§ 87. Weltweisheit und Moral (Sprüche) bestimmten religiösen und nationalen Färbung entbehrenden weisen Aussprüche und Aphorismen, die internationale Verbreitung fanden. So finden sich dieselben Aphorismen und Sprichwörter in dem alten Schrifttum der Juden, der Babylonier und der Ägypter 1 ). Unter den unlängst aufgefundenen Papyri in Elephantine, die Ur kunden der dortigen jüdischen Kolonie in aramäischer Sprache enthalten, wurden auch Fragmente aus der Aphorismensammlung des weisen Ahikar, eines sagenhaften assyrischen Hofmannes und Schreibers, entdeckt. Einige von diesen Aphorismen sind mit den entsprechenden Sentenzen der „Sprüche“ fast identisch (so bildet der Ausspruch: „Mehr denn alles andere hüte deine Zunge“ eine Parallele zu „Sprüche“ i3, 3; „Schone nicht des Stockes für deinen Sohn“ ist eine Wiederholung des oben angeführten Lehr spruchs in „Sprüche“ 2 3, 3). Daraus ist zu ersehen, daß die Juden der ägyptischen Diaspora um das V. Jahrhundert eine Samm lung von Lehrsprüchen in aramäischer Sprache besaßen, die mit den in Judäa verbreiteten „Sprüchen Salomonis“ eine große Ähn lichkeit aufweisen, wobei hier als gleichfalls fingierter Verfasser nicht der israelitische König, sondern ein assyrischer Hofmann auf- tritt. Den Lehrsprüchen Ahikars ist in der Sammlung ein Bericht darüber vorangeschickt, wie Ahikar zu seiner „Weisheit“ gelangte und in welcher Umgebung er sie darlegte. Dieser Bericht ist an scheinend babylonischen Ursprungs und gelangte hernach im ganzen Orient in aramäischer, syrischer und anderen Sprachen zur Ver breitung. Im hebräischen Schrifttum wird der Name des weisen Ahikar viel später, erst im II. oder I. Jahrhundert vor der christ lichen Ära (im apokryphischen Buche „Tobit“) erwähnt, woraus zu schließen ist, daß das „Buch Ahikar“ bereits früher auch in Judäa Verbreitung gefunden hatte. *) Man vergleiche mit den oben angeführten biblischen Lehrsprüchen fol gende babylonischen Aphorismen (um das VIII. Jahrh.): „Mach’ deinen Mund nicht weit auf, hüte deine Lippen; in übermütiger Stimmung führe nicht allein das Wort, sonst mußt du flugs, was du gesprochen, wieder zurücknehmen; rühre die Buhlerin nicht an, die viele Männer hat.“ Der babylonische Spruch: „Fürchte Gott, ehre den König“ ist mit dem biblischen: ,,Fürchte Jahve, mein Sohn, und den König“ fast identisch (24, 21). Von den ägyptischen Lehr sprüchen sind die folgenden den jüdischen sehr ähnlich: „Nimm dich in acht vor einer Frau von draußen, die man in ihrer Stadt nicht kennt. Sie ist ein großes, tiefes Wasser, deren Strudel man nicht kennt. Mache nicht viele Worte, denn Geschrei ist ein Abscheu für das Haus Gottes.“ 29 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes. s.