nach der Invasion Nebu-
kadrezzars. Die Wucht der Entrüstung, von der diese Prophezeiung
durchdrungen ist, könnte zu der Annahme verleiten, daß sie unter
dem unmittelbaren Eindruck der Verwüstung der Heimat durch die
Nachbarvölkerschaften, d. h. in den ersten Jahren des babylonischen
Exils, entstanden sei, wahrscheinlicher aber ist es, daß sie aus den
ersten Jahren der Restauration stammt, als die aus Babylonien
heimgekehrten Exulanten ihre Grundstücke von den Edomitern
besetzt vorfanden1). „Die Geretteten* 2) werden vom Berge Zion
*) Bemerkenswert ist es, daß eine Reihe von Versen in der Prophezeiung
Obadjas fast wörtlich die Reden des Propheten Jeremia über Edom (vgl. Buch
Jerem. 49, 9 und i4—16 mit Buch Obadja 1—5) wiederholen.
2) Im massoretischen Text heißt es die ,,Erretter“ (moschiim), allein dem
Sinne nach scheint die Lesart der Septuaginta und anderer alter Übersetzungen,
4^8
§ 8U, Die geschichtlichen und prophetischen Bücher; der Kern des Kanons
hinaufziehen, um Richter zu sein auf dem Gebirge Esaus (über
Edom)“ — das ist es, was der entrüstete Prophet von den heim-
gekehrten Exulanten erwartet. Es kommt hier derselbe Gedanke
zum Ausdruck, der dem Hymnus der „Weinenden an den Strömen
Babels’4 zugrunde liegt: „Gedenke, Jahve, den Söhnen Edoms den
Tag von Jerusalem, da sie sprachen: Legt bloß, legt bloß bis in
ihren Grund hinein 1“ (§ 66).
Viel schwieriger ist es zu bestimmen, in welche Zeit die Wirk-
samkeit jenes Propheten fällt, dessen Reden in den letzten sechs
Kapiteln des Buches Sacharja erhaltengeblieben sind (Kap. 9—i4)*
Daß sie nicht dem Sacharja aus der Zeit der Tempelrestaurierung,
dem Zeit- und Gesinnungsgenossen Haggais, zugeschrieben werden
können, erhellt aus dem ganzen Inhalt der Reden, die weder den
geschichtlichen Umständen jener Zeit noch dem Stil des Autors der
„Visionen“ entsprechen. Die Tatsache, daß in den Reden Sacharjas
des Zweiten (wie man diesen unbekannten Propheten zu be-
zeichnen pflegt) Ephraims und Judas sowie des Kampfes der
„Söhne Zions mit den Söhnen der Jonier“ (9, 10, i3; 10, 6, 7;
11, i4) Erwähnung getan wird, hat zu den verschiedenartigsten
Vermutungen Anlaß gegeben1). Am wahrscheinlichsten erscheint
die Annahme, daß in diesen sechs Kapiteln Fragmente von Prophe-
zeiungen aus verschiedenen Zeitperioden, von der Epoche des Königs
Josia an, als Judäa einen Teil des Landgebietes des ehemaligen Sa-
marien besetzt hatte, bis zum Zeitalter der zweiten Restauration,
vereinigt sind. Aus dem letzten mag der Schlußteil des Buches
stammen, in dem die alljährliche Wallfahrt der „Völker“ nach
Jerusalem zum Laubhüttenfest, dessen Bedeutsamkeit dreifach be-
tont ist, erwähnt wird, d. h. also gerade zu jenem Feste (i4,
16—19), das nach der Veröffentlichung der Thora Verfassung unter
Esra und Nehemia besonders feierlich begangen wurde (Nehem. 8,
i3—18; oben, § 83). Die Mehrzahl der Fragmente Sacharjas II
die dieses Wort als „noschiim“, die Erretteten, d. h. aus der Gefangenschaft
Heimgekehrten, auslegen, viel eher begründet zu sein.
!) Während Reuß und seine Schule die Kapitel Sacharjas II teilweise in die
Zeit des Propheten Hosea (VIII. Jahrh.) verlegen, erblicken Stade, Cornill und
andere moderne Forscher in ihnen einen Widerhall der Diadochenkämpfe
und der ersten Zeit der griechischen Herrschaft in Judäa (IV.—III. Jahrh.),
während noch andere sie in die Epoche der letzten Seleukiden und der ersten
Hasmonäer verlegen.
429
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
zeichnet sich übrigens durch einen ungewöhnlich schönen und
bilderreichen Stil aus, und nur der stellenweise verstümmelte Text
verdunkelt hie und da den Sinn dieser Prophezeiungen.
Unter den zwölf Büchern der sogenannten „Kleinen Propheten“
(Tre-Assar) zeichnet sich ein Buch, dasjenige des Propheten Jona,
durch ein ganz eigenartiges Gepräge aus. Es gehört vor allem
seinem Inhalte nach nicht zu den prophetischen Büchern, denn es
besteht nicht aus Reden, sondern aus einer didaktischen Erzählung,
und allein die Tatsache, daß der Held der Erzählung den Namen
des Propheten aus der Zeit Jerobeams II., Jona ben Amitai, dessen
Reden uns nicht erhaltengeblieben sind, trägt, gab Grund, dieses
Buch in das prophetische Schrifttum miteinzuschließen. Ferner
steht es als eine novellistische Parabel, nicht als Nachklang poli-
tischer Ereignisse, gleichsam außerhalb von Zeit und Raum, und
daher sind bei der Bestimmung der Epoche, der es angehört, weit-
gehende Schwankungen unvermeidlich. Endlich zeichnet sich das
Buch Jona dadurch aus, daß es in keinerlei Beziehung zum israeli-
tischen Volke und zum nationalen Problem überhaupt steht: es
kommt darin eine universale sittliche Idee ohne jede Beimischung
eines nationalen Elementes zum Ausdruck. Jona, der auf Gottes
Befehl nach der assyrischen Hauptstadt Ninive gehen und ihr für
die bösen Taten ihrer Einwohner den Untergang prophezeien soll,
folgt dem Rufe Gottes nicht, sondern „flieht vor Jahve“ auf einem
Schiff nach Tarsis. Unterwegs erhebt sich ein Sturm auf dem
Meere, so daß dem Schiffe große Gefahr droht; der ehrliche Jona
erklärt seinen Reisegenossen, daß er an dem Unglück schuld habe,
da Gott offenbar über seinen Ungehorsam erzürnt sei. Um sich zu
retten, werfen ihn seine Gefährten mit seiner Zustimmung ins
Wasser, worauf das Meer sogleich still wird. Jona aber wird von
einem großen Fisch verschlungen, in dessen Leibe er drei Tage
verbleibt, bis ihn der Fisch lebend ans Ufer speit. Nun ge-
horcht er dem abermaligen Rufe Jahves, geht nach Ninive und
verkündet den Einwohnern der Stadt, daß sie nach vierzig Tagen
zerstört werden würde. Da tun die Einwohner Buße, entsagen
ihrem sündhaften Lebenswandel, fasten und flehen Gott um Rettung
an, und Gott verschont die prächtige Stadt. Nun aber murrt Jona
gegen Gott, der sich so leicht eines anderen besonnen hat, erhält
aber bald eine symbolische Antwort auf seine aufrührerischen
43o
§ 84. Die geschichtlichen und prophetischen Bücher; der Kern des Kanons
Reden. Der Strauch, unter dem Jona bei seinem Zelte außerhalb
der Stadt sitzt, verdorrt plötzlich, so daß die heißen Sonnenstrahlen
auf den Propheten niederbrennen. Von neuem wird Jona zornig
und wieder vernimmt er die Stimme Gottes: „Dich jammert des
Strauches, obschon du dich nicht um ihn gemüht noch ihn groß-
gezogen hast, und mich sollte es nicht jammern Ninives, der großen
Stadt, in der sich mehr als 120000 Menschen befinden (und
kleine Kinder), die nicht zwischen rechts und links zu unterscheiden
wissen, und viele Tiere?“ Die Moral der Erzählung ist durchaus
klar: die sittliche Besserung rettet den Menschen von den verderb-
lichen Folgen böser Taten, da Gott nur ungern die von ihm geliebte
Kreatur dem Verderben und dem Leid preisgibt; nicht allein das
menschliche Leben, ob es nun das eines Judäers oder Assyrers ist,
ist ihm teuer, sondern auch dasjenige des Tieres; die göttliche Liebe
und Güte überwinden die Strenge der göttlichen Gerechtigkeit. Hier
gelangt der ethische Universalismus der Propheten zu seinem Höhe-
punkt, und von diesem Standpunkte aus gesehen hatten die alten
Schriftgelehrten allen Grund, das Buch Jona, als eine Apotheose
des sittlichen Prinzips im Prophetismus, in den Kanon des pro-
phetischen Schrifttums aufzunehmen. Schon die Tatsache der Ein-
fügung des Buches in den prophetischen Teil der Bibel zeugt davon,
daß es jedenfalls vor dem endgültigen Abschluß dieses Bibelteiles,
d. i. gegen Ende der Zeitperiode der persischen Herrschaft, verfaßt
worden ist.
Somit waren bis zum IV. Jahrhundert vor der christlichen Ära
die drei ersten Teile der Bibel bereits zusammengefaßt und ge-
ordnet. Der erste Teil setzte sich aus den fünf Büchern der Thora
(dem Gesetz) zusammen, denen vielleicht in alter Zeit auch noch
ein sechstes Buch, das Buch „Josua“ aus dem geschichtlichen Teil,
beigefügt wurde (Hexateuch). Der zweite Teil enthielt die Ge-
schichtsbücher und der dritte die prophetischen Bücher. Diese drei
Teile bildeten den Kern des künftigen „Kanon“, den anerkannten
Kodex der Heiligen Schrift. Wie man aus den Hinweisen auf
andere Quellen in den erhalten gebliebenen Büchern ersehen kann,
sind viele Werke des alten Schrifttums aus dem zweiten und dritten
Teil abhanden gekommen und ganz verschollen. Manche von ihnen
mögen aus dem Grunde verlorengegangen sein, weil sie als mehr
weltlichen denn geistlichen Charakters in die „Heilige Schrift“
43i
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
nicht aufgenommen und daher nicht so sorgfältig aufbewahrt
wurden. Einige von diesen freieren literarischen Werken fanden
erst in späterer Zeit, bei der Kanonisierung des letzten, unter der
Bezeichnung „Schriften“ (Ketubim, Hagiographen) bekannten Teiles
der Bibel Aufnahme in die Heilige Schrift. Dieser Teil, in den
später die Psalmen, die Sprüche sowie religionsphilosophische und
poetische Bücher miteingeschlossen wurden, war um diese Zeit
noch offen zur Aufnahme neuer literarischer Schöpfungen, durch
die er im Laufe der folgenden vier Jahrhunderte vervollständigt
werden sollte. Als abgeschlossen galt dagegen in der persischen
Epoche nur dasjenige, was in den ersten Teilen der Bibel unter
der Bezeichnung „Gesetz und Propheten“ erhaltengeblieben ist und
was zu jener Zeit eine kanonisierte, offiziell anerkannte Auswahl
aus dem Gesamtwerke des israelitischen Schaffens darstellte. Das
Verdienst der Soferim besteht darin, daß sie diese erhalten-
gebliebenen geistigen Reichtümer, die späterhin zur Quelle der
Belehrung für die gesamte Menschheit werden sollten, in ein
festes, unantastbares Gut verwandelten. Für die jüdische Nation
selbst aber hatte die Zusammenfassung der Heiligen Schrift in
ihrem Hauptteile unermeßliche Folgen. Von nun ab hört der
Judaismus für viele auf, ein Gegenstand blinden Glaubens zu
sein, er wird zu einem Gegenstände der Erkenntnis, der Forschung.
Neben das religiöse, fromme Empfinden tritt jetzt die religiöse
Wissenschaft. Nun ist es nicht mehr der Priester, der den Geist
des Volkes beherrscht, sondern die Schrift, die alles zugleich um-
faßt: sowohl Glaubenslehre wie Kultus, soziale Gesetzgebung wie
auch ein erhabenes System der Ethik, Hygiene und Philosophie.
Der Judaismus schläfert das Denken nicht ein, sondern stachelt es
zu neuer Arbeit an. Hieraus eben entspringt jene außergewöhn-
liche Stählung des Geistes, jene alles überwindende geistige Energie,
die später im Lauf der Jahrhunderte zu den hervorstechendsten
Charakterzügen der jüdischen Nation werden sollte.
§ 85. Religiöse Lyrik. Die Psalmen
Die Tätigkeit der gebildeten Juden jener Epoche beschränkte
sich nicht allein auf die Sammlung und Erforschung ihres alten
Schrifttums. Das Volk, das die Ergebnisse des früheren Schaffens
432
§ 85. Religiöse Lyrik. Die Psalmen
treu bewahrte und die von den vorhergehenden Generationen auf-
gespeicherten Reichtümer verwendete und verbreitete, erzeugte zu-
gleich auch neue geistige Werte. Der jüdische Genius fuhr fort,
seinen Schaffensdrang zu betätigen, wenn auch in anderer Form als
ehedem. An die Stelle des Propheten traten der Gelehrte, der Dichter
und der Weise. Der Typus des Gelehrten oder des Gesetzeskundigen
fällt mit dem des bereits vielfach erwähnten Sofer zusammen,
Dichtkunst und Philosophie bleiben, wie die ganze geistige Kultur
des Altertums überhaupt, auch jetzt mit der religiösen Welt-
anschauung aufs engste verbunden: die tiefsten seelischen Erleb-
nisse finden ihren Ausdruck in der religiösen Lyrik und die er-
habensten Weltprobleme in der Religionsphilosophie.
Die Form des religiösen Hymnus oder Psalms, wie sie in der
großen Sammlung der biblischen Psalmen erhaltengeblieben ist, war
nicht ausschließlich dem hebräischen Volke eigen. Auch die alten
Babylonier haben uns viele Hymnen hinterlassen, die den Göttern
Schamasch, Sin und Marduk galten und die ihrer äußeren Form
nach an die biblischen Psalmen erinnern, sich aber inhaltlich so
sehr von ihnen unterscheiden wie der Polytheismus vom Mono-
theismus. Um ein klares Bild von dieser äußeren Ähnlichkeit und
inneren Verschiedenheit der babylonischen und hebräischen Hymnen
zu geben, genügen einige wenige Beispiele:
Babylonische Hymnen
Herr, Herrscher der Götter, der
im Himmel und auf Erden allein er-
haben ist ... Ertönt dein Wort im
Himmel, so werfen sich die Igigi
(Himmelsgötter) auf ihr Antlitz, ertönt
dein Wort auf Erden, so küssen die
Anunaki (die irdischen Götter) den
Boden. Zieht dein Wort oben wie ein
Wetter dahin, macht es Weide und
Tränke reichlich, erschallt dein Wort
auf Erden, wird grünes Kraut erzeugt.
Dein Wort läßt Wahrheit und Gerech-
tigkeit entstehen . . . Dein Wort ist
der ferne Himmel, die verdeckte Erde,
die niemand schaut; dein Wort, wer
kennt es, wer kommt ihm gleich? . . .
(Aus dem Hymnus an den Mondgott
Sin.)
Biblische Psalmen
Wer ist in den Wolken Jahve
gleich, Jahve ähnlich unter den Götter-
wesen? Ein Gott schrecklich im Kreise
der Heiligen, groß ist er und. furcht-
bar über seine ganze Umgebung.
Jahve, Gott Zebaoth, wer ist wie du?
Stark ist Jah und deine Treue um dich
her. Du bist Herr über des Meeres
Ungestüm, wenn seine Wellen sich
heben, du beschwichtigst sie . . . Dein
ist Himmel, ja dein die Erde, der Erd-
kreis und was ihn füllt, du hast alles
gegründet. Nord und Süd, du hast sie
geschaffen, Tabor und Hermon jubeln
über deinen Namen. Du hast helden-
starken Arm, gewaltig deine Hand,
deine Rechte erhaben. Recht und
Gerechtigkeit sind die Stütze deines
28 Dubnov, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
433
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Mächtiger Marduk, dessen Zorn
Sintflut, dessen Barmherzigkeit gleich
der eines Vaters ist. Dich anrufen und
nicht erhört werden — das ist es, was
mich bedrängt, schreien und keine Ant-
wort vernehmen — das macht mich
verzweifeln. Das lähmte meine Kraft,
beugte meinen Rücken wie den eines
Greises . . .
Wie lange noch wird mein Herz
Yon Schmerzen gequält werden, das
voller Tränen und Seufzer ist? Wie
lange noch werden in meinem be-
drängten Hause Lieder der Klage und
des Jammers erklingen? Ich klage wie
eine Taube bei Nacht und bei Tag.
Von Ach und Weh ist gequält mein
Gemüt. Was habe ich getan, mein
Gott und meine Göttin? . . .
Laß leben deinen Knecht, und
deine Größe will ich verkünden und
voll Lobpreis dir huldigen . . . Gott,
blicke mich an und erhöre mein
Flehen . . . Dein ergrimmtes Herz
möge sich beruhigen. Löse meine
Fesseln, laß mich frei auf atmen . . .
Wer kennt den Sinn der Götter
im Himmel? Wie sollten auch er-
kennen den Weg Gottes die blöden
Menschen? Wer abends noch lebte,
war morgens tot. Eilends geriet er in
Finsternis, flugs war er zerschlagen.
In diesem Augenblick spielt er noch
fröhlich, im Nu schon jammert er wie
ein Klagender. (Aus den Klageliedern.)
Throns, Gnade und Treue stehen vor
deinem Antlitz. (Psalm 89, 7—15.)
Mein Gott, mein Gott, warum hast
du mich verlassen, bist fern geblieben
meiner Hilfe, den Worten meines
Schreiens! Mein Gott, ich rufe des
Tags, und du antwortest nicht . . .
Ein Wurm bin ich und nicht ein
Mensch, der Leute Spott und vom Volk
verachtet . . . Vertrocknet wie eine
Scherbe ist meine Kraft . . . (Psalm
22, 2—16.)
Wie lange, Jahve, vergissest du
immerzu? Wie lange verbirgst du dein
Angesicht vor mir? Wie lange muß
ich Schmerzen in der Seele tragen,
Kummer im Herzen Tag für Tag?
(Psalm i3) . . .
Umschlossen hatten mich Todes-
stricke und Netze der Unterwelt mich
umfangen; auf Drangsal und Kummer
stieß ich, aber den Namen Jahves rief
ich an: ,,Ach, Jahve, errette meine
Seele . . . Ach, Jahve, ich bin ja doch
dein Knecht, der Sohn deiner Magd.
Dir will ich Dankopfer opfern und den
Namen Jahves anrufen. Meine Gelübde
will ich Jahve erstatten angesichts seines
gesamten Volkes, in den Vorhöfen des
Hauses Jahves, in deiner Mitte, Jeru-
salem.“ (Psalm 116, 3—4, 16—19.)
Herr, du bist unsere Zuflucht für
und für . . . Du lässest den Menschen
zum Staub zurückkehren und sprichst:
Kehret zurück, Menschenkinder. Denn
tausend Jahre sind in deinen Augen
wie der Tag von gestern und wie eine
Nachtwache . . . Sie (die Menschen)
sind wie das Gras: am Morgen blüht
es auf, am Abend welkt es und ver-
dorrt. (Psalm 90, 1, 3—6.)
Zu den babylonischen Tempelpsalmen gehören Opferdienst-
gebete, Dankpsalmen, Beschwörungen gegen böse Zauberkünste
u. dgl., die an die Götter Schamasch, Marduk, Sin, an die Göttin
434
§ 85. Religiöse Lyrik. Die Psalmen
Istar u. a. gerichtet sind. Die auffallende Ähnlichkeit in der Aus-
drucksweise der babylonischen und der biblischen Bußhymnen oder
Läuterungsgebete darf den grundlegenden Unterschied nicht ver-
gessen machen, der darin besteht, daß die babylonischen Hymnen
die Stimmungen eines exklusiven Priesterkreises zum Ausdruck
bringen und anscheinend im Tempeldienst üblich gewordene For-
meln darstellen, während in den biblischen Psalmen zweifellos die
Stimmung des Volkes in allen seinen Schichten sowie die religiöse
Sehnsucht der Einzelpersönlichkeit, die manchmal mit dem Dogma
der offiziellen Religion nichts gemein hatte, ihren Ausdruck fanden.
Immerhin kann aus allen diesen Parallelen der unanfechtbare Schluß
gezogen werden, daß die ursprüngliche Grundlage des Psalms ein
Erzeugnis der religiösen Kultur bildete, die dem ganzen alten Orient
eigen war.
Diese Art religiöser Lyrik kam im israelitischen Volke sehr früh
zur Entwicklung, und die Sage, die einen bedeutenden Teil der
Psalmen dem König David in den Mund legt, hat insofern recht,
als es schon in der Königszeit dem Tempelkultus und den ver-
schiedenen Gemeinschaftsfeierlichkeiten angepaßte Hymnen gab.
Das will aber nicht sagen, daß Psalmen, die mit dem Namen Davids
oder eines der Obersten der Levitenchöre (Assaph, Jeduthun u. a.)
überschrieben sind, auch tatsächlich aus der Königszeit stammen.
In der Königsperiode kann mit großer Wahrscheinlichkeit nur
diejenige Psalmengruppe verlegt werden, in der Zeichen jener Zeit
zu finden sind, wie z. B. die Erwähnung eines der alten Könige*
oder der damals geführten Kriege im Psalmentext (Ps. 2, 21, 45,
47, 48, 60, 61, 63 u. a.). Eine ganze Reihe von Psalmen weist
Spuren der Epoche des Unterganges Judas und des babylonischen
Exils auf: so der berühmte Hymnus „An den Strömen Babels“
(Ps. 137; oben, § 66) und einige andere mit weniger klaren An-
zeichen der Epoche (Ps. 44* 83, 891)). Der größte Teil der in
die „Psalmen“ auf genommenen Hymnen wurde jedoch erst in der
Zeitperiode der persischen und der darauffolgenden griechischen
*) Der Psalm 89 bezieht sich nach Meinung einiger Forscher auf die Nieder-
lage des Königs Josia bei Megiddo. Der zornsprühende Psalm 79, in dem von der
Entweihung des Jerusalemer Tempels durch Andersgläubige die Rede ist, steht
dagegen der späteren Epoche des Antiochus Epiphanes näher als der Nebu-
kadrezzars.
28*
435
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Herrschaft verfaßt; ein bedeutender Teil besteht aus Tempelhymnen,
die von Levitenchören vorgetragen wurden; jedoch die besten Werke
dieser religiösen Poesie sind auf dem Boden, der individuellen Fröm-
migkeit gewachsen und hängen aufs engste mit jener bedeutsamen
Stellung zusammen, die in dieser Zeitperiode das „Bethaus“, die
Synagoge, als eine wichtige Ergänzung des Tempels und des Opfer-
kultes erlangte. Die Ergüsse der gottvertrauenden Seele wurden zu
einem Herzensbedürfnis in diesen „Versammlungen der Frommen“,
die weniger äußerlicher Ritus als die innere Stimmung miteinander
verband.
Die Psalmenpoesie wurde somit aus zwei Quellen gespeist, einer
gesamtnationalen und einer rein persönlichen. Der Ausdruck für
Leid und Freude der Nation und die Ergüsse der gottergebenen,
sich sehnenden, nach Wahrheit lechzenden Persönlichkeit lösen sich
gegenseitig ab. Für die Geschichte dieser Epoche kommt freilich
den nationalen Hymnen größere Bedeutung zu. In der friedlichen
jüdischen Theokratie, in der das göttliche Gesetz vorwaltete, be-
deutete die Lobpreisung Gottes zugleich die Verherrlichung der
höchsten Gewalt, die das Volksleben lenkte. Nicht der König, nicht
der Feldherr, nicht der Held, Gott allein ist der Führer Israels;
dine Nation, die ihre Lebenskraft von diesem geistigen Prinzip her-
leitete, mußte sich als unzerstörbar betrachten. Der hier folgende
Psalm ist ein Beispiel für die nationale Lobpreisung der Theokratie:
Gott ist uns Zuflucht und Macht,
als Hilfe in Nöten stark erprobt.
Darum fürchten wir uns nicht, ob auch die Erde schwankt
und Berge tief im Meere wanken.
Laßt seine Wasser brausen, laßt sie branden,
von seinem Schwall die Berge beben I ...
Ein Strom von Quellen erfreut die Gottesstadt,
die der Höchste zu seiner Wohnstatt sich geweiht.
Gott ist in ihrer Mitte, nicht kann sie wanken . . .
Es tobten Völker, wankten Königreiche:
da fuhr er donnernd drein, daß es auf Erden bebte!
Jahve Zebaoth ist mit uns,
eine feste Burg ist Jakobs Gott.
(Psalm 46» 2—8.)
In diesem nationalen Hymnus spiegelt sich die tiefe Über-
zeugung des Juden wider, daß seine friedliche theokratische Re-
publik unter der unmittelbaren Verwaltung Gottes steht, der sie
436
§ 85. Religiöse Lyrik. Die Psalmen
mitten unter den untergehenden Reichen und Völkern aufrecht-
erhalten wird. Dem Mitglied einer solchen Republik tut nicht
kriegerischer, sondern geistiger Heldenmut not, und seine Waffen
sollen Waffen des Glaubens und des Geistes sein:
Jahve ist mein Licht und mein Heil:
Jahve ist meines Lebens Zuflucht:
Wenn sich mir Übeltäter nahen,
Sie, meine Widersacher und Feinde mir,
Wenn ein Heerlager sich wider niich
lagert,
Wenn Krieg sich wider mich erhebt,
Eines erbitte ich von Jahve,
Daß ich bleiben dürfe im Hause Jahves
Zu schauen die Lieblichkeit Jahves
Denn er birgt mich in seiner Hütte
Er schirmt mich im Schirm seines
Zeltes,
vor wem sollt’ ich mich fürchten?
vor wem sollte mir bangen?
mein Fleisch zu verzehren,
sie straucheln und fallen,
nicht fürchtet sich mein Herz;
auch dabei bin ich voll Vertrauens,
danach verlangt mich,
all mein Leben lang,
und meine Lust an seinem Tempel zu
sehen.
am Tage des Unheils,
hebt mich auf einen Fels.
(Psalm 27, i;—5.)
Die geistige Vollkommenheit wird durch religiöse Kontempla-^
tion, durch Vertiefung in das Wort Gottes erreicht^ Die „Schrift-
treue“ jener Zeit fand ihren Widerhall in den folgenden Versen:
Das Gesetz Jahves ist ohne Fehl,
Das Zeugnis Jahves ist zuverlässig,
Die Verordnungen Jahves sind gerade,
Das Gebot Jahves ist lauter,
erquickend die Seele;
weisemachend den Einfältigen,
erfreuend das Herz,
erleuchtend die Augen.
(Psalm 19, 8—9.)
Der Hymnus des triumphierenden Judaismus, der den heid-
nischen Religionen der alten Welt gegenübergestellt wird, erklingt
in dem folgenden Psalm: „Warum sollen die Heiden sagen: Wo
ist doch ihr Gott (der in sichtbarer Gestalt Undarstellbare)? Ist
doch unser Gott im Himmel; alles, wozu er Lust hat, tut er. Ihre
Götzen sind Silber und Gold, ein Machwerk von Menschenhänden,
haben einen Mund und können nicht reden, haben Augen und
können nicht sehen, haben Ohren und können nicht hören, haben
eine Nase und können nicht riechen. Ihre Hände — sie tasten nicht,
ihre Füße — sie gehen nicht, keinen Laut geben sie mit der Kehle.
Wie sie selber (d. i. die Götzen) sind ihre Bildner, jeder, der auf
sie vertraut.“ Mit diesem mächtigen Hymnus gegen die heidnische
Götzenanbetung trat der Judaismus dem Hellenismus und allen
seinen späteren Ausläufern in den Weltreligionen entgegen.
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Eine hervorragende Stellung nehmen in der jüdischen Lyrik die
geschichtlichen Motive ein. Die Vergangenheit der israelitischen Na-
tion, ihre Größe und ihr Fall sind hier in farbenreicher, poetischer
Gestaltung wiedergegeben. Das Preislied auf den Auszug aus Ägyp-
ten (Ps. 114) gehört zu den edelsten Werken der Weltpoesie. Einige
Psalmen (io5—106 u. a.) geben eine poetische Übersicht der natio-
nalen Geschichte in erbaulicher Form. Die Sehnsucht nach dem
ehemaligen „Königreich Davids“ ist aus jenen „Wallfahrtliedern“
(Schire ha’maaloth, Psalm 120—134) herauszuhören, in denen sich
die patriotischen Stimmungen der aus Babylonien nach der Heimat
aufbrechenden Juden, die Gemütsbewegung der Wiedererbauer Jeru-
salems und seines Tempels sowie die Begeisterung der nach der
Heiligen Stadt wallfahrtenden Landleute spiegeln:
zum Hause Jahves wollen wir gehen,
in den Toren Jerusalems,
wo alles sich zusammenfügt,
die Stämme Jah(ve)s:
den Namen Jahves.
Throne dem Hause Davids . . .
Heil in deinen Palästen.
(Psalm 12a.)
Neben den nationalen Motiven kommen in der Psalmenpoesie
auch individuelle und universale Motive zum Ausdruck, aus jenem
Grenzgebiet, wo sich Poesie, Religion und Philosophie begegnen.
Als ein Beispiel solcher Motive mag hier der 104* Psalm erwähnt
sein: ein majestätischer Hymnus auf die von Gott beseelte und un-
wandelbaren Gesetzen unterworfene Natur, eine von religiösem Pan-
theismus angehauchte Apotheose der Göttlichkeit des Alls. Jedoch
bilden das gewöhnliche Grundmotiv der Psalmen die seelischen Er-
lebnisse der Einzelpersönlichkeit: die Klage des Leidenden, die
Trauer um der Sünde willen und die Selbstanklage des Gewissens,
die Reue und das an das höchste Wesen gerichtete Flehen um
Gnade und Erlösung. Es ist dies eine aus dem Herzen strömende
Aussprache des Menschen mit seinem Gotte, der nicht nur an den
Schicksalen der Welt oder der Nation, sondern auch an denjenigen
der einzelnen Menschen Anteil nehmen muß. Die Individualisierung
des religiösen Gefühls wetteifert hier ganz offenbar mit seiner Na-
tionalisierung. Das Problem der frommen Seele tritt neben das-
Ich freute mich, als man zu mir sagte:
Da standen unsere Füße wirklich
Jerusalem, wiedergebaut als Stadt,
Dahin die Stämme hinaufziehen,
Gesetz für Israel ist's zu preisen
Denn dort standen Throne zum Gericht,
Friede sei in deinem Bollwerk,
438
§ 86. Die religiöse Philosophie (Das Buch Hiob)
jenige des „erwählten Volkes“ und wird gar oft nicht in dem Geiste
der vorherrschenden Weltanschauung entschieden. Daher auch die
Elemente des Weltschmerzes in der biblischen religiösen Poesie.
§ 86. Die religiöse Philosophie (Das Buch Hiob)
Die strenge Rechtgläubigkeit, die seit Esra und Nehemia im
jüdischen Leben immer mehr Wurzel faßte, setzte wohl den ehe-
maligen Rückfällen ins Heidentum ein Ende, unterband aber nicht
das Meditieren über religiöse Probleme höherer Ordnung. Das Volk
hatte sich nun auf das höchste Niveau seiner Religion erhoben, die
Gipfel der höchsten Weltprobleme erklommen. Nicht bei allen je-
doch stand das religiöse Bewußtsein im Einklang mit der dogma-
tischen Lösung dieser Probleme. Viele wurden von Zweifeln und
unlösbaren Fragen gemartert. In der Bibel sind uns nicht nur
Hymnen des triumphierenden Glaubens, sondern auch Notschreie des
Zweifels und des Durstes nach letzter Wahrheit erhaltengeblieben.
Der Judaismus war in seinem damaligen Entwicklungsstadium
auf dem Dogma der strengen göttlichen Gerechtigkeit begründet,
die jeden Menschen nach seinem Verdienst belohnt. Die Juden
hatten früher keine mystische, sondern eine reale Vorstellung von
der „Vergeltung“. Ohne den späteren Glauben an ein Gericht im
Jenseits waren sie überzeugt, daß die Vergeltung noch im irdischen
Leben erfolgen müsse: dem Gerechten solle materielles oder geistiges
Wohlergehen im persönlichen, Familien- oder gesellschaftlichen
Leben beschieden sein; der Frevler dagegen, der die göttlichen Ge-
bote verletzt, müsse in dieser oder jener Form noch hienieden leiden.
Die Mehrzahl der Gebote sollte allerdings nicht um des Wohles des
Einzelnen willen, sondern um desjenigen der Gemeinschaft, der Na-
tion, befolgt werden. Der alte prophetische Judaismus kannte über-
haupt keine persönliche Unsterblichkeit, sondern nur die Unsterb-
lichkeit des Geschlechts, die Ewigkeit der Nation, vorausgesetzt, daß
ihre Teile, die Einzelnen und die einzelnen Generationen, einen ge-
rechten Lebenswandel führen. Nur die erhabensten Geister, die die
Relativität von Leid und Glück begreifen konnten, die es verstanden,
ihr Leben mit demjenigen des nationalen Ganzen zu verschmelzen,
dürften für eine solche Lehre empfänglich gewesen sein; auf dem
439
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Wege abstrakter theologischer Auslegung mochten sie vielleicht diese
Lehre mit dem Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit in Einklang ge-
bracht haben. Allein für mehr praktisch Gesinnte mußte der Wider-
spruch zwischen Lehre und Wirklichkeit nur allzu klaffend er-
scheinen. Die Wirklichkeit war überreich an Fällen, wo der Gerechte
Not leiden mußte, während es dem Sünder in jeder Weise wohl-
erging, wobei dies nicht nur in den Schicksalen Einzelner, sondern
auch ganzer Gruppen und Völker deutlich in Erscheinung trat.
Unabwendbar mußte sich nun die verwirrende Frage erheben: Wo
bleibt die göttliche Gerechtigkeit? Wo die Vergeltung nach dem
Verdienst? Wenn es zu jener Zeit den Begriff des Jenseits ge-
geben hätte, hätte die endgültige Vergeltung in dieses Gebiet des Un-
bekannten hinausgeschoben werden können, allein der älteste Judais-
mus erkannte nur das Prinzip der irdischen Vergeltung an. Es blieb
daher ein unlösbares Dilemma, das häufig das Gewissen der Gläu-
bigen in Verwirrung brachte. Das Problem des leidenden Ge-
rechten und des im Glücke schwelgenden Gottlosen fand seinen
Ausdruck in den Psalmen, in denen der Fromme mit den folgenden
Worten seine Zweifel zum Ausdruck bringt:
„. . . Fast wären meine Füße gestrauchelt, beinahe meine Tritte aus-
geglitten. Denn ich ereiferte mich über die Toren, sah das Wohlsein der
Gottlosen. . . . Siehe (dachte ich), so sind die Gottlosen, und, ewig sicher,
werden sie immer mächtiger. So habe ich umsonst mein Herz rein erhalten und
meine Hände in Unschuld gewaschen? Und ward doch geschlagen allezeit und
allmorgendlich traf mich meine Züchtigung. . . . Da nahm ich mir vor, das
in Erfahrung zu bringen. Eine Qual ward’s in meinen Augen, bis ich eindrang
in Gottes Geheimnisse und achtete auf ihr (d. i. der Gottlosen) Ende. Für-
wahr, aufs Schlüpfrige stellst du sie, lässest sie fallen in Täuschungen. Wie
sind sie in einem Augenblick vernichtet, sind dahin und zerstört vor Schrecken!
. . . Denn als in bittere Stimmung mein Herz kam und es mir in die Nieren
schnitt, ward ich dumm und ohne Einsicht, ein unvernünftig Tier ward ich
dir gegenüber. Aber nun bin ich ständig bei dir, du erfassest meine rechte
Hand. Nach deinem Ratschluß leitest du mich, und hernach nimmst du mich
in Ehren an. Wen habe ich im Himmel außer dir? Und außer dir frage ich
nicht nach der Erde. Mögen Leib und Seele mir schwinden, mein Fels und
mein Teil bist du, Gott, ewig.“ (Psalm ^3 1).)
Hier beruhigt der Zweifelnde sein religiöses Gewissen vermittels
einer psychologischen Analyse, die ihm die Überzeugung gibt, daß
*) Dasselbe Problem wird in den Psalmen io, 37, 49 und vielen anderen
erörtert.
44o
§ 86. Die religiöse Philosophie (Das Buch Hiob)
der Schein des Glücks noch nicht das wahre Glück sei, daß das
Schicksal wandelbar und die Wege Gottes unerforschlich seien. In-
dessen ist der sich so bietende Ausweg nur wenig beruhigend. Dies
beweist das Buch Hiob, eine tiefsinnige, moral-philosophische Ab-
handlung in Dialogform, die in späterer Zeit in das heilige Schrift-
tum aufgenommen wurde1). Hiob zeichnete sich durch Frömmig-
keit und makellose Sittlichkeit aus und trotzdem traf ihn Leid und
Elend; seine Reichtümer wurden geraubt, seine Familie ging zu-
grunde und er selbst wurde von Aussatz befallen. Der unglückselige
Gerechte setzt sich im Kreise der ihm Trost zusprechenden Freunde
auf die Erde und läßt seinen Wehklagen über das ihn verfolgende
Unglück freien Lauf. Er verflucht den Tag seiner Geburt und
zweifelt voll Schauer an der göttlichen Gerechtigkeit. Ich habe —
so spricht Hiob — Gott zutiefst verehrt und alle seine Gebote treu
befolgt, ich errettete den Armen vor Not, die Waise und die Witwe
vor Unbill; „die Augen ersetzte ich dem Blinden und die Füße dem
Lahmen* 2)“; und so dachte ich, ich würde in Ruhe mein Leben
beenden; „auf Glück hoffte ich, aber Unheil kam; ich harrte auf
*) Schon im Talmud (Baba-batra, i5) gilt die Hiobslegende als eine lite-
rarische Allegorie (Maschal). Dem Buche liegt eine edomitische Legende von
einem verarmten und von Krankheit heimgesuchten tugendhaften Reichen zu-
grunde, der an der göttlichen Gerechtigkeit zu zweifeln beginnt. Vermutlich
wurde die Erzählung zu dem Zwecke in eine nicht jüdische Umgebung verlegt,
damit nicht ein Jude als Gotteslästerer hingestellt werde. Vielleicht stammt das
Werk noch aus der Zeit des babylonischen Exils (der Prophet Jeheskel — i4,
i4, 2o — führt den Namen Hiob unter den drei mustergültigen Gerechten an:
„Noah, Daniel, Hiob“), jedenfalls aber ist es wohl nicht später als in der Zeit
der persischen Herrschaft entstanden. In dem assyro-babylonischen Schrifttum aus
der Zeit Assurbanipals (VII. Jahrh.) finden wir einen Doppelgänger Hiobs, den
sagenhaften Fürsten von Nippur, Tabi-Enlil, der von einer schweren Krankheit
befallen wird und über die Rechtsprechung der Götter Klage führt. Von ihm
eben stammt der Klagepsalm, aus dem oben ein Fragment angeführt wurde ($ 85,
das letzte Fragment aus den babylonischen Parallelpsalmen).
2) Der babylonische Hiob (s. die vorhergehende Anmerkung) klagt gleich-
falls: „Ich dachte selbst nur an Gebet und Flehen; Flehen war meine Weisheit,
Opferspende mein Geheiß. Ich unterwies mein Land, Gottes Namen zu achten
und den Namen der Göttin zu ehren, und nun ist das Haus zu meinem Gefängnis
geworden, meine Glieder sind zergangen, auf meiner Lagerstätte wälzte ich mich,
beschmutzte mich wie ein Schaf mit meinem Unrat“ usw. Bemerkenswert ist es,
daß der babylonische Hiob nur seine formal-religiösen Verdienste aufzählt (Gebet,
Opferj, während der jüdische seine sittlichen Vorzüge, seine tatkräftige Menschen-
liebe, seine Teilnahme an der Not des Nächsten hervorhebt.
44*
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Licht und es kam Dunkel“ (Kap. 29—3o). Und nun stellt er die
verhängnisvolle Frage: „Warum bleiben die Frevler am Leben,
werden alt, ja erstarken an Kraft, ihr Nachwuchs steht fest vor
ihnen . . . und ihre Familien sind wohlbehalten; sie singen laut bei
Paukenschlag und Zither . . . und verbringen in Glück ihre Tage,
und in Frieden steigen sie hinab ins Totenreich? . . . Warum stirbt
der eine im vollen Glück, vollkommen ruhig und wohlgemut, und
der andere stirbt in bitterem Unmut, ohne daß er je vom Glück
genossen?“ (21, 7—-2 5). Die Freunde trösten zunächst den Leiden-
den dadurch, daß sie ihm zu beweisen suchen, daß Gott, der ihn
gestraft, ihm das frühere Glück noch wiedergeben könne. Als aber
Hiob in schroffer Weise seine Verzweiflung kundtut, suchen sie
ihn folgendermaßen zu überzeugen: wenn Gott, der absolut gerecht
sei, einen Menschen heimsuche, spreche dies dafür, daß der Be-
troffene in der Tat schuldbeladen sei; auch könne der erdgeborene
Mensch seiner Natur nach nicht vollkommen sein. Hiob ist empört
über diesen dogmatischen Sophismus und sucht das Gegenteil zu
beweisen: wenn Gott den Menschen unzulänglich und unvollkommen
geschaffen habe, so dürfe er von ihm auch keine Vollkommenheit
verlangen und ihn nicht wegen seiner Schwächen heimsuchen. Hier
geht der Protest des Pessimisten bis zur völligen Verneinung des
moralischen Prinzips in der Weltordnung:
„Wie könnte der Mensch je recht behalten gegen Gott? . . .
Wer darf zu ihm sprechen: ,Was tust du da?‘ Wie dürfte ich ihm
erwidern, ihm gegenüber meine Worte wählen können? Auch wenn
ich recht habe, darf ich nicht antworten, zu meinem Widerpart muß
ich um Gnade flehen. ... Er wird im Sturmwind mich zermalmen
und meine Wunden ohne Ursach mehren. . . . Gilt’s Kraft des
Starken, so ist er da, aber gilt’s den Rechtsweg, dann heißt’s: ,Wer
darf mich vorfordern?* Wär’ ich im Recht — mein eigener Mund
würde mich verdammen, und wäre ich unschuldig — er würde mich
zum Betrüger machen! . . . Denn er ist nicht ein Mensch wie ich,
daß ich ihm Antwort geben, daß wir miteinander vor Gericht treten
könnten. Keinen Schiedsmann gibt es zwischen uns, der auf uns
beide seine Hand legen könnte“ (Kap. 9).
Als der Protest Hiobs seinen Höhepunkt erreicht und in eine
aufrührerische Rede gegen Gott ausklingt, wird er von dem jüngsten
seiner Freunde, Elihu, scharf zurechtgewiesen. Der neue Gegen-
redner tadelt sowohl die geistige Verwegenheit Hiobs als auch den
schwachen Protest seiner älteren Freunde. Er sucht zu beweisen,
§ 86* Die religiöse Philosophie (Das Buch Hiob)
daß für den allmächtigen, absolut gerechten Schöpfer jene relativen,
dem menschlichen Verstand zugänglichen Kriterien der Gerechtig-
keit durchaus nicht maßgebend sind. Der Herr der Schöpfung und
der Natur ist dem Menschen, einem seiner nichtigsten Geschöpfe,
keine Rechenschaft über seine Handlungen schuldig, um so mehr
als die Taten der Menschen Gott gar nicht umstimmen können:
„Schau" zum Himmel auf und sieh, blicke hinauf zu den Wolken,
die hoch über dir sind. Wenn du sündigst, was kannst du ihm,
(Gott) anhaben? Und sind deiner Übertretungen viele, was schadest
du ihm? Bist du gerecht, was schenkst du ihm, oder was empfängt
er aus deiner Hand? Auf deinesgleichen bezieht sich dein Frevel
und auf Menschenkinder dein Rechttun“ (Kap. 35).
Ein noch härteres Wort vernimmt Hiob aus dem „Sturmwetter“,
von Gott selbst. Gott weist auf die majestätischen Naturerscheinun-
gen hin, auf die unbezähmbare Kraft der Elemente und zugleich
auf die zwingende Gesetzmäßigkeit des Weltmechanismus, um Hiob
von der Nichtigkeit der menschlichen Ansprüche zu überzeugen. Die
vier Kapitel des Monologs Jahves (38—4i) gehören, zugleich mit
dem obenerwähnten io4- Psalm, zu den genialsten Hymnen auf die
im Geiste der Allgöttlichkeit erfaßte Natur. „Wo warst du, als ich
die Erde gründete? . . . Oder wer hat ihren Eckstein hingeworfen
unter dem Jubel der Morgensterne allzumal, als alle Engel jauchzten?
Wer verwahrte hinter Toren das Meer, als es hervorbrach, aus dem
Mutterschoß hervorging, als ich Gewölk zu seinem Kleide machte
und dichte Finsternis zu seinen Windeln, als ich ihm seine Grenze
ausbrach und Riegel und Tore setzte und sprach: ,Bis hierher darfst
du kommen und nicht weiter'? . . . Hast du je in deinem Leben
dem Morgen geboten, dem Frührot seine Stätte angewiesen? . . .
Bist du zu des Meeres Quellen gelangt und hast du auf dem tiefsten
Grunde des Ozeans gewandelt? Haben sich dir des Todes Tore auf-
getan und schautest du die Tore des tiefen Dunkels? Hast du der
Erde Breiten überschaut? Sag" an, wenn du das alles weißt! Wo
ist doch der Weg dahin, wo das Licht wohnt und die Finsternis, —
wo ist doch ihre Stätte? . . . Hat der Regen einen Vater, oder wer
hat die Tautropfen gezeugt? Aus wessen Schoße ging das Eis her-
vor und des Himmels Reif, wer hat ihn geboren? Kennst du die
Gesetze des Himmels oder bestimmst du seine Herrschaft über die
Erde? Entsendest du die Blitze, daß sie hinfahren und zu dir
sagen: Hier sind wir . . .?“ (Kap. 38). Diese großen Fragen, die
443
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
die Wissenschaft Jahrtausende hindurch zu lösen sich bemüht*
machen auf Hiob einen niederschmetternden Eindruck: seine sitt-
lichen Zweifel sind nicht behoben, wohl aber von diesem Sturzfall
kosmogonischer Probleme übertönt. Von der Größe und dem un-
lösbaren Geheimnis der Weltschöpfung niedergedrückt, tritt der
entsetzte Mensch in Demut zurück. Hiob verstummt, weil er sich
seiner Machtlosigkeit bewußt wird, und der Verfasser des biblischen
Buches fügt hinzu, daß Gott dem demütigen Pessimisten Gesundheit
und auch Wohlstand wieder angedeihen ließ 1).
§ 87. Weltweisheit und Moral (Sprüche)
Der philosophische Protest gegen die sittliche Unzulänglichkeit
der Weltordnung wird durch die den Menschen zur Demut rufende
höchste Gewalt niedergehalten. Auf die schicksalsschweren Fragen
über gerechte Vergeltung, über das Gute und Böse in der Welt, über
Willensfreiheit und Gebundenheit im menschlichen Handeln wird
keine direkte Antwort gegeben. Dem Menschen ist es beschieden, an
der Grenzscheide von Glauben und Wissen stehen zu bleiben. Der
religiösen Philosophie und der metaphysischen Wissensbegier sind
unüberwindliche Schranken gesetzt, die praktische Philosophie aber
kann sich ungehemmt entfalten. Die Lebensweisheit („Chachma“)
als das Ergebnis von Erfahrung und Beobachtung, die Weisheit der
vielerfahrenen Greise, die der Jugend praktische Anweisungen gehen,
dies ist das Gebiet, auf dem das weltliche Prinzip vorherrscht und
das religiöse Gefühl am wenigsten angetastet wird. Diese Weisheit
fand bei allen Völkern von altersher in Form von kurzen Aphoris-
men, Parabeln oder Sprüchen ihren Ausdruck, von denen die treff-
sichersten und schlagendsten als Gemeingut des Volkes sprichwört-
lich wurden. Diese Art von Literatur kannte schon Ägypten und
Babylonien. Im Schrifttum Ägyptens wurden die belehrenden Unter-
weisungen in der Weltweisheit gewöhnlich als von alten Hofleuten
1) Im babylonischen Kommentar zu der Sage von dem Heimgesuchten aus
Nippur ist gleichfalls hinzugefügt, daß nach den Klagen des Unglücklichen der
Gott Marduk ihn von seiner Krankheit erlöste und ihm seine Reichtümer zurück-
gab. Wir haben es hier vielleicht mit einer der ,,Wanderlegenden“ zu tun.
444
§ 87. Weltweisheit und Moral (Sprüche)
stammend, die ein sturmbewegtes Leben hinter sich hatten, dar-
gestellt. In Palästina waren die „Söhne Kedems“, die Ältesten der
nomadisierenden Völkerschaften der syrisch-arabischen Wüste, durch
ihre Weisheit bekannt. In der Gestalt solcher edomitischer Scheiks
werden uns die Helden des Buches Hiob vor Augen geführt. Auch
in dem biblischen Buche der „Sprüche“ finden wir „die Worte an
Lemuel, den König von Massa, den seine Mutter lehrte“, sowie die-
jenigen „Agurs, des Sohnes Jakas, des Massaiten“ (Kap. 3o—3i).
In den Reichen Israel und Juda waren schon früh die Maschalim,
d. i. Sprüche, eine Art weiser Parabeln, verbreitet, aber wohl kaum
so früh, wie es die urkundliche Überlieferung annimmt, die schon
dem König Salomo die Urheberschaft von dreitausend Sprüchen
über Pflanzen und Tiere zuschreibt: „Seine Weisheit war größer —
so heißt es dort — als die Weisheit aller Morgenländer (Söhne
Kedems) und als alle Weisheit Ägyptens.“ Diese Überlieferung
gab den Anlaß, den Namen des Königs Salomo an die Spitze der
Sammlung der biblischen Sprüche (Mischle Schelomo ben David) zu
setzen, obwohl im Text auch namenlose „Chachamim“, d. i. Weise
(2/^ 23), als Verfasser von Sprüchen und „die Männer Hiskias,
des Königs von Juda“ als deren Sammler erwähnt werden (oben,
§ 55). Es unterliegt keinem Zweifel, daß viele Sprüche und Sprich-
wörter als Produkt der Volksschöpfung schon lange vor der Epoche
der Sammlung des Schrifttums unter Esra und den Soferim im
Volke umgingen; allein das Buch, in dem sie alle gesammelt und
durch neue Einfügungen vermehrt sind, wurde erst in der Zeit der
persischen Herrschaft fertiggestellt. Das spätere Schaffen mag sich
von dem früheren dadurch unterscheiden, daß es mehr ausgearbeitete
und kompliziertere Formen der Aphorismen aufweist oder diese in
Reihen gleichartiger Aussprüche in Form von zusammenhängenden
Betrachtungen in ein bestimmtes System gruppiert. Es wird hier
vorzüglich die Weisheit verherrlicht, die bald als Wissen, bald als
Tugend oder sittliche Gesinnung begriffen wird. Im 8. Kapitel der
Sprüche ist die Weisheit in der Gestalt einer Frau dargestellt, die
an der Wegkreuzung steht und die Menschen herbeizulocken sucht.
Sie verheißt den Menschen die Wahrheit, die mehr wert sei als
alle Schätze; sie preist sich als diejenige, die Könige und Richter
erleuchtet und sogar Gott selbst als Werkzeug bei der Welt-
schöpfung diente (i, 20 ff.; 3, i3—20). Die Weisheit ist mit der
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Sittlichkeit (Mussar) und der wahren Gottesfurcht aufs engste ver-
bunden. Torheit und Unwissenheit dagegen werden dem Frevel und
der Gottlosigkeit gleichgestellt (ewil, ksil, rascha usw. werden fast
wie Synonyme gebraucht).
In den zahlreichen Aussprüchen des Buches „Mischle“ wird bei
aller Mannigfaltigkeit und Buntheit doch eine einheitliche praktische
Philosophie durchgeführt, die den gesunden Menschenverstand zur
Grundlage hat. Die Moral wird hier nicht als etwas Mystisches
angesehen, sondern als eine dem Menschen notwendige Hygiene von
Körper und Geist. Arbeitsfleiß, Enthaltsamkeit, Unzerstörbarkeit der
Familienbande, Treue in der Freundschaft, Gehorsam den Älteren
gegenüber, gesellschaftliche Zucht, Rechtschaffenheit im Handel,
Wahrheitsliebe, Mitleid mit dem Schwachen, das sind die Grund-
festen dieser Moral. Sie ist weniger das Ergebnis von abstrakten
Spekulationen als einer tiefen Lebenserfahrung und eines feinen
Verständnisses für Umgangs- und Anstandsformen; sie will nicht
predigen, sondern nützliche Kenntnisse und praktische Winke geben.
Viele dieser Aphorismen beginnen mit liebevollen Ermahnungen:
„Höre, mein Sohn“, „Mein Sohn, merke auf meine Weisheit“. Alle
derartigen Belehrungen geben wenn auch indirekte, so doch sehr
wertvolle Anhaltspunkte für das Verständnis der Lebensführung
und der Sitten dieser Zeit. Charakteristisch sind die häufigen War-
nungen vor dem Verlangen nach einem „fremden Weibe“, worunter
sowohl das Eheweib eitles anderen als auch die Buhlerin gemeint
ist (2, 16; 5, 3—20; 6, 24L; 9, i3 und sonst). In einem farben-
reichen Bilde sind die Verführungskünste eines solchen Weibes dar-
gestellt, mit denen sie den leichtsinnigen Jüngling wie „einen Vogel
in die Schlinge“ lockt (7, 5—27). Schon die Anschaulichkeit der
Schilderung spricht dafür, daß auch in der strengen jüdischen
Theokratie die Freiheit der Sitten keine seltene Erscheinung war,
jedoch die schroffe Form, in der diese Unsittlichkeit gerügt wird,
zeugt davon, daß in Jerusalem kein so nachsichtiges Verhalten der
Hetäre gegenüber geübt wurde, wie es in Athen der Fall war.
Im großen ganzen erscheint die Strenge der Sitten, wenn diese auch
von jedem Asketismus frei sind, als der Hauptzug der biblischen
„Sprüche“. Die elterliche Gewalt wird hier als die Grundlage der
Familienzucht dargestellt. „Wer seiner Rute schont, der haßt seinen
Sohn, wer ihn aber lieb hat, bedenkt ihn mit Züchtigung“; „Ver-
446
§ 87. Weltweisheit und Moral (Sprüche)
weigere dem Knaben nicht die Zucht; wenn du ihn mit der Rute
schlägst, so wird er nicht sterben, . . . aber sein Leben errettest du
von der Unterwelt“ (i3, 2 4; 2 3, i3—i4)- Die Nüchternheit wird
als eine der Grundlagen des Wohlstandes anerkannt, während die
Völlerei in so grellen Farben geschildert wird, wie sie nur denen,
die Trinkgelage oft zu Gesicht bekamen, zur Verfügung stehen
konnten (so die anschauliche Darstellung in Kap. 2 3, 29—35;
vgl. 20, 1 und sonst). Die Faulheit wird in den Sprüchen als das
schlimmste Laster gerügt: „Am Acker eines faulen Mannes ging
ich vorüber und am Weinberg eines unverständigen Menschen. Da
fand sich: er war ganz in Wicken auf gegangen, seine Oberfläche
war mit Unkraut bedeckt, und seine Steinmauer war eingerissen.
Ich aber schaute, richtete meinen Sinn darauf, sah hin, entnahm
mir daraus eine Warnung: ja, noch ein wenig Schlaf, ein wenig
Schlummer, noch ein wenig die Hände ineinanderschlagen, um zu
ruhen, so kommt Armut über dich gleich der eines Landstreichers
und Mangel wie der eines Bettelmannes“ (24, 3of. und 6, 10).
Manchmal wird der Faule auch einfach ausgelacht: „Der Faule
spricht (indem er sich drücken will): ein Leu ist auf dem Wege,
ein Löwe innerhalb der freien Plätze. Wie die Tür sich dreht auf
ihrer Angel, so der Faule auf seinem Bette. Steckt der Faule seine
Hand in die Schüssel, wird’s ihm sauer, sie wieder zum Munde
zurückzubringen“ (26, i3—15 und auch sonst).
Viele Aphorismen ziehen einen Vergleich zwischen dem Ein-
sichtigen und dem Toren. Der Hauptzug des ersten ist seine
Schweigsamkeit, seine Kunst der maßvollen Rede. „Wo der Worte
viel sind, geht’s ohne Vergehung nicht ab; wer aber seine Lippen
zügelt, handelt klug“ (9, 19). „Wer mit seinem Worte zurück-
hält, ist einsichtsvoll, und der Kaltblütige ist ein vernünftiger
Mensch. Auch ein Narr kann, wenn er schweigt, für einen Weisen
gelten . . .“ (17, 27—28). Ein taktvolles Benehmen lehren Sprüche
wie die folgenden: „Gibt einer Antwort, ehe er noch hörte, so wird
ihm das als Narrheit und als Schande gerechnet“ (18, i3). „Es
rühme dich ein anderer und nicht dein eigener Mund, ein Fremder,
aber nicht deine eigenen Lippen“ (27, 2). Viele Sprüche zeugen
von feiner Beobachtungsgabe: „Sogar beim Lachen kann das Herz
Kummer fühlen, und der Freude Ende ist manchmal Gram“
(i4, i3). „Wie Gewölk und Wind und doch kein Regen ist ein
447
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Mann, der mit Geschenken prahlt, der doch nie gibt“ (2 5, i4).
„Laß deinen Fuß selten sein im Haus deines Nächsten, daß er
deiner nicht satt werde und dich dann hasse“ (25, 17). „Wie
Schnee im Sommer und Regen in der Ernte, so ungehörig ist Ehre
für den Toren“ (26, 1). „Wie ein goldener Ring im Rüssel einer
Sau, so ein Weib, das schön ist, aber nichts von Schicklichkeit
weiß“ (11, 22). „Antworte dem Toren nicht nach seiner Narrheit,
daß nicht auch du ebenso erscheinest wie er“ (26, 4)* Viele
Sprüche, die sich auf die Lebensführung der Könige und Regieren-
den beziehen (so in den Kapiteln 16, 20, 21, 23, 29 u. a.), sind
ein Beweis dafür, daß ihre Verfasser den Regierungskreisen nicht
fernstanden. Das häusliche und zum Teil das allgemein-wirtschaft-
liche Leben dieser Zeit, in der die Sprüche gesammelt wurden, d. i.
der Zeit der persischen Herrschaft, spiegelt sich in einem Lob-
gedicht auf das „wackere Weib“ und auf die mustergültige Haus-
frau wider, das die ganze Sammlung abschließt (Kap. 3i):
Ein wackeres Weib, wer mag es finden?
Weit über Korallen geht ihr Wert.
Sie tut sich um nach Wolle und Flachs
und schafft mit arheitslustigen Händen.
Sie sinnt auf Ackerland und erwirbt es;
von ihrer Hände Frucht pflanzt sie einen Weinberg . . .
Sie merkt, daß ihr Hantieren gedeiht;
nicht erlischt des Nachts ihre Leuchte.
Ihre Hände streckt sie nach dem Rocken aus,
und ihre Finger ergreifen die Spindel . . .
Ein feines Unterkleid fertigt sie an und verkauft’s,
und einen Gürtel übergibt sie dem Krämer.
Kraft und Hoheit ist ihr Gewand,
und so lacht sie des künftigen Tages.
Ihren Mund tut sie mit Weisheit auf,
und liebreiche Unterweisung ist auf ihrer Zunge.
Sie überwacht das Tun und Treiben ihres Hauses,
und Brot der Faulheit ißt sie nie.
Ihre Söhne treten auf und preisen sie glückselig,
ihr Gemahl tritt auf und rühmt sie:
„Gar viele Frauen haben sich wacker erzeigt,
du aber übertriffst sie alle.“
Lug ist die Anmut und ein (vergänglicher) Hauch die Schönheit;
eine Frau, die Jahve fürchtet, die soll man rühmen!
Gebt ihr von der Frucht ihrer Hände,
und in den Toren müssen ihre Werke ihr Lob verkünden!
Von allen Arten des literarischen Schaffens waren es die einer
448
§ 87. Weltweisheit und Moral (Sprüche)
bestimmten religiösen und nationalen Färbung entbehrenden weisen
Aussprüche und Aphorismen, die internationale Verbreitung fanden.
So finden sich dieselben Aphorismen und Sprichwörter in dem
alten Schrifttum der Juden, der Babylonier und der Ägypter1).
Unter den unlängst aufgefundenen Papyri in Elephantine, die Ur-
kunden der dortigen jüdischen Kolonie in aramäischer Sprache
enthalten, wurden auch Fragmente aus der Aphorismensammlung
des weisen Ahikar, eines sagenhaften assyrischen Hofmannes und
Schreibers, entdeckt. Einige von diesen Aphorismen sind mit den
entsprechenden Sentenzen der „Sprüche“ fast identisch (so bildet
der Ausspruch: „Mehr denn alles andere hüte deine Zunge“ eine
Parallele zu „Sprüche“ i3, 3; „Schone nicht des Stockes für
deinen Sohn“ ist eine Wiederholung des oben angeführten Lehr-
spruchs in „Sprüche“ 2 3, 3). Daraus ist zu ersehen, daß die
Juden der ägyptischen Diaspora um das V. Jahrhundert eine Samm-
lung von Lehrsprüchen in aramäischer Sprache besaßen, die mit
den in Judäa verbreiteten „Sprüchen Salomonis“ eine große Ähn-
lichkeit aufweisen, wobei hier als gleichfalls fingierter Verfasser
nicht der israelitische König, sondern ein assyrischer Hofmann auf-
tritt. Den Lehrsprüchen Ahikars ist in der Sammlung ein Bericht
darüber vorangeschickt, wie Ahikar zu seiner „Weisheit“ gelangte
und in welcher Umgebung er sie darlegte. Dieser Bericht ist an-
scheinend babylonischen Ursprungs und gelangte hernach im ganzen
Orient in aramäischer, syrischer und anderen Sprachen zur Ver-
breitung. Im hebräischen Schrifttum wird der Name des weisen
Ahikar viel später, erst im II. oder I. Jahrhundert vor der christ-
lichen Ära (im apokryphischen Buche „Tobit“) erwähnt, woraus
zu schließen ist, daß das „Buch Ahikar“ bereits früher auch in
Judäa Verbreitung gefunden hatte.
*) Man vergleiche mit den oben angeführten biblischen Lehrsprüchen fol-
gende babylonischen Aphorismen (um das VIII. Jahrh.): „Mach’ deinen Mund
nicht weit auf, hüte deine Lippen; in übermütiger Stimmung führe nicht allein
das Wort, sonst mußt du flugs, was du gesprochen, wieder zurücknehmen; rühre
die Buhlerin nicht an, die viele Männer hat.“ Der babylonische Spruch:
„Fürchte Gott, ehre den König“ ist mit dem biblischen: ,,Fürchte Jahve, mein
Sohn, und den König“ fast identisch (24, 21). Von den ägyptischen Lehr-
sprüchen sind die folgenden den jüdischen sehr ähnlich: „Nimm dich in acht
vor einer Frau von draußen, die man in ihrer Stadt nicht kennt. Sie ist ein
großes, tiefes Wasser, deren Strudel man nicht kennt. Mache nicht viele Worte,
denn Geschrei ist ein Abscheu für das Haus Gottes.“
29 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
s.
Die jüdische Theokratie und die Entwicklung des Judaismus
Alle hier erwähnten Werke des jüdischen Genius, sowohl auf
dem Gebiete der religiösen Lyrik und Philosophie als auf dem-
jenigen der weltlichen Weisheit, waren in der persischen Epoche
dem kanonisierten jüdischen Schrifttum noch nicht einverleibt,
das damals nur aus der Thora, den Chroniken und den Propheten
bestand. Erst in späterer Zeit wurden diese Werke, zugleich mit
einigen anderen Schriften aus den folgenden Jahrhunderten, in den
Anhang der Bibel, der unter dem Namen „Schriften“ (Ketubim)
bekannt ist, aufgenommen.
Ende des ersten Bandes
45o
Ergänzungen und Exkurse
Note 1: Die Untersuchungsmethoden in der ältesten Geschichte Israels
Als das freie wissenschaftliche Denken es wagte, in das ihm bis
dahin verschlossene Gebiet der „Heiligen Geschichte“ einzudringen, er-
hob sich für den Forscher zugleich die Frage, inwiefern das religiöse
und literarische Denkmal, das „Heilige Schrift“ oder Bibel genannt
wird, auch als ein geschichtliches Denkmal, als eine Erkenntnisquelle
für die Urzeit des israelitischen Volkes, angesprochen werden könne. Die
geschichtlichen Bibelbücher, die die Geschicke des israelitischen Volkes
von den Zeiten seiner sagenhaften Vorahnen bis zum babylonischen Exil *
zum Inhalte haben, stellen keine einfache Chronographie der Ereignisse
oder Urkundensammlungen dar, sondern bieten ein kompliziertes historio-
graphisches System, in dem die Ereignisse durch einen streng durch-
geführten religiösen Pragmatismus miteinander verknüpft sind, wobei
alles auf Belehrung, Überredung und bestimmte religiös-sittliche Schluß-
folgerungen hinzielt. Es ist dies weniger Geschichte als Geschichtsphilo-
sophie, eine bestimmte Lehre, eine „Thora“. Die Sagen sind hier von
den wirklichen Ereignissen, die Ereignisse von den Belehrungen und
Gesetzen nicht zu trennen, so daß alles in ein wohlgeordnetes System
der heiligen Tradition zusammengefügt erscheint. Für den Forscher
war es von vornherein klar, daß ein so kunstvoll ausgearbeitetes System
nicht urplötzlich entstehen, sondern nur allmählich, auf der Grundlage
älterer, den geschilderten Ereignissen näherstehender Quellen aufgebaut
werden konnte. Zu diesem Schlüsse mußte man um so eher gelangen,
als in der Bibel selbst häufig Hinweise auf uns nicht mehr erhalten-
gebliebene Bücher fsus der ältesten Zeit Vorkommen, so z. B. auf die
„Bücher der Kriege Jahves“, auf die „Chroniken der Könige von Israel“
und die „Chroniken der Könige von Juda“. Man begann tiefer in den
Text der Bibel einzudringen und entdeckte unter der Hülle der alles
umfassenden letzten Redaktion eine Reihe älterer, verschiedenen Zeit-
altern angehörender Schichtungen, Arbeitsspuren vieler Generationen von
Verfassern und Redaktoren. So entstand die bibelkritische Fragment-
hypothese (s. oben im Text $ 5o—5i und unten, Note 6).
Diese Hypothese liegt der sogenannten Bibelkritik zugrunde, der
sich im XIX. Jahrhundert hauptsächlich deutsche Theologen befleißigten.
Eine Reihe glänzender Forscher, von de Witte, Reuß und Ewald bis
J. Wellhausen, unternahmen eine tiefschürfende Analyse der biblischen
453
Anhang
Texte, der das durchgebildete System des Letztgenannten die Krone auf-
setzte. Dieses System ist von Wellhausen hauptsächlich in den folgenden
Werken dargelegt: Prolegomena zur Geschichte Israels (1878), Israeli-
tische und jüdische Geschichte (1894), Komposition des Hexateuchs
und der historischen Bücher des Alten Testaments (1889). Es wird hier
ein Prinzip auf gestellt, das eine direkte Antithese zu demjenigen der
religiösen Tradition bildet: nicht am Anfang, sondern am Schluß der
ältesten Geschichte Israels sei die Thora sowie der größte Teil der
geschichtlichen Bibelbücher entstanden. Ein Ergebnis der Wirksamkeit
der Propheten des VIII. und VII. Jahrhunderts vor der christlichen Ära,
sei indessen dieses Schrifttum nur zum Teil schon in diesen Jahrhunder-
ten zur Entstehung gelangt, während der größte Teil erst zur Zeit des
babylonischen Exils verfaßt und noch später ergänzt und umgearbeitet
worden sei. Die endgültige Redaktion der Thora fällt demnach in das
Zeitalter der geistigen Restauration, ins V. Jahrhundert, unter Esra.
Das gesamte biblische Schrifttum trägt somit das Gepräge der späteren
Epoche, und nur eine mikroskopische Analyse, in der Wellhausen
ein Meister war, hat es möglich gemacht, die mutmaßlich ältesten Ele-
mente darin auszusondern. Auf einer derartigen Grundlage getraute man
sich aber konsequenterweise nicht, eine Geschichte der Urzeit aufzu-
bauen, die durchweg sagenhaft zu sein schien.
An diesen Schlußfolgerungen der bibelkritischen Schule ist viel
Wahres, jedoch auch viel Grundfalsches, das die geschichtliche Fernsicht
nur trübt. So wie die Tradition ehedem die ganze Geschichte des
Judaismus auf seine Ausgangspunkte, auf die Patriarchen und Moses,
zurückführte, die die ganze weitere Entwicklung des Volkes vorher-
bestimmt haben sollten, ebenso negiert die rationalistische Antithese die
wichtigsten Überlieferungen der frühesten Zeiten, indem sie in ihnen
nur die Anhäufung tendenziöser Erfindungen einer viel späteren Epoche
erblickt und es ganz unterläßt, verwehte Spuren längstvergangener Er-
eignisse in ihnen wieder zur Entdeckung zu bringen. Es ist allerdings
richtig, daß „älteste“ Überlieferungen häufig erst der rückschauenden
Betrachtung späterer Zeit ihr Entstehen verdanken, indem den Vor-
fahren Taten und Glaubensformen zugeschrieben werden, die den späten
Nachkommen Zusagen; allein es ist auch nicht zu bestreiten, daß in
sehr vielen Überlieferungen unter der sagenhaften oder symbolischen
Hülle wirkliche Ereignisse verborgen liegen, wenn auch durch die Über-
lagerungen der Jahrhunderte entstellt. Der Hauptfehler der bibel-
kritischen Schule besteht in der jeder logischen Antithese eigenen Ein-
seitigkeit und in dem Mißbrauch der analytischen Methode auf Kosten
der synthetischen. Die volle Wahrheit über die Vergangenheit kann
nicht gut auf Grund der inneren Analyse von nur einer einzigen Quelle
entstammenden Zeugnissen, die man dann durch allerhand Vermutungen
zu ergänzen sucht, gefunden werden. Die Glaubwürdigkeit einer ge-
schichtlichen Zeugenaussage ist nicht dadurch sicherzustellen, daß man
nur einen oder eine ganze Gruppe verwandter Zeugen einem Verhör
454
Anhang
unterzieht; dazu bedarf es vielmehr einer Gegenüberstellung dieser
Zeugenaussagen mit denen zeitgenössischer Quellen anderen Ursprungs,
wenn solche irgendwie aufzutreiben sind. In den letzten Jahrzehnten hat
sich aber gerade erwiesen, daß solche parallele Kontrollaussagen zum
Teil schon zur Verfügung stehen, zum Teil noch aufgefunden werden
können und daß die synthetische oder vergleichende Methode somit auch
in der Bibelwissenschaft durchaus anwendbar ist.
Die Steine haben zu reden begonnen. Schon längst griffen die in
den Ruinen Ninives auf gefundenen zahlreichen Tonzylinder un$J ^tafeln
der „Bibliothek Assurbanipals“ sekundierend in den Stimmeijc|ior der
religiösen Mythen aus der Genesis und der vielen Erzählungen’4us den
„Königsbüchern“ ein. Die Ausgrabungen in Ägypten, Mesopotamien und
Palästina haben uns aber in letzter Zeit auch Parallelaussagen über
Ereignisse aus den frühesten Epochen der Geschichte Israels vernehmen
lassen, die bisher von der Bibelkritik als sagenhaft angesehen worden
waren. Die in Ägypten aufgefundenen Tel-el-Amarna-Tafeln (1887)
haben ein helles Licht auf die Lage Palästinas unter der ägyptischen
Oberhoheit im XV. Jahrhundert vor der christlichen Ära geworfen, auf
die Zeit,1 als im Lande die Völkerschaften der „Chabiru“ umher-
wanderten, die allem Anscheine nach Stammesbrüder jener Gruppe der
„Tbrim“ oder Hebräer waren, von der sich hernach das Volk Israel
absonderte. Dieser glückliche Fund führt uns mitten in den Prozeß
des Eindringens der hebräischen Völkerschaften in Kanaan und zeigt
uns die Umstände, unter denen die Israeliten das Land eroberten.
Ähnliche in Palästina aufgefundene Tafeln erzählen uns in ihren Keil-
inschriften davon, daß in dem vorisraelitischen Kanaan von den Zeiten
der babylonischen Herrschaft in diesem Lande her noch tiefe Schichten
babylonischer Kultur lagen, die später so großen Einfluß auf die Über-
lieferungen und die Kultur Israels gewannen. Die Entdeckung des
„Kodex Hammurapi“ auf einer Säule in Susa (1902) brachte uns ein
Dokument aus dem XX. Jahrhundert vor der christlichen Ära, als der
babylonische König Hammurapi der Herrscher Kanaans war, welches
gerade zu jener Zeit vielleicht zum ersten Male auch dem Geschlechte
Abrahams Zuflucht gewährte. Zugleich fiel die Ähnlichkeit dieses Kodex
mit dem ältesten Kern des „Moseskodex“ besonders auf — der beste
Beweis für eine enge Verwandtschaft aller Kulturen Vorderasiens im
zweiten vorchristlichen Jahrtausend. Die aramäischen Papyri in Ele-
phantine (aufgefunden und entziffert in den Jahren 1906—1911) be-
wiesen das Vorhandensein einer großen jüdischen Kolonie in dem
Ägypten des VI. und V. Jahrhunderts vor der christlichen Ära, lange
vor der Entstehung des großen jüdisch-hellenistischen Zentrums in
Alexandrien. Noch eine Reihe anderer Entdeckungen der Assyriologen
und Ägyptologen, die nach und nach die geheimnisvollen Inschriften
der alten Denkmäler entzifferten, führt uns in das geschichtliche Milieu
ein, in dem das alte Israel lebte und sich entwickelte; kennt man aber
das Milieu, so ist man auch schon zur Hälfte über Sitten und Bräuche
455
Anhang
des in ihm lebenden Kollektiv-Individuums unterrichtet. Reihen wir nun
diesen Teil unserer Kenntnisse demjenigen an, den wir nach einer sorg-
fältigen kritischen Analyse des biblischen Schrifttums gewinnen, so steht
ein wenn auch noch lückenhaftes und in vielen Hinsichten unklares,
so doch schon in sich abgeschlossenes Ganzes vor uns. Nur eine Ver-
bindung der Analyse der biblischen Texte mit der Erforschung der
Denkmäler des alten Orients vermag die schwierigen Probleme der Ge-
schichte des alten Israel nach und nach der Lösung näherzubringen.
Von dieser synthetischen Methode, die sich erst in der letzten Zeit
die besten der auf dem Gebiete der Bibelwissenschaft wirkenden Ge-
lehrten zu eigen gemacht haben *), ließen auch wir uns in dem vor-
liegenden, der ältesten Periode gewidmeten Bande der jüdischen „Welt-
geschichte“ leiten. Dieses Grundprinzip suchen wir hier folgerichtig zur
Anwendung zu bringen und es dabei von theologischen Elementen frei-
zuhalten, die ihm noch immer infolge der Tatsache anhaften, daß meist
nur christliche Theologen dieses Feld bearbeiten. Unser Standpunkt in
dieser Hinsicht ist schon in der allgemeinen Einleitung zu dem vor-
liegenden Bande dargelegt. Weitere Exkurse wie auch vieles im Texte
selbst werden die Art der Anwendung der erwähnten allgemeinen Prin-
zipien auf die Einzelfragen der ältesten israelitischen Geschichte klarer
hervortreten lassen.
Note 2: Der chronologische Ausgangspunkt der israelitischen Geschichte
(zu S 2)
Das i4- Kapitel der Genesis ist auf sehr sonderbare Weise in die
Erzählung von dem Erzvater Abraham eingeflochten. Wir vernehmen
1) Zu diesen Gelehrten zählen wir vor allem Rudolf Kittel, der in den letzten
Auflagen seiner zweibändigen „Geschichte des Volkes Israel“ (1912—1922) es
verstanden hat, die Ergebnisse einer umsichtigen Bibelkritik mit den Schluß-
folgerungen auf Grund der neuentdeckten Denkmäler glücklich zu vereinigen.
(Vgl. auch seine Schrift: „Die alttestamentliche Wissenschaft in ihren wichtigsten
Ergebnissen“, 1912.) Für die vergleichende politische Geschichte ist von Wichtig-
keit das Werk von Lehmann-Haupt: „Israel, seine Entwicklung im Rahmen der
Weltgeschichte“ (1911), obwohl es an Vollständigkeit und Genauigkeit
viel zu wünschen übrig läßt. Von hervorragender Bedeutung sind auch
die Werke des großen Orientalisten Eduard Meyer („Die Israeliten und ihre
Nächbarstämme“, 1906; „Die Entstehung des Judentums“, 1896 u. a.), soweit
er bei der Anwendung der vergleichenden Methode dem Stoff keine Gewalt antut.
Von den Arbeiten der „panbabylonistischen“ Schule ist besonders wertvoll die eines
ihrer gemäßigteren Adepten, A. Jeremias: „Das Alte Testament im Lichte des
alten Orients“ (3. Aufl. 1916). Die Texte der hier in Betracht kommenden Denk-
mäler des alten Orients sind gesammelt in dem Buche von Greßmann: „Alt-
orientalische Texte und Bilder zum Alten Testament“, 1909 (die babylonischen
Texte sind von Ungnad übersetzt, die ägyptischen von G. Ranke), sowie in dem
„Keilinschriftlichen Textbuch zum Alten Testament“ von Winckler (3. Aufl.
1909). Ausführliche Literaturangaben finden sich in der „Bibliographie“ zu den
einzelnen Paragraphen dieses Bandes.
Anhang
!) Die Literatur dazu in der Bibliographie zu $ 2.
darin den Widerhall jener Weltereignisse, die sich um das XX. Jahr-*
hundert vor der christlichen Ära in Vorderasien abgespielt haben. Der
König von Elam Kedor-Laomer (Kudur-Lagamar) unternimmt einen
Feldzug nach Kanaan, zusammen mit seinen Verbündeten, den babylo-
nischen Königen Amraphel aus Schinear (Ghaldäa), Arioku aus Ellassar
(Larsa) und Tidal aus Goim (diese Benennung bleibt unklar). Sie be-
absichtigen, die Kleinfürsten im Süden Kanaans, im Gebiete des Toten
Meeres oder Salzsees zu züchtigen, die ehedem dem elamitischen König
gedient, sich aber hernach gegen ihn erhoben hatten. Die elamitisch-
babylonischen Verbündeten besiegen die aufrührerischen Vasallen, unter
denen sich auch die Könige Sodoms und Gomorrhas befanden, und
führen reiche Beute und viele Gefangene mit sich weg, darunter auch
den dort ansässigen Lot, den Neffen Abrahams. Des letzteren wird in
der Erzählung in folgenden Ausdrücken Erwähnung getan: „Abraham,
der Hebräer (ha’ibri), der in dem Eichenhain des Amoriters Mamre
lebt“. Abraham und seine Nachbarn, Mamre mitsamt seinen Brüdern,
setzen an der Spitze eines einige hundert Mann starken Trupps den Ent-
führern Lots nach und es gelingt ihnen, Gefangene wie Beute zurück-
zugewinnen. Durch diese Heldentat erlangt Abraham hohen Ruhm als
der Befreier der ganzen Gegend: ihn begrüßen sowohl der König von
Sodom als auch Malki-Zedek, der König Salems (Jerusalems), der hier
als der Priester des „höchsten Gottes“ (El-Eljon) auf tritt.
Die geschichtliche Unterlage der Erzählung ist ganz augenfällig1).
Seit dem dritten' Jahrtausend vor der christlichen Ära hatte Babylonien
Kanaan unter seiner Oberhoheit, wobei die Könige Elams von Zeit zu
Zeit an der Spitze des babylonischen Königsbundes standen. Ihre Namen
in der biblischen Erzählung stimmen mit den üblichen einheimischen
Namen durchaus überein: den elamitischen Königsnamen war die Par-
tikel Kudur eigen, während Lagamar der Name einer babylonischen
Göttin war; in Larsa gab es tatsächlich einen König, dessen sumerischer
Name Eri-aku war; der Name Amraphel oder Amurapel erinnert an
denjenigen des großen babylonischen Königs und Gesetzgebers Hammu-
rapi oder Ammurapi. In der Epoche Hammurapis waren die Feldzüge
der babylonischen Herrscher nach Kanaan eine sehr häufige Erscheinung.
Der in der Genesis erwähnte Feldzug war nicht nur gegen das Gebiet
Sodoms gerichtet, sondern auch gegen die von den Amoritern und
anderen Völkerschaften bewohnten Nachbarländer: in der biblischen
Erzählung selbst wird berichtet, daß die elamitisch-babylonischen Ver-
bündeten auch in Kades und in die Steppen Amaleks eindrangen und
die Amoriter bei Hazon-Tarnar (eine unbekannte Gegend) schlugen. Alle
Einzelheiten dieser Erzählung entsprechen somit der internationalen Lage
Palästinas um das XX. Jahrhundert vor der christlichen Ära.
Auf welche Weise geriet nun ein in seinen Grundzügen so durchaus
historischer Bericht in die sagenhafte Geschichte Abrahams? Dies wäre
Anhang
unmöglich, wenn die Patriarchengeschichte, wie manche glauben, ganz
und gar erdichtet wäre, wird aber durchaus erklärlich, wenn wir jene
Ansicht zugrunde legen, daß in der biblischen Legende viele echte ge-
schichtliche Elemente erhaltengeblieben sind, die nur im Prozeß ihrer
Umbildung in der Volksüberlieferung und in der* späteren literarischen
Bearbeitung entstellt worden sind. In dem eben dargelegten Falle ver-
hält sich die Sache anscheinend folgendermaßen: In der Erinnerung des
Volkes hat sich die authentische Überlieferung erhalten, wonach seine
aus Babylonien gekommenen ältesten Vorfahren aus dem Geschlechte
des „Hebräers Abraham' ‘ sich in dem unter babylonischer Oberhoheit
stehenden Kanaan niedergelassen hätten, und daß gerade in jene Zeit
auch der Feldzug der elamitisch-babylonischen Herrscher gegen die auf-
rührerischen kanaanitischen Fürsten fiel. Auch ist eine dunkle Er-
innerung an ein Bündnis dieser Vorfahren, die in dem Stammvater
Abraham personifiziert sind, mit den kanaanitischen Amoritern, sowie
an den gemeinsam den Eindringlingen geleisteten Widerstand erhalten
geblieben. Der Umstand, daß der Name des ersten Stammvaters der
Völkerschaften „Ibrim“ mit einem Feldzug in Zusammenhang steht, an
dem sich der König Hammurapi beteiligte, der um das Jahr 2000 ge-
lebt hat, gewährt uns somit einen mehr oder weniger festen chrono-
logischen Anhaltspunkt. Wir sind berechtigt, daraus zu schließen, daß
in den Überlieferungen der Jahrhunderte, zugleich mit der Erinnerung
an die Tatsache des ursprünglichen Eindringens der „Ibrim“ in Kanaan
selbst, auch eine Erinnerung an jenes Zeitalter erhalten geblieben ist, in
dem sich dieses Ereignis abspielte.
Von den modernen Forschern, die dem i4- Kapitel der Genesis
geschichtliche Bedeutung beilegen, ziehen nur wenige die sich daraus
ergebenden Schlüsse. Auch der bedeutendste unter ihnen, Rudolf Kittel,
der so weit geht, sogar die geschichtliche Persönlichkeit Abrahams an-
zuerkennen, sucht hier einen Stützpunkt nur für diese seine Ansicht,
die bei dem heutigen Stande der biblischen Wissenschaft reichlich ge-
wagt erscheint, nicht aber für eine chronologische Schlußfolgerung. In
der ausführlichen Erörterung dieser Frage im ersten Band seiner „Ge-
schichte des Volkes Israel“ (4. Aufl., 1921, S. 448—461) bestreitet er
entschieden die Anteilnahme Abrahams an den Ereignissen des XX. Jahr-
hunderts, d. i. des Zeitalters Hapamurapis, da er in seinem System die
„Entstehung Israels“ in der Person der Erzväter erst in das XVI. Jahr-
hundert verlegt. Er will Abraham Jakob und Joseph zeitlich näher-
rücken, um die der Tradition entsprechenden drei Patriarchengenera-
tionen dem Zeitpunkt der Übersiedlung von Kanaan nach Ägypten nahe-
zubringen (S. 456 und 459f.), und ist daher geneigt, das Auftauchen
des Stammvaters der „Ibrim“ in Kanaan in das Zeitalter der Amarna-
Tafeln zu verlegen, als sich die einheimischen Fürsten durch das Ein-
dringen der „Ghabiri“ in Kanaan gezwungen sahen, sich mit Klage-
briefen an ihre Souveräne, die ägyptischen Pharaonen, zu wenden. Uns
scheint diese Ansicht unbegründet zu sein. Nicht um eine Anpassung der
458
Anhang
Geschichte an das Dogma von den drei aufeinanderfolgenden Genera-
tionen der Patriarchen, noch weniger um deren Persönlichkeiten handelt
es sich hier: ist uns doch genügend bekannt, daß in den schematischen
Volksüberlieferungen kollektive Persönlichkeiten in Individuen sich ver-
wandeln und weit voneinander abliegende Epochen aneinandergerückt
oder ganz verschmolzen werden. Wir halten uns nicht für berechtigt,
auf der geschichtlichen Realität der Persönlichkeiten der Patriarchen zu
bestehen, die eher als kollektive Prototypen betrachtet werden müssen;
wir dürfen aber das Recht beanspruchen, die Realität jener allgemeinen
geschichtlichen Bewegungen zu behaupten, die von der Überlieferung in
den heroischen Gestalten versinnbildlicht worden sind. Hinsichtlich dieser
allgemeinen Bewegungen aber müssen wir vor allem jenen in der Über-
lieferung erhalten gebliebenen Gedankenassoziationen Glauben schenken,
die mit den Tatsachen übereinstimmen. Es ist keinesfalls anzunehmen,
daß das Auftauchen des ersten hebräischen Stammvaters (wer es auch
gewesen sein mag) in Kanaan mit der babylonischen Herrschaft in
diesem Lande jahrhundertelang in fester Gedankenassoziation geblieben
wäre, wenn es in Wirklichkeit viel später, erst unter der ägyptischen
Herrschaft, Ereignis geworden wäre. Wenn der Name Abrahams in der
Erinnerung des Volkes im engsten Zusammenhang mit Babylonien stand
(er stammt aus Ur in Chaldäa, seine Sippe ließ er in Harran in Meso-
potamien zurück und in Kanaan hatte er mit babylonischen Herrschern
zu tun) und nur in sehr geringem Maße mit Ägypten verbunden war
(so die Episode von dem vorübergehenden Aufenthalt Abrahams und
Sarahs in Ägypten), so ergibt sich daraus der Schluß von selbst.
Diese ganz allgemein formulierte Schlußfolgerung gibt uns einen
wichtigen Anhaltspunkt für die Geschichtsschreibung: sie bestimmt
chronologisch den Ausgangspunkt der israelitischen Geschichte und gibt
uns annäherungsweise den Zeitpunkt ihres Beginns. Die erste Über-
siedlung der Völkerschaften „Ibrim“ aus Babylonien nach Kanaan kann
ungefähr um das XX. Jahrhundert vor der christlichen Ära, während des
Zeitalters Hammurapis, angesetzt werden. Freilich wird sich dadurch die
in der biblischen Tradition festgelegte Ordnung der Generationenfolge
gänzlich verändern, weil all das, was dort als ein einmaliges Ereignis
geschildert wird, in Wirklichkeit einen dauernden Prozeß bildete.
Zwischen dem XX. und dem XVI. Jahrhundert geht der Prozeß der
Wanderung der Völkergruppe „Ibrim“ nach Kanaan vor sich; im XVI.
und XV. Jahrhundert wächst diese Gruppe, die nun „Chabiri“ genannt
wird, dort zu einer bedeutenden Macht heran; es beginnen sich nun die
„hebräischen“ Randstaaten Moab, Ammon und Edom herauszubilden,
während das aus der gemeinsamen Gruppe „Ibrim“ ausgeschiedene
Israel seine schwere Prüfungszeit in Ägypten erlebt, aus dem es im
XIII. Jahrhundert wieder auszieht, um sich nach Kanaan zurückzu-
wenden. Von diesem letzten, chronologisch ebenfalls unsicheren Zeit-
punkt handelt der nächste Exkurs.
459
Anhang
Note 3: Die Zeit des Auszugs aus Ägypten (zu S 3)
Der Tel-el-Amarna-Fund im Jahre 1887 gab seinerzeit dem lang-
wierigen wissenschaftlichen Streit über den Zeitpunkt des Auszugs der
Israeliten aus Ägypten eine ganz neue Wendung. Es erschien als höchst-
wahrscheinlich, daß der Auszug und die darauffolgende Eroberung
Kanaans mit dem Einfall der „Chabiri“ in das Ägypten untertänige
Palästina in Zusammenhang standen, daß also der Auszug im XV. oder
XIV. Jahrhundert vor der christlichen Ära vor sich gegangen war. Diese
Annahme wurde einerseits durch die biblische Tradition unterstützt,
derzufolge zwischen dem Auszug aus Ägypten und der Errichtung des
Salomonischen Tempels in Jerusalem 4 80 Jahre vergangen waren
(I. Kön. 6, 1), andererseits durch die sogenannte „Israelstele“ des
Merneptah (aufgefunden von Flinders Petrie im Jahre 1896), aus der
zu ersehen war, daß Israel bereits im XIII. Jahrhundert in Kanaan
ansässig gewesen ist. Dieser Ansicht stimmten viele Forscher bei (unter
anderen die Orientalisten Ilommel und Böhl, wie auch die Herausgeber
der neuen wissenschaftlichen Bibel von Kautzsch, in der auch noch in
der letzten Ausgabe von 1922 in den chronologischen Tabellen das Jahr
i320 als dasjenige des Auszugs angegeben wird mit der Bemerkung,
daß in Zusammenhang mit den Tel-el-Amarna-Urkunden auch ein
früherer Zeitpunkt in Betracht kommen könnte). Eine verwandte An-
sicht vertritt auf seine Art der bekannte jüdische Chronologieforscher
Prof. Mahler (Budapest). Sich auf astronomische, der biblischen
Tradition angepaßte Berechnungen stützend, setzt er den Auszug um
i335 an, wobei er Ramses II. für den „Pharao des Auszugs“ hält, dessen
Regierungszeit er in die Jahre i347—1280 verlegt, in Abweichung von
den durch die modernen Ägyptologen annäherungsweise festgesetzten
Jahresdaten i3oo—12 35.
Gegen dieses viel zu frühe Datum des Auszugs spricht jedoch
folgender schwerwiegender Umstand: Die in der Bibel erwähnte Tat-
sache der Erbauung der Städte Pitom und Raamses ist ein deutlicher
Hinweis darauf, daß die ägyptische Knechtschaft in die Regierungszeit
Ramses II. fällt, was auch durch ägyptische Quellen indirekt bestätigt
wird. In den Papyri aus der Zeit Ramses II. finden sich nämlich zwei
Berichte von Aufsehern bei den königlichen Bauarbeiten, wonach sie
den Befehl ihrer Obrigkeit ausgeführt und die „Soldaten und Leute
Apuru (prjw, puerju), die für die große Tempelfestung (in der Stadt)
Ramses-meri-Amon Steine herbeischaffen“, mit Lebensmitteln versehen
hätten. Wenn man auch die Annahme der Identität von Apuru und
„Ibrim“ in Zweifel ziehen will, wozu einige Forscher in der Tat ge-
neigt sind, so bleibt doch die Tatsache der Erbauung der Stadt Raamses
durch Kriegsgefangene und fremdländische Asiaten, zu denen auch die
Hebräer-Israeliten gerechnet wurden, unbestreitbar, wobei sie eine Arbeit
verrichteten, wie sie gerade im Exodus geschildert wird: das Herbei-
schleppen von Steinen unter Aufsicht von Vögten. Diese Erwägungen
46o
Anhang
sprechen zugunsten der alten Meinung, der sich auch heute die Mehrzahl
der Gelehrten anschließt: daß nämlich die Israeliten unter Ramses II.
geknechtet wurden, daß folglich der Auszug erst unter seinem Nach-
folger, d. i. unter Merneptah, geschehen konnte. Da aber die modernen
Ägyptologen diese beiden Regierungen in das XIII. Jahrhundert (um
i3oo—1215) verlegen, so muß demnach der Zeitpunkt des Auszugs aus
Ägypten ungefähr um i2 3o—1215 angesetzt werden. Was jedoch den
Umstand betrifft, daß in der Stele Merneptahs „Israels“ als eines an-
sässigen Bevölkerungselementes Kanaans Erwähnung getan wird, so kann
er nur in der Weise erklärt werden, wie wir es im Text ($ 5) zu tun
versucht haben. Aus allen diesen Erwägungen heraus hielt ich es für
richtig, in der Frage des Auszugsdatums der herrschenden Meinung
durchaus zuzustimmen.
Der chronologische Streit kann somit zugunsten des späteren Datums
(XIII. Jahrh.) entschieden werden, ohne daß man gezwungen wäre, zu-
gleich das obenerwähnte Anfangsdatum der gesamthebräischen Geschichte
hinaufrücken zu lassen. Das zweite Jahrtausend vor der christlichen Ära
kann also den Rahmen für die drei folgenden geschichtlichen Epochen
abgeben: 1. für die Epoche des babylonischen Kanaan (ungefähr 2000
bis i5oo), in der die Übersiedlung der ersten Gruppen „Ibrim“, die wir
mit dem Kennwort „Abrahamiten“ bezeichnen wollen, aus Mesopotamien
nach Kanaan und die Ausbreitung dieser nomadisierenden oder halb-
seßhaften Völkerschaften auf dem Landgebiet Palästinas vor sich ging;
2. für die Epoche des ägyptischen Kanaan (um i5oo—1215), als die
Herrschaft Ägyptens in Syrien und Palästina die dortigen israelitischen
Nomaden, wie auch andere „Asiaten“, an die Ufer des Nil lockte, bis
die ägyptische Knechtschaft die Israeliten zur Rückkehr nach Kanaan,
welches gegen Ende des XIII. Jahrhunderts sich nach und nach von der
Obergewalt Ägyptens befreite, veranlaßte; 3. die erste Epoche des israeli-
tischen Kanaan (um 1215—io3o), d. i. die Zeitperiode der Eroberung
und der Richter, als es Israel möglich wurde, in Kanaan festen Fuß zu
fassen, dank dem Umstand, daß die Aufmerksamkeit beider Rivalen,
Babyloniens und Ägyptens, zu jener Zeit von Kanaan abgelenkt war.
Der Einfall der Ägypter unter Merneptah, der auf dem Siegesdenkmal
dieses Pharao erwähnt wird, war der letzte große Feldzug der ägyp-
tischen Heerscharen gegen Kanaan. Die in den Siegeshymnen erwähnte
Niederlage „Israels“ mag sich entweder auf die von früher her in
Kanaan ansässigen Israeliten oder aber auf eine der ersten aus der
Sinaiwüste gekommenen Gruppen beziehen.
Note 4: Die Primärformationen in der geistigen Kultur Israels
(zu S 10—11)
Nach der Entdeckung des Briefwechsels der kanaanäischen Fürsten
des XV. Jahrhunderts sowohl in Ägypten (Tel-el-Amarna) als auch in
Kanaan selbst (Taanak) liegt kein Grund mehr vor, an dem Vorhanden-
461
Anhang
sein ältester Schriftdenkmäler schon bei den Israeliten der Richterepoche
zu zweifeln. Solche Denkmäler mochten die auf Ton tafeln auf gezeich-
neten „Sinais-Gesetze sein: die heiligen^Gesetzestafeln“ und das Eben-
bild des Kodex Hammurapi, das „Bundesbuch“, die vielleicht in der
Lade Jahves aufbewahrt wurden. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß
schon um diese Zeit das israelitische Volk jene allen alten Völkern des
Orients gemeinsame Mythologie, die es sich während seiner langen Wan-
derungen zwischen Babylonien, Ägypten und Kanaan unvermeidlich an-
eignen mußte, in ein bestimmtes, der gemischten Volksreligion an-
gepaßtes System umzugestalten begann. Dies ist der Grund, warum wir
uns berechtigt glaubten, von der Schablone der bibelkritischen Schule,
die von einer altisraelitischen Kultur vor der Königsepoche nichts wissen
will, Abstand zu nehmen. Wenn man sich sowohl von dem blinden
Traditionalismus wie auch von dem halbblinden negativen Kritizismus
fernhält und einzig und allein der natürlichen geschichtlichen Evolution
Rechnung trägt, so vermag man auf Grund schon jetzt zur Verfügung
stehender Hinweise ein annähernd wahrheitsgetreues Bild der Ent-
wicklung Israels sogar für die früheste vor königliche Epoche zu ent-
werfen. Aus diesem Grunde haben wir im Text (§ io und n) den Auf-
bau der beiden ersten Formationen der israelitischen Kultur, der babylo-
nischen und der kanaanäischen, nachzubilden versucht. Der Geschichts-
schreiber ist m. E. berechtigt, ohne den Boden der Wissenschaft zu
verlassen, schon für diese Zeit zwischen einigen Elementen der Mytho-
logie und des Gewohnheitsrechts bei den Babyloniern und den Israeliten
einen Vergleich zu ziehen, vorausgesetzt, daß das ursprüngliche Knochen-
gerüst der biblischen Überlieferung aus seinen späteren literarischen Um-
hüllungen herausgelöst werden kann. Da jedoch eine derartige Analyse
nicht immer mit Sicherheit durchzuführen ist, haben wir uns in diesem
Kapitel nur auf einige wenige Parallelen aus dem Gebiete des Gewohn-
heitsrechts („Bundesbuch“ und Kodex Hammurapi) beschränkt und
weitere Parallelerscheinungen in jene Epoche hinausgeschoben, in der
mit der Entstehung des prophetischen Schrifttums (s. im Text § 5o
und 5i) zugleich auch der ursprüngliche Kern der Thora sich heraus-
bildete.
Wir beabsichtigten, hier nur das allgemeine Problem der Geschichte
der altisraelitischen Kultur anzudeuten, um den Ausgangspunkt, die
Keimanlagen dieser Kultur zu bestimmen. Es muß mit Entschiedenheit
daran festgehalten werden, daß die Ursprungsquelle der gesamt-
orientalischen Elemente des Judaismus in dem alten Babylonien der
Zeit Hammurapis und seiner Nachfolger, der Gebieter Kanaans, nicht
aber in dem neuen Babylonien Nebukadrezzars und seiner persischen
Nachfolger, der Beherrscher des späteren Judäa, zu suchen sei. Man
darf den Einfluß des Kulturmilieus des zweiten vorchristlichen Jahr-
tausends, in dem der Keim Israels zur Entwicklung kam, nicht außer
acht lassen, wie es die Schule Wellhausens und andere noch ent-
schiedenere Adepten der Theorie des „Esraismus“ zu tun pflegen.
462
Anhang
Andererseits muß aber auch vor den Übertreibungen des „Panbabylonis-
mus“ (Schule von Winckler und Delitzsch), der alle Quellen des Judais-
mus aus dem babylonischen Boden entspringen läßt, dringend gewarnt
werden. Im embryonalen Zustande hat sich Israel freilich von den
Säften des gemeinsamen Kulturbodens des alten Orients genährt; als es
aber aufgewachsen und zu einer geschichtlichen Individualität heran-
gereift war, verarbeitete es alle aus dem Mutterboden geschöpften
Elemente nach seiner Art und schuf im Laufe der Jahrhunderte eben
dasjenige, was zu einem unveräußerlichen Eigentum des Judaismus ge-
worden ist und später seinerseits die Entwicklung der antiken Kultur
des hellenistischen Orients befruchtete.
Note 5: Die Chronologie der Königszeitx)
Die Chronologie ist der wunde Punkt der Geschichte des alten
Orients überhaupt und namentlich der ältesten Periode der Geschichte
Israels. Das Fehlen einer durchgehenden Zeitrechnung für den ganzen
Orient und für jedes Land insbesondere macht es unmöglich, im Laufe
des dritten und zweiten vorchristlichen Jahrtausends die Zeiträume mit
Genauigkeit zu bemessen. In der Geschichte der zwei größten Zivilisa-
tionszentren jener Zeit, Mesopotamiens und Ägyptens, können die
chronologischen Daten nur annähernd nach den Königsdynastien oder
vermittels astronomischer Aufstellungen (nach den Jahren der Sonnen-
finsternisse, die auf einigen Denkmälern angegeben sind) berechnet
werden und weisen daher große, oft einige Jahrhunderte umfassende
Schwankungen auf. Es genügt zu sagen, daß die Zeit des Königs
Hammurapi, der zentralen Figur der altbabylonischen Geschichte, in den
wissenschaftlichen Handbüchern noch vor kurzem zwischen 2200—1900
vor der christlichen Ära schwankte, und erst jetzt ist die Mehrzahl der
Gelehrten übereingekommen, ein mittleres Datum, um 2000, anzu-
setzen. Sogar die weniger entfernte Regierungszeit Ramses II., die mit
einem wichtigen Momente der israelitischen Geschichte in Zusammenhang
steht, schwankt in der Chronologie zwischen dem XIV. und XIII. Jahr-
hundert (nach dem einen System: i347—1280, nach dem anderen:
1324—12 58 und nach den jetzt als richtig geltenden Daten: um i3oo
bis 12 35). Erst seit dem IX. vorchristlichen Jahrhundert haben wir es
mit mehr oder weniger feststehenden chronologischen Meilsteinen zu tun,
die für die israelitische Geschichte durch Konfrontierung mit den auf
*■) Literatur: Ed, Meyer, Geschichte des Altertums, 3. Aufl., Bd. I, 2. Hälfte;
Turajeff, Geschichte des Alten Orients, Bd. 1, S. 53—58, Petersburg 1913 (russ.);
Graetz, Geschichte der Juden, Bd. I, Note 19 (1874); Schräder, Die Keil-
inschriften und das Alte Testament (3. Aufl. 1913); King, Babylonian Chronicles
(London 1907); Guthe, Geschichte des Volkes Israel, S 43, 46, 49 (1899); Kittel,
Geschichte des Volkes Israel, Bd. II, S 25—26 (mit weiteren Literaturangaben);
Lehmann-Haupt, Israel, 312—320; Mahler, Handbuch der jüdischen Chronologie,
Leipzig 1916.
463
Anhang
die gleichen Ereignisse sich beziehenden, in den Denkmälern ver-
schiedener Länder erhalten gebliebener Angaben maßgebend werden. Die
in der Keilinschriftensammlung des Königs Assurbanipal entdeckten
Register der babylonischen Könige und der assyrischen Eponymen (be-
amteten Chronisten), ferner ägyptische Denkmälerinschriften sowie aus
der späteren Ptolomäerzeit stammende Papyri und schließlich die syn-
chronistischen Daten der Königsbücher ermöglichen es, zusammen-
genömmen, ziemlich genaue, nur in den Grenzen von Jahrzehnten
schwankende Daten für die Epoche des IX.—VI. Jahrhunderts fest-
zustellen.
Der Synchronismus der biblischen „Königsbücher“, der die parallelen
Regierungsjahre der Könige von Israel und Juda vom X. bis zum
VIII. Jahrhundert genau angibt, könnte bei all seinen Mängeln (den
Widersprüchen und Unstimmigkeiten in den Zahlenergebnissen beider
Parallelreihen) dennoch als ein guter chronologischer Maßstab gelten,
wenn er irgendein unbestreitbares Datum eines Weltereignisses zu seinem
Ausgangspunkt hätte. Um die biblische Chronologie verwerten zu
können, muß man von außen her einige Anhaltspunkte entlehnen in
Form von Ereignissen, die gleichzeitig in israelitischen und fremd-
ländischen Denkmälern erwähnt werden. Derartige Anhaltspunkte oder
Marksteine bieten die Feldzüge assyrischer Könige gegen Syrien und
Palästina im IX. und VIII. Jahrhundert. Hier die wichtigsten dieser
chronologischen Daten:
854. Die Beteiligung „Ahabs von Israel“ an der assyrienfeindlichen
Koalition, die in der Inschrift über die Schlacht Yon Karkar
erwähnt wird ($ 35).
842. Der dem assyrischen König dargebrachte Tribut des israeli-
tischen Königs Jehu, auf dem Obelisk Salmanassars II. (S 4o)
erwähnt.
738. Kontribution des Königs Menahem an Tiglat-Pileser ($ 43).
734-—733. Die Loslösung der nördlichen Gebiete des israelitischen
Reiches (S 44).
722—720. Einnahme Samariens laut der Inschrift Sargons ($ 4b).
701. Der Einfall Sanheribs nach assyrischen Inschriften (§ 54).
Die neueste wissenschaftliche Chronologie hat diese Datenmarksteine
mitten in die biblischen synchronistischen Jahreszahlen gestellt und ge-
wann auf diese Weise einen Maßstab der Zeitmessung. So kann z. B.
aus der Tatsache, daß Ahab sich an dem assyrienfeindlichen Bündnis im
Jahre 854 beteiligte und daß Jehu im Jahre 842 dem assyrischen König
einen Tribut darbrachte, der Schluß gezogen werden, daß das Jahr 854
das letzte oder vorletzte Regierungsjahr Ahabs und das Jahr 842 das
erste Regierungs jahr Jehus war, da zwischen diesen beiden Zeitpunkten
kaum Raum genug übrigbleibt, um die Regierungen der Nachfolger
Ahabs, Ahasjas und Jorams einzuschieben, denen die Bibel i4 Jahre
zuspricht (was um zwei Jahre zu hoch gegriffen ist). Von dem Jahre
854 zurückgehend und die Dauer der Regierung Ahabs der Tradition
464
Anhang
zufolge auf 22 Jahre veranschlagend, gewinnen wir als das Anfangs-
datum dieser Regierung das Jahr 875. Indem wir ferner die Jahre der
vorhergehenden Regierungen bis Jerobeam I. zusammenzählen, erhalten
wir das ungefähre Datum des Todesjahres Salomos und des Zeit-
punktes der Reichstrennung, also ungefähr 980. Dies ermöglicht es
nun weiter, das Jahrhundert der ersten drei Könige nach der Summe
der biblischen Zahlen, die die Dauer ihrer Regierungen angeben
(20 ~|- 4o -f- 4o), zu bestimmen: io3o—980. Die für uns in Dunkel
gehüllte Richterzeit, für die das „Buch der Richter“ nur sehr mangel-
hafte Daten liefert, ist demnach in den engen Zeitraum zwischen io3o
und ungefähr 1200 zu verlegen, wenn man, auf die oben angeführten
Erwägungen sich stützend (Note 3), den Auszug aus Ägypten in die
Regierungszeit des Pharao Merneptah um i2 3o—1215 und die Voll-
endung der ersten Eroberung Kanaans in die Zeit um 1200 verlegt.
Als Ergebnis aller dieser Berechnungen erhalten wir die hier fol-
gende chronologische Tabelle für die älteste, in diesem Bande dargestellte
Geschichte des israelitischen Volkes. Aus dem Vorhergehenden muß es
klar sein, daß die Daten hier nur mit annähernder Genauigkeit an-
gegeben sind. Um die Übereinstimmung des biblischen Synchronismus
mit den eben erwähnten chronologischen Hauptstützpunkten zu erzielen,
war es notwendig, manche Zahlenangaben der Königsbücher zu be-
richtigen, indem die Regierungsdauer des einen oder des anderen Königs
gekürzt werden mußte, was um so berechtigter erscheint, als wir in
den Quellen selbst hier auf Unstimmigkeiten sowohl der Summanden als
auch der Summen bei den beiden Parallelreihen stoßen *):
Um 2000—i5oo. Wanderungen der nomadisierenden „Ibrim“ zwi-
schen Mesopotamien und dem babylonischen Kanaan.
„ i5oo—1215. Wanderungen der Israeliten zwischen dem ägyp-
*) Auf einem entgegengesetzten Standpunkt steht das genannte Werk von
Mahler: dieser will ganz auf die von der Assyriologie gelieferten Stützpunkte
verzichten, um den biblischen Synchronismus aufrechtzuerhalten, was ihn aller-
dings dazu veranlaßt, die Widersprüche des letzteren auf künstliche Weise zu
schlichten. So muß er z. B. die Identität des in der assyrischen Inschrift von
854 erwähnten Ahab von Israel mit dem&König Ahab bestreiten, dem er infolge-
dessen eine Regierungszeit zwischen 898—877 anweisen muß. Der Usurpator
Menahem regiert, diesen Aufstellungen zufolge, zwischen 762—762, obwohl er
nach der assyrischen Inschrift erst im Jahre 738 Tiglat-Pileser den Tribut ent-
richtet. Es ist kaum zweckdienlich, unsere auch so schon auf sehr schwanken
Füßen stehende Chronologie der einzigen ihr von den assyrischen Daten gebotenen
Krücke zu berauben.
In unserer Tabelle machten wir uns für die Königszeit im allgemeinen das
System Kittels (a. a. 0. Bd. II, $ 26) zunutze, wobei wir nur um ein paar
Jahre dessen Daten verschieben, da wir den Tod Salomos nicht in das Jahr 982
verlegen, sondern es bei der runden Zahl g3o bewenden lassen. Auch in den
Berichtigungen weichen wir hie und da von Kittel ab, wie es in den An-
merkungen zum Text selbst hervorgehoben ist.
30 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
465
Anhang
tischen Kanaan und Ägypten. Ägyptische Knechtschaft und
Auszug.
1215—io3o. Eroberung Kanaans und Richterzeit.
io3o—1010. Regierung Sauls.
1010—970. „ Davids.
970—930. „ Salomos.
Die Reichstrennungsepoche:
Reich Israel.
Reich Juda.
Jerobe am I. p3o—908. Rehabeam 930—915.
Nadab 908—906. Abia 915—912.
Baasa 906—886. Asa 912—874.
Omri 885—875.
Ahab 875—853. Josafat 874—85o.
Alias ja 853—852. Jehoram 85o—843.
Joram 802—842. Ahasja 843—8 \ 2.
Jehu 8^2-814. Atalja 8'42—836.
Joahas 8i4—797- Joas 836—796.
Joas 797—78r- Amazia 796—782.
Jerobeam II. 781—740. Usia-Asarja 782—740.
Menahem 740—736. Jotam 740—735.
Pekachja 736—735.
Pekach 735—733. Ahas 735—720.
Hosea 733—725.
Der Fall Samariens 722—720.
Das Reich Juda:
Hiskia 720—690.
Ma nasse 690—64o.
Amon 64o—638.
Josia 638—608.
Jojakim 607—597.
Jo jakin 597-
Zedekia 597—586.
Babylon. Exil 586—538.
Epoche der persischen
Herrschaft:
Erste Restauration 537—516.
Zweite Restauration 458—420.
Das Jahrhundert der Theokratie 420-
-333.
Note 6: Die Zusammensetzung der Thora und der Geschichtsbücher1)
(zu S 10—11, 5o—5i, 58, 67, 83—84)
Die Fragmententheorie bezüglich der Thora und der biblischen Ge-
schichtsbücher ist seit langem schon ein Axiom der alttestamentlichen
!) Aus der reichhaltigen Literatur ist das Wesentlichste in der Bibliographie
zu S 5o, 5i, 83, 84 bereits angeführt. Das Problem ist namentlich in den
466
Anhang
Wissenschaft geworden. Ihrem Prinzip nach ist diese Theorie von den
mannigfachen Schichtungen der Texte unbestreitbar, indessen bedürfen
die auf ihrer Grundlage errichteten komplizierten Gedankenkombina-
tionen noch immer einer eingehenden Nachprüfung. Nach wie vor bleibt
in der Bibelkritik die Hypothese von den vier Quellen oder vier Rezen-
sionen der Thora (vgl. § 5o) vorherrschend. Wir müssen darauf ver-
zichten, die lange Geschichte dieser Hypothese von ihrem ersten Auf-
keimen bei Astrnc, der im Jahre 1753 das Nebeneinanderbestehen der
Texte des Jahveisten und des Elohisten entdeckt hatte, bis zu ihrer
endgültigen Ausbildung in dem wohlaufgebauten System von Wellhausen
in den achtziger Jahren des XIX. Jahrhunderts, hier nachzuerzählen. Wir
wollen nur auf die letzten wissenschaftlichen Ergebnisse auf diesem Ge-
biete hin weisen, so wie sie in der letzten Auflage der deutschen wissen-
schaftlichen, von Kautzsch und Bertholet unter Mitwirkung hervorragen-
der Fachleute herausgegebenen Bibel in feste Form gebracht sind.
Im Texte des Penta- oder Hexateuch (wenn man das Buch Josua
hinzunimmt) werden zwei Grundschichten unterschieden: der Text des
Jahveisten (J) und der Text des Elohisten (E). Der erste ist im Reiche
Juda im IX. und VIII. vorchristlichen Jahrhundert abgefaßt worden,
der zweite dagegen im Reiche Israel, und zwar im VIII. Jahrhundert.
Weiterhin werden im Texte des Jahveisten selbst je nach der Dar-
stellungsweise zwei weitere Elemente voneinander gesondert: ein älteres
(J1) und eines jüngeren Datums (J2). Die beiden parallelen Grundtexte
bilden die ursprüngliche Bearbeitung der ältesten Legenden und der
ersten Aufzeichnungen des Volksepos von der Art des ,,Buches der
Kriege Jahves“. Im VII. Jahrhundert hat ein unbekannter Redaktor (R)
die Texte des Elohisten und des Jahveisten vereinigt, indem er manche
Erzählungen einfach in ihren beiden Lesarten nebeneinanderstellte,
andere dagegen in eine Einheit zusammenschweißte (RJE). Gegen Ende
des VII. Jahrhunderts, unter Josia, entstand nun das Buch des Deute-
ronomiums (D), das die prophetische Auffassung des Judaismus zum
Ausdruck brachte. Als dann im babylonischen Exil der Redaktor dieses
Buch mit dem jahveistisch-elohistischen Kern der ersten Thora- und
Geschichtsbücher vereinigte, fügte er in die alten Texte neue Fragmente
ein, vornehmlich in Form von Geboten und Belehrungen; gänzlich
gearbeitet wurden von ihm die chronographischen Bücher der Richter,
Samuelis und der Könige, in denen die Ereignisse durchgängig im Geiste
des strengen, unnachsichtigen Prophetismus dargestellt sind (RJED). In
derselben Zeitperiode des babylonischen Exils begann in dem Kreise um
Jeheskel eine neue, die theokratische, priesterliche Auffassung des
Judaismus feste Formen anzunehmen: so entstand zuerst das „Buch der
zahlreichen „Einleitungen“ in das Alte Testament bearbeitet, so von Cornill,
Steuernagel u. a. Geschichte und Theorie der Bibelkritik sind ausführlich dar-
gestellt bei Kittel, a. a. O. Bd. I, S 22—27, und in der populären Schrift
Staerk: Die Entstehung des Alten Testaments (2. Aufl. 1918).
30*
Anhang
Heiligkeit“ — die Kapitel 17—26 des III. Teiles des Pentateuch, des
Leviticus, dem daraufhin die übrigen Kapitel dieses Priesterkodex (P)
folgten. Dieser Kodex wurde dann unter Esra veröffentlicht und in
den Bestand der Thora auf genommen, was zugleich eine neue Ergänzung
und Beleuchtung der bereits vorliegenden Texte des Jahveisten, Elohisten
und Deuteronomisten in Esras Geiste mit sich brachte. So vollzog sich
die vierte Rezension des Pentateuch und der Geschichtsbücher (R JEDP).
Alle diese im V. vorchristlichen Jahrhundert in eine Einheit zusammen-
geschweißten Rezensionen ergaben nun den uns vorliegenden kanoni-
sierten Text der Thora und der sogenannten „Ersten Propheten“.
Wie die biblischen Texte auf Grund dieser komplizierten Hypothese
auseinandergehalten werden, ist aus einigen der Bibel von Kautzsch ent-
nommenen Beispielen zu ersehen. So wird das erste Kapitel der Genesis,
die Erzählung des Elohisten von der Weltschöpfung, der priesterlichen
Rezension (P) zugewiesen aus dem Grunde, weil hier mit der Kosmogonie
die Idee der Heiligkeit des Sabbats in Zusammenhang gebracht wird. Die
folgenden Kapitel 2—4 werden hingegen dem Jahveisten zugeschrieben,
wobei einzelne Abschnitte bald J1, bald J2 zugesprochen werden. Ka-
pitel 5, als ein rein schematisches, chronologisches, fällt wiederum P zu,
und nur dessen Schluß hat J zu seinem Urheber. Weiterhin folgen*
wechselweise Fragmente aus J und P bis Kapitel 20, wo wieder einmal
der ungetrübte E-Text einsetzt, der indessen in den weiteren Kapiteln
von neuem von J- und P-Fragmenten durchbrochen wird. Als besonders
bezeichnendes Beispiel derartiger Textzersplitterung mag Kapitel 48 der
Genesis erwähnt werden, wo 22 Verse in zwölf einander ablösende Frag-
mente zerfasert werden, von denen fünf mit dem Merkzeichen E, fünf
mit J, eins mit P und eins mit einem Fragezeichen versehen werden.
So strotzen denn überhaupt alle Seiten des Hexateuch in der Ausgabe
von Kautzsch von den an den Rändern angebrachten Zeichen, die die
als wahrscheinlich angenommenen Quellen und Rezensionen vermerken:
J, Ji, J2, E, J + E, JE, D, D1, D2, P, Ph, Pg (Ph == Priesterliches
Heiligkeitsgesetz, Kap. 17—26 des Leviticus; Pg = Priesterliche Grund-
schrift: alle Opferdiensl- und Tempelsatzungen in Lev. und anderen
Büchern) u. a. m. In den Geschichtsbüchern der Richter, Samuelis und
der Könige kommen zu diesen Zeichen noch folgende hinzu: H (Helden-
geschichten aus einer Sammlung heroischer Sagen), H1, H2, HJ, HE,
r (Richter), N, N1 (Quellen aus der Zeit des babylonischen Exils), M
(Midraschim oder apokryphische Glossen), K und K1 oder Sa (Auf-
zeichnungen aus der Salomonischen Zeit), L und L1 (Lade Jahves, aus
einer angeblich im IX. Jahrhundert verfaßten Geschichte der „Lade
Jahves“) u. dgl. m.
Alle diese überfeinen Unterscheidungen in den Texten mögen wohl
als Arbeitshypothesen nutzbringend sein, indem sie die Möglichkeit an
die Hand geben, die Zusammensetzung der alten Quellen haarscharf zu
prüfen; sie sind jedoch durchaus abträglich, wenn sie ohne weiteres als
literaturgeschichtliche Tatsachen hingestellt werden. Jede allzu einseitig
468
Anhang
und schroff durchgeführte Hypothese führt letzten Endes ad absurdum.
Eine auf die Spitze getriebene Zerbröckelung des Bibeltextes muß
schließlich seine Verstümmelung zur Folge haben, zumal gar keine
Sicherheit vorhanden ist, daß die anatomische Sezierung dieses leben-
digen literarischen Organismus in zutreffender Weise gehandhabt wird.
Aus diesem Grunde sahen wir uns in unserer Darstellung veranlaßt, alle
willkürlichen Schlußfolgerungen aus der Fragmentenhypothese beiseite
zu lassen und nur das Grundprinzip hervorzuheben, wonach in dem aus
verschiedenartigen Elementen zusammengesetzten biblischen Schriften vier
verschiedene Quellen oder vier Rezensionen grundsätzlich, nicht aber bis
in die letzten Einzelheiten hinein, zu unterscheiden sind. In der Über-
einanderschichtung dieser Bestandteile halten wir die einzelnen Sagen
nicht den formal-literarischen, sondern den konkret-geschichtlichen Merk-
malen gemäß auseinander. So sehen wir den Unterschied der zwei
ältesten Quellen nicht in den äußeren Anzeichen des „Elohismus“ und
des „Jahveismus“ (bekanntlich wird dieser Unterschied im Text selbst
gar nicht so streng durchgeführt und an sehr vielen Stellen werden die
Bezeichnungen „Elohim“ und „Jahve“ wechselweise gebraucht), sondern
gründen ihn auf jener geschichtlichen Annahme, daß in der Reichs-3
trennungsepoche das Schrifttum sich parallel in den beiden Reichen
entwickelte, so daß an jeder dieser Parallelerscheinungen die ganze
Verschiedenheit der Kulturzustände und der politischen Tendenzen in
Samarien und Jerusalem, in Ephraim und Juda, zum Ausdruck kommen
mußte. Es sind also hinsichtlich der ersten zwei Bücher des Pentateuch
realerweise nicht so sehr der Elohist und der Jahveist auseinanderzu-
halten, als der Ephraimit und der Judäer. Oben ($ 5i) ist nur auf
einige bezeichnende Unterscheidungsmerkmale dieser beiden Texte, die
aber leicht vermehrt werden könnten, bereits hingewiesen worden.
Diesen ersten Verfassern eben ist der größte Teil der ersten zwei Bücher
der Thora und einiger Abschnitte des vierten Buches zuzusprechen*
Auch das kosmogonische Anfangskapitel der Genesis rührt wahrscheinlich
von einem dieser Verfasser, und zwar dem Ephraimiten, her, der hier
den allgemeinen Namen „Elohim“ in der Erzählung von der Welt-
schöpfung, da Gott sich unter dem nationalen Namen Jahves noch nicht
offenbaren konnte, als den am meisten angebrachten verwendete1). Für
den mehr rechtgläubig eingestellten judäischen Verfasser der zweiten
Erzählung von der Weltschöpfung (Kap. 2, 4—25) mochte diese Er-
wägung nicht ausschlaggebend sein, weshalb er auch überall den Namen
Jahve oder Jahve-Elohim gebraucht, als wollte er namentlich durch diese
letzte Bezeichnung die Identität des Welt- und des nationalen Gottes
*■) Der Redaktor P, dem man willkürlicherweise die gesamte „elohistische“
Kosmogonie zuschreiben will, mag ihr die beiden abschließenden Verse über
die Heiligkeit des Sabbats als des göttlichen Ruhetages nach den sechs Schöpfungs-
tagen (Gen. 2, 2—3) nachträglich angehängt haben, worauf wohl auch ihr loser
Zusammenhang mit der vorauf gehenden Erzählung zurückzuführen ist.
Anhang
besonders betonen. Dabei schöpften beide Verfasser aus noch älteren
Quellen, aus mündlichen Überlieferungen, die in hohem Maße mit
babylonischen Sagen vermischt waren (daher die teilweise Überein-
stimmung der Kosrnogonien, der Sintflutlegenden, u. dgl. m.), aber auch
aus ihnen bereits vorliegenden Schriftwerken, wie das in Prosa oder in
Versen abgefaßte Volksepos („Sefer ha’jaschar“, ,,Milchamoth Jahve“),
die ,.Sinaigesetze“ (Dekalog Und „Bundesbuch“) sowie die ursprüng-
lichen Chroniken aus den Zeiten Davids und Salomos und manche
andere Schriftdenkmäler. Als dann zu diesen Texten des IX. und
A III. Jahrhunderts im VII. Jahrhundert das Buch des Deuteronomisten
hinzukam, wurden auch diese älteren Texte durch prophetische Aus-
legungsglossen, belehrende Schlußfolgerungen aus den geschichtlichen
Erzählungen, durch ethische Motivierung der Gesetze (wie z. B. im
„Bundesbuch“, Ex. 22, 20—26 und sonst) erweitert und ergänzt. Im
nächstfolgenden Jahrhundert, im babylonischen Exil, wurde außerdem
auch der Chronikenstoff aus der Königszeit in prophetischem Geiste um-
gearbeitet. Noch später, im Zeitalter der ersten und zweiten Restauration,
wurde endlich in den Text der Thora auch der den Laien vorher un-
zugängliche sakrale Kodex mitaufgenommen, der das dritte Buch (Le-
viticus) bildete und es mit sich brachte, daß auch in den anderen Teilen
der Thora ganz neue Kapitel eingefügt wurden (z. B. Ex. 25—4o; Num.
Kap. 1—9, 18, 28—29 u. a.).
So stellt sich in großen Zügen der allgemeine Prozeß der Auf-
schichtung des biblischen Schrifttums dar. Das Eindringen in weitere
Einzelheiten, auf der verlockenden Spur gewagter Hypothesen, muß der
Historiker geflissentlich vermeiden, wenn er auf dem Boden der Tat-
sachen zu bleiben und die Grenzlinie zwischen wissenschaftlicher For-
schung und waghalsiger Hypothesensucht strengstens einzuhalten be-
strebt ist.
Note 7: Von den Einwirkungen des Parsismus (zu $ 79 und 82)
In dem vorliegenden Bande glaubten wir es unterlassen zu dürfen,
die landläufigen Hypothesen von der Einwirkung des Parsismus oder
der Religion des Zoroaster auf den Judaismus zur Zeit der ersten Epoche
der persischen Herrschaft in Betracht zu ziehen. Bei dem heutigen
Stande der Forschung ist es keinesfalls möglich, mit Sicherheit von
einer derartigen Einwirkung zu reden, da nicht einmal die allgemeine
Frage hinlänglich geklärt ist, wieweit die Religion der Avesta, als eine
Reformation der ursprünglichen persischen Religion unter den Achäme-
niden, den Nachfolgern des Kyros, in Persien selbst bereits Verbreitung
gefunden hat. Deshalb halten wir es auch für verfrüht, Anspielungen
auf den Parsismus schon in dem biblischen Schrifttum der persischen
Epoche zu suchen. Manche erblicken eine derartige Anspielung in den
Worten des unbekannten Propheten aus den Zeiten des Kyros und
470
mmwmm
Anhang
Darius I. (Jesaja 45, 6—7): „Auf daß man erfahre, von der Sonne Auf-
gang und der Sonne Niedergang, daß außer mir keiner sei. Ich bin
Jahve, und keiner mehr. Ich mache das Licht und schaffe die Finsternis,
gebe Frieden und schaffe das Übel“ (d. h. bin der Urheber von Glück
und Unglück). In diesen Worten will man eine Verwahrung des jüdi-
schen religiösen Monismus gegen den Dualismus der Avesta erblicken,
gegen die Lehre von der Herrschaft zweier nebengeordneter göttlicher
Mächte, des Ormuzd und des Ahriman, der Prinzipien des Lichtes und
der Finsternis, des Guten und des Bösen. Man ging so weit, daß man
sogar einen Protest gegen die parsistische Feueranbetung in den Worten
desselben Anonymus (Jes. 5o, 11) zu entdecken glaubte: „Ihr alle, die
ihr ein Feuer anzündet, mit Flammen gerüstet, gehet selbst hin in die
Glut eures Feuers und in die Flammen.“ Auch wenn man sich dazu
entschließt, diese beiden Stellen für spätere Einfügungen zu halten,
liegt noch kein Grund vor, einen Nachklang parsistischer Glaubens- und
Kullformen, die erst in viel späterer Zeit für das Judentum in Babylo-
nien Bedeutung erlangten, aus ihnen herauszuhören. Dagegen sind für
die Zeit der ersten Epoche der persischen Herrschaft unter den Achäme-
niden wohl Spuren assyrisch-babylonischer Kultureinwirkungen, wie im
Text oben ($ 82) hervorgehoben, nachweisbar, nicht aber solche per-
sischen Ursprungs. Eine unzweifelhafte Einwirkung des Parsismus wird
sich erst mehrere Jahrhunderte später, in der Epoche der Sassaniden,
mit dem III. nachchristlichen Jahrhundert beginnend, geltend machen,
als sich in Babylonien ein wichtiges Hegemonie-Zentrum für die ge-
samte Judenheit bildete und die Juden den Parsismus als Staatsreligion
bei den religiösen Verfolgungen zu spüren bekamen. Im Babylonischen
Talmud läßt sich die Spur des Einflusses der Avestareligion in einer
ganzen Reihe von Glaubenselementen und Bräuchen (Dämonologie,
rituelle Reinheitspflege) verfolgen, andererseits können aber auch Ein-
wirkungen in umgekehrter Richtung, d. i. des Judaismus auf den Par-
sismus, sogar unmittelbare Entlehnungen der Avesta aus der Bibel mit
guten Gründen in Erwägung gezogen werden. In dem großen Gemisch
der Glaubens- und Kultformen, das in den dazwischenliegenden Jahr-
hunderten des hellenistischen Orients und der Anfänge des Christentums
den universalen religiösen Synkretismus zeitigte, waren überall Elemente
des Parsismus anzutreffen. Aus diesem Gemisch eben, dem auch jüdische
Elemente beigemengt waren, machte sich die jüdische Diaspora auch
manches zu eigen, was auf das damalige Schrifttum der Apokryphen
und der Pseudoepigraphen natürlicherweise abfärbte. Näheres darüber
in den folgenden Bänden dieser „Geschichte“ 1).
1) Die unlängst erschienene Monographie des Kölner Gelehrten Dr. Schef-
telowitz über die wechselseitigen Beziehungen des Parsismus und des Judaismus:
„Die altpersische Religion und das Judentum“, Gießen 1920, bietet reichhaltigen
Stoff für die Klärung des Problems, das darin im allgemeinen in durchaus zu-
treffender Weise formuliert ist (S. 6).
BIBLIOGRAPHIE
Quellen- und Literaturnachweise
S i. (Das vorisraelitische Palästina)
Bibel*■), Genesis, Kap. io: Völkertafel auf Grund der ethnographischen
Kenntnisse des alten Israel; Parallelen dazu: I. Chron. Kap. i; Josephus Flavius,
Jüdische Altertümer, Buch I, Kap. 6; Gunckel, Die Genesis übersetzt und erklärt,
3. Aufl. 1910. — Windeier, Keilinschriftliches Textbuch zum A. T. (3. Aufl.
1909), 1—13; Greßmann, Altorientalische Texte und Bilder zum A. T., Bd. I,
105—107, 129—134, 235—249 (Tübingen 1909). — Knudtzon, Die El-Amarna-
Tafeln (1910); Kittel, Geschichte des Volkes Israel, Bd. I, 4* Aufl. 1921,
S 8—14* — Maspero, Histoire ancienne des peuples de l’Orient, 4-e ed. 1886
(5. erweiterte und mit Illustrationen Versehene Ausgabe in drei Bänden, Paris
1894—1899); Ed. Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. I, 3. Aufl. I9i3;
Turajeff, Geschichte des alten Orients, Bd. I, S. 90 f., 263 f,, 293 f., Peters-
burg 1913 (russisch); Breasted, Geschichte Ägyptens, übersetzt von H. Ranke
(1911), 196—208, 253 ff., 291, 3io—3i4, 325,338—339.
S 2. (Ibrim und Israel)
Genesis, Kap. 12—39; Gunckel, Genesis, 160 f.; Bernfeld, Mebo lekitbe
ha’kodesch, Bd. I, 50—94 (Berlin 1923); Wellhausen, Prolegomena zur Ge-
schichte Israels, 1905; Hommel, Die altisraelitische Überlieferung in inschrift-
licher Beleuchtung (1897); idem, Geschichte d. alten Morgenlands (1912), § 16:
Abraham der Hebräer; Winckler, Abraham als Babylonier, Joseph als Ägypter
(1903); Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des alten Orients (1906); Renan,
Histoire du peuple d’Israel, t. I, livre I, chap. 5—9 (1887); Ed. Meyer, Die
Israeliten und ihre Nachbarstämme (1906); Kittel, Geschichte, Bd. I, S 29—36;
Lehmann-Haupt, Israel, seine Entwicklung im Rahmen der Weltgeschichte (1911),
8—27.
S 3- (Ägypten)
Gen. 89—48; Exod. 1—24, 32—34; Num. i3—25; Bernfeld, Mebo usw. I,
g4—i33; Dillmann, Kommentar zu Exodus u. Leviticus, 3. Aufl. 1897; idem,
Kommentar zu Numeri usw. (1886); Gunckel, Genesis, Kap. 3g—48; Baentsch,
Kommentar zu Exodus, Leviticus u. Numeri (1905). — Kittel, Gesch., Bd. I,
*) Wir empfehlen die beiden folgenden wissenschaftlichen Bibelausgaben:
I. Biblia Hebraica, herausgegeben von Kittel (Leipzig 1906, 1910), die den
hebräischen massoretischen Text mit Beifügung von Lesarten der Septuaginta
und älter Abschriften des Originals und der Übersetzungen wiedergibt; 2. die
deutsche Übersetzung der Bibel mit wissenschaftlichen Einleitungen zu jedem
Buche, Kommentaren und mit Siöhtung des Stoffes nach dem bibelkritischen
System (Die Heilige Schrift des Alten Testaments, herausgegeben von Kautzsch
und Bertholet, 4- Aufl., Bd. I—II, Tübingen 1922—1923).
472
Anhang
S 37—-44; Wellhausen, Prolegomena usw., passim; idem, Israelitische und jüdische.
Geschichte, Kap. II; Meyer, Israeliten usw., 19—27; Greßmann, Mose und seine
Zeit: ein Kommentar zu den Mosessagen (1913); Böhl, Kanaanäer und Hebräer,
1911; Hommel, Geschichte d. Morgenlands, S 21; Spiegelberg, Der Aufenthalt
d. Israeliten in Ägypten, 1904; Breasted-Ranke, Geschichte Ägyptens, 345,
358—362; Mahler, Handbuch der jüdischen Chronologie (1916), 118—i32; idem»
Jezias Mizraim („Dwir", Bd. I, 1—13, Berlin 1923).
S 4- (Kanaan)
Bach Josua u. dazu Kommentar von Holzinger in der deutschen Bibel von
Kautzsch-Bertholet (1922). — Benzinger, Hebräische Archäologie, 2. Aufl. 1907,
S 4—13; Hommel, Grundriß der Geographie und Geschichte des alten Orients
(1904—1912); Buhl, Geographie des alten Palästina, 1896 (mit Kartenmaterial);
Kittel, Gesch., Bd. I, S 3—4; Wellhausen, Gesch., Kap. I; Pietschmann, Ge-
schichte der Phönizier (1889); Buhl, Geschichte der Edomiter (i8g3); Schiffer*
Die Aramäer (1911); Böhl, Kanaanäer u. Hebräer; Clay, The empire of the
Amorites (1919); Die Geschichtsatlanten von Kiepert, Guthe u. a.
S 5. (Die Eroberung Kanaans)
Numeri, Kap. 21; Buch Josua; Richter, Kap. 1—8; Bernfeld, Mebo usw. I,.
i33—145; II, 5—3o; Stade, Geschichte d. Volkes Israel, Bd. I (1889); Steuer~
nagel, Die Einwanderung der israelitischen Stämme in Kanaan, 1901; Sellin,.
Gilgal: Ein Beitrag zur Geschichte der Einwanderung Israels in Palästina (1917)^
— Kittel, Gesch. I, § 45—48; Bd. II, S 1—3. — Greßmann, Altorient. Texte,
191—195 (die ,,Israelstele*' zu Ehren Merneptahs); Lehmann-Haupt, Israel, 36 ff..
S 6—7. (Die Richterzeit)
Richter, Kap. 2—12 u. dazu Kommentar von Kittel (in der Ausg. von
Kautzsch); Bernfeld, Mebo II, 3i ff. — Meyer, Die Israeliten, 487 ff.; Greß-
mann, Älteste Geschichtsschreibung (Die Schriften des Alt. Test., Bd. II, 1911);
Wellhausen, Isr. Gesch. 39—46; Kittel, Gesch. II, § 3—6; Renan, Histoire, t. I,
liv. II, chap. 8—11.
$ 8—9. (Die Philister. Die Königswahl)
Richter, Kap. i3 f.; I. Sam., Kap. 1—12; Bernfeld, Mebo II, 55 ff. —
Über den Ursprung der Philister: W. Max-Müller, Asien und Europa nach alt-
ägyptischen Denkmälern (1893); Lichtenberg, Beiträge zur Geschichte von
Kypros (1906); Macalister, The Philistians, London 1914. — Wellhausen, Gesch..
52 ff.; Kittel, Gesch. II, $ 10—11; Meyer, Israeliten, 420 ff.
S io—11. (Die älteste Kultur)
Schräder, Die Keilinschriften und das Alte Testament, 3. Aufl., neu be-
arbeitet von Winckler und Zimmern, igo3; Jeremias, Das A. T. im Lichte des
Alten Orients, 1906; Greßmann, Altorientalische Texte (1909), i4o—171;.
Köhler und Peiser, Hammurabis Gesetz, Bd. I—IV, 1909—1910; Winckler,
Hammurabis Gesetze (deutsche Übersetz. 1909); D. H. Müller, Die Gesetze
Hammurabis und ihr Verhältnis zur mosaischen Gesetzgebung, Wien 1903; Wol-
koff, Die Gesetze des Königs Hammurapi (russ. Übersetz, mit Einleitung und
Anmerk., Moskau 1914); Sellin, Der Ertrag der Ausgrabungen im Orient (1904);
Greßmann, Die Ausgrabungen in Palästina und das Alte Test. (1908); Vincent,
Canaan d’apres l'exploration recente (1907); Kittel, Die alttestamentliche Wissen-
Anhang
schaft in ihren wichtigsten Ergebnissen (1912); idem, Die Religion des Volkes
Israel (1921); idem, Gesch. II, S 7—9; IV- R» Smith, Religion of the Semites,
1894; Bertholet, Die Kulturgeschichte Israels (1919); Benzinger, Hebräische
Archäologie, S §9—61.
S i3—16. (Saul)
I. Sam., Kap. i3—3i; II. Sam., Kap. 1; I. Chron., Kap. 10; Bernfeld,
Mebo II, 63—77; Kittel, Die Bücher Samuel übersetzt und erklärt (in der
deutschen Bibelausg. von Kautzsch); idem, Geschichte II, S n—13; Well-
hausen, Gesch. 55—61 (1907); Stade, Geschichte d. Volkes Israel I, 2i5—208;
Renan, a. a. 0. t. I, liv. II, chap. i5—16; Beer, Saul, David und Salomo (1906).
S 17—22. (David)
II. Sam., Kap. 2—24; 1. Könige, Kap. 1—2; I. Chron., Kap. 11—20;
dazu Kommentar zu Sam. u. Kön. von Kittel in der Bibelausgabe von Kautzsch
und in dem Handkommentar von Nowack; Bernfeld, Mebo II, 78—92. — Stade,
Gesch. 1, 258—299; Wellhausen, Gesch. 61—67; Kittel, Gesch. II, S i4—17;
Beer, Saul, David und SaJomo (1906); Baentsch, David und sein Zeitalter (1907);
Renan, a. a. O. t. II, liv. III, chap. 1—8 (tendenziös abfällige Beurteilung der
Person Davids); Lehmann-Haupt, Israel, 60—65.
S 23—26. (Salomo)
I. Kön., Kap. 3—11; II. Chron. 1—9 (dazu Komment, von Kittel zu Kön.
u. von Rothstein zu Ghr. ibid); Josephus Flavius, Gegen Apion. I, 17—18 (über
den König Hiram). — J}ietschmann, Geschichte d. Phönizier (1889); Stade,
Gesch. 1, 299—343; Renan, ibid. chap. 9—14; Wellhausen, Gesch. 67—70;
Lehmann-Haupt, Israel, 65—68; Kittel, Gesch. II, S 18—24; Meyer, Israeliten,
355—370; Benzinger, Archäologie, S 62—63 (der salomonische Tempel).
S 28—3i. (Die Reichstrennung)
I. Kön., Kap. 12—16; II. Chron., Kap. 10—16; Bernfeld, Mebo II, 98 ff.—
Grcßrnann, Altorientalische Texte I, 2ÖI—203 (das Denkmal des Schischak);
Meyer, Geschichte d. alten Ägyptens, 33o ff. (1909); Lehmann-Haupt, Israel,
68—72. Kittel II, $ 25 (Quellen), 26 (Chronologie) und 27—29; Alt, Israel
und Ägypten (1909); Turajeff, Geschichte des alt. Orients (russisch) II, 28—4i;
Breasled-Ranke, Geschichte Ägyptens, 392—393.
S 32—39. (Die Omriden)
I. Kön., Kap. 16—22; II. Kön., Kap. 1—11; II. Chron. 17—23 (dazu
Komment, von Eisfeldt u. Rothstein in der Bibel von Kautzsch); Bernfeld,
Mebo II, 101—122; Winckler, Keilinschriftliches Textbuch, i4—2Ö; Greßmann,
Allorient. Texte 1, 108—111 (assyr. Inschriften) und 172—173 (Inschrift Mesas;
vgl. 11, i33—135 — Abbildungen der Denkmäler); Jeremias, Das Alte Test,
im Lichte d. alt. Orients, 497 Kittel, Gesch. II, $ 3o—33; Pietschmann,
Gesch. d. Phönizier, 290—298; Turajeff, Gesch. d. alt. Orients II, 8—27,
42—45; Lehmann-Haupt, Israel, 72—79.
$ 4o—45. (Die Jehuiden und der Fall Samariens)
II. Kön., Kap. 12—1; II. Chron., Kap. 2*4—28 (mit den zitiert, Komment.);
Bernfeld, Mebo II, 122—189; die Bücher der Propheten Amos, Hosea und
Jesaja (im letzteren Kap. 7—10). — Schräder-Winckler-Zimmern, Keilinschriften
und d. A. T. (1903), 2i5, 269 u. passim; Winckler, Keil. Textbuch, 21—39;
474
Anhang
Greßmann, Altorient. Texte, m—116; II, i36. — Kittel, Gesch. II, $ 34—36,
43—45; Lehmann-Haupt, Israel, 80—ioö; Turajeff, Gesch. d. alt. Orients II,
63—io4; Tiele, Babylonisch-assyrische Geschichte (1886).
S 46—48. (Die Lebensformen zur Zeit der Reichstrennung)
Auf die biblischen Quellen ist in den Fußnoten zum Text hingewiesen. Zu-
sammenfassende Darstellungen der Lebensformen: Stade, Geschichte des Volkes
Israel, VII. Buch: Glaube und Sitte in vorprophetischer Zeit; Wellhausen, Gesch.,
Kap. VI: Gott, Welt und Leben im alten Israel; Benzinger, Hebr. Archäologie,
passim; Kittel, Gesch. II, S 21—24, 37—39 (Verf. behandelt die Epoche der
ersten Könige und die Epoche der Reichstrennung jede für sich, ohne feste Stütz-
punkte für die Abgrenzung auf diesem Gebiete der sozialen Statik); Bertholet,
Die Kulturgeschichte Israels (1919); Max Weber, Das antike Judentum (Gesam.
Aufsätze zur Religionssoziologie, III, Tübingen 1923); Monographien: Herzfeld,
Handelsgeschichte der Juden d. Altertums (1879); Buhl, Die sozialen Verhältnisse
der Israeliten (1S99); G. Beer, Die soziale und religiöse Stellung der Frau im
israelitischen Altertum (1919); Sellin, Tell-Taanak (Ausgrabungen, 1904—1905');
Sellin-Watzing er, Jericho — Ergebnisse d. Ausgrabungen (1913); Dussaud, Les
origines canaan6ennes du sacrifice israölite (1921); Merz, Die Blutrache bei den
Israeliten (1916).
S 49- (Der Prophetismus)
Reuß, Geschichte der Heilig. Schrift d. Alt. Testaments (1881), S 202, 2o5,
221—224, 231; Renan, Histoire du peuple d’Israel t. II, livre IV, chap. 6, 7,
16—21; Darmsteter, Les prophätes d’Israel (1881), pp. 17—5o; Cornill, Der
israelitische Prophetismus, 1909; Klausner, Ha’rajon ha’meschichi be’israel, t. I,
1908, p. 17—31; Wellhausen, Gesch. m—118; Kleinert, Die Propheten Israels
in sozialer Beziehung (igo5); Hölscher, Die Propheten (1914); Staerk, Das
assyrische Weltreich im Urteil d. Propheten (1908); Kittel II, $ 4o—42; idem,
Die alttestamentliche Wissenschaft in ihren Ergebnissen (1912), 107 ff., 175 ff.;
Duhm, Israels Propheten (1916); M, Soloweitschik, Ha’midbar betoldotow schel
am Israel („Dwir“ II, 29—45, Berlin 1924).
§ 5o—5i. (Das Schrifttum)
Benzinger, Hebr. Archäologie, S 37: Die Schrift; Kittel, Gesch. I, S i5, 18,
22; II, S 23, 38: Schrifttum; idem, Alttestament. Wiss. in ihren Ergebnissen,
66 ff. — Wellhausen, Prolegomena usw.; idem, Composition des Hexateuchs und
der historischen Bücher d. A. T. (3. Aufl. 1901); Reuß, Geschichte d. Heilig.
Schrift, S 2i3—218 (1881); Renan, Hist. d’Israel, t. II, livre IV, chap. 2, 3,
10—14; Kuenen, Historisch-kritische Einleitung in die Bücher des A. T. (1887);
Cornill, Einleitung in die kanonischen Bücher des A. T. (7. Aufl. 1913); Steuer-
nagel, Einleitung ins A. T. (1912); Staerk, Die Entstehung des A. T., 2. Aufl.
1918 (Göschen); Bernfeld, Mebo lekitbe hakodesch, Bd. I, II, III, Berlin
1923—1924. — Gunkel, Die Genesis übersetzt und erklärt (1910); Greßmann,
Allorient. Texte I, 1—60 (assyro-babylonische Parallelstellen zur Genesis; vgl.
Winckler, Keilinschrift. Textbuch, 80—118); Jeremias, Das A. T. im Lichte d.
alt. Orients (1906), 129—286; King, The seven tablets of Creation (London
1902); Turajeff, Gesch. d. alt. Orients, Bd. I, Kap.: ,»Babylonische Religion“. —
Allgemeine Einleitung in die Bibel und besondere Einleitungen zu jedem Buch
in der Ausg. von Kautzsch. Graetz, Geschichte der Juden, Bd. II, Kap. 11:
Die Thora, 1876 (Das Werk ist in den die Bibel behandelnden Teilen überholt,
doch sind manche Ansichten des Verf. auch heute noch wertvoll).
Anhang
S 53—55. (Hiskia)
II. Kön., Kap. 18—20; Parallelerzählung im Buche Jesaja, Kap. 36—39
sowie Kap. 20, 3o—31; II. Chron., Kap. 29—32. — Winckler, Keilinschrift.
Textbuch, 4o—5o; Greßmann, Altorient. Texte I, 117—122; II, 137—138;
Guthe, Geschichte d. Volkes Israel (1899), $ 6*—65, 69; Wellhausen, Gesch.
121—127; Kittel, Gesch. II, S 46—47 und Beilage: Die Berichte über Sanheribs
Zug nach Palästina; Breasted-Ranke, Geschichte Ägyptens, 4o3—4o6; Lehmann-
Haupt, Israel, 106—*125; Siaerk, Das assyrische Weltreich im Urteil der Pro-
pheten, 1908; Wilke, Jesaja und Assur(igo5); Küchler, Die Stellung d. Pro-
pheten Jesaja zur Politik seiner Zeit (1906); Reuß, Gesch. d. Heilig. Bücher,
S 249—257, 265—273.
$ 56—5g. (Manasse und Josia)
II. Kön., Kap. 21—23; II. Chron., Kap. 33—35; Deuteronomium u. dazu
Kom. in der Samml. von Kautzsch u. Nowack, die Bücher der Propheten:
Micha, Zephanja, Jeremia (die ersten Kap., Kap. 11, 3i u. a.); Herodot, Ge-
schichte I, io5, und IV, 1 f. (über die Skythen); idem II, IÖ9 (über die Schlacht
bei Magdoles-Megiddo). — Winckler, Textbuch, 5o—54; Greßmann, Altorient.
Texte I, 123—126; Lehmann-Haupt, Israel, i2Ö—146; Kittel, Gesch. II,
S 48—49; Wellhausen, Isr. Gesch., Kap. 9: Die prophetische Reformation;
Breasted-Ranke, Geschichte Ägyptens, 43o—432.
$ 60—64. (Der Fall Judas)
II. Kön., Kap. 23^-25; II. Chron., Kap. 36; die Bücher der Propheten:
Habakuk, Nahum, Jeremia und das Klagelied. Im Buche Jeremia beziehen sich
auf die Regierungszeit Jojakims die Kap.: 7—10, 19—20, 22, 25, 26, 36 und
auf die Regierungszeit Zedekias die Kap.: 27 (im V. 1 heißt es irrtümlicher-
weise „Jojakim“ statt „Zedekia“, wie aus V. 3 zu ersehen), 28, 29, 32—34,
37—4i. Winckler, Keilinschrift. Textbuch, 55—58; Breasted-Ranke, Gesch.
Ägyptens, 433—435; Wellhausen, Gesch., Kap. 10; Kittel, Gesch. II, S 5o;
Lehmann-Haupt, Israel, 147—167; Erbt, Jeremia und seine Zeit (1902). Bern-
feld, Mebo lekitbe hakodesch-, II, 3n—378.
S 66—70. (Das babylonische Exil)
II. Kön. 25, 27—3o; Ezechiel; Jesaja, Kap. i3—14 und 4o—66; Daniel,
Kap. 5 (Belsazar); Esra, Kap. 1—2 u. 6; Herodot, Geschichte I, 178 f., 190 f.
(über Kyros usw.); Berossos, Fragmente aus der Geschichte Babyloniens bei
Joseph. Flav., „Gegen Ap.“ I, 19—20. — Turajeff, Geschichte des alt. Orients,
Bd. II, S. H7f. u. iÖ2 f. (umfangreiche Belege aus der „Babylonischen
Chronik“ und dem „Kyros-Zylinder“); Ed. Meyer, Geschichte d. Altertums,
Bd. III; Weißbach, Keilinschriften der Achämeniden: Inschriften über Kyros in
Vorderasiatische Bibliothek, Bd. III, 1911; Hilprecht, Explorations in Biblelands
during the 19-th Cent. Philadelphia 1903. — Klamroth, Die jüdischen Exulanten
in Babylonien (1912); Kazenelson, Das babylonische Exil, „Wosschod“, 1902,
3—4 (russisch). — Wellhausen, Isr. Gesch., Kap. 11; Lehmann-Haupt, Israel,
i58—166. — Klausner, Ha’rajon ha’meschichi I, p. 64, 83 usw. (1898); Sim-
choni, Jeheskel ha’nabi („Heatid“, t. 3—4, Berlin 1912—1913); Cornill, Das
Buch des Propheten Ezechiel (1886); Bertholet, Das Buch Hezekiel (1897);
Budde, Das Buch Jesaja, Kap. 4o—66 (Kautzsch-Bertholet, Die Heilige Schrift,
Bd. I, 653—720); Bernfeld, Mebo usw. II, 283—3io (Buch Jesaja II), 379—446
(Buch Ezechiel).
476
Anhang
‘ $ 71—77* (Die Restauration)
Die Bücher Esra und Nehemia (dazu Kommentar von Hölscher in der Bibel
von Kautzsch, letzte Aufl., Bd. II); Bernfeld, Mebo usw. II, 177—200: über die
Memoiren von Esra und Nehemia. — Die Bücher der Propheten: Haggai, Sa-
charja und Maleachi (dazu Komment, von Marti in der Bibel von Kautzsch, Bd. II,
und die Untersuchung von Bernfeld, Mebo II, 487—5i4, 516—521). — Herodot,
Gesch. III (die Zeugenaussagen eines Zeitgenossen über das Persien des V. Jahrh.).
—- Weißbach, Keilinschriften d. Achämeniden (1911); Turajeff, Gesch. II, 169 f.,
187!., 196—216; Meyer, Gesch. d. Altertums, Bd. III; idem, Die Entstehung des
Judentums, 1896; idem, Der Papyrusfund von Elephantine (1912), 1, 38 ff.;
Wellhausen, Isr. Gesch., Kap. 12; Renan, Histoire du peuple d’Israel t. IV
(tendenziöse Darstellung der Geschichte der Restauration); Sellin, Serübabel:
Studien zur Entstehungsgeschichte d. jüdischen Gemeinde nach d. babylonischen
Exil (1901); Lehmann-Haupt, Israel, 166—175; Montgomery, The Samaritans,
I9°7*
S 78—80. (Judäa und die Diaspora)
Josephus Flavius, Jüd. Altert., Buch XI, Kap. 6—7. — Wellhausen, Isr.
Gesch. 187—190 (1907); Turajeff, Gesch. II, 196 f.; Peters, Nippur or ex-
plorations and adventures on the Euphrates, 1897; Hilprecht, Explorations in
Biblelands, 1908; Daiches, The Jews in Babylonia in the time of Ezra and
Nehemia, according to Babylonian inscriptions, London 1910 (vgl. dazu Klausner,
Ha’gola be’Babel, „Haschiloach“, 1911, B. 24, S. 4o8 f.).
Buch Esther (dazu Komment, von Steuernagel in der Bibel von Kautzsch);
Jampel, Das Buch Esther (1907); Gunckel, Esther (Religionsgeschichtliche Volks-
bücher, Tübingen 1916); Scheftelowitz, Die altpersische Religion und das Juden-
tum, Gießen 1920.
Über die ägyptische Diaspora: Sayce and Cowley, Aramaic papyri discovered
at Assuan, London 1906 (vgl. Daiches: Ketobot aramajot, ,,Haschiloach“, 1907,
B. 17, S. 8 und 5o4 f.); Sachau, Drei aramäische Papyrusurkunden aus Elephan-
tine (Abhandlungen d. Berliner Akademie, 1907); idem, Aramäische Papyrus und
Ostraka aus einer jüdischen Militärkolonie zu Elephantine, Leipzig 1911 (voll-
ständige Ausgabe mit Abbildungen der Schriftstücke); Ungnad, Aramäische Pa-
pyrus aus Elephantine, 1911 (dasselbe in gekürzter Wiedergabe); idem, in Alt-
orient. Texte v. Greßmann, 175—177; Ed. Meyer, Der Papyrusfund von Elephan-
tine, 1912; Lehmann-IIaupt, Israel, 175—181; Turajeff, 1. c. II, 242—245.
S 81. (Die Selbstverwaltung)
Dcrenbourg, Histoire de la Palestine depuis Gyrus, Paris 1867 (über die
Große Synagoge — Kap. II); Graetz, Geschichte der Juden, Bd. II b, i55,
178 ff. (1876); Weiß, Dor dor we’dorschow, t. I, cap. 6—9; Wellhausen, Isr.
Geschichte (1907), 190—198; Jawitz, Toldot Israel, III, i48—167 und Anhang
N. io: die Angaben des Talmud über die Große Synagoge (Wilna 1898); Bacher,
The great Synagoge — Jewish Encyclopedia XI, 64o—643; Benzinger, Hebr.
Archäologie, S 5o (Die nachexilische Verfassung); Schürer, Geschichte d. jüdi-
schen Volkes, Bd. II, i32—174, 214—279; Meyer, Papyrusfund usw. 17—18,
38, 94.
S 82. (Die Lebensformen)
Herzfeld, Handelsgeschichte d. Juden des Altertums (1879); Benzinger, Hebr.
Archäologie, S 33 (Der Händel). — Die aramäischen Urkunden aus dem Buche
Esra und die Papyri von Elephantine (oben, S 80). — Schräder (Winckler), Die
Anhang
Keilinschriften u. d. A. T., noff., 3i6—336; Jeremias, Das A. T. im Lichte
d. a.t. Orients, 36—42 (assyrisch-babylonischer Kalender); Winckler, Keilinschrift.
Textbuch, 79—80 (Monatslisten); Benzinger, Arch. S 34—36 (Kalender). Lidz-
barski, The Hebrew Alphabet (Jewish Encyclopedia vol. I, 439—454, mit tabella-
rischer Darstellung der Entwicklung der Schriftarten).
$ 83. (Die Thora in der abschließenden Redaktion)
Kautzsch-Bertholet, Die Heilige Schrift usw., Bd. I, 1—327: Der Pentateuch
mit Einleitungen und entsprechender Zuweisung des Stoffes den verschiedenen
Quellen und Rezensionen. — Wellhausen, Isr. Gesch., Kap. i3: Das Gesetz (aus-
führlicher in „Prolegomena zur Geschichte Israels“ und „Komposition des Hexa-
teuchs“). — Kittel, Geschichte d. Volkes Israel, Bd. I, S 21—27 (eingehende
Würdigung der Ergebnisse der bibelkritischen Schule, vgl. besonders $ 26—27
über den Priesterkodex). — Bernfeld, Mebo lekitbe hakodesch, I, 275—35o
(Untersuchung der Thorakomposition). Cornill, Einleitung in d. Alte Testament,
1913; Strack, Einleitung in d. A. T., 1906. (Die „Einleitung“ von Cornill hul-
digt dem Geist der extremen Bibelkritik, während Strack sich der gemäßigteren
Richtung anschließt.) Driver, Introduction to the litterature of the Old Testament
(1912); Dussaud, Les origines canaan6ennes du sacrifice israelite, 1921 (Beweis-
führung zugunsten der frühen Entstehungszeit des Priesterkodex); Staerk, Die
Entstehung des A. T. (1918). Vgl. oben, Bibliographie zu S 5o—5i.
S 84. (Die geschichtlichen und prophetischen Bücher)
Deutsche Bibel von Kautzsch-Bertholet, Bd. I, II; Kittel, Die Bücher der
Könige u. d. Chronik, übersetzt und erklärt (Nowacks Handkommentar, 1900—1902);
Staerk, Die Entstehung des A. T. (1918); Bernfeld, Mebo usw. t. II; Wellhausen,
Die kleinen Propheten (Skizzen u. Vorarbeiten, Bd. V, 1892); Steuernagel, Ein-
leitung in das Alte Testament, 2. Aufl., 1914; Marti: Der Prophet Joel (in der
Bibel von Kautzsch, II, 23 f.), Obadja (ibid. 47), Sacharja (ibid. 98 f. über
Sacharia II, dessen Lebenszeit Verf. in die Seleukidenzeit, in das II. vorchr.
Jahrh., hinausschiebt).
S 85. (Psalmen)
Graetz, Kritischer Kommentar zu den Psalmen, Bd. I—II, 1882—1883;
Duhm, Die Psalmen, 1899; Bertholet, Die Psalmen (in der Bibel von Kautzsch,
Bd. II, 113 f.); Bernfeld, Mebo III (1924); Zimmern, Babylonische Hymnen und
Gebete, Leipzig 1906 (Das alte Orient, Bd. VII); Greßmann, Altorient. Texte,
80—96; Turajeff, 1. c. I, 148—151; II, i3i; Jastroiv, Die Religion Babyloniens
und Assyriens, Bd. I—II (1898). Vgl. die oben (S 83—84) angeführten all-
gemeinen Einleitungen zum A. T.
$ 86. (Das Buch Hiob)
Steuernagel, Einleitung und Kommentar zu Hiob in der Bibel von Kautzsch,
Bd. II, 323 f. — Budde, Beiträge zur Kritik d. Buch. Hiob (1896); Duhm, Das
Buch Hiob, 1897 (beide Verfasser verlegen das Buch in die persische Zeit); Well-
hausen, Gesch. 216—219. — Reuß, Gesch. d. Heil. Schrift, S 234—24o (Verf.
verlegt das Buch Hiob in die Zeit des Unterganges des Reiches Israel); Renan,
Le livre de Job, traduit de Thöbreu avec une 6tude sur l’äge et le caract&re du
po&me, 1882; Graetz, Gesch. II a, 32 f . (verlegt in die Zeit des babyl. Exils);
Bernfeld, Mebo usw. III; Turajeff, I. c. I, i49—i5o (über den „babylonischen
Hiob“).
47S
Anhang
S 87. (,,Sprüche“)
Steuernagel, Einleit, und Komment, zu den ,»Sprüchen“ in der Bibel von
Kautzsch, II, 276 f. — Reuß, 1. c. $ 898 ff. — Die erwähnten ,.Einleitungen“
von Cornill, Strack u. a.; Bernfeld, Mebo III; Ungnad, Aramäische Papyri aus
Elephantine, 62—82 (Fragmente aus dem aramäischen Text des ,,Buches Ahikar“);
Meyer, Der Papyrusfund usw., '102—128 (der Verf. verlegt den gesamten ara-
mäischen Text des ,,Ahikar“ in das V. Jahrh. und betrachtet das Buch als die
älteste aller im Orient verbreiteten Sammlungen von weisen Sprüchen). Der be-
kannte Ägyptologe Erman veröffentlichte vor kurzem (Oriental. Literaturzeitung,
1924, Nr. 5) die auf einem Papyrus aus dem X. Jahrh. entdeckten Sprüche
,.eines Zeitgenossen des Königs Salomo“, die der Form nach eine auffallende
Ähnlichkeit mit den Sprüchen aus dem Buche „Mischle“ aufweisen.
Nachbemerkung des Übersetzers
Dem Wunsche des Verfassers entsprechend, sind die in diesem
Bande vorkommenden biblischen Textstellen fast durchweg der deutschen
Bibelausgabe von Kautzsch-Bertholet entnommen. Was die
Transkription der biblischen Namen anbetrifft, so entspricht sie in der
Regel der in der modernen Bibelwissenschaft üblich geivordenen und
namentlich von Kittel verwendeten, von der sie jedoch zum Teil ab-
weicht, insofern im allgemeinen, außerwissenschaftlichen Sprachgebrauch
für den einen oder anderen Namen eine ganz bestimmte Schreibweise
sich eingebürgert hat. Die assyriologischen und ägyptologischen Quellen
sind fast ausschließlich nach den deutschen Übersetzungen von W in ek-
ler und Greßmann zitiert. (Vgl. Bibliographie.)
479
Namen- und Sachregister
Aaron — 4i7-
Aberglaube — 222£., 264.
Abia, König — i48.
Abimelek — 44*
Abner — 82, 94£.
Absalom — 108, nof.
Absonderung — 383 f.
Abraham, Abrahamiten — nf., 456 f.
(Anhang).
Ackerbau — 56, 65, 2o5ff.
Adam (Adapa) — a47f.
Adonia — ii6f., 119.
Adoniram — 121, i44-
Ägypten — 6f., I7f., 34f-, 122 f.,
i32, i47f.» i5o, iggf., 268f., 283,
296f., 299f., 312 £., 3i$i., 329,
395ff. (Diaspora), 46of. (Anhang).
Ägyptische Knechtschaft — i8f.
Älteste (Sekenim) — 214, 3o3, 334,
4o6.
Ahab, König — i54ff., i65ff.
Ahas, König — ig5f.
Ahasja, König — 168.
Ahasveros — s. Xerxes.
Ahia von Silo, Prophet — i3if., 147,
227.
Ahikar, Buch — 449- S. Sprüche.
Ahitofel — 106, m, n3.
Akko — 9.
Alphabet, hebräisches — 238, 4i3f.
S. Schrift.
Amalek, Amalekiter — 42, 79£.
Amazia — i83£.
Amenophis (Amenhotep) IV., Echnaton
— 8f., 10, 19.
Ammon, Ammoniter — i4f., 28, 4o,
52, 102, io3, 187, 3i8, 357.
Amnon — 108, 110.
Amon, König — 283.
Amoriter — 4f-, 3o, 457 f.
Amos, Prophet — 189£., 228.
Amurru — s. Amoriter.
Apris — s. Hofra.
Arabien — 123, i65f.
Aram — i38, iAg'f., i54, i6iff.,
i7of., 179t., 187, 197.
Aramäer — 6, i4f., 28, io3f., i33,
139. S. Aram.
Aramäische Sprache — 271, 4oi, 4n.
Aram-Naharaim — 6, i4 (Naharina).
Artaxerxes I. — 371.
Artaxerxes II. — 386.
Artaxerxes III. — 387.
Asa, König — 149.
Asarhaddon — 279.
Asarja — s. Usia.
Ascher (Asser), Stamm — 17, 34,
38f., i44.
Aschera — 64f., i48£., i55, 219, 281
(s. Astarte, Istar).
Asdod, Asdodier — 46, 266, 357.
Askalon — 9, 46.
Assimilation — 382, 390, 392 (An-
merkung).
Assuan (Syene, Svene) — 396ff.
Assurbanipal — 282.
Assyrer — 4f. (s. Assyrien).
Assyrien — 139, i6iff., i8of., 192f.,
263, 266f., 279, 294f., 3o3.
Aslarte (Istar) — 64, 129f., i55, 219.
S. Aschera.
Atalja, Königin — 166, 176L
Auszug aus Ägypten — 19, 46of. (An-
hang).
Baal, Baalismus — 64f., i46, i48,
i55£., i6o£., i75f., 2i9f., 224,
28of.
Baasa, König — i5o.
Babylon — 5, 295, 35if.
Babylonien — 4f*, 267, 295, 3o5f.,
3o8, 312, 32 6, 332ff. (babylonisches
Exil), 35iff., 389£., 456ff. (An-
hang).
48o
Babylonische Kultur — 55f., 2 44f*,
890, 4i2.
Babylonisches Exil — 326f., 332 ff.,
363.
Bagoas — 386, 398 f.
Baltasar — s. Belsazar.
Bama, Bamoth — 99, 121, i46, i4<)>
166, 219. S. Kultus, Priester.
Barak — 38.
Baruch, Prophet — 3c>7f.
Batseha — 108, 117.
Belsazar — 352 f.
Benaja — io5, 116, 119, 121.
Ben-Hadad I. — i5o, i54-
Ben-Hadad II. — i6if.
Ben-IIadad III. — 181.
Benjamin, Stamm — 17, 34, 39, 56,
74, n5, 142, i45.
Beschneidung — 46 (Anmerk.), 222.
S. Brith.
Betel — 66, i46f„ i88f.
Bethlehem — 83.
Bibelkritik — 453ff. (Anhang).
Bibel — s. Propheten, Schrifttum,
Thora.
Bileam — 22 5 (Anmerk.).
Brith (Bund) — 21, 23, Ö7f., 222,
288, 29/1.
Buch der Kriege Jahves — s. Kriege
Jahves.
Bücher der Richter, Samuelis und der
Könige — s. Historiographie in der
Bibel.
Bundeshuch — 21, 57ff., 2i2f., 288,
462 (Anhang).
Byblos — 9, 238 (Anmerk.).
Chahiru (Chabiri, Habiru) — 8f.,
455, 459 (Anhang).
Chronik, Bücher der — 424 f-
Chronist (Urkunden) — s. Historio-
graphie in der Bibel.
Chronologie — 456ff. u. 463ff. (An-
hang).
Damaskus — io3f., i33, 149, i54,
i6if., 187, i97f.
Dan, Stadt — 47, 96 (Anmerk.), i46.
Dan, Stamm — 17, 34, 3g, 46, 144»
189.
31 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes.
Daniel — 3o5, 352.
Daphne (Taphnis, Tachpanches) — 320.
Darius I. Hyslaspis — 36if.
Darius II. — 385, 398, 4oo.
Darius III. — 387.
David, König — 83ff., 95ff., n6f.,
435 (Psalmen).
Davidische Dynastie — i4o, i42, i44,
364, 366.
Debora — 38, 39 (Deboralied), 225.
Dekalog — 21, 60f., 2 4o, 2 53 (s.
Sinai).
Deuteronomium — 287ff., 337, 467
(Anhang).
Diaspora — 320f., 329, 389ff.
Ebjatar — 88, 99, 112, 116, 120.
Echnaton — s. Amenophis.
Edom, Edomiter — i4, 28, 4of-, io4,
i32, i65, 176, i83, i85, 357, 428.
Efod (Bildsäule, Orakel) — 43, 66f.,
78 (Urim und Tumim), 82, 88, 90,
101.
Ehen — s. Mischehen.
Ela, König — i5i.
Elat — 123, 166, 208.
Elephantine (Jeb) — 396 ff.
Eli — 47 f.
Elias, Prophet — i58f., 227.
Elischa, Prophet — i72f., 179D, 227.
Eljakim — s. Jojakim.
Eljaschih — 367, 382.
Elohisl — 244, 2 46, 467 (Anhang).
Elohim, El — 22, 62, 457 (Anhang).
S. Gott, Jahve.
Endor, Hexe von — 91.
Ephraim, Stamm — 17, 32, 34, 3gf.,
48, 75, 83, i3i, i^f., 142, 144,
2 52. S. Reich Israel, Samarien.
Esau — i4ff. S. Edom.
Esbaal (Isboset) — 81, 94f-
Esion-Geber — s. Elat.
Esra — 37off., 379f.
Esther — 392.
Esther, Buch — 391 ff.
Ethik des Judaismus — 228f., 2Ö3f.,
255, 27Öf., 289^, 421. S.
phetismus.
Ewil-Merodach — 343.
Ezechiel — s. Jeheskel.
Namen- und Sachregister
Namen- und Sachregister
Familie, Familienleben — 2iof., 418.
S. Weib, Wirtschaft.
Feste — 57, 65, 2o6f., 334f., 4i8ff.
S. Jom-Kippur, Neujahr, Passah,
Purim, Sabbat, Schabuoth, Sukoth.
Fremde (Gerim, Nochrim) — 2i3f.
Gad, Prophet — 227.
Gad, Stamm — 17, 34, 3g, i44-
Galiläa — 26, I2Ö, 197.
Gat — 46, ioif.
Gaza — 46.
Gebet — 409, 4i4f. S. Psalmen,
Synagoge.
Gedalja, Statthalter — 317 ff.
Gemeinde (Kahal) — 214, 333 f.
Gerim — s. Fremde.
Gerizim (Gerisim) — 383.
Geschichtsbücher der Bibel — s. Histo-
riographie in der Bibel.
Gezer (Geser) — 9, 64, 122.
Gibborim — 84, ioof., io5.
Gibea — 49, 52, 56, 76f., 81.
Giheon, Gibeoniten — 32 f., 79, 100,
106, 121.
Gideon (Jerubbaal) — 42 f.
Gilead — 26, 34, 3g, Ö2 (Jabes), 94,
i63 (Ramot), 197.
Goliath — 84 f.
Gosen (Ägypten) — 18.
Gott (Entwicklung der Gottesidee) —
22f., 6iff., i45f., i55f., 223 ff.,
228f., 348f., 437. S. Baal, Elohim
(El), Henotheismus, Jahve, Mono-
theismus, Philosophie (rel.), Prophe-
tismus.
Griechen — 3g4f. S. Jonier.
Große Versammlung (Synagoge) —
4o8f.
Habakuk, Prophet — 3o4f.
Haggai, Prophet — 362 ff.
Haman — 392.
Hammurapi und sein Kodex — 5, 12,
21 f., 57 ff., 213, 457 (Amraphel,
Anhang).
Handel — 122 f., 166, 186, 188,
207^, 333, 391, 4n.
Hasael — 171, 179.
Haus, häusliches Leben — 209 f.,
448f. S. Familie, Weib.
Hebron — 32, 89, 95.
Heer, Heereswesen *— 76, io5f., 216.
Heilige Schrift — s. Thora.
Heiligkeit, rituale und sittliche — 369,
418.
Henotheismus — 61, 224.
Iiermon (Antilibanon) — 26.
Hetiter (Kheta) — 5.
Hiob (Buch Hiob) — 43g ff.
Hiram — 123, 128.
Hiskia, König — 203ff.
Historiographie (in der Bibel) — 24of.,
254, 270L, 337, 422f.
Historiographie (moderne) — XVIIIff.,
453f., 467f. (Anhang).
Hohepriester (Oberpriester) — 364,
366f., 388f., 4o5f.
Hofra (Apris) — 312, 319.
Ilosea, König — 198.
Hosea, Prophet — 190, ig4f., 23if.
Hulda, Prophetin — 292.
Hyksos — 6, 17.
Jaddua — 389.
Jaffa — 124.
Jahve — 23, 63f., i45f., iögff., 175,
202, 223ff., 397f. S. Elohim, Gott.
Jahveisi — 2 44, 247, 467 (Anhang).
Jakob — 12, i4ff.
Jawan — s. Griechen, Jonier.
Ibrirn (Hebräer) — 8, 11, i3, i5, 17,
28, 455 u. 458f. (Anhang).
Jeb — s. Elephantine.
Jebusiter — 98 f.
Jedonja — 398 f.
Jeftah — 4i, 66, 68.
Jeheskel (Ezechiel) — 309, 3n, 321,
337 ff.
Jehoasch — s. Joas von Juda.
Jehoram — s. Joram von Juda.
Jehu, König — I7iff., 179 ff.
Jehuiden, Dynastie — 176, 179 ff.,
I9I*
Jerubbaal — s. Gideon.
Jerusalem — 9, 32f., 98ff., i24ff-,
129, 137, i45f., 3i2 ff., 357^f.,
375ff., 457 (Anhang).
Jesaja, Prophet — 232 ff., 262, 265,
27Öff., 281.
482
Namen- und Sachregister
Jesaja II, Prophet — 232 (Anmerk.),
345ff., 365ff.
Jesreeltal — 26, i5g, 174.
Joab — 88, 100, io3, io5, 109,
n5f., iigf.
Joahas, isr. König — 181.
Joahas (Sallum), jud. König — 297.
Joas, isr. König — i8if.
Joas (Jehoasch), jud. König — 177,
182L
Jojada — 177, i83.
Jojakim (Eljakim), König — 297ff.
Jojakim, Priester — 366.
Jojakin (Jekonja), König — 3o8, 332,
344.
Jochanan (Jehochanan), Hohepriester
386, 399.
Jochanan ben Koreach — 3i8f., 396,
397 (Anmerk.).
Joel, Prophet (Buch) — 426ff.
Jom-Kippur — 419 f •
Jona (Buch) — 43of.
Jona ben Amitthai (Amitai), Prophet
— i87f., 43o.
Jonathan — 76, 81, 92 f.
Jonische Inseln, Jonier — 45 f., 3g4 f-
Joram, isr. König — 168 ff., 177.
Joram (Jehoram), jud. König — 166,
176L
Jordan — i3, 2Öf.
Josafat, König — i65ff.
Joseph, Stamm — 17 f. S. Ephraim.
Josia (Joschijahu), König — 283ff.,
287L, 292f., 2g5ff., 379.
Josua ben Jozadok, Hohepriester —
355, 364.
Josua ben Nun — 3if., 384 (Buch
Josua), 431 (Hexateuch).
Jotam, König — i86f.
Isaak — i4ff-
Isboset — s. Esbaal.
Isebel, Königin — i53, i54ff-, 17^*
Ismael — i4ff.
Ismael ben Natanja — 3i8f.
Isolierungsprozeß — s. Absonderung.
Israel — i4f-, 20, 61 f., n3f., 2o3,
295, 334. S. Reich Israel.
Israelitisches Reich — s. Reich Israel.
Issachar, Stamm — 17, 34, 38f., 144-
Istar (lschtar) — 64, 392 (Anmerk.).
S. Astarte.
Juda — s. Reich Juda.
Juda, Stamm — 17, 32, 34, 3g, 75,
83, io5, n4f., 142, i45, 253, 334.
Judaismus — s. Nationale Idee, Pro-
phetismus, Religion.
Judäa (pers. Epoche) — 328f., 357 ff.
Judith, Buch — 387 (Anmerk.).
Kahal — s. Gemeinde.
Kades (Kadesch) — 23 f.
Kalender — 4i2f.
Kamos — s. Kemosch.
Kambyses — 36o, 397, 399.
Kanaan — 8f., I2f., 2 5 ff., 46 ijf.
(Anhang).
Kanaanäische Kultur — 5 4 ff-5 462
(Anhang).
Karmel — 26, i6of.
Keilschrift — 8 (Anmerk.), 61, 2 38.
Kemosch (Kamos) — 3i, 66, 129,
i53, 170.
Keniter — 23, 29, 32, 38. '"r
Keiubim (Hagiographen) — 432, 45o.
Kinereth (See Genezareth) — 2 5.
Klagelied Jeremias — 3i6f.
Kleinasien — 45, 343f., 3g4-
Knesseth ha’gdolah — s. Große Ver-
sammlung (Synagoge).
Kohanim — s. Priester.
König, königliche Gewalt — 5off.,
i3of., 2i6f., 364-
Könige (Bücher der) — s. Historio-
graphie in der Bibel.
Kosmogonie (Genesis) — 242, 245f.,
2ÖI.
Kreta — 46 (Anmerk.).
Kriege Jahves (Buch der) — 3i, 100
(Anmerk.), 2 4o, 2 53.
Kultur — 54ff., i56f., i58, 2o4ff-,
3o6, 4ioff., 46if. (Anhang).
Kultus — 64f., 12 5 f., 129, i45f.,
157, 176, 178, 198, 202, 2l8ff.,
264 f. (Reform Hiskias), 28of.,
292 f. (Reform Josias), 3oo, 320,
334, 4oif., 420f. S. Bama, Le-
viten, Priester, Tempel.
Kyros — 344f*, 347, 353ff.
Laban — i5.
Lade Jahves — 4o, 47^-, 63, 66»
108, 126.
31*
483
Namen- und Sachregister
Lakis (Lakisch) — 9, 270.
Laubhüttenfest — s. Sukoth.
Levi, Stamm — 17, 22, 34, 3g, i45.
Leviien — 34, 145ff., 166, 2i4, 221,
368f., 372, 378, 38of. S. Priester,
Tempel.
Levilicus, 3. Buch der Thora — 337,
342, 4i6. S. Thora.
Libanon — 2Ö, 124, 343.
Literatur — s. Schrifttum.
Lot — i5.
Lyrik, religiöse — s. Psalmen.
Maleachi, Prophet — 369 f.
Manasse, König — 278ff.
Manasse, Stamm — 17, 33 f., 144 •
S. Ephraim, Gilead, Joseph.
Mardochai — 392.
Maschal — s. Sprüche.
Medien — 295, 343, 391.
Megiddo — 38, 298.
Menahem, König — 191L
Merneptah (Meneptah) — 11, 19, 35,
46i (Anhang).
Merodach-Baladan — 267.
Mesa (Mescha) — i53, 168 f. (In-
schrift).
Mesopotamien (Zweiströmeland) — 4-
S. Aram, Assyrien, Babylonien.
Messianismus — 118, 275 f., 349 f-
S. Prophetismus.
Micha, Prophet — 236, 276f., 28if.,
3o3.
Micha ben Imla — 167L
Midjan, Midjaniter — i4, 29, 42.
S. Keniter.
Mischehen — 368, 373, 38i, 383.
Mizpa — 5o, 318.
il/oaö, Moabiter — i4f-, 28, 4o, 102,
io5, i53f., i68f., 187.
Moloch (Milkom) — 129.
Monotheismus — i56, 228ff., 329f.,
348f. S. Gott, Jahve, Prophetismus.
Moral — 421, 444ff. S. Deutero-
nomium, Familie, Fremde, Sklaverei,
Sprüche, Weisheit.
Moses, Gesetz Moses’ — 20ff., 2 03,
288, 370L, 379, 417. S. Thora.
Mündliches Gesetz — 409.
Mythologie — 2 45 ff.
484
Nabi, Nebiim — 226. S. Propheten.
Nabunaid (Naboned) — 344, 351.
Nadab, König — 149.
Naftali, Stamm —.17, 34, 38f., 144-
Naharina — s. Aram-Naharaim.
Nahum, Prophet — 3o4.
Namen (theophorische und fremdlän-
dische) — 42, 62, 64, i56, 224
(Anmerk.), 390, 392, 4oi.
Nasiräer — 157.
Nathan, Prophet — 106, 109, 116,
227.
Nationale Idee — 261, 291 f., 3o6,
33of., 347f.
Nebukadrezzar — 3o5f., 3i2f., 320,
332f., 343.
Nebusaradan — 316, 320.
Negeb — 26, 357.
Nehemia — 375ff., 38iff.
Neko — 296f., 3o5.
Neujahr — 4i3, 419L
Ninive — 192, 273, 284, 3o4, 43of.
Noah — 248ff. (Sintflut).
Nob, Tempel — 82, 87.
Nomaden, Nomadenleben — 3, I2f.,
17,73.
Obadja, Prophet — 4a8f.
Omri, König — i5iff.
Omriden, Dynastie — i38, i54ff.,
175, 181.
Opferdienst — 68f., 78, 22of., 358,
420f. S. Kultus, Leviten, Priester,
Prophetismus, Tempel.
Ophir — 123.
Orakel — s. Efod.
Pacha (Pecha) — 355 (Anmerk.), 302,
387 f.
Palästina — 3f., 2Ö. S. Judäa, Ka-
naan, Reich Israel, Reich Juda,
Transjordanien.
Papyrus — 239. S. Elephantine.
Parsismus — 470f. (Anhang).
Passah — 65, 206, 220, 4i8.
Patriarchen (Erz-, Stammväter) —
nf., 2 52 f. S. Abraham, Jakob,
Isaak.
Pekach, König — 194ff.
Pekachja, König — 194. .
Namen- und Sachregister
Pentateuch — s. Thora.
Persien, persische Herrschaft — 327 f.,
344, 357ff., 385ff., 391 f.
Philister -— 29, 45ff., 76L, 84f-, 89,
ioof., i4o, 176, i85, 199.
Philosophie, religiöse — 43g ff.
Phönizien, Phönizier — 4, 28, io4,
122f., i38, i53ff., 195, 199.
Priester (Kohanim) — 2i4f., 221,
33o, 368 f., 381. S. Kultus, Leviten,
Tempel.
Priesterkodex — s. Leviticus.
Propheten (Nebiim) — 49 f-, 52,
i58ff., 166 f., i89f., 2 2 5 ff.,
275ff., 3oof., 3o2f. (falsche Pro-
pheten), 3o4f., 3ioff., 337 ff.,
345ff., 362ff., 369L, 425ff.
Prophetische Bücher — 425ff.
Prophetismus—i4of., 22Öff., 27Öff.,
289ff., 3o4ff-, 364f- S- Gott, Mes-
sianismus, Propheten, Religion.
Psalmen — 117, 277f., 336, 432ff.
Psammetich — 283, 296.
Purim — 393.
Ramses II. — 11, 19, 46o (Anhang).
Rechabilen — 157, 175.
Recht — s. Bundesbuch, Brith, Deka-
log, Deuteronomium, Hammurapi, Kul-
tur, Priesterkodex, Rechtsprechung,
Thora. #
Rechtsprechung — m, 128, iög, 166,
2i4ff-, 407f.
Reform — 264 (Hiskia), 292f. (Josia),
37off. (Esra), 383.
Rehabeam, König — ifai., 147L
Reich Israel — i37f., 144£•> iÖ2ff.,
191 ff., iggff. (Fall), 334.
Reich Juda — i37f., i44f-, i95f.,
232f., 2Ö9ff., 3i6f. (Fall), 32of.,
334. S. Judäa.
Religion — 22, 61 ff., 75, 218 ff.,
285. S. Elohim, Gott, Jahve, Kultus,
Messianismus, Monotheismus, Philo-
sophie (relig.), Prophetismus, Theo-
kratie.
Restauration — 328, 358ff., 37off.
Richter (Buch der) — s. Historiogra-
phie in der Bibel.
Richterzeit — 37 ff.
Rosch-ha’schana — s. Neujahr.
Rüben, Stamm — 17, 34, 3g, i45.
Sabbat — 2o6f.-, 335, 38if£., 420.
Sabbatjahr — s. Schemita.
Sacharja, Prophet — 362, 364f.
Sacharja II, Prophet — 429.
Salmanassar II. — i64, 180.
Salmanassar V. — 200.
Salomo, König — 110, u6f., ngff.,
127 ff., 445 (Sprüche).
Sallum — s. Joahas von Juda.
Samaria — i38, IÖ2, 20of. (Fall).
Samarien (Reich) — s. Reich Israel.
Samaritaner (Samariter) — 202, 307 ff.,
383f.
Samuelis (Bücher) — s. Historiographie
in der Bibel.
Samuel, Prophet — 5of., 80f., 86,
91, 226.
Sanballat — 376 £., 382 f., 384, 4oo.
Sargon I. — 5.
Sargon II. — 200f., 266f.
Satrap — 387f. S. Pacha.
Saul, König — 52 f., 76 ff., 85 ff.,
91 ff-
Schabuoth — 65, 206, 220, 4i8.
Schallum, König — 191.
Schemaja, Prophet — 144*
Schemita (Sabbatjahr) — 207, 381.
Schischak (Sosenk) — i32, i4a, i47-
Schoftim (Richter) — s. Richterzeit.
Schrift, Schriftzeichen — 8, 55, 61,
237f., 413f. S. Sprache.
Schriftgelehrter (Sofer) — 2 4o, 287,
337, 37of., 4o6ff., 4i4f.
Schrifttum (biblisches) — 240ff., 277,
287 f., 336 ff., 415ff. S. Historio-
graphie in der Bibel, Ketubim, Pro-
pheten, Sprache, Sprüche, Thora.
Schule — 407 f.
Seba ben Bikri — n5f.
Sebulon, Stamm — 17, 34, 38f.
Selbstverwaltung — 329, 4o5ff.
Semiten — 3£., 237, 25of.
Serubbabel — 355, 358 f., 362 ff.,
366.
Seshazar — 354f-» 358.
Sichern — 43f., i43, 383.
Sidon — 9, 28, 47*
Silo, Tempel — 4o, 47 f-, 66f., 3o2.
48&
Namen- und Sachregister
Siloah (Inschrift) — 289, 265f.
Simeon, Stamm — 17, 32, 34, 3g,
i45.
Simri, König — i5i, 174.
Simson (Schimschon) — 46*
Sinai (Horeb) — 2iff., 161. S. Wüste
Sinai.
Sintflut — s. Noah.
Sittlichkeit — s. Moral, Prophetismus,
Religion.
Sklaverei — 60, 21 if., 290, 3i3,
377 f. S. Soziale Verhältnisse.
Skythen — 283.
Sodom — 457 (Anhang).
Sofer — s. Schriftgelehrter.
Soziale Gesetzgebung — 206f., 2i3f.,
28gf., 38i. S. Deuteronomium, Pro-
phelismus.
Soziale Verhältnisse — 2i3f., 229f.,
2 35f. S. Ackerbau, Handel, Skla-
verei, Stadt, Wirtschaft.
Sprache — 8, i4, 237ff., 271, 371,
4oi, 4nf. S. Schrift, Schrifttum.
Sprüche (Weltweisheit) — 127 (Sa-
lomo), 278, 444ff-, 449.
Stadt, Stadtkultur — 55 f., 208 ff.,
2i4f. S. Handel, Jerusalem, Sa-
maria, Soziale Verhältnisse, Wirt-
schaft.
Stämme Israels — 16ff., 29f., 32 ff.,
36, 3gf., i44f-, 252ff.
Statistik (Volkszählung) — 107, 355.
Sukoth (Laubhüttenfest) — 65, 206,
221, 4i8.
Susa — 375, 387, 391 f.
Synagoge — 335f., 4i4f-, s. Gebet,
Psalmen, Schule.
Syrien — 7, 296L, 3o5, 307, 372,
394. S. Aram.
Taanak — 38, 55, 64.
Tell-el-Amarna — 8f., 455, 46o (An-
hang).
Tempel, Jerusalemer — I24ff., 166,
i86f., 3i6 (Zerstörung), 352, 358f.
(Zweiter Tempel), 36iff., 3go’f.,
438. S. Kultus, Leviten, Opfer-
dienst, Priester, Psalmen.
Tempel von Elephantine — 397 ff.
Terafim (Amulette) — 64, 67.
Theokratie — 5i, 329, 342, 4o5ff.,
436. S. Jeheskel, Leviticus.
Thora (Pentateuch) — 24iff., 288
(Deuteronomium), 294, 337 (Levi-
ticus), 342, 379ff., 384 (Hexateuch),
407, 4i5ff., 43i (Kanon), 437,
467 ff. (Komposition s. im Anhang).
Tiglat-Pileser (Pul) — ig3f., 197ff.,
233, 235, 259.
Tirhaka (Taharka) — 272.
Tirsa — i5o, 191.
Totes Meer (Salzsee) — 25, 27, 457
(Anhang).
Transjordanien — 25ff., 29 f., g4,
113. S. Gilead.
Tut-anch-Amon — 10 (Anmerk.).
Tutmosis I. — 7.
Tutmosis III. — 7, 8, 19.
Tyrus — 9, 28, 123.
Uria, Prophet — 3oi.
Urim und Tumim — 78. S. Efod.
Ur-Kasdim (Babylonien) — 12.
Urkunden (Chronist) — s. Historio-
graphie in der Bibel.
Usia, König — i84f.
Vergeltung im Jenseits — 439 f.
Weib — 200, 235f., 446, 448.
Weisheit — 444f- S. Sprüche.
Wirtschaft — 55f., 74, I22f., i3o,
2o5ff., 2o8f., 3Ö7f., 378!., 4iof.,
448. S. Ackerbau, Handel, Soziale
Verhältnisse, Stadt.
Wüste (Sinai-, Syrische) — 17 f.
Xerxes — 366, 392 (Ahasveros).
Zacharja, König — 191.
Zadok, Zadokiten — 99, 121, 364,
366, 388f., 4o5f.
Zedekia, König — 3ogf., 3i4ff-, 332.
Zephanja, Prophet — 284.
Zion — 98, 336.
486
IIÄiHi*
lllllll
BBBBBgSggBS