I 54 093
BUCHESMDE RE 1
I Werkstätten Wiener Straße
Wiener Straße 266, 4020 Linz
Jei. (0732) 46 2 55
V
der Krieg öer Welten
Roman von
H. G. Wells
Autorisierte Abersetzung aus dem Englischen
von
Dr. G. 7l. Crürvell
OÖLö LINZ
1 • 9 ‘ 1 ♦ 7
Verlag von Moritz perles, k. unö k. Hof-Huchhanölung
Men I., Seilergasse Ar. 4
54093
Alle Rechte vorbehalten
Druck
der Spamerschen
Vuchdruckerei in Leipzig
Inhaltsverzeichnis
Erstes Buch: Das Kommen der Marsmänner.
I. Am Vorabend des Krieges .....................
II. Der fallende Stern..........................
Isl. Auf der Horsell-Weide ........ ' . *
IV. Das Öffnen des Zylinders .....
V. Der Hitzstrahl . ...........................
VI. Der Hitzstrahl in der Chobham-Straße.....
VIl. Wie ich nach Hause kam.....................
VIII. Freitag Nacht...............................
IX. Der Kampf beginnt...........................
X. Im -Sturm ........................
XL Am Fenster ^ '
XII. Die Zerstörung non Weybridge und Shepperton.
XIIL Wie ich mit dem Kuraten zusammentraf ....
XIV. In London.....................................
XV. In Surrey.....................................
I XVI. Die Flucht aus London...................
XVII. Der „Thunder Child"............’ . . * ’ ’ ’
Zweites Buch: Das Land unter den Marsleuten.
I. Unterwegs....................................
II. Was wir von dem zerstörten Hause aus erblickten
III. Die Tage der Gefangenschaft.................
IV. Der Tod des Kuraten ........................
- V. Die Stille . . . . ................
VI. Das Werk von fünfzehn Tagen.................
VII. Der Mann auf den: Putneyhügel................
VIII. Das tote London.............................
IX. Die Verwüstung ..............
X. Schlußwort..................................
Erstes Buch.
Das Kommen der Marsmänner.
i.
Am Vorabend des Krieges.
Niemand hätte in den letzten Jahren des XIX. Jahrhun-
derts daran geglaubt, daß die menschlichen Angelegenheiten
genau und scharf von Intelligenzen, größer als die des Menschen
und doch so sterblich wie seine, beobachtet würden; daß, während
die Menschen ihrem Tagewerk nachgingen, sie belauscht und er-
forscht würden, fast ebenso eindringlich, wie ein Mann mit seinem
Mikroskop jene vergänglichen Lebewesen erforscht, die in einem
Wassertropfen ihr Wesen treiben und sich darin vermehren. Mit
unendlichem Behagen schlenderte die Menschheit, mit ihren klei-
nen Sorgen beschäftigt, kreuz und quer auf dem Erdball umher,
in gelassenem Vertrauen auf ihre Herrschaft über die Materie.
Es ist möglich, daß die Infusorien unter der Lupe dasselbe tun.
Niemand quälte sich mit dem Gedanken, daß älteren Weltkör-
pern Gefahren für die Menschheit entspringen könnten. Jede
Vorstellung, daß sie bewohnt sein könnten, wurde als unwahr-
scheinlich oder unmöglich aufgegeben. Es ist seltsam, sich heute
der geistigen Verfassung jener vergangenen Tage zu entsinnen.
Es kam höchstens vor, daß Erdenbewohner sich einbildeten, es
könnten Wesen auf dem Mars leben, minderwertige vielleicht,
jedenfalls aber solche, die eine irdische Forschungsreise freudig
begrüßen würden. Aber jenseits des gähnenden Weltenraums
blickten Geister, den unseren überlegen wie unsere denen reißen-
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der Tiere, blickten Intellekte, ungeheuer und kalt und unheim-
lich, mit neidischen Augen auf unsere Erde. Bedächtig und sicher
schmiedeten sie ihre Pläne gegen uns. Und ain Beginne des
XX. Jahrhunderts kam die große Ernüchterung.
Der Planet Mars, ich brauche den Leser kaum daran
zu erinnern, dreht sich in einer mittleren Entfernung von
140 000 000 Meilen *) um die Sonne. Und das Ausmaß von
Licht und Wärme, das er von der Sonne empfängt, entspricht
kaum der Hälfte unseres Anteils. Wenn die Nebularhypothese
nur im geringsten richtig ist, muß er älter sein als unsere
Erde, und lange, ehe unser Planet zu schmelzen aufgehört hatte,
muß das Leben auf seiner Oberfläche bereits begonnen haben.
Die Tatsache, daß er kaum den siebenten Teil des Volumens
unserer Erde erreicht, muß seine Abkühlung bis zu der Tempe-
ratur, bei der Leben beginnen konnte, beschleuniat liaben. Er,
Doch, so eitel ist der Mensch und so verblendet durch seine
Eitelkeit, daß bis zum Schluß des XIX. Jahrhunderts nicht
ein einziger Schriftsteller jemals dem Gedanken nähertrat, daß
dort geistiges Leben überhaupt oder weit über das irdische Maß
hinaus entstehen konnte. Auch wurde aus den Tatsachen, daß
der Mars älter ist als unsere Erde, daß er nur den vierten Teil
ihrer Oberfläche besitzt, daß er weiter von der Sonne entfernt
ist, nie der zwingende Schluß gezogen, daß er nicht nur von den
Anfängen des Lebens entfernter, sondern dessen Ende auch |s
näher ist. »
Die zeitliche Abkühlung, die einst auch unseren Planeten B
bevorsteht, hat bei unserem Nachbarstern schon große Fortschritte '
gemacht. Seine physische Beschaffenheit ist im Ganzen noch ein
Geheimnis. Doch wissen wir jetzt, daß selbst in seinen äaua-
torialen Regionen die Mittagstemperatur kaum jene unseres
kältesten Winters erreicht. , Seine Luft ist viel dünner als die
*) Gemeint find durchweg englische Meilen, deren eine 1,61 km gleich-
kommt.
I
7 —■
unsere, seine Meere sind so weit zurückgetreten, daß sie kaum
mehr ein Drittel seiner Oberfläche bedecken, und während des
langsamen Wechsels seiner Jahreszeiten bilden sich ungeheure
Schneekoppen, die an jedem Pole schmelzen und seine gemäßigten
Zonen periodisch überfluten. Jenes letzte Stadium der Er-
schöpfung, für uns noch so unglaublich entfernt, ist für die
Marsbewohner eine Tagesfrage geworden. Der unmittelbare
Druck der Not hat ihren Verstand geschärft, ihre Kräfte erhöht,
ihre Herzen verhärtet. Und indem sie den Weltraum überblick-
ten, sahen sie, ausgerüstet mit Werkzeugen und Geisiesgaben,
die wir uns kaum träumen ließen, in nächster Entfernung, nur
35 000 000 Meilen sonnenwärts, einen Morgenstern, der Hoff-
nung, unseren eigenen wärmeren Planeten, grün mit seiner
Vegetation, grau mit seinem Wasser, mit einer wolkigen Atmo-
sphäre, die von Fruchtbarkeit berichtet, einen Stern, der durch
seine treibenden Wolkengebilde sie Blicke tun läßt auf breite
Strecken bevölkerten Landes und schmale flottenerfüllter Seen.
Und wir Menschen, die diesen Stern bewohnen, müssen wir
jenen nicht zum mindesten so fremdartig und niedrig erscheinen,
wie uns Affen und Lemuren? Der intellektuelle Teil der Mensch-
heit gibt bereits zu, daß das Leben ein unaufhörlicher Kampf
üms Dasein ist. Und es scheint, daß dieser Glaube auch von den
Marsbewohnern geteilt wird. Ans ihrem Stern ist die Abküh-
lung schon weit vorgeschritten! Diese Welt ist noch voll blühen-
den Lebens, aber bevölkert von einer Menge, die jene als min-
derwertige Lebewesen betrachten. In Wahrheit, den Krieg son-
nenwärts zu tragen, ist ihre einzige Rettung vor der Vernich-
tung, die von Geschlecht zu Geschlecht immer näher an sie heran-
schleicht.
Und bevor wir sie zu hart beurteilen, müssen wir uns er-
innern, mit welcher schonungslosen und grausamen Vernichtung
unsere eigene Gattung nicht nur gegen Tiere, wie den ver-
schwundenen Bison und den Walgvogel, sondern gegen unsere
eigenen inferioren Rassen gewütet hat. Die Tasmanier wurden
trotz ihrer Menschenähnlichkeit in einem von europäischen Ein-
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Wanderern geführten Vernichtungskriege binnen fünfzig Jahren
völlig ausgerottet. Sind wir selche Apostel der Gnade, daß wir
uns beklagen dürfen, wenn die Marsleute in demselben Geist uns
bekriegen?
Die Marsleute scheinen ihren Absturz mit erstaunlicher Ge-
nauigkeit berechnet zu haben — ihre mathematischen Kenntnisse
sind den unserigen offenbar weit überlegen — und ihre Vorbe-
reitungen trafen sie mit fast vollkonmrener Einmütigkeit. Hätten
unsere Instrumente es erlaubt, so hätten wir die drohende Gefahr
weit zurück im XIX. Jahrhundert sehen können. Männer, wie
Schiaparelli, beobachteten den roten Planeten — beiläufig be-
merkt, ist es nicht seltsam, daß seit ungezählten Jahrhunderten
Mars der Stern des Krieges gewesen ist? — aber sie waren
außerstande, die schwankenden Erscheinungen zu erklären, die sie
auf ihren Karten so genau verzeichneten. Während dieser ganzen
Zeit mußten die Marsleute sich fertiggemacht haben.
Im Verlaufe der Opposition von 1894 wurde auf dem er-
hellten Teile der Scheibe ein großes Licht wahrgenommen, zuerst
im Lick-Observatorium, dann von Perrotin in Nizza, später auch
von anderen Beobachtern. Englische Leser hörten zuerst davon
in einer Nummer der „Nature" vom 2. August. Ich bin der
Ansicht, daß die Erscheinung der Reflex des in einer ungeheuren
Vertiefung ihres Planeten angebrachten Geschützes war, aus
dem ihre Geschosse auf uns gefeuert wurden. Sonderbare, n^ch
unaufgeklärte Zeichen, wurden in der Nähe jenes Ausbruchs
während der nächsten zwei Oppositionen beobachtet.
Der Sturm brach vor sechs Jahren über uns los. Als
der Mars sich der Opposition näherte, setzte Lavelle in Java die
Drähte der astronomischen Mitteilungsstation in Bewegung, um
in äußerster Erregung die verblüffende Nachricht von einem un-
geheuren Ausbruch weißglühenden Gases auf dem Planeten zu
übermitteln. Das hatte am 12. gegen Mitternacht stattgefun-
den. Das Spektroskop, zu dem er sich sofort begab, zeigte eine
Masse flammenden Gases an, hauptsächlich Wasserstoff, das sich
mit enormer Schnelligkeit gegen die Erde zu bewegte. Dieser
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Feuerstrahl war ungefähr ein Viertel nach zwölf unsichtbar ge-
worden. Er verglich ihn mit einem ungeheueren flammenden
Gebläse, das plötzlich und gewaltsam aus dem Planeten hervor-
schoß „wie flammendes Gas aus einer Kanone".
Das erwies sich als ein selten zutreffender Ausdruck. Doch
am nächsten Tage las man kein Wort davon in den Zeitungen,
nur eine kleine Notiz im „Daily Telegraph“. Die Welt verharrte
in Ungewißheit über eine der größten Gefahren, die jemals
das menschliche Geschlecht bedroht hatten. Ich hätte über die
Eruption überhaupt nichts gehört, wäre mir nicht der bekannte
Astronom Ogilvy in Ottershaw begegnet. Er war von der
Nachricht überaus bewegt und im Übermaß seiner Gefühle lud
er mich ein, jene Nacht mit ihm zusammen eine Prüfung des
roten Planeten vorzunehmen.
Trotz allem, was ich seither erlebt habe, erinnere ich mich
noch sehr genau jener Nachtwache: das schwarze, stille Obser-
vatorium, die beschattete Laterne, die einen schwachen Schimmer
auf den Boden in der Ecke warf, das unausgesetzte Ticken des
Uhrwerks am Teleskop, den kleinen Spalt im Dache — eine
oblonge Vertiefung, über die der Dunst der Sterne strich. Ogilvy
schritt auf und nieder, ungesehen aber hörbar. Blickte man durch
das Teleskop, dann gewahrte man einen tiefblauen Kreis, und
den kleinen runden Planeten, wie er am Himmel hinschwamm.
Dicht neben ihm im Gesichtsfeld, erinnere ich mich, waren
drei kleine Lichtpunkte, drei teleskopische Sterne, unendlich fern,
und um sie herum brütete die unergründliche Finsternis des
leeren Weltraums. Man weiß, wie die Dunkelheit bei einer
frostigen sternhellen Nacht aussieht. Durch das Teleskop be-
trachtet, scheint sie noch weit tiefer. Und unsichtbar für mich,
weil es so fern und klein war, über jenem unglaublichen Raum
schnell und stetig auf mich zu fliegend, jede Minute um so viele
tausende von Meilen näherkommend *— sauste jenes Ding, das
soviel Kamps und Unheil und Tod über unsere Erde bringen sollte.
Als ich so spähte, träumte ich nicht einmal davon; kein Mensch
auf Erden träumte damals von jenem unfehlbaren Geschoß.
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In dieser Nacht aber erfolgte ein zweiter Ausbruch von
Gas auf dem fernen Planeten. Ich sah ihn. Ein rötlicher Blitz
an der Kante, die Umrisse nur sehr schwach kenntlich, gerade,
als das Chronometer Mitternacht schlug. Ich meldete es Ogilvy,
und er nahm meinen Platz ein. Die Nacht war wärmer ge-
worden und ich durstig. Mit ungeschickt ausgestreckten Beinen,
meinen Weg in der Dunkelheit tastend, ging ich zu dem kleineu
Tisch, auf dem die Syphonflasche stand. Ogilvy geriet unter-
dessen über die Gasausströmungen, die ans uns zukamen, in
ungeheure Erregung.
In dieser Nacht nahm ein zweites unsichtbares Geschoß
seinen Weg vom Mars aus gegen die Erde, genau eine oder
zwei Sekunden weniger als vierundzwanzig Stunden nach dem '
ersten. Ich erinnere mich, wie ich dort an dem Tische saß; grüne
und rote Kreise flimmerten vor meinen Augen. Ich ärgerte
mich, daß ich keine Streichhölzchen hatte, um «ruchen zu können.
Ich dachte wenig über die Bedeutung des winzigen Lichtes nach,
das ich gesehen hatte, und wenig vermutete ich, was es mir so
bald bringen sollte. Ogilvy blieb bis ein Uhr auf der Warte,
dann gab er es auf. Wir zündeten die Laterne an.und gingen
zu seinem Hause hinüber. Unten lagen Ottershaw und Chertsey
in der Dunkelheit, mit allen ihren Hunderten in Frieden schlum- j
mernden Menschen.
Ogilvy war jene Nacht erfüllt von Mutmaßungen über die
Beschaffenheit des Mars und machte sich über die landläufige
Ansicht lustig, daß er Einwohner habe, die uns Zeichen geben.
Seine Ansichten faßte er dahin zusammen, daß ein heftiger
Meteoritenschauer über dem Planeten niedergehe, oder daß ein
ungeheurer vulkanischer Ausbruch im Zuge sei. Er machte mich
auch darauf aufmerksam, wie unwahrscheinlich es sei, daß auf
zwei benachbarten Planeten die organische Entwicklung sich in
derselben Richtung bewegt habe.
„Die Chancen gegen irgend etwas Menschenähnliches ans
dem Mars sind eine Million zu eins", sagte er.
Hunderte von Beobachtern sahen die Flamme in jener Nacht,
i, ^ ' 1
— ■ 11 —
und in der Nacht darauf, um Mitternacht, und wieder in der
Nacht darauf, und so fort zehn Nächte, eine Flamme jede Nacht.
Warum die Schüsse nach der zehnten Nacht aufhörten, hat nie-
mand auf Erden zu erllären versucht. Mag sein, daß die Gase,
die sich beim Abfeuern bildeten, den Marsleuten Ungelegenheiten
verursachten. Dichte Wolken von Rauch oder Dunst, durch ein
mächtiges Teleskop für die Erde als kleine graue sluktuierenöe
Flecken sichtbar, breiteten sich durch die Klarheit der Atmosphäre
des Planeten aus, und verdunkelten seine bekannteren Linien.
Selbst die Tageszeitungen nahmen schließlich von diesen
Störungen Notiz. Populäre Aufsätze, die sich mit den Vulkanen
des Mars beschäftigten, tauchten hier und da auf und wurden
überall nachgedruckt.- Ich erinnere mich, wie die halbkomische
! Zeitschrift „Punch" in einer politischen Zeichnung einen glück-
lichen Gebrauch von ihnen machte. Und, allen unmerklich,
zogen jene Geschosse, welche die Marsleute auf uns abfeuerten,
erdenwäts, und sausten jetzt mit einer Schnelligkeit von vielen
Meilen durch den leeren Weltraum, Stunde um Stunde und
Tag für Tag, näher und näher. Es scheint mir heute fast un-
glaublich seltsam, daß die Leute, während dieses reißende Schicksal
über ihnen hing, ihren winzigen Geschäften nachgehen konnten,
wie sie es damals taten. Ich entsinne mich noch, wie Markham
l jubelte, als er sich für das illustrierte Blatt, das er in jenen
Tagen herausgab, eine neue Photographie des Planeten ge-
sichert hatte. Menschen von heutzutage können sich kaum das
Übermaß und die Unternehmungslust vorstellen, die im Zeitungs-
wesen des XIX. Jahrhunderts herrschte. Was mich betraf, so
war ich damals sehr damit beschäftigt, Radfahren zu lernen;
überdies war ich für eine Anzahl Zeitschriften tätig, in denen
ich Untersuchungen über die wahrscheinlichen Entwicklungsformen
moralischer Ideen bei fortschreitender Zivilisation veröffentlichte.
Eines Nachts (das erste Geschoß kann damals kaum
10 000 000 Meilen entfernt gewesen sein) machte ich mit meiner
Frau einen Spaziergang. Es war sternenhell und ich erklärte
ihr die Zeichen des Tierkreises ; ich zeigte ihr den Mars, einen
kleinen Lichtpunkt, der sich zenithwärts bewegte, und gegen den
so viele Teleskope gerichtet waren.
Es war eine warme Nacht. Auf unserem Heimweg zog eine
Gesellschaft Ausflügler aus Chertsey oder Jsleworth singend und
musizierend an uns vorüber. Aus den Fenstern der oberen i
Stockwerke der Häuser schimmerten Lichter und die Leute gingen I
zu Bett. Vom Bahnhof in der Ferne schollen Töne sich ver- I
schiebender Züge herüber, ein Klirren und Poltern, von der Ent- I
fernung fast zur Melodie gesünstigt. Meine Frau machte mich .
auf den Glanz der roten, grünen und gelben Signallichter aus- .
merksam, die wie in einem Netzwerk gegen den Horizont hingen, i
So sicher schien alles, so ruhig.
Der fallende Stern.
Dann kam die Nacht des ersten fallenden Sterns. Er war
früh am Morgen gesehen worden, wie er über Winchester hin
ostwärts schoß, eine Flammenlinie, hoch in der Atmosphäre.
Hunderte müssen ihn gesehen und für eine gewöhnliche Stern- !
schnuppe gehalten haben. Albin beschrieb ihn und erwähnte, j
wie er einen grünlichen Strich hinter sich ließ, der einige Se-
kunden noch glühte. Denning, unsere größte Autorität fü ■
Meteoriten, stellte fest, daß die Höhe seiner ersten Erscheinung '
ungefähr 90 oder 100 Meilen betrug. Er glaubte, daß er un-
gefähr 100 Meilen östlich von ihm -zur Erde gefallen sei.
Ich befand mich damals gerade zu Hause, und schrieb in
meinem Studierzimmer. Und obwohl meine Flügelfenster gegen
Ottershaw blickten und die Vorhänge aufgezogen waren (in jenen
Tagen liebte ich es, den nächtlichen Himmel zu betrachten), sah
ich doch nichts davon. Und doch muß dieses seltsamste aller Dinge,
das je aus fremden Sphären auf die Erde fiel, gerade nieder-
gegangen sein, während ich dort saß. Und hätte ich aufgeblickt,
während es vorbeiflog, hätte es mir nicht entgehen können.
Manche von den Leuten, die es sahen, behaupten, daß sein Flug
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von einem zischenden Geräusch begleitet war. Ich selbst ver-
nahm nichts. Viele Leute in Berkshire, Surrey nnd Middlesex
müssen es fallen gesehen haben, dachten aber höchstens, daß
wieder ein Meteorit gefallen sei. Niemand scheint sich in jener
Nacht die Mühe genommen zu haben, nach der gefallenen Masse
zu suchen.
Sehr früh am Morgen des nächsten Tages erhob sich der
arme Ögilvy, der die Sternschnuppe gesehen hatte. Er war
überzeugt, daß irgendwo auf der Gemeindeweide zwischen Horseil,
Ottershaw und Woking ein Meteorit liegen mußte, und ging
fort in der Absicht, ihn zu suchen. Wirklich fand er ihn, bald
nach der Dämmerung, und nicht weit von den Sandgruben.
Durch den Einbruch des Projektils war eine-ungeheure Höhlung
entstanden. Sand und Kiesel waren mit großer Wucht in jeder
Richtung der Heide zerstoben und hatten Haufen gebildet, die
anderthalb Meilen weit sichtbar waren. Östlich stand das Heide-
kraut in Feuer, und ein dünner, blauer Rauch stieg in der Däm-
merung auf.
Das Ding selbst lag fast ganz in Sand begraben, zwischen
den verstreuten Splittern einer Föhre, die es im Niedersausen
zerschmettert hatte. Der freiliegende Teil hatte das Aussehen
eines riesigen Zylinders, der vollständig von einer dicken, schup-
pigen, dunkelbraunen Kruste bedeckt war, die seine Linien ver-
wischte. Er hatte einen Durchmesser von ungefähr dreißig
DardsZ. Ogilvy trat an die Masse heran, auf's höchste über-
rascht von ihrer Größe und mehr noch von ihrer Gestaltung,
da die meisten Meteoriten mehr oder weniger abgerundet sind.
Von seinem Fluge durch die Luft war der Körper aber, uoch so
heiß, daß es ihm unmöglich war, näher heranzukommen. Ein
surrendes Geräusch im Innern des Zylinders schrieb er der un-
gleichmäßigen Abkühlung seiner Oberfläche zu; denn, es war
ihm damals noch nicht der Gedanke gekommen, daß der Zylinder
hohl sein könne..
Er blieb am Rande der Höhle stehen, die der Körper sich
') 1 engl. Jard = 91 cm.
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selbst gegraben hatte, und starrte die seltsame Erscheinung an,
vor allem verblüfft über das Ungewöhnliche der Gestalt und
Farbe. Der Gedanke an etwas wie eine Absicht in seinem Er-
scheinen dämmerte schon damals leise in ihm ans. Der frühe
Morgen war. wunderbar still, und die Sonne, die gerade ans
die Fichten gegen Weybridge zu. schien, war schon warm. Er
erinnerte sich nicht, an jenem Morgen Vögel gehört zu haben,
kein Lüftchen regte sich. Der einzige Laut waren die schwachen
Bewegungen aus dem Innern des glimmenden Zylinders.
Ganz allein war er auf der Heide. Da bemerkte er, un-
willkürlich zurückschreckend, plötzlich, wie ein Stück der grauen
Schlacke, der aschenartigen Kruste, die den Meteorit bedeckte,
sich von der kreisrunden Kante des Endes loslöste. Sie siel tu
Flocken ab und ergoß sich auf den Sand. Ein großes Stück
sprang plötzlich ab und fiel mit einem so scharfen Klang zur
Erde, daß sein Herz fast still stand.
Eine Minute laug konnte er es kaum fassen, was das zu
bedeuten hatte. Und obwohl die Hitze übermäßig groß war,
kletterte er in die Höhle hinab dicht an den Klumpen heran, um
ihn näher zu betrachten. Selbst dann noch glaubte er, daß diese
Abschälung sich durch die Abkühlung des Körpers erklären lasse.
Was aber mit dieser Annahme sich nicht vereinen ließ, war die
Tatsache, daß die Asche nur von dem (Silbe des Zylinders abfiel.
Da bemerkte er, daß der kreisförmige Schlußteil des Zy-
linders sich sehr langsam um seine Achse drehte. Es war eine
so allmählige Bewegung, daß er sie nur daran erkannte, daß
ein schwarzer Strich, der noch vor fünf Minuten in seiner Nähe
sichtbar war, jetzt auf der anderen Seite der Scheibe sich befand.
Selbst jetzt verstand er kaum, was das zu bedeuten hatte, als er
einen gedämpften, kratzenden Laut hörte und zugleich sah, wie
der schwarze Strich sich um etwa einen Zoll vorwärts bewegte.
Da kam es über ihn wie ein Blitz. Der Zylinder war künstlich
— hohl — mit einem Ende, das sich abschraubte! Etwas im
Innern des Zylinders schraubte den Schlußteil ab!
„Großer Gott!" rief Ogilvy, „da ist ein Mensch drinnen
15
— Menschen sind drinnen! Halb zu Tode geröstet! Die zu
entrinnen suchen!"
Und auf einmal, mit einem raschen Gedankensprung, ver-
band er die Erscheinung mit dem Lichtblitz auf dem Mars.
Der Gedanke an das eingeschlossene Geschöpf war ihm so
furchtbar, daß er die Hitze vergaß und an den Zylinder heran-
stürzte, um die Drehung zu beschleunigen. Zum Glück aber
hielt ihn die langsame Ausstrahlung zurück, sich an dem noch
glühenden Metall die Hände zu verbrennen. Einen Augenblick
stand er unschlüssig da, dann wandte er sich um, kletterte aus
der Höhle heraus, und lief Hals über Kopf nach Woking. Es
mochte damals etwa sechs Uhr gewesen sein. Er begegnete einem
Fuhrmann und versuchte, ihm sein Erlebnis begreiflich zu machen.
Aber was er berichtete, dazu sein Aufzug, das war alles so wüst
— seinen Hut hatte er in der Höhle verloren — daß der Mann
einfach weiterfuhr. Ganz denselben Mißerfolg hatte er bei
einen Wirt in der Nähe der Horsellbrncke, der eben Sie Tür
seiner Schänke ausschloß. Der Mann hielt ihn für einen ent-
sprungenen Irrsinnigen und machte einen erfolglosen Versuch,
ihn in der Schankstube einzuschließen. Das ernüchterte ihn ein
wenig, und als er Henderson, den Londoner Journalisten, in
seinem Garten sah, rief er ihn an den Gartenzaun heran und
versuchte nun, sich verständlich zu machen.
„Henderson", rief er, „Sie haben wohl die Sternschnuppe
vorige Nacht gesehen?"
„Nun", sagte Henderson.
„Sie liegt jetzt draußen auf der Hörsellweide."
„Donnerwetter!" rief Henderson, „ein gefallener Meteor-,
stein! Nicht übel!"
„Aber es ist etwas mehr, als ein Meteorstein. Es ist ein
Zylinder — ein künstlicher Zylinder, Mann! Und es ist etwas
drinnen im Zylinder."
Henderson, den Spaten in der Hand, neigte sich etwas vor.
„Was sagen Sie da?" fragte er. Er ist auf einem Ohre
taub.
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Ogilvy teilte ihm nun alles, was er gesehen hatte, mit.
Henderson bedurfte etwa einer Minute, um es zu erfassen. Dann
ließ er seinen Spaten fallen, griff nach seinem Rock und kam
auf die Straße hinaus. Beide eilten nun sofort auf die Weide
zurück und fanden den Zylinder noch in derselben Lage. Das
Geräusch in seinem Innern aber hatte aufgehört, und ein
schmaler Reif glänzenden Metalls zeigte sich zwischen dem
Schlußteil und dem Körper des Zylinders. An dieser Stelle
drang die Luft mit einem schwachen zischenden Laut entweder
hinein oder heraus.
Die Männer lauschten, dann schlugen sie mit dem Stock
auf den Schuppenpanzer. Da keine Antwort kam, schlossen sie
beide, daß der Mensch oder die Leute im Innern bewußtlos
oder tot seien.
Beide waren natürlich außerstande, etwas zu tun. Sie
schrieen den Eingeschlossenen einige Trostesworte und Ver-
sprechungen zu und kehrten zur Stadt zurück, um Hilfe zu holen.
Es läßt sich denken, wie sie aussahen, bedeckt mit Staub, verstört
und unordentlich, wie sie im hellen Sonnenlicht die kleine Straße
entlang eilten, gerade als die Ladenbesitzer ihre Türen aus-
schlössen, und die Leute ihre Schlafzimmerfenster öffneten. Hen-
derson eilte sofort ins Stationsgebäude, inn die Nachricht nach
London zu telegraphieren. Die Zeitungsartikel hatten die Leute
schon vorbereitet und sie für diese Nachricht empfänglich gemacht.
Um acht Uhr war schon eine Anzahl Knaben und unbe-
schäftigter Leute nach der Weide aufgebrochen, um „die toten
Männer des Mars" zu besichtigen. Das war die Form, in der
die Nachricht sich verbreitete. Ich hörte zuerst davon durch
meinen Zeitungsjungen, als ich ausging, um mir meinen „Daily
Chronicle" zu holen. Ich war natürlich auf's äußerste überrascht
und verlor keinen Augenblick, fortzueilen, um mich über die
Brücke von Ottersham nach dem Sandhügel zu begeben.
17
ITT.
Auf der Äorsell-Weide.
Ich fand eine kleine Ansammlung von etwa zwanzig Per-
sonen, die sich um die Höhle scharten, in der der Zylinder lag.
Die Gestalt des ungeheuren in der Erde gebetteten Körpers habe
ich bereits beschrieben. Die aufgeworfene Erde und die Sand-
massen schienen wie durch einen Zündschlag angehäuft zu sein.
Ohne Zweifel hatte das Einschlagen des Körpers eine Flammen-
bildung verursacht. Henderson und Ogilvy waren nicht dort.
Ich vermute, daß sie nicht wußten, was sie für den Augenblick
beginnen sollten, und daß sie sich zu Henderson begaben, um
zu frühstücken.
Vier oder fünf Knaben hatten sich an den Rand der Höhle
gesetzt, schlenkerten mit den Beinen und unterhielten sich damit,
den riesigen Bau mit Steinen zu bewerfen, bis ich ihnen das Hand-
werk legte. Nachdem ich mit ihnen darüber gesprochen hatte, be-
gannen sie um die Gruppe der Umstehenden herum ein Fangspiel.
Unter den Leuten bemerkte ich zwei Radfahrer, einen Gar-
tenarbeiter, den ich zuweilen beschäftigte, den Fleischer Gregg
und seinen kleinen Sohn, ein Mädchen, das ein Kind trug, und
zwei oder drei Müßiggänger nnd Eckensteher, die gewöhnlich
in der Nähe des Bahnhofs umherlungerten. Es wurde sehr
wenig gesprochen. In den niederen Ständen Englands hatten
nur wenige Menschen in jenen Tagen mehr als sehr schwache
astronomische Vorstellungen. Die meisten starrten nur schwei-
gend das große, tischartige Ende des Zylinders an, das noch
genau so war, wie es Henderson und Ogilvy verlassen hatten.
Ich glaube, daß die allgemeine Erwartung der Leute, einen
Haufen verkohlter Leichen zu finden, beim Anblick dieser un-
belebten Masse etwas enttäuscht wurde. Einige Personen gingen
fort, während ich dort war, andere kamen. Ich kletterte in die
Grube und es war mir, als hörte ich unter meinen Füßen eine
schwache Bewegung. Der Verschluß hatte offenbar aufgehört,
sich zu drehen.
Wells, Der Krieg der Welten
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— 18 —
Erst als ich ganz nahe an den Körper herangetreten war,
sprang mir die Fremdartigkeit seiner Erscheinung in die Augen.
Auf den ersten Blick hatte er wirklich nichts Auffallenderes an
sich, als ein umgeworfener Wagen oder ein gefällter Baum, der
den Weg versperrt. Mehr als irgend etwas anderem glich er
einem rostigen, halbvergrabenen Gasrohr. Es bedurfte einer-
gewissen Summe wissenschaftlicher Bildung, um zu bemerken,
daß die graue Kruste auf dem Körper kein gewöhnliches Oxyd
war, daß das gelblich-weiße Metall, das auf der Spalte zwischen
dem Deckel und dem Zylinder glänzte, einen fremdartigen Far-
benton besaß. Der Begriff „Außerirdisch" hatte für die meisten
Zuschauer keine Bedeutung.
Damals war ich schon fest davon überzeugt, daß der Gegen-
stand vom Planeten Mars gekommen war. Aber ich hielt es
für unwahrscheinlich, daß er lebende Wesen enthalten würde.
Ich vermutete in der Schraubenbewegung eine automatische
Tätigkeit. Trotz Ogilvys Ansicht hielt ich an dem Glauben fest,
daß es Lebewesen auf dem Mars gebe. Von phantastischen Vor-
stellungen erfüllt/beschäftigte ich mich mit der Möglichkeit, daß
der Körper Handschriften enthalten könne, malte ich mir die
Schwierigkeiten aus, die sich bei ihrer,Übersetzung ergeben wür-
den, ob wir Münzen und Modelle in ihm finden sollten, und so
fort. Aber das Ding war doch ein wenig zu groß, um mir die
Richtigkeit meiner Vorstellungen zu verbürgen. Ich empfand
eine lebhafte Ungeduld, es'geöffnet zu sehen. Um elf Uhr etwa,
als sich nichts weiter ereignete, kehrte ich, voll von solchen Ge-
danken, nach meinen Hause in Maybury zurück. Aber es fiel
mir schwer, mit meiner Arbeit über, abstrakte Forderungen
weiterzukommen.
Am Nachmittag hatte sich-das Aussehen der Weide sehr ver-
ändert. Die frühen Ausgaben der Abendblätter hatten mit rie-
sigen Aufschriften:
„Eine Botschaft vom Mars."
„Merkwürdiger Bericht aus Woktng."
und so weiter, ganz London aufgeschreckt. Dazu noch Ogilvys
19
Telegramme an die astronomische Mitteilungsstation, die alle
Sternwarten in den drei Königreichen in Aufregung versetzt
hatten.
Ein halbes Dutzend oder mehr Flys H vom Wokinger Bahn-
hof standen auf der Straße bei den Sandhügeln, dazu ein Korb-,
wagen von Chobham und eine ziemlich vornehm aussehende
Privatkutsche. Außerdem sah man eine Unzahl von Fahrrädern.
Eine große Menge von Menschen mußte überdies trotz der Hitze
jenes Tages von Woking und Chertsey zu Fuß hergewandert
sein. Alles in allem eine beträchtliche Menschenansammlung —
auch einige hellgekleidete Damen.
Es war glühend heiß, nicht ein Wölkchen am Himmel, kein
Lüftchen wehte, einige vereinzelt stehende Fichten spendeten den
einzigen Schatten. Das brennende Heidekraut war endlich er-
loschen, aber die Ebene gegen -Ottershaw zu war geschwärzt,
soweit das Auge reichte, und senkrechte Rauchsäulen stiegen
immer noch auf. Ein unternehmender Obsthändler in der Chob-
hamstraße hatte seinen Sohn mit einer Wagenladung grüner
Äpfel und Jngwerbiers heraufgeschickt.
Als ich zum Rande der Grube kam, fand ich sie von einer
Gruppe von Männern, etwa einem halben Dutzend, besetzt —
Henderson, Ogilvy und einem großen blondhaarigen Mann (wie
ich später hörte, war es Mr. Stent von der königlichen astronomi-
schen Gesellschaft) mit einigen Arbeitern, die Spaten und Beile
schwangen. Stent gab seine Befehle in einer klaren, hohen
Stimme. Er stand auf dem Zylinder, der jetzt offenbar viel
kühler war. Sein Gesicht war dunkelrot und der Schweiß floß
ihm in Strömen herab. Es schien ihn etwas irritiert zu haben.
Ein großer Teil des Zylinders war nun bloßgelegt, obwohl
das untere Ende noch eingebettet lag. Sobald Ogilvy mich
unter dem gaffenden Haufen am Rande der Grube bemerkte,
rief er mir zu, hinabzukommen und fragte mich, ob ich zum
Gutsherrn Lord Hilton hinübergehen wolle.
Die wachsende Menschenmenge, sagte er, sei ein ernstliches
y Kleine einspännige Micteilwagen.
2*
20
Hindernis, das sich ihren Ausgrabungen entgegenstelle, beson-
ders die Knaben. Es müsse ein leichtes Geländer aufgestellt
werden, um die Leute zurückzudrängen. Er erzählte mir, daß
im Innern des Körpers gelegentlich noch eine leise Bewegung
wahrnehmbar sei, daß es aber den Arbeitern nicht gelungen
wäre, den Schlußteil abzuschrauben, da er ihnen keine Handhabe
bot. Der Körper schien ungeheuer dick zu sein, und es war mög-
lich, daß die schwachen Laute, die wir vernahmen, von einem
lärmenden Tumult im Innern herrührten.
Ich war mit Freuden bereit, seinen Wunsch zu erfüllen,
und dadurch einer der bevorzugten Zuschauer innerhalb der ge-
planten Umzäunung zu werden. Leider traf ich Lord Hilton
nicht zu Hause an, man teilte mir aber mit, daß er mit dem
Sechsuhrzug aus London erwartet werde. Da es damals un-
gefähr ein Viertel auf sechs war, ging ich noch nach Hause, trank
Tee, und ging dann zum Bahnhof, um ihn unterwegs aufzu-
halten.
IV.
Das Öffnen des Zylinders.
Als ich auf die Weide zurückkehrte, war die Sonne im
Sinken. Zerstreute Gruppen Neugieriger eilten aus der Rich-
tung von Woking heran, und einige Leute kehrten zurück. Die
Menge um die Grube war angewachsen und hob sich schwarz
von dem Zitronengelb des Himmels ab. Es mochten etwa zwei-
hundert Personen gewesen sein. Einige laute Stimmen waren
vernehmbar und eine Art Kampf schien sich bei der Grube ent-
sponnen zu haben. Die seltsamsten Vorstellungen kreuzten sich
in meinem Kopf. Als ich näherkam, hörte ich Stents Stimme.
„Zurück! Zurück!"
Ein Knabe kam auf mich zu gelaufen.
„Es bewegt sich!" rief er mir im Vorübereilen zu — „es
dreht sich, und dreht stich auf. Das gefällt mir nicht. Da gehe
ich lieber nach Hause!"
21
Ich kam näher zur Menge heran. Es mochten in Wirk-
lichkeit zwei- bis dreihundert Leute gewesen sein, die sich gegen-
seitig pufften und stießen. Jeder suchte sich vorzuschieben und
die anderen zurückzudrängen. Die paar Damen, die zugegen
waren, blieben dabei nicht am wenigsten zurück.
„Er ist in die Grube gefallen!" rief einer.
„Zurück!" schrieen andere.
Der Haufe schwankte ein wenig, und ich arbeitete mich mit
den Ellbogen durch. Alle schienen in höchster Aufregung zu sein.
Aus der Grube heraus scholl ein eigentümliches summendes Ge-
räusch.
„Ich bitte Sie!" rief Ogilvy, „helfen Sie mir, diese Narren
zurückzudrängen. Wir wissen ja noch nicht, was in diesem ver-
wünschten Ding steckt!"
Ich sah einen jungen Mann (ich glaube, es war ein Kommis
aus Woking), auf dem Zylinder stehen und sich bemühen, wieder
aus der Höhle herauszukriechen. Die Menge hatte ihn lnnein-
gestoßen.
Der Schlußteil des Zylinders war von innen heraus aus-
geschraubt worden. Schon waren nahezu zwei Fuß der glän-
zenden Schraube sichtbar. Jemand stieß mich unversehens von
rückwärts, und ich entging nur mit genauer Not der Gefahr,
auf das Schraubenende zu stürzen. Ich wandte mich um, und
in diesem Augenblick muß die Schraube herausgekommen sein.
Der Deckel des Zylinders schlug in heftiger Erschütterung auf
den Kieselboden auf. Ich stieß meine Ellbogen gegen die mich
von hinten drängende Menge und wandte mich neuerdings dem
Koloß zu. Einen Augenblick lang schien die kreisrunde Öffnung
völlig schwarz. Der Glanz der sinkenden Sonne blendete meine
Augen.
Ich glaube, jedermann erwartete, einen Menschen auftauchen
zu sehen — wahrscheinlich ein Geschöpf, das sich ein wenig von
uns irdischen Menschen unterscheiden würde, aber int wesent-
lichen doch einen Menschen. Ich wenigstens erwartete es. Aber
als ich genauer hinsah, bemerkte ich plötzlich, wie sich im Schatten.
22
etwas rührte, grau, in wellenförmigen Bewegungen, eines über
dem anderen. Und dann gewahrte ich zwei glühende Scheiben
wie Augen. Dann löste sich etwas, das einer kleinen grauen
Schlange glich, etwa in der Stärke eines Spazierstockes, aus der
sich windenden Masse los und schlängelte sich in der Luft gegen
mich — und dann ein zweites.
Mich durchfröstelte es plötzlich. Hinter mir hör.te ich eine
Frau laut kreischen. Ich drehte mich halb um, meine Blicke un-
verwandt auf den Zylinder geheftet, aus dem immer neue Fühl-
hörner sich Herauswauden. Dann begann ich mir meinen Weg
vom Rande der Grube zurückzubahnen. Ich sah, wie sich das
Erstaunen in den Gesichtern der Leute in Entsetzen verwandelte.
Von allen Seiten hörte ich wilde Schreie und Ausrufe. Ein all-
gemeines Zurückdrängen begann. Ich sah, wie der Kommis
noch immer sich abmühte, aus der Grube herauszukommen. Ich
sah mich allein, und bemerkte, wie die Leute auf der anderen
Seite der Grube flüchteten, Mr. Stent unter ihnen. Ich wandte
meine Augen wieder dem Zylinder zu, und ein unbändiger
Schrecken ergriff mich. Wie versteinert stand ich da und starrte.
Ein großer grauer, gedrungener Körper, ungefähr von der
Größe eines Bären, erhob sich langsam und schwerfällig aus dem
Zylinder. Als er sich aufrichtete unb vom Lichte beschienen
wurde, glitzerte er wie nasses Leder. Mit seinen zwei großen,
dunkel gefärbten Augen blickte das Geschöpf mich unverwandt an.
Es hatte unter den Augen einen Mund, dessen lippenloser Rand
unausgesetzt zitterte und von Speichel troff. Der Rumpf hob
und senkte sich unter heftigem Keuchen. Ein schlankes, fühlhorn-
artiges Anhängsel hielt den Rand des Zylinders umklammert,
ein anderes schlängelte sich in der Luft.
Wer nie einen lebenden Marsbewohner gesehen hat, wird
sich die grauenvolle Häßlichkeit seiner Erscheinung kaum vor-
stellen können. Der seltsame V-förmige Mund mit seinem zu-
gespitzten oberen Rand, der Mangel an Augenbrauen, die Ab-
wesenheit eines Kinnes unter dem keilförmigen unteren Mund-
rande, das unaufhörliche Zittern des Mundes, die gorgonen-?
23
artige Gruppe der Fühlhörner, das geräuschvolle Atmen der
Lungen in einer ihnen fremden Atmosphäre, die augenfällige
Schwerfälligkeit und Mühseligkeit der Bewegungen — ohne
Zweifel eine Folge der größeren Anziehungskraft der Erde —
vor allem aber die außergewöhnliche Intensität ihrer unge-
heuren Augen. Alles das gipfelte für den Beschauer in einer
Wirkung, die von der Seekrankheit nicht sehr verschieden war.
Es war etwas Schwammiges in ihrer öligen braunen Haut, und
in der plumpen Bedächtigkeit ihrer schwerfälligen Bewegungen,
lag etwas unbeschreiblich Erschreckendes. Schon bei dieser ersten
Begegnung, bei diesem ersten Anblick wurde ich von Abscheu
und Grauen überwältigt.
Plötzlich verschwand das Ungetüm. Es war über den Rand
des Zylindes getaumelt und in die Grube gefallen, wo es auf-
schlug, als fiele eine große Menge Leders zur Erde. Ich hörte es -
einen seltsamen, dumpfen Schrei ausstoßen, und in demselben
Augenblick erschien ein zweites dieser Geschöpfe düster in dem
tiefen Schatten der Öffnung.
Bei diesem Anblick verließ mich die Erstarrung, die der
erste Schrecken hervorgerufen hatte. Ich kehrte mich um und
rannte wie besessen nach der nächsten Baumgruppe, die etwa
hundert Dards entfernt war. Aber ich lief kreuz und quer
und stolperte alle Augenblicke, denn ich brachte es nicht über
mich, meine Augen von jenen Vorgängen abzuwenden.
Dort, unter einigen jungen Fichten und hinter Ginster-
büschen mache ich keuchend halt, um die weitere Entwick-
lung der Dinge abzuwarten. Die Weide rings um die
Sandhügel war mit Leuten besät, die wie ich, halb entsetzt,
halb bezaubert dastanden und auf jene Geschöpfe oder viel-
mehr auf die Steinhaufen am Rande der Grube, in der
sie lagen, starrten. Dann sah ich, mit erneutem Entsetzen, einen
runden, schwarzen Gegenstand, der am Rande der Höhle bald
auftauchte, bald verschwand. Es war der Kopf jenes Kommis,
der in die Grube gefallen war; er hob sich wie ein kleiner
schwarzer Gegenstand vom westlichen Himmel ab. Jetzt brachte
24
er Schultern und Knie herauf, und wieder schien er zurückzu-
gleiten, bis nur sein Kops sichtbar war. Plötzlich verschwand
auch dieser, und mir war, als hätte ein schwacher Schrei mich
erreicht. Ich hatte einen Augenblick den Impuls, zurückzugehen
und ihm zu helfen. Aber meine Furcht behielt die Oberhand.
Jetzt war nichts mehr zu sehen, da alles von der tiefen
Grube und den Sandhaufen, die der Zylinder beim Ausfallen
gebildet hatte, verdeckt war. Wer jetzt die Straße entlang von
Chobham oder Woking gekommen wäre, den hätte das Schauspiel,
das sich ihm bot, in Erstaunen gesetzt: eine verstreute Menge
von etwa hundert oder etwas mehr Leuten, in einem großen,
unregelmäßigen Kreise in Grüben, hinter Büschen, hinter Zäunen
und Hecken stehend, kaum zueinander redend, und dann nur in
kurzen, erregten Rufen, und unablässig auf einige Sandhaufen
starrend. Der Karren mit dem Jngwerbier hob sich, ein selt-
sames Überbleibsel, schwarz von dem glühenden Abendhimmel
ab. Bei den Sandgruben stand eine Reihe verlassener Fuhr-
werke, deren Pferde aus Hafersäcken fraßen oder ungeduldig
den Boden aufscharrten.
y.
Der Äitzstrahl.
Nach dem Blick auf die Marsleute, wie sie aus dem Zylinder,
in dem sie von ihrem Planeten auf die Erde gekommen waren,
hervorkrochen, lähmte eine Art Zauber meine Fähigkeit, zu han-
deln. Ich verharrte knietief im Heidekraut stehend, und starrte
auf die Sandhügel, die sie verbargen. Meine Seele war eine
Wahlstatt von Angst und Neugierde.
Ich wagte nicht, zur Grube zurückzugehen; aber ich hatte
ein leidenschaftliches Verlangen, einen Blick hineinzuwerfen.
Ich begann daher in einem weiten Bogen herumzugehen, um
einen geeigneten Aussichtspunkt zu finden; dabei aber behielt
ich fortwährend die Sandhaufen im Auge, die jene merkwürdigen
Ankömmlinge meinen Blicken entzogen. Auf einmal blitzte ein
25
Gewirr dünner schwarzer Peitschen, wie Arme eines Polypen,
gegen Sonnenuntergang auf, um sofort wieder zu verschwinden.
.Dann erhob sich Glied um Glied ein dünner Stab, der an seiner
Spitze eine kreisrunde Scheibe trug, die sich in schwerfälliger;
Bewegung drehte. Was konnte dort vorgehen?
Die meisten Zuseher hatten sich in zwei Gruppen gesammelt
— die eine, ein kleiner Menschenhaufe gegen Woking zu, die an-
dere, ein Knäuel von Leuten in der Richtung nach Chobham.
Offenbar machten die Leute denselben seelischen Zwiespalt durch
wie ich. Einige waren ganz in meiner Nähe. In einem Manne
erkannte ich einen meiner Nachbarn, obwohl ich, seinen Namen
nicht wußte. Ich trat auf ihn zu und redete ihn an. Es war
aber kaum ein günstiger Augenblick für eine vernünftige Unter-
haltung.
„Was für scheußliche Tiere!" sagte er. „Herr Gott! was
für scheußliche Tiere!" Er wiederholte das immer wieder.
„Haben Sie einen Menschen in der Grube gesehen?" fragte
ich ihn; aber er gab mir keine Antwort. Wir schwiegen und
standen eine Zeitlang beobachtend nebeneinander und em-
pfingen, glaube ich, einen gewissen. Trost aus unserer gegen-
seitigen Gesellschaft. Dann verlegte ich meinen Aussichtspunkt
auf einen kleinen Erdhügel, der mir den Vorteil einiger Fuß
Erhöhung gewährte. Als ich mich nach meinem Nachbar um-
wandte, sah ich ihn schon nach Woking zurückkehren.
Der Sonnenuntergang verblich allmählich zum Zwielicht,
und es ereignete sich nichts weiter. Die Menge in der Ferne
links gegen Woking schien zu wachsen und ich vernahm ein
schwaches Gemurmel. Der kleine Menschenknäuel gegen Chob-
ham zu zerstreute sich. Bei der Grube war kaum ein Anzeichen
einer Bewegung wahrzunehmen.
Mehr als alles andere, gab das den Leuten ihren Mut zu-
rück. Und ich denke, daß auch die Neuankömmlinge aus Woking
dazu beitrugen, wieder eine zuversichtlichere Stimmung §u
wecken. Jedenfalls machte sich, als die Dunkelheit hereinbrach,
eine langsame, bisweilen unterbrochene Bewegung gegen den
26
Sandhaufen zu bemerkbar, die um so mehr an Kraft zu gewinnen
schien, als die Stille des Abends rings um den Zylinder unge-
brochen blieb. Aufrechte schwarze Gestalten in Gruppen zu
Zweien und dreien wagten sich vor, machten halt, spähten vor-
sichtig aus, und schoben sich wieder vor. In einem sehr gelicht-
teten unregelmäßigen Halbkreis suchten die Leute die Grube zu
umzingeln. Auch ich begann gegen die Grube zu langsam vorzu-
schreiten.
Dann sah ich, wie einige Fuhrleute und andere keck in die
Sandgruben hinabstiegen. Ich hörte das Klappern der Hufe
und das Knirschen der Räder. Ich sah, wie ein junger Bursche
den Karren mit Äpfeln fortzog. Und dann bemerkte ich etwa
dreißig Pards von der Grube aus der Richtung von Horsell
kommend, eine kleine schwarze Gruppe von Männern, deren
vorderster eine weiße Fahne schwang.
Das war die Deputation. Es hatte eine heftige Beratung
stattgefunden; und da die Marsleute trotz 'ihrer abstoßenden Ge-
stalt intelligente Köpfe zu sein schienen, war. beschlossen worden,
durch Zeichen, mit denen man sich ihnen näherte, ihnen zu zeigen,
daß auch wir intelligent seien.
Ich sah die Fahne hin und her flattern, erst rechts, dann
links. Ich stand zu weit entfernt, um einen zu erkennen. Doch
später erfuhr ich, daß Ogilvy, Stent und Henderson unter anderen
es waren, die diesen Verständignngsversuch unternehmen woll-
ten. Diese kleine Gruppe hatte bei ihrem Herannahen den nun
fast vollständigen Kreis von Leuten in eine sozusagen schleisen-
artige Linie verwandelt. Eine Anzahl dünner schwarzer Ge-
stalten folgte ihr in angemessener Entfernung.
Plötzlich flammte ein Lichtstrahl auf, und eine Menge leuch-
tenden grünlichen Rauches schoß in drei deutlich sichtbaren
Stößen aus der Grube; eine Rauchsäule nach der andern fuhr
kerzengerade in die windstille Luft empor.
Dieser Rauch — Flamme wäre vielleicht die zutreffendere
Bezeichnung — war so strahlend hell, daß der tiefblaue Himmel
und die undeutlichen Strecken braunen Heidelandes gegen Hert-
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sey, die mit schwarzen Fichten bepflanzt waren, sich- plötzlich zu
verdüstern schienen, als die Stöße sich erhoben, und nach der
Verteilung des Rauches nur Noch düsterer wurden. Gleichzeitig
hörte man einen schwachen, zischenden Laut.
Jenseits der Grube stand der kleine Menschenhaufen, mit
der weißen Fahne an der Spitze, von diesen Erscheinungen
aufgehalten, ein kleiner Knäuel winziger schwarzer Gestalten
auf dem schwarzen Boden. Als der grüne Rauch aufstieg, flamm-
ten ihre Gesichter in einem fahlen Grün, das erblaßte, sobald
jener verschwand.
Da ging das Zischen allmählich in ein Summen über, in ein
langes, lautes, surrendes Geräusch. Langsam erhob sich eine
unförmige Gestalt aus der Grube, und ein winziger Lichtstrahl
schien aus ihm hervorzuflackern.
Plötzlich fuhren Blitze wirklicher Flammen aus der zer-
sprengten Menschengruppe hervor. In glänzenden Schwaden
sprang es von einem zum anderen. Es war, wie wenn ein un-
sichtbarer Feuerstrahl in sie gefahren sei und nun in einer weißen
Flamme ausbräche. Es war, als ob jeder einzelne unvermutet
und plötzlich in Feuer verwandelt worden wäre.
Dann sah ich beim Lichte ihrer eigenen Vernichtung, wie
sie taumelten und fielen, und wie die, welche sie stützten, sich zur
Flucht wandten.
Ich stand da und starrte und faßte es noch nicht, daß das
der Tod war, der in jener fernen kleinen Menschenmenge von
Mann zu Mann raste. Nur daß dort etwas Seltsames vorging,
war alles, was ich empfand. Ein fast lautloser und blendender
Blitz — ein Mann stürzte der Länge nach hin und blieb regungs-
los liegen. Wie das unsichtbare Hitzgeschoß über sie fuhr, gingen
Fichten in Flammen auf, und jeder dürre Ginsterbusch verwan-
delte sich mit dumpfem Krachen in einen Feuerherd. In weiter
Ferne gegen Knaphill zu sah ich Bäume und Hecken in Flammen,
und bemerkte, wie die Holzbauten plötzlich lichterloh brannten.
Er fuhr pfeilschnell und stetig ringsherum, jener flam-
mende Tod, jenes unsichtbare und unerbittliche Feuerschwert. An
28
den glühenden Büschen sah ich ihn auch an mich herankommen;
aber ich war zu verwirrt und zu betäubt, um mich von der Stelle
zu rühren. Ich hörte das Knistern des Feuers in den Sand-
gruben und den plötzlichen Schrei eines Pferdes, der aber ebenso
plötzlich verstummte. Daun war es mir, als ob eine unsichtbare,
aber glühend heiße HaNd auf der Heide zwischen mir und den
Marsleuten eine Linie zöge; überall in gekrümmter Linie um
die Sandgruben herum dampfte und knisterte der tiefschwarze
Boden. In weiter Ferne, dort, wo die Straße von der Station
Woking links ins Heideland führt, stürzte etwas mit lautem
Schall zusammen. Sofort verstummte das Zischen und, Summen,
und der schwarze, kesselförmige Gegenstand fiel, den Blicken
entschwindend, langsam in die Grube.
Alles das war mit einer solchen Schnelligkeit vor sich ge-
gangen, daß ich regungslos stehenblieb, erstarrt und geblendet
von ben Flammenblitzen. Hätte der Tod in vollem Umkreis die
Runde gemacht, ich wäre rettungslos mitten in meiner Betäubung
getötet worden. Aber er ging vorüber und schonte mich und
ließ mich plötzlich in der dunkeln und unheimlichen Nacht zurück.
Die wellenförmige Weide schien nun düster in fast unkennt-
licher Schwärze, außer dort, wo ihre Straßen grau und bleich
unter dem tiefblauen Himmel der frühen Nacht hinzogen. Es
war dunkel und auf einmal völlig menschenleer. Mir zu Häupten
tauchten nach und nach die Sterne auf, und am westlichen Himmel
stand noch ein blasser, schimmernder, fast grünlichblauer Streifen.
Die Wipfel der Fichten und die Dächer von Horsell kamen scharf
und schwarz im westlichen Widerschein heraus. Die Marsleute
und ihre Gerätschaften waren vollkommen unsichtbar. Nur die
dünne Stange, an deren Spitze die rastlose Spiegelscheibe sich
drehte, blieb stehen. Einiges Buschwerk und einzeln stehende
Bäume glühten und rauchten noch immer. Und von den Häusern
gegen die Station von Woking stiegen noch Feuersäulen in die
Stille der Abendluft auf.
Sonst hatte sich nichts geändert. Nur diese furchtbare
Erschütterung! Die kleine Gruppe schwarzer Punkte mit der
weißen Flagge war wie vom Erdboden weggefegt, und die Stille
des Abends, so schien es mir, war kaum gebrochen worden.
Da überkam es mich, daß ich auf dieser düsteren Heide hilf-
los, unbeschützt und allein dastand. Und plötzlich, wie ein Wesen,
das von außen her mich überfiel, kam — die Angst.
Mit Anstrengung wandte ich mich um und begann stolpernd
durch das Heidekraut zu laufen.
Die Angst, die mich beschlich, war keine vernünftige Angst,
sondern ein panischer Schrecken, nicht nur vor den Marsleuten,
sondern vor dem Dunkel und der Stille rings um mich. Das
übte eine so ungewöhnlich entmannende Wirkung aus mich aus,
daß ich leise weinend wie ein Kind dahinlief. Und jetzt, nachdem
ich mich umgekehrt hatte, wagte ich nicht mehr, zurückzublicken.
Ich erinnere mich, daß ich die seltsame Überzeugung hatte,
daß man mit mir spiele, daß jeden Augenblick, schon als ich im
Bereiche der Sicherheit war, dieser geheimnisvolle Tod — schnell
wie der Weg des Lichts — aus der Höhle, aus dem Zylinder
heraus mir nachrasen und mich niederschlagen werde.
VI.
Der Litzstrahl in der Chobham-Straße.
Es ist noch immer ein ungelöstes Rätsel, wie die Marsleute
imstande sind, Menschen so rasch und lautlos zu töten. Biele
» meinen, daß sie fähig sind, eine ungeheure Hitze in,einem Be-
hälter anzusammeln, bei dem jede Leitungsmöglichkeit vollkommen
ausgeschlossen ist. .Diese ungeheure Hitze übertragen sie. in-Paral-
lelen Strahlen auf jedes beliebige Objekt vermittels eines ge-
glätteten Spiegels von unbekannter Zusammensetzung — ähnlich
dem Lichtstrahl, den der parabolische Spiegel eines Leuchtturms
versendet. Aber niemand vermochte noch die Einzelheiten dieser
Annahmen zu beweisen. Wie immer es sich verhalten mag, das
ist gewiß, daß an dem Vorgänge ein starker Wärmestrahl am
wesentlichsten beteiligt ist. Hitze und unsichtbares statt sichtbaren
' Lichtes. Alles irgendwie Brennbare geht bei der Berührung
30
dieses Strahles in Flammen auf; Blei zerfließt wie Wasser;
er erweicht Eisen, bricht und schmelzt Glas; wenn er auf Wasser
fällt, entzündet es sich unverzüglich zu Dampf.
In jener Nacht lagen wohl vierzig Menschen unter dem
Sternlichte um die Grube herum- verkohlt und bis zur Unkennt-
lichkeit entstellt. Die ganze Nacht war das Weideland von Horscll
bis Mayburg verödet. Nur allmählich brannten die Feuer nieder.
Die Nachricht von dem Gemetzel erreichte Chobham, Woking
und Ottershaw wahrscheinlich zur selben Zeit. In Woking waren
die Läden schon geschlossen, als das Unglück sich ereignete, und
eine Anzahl von Menschen, Geschäftsleute usw., von den Ge-
schichten, die sie gehört hatten,, erregt, gingen über die Horsell-
brücke die Straße entlang zwischen den Hecken, die zur Weide
führten. Man kann es sich vorstellen, wie das junge Volk nach
der Arbeit des Tages zusammenströmte, wie es jene Nachricht,
so wie jede andere, zum Vorwand für gemeinsame Spaziergänge
und für landläufiges Liebesgeplänkel benützte. Ich höre es fast
noch heute, jenes fröhliche Summen von Stimmen die Straße
entlang an jenem Abend.
Bis jetzt wußten es freilich nur wenige Leute in Woking, daß
der Zylinder bereits geöffnet war, obwohl der arme Henderson
einen Boten auf dem Fahrrade nach dem Postamt geschickt hatte,
um einen besonderen Bericht an ein Abendblatt zu senden.
Als jette Leute in Gruppen zu zweien und dreien aufs
offene Feld kamen, fanden sie kleine Menschenansammlungen,
in erregter Unterhaltung begriffen. Alles blickte nach dem wir-
belnden Spiegel über den Sandgruben. Und bald hatte sich der
Neuangekommenen dieselbe Erregung bemächtigt.
Um halb neun Uhr, als die Deputation vernichtet wurde,
mag sich etwa eine Menge von dreihundert Leuten an jener Stelle
befunden haben, außer jenen, welche die Straße verlassen hatten,
um sich näher an die Marsleute heranzuschleichen. Auch drei
Schutzleute, darunter ein Berittener, waren zugegen, die, Mr.
Stents Weisungen folgend, ihr möglichstes taten, die Leute zurück-
zudrängen und sie abzuhalten, sich dem Zylinder zu nähern. Pfiffe
31
und Hohngelächter wurden gehört. Sie kamen von jenen ge-
dankenlosen und übermäßig aufgeregten Elementen, denen ein
Gedränge stets Anlaß zu Lärm und rohen Scherzen bildet.
Stent und Ogilvy, welche die Möglichkeit eines Zusammen-
stoßes ins Auge faßten, hatten von Horsell nach der Kaserne tele-
graphiert, als die Marsleute auftauchten. Sie hatten um die
Unterstützung einer Kompagnie Soldaten gebeten, welche jene
fremdartigen Geschöpfe vor Gewalttätigkeiten schützen sollten.
Dann waren sie sofort wieder zurückgekehrt, um jenen unglück-
seligen Annäherungsversuch ins Werk zu setzen. Die Beschrei-
bung ihrer Ermordung, wie sie von der Menge beobachtet wurde,
deckte sich genau mit meinen eigenen Eindrücken: die drei Stöße
grünen Rauches, das tiefe summende Geräusch und die aufflam-
menden Blitze.
Aber die Gefahr, in der jene Volksmenge schwebte, war
noch größer als die meine. Nur der Umstand, daß ein Hügel
Heidesandes den unteren Teil des Hitzstrahles aufhielt, rettete sie.
Wäre die Stange mit dem parabolischen Spiegel nur einige
Jards höher gewesen, es wäre niemand übriggeblieben, um
den Vorgang zu berichten. Sie sahen die Blitze, beobachteten,
wie die Männer hinstürzten, wie gleichsam eine unsichtbare Hand
das Gebüsch in Brand steckte, wie die Flamme im Zwielicht aus
sie zu raste. Dann sauste, mit einem pfeifenden Laut, der das
Surren in der Grube übertönte, der Strahl dicht über ihre Köpfe
hinweg, entzündete die Wipfel der Buchen, welche die Straße
säumten, zersplitterte die Ziegel, zerschmetterte die Fenster, ver-
brannte die Fensterrahmen, und zertrümmerte einen Teil des
Giebels eines Eckhauses.
Bei diesem plötzlichen Aufschläge, dem Zischen und dem
! blendenden Lichtschein der brennenden Bäume schien die Menge
einige Augenblicke hin und her zu schwanken.
Funken und brennende Zweige und einzelne Blätter sielen
jvie flammende Geschosse auf die Straße. Hüte und Kleider singen
Feuer. Bon der Weide her hörte man erschreckte Rufe.
Kreischende Schreie gellten von allen Seiten. Plötzlich kgm
32
ein berittener Schutzmann gegen die Menge herangesprengt.
Er schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und schrie aus
Leibeskräften.
„Sie kommen!" kreischte ein Weib, und sofort kehrten sich
alle um und drängten die Rückwärtsstehenden vorwärts, um den '
Rückgang nach Woking frei zu machen. Wie eine Herde er-
schreckter Schafe stob die Menge blindlings auseinander. Da,
wo die Straße eng und dunkel wurde, zwischen den hohen Ufern,
staute sich die Masse und ein verzweifelter Kampf begann. Nicht
alle konnten sich retten; drei Personen, zwei Frauen und ein
kleiner Knabe, wurden erdrückt und niedergetreten. Sie wurden
liegengelassen, um in dem Schrecken der Finsternis zu sterben.
VII.
Wie ich nach Lause kam.
Was mich betraf, so entsinne ich mich nicht mehr der Einzel-
heiten meiner Flucht außer der Wucht, mit der ich an Baum-
stämme stieß und wie ich im Heidekraut strauchelte. Alles um
mich herum nahm die unsichtbaren Schrecken der Marsleute an;
jenes erbarmungslose Feuerschwert schien auf und nieder zu
sausen, immer mir zu Häupten zu funkeln, bevor es niederfuhr,
mir das Leben zu nehmen. Ich erreichte die Straße zwischen
Horsell und den Kreuzwegen, nnd ich lief durch den Ort wieder
Zu den Kreuzwegen zurück.
Endlich konnte ich nicht weiter; ich war von der Heftigkeit
meiner Erregung und meiner Flucht erschöpft. Ich taumelte
und stürzte nieder. Das war nahe der Brücke, welche bei den
Gaswerken den Kanal übersetzt. Ich fiel und blieb stillliegen.
Ich muß eine ganze Weile dort gelegen sein.
In einer seltsamen Verwirrnug befangen, richtete ich mich
endlich auf. Einen Augenblick vielleicht konnte ich es nicht klar
fassen, wie ich hierhergekommen war. Wie ein Kleidungsstück
war mein Schrecken von mir gefallen. Mein Hut war verschwun-
den, und mein Kragen war vom Hemdknopf gerissen. Einige
33
Minuten vorher standen nur drei Dinge greifbar vor mir —
die Unermeßlichkeit der Nacht, des Raumes und der Natur,
meine eigene Schwäche und Angst, und das Nahen des Todes.
Nun -aber war es mir, als hätte sich alles gewendet, und sofort ver-
schob sich mein Gesichtspunkt. Ich konnte keinen merklichen Über-
gang von einem Gemütszustand in den andern wahrnehmen.
Ganz unvermittelt war ich wieder mein eigenes alltägliches
Selbst, ein gewöhnlicher ehrbarer Bürger. Die schweigende Heide,
mein Trieb zur Flucht, die aufschießenden Flammen, alles er-
schien mir jetzt wie ein Traum. Ich fragte mich, ob sich -alle diese
Dinge wirklich zugetragen hätten. J-ch konnte es nicht glauben.
Ich erhob mich und stieg unsicheren Schrittes die steil an-
steigende Brücke hinan. Mein Inneres war nichts als eine große
Verblüffung. Meine Muskeln und meine Nerven schienen alle
Kraft verloren zu haben. Ich kann sagen, daß ich wie ein Be-
trunkener taumelte. Über den- Brückenbogen tauchte ein Kopf
auf und die Gestalt eines Arbeiters, der einen Korb trug, er-
schien. Ein kleiner Knabe lief neben ihm her. Er ging an mir
vorüber und wünschte mir „gute Nacht". Es war meine Absicht,
mit ihm zu sprechen, ich konnte es aber nicht. Ich erwiderte seinen
Gruß mit einem unverständlichen Lallen und ging weiter.
Über den Mayburg-Viadukt brauste südwärts ein Zug, ein
wogendes Wallen weißen, feurigen Rauches, eine lange Raupe
erleuchteter Fenster: ein Poltern und Rasseln und Klirren, und
fort war er. Eine spärliche Gruppe von Leuten stand plaudernd
im Flur eines der hübschen Giebelhäuser, deren Reihen die
„Oriental Terrace" bildeten. Das alles schien mir so wirklich
und so vertraut. Und alles, das hinter mir lag, war unsinnig und
phantastisch ! Solche Dinge, sagte ich mir, könne es ja gar nicht
geben.
Ich bin vielleicht ein Mann von ganz besonderen Stim-
mungen. Ich weiß nicht, wieweit meine Erfahrungen allgemei-
ner Natur sind. Ich habe Zeiten, in denen ich von den seltsam-
sten Empfindungen heimgesucht werde, als sei ich gleichsam von.
mir selbst und meiner Umgebung losgelöst. Mir ist, als beob-
Wells, Der Krieg der Welten s
34
achtete ich alles von außen her, aus einer unfaßlich großen Ent-
fernung, außerhalb der Zeit, außerhalb des Raumes, jenseits
von allem, was bedrückt und traurig macht. Diese Empfindung
war in jener Nacht sehr stark. Das war ein anderer Teil meines
Traumes.
Aber was mich verwirrte, >var der schreiende Widerspruch
zwischen der Heiterkeit, die meine Augen sahen, und dem pfeil-
schnellen Tod, der dort drüben, nicht zwei Meilen entfernt, um-
herraste. Von den Gaswerken her scholl geschäftiger Lärm, und
die elektrischen Lampen strahlten hell. Als ich zu der plaudern-
den Menschengruppe kam, machte ich halt.
„Was gibt's Neues auf der Weide?" fragte ich.
Zwei Männer und eine Frau standen beim Tor.
„Was?" rief einer der Männer, sich mir zuwendend.
„Was es Neues auf der Weide gibt?" wiederholte ich.
„Ja, sind Sie denn nicht gerade dort gewesen?" fragten
die Männer.
„Die Leute scheinen ja ganz verrückt zu sein wegen der
Weide", ließ sich jetzt die Frau vom Flur her vernehmen.
„Was ist denn eigentlich los?"
„Haben Sie denn nichts von den Marsleuten gehört?" fragte
ich. „Von den Geschöpfen vom Stern Mars?"
„Mehr als genug", sagte die Frau. „Danke", und alle drei
lachten.
Ich fühlte mich beschämt und geärgert. Ich versuchte, ihnen
mitzuteilen, was ich gesehen hatte und konnte es nicht. Sie lach-
ten immer nur über meine gebrochenen Sätze.
„Ihr werdet noch mehr davon hören", sagte ich und ging
fort, meinem Hause zu.
Schon im Hausflur erschreckte ich meine Frau durch meine
eingefallenen Züge. Ich ging in das Speisezimmer, setzte mich,
trank etwas Wein, und sowie ich mich etwas gesammelt hatte,
erzählte ich ihr von den Dingen, die ich gesehen hatte. Das
Essen, das aus kalten Gerichten bestand, war schon aufgetragen,
blieb aber unberührt auf dem Tische, während ich alles erzählte.
35
„In einem sann ich dich beruhigen", sagte ich, um die
Furcht, die ich geweckt hatte, wieder abzuschwächen. „Es sind
die plumpsten Geschöpfe, die ich je kriechen sah. Sie mögen die
Grube besetzt halten und alle Leute, die ihnen nahe kommen, um-
bringen ; aber sie können nicht ans ihr heraus... Aber scheußlich
sind sie!"
„Bitte, nicht!" sagte meine Frau. Sie zog ihre Brauen zu-
sammen und legte ihre Hand ans die meine.
„Der arme Ogilvy!" sagte ich. „Zn denken, daß er da drau-
ßen tot liegt!"
Meine Frau wenigstens fand meine Erlebnisse nicht un-
glaubwürdig. Als ich sah> wie Totenblasse ihr Gesicht bedeckte,
brach ich plötzlich ab.
„Sie mögen auch hierher kommen", sagte sie einmal ums
andere.
Ich bat sie. Wein zu trinken und bemühte mich, sie zu be-
ruhigen.
„Sie können sich ja kaum bewegen", sagte ich.
Ich begann nun, sie und mich selbst dadurch zu trösten,
daß ich alles das wiederholte, was Ogilvy mir über die Unmög-
lichkeit eines dauernden Anfenthaltes der Marsbewohner aus. ,,
der Erde gesagt hatte. Besonderes Gewicht legte ich auf die
Schwierigkeiten der Gravitation. Auf der Oberfläche der Erde
ist die Kraft der Schwere dreimal so groß als auf der des Mars.
Ein Marsbewohner würde daher hier dreimal soviel wiegen
als auf dem Mars, seine Muskelkraft aber würde gleich bleiben.
Sein eigener Körper würde ihn daher drücken wie ein Bleige-
wicht. Wirklich war das die allgemeine Ansicht. Sowohl die
„Times" wie der „Daily Telegraph" unter anderen Blättern
wiesen am nächsten Morgen nachdrücklich darauf hin. Beide aber
übersahen, genau so wie ich, zwei diese Tatsachen offenbar um-
stoßende Erscheinungen.
Wie wir jetzt wissen, enthält die Atmosphäre der Erde weit
mehr Sauerstoff, oder anders ausgedrückt, weit weniger Argon
als die des Mars. Die kräftigenden Einflüsse dieses Übermaßes
3*
36
von Sauerstoff auf die Marsbewohner trugen unstreitbar viel
dazu bei, der erhöhten Schwere ihrer Körper, das Gleichgewicht
zu halten. Und in zweiter Linie übersahen wir die Tatsache, daß
so beträchtliche Intelligenzen, wie die Marsleute sie besaßen,
vollkommen befähigt waren, im Notfälle sich ohne jeden Mus-
kelaufwand zu behelfen.
Zu jener Zeit aber erwog ich diese Punkte nicht; und schei-
terten meine Berechnungen völlig an den Fähigkeiten jener Ein-
dringlinge. Durch die Tröstungen meiner eigenen Tafel, durch
Wein und Speise, durch die Notwendigkeit, meine Frau zu be-
ruhigen, wurde ich selbst nach und nach beherzter und sorgloser.
„Sie haben eine große Dummheit begangen," sagte ich,
mein Weinglas ergreifend; „sie sind gefährlich, weil sie selbst aus
Furcht -ganz toll geworden sind. Vielleicht erwarteten sie nicht,
hier lebende Wesen zu finden, gewiß aber nicht intelligente
Lebewesen. Im schlimmsten Fall wirft man eine Bombe in die
Grube. Die wird sie alle töten."
Die ungeheure Aufregung über die letzten Ereignisse hatte
meine Auffassungskraft ohne Zweifel in einen Zustand großer
Reizbarkeit versetzt. Ich erinnere mich jener Mahlzeit noch jetzt
mit großer Deutlichkeit. Das liebliche und ängstliche Gesicht mei-
ner Frau, wie es unter dem rosafarbenen Lampenschirm nach mir,
blickte, das weiße Tischtuch mit den silbernen und gläsernen Ge-
rätschaften — denn in jenen Tagen erlaubten sich selbst philo-
sophische Schriftsteller manchen kleinen Luxus —, der purpur-'
rote Wein in meinem Glas, das alles lebt in photographischer
Treue in mir. Am Ende des Tisches saß ich selbst, spielte mit
meiner Zigarette, beklagte Ogilvys Übereifer und verwünschte die
kurzsichtige Furchtsamkeit der Marsleute.
— 37 —
VIII.
Freitag Nacht.
Von allen den sonderbaren und erstaunlichen Dingen, die
sich an jenem Freitag zutrugen, war für meine Begriffe das
merkwürdigste die Verquickung der Alltagsgewohnheiten unserer
gesellschaftlichen Ordnung mit den ersten Anzeichen jener Reihe
von Ereignissen, welche diese gesellschaftliche Ordnung über den
Haufen werfen sollten. Hätte man am Freitag nacht mit einem
Zirkel einen Kreis von fünf Meilen im. Halbmesser rund um
die Wokinger Sandgruben gezogen, so hätte man — davon bin
ich überzeugt — außer etwa den Angehörigen Mr. Stents oder
der paar Radfahrer, oder der Londoner, die tot auf der Weide
lagen, kein menschliches Wesen außerhalb dieses Kreises gefunden,
dessen Empfindungen oder Gewohnheiten nur im geringsten von
beit Neuankömmlingen berührt wurden. Viele Leute hatten na-
türlich von dem Zylinder gehört; wenn sie Zeit hatten, sprachen
sie wohl auch davon; sicherlich aber machte die Geschichte längst
nicht °den aufregenden Eindruck, den etwa ein Ultimatum an
Deutschland geweckt hätte.
In London wurde in jener Nacht das Telegramm des armen
Henderson, das die allmählige Aufschraubung des. Geschosses
beschrieb, allgemein für eine Ente gehalten, und sein Abendblatt
telegraphierte an ihn um eine aufklärende Bestätigung; da aber
keine Antwort von ihm eintraf — der Mann war ja tot — be-
schloß man, keine Sonderausgabe zu veranstalten.
Selbst innerhalb des Fünfmeilenkreises blieb die große
Mehrheit der Leute gleichmütig. Das Betragen der Männer und
der Frauen, mit denen ich sprach, habe ich schon beschrieben. Im
ganzen Umkreis setzten sich die Leute mittags und abends zu
Tisch; Arbeiter besorgten nach dem Tagewerk ihren Garten, Kin-
der wurden zu Bett gebracht; junge Leute und Liebespaare lust-
wandelten in den Heckenwegen; Gelehrte saßen über ihren
Büchern.
Mag sein, daß in den Dorfstraßen allerlei wirre Reden
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gingen, daß in den Schänken ein neuer und siegreicher Gesprächs-
stoff auftauchte, daß ab und zu ein Bote, oder sogar ein Augen-
zeuge der jüngsten Ereignisse einen Sturm,von Aufregung, wildes
Geschrei und erschreckte Znsammenlänfe verursachte. Aber im
großen ganzen ging das alltägliche Treiben, Arbeiten, Essen,
Trinken, Schlafen weiter wie seit ungezählten Jahren — als ob
es keinen Planeten Mars am Himmel gäbe. Selbst ans der
Station Woking, in Horsell und in Chobham war das der Fall.
Am Knotenpunkt von Woking sah man noch in später
Stunde Züge halten und abfahren, andere wurden verschoben.
Reisende stiegen ans und warteten, und alles ging in der gewohn-
ten Weise vor sich. Ein Zeitungsjunge von der Stadt verkaufte,
unbekümmert um Mr. Smiths .Monopol, die Blätter mit den
Neuigkeiten des Nachmittags. Das Klirren und Stoßen der Lo-
ris und die gellenden Pfiffe der Lokomotiven vermischten sich mit
seinem Geschrei: „Männer vom Mars!" Um nenn Uhr kamen
einige erregte Leute mit unglaubwürdigen Berichten auf den
Bahnhof, riefen, aber keine größere Verwirrung hervor als etwa
Betrunkene. Leute, die in der Richtung nach London fuhreü und
durch die Wagenfenster in die Dunkelheit Hinäusblickten, sahen
nur einen seltsamen, flackernden, immer wieder erlöschenden und
immer wieder auftauchenden Lichtschein gegen Horsell zu schim-
mern, sahen eine rote Glut und einen dünnen Schleier Ranch
zum Himmel treiben; und sie dachten weiter nichts, als daß dort
ein Heidefener brenne. Nur als der Zug am letzten Stück des
Weidelandes vorüberfnhr, konnte man einige Aufregung bemer-
ken. An der Gemeindegrenze von Woking brannten etwa sechs
Landhäuser. In allen Häusern der drei Dörfer auf der Weideseite
brannte Licht, und die Leute wachten bis Tagesanbruch.
Neugierige Menschenhaufen hielten sich hartnäckig ans den
Brücken in Chobham und in Horsell ans. Leute kamen und
gingen, aber die Menge blieb. Einige waghalsige Gesellen schli-
chen sich- wie man später hörte, in die Dunkelheit hinaus und
krochen ganz nahe an die Marsleute heran; aber sie kehrten nie
wieder zurück, denn von Zeit zu Zeit folgte ein Lichtstrahl, wie
39
der Scheinwerfer eines Kriegsschiffes, über die Weide, und der
Hitzstrahl folgte unmittelbar darauf. Von diesen Unterbrechun-
gen abgesehen, schien' jene große Fläche Weidelandes schweig-
sam und verlassen; und die verkohlten Leichen lagen die ganze
Nacht unter den Sternen auf der Erde und blieben dort den
ganzen nächsten Tag. Ein Geräusch von der Grube her, das wie
Hämmern klang, wurde von vielen Leuten gehört.
Das war der Stand der Dinge Freitag nachts. Im Mittel-
punkt stak in der Rinde unseres alten Planeten wie ein ver-
gifteten Wurfspeer der Zylinder. Doch das Gift war kaum noch
wirksam. Rund umher lag ein Stück schweigenden Weidelandes,
das an einigen Stellen glimmte, und hier und dort lagen einige
dunkle undeutliche Körper in verzerrten Stellungen. Ab und zu
brannte ein Strauch, ein Baum. Darüber hinaus ein Flackern
von Erregung, aber über dieses Flackern war der Brand nicht
hinausgewachsen. In der übrigen Welt floß der Strom des Le-
bens hin, wie er seit undenklichen Jahren hingeflossen war. Das
Fieber des Krieges, das in kurzem Adern und Venen gerinnen
machen, Nerven ertöten und das Gehirn zerstören sollte, mußte
erst entstehen.
Die ganze Nacht hindurch hämmerten die Marsleute und
waren unablässig, schlaflos, unermüdlich mit den Maschinen,
die sie instand setzten, beschäftigt. Immer wieder fuhr eine
Masse grünlichweißen Rauches zum sternenhellen Himmel auf.
Ungefähr um elf Uhr kam ein Zug Soldaten durch Horsell
und verteilte sich am Rande der Weide, um einen Kordon zu
bilden. Später marschierte ein zweiter Zug durch Chobham, um
sich auf der Nordseite zu verteilen. Einige Offiziere von der Jn-
kermankaserne waren schon am frühen Morgen bei der Weide an-
gekommen und einer, Major Eden, wurde als vermißt gemeldet.
Der Oberst des Regiments kam um Mitternacht zur Chobham-
brücke und fragte die Menge eifrig aus. Die militärischen Behör-
den waren sich des Ernstes der Dinge ohne Zweifel völlig bewußt.
Am nächsten Morgen waren die Zeitungen in der Lage, mitzu-
teilen, daß um elf Uhr eine Schwadron Husaren, zwei Maxim-
— 10
geschütze und etwa 400 Mann des Cardiganregiments von Al-
dershot abgingen.
Einige Sekunden nach Mitternacht sah die Menge in der
Chertseystraße in Woking einen Stern in nordwestlicher Richtung
in das Fichtengehölz einfallen. Er fiel unter grünlichen Licht-
erscheinungen und verursachte ein Zucken von Licht wie ein som-
merlicher Blitz. Das war der zweite Zylinder.
IX.
Der Kampf beginnt.
Der Samstag lebt in meiner Erinnerung als ein Tag ban-
ger Erwartung. Er war auch ein Tag der Abspannung, heiß
und schwül; wie man mir mitteilte, wechselte das Barometer un-
aufhörlich. Meiner Frau war es gegönnt, bald einzuschlafen;
ich hatte nur wenig Schlaf gefunden und stand frühe auf. Vor
dem Frühstück ging ich in den Garten und blieb dort lauschend
stehen. Aber in der Richtung gegen die Weide regte sich nichts
als eine Lerche.
Der Milchmann kam wie gewöhnlich. Ich hörte das Rasseln
seines Karrens und ging ums Hans herum zum Seitenpförtchen,
um von ihm die letzten Neuigkeiten zu erfahren. Er erzählte
mir, daß im Laufe der Nacht die Marsleute von den Truppen
umzingelt wurden, und daß man Geschütz erwarte. Ich hörte (ein
, vertrautes, beruhigendes Geräusch!) einen Zug gegen Woking
zu fahren.
„Man will sie nicht töten," sagte der Milchmann, „wenn
es nur irgendwie vermieden werden kann."
Ich sah einen Nachbar in seinem Garten arbeiten, plau-
derte eine Weile mit ihm und schlenderte gemächlich ins Haus
zurück, um zu frühstücken. Es war durchaus kein ungewöhnlicher
Morgen. Mein Nachbar war der Ansicht, daß es den Truppen
gelingen würde, die Marsleute während des Tages entweder ge-
fangenzunehmen oder zu vernichten.
„Es ist wirklich schade, daß sie sich so unnahbar machen",
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sagte er. „Es wäre doch interessant zu hören, wie man auf einem
andern Planeten lebt; und wir könnten das eine oder das andere
von ihnen erfahren."
Er kam an den Zaun heran und hielt mir eine Handvoll
Erdbeeren hin; denn seine Liebe zur Gärtnerei war ebenso frei-
gebig wie leidenschaftlich. Zugleich teilte er mir mit, daß das
Fichtengehölz bei den Byfleet Golf links in Flammen stehe.
„Sie sagen," erzählte er, „daß dort ein anderes dieser lieben
Dinge eingefallen sei — Nummer zwei. Aber eins ist wirklich
genug. Diese Bescherung wird den Versicherungsleuten ein hüb-
sches Stück Geld kosten, ehe der Rummel zu Ende ist." Er lachte
mit der Miene eines überaus gutgelaunten Mannes, als er das
sagte. Das Gehölz, fuhr er fort, brenne noch immer, und er wies
mit der Hand nach einer nebelgleichen Ranchmenge. „Sie werden
es noch tagelang heiß unter den Füßen spüren wegen des erhitzten
Bodens, den eine dichte Schicht glühender Fichtennadeln bedecken
wird." Dann wurde er ernst und sprach von dem armen Ogilvy.
Nach dem Frühstück entschloß ich mich, statt zu arbeiten,
einen Gang zur Weide zu machen. Unter der Eisenbahnbrücke
traf ich eine Gruppe von Soldaten — Sappeure, wie ich glaube,
Leute mit kleinen runden Mützen, schmutzigen, unzngeknöpften
roten Blusen, die ihre blauen Hemden sehen ließen, in dunkeln
Hosen und Stiefeln, die bis zur Wade reichten. Sie sagten mir,
daß niemand über den Kanal dürfe; und als ich meine Blicke die
Straße entlang auf die Brücke richtete, sah ich dort einen Mann
des Cardiganregiments Wache stehen. Mit diesen Soldaten sprach
ich eine Zeitlang; ich erzählte ihnen von meinen Begegnung mit
den Marsleuten am vorigen Abend. Keiner von ihnen hatte
die Marsleute gesehen, und sie machten sich nur ganz unklare
Vorstellungen von ihnen. So kam es, daß sie mich mit Fragen
bestürmten. Sie erzählten mir, daß sie nicht wußten, wer das
Eingreifen der Truppen veranlaßt hätte; sie vermuteten, daß bei
der berittenen Garde eine Auseinandersetzung stattgefunden habe.
Der gewöhnliche Sappeur ist bei weitem gebildeter als der ge-
meine Soldat, und sie besprqchen die sonderbaren Bedingungen
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des voraussichtlichen Kampfes mit ziemlich viel Scharfsinn. Ich
schilderte ihnen den Hitzstrahl, und sie fingen nun an, sich unter-
einander darüber auszusprechen.
„Sich unter Bedeckung herankriechen und dann auf sie los-
stürzen, sage ich", meinte einer.
„Hör' auf!" sagte ein anderer, „wozu taugt denn eine Be-
deckung bei dieser Hitze? Höchstens zu Spänen, um dich besser
zu braten. Aber was wir zu tun haben ist, so nahe heranrücken,
als das Terrain es erlaubt und dann einen Graben ziehen."
„Zum Kuckuck mit deinen Gräben! Du brauchst immer
Gräben. Du hättest sollen als Kaninchen zur Welt kommen,
Snippy."
„Haben sie also wirklich keinen Nacken?" fragte mich plötz-
lich ein dritter, ein kleiner, dunkler, nachdenklicher Mann, der
eine Pfeife rauchte.
Ich wiederholte meine Beschreibung.
„Oktopoden," sagte er, „das ist's, was ich sie nenne, da
spricht man von Menschenfischern — diesmal heißt es Fische be-
kämpfen !"
„Es ist kein Mord, solche Bestien umzubringen", sagte der
erste Sprecher.
„Warum diese verfluchten Kerle nicht zusammenschießen
und ein Ende mit ihnen machen?" meinte der kleine Dunkel-
haarige. „Ihr könnt nicht wissen, was sie noch anstellen."
„Wo sind dann deine Bomben?" höhnte der erste. „Dazu
ist nicht mehr Zeit. Macht einen Überfall, das ist mein Plan, und
macht ihn sofort."
In dieser Weise besprachen sie den Fall. Nach einer Weile
verließ ich sie und ging zum Bahnhof, um mir soviel Morgen-
blätter als möglich zu verschaffen.
Doch will ich den Leser mit einer Beschreibung des langen
Morgens und des noch längeren Nachmittags nicht ermüden. Es
gelang mir nicht, auch nur einen Blick auf die Weide zu werfen,
denn selbst die Kirchtürme von Horsell und Chobham waren in
den Händen der militärischen Behörden. Die Soldaten, an die
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ich mich wendete, wußten nicht das geringste. Die Offiziere
waren ebenso geheimnisvoll wie geschäftig. Die Leute in der
Stadt fühlten sich, wie ich sah, vollkommen sicher bei der Anwe-
senheit des Militärs. Damals erst hörte ich von Marschall,
dem Tabakskrämer, daß sein Sohn sich unter den Toten auf der
Weide befand. Die Soldaten hatten die Bewohner der Vorstädte
von Horsell genötigt, ihre Häuser zu schließen und zu verlassen.
Sehr ermüdet kehrte ich etwa um zwei Uhr zum Gabelfrühstück
nach Hause zurück, denn, wie schon erwähnt, war der Tag er-,
drückend heiß; um mich etwas zu erfrischen, nahm ich nachmittags
ein kaltes Bad. Um halb fünf ungefähr ging ich zum Bahnhof,
um mir ein Abendblatt zu kaufen, denn die Morgenblätter hatten
nur sehr unzulängliche Berichte von der Ermordung Stents,
Hendersons, Ogilvys und der andern enthalten. Auch sonst stand
wenig darin, das ich nicht schon wußte. Die Marsleute ließen.
nicht eines Zolles Breite von sich sehen. Sie schienen in ihrer
Grube sehr geschäftig zu sein; man vernahm ein unausgesetztes
Hämmern und sah fast ununterbrochen Rauchsäulen aufsteigen.
Sie waren augenscheinlich beschäftigt, sich für einen Kampf in
Bereitschaft zu setzen. „Erneuerte Versuche wurden gemacht,
eine Verständigung zu erzielen, doch ohne Erfolg", das war
eine stereotype Wendung der Blätter. Ein .Sappeur erzählte
mir, daß der Annäherungsversuch durch einen Mann geschah,
der in einer Grube stehend, an einer langen Stange eine Fahne
schwenkte. Die Marsleute schenkten solchen Maßregeln eine ebenso
große Beachtung, wie wir etwa dem Brüllen einer Kuh.
Ich muß gestehen, daß mich der Anblick aller dieser Aus-
rüstungen und Vorbereitungen aufs äußerste erregte. Meine Ein-
bildungskraft wurde kriegerisch und besiegte die Eindringlinge
auf dutzenderlei hervorragende Weise. Ein Rest meiner Schul-
knabenträume von Schlacht und Heldentum wachte wieder in
mir auf. Diesmal aber schien es mir kein ehrlicher Kampf zu
sein. So hilflos erschienen jene mir in ihrer Grube.
Um drei Uhr etwa hörte man von Chertsey oder Addelstone
her in abgemessenen Zwischenräumen die ersten Kanonenschüsse.
44
Ich erfuhr, daß da zuerst das glimmende Fichtengehölz, in das
der zweite Zylinder eingefallen war, beschossen wurde; man
hoffte, das Rohr zu zerstören, bevor es sich öffnete. Indessen
dauerte es bis ungefähr fünf Uhr, ehe ein Feldgeschütz Chobham
erreichte, um gegen die erste Abteilung der Marsleute gerichtet
zu werden.
Um sechs Uhr abends, als ich mit meiner Frau im Garten-
haus beim Tee saß und eifrig den Kampf besprach, der uns be-
vorstand, hörte ich gedämpften Donner von der Weide her dröh-
nen, und unmittelbar darauf ein überaus heftiges Geschütz-
feuer. In blitzartiger Folge hörte ich ein furchtbares prasselndes
Krachen, das den Boden erschütterte. Auf den Rasenplatz hin-
ausstürzend, sah ich, wie die Wipfel der Bäume bei der orien-
talischen Schule in rauchenden roten Flammen standen und
der Turm der kleinen Kirche daneben einstürzte. Die Kuppel
der Moschee war verschwunden, und der Dachstuhl der Schule
sah aus, als hätte ihn ein Hundertpfünder beschossen. Einer un-
serer Schornsteine zerbarst, wie von einer Bombe getrpffen; er
sauste herab, seine Hauptmasse kam über die Dachziegel herab-
gepoltert und bildete einen Haufen roter Trümmer auf dem
Blumenbeet vor dem Fenster meines Studierzimmers.
Ich und meine Frau blieben wie betäubt stehen. Dann
wurde es mir klar, daß der Kamm des Mayburyhügels im Be-
reiche des Hitzstrahls der Marsleute sein müsse, jetzt, da das
Schulgebäude aus dem Wege geräumt war.
Da faßte ich meine Frau am Arm und ohne weitere
Überlegung stürzte ich mit ihr auf die Straße hinaus. Dann
holte ich das Dienstmädchen und versprach ihr, selbst den Koffer,
nach dem sie jammerte, herabzubringen.
„Wir können, unmöglich Hierbleiben", sagte ich; und während
ich sprach, hörte man einen Augenblick wieder Geschützfeuer
auf der Weide.
„Aber wohin sollen wir gehen?" fragte meine Frau entsetzt.
Verwirrt überlegte ich. Dann erinnerte ich mich ihrer Ver-
wandten in Leatherhead.
45
„Leatherhead!" schrie ich, den plötzlichen Lärm übertönend.
Sie wandte ihre Augen ab und blickte den Hügel hinunter.
Die Leute stürzten erschreckt aus ihren Häusern.
„Wie sollen wir nach Leatherhead kommen?" fragte sie.
Am Fuße des Hügels sah ich einen Trupp Husaren unter
der Eisenbahnbrücke hinreiten; sie sprengten durch die offenen
Tore der orientalischen Schule. Zwei stiegen vom Pferd und be-
gannen von Haus zu Haus zu laufen.
Die Sonne leuchtete durch den Rauch, der von den Wipfeln
der Bäume aufstieg. Sie schien blutig rot und warf auf alles
einen ungewohnten düsteren Schein.
„Bleib' hier stehen," sagte ich; „hier bist du sicher"; dann
eilte ich sofort nach dem „GeflecktenHund", denn ich wußte,
daß der Wirt ein Pferd und einen Dogcart *) besaß. Ich rannte,
denn ich sah voraus, daß in kürzester Zeit sich alles nach dieser
Seite des Hügels drängen würde. Ich fand den Wirt in seinem
Schankzimmer, völlig unwissend über alles, was hinter seinem
Hause vorging. Ein Mann, der mir den Rücken zuwendete,
sprach mit ihm.
„Ich bekomme ein Pfund," sagte der Wirt, „und außerdem
habe ich niemanden zum Kutschieren."
„Ich gebe Ihnen zwei Pfund", sagte ich über die Schulter
des Fremden hinweg.
„Wofür?"
„Und ich bringe Ihnen den Wagen um Mitternacht zurück",
sagte ich.
„Herrgott!" rief der Wirt, „wozu denn die Eile? Da
bleibt einem ja der Verstand stehen. Zwei Pfund, und Sie wollen
ihn zurückbringen? Was denn noch alles?"
Ich setzte ihm hastig auseinander, daß ich mein Haus ver-
lassen müsse, und so sicherte ich mir das Gefährte. Es erschien
mir damals längst nicht so dringend, daß auch- der Wirt sein
Haus verlassen müsse. Ich trug Sorge, den Wagen auf der
Stelle zu bekommen, fuhr mit ihm ab, die Straße hinunter und
h Kleiner zweirädriger Kutschierwagen.
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ließ ihn unter der Obhut meiner Frau und meines Dienstmäd-
chens. Dann stürzte ich ins Haus zurück, raffte einige Dinge
von Wert zusammen, das Silberzeug, das wir besaßen und der-
gleichen. Die Buchen unterhalb des Hauses brannten lichterloh,
während ich so beschäftigt war, und das Gitter gegen die Straße
zu war rotglühend. Während ich noch meine Sachen packte, kam
einer der Husaren heraufgelaufen. Er eilte von Haus zu Haus,
um die Leute zur Flucht zu mahnen. Er lief schon wieder fort,
als ich aus der Haustüre trat, meine Schätze, die ich in ein Tisch-
tuch gebunden hatte, mit mir schleppend. Ich schrie ihm nach:
„Was gibt's Neues?"
Cr wandte sich um, starrte mich an und brüllte etwas von
„einem Herauskriechen aus einem Ding, das wie ein Schüssel-
sturz aussieht". Damit lief er weiter durch das Tor des Hauses
auf der Spitze des Kammes. Ein jäher Wirbel schwarzen Rau-
ches, der die Straße entlangzog, verbarg ihn einen Augenblick.
Ich lies zur Tür meines Nachbars, klopfte an und überzeugte
mich von dem, was ich bereits wußte: Er war mit seiner Frau
nach London -gefahren und hatte sein Haus verschlossen. Ich
eilte, meinem Versprechen getreu, ins Haus zurück, holte den
Koffer meines Dienstmädchens, schleifte ihn heraus und be-
festigte ihn neben ihr auf dem Rückteil des Wagens. Dann ergriff
ich die Zügel und schwang mich auf deu Kutschbock neben meine
Frau. Im nächsten Augenblick waren wir außerhalb des Be- z
reiches von Rauch und Lärm und jagten den Abhang, gegenüber
dem Mayburyhügel, hinab gegen Altwoking zu.
Vor uns lag eine stille, sonnige Landschaft, Weizenfelder,
die von jeder Seite der Straße aufstiegen und das Wirtshaus
von Maybury mit seinem hin und her schwankenden Schild.
Bor uns sah ich das Gefährt des Doktors. Am Fuße des Hü-
gels wandte ich mich um, um die Hügelseite, die wir jetzt ver-
ließen, noch einmal zu sehen. Dichte Säulen schwarzen Rauches,
durchzuckt von Fäden roten Feuers, fuhren in die stille Luft
hinauf und warfen dunkle Schatten auf die grünen Baumwipfel
im Osten. Der Rauch breitete sich schon in weiter Ferne nach
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zwei Richtungen aus, gegen das Fichtengehölz von Byfleet im
Osten und gegen Woking im Westen. Die Straße war besät
mit Leuten, die uns entgegenliefen, Und jetzt hörte man sehr
leise aber sehr deutlich durch die heiße stille Luft das Schwirren
eines Maschinengefchützes, das aber rasch wieder verstummte,
zwischendurch das Knattern von Gewehren. Die Marsleute steck-
ten offenbar alles, was sich innerhalb des Bereiches ihres Hitz-
strahls befand, in Brand.
Ich bin kein erfahrener Kutscher und mußte sofort meine
Aufmerksamkeit auf das Pferd lenken. Als ich mich wieder um-
blickte, hatte der zweite Hügel den schwarzen Rauch verborgen.
Ich hieb mit der Peitsche auf das Pferd und hielt die Zügel lose,
bis Woking und Send zwischen uns und jenem rasenden Tu-
multe lagen. Den Doktor überholte ich zwischen Woking und
Send.
X.
Im Sturm.
Leatherhead ist etwa zwölf Meilen vom Mayburyhügel ent-
fernt. Ein Duft von frischem Heu war in der Luft, als wir
zu den üppigen Wiesen jenseits von Pyrford kamen, und den
Hecken auf jeder Seite des Weges gab eine Menge wilder Rosen
einen lieblichen, farbenglänzenden Schmuck. Das heftige Schie-
ßen, das begann, als wir den Mayburyhügel hinabführen, hörte
ebenso unvermutet auf, als es eingesetzt hatte. Der Abend war
wieder friedlich und still. Wir kamen ohne jeden Unfall um
neun Uhr ungefähr nach Leatherhead. Das Pferd rastete' eine
Stunde, während ich mit meinen Verwandten das Abendbrot
nahm und meine Frau ihrer Obhut empfahl.
Meine Frau war während der Fahrt auffallend schweig-
sajm gewesen und schien auch jetzt durch böse Vorahnungen
bedrückt zu sein. Ich versuchte, sie in jeder Weise aufzuheitern,
bewies ihr, daß die Marsleute durch ihr Schwergewicht an die
Grube festgebunden seien, daß sie im günstigsten Fall nur ein
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wenig aus ihr herauskriechen könnten. Aber sie gab mir nur
einsilbige Antworten. Hätte sie nicht das Versprechen, das ich
den: Wirt gegeben hatte, abgehalten, so hätte sie wohl in mich
gedrungen, jene Nacht in Leatherhead zu bleiben. Wollte Gott,
daß ich es getan hätte! Ich erinnere mich noch, wie weiß ihr
Gesicht war, als wir Abschied nahmen.
Was mich betraf, so war ich den ganzen Tag fieberhaft
erregt gewesen. Eine Wallung, sehr nahe dem Kriegsfieber ver-
wandt, das gelegentlich jedes gesittete Gemeinwesen erfaßt, war
in mein Blut gefahren. Und in meinem Herzen war ich nicht
sehr bekümmert, daß ich jene Nacht noch nach Maybury zurück-
mußte. Ich fürchtete sogar, daß jenes letzte Gewehrfeuer, das
ich gehört hatte, die Vertilgung unserer Eindringlinge vom Mars
bedeutet hatte. Meine Gemütsverfassung kann ich am besten
ausdrücken, wenn ich sage, daß ich geradezu das Bedürfnis hatte,
bei ihrem Tode zugegen zu sein.
Es war fast elf Uhr, als ich mich zur Rückfahrt anschickte.
Die Nacht war unerwartet finster. Als ich aus dem erleuchteten
Flur des Hauses meiner Verwandten heraustrat, schien sie mir
geradezu schwarz; und sie war heiß und schwül wie der Tag.
Zu unsern Häupten jagten die Wolken, wenn auch kein Luft-
hauch das Buschwerk um uns bewegte. Der Diener meiner Ver-
wandten zündete beide Wagenlampen an. Zum Glück kannte ich
die Straße ganz genau. Meine Frau stand im Lichte der Ein-
fahrt und blickte nach mir, bis ich mich in den Wagen schwang.
Dann wandte sie sich plötzlich um und ging hinein. Sie- über-
ließ es unsern Verwandten, mir eine glückliche Fahrt zu wünschen.
Anfangs war ich ein wenig gedrückter Stimmung, indem
die ängstliche Stimmung meiner Frau mich angesteckt hatte. Sehr
bald aber kehrten meine Gedanken zu den Marsleuten zurück.
Ich war damals noch völlig im Dunkeln, wie der Kampf am
Abend verlaufen war. Ich kannte nicht einmal die Umstände,
die den Zusammenstoß beschleunigt hatten. Als ich durch Ock-
ham kam (denn das war der Weg, den ich zur Rückfahrt gewählt
hatte, nicht den über Send und Altwoking), sah ich am westlichen
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Horizont einen blutroten Schein, der, als ich näherkam, langsam
am Himmel kroch. Die treibenden Wolken des drohenden Ge-
witters vermengten sich dort mit Unmengen schwarzen und
roten Rauches.
Die Ripleystraße war verlassen, und außer einigen beleuch-
teten Fenstern verriet das Dorf nicht ein Zeichen von Leben.
Aber ich entging nur mit knapper Not einem Unfall an der Ecke
der Straße, die nach Pyrford fuhrt. Dort hatte sich ein Hansen
von Leuten gebildet, die mir alle den Rücken kehrten. Sie rie-
fen mir nichts zn, als ich an ihnen vorüberfuhr. Ich weiß nicht,
wieviel sie von den Vorgängen wußten, die sich jenseits des Hü-
gels zutrugen. Ich weiß auch nicht, ob die schweigenden Häuser,
an denen mich mein Weg vorbeiführte, in sorglosen Schlaf ver-
sunken, oder verlassen und öde waren, oder verwüstet und der
Schrecken harrend, welche die Nacht noch bringen sollte.
Von Ripley bis Pyrford fuhr ich im Tale des Wey, und
der rote Feuerschein war mir verborgen. Als ich den kleinen
Hügel jenseits der Kirche von Pyrford hinauffuhr, kam der
Schein wieder in Sicht und die Bäume um mich herum bebten
unter den ersten Anzeichen des Sturmes, der sich über mir zu-
sammenzog. Dann hörte ich von der Pyrforder Kirche hinter
mir Mitternacht schlagen und dann kam die Silhouette des May-
buryhügels heraus mit seinen Baumwipfeln und seinen Dächern,
die sich schwarz und scharf von der Röte abhoben.
Als ich so hinsah, erhellte ein fahler, grüner Schein die
Straße vor wir und beleuchtete den fernen Wald gegen Addle-
stone. Ich spürte einen Riß an den Zügeln. Ich sah, wie die
jagenden Wolken durchstochen wurden wie von einem Faden grü-
nen Feuers, das ihre wilden Formen erhellte und auf das Feld
zn meiner Linken einschlug. Es war der dritte fallende Stern!
Unmittelbar nach seinem Erscheinen zuckte, durch den Ge-
gensatz blendend violett, der erste Blitz des sich zusammenballen-
den Sturmes und ein Donnerschlag folgte ihm wie der Knall
einer Rakete. Das Pferd nahm den Zaum zwischen die Zähne
und ging durch.
Wells, Der Krieg der Welten
4
50
Zum Fuße des Mayburyhügels führt ein sanft absteigender
Weg, und auf dem rasselten wir nun hin. Jetzt, da das Gewitter
losgebrochen war, raste es in einer derartigen Aufeinanderfolge
von Blitzen, wie ich es kaum je gesehen hatte. Die Donnerschläge,
die mit seltsamen krachenden Nebengeräuschen dicht einander
folgten, glichen eher dem Arbeiten einer riesigen elektrischen Ma-
schine als den gewöhnlichen wiederhallenden Detonationen. Das
flackernde Licht wirkte blendend und verwirrend, und ein dünner
Hagel peitschte mein Gesicht, als ich den Abhang hinunterjagte.
Anfangs achtete ich auf nichts als auf die Straße vor mir;
plötzlich aber wurde meine Aufmerksamkeit durch etwas erregt,
das mit rasender Schnelligkeit sich auf dem gegenüberliegenden
Abhang des Mayburyhügels herunterbewegte. Zuerst hielt ich
es für das nasse Dach eines Hauses; aber ein Blitz, der einem
andern unmittelbar folgte, zeigte es mir in rascher, rollender Be-
wegung. Es war eine flüchtige Erscheinung, ein Augenblick ver-
wirrender Dunkelheit, gefolgt von einem taghellen Blitz, dann
traten die roten Mauern des Waisenhauses, nahe dem Hügel-
kamm, die grünen Wipfel der Fichtenbäume und dieser zweifel-
hafte Gegenstand deutlich und scharf und glänzend heraus.
Und nun sah ich das Ding! Wie soll ich es beschreiben?
Ein ungeheurer Dreifuß, höher als viele Häuser, fuhr über die
jungen Fichtenbäume und schmetterte sie in seinem Lauf zur
Seite; eine wandelnde Maschine aus glitzerndem Metall, die jetzt
über die Heide fuhr; gegliederte Stricke aus Stahl hingen von
ihr herab, und der rasselnde Lärm seiner Fahrst vermischte sich
mit dem Getöse des Donners. Ein Blitz, und sie kam deutlich
zum Vorschein, wie sie über einen Weg setzte mit zwei Füßen
in der Luft um zu verschwinden und, wie es schien, beim nächsten
Blitz etwa hundert Aards näher wieder zu erscheinen. Man mag
sich etwa einen umgekippten und heftig den Boden entlangge-
schleuderten Melkstuhl vorstellen. Das war der Eindruck, den
jene kurzen Blitze zu gewinnen erlaubten. Aber statt eines Melk-
stuhls denke man sich den gewaltigen Körper eines Maschinen-
werks, auf einem dreifüßigen Gestell.
51
Da teilten sich plötzlich die Bäume des Fichtengehölzes auf
der Anhöhe vor mir, so wie sich brüchige Schilfrohre teilen,
wenn ein Mann durch sie bricht. Sie brachen kurzweg ab, fielen
der Länge nach hin, und ein zweiter ungeheurer Dreifuß tauchte
auf, der, wie es schien, geradenwegs auf mich zuraste. Und ich
fuhr ihm eilends entgegen! Aber beim Anblick des zweiten Unge-
tüms war es um die Kraft meiner Nerven geschehen. Ohne mich
lange mit Betrachtungen aufzuhalten, riß ich den Kopf des
Pferdes rechts herum, und im nächsten Augenblick stand der Wa-
gen über dem gestürzten Pferde; die Deichsel zerbrach unter
Getöse und ich wurde zur Seite geschleudert und fiel mit aller
Wucht in eine seichte Wasserpfütze.
Ich kroch auf der Stelle hinaus und duckte mich, meine
Füße noch im Wasser, hinter einem Ginsterbusch. Das Pferd
lag regungslos da (dem armen Tier war das Genick gebrochen)
und bei den flammenden Blitzen sah ich die schwarze Masse des
umgestürzten Wagens und die Umrisse des Rades, das sich noch
langsam drehte. Im nächsten Augenblick fuhr das riesige Ma-
schinenwerk an mir vorbei und wandte sich hügelaufwärts gegen
Pyrford.
Näher besehen, sah der Gegenstand unglaublich seltsam aus,
denn er war nicht eine bloße sinnlose Maschine, die dahinrollte.
Eine Maschine war er wohl, in metallisch klingender Bewegung
und mit langen, biegsamen, glitzernden Fühlfäden versehen (von
denen einer einen jungen Fichtenbaum erfaßte), die schwingend
und rasselnd von dem seltsamen Körper herabhingen. Das Ding
bahnte sich selbst seinen Weg, wie es so einherfuhr, und das
eherne, kappenartige Gehäuse, das es überdeckte, bewegte sich hin
und her und erweckte so den zwingenden Eindruck, als sei es ein
Kopf, der nmh-ersah. Hinter dem Hauptteil der Maschine befand
sich ein ungeheurer Gegenstand aus weißem Metall, wie ein rie-
siger Fischerkorb. Massen grünen Rauches entwichen stoßweise
aus den Gelenken seiner Glieder, als das Ungetüm an mir vor-
bcisauste. Und im Nu war es wieder fort.
Soviel sah ich damals, beim Flackern des Blitzes alles un-
52
deutlich, einmal in blendend Hellem Lichte, einmal in tiefem
schwarzen Schatten.
Als es an mir vorbeikam, erscholl aus ihm ein frohlockendes
und betäubendes Heulen, das den Donner übertönte: „Alu-u,
Alu--u!" In der nächsten Minute war es mit seinem Gefährten
vereinigt und bückte sich, eine halbe Meile entfernt, über einen
Gegenstand, der auf dem Felde lag. Ich hege nicht den leisesten
Zweifel, daß dieser Gegenstand auf dem Felde der dritte jener
zehn Zylinder war, die man vom Mars auf uns gefeuert hatte.
Einige Minuten lag ich da und spähte trotz Regen und
Dunkelheit beim Schein gelegentlicher Blitze nach jenen riesen-
haften metallenen Wesen, die sich in der Ferne auf und nieder
bewegten. Ein dünner Hagel fiel herab und wie die Blitze kamen
und gingen, wurden die Gestalten jener nebelhaft oder strahlten
in hellem Schein wieder auf. Hie und da trat eine längere Pause
sm Blitzen ein, und dann verschlang die Nacht alles.
Ich war oben vom Hagel und unten vom Pfützenwasser
völlig durchnäßt. Es währte einige Zeit, ehe meine lähmende
Verblüffung es mir erlaubte, mich in eine trocknere Lage durch-
zukämpfen und überhaupt über die Gefahr, die mich bedrohte,
nachzudenken.
Nicht weit von mir entfernt stand die kleine Holzhütte ei-
nes Waldbauers, die aus einem Zimmer bestand und von einem
kleinen Kartoffelgarten umsäumt war. Ich brachte mich endlich
wieder auf die Füße und, mich duckend und jede Gelegenheit
eines Verstecks benutzend, lief ich auf die Hütte zu. Ich hämmerte
an der Türe, fand aber bei den Leuten kein Gehör (wenn an-
ders Leute da waren): Nach einiger Zeit gab ich es auf, und wäh-
rend des größten Teiles meines Weges von einem pfützenartigen
Graben Gebrauch machend, gelangte ich kriechend und von jenen
riesigen Maschinen unbemerkt, in das Fichtengehölz von May-
bury.
Unter dem Schutze der Bäume tastete ich mich, naß und
durchfröstelt, bis zu meinem Hause durch. Ich versuchte, im
Walde gehend, den Fußweg zu finden. Es war völlig dunkel in:
53
Gehölz; die Blitze wurden seltener und der Hagel, der in Strö-
men niederklatschte, siel in Säulen durch die Lücken der dichten
Zweige.
Hätte ich die Bedeutung aller der Erscheinungen, die ich
gesehen hatte, klar erfaßt, dann hätte ich wohl unverzüglich den
Weg über Byfleet nach Street Chobham eingeschlagen und wäre
auf diese Weise zurückgekehrt, um mich mit meiner Frau in
Leatherhead wieder zu vereinigen. Aber in jener Nacht verhin-
derten mich die Seltsamkeit meiner Erlebnisse und mein elendes
körperliches Befinden daran; denn ich war zerschunden, er-
mattet, bis auf die Haut durchnäßt und vom Sturm betäubt
und geblendet.
Ich hatte nur ganz unbestimmt ben Plan, nach meinem
Hause zu gelangen, und das war der einzige Gedanke, der mich
erfüllte. Ich stolperte über die Baumstrünke, fiel in eine Pfütze,
verletzte meine Knie an einer Planke und stapfte mich endlich bis
zu dem Wege durch, der vom Gasthaus „Zum Kollege-Wappen"
hinunterführt. Ich sage stapfte, denn das stürmische Wasser
schwemmte den Sand in schmutzigen Wildbächen den Hügel hin-
ab. In dieser Dunkelheit taumelte plötzlich ein Mann gegen mich
und stieß mich fast zu Boden.
Er stieß einen Schreckensschrei aus, sprang zur Seite und
rannte wie besessen davon, bevor ich meine Gedanken soweit
sammeln konnte, um mit ihm zu sprechen. Aber die Wut des
Sturmes war gerade an dieser Stelle so heftig, daß ich nur mit
dem Aufgebot meiner ganzen Kräfte den Weg hügelaufwärts ge-
winnen konnte. Ich ging dicht an das Geländer zu meiner Lin-
ken heran und tastete mich an den Planken weiter.
Nahe der Spitze des Hügels stolperte ich über etwas Wei-
ches, und beim Zucken eines Blitzes sah ich zu meinen Füßen
eine Masse schwarzen Tuches und ein Paar Stiefel. Bevor ich
deutlich ersehen konnte, in welchem Zustand der Mann dalag,
war das Flackern des Lichtes wieder verschwunden. Ich blieb
über ihn gebeugt stehen und wartete auf den nächsten Blitz. Als
er kam sah ich, daß es ein kräftiger Mann war, einfach aber
— 54 —
nicht schäbig gekleidet; sein Kopf war unter seinem Körper ver-
borgen, und er lag zusammengekrümmt hart am Geländer, als
wäre er heftig gegen den Zaun geschleudert worden.
Den Widerwillen, der bei einem Menschen, welcher noch
nie zuvor leinen toten Körper berührt hatte, natürlich war,
bekämpfend, bückte ich mich nieder und kehrte ihn um, nach sei-
nem Herzen fühlend. Er war tot. Offenbar war sein Genick
gebrochen. Ein dritter Blitz zuckte und das Gesicht des Mannes
leuchtete auf. Ich sprang auf meine Füße. Es war der Wirt des
„Gefleckten Hundes", dessen Wagen ich gemietet hatte.
Ich stieg behutsam über ihn und eilte den Hügel weiter
hinauf. Ich nährn meinen Weg an der Polizeiwachstube und dem
„Kollege-Wappen" vorbei nach meinem Hause. Nichts brannte
auf der Hügelseite, aber auf der Weide sah man einen roten
Schein und ein wildes Qualmen rotgelben Rauches kämpfte
mit dem niederströmenden Hagel. Soweit ich es beim Licht der
Blitze unterscheiden konnte, waren die Häuser in meiner Umge-
bung meist unversehrt. Vor dem Gasthause lag eine dunkle Masse
auf der Straße.
Von der Straße, abwärts gegen die Mayburybrücke zu,
hörte ich Stimmen und das Geräusch von Füßen. Aber ich hatte
nicht den Mut, zu rufen oder hinzugehen. 'Ich öffnete die Türe
mit meinem Hausschlüssel, trat ein, verschloß und verriegelte das
Tor, stolperte bis zum Fuß der Treppe und setzte mich nieder.
Meine Einbildungskraft war erfüllt von jenen sausenden me-
tallischen Ungetümen und von dem toten Körper, der gegen das
Geländer geschlendert war.
Ich verkroch mich am Fuß der Treppe, meinen Rücken an
die Mauer lehnend und fieberte heftig.
55
XL
Am Fenster.
Ich habe bereits erwähnt, daß die Stürme meiner Erre-
gung die Eigenheit haben, sich zu erschöpfen. Nach einiger Zeit
entdeckte ich, daß ich kalt und naß sei, und bemerkte einige kleine
Wasserpfützen, die sich auf dem Stiegenteppich gebildet hatten.
Ich stand fast mechanisch auf, ging ins Speisezimmer und trank
etwas Whiskey. Dann erst fühlte ich die Notwendigkeit, meine
Kleider zu wechseln.
Nachdem ich das getan hatte, ging ich die Stiege hinauf
in mein Studierzimmer; aber warum ich das tat, weiß ich nicht.
Das Fenster meines Studierzimmers blickte über die Bäume
uud die Eisenbahn hinweg auf die Horsellweide. In der Hast
unserer Abreise war dieses Fenster offengeblieben. Der Weg
war dunkel, und im Gegensatz zu dem Bilde, das der Fenster-
rahmen einschloß, schien diese Seite des Zimmers undurchdring-
lich finster zu sein. Ich blieb auf der Türschwelle stehen.
Das Gewitter war vorüber. Die Türme der orientalischen
Schule und die Fichtenbäume, die sie umgeben hatten, waren
verschwunden. In weiter Ferne war, von einem lebhaften roten
Schein erhellt, die Weide um die Sandgruben herum sichtbar.
Jenseits des Lichtes bewegten sich riesengroße, schwarze Gestal-
ten, grotesk und seltsam, und liefen geschäftig hin und her.
Es schien in der Tat so, als stünde das ganze Land in jener
Gegend in Flammen. Eine breite Hügelseite war besät mit
winzigen Feuerzungen, die in den Windstößen des sterbenden
Sturmes sich wanden und drehten und einen roten Widerschein
auf die Wolkenzüge über ihnen warfen. Von Zeit zu Zeit trieb
ein Rauchschleier, der von einer näheren Feuersbrunst kam, am
Fenster vorbei und verhüllte die Gestalten der Marsleute. Ich
konnte nicht sehen, was sie machten, "noch vermochte ich deutlich
ihre Formen auszunehmen; am allerwenigsten war ich imstande,
die schwarzen Gegenstände zu erkennen, mit denen sie sich so ge-
schäftig befaßten. Auch. konnte ich das nähere Feuer nicht ent-
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decken, obwohl sein Widerschein an den Wänden und der Decke
meines Studierzimmers tanzte. Ein scharfer, harziger Geruch
von Feuer war in der Luft.
Geräuschlos schloß ich die Türe und schlich gegen das Fenster
zu. Je näher ich kam, desto mehr weitete sich mein Ausblick,
bis er auf der einen Seite die Häuser beim Wokinger Bahnhof,
auf der andern das verkohlte und geschwärzte Fichtengehölz von
Byfleet erreichte. Unten am Fuße des Hügels, bei der Eisen-
bahn, nahe dem Schwibbogen, war ein Licht zu bemerken, und
mehrere Häuser an der Mayburystraße und in den Gassen beim
Bahnhof waren nichts als glimmende Trümmer. Das Licht auf
der Bahnstrecke machte mich zuerst stutzig; ich sah eine schwarze
Masse und einen lebhaften Schein, und rechts davon eine
Reihe gelber Rechtecke. Da erkannte ich, daß es ein zerstörter
Zug war, die vorderen Teile zerschmettert und in Flammen, die
hinteren Wagen noch auf den Schienen.
Zwischen'diese drei Hauptfeuerherde, die Häuser, den Zug
und das brennende Land bei Chobham schoben sich unregelmäßige
Strecken dunklen Bodens, hie und da durchbrochen von Streifen
schwach glimmernden und rauchenden Erdreichs. Es war ein
überaus seltsames Schauspiel, diese weithin ausgedehnte mit
feurigen Punkten übersäte Fläche. Mehr als an alles andere
erinnerte es mich an Töpfereien, zur Nachtzeit gesehen. Leute
konnte ich zuerst nicht entdecken, obwohl ich eifrig nach ihnen aus-
blickte. Später sah ich in der Richtung des Lichtes auf dem Wo-
kinger Bahnhof eine Anzahl schwarzer Gestalten, die eine nach
der andern über die Lichtlinie eilten.
Und das war die kleine Welt, in der ich jahrelang so sorg-
los gelebt hatte, dieses feurige Chaos! Was eigentlich in den
letzten sieben Stunden geschehen war, wußte ich noch immer
nicht. Noch erkannte ich nicht, obwohl ich es allmählich zu er-
raten begann, den Zusammenhang zwischen jenen mechanischen
Ungeheuern und den schwerfälligen Klumpen, die der Zylinder
ausgespien hatte. In einem eigentümlichen Gefühl unpersönlichen
Interesses schob ich meinen Schreibtischstnhl ans Fenster, setzte
— 57
mich nieder und starrte hinaus in die geschwärzte Landschaft,
und besonders auf jene riesigen schwarzen Unholde, die dort im
Lichtschein bei den Sandgruben auf und nieder eilten.
Sie erschienen erstaunlich geschäftig. Ich begann mich zu
fragen, was sie wohl sein könnten! Waren sie vernunftbegabte
Mechanismen? Doch ich fühlte, so ein Ding sei unmöglich. Oder
saß in jedem ein Marsmann, der es beherrschte, bewegte und
leitete, so wie das Gehirn des Menschen in seinem Körper sitzt
und herrscht? Ich fing an, diese Diüge mit menschlichen Maschi-
nen zu vergleichen, mich zum erstenmal in meinem Leben zu
fragen, was wohl ein vernünftiges, aber tieferstehendes Wesen
von einem Panzerschiff, einer Dampfmaschine denken möge.
Der Sturm hatte den Himmel geklärt, und über dem Rauch
des brennenden Landes versank der kleine verblassende Steck-
nadelkopf des Mars im Westen, als ein Soldat in meinen Gar-
ten kam. Beim Gartenzaun hörte ich ein leises Scharren und
aus der Erstarrung, die mich erfaßt hatte, mich aufraffend, blickte
ich hinab und sah ihn undeutlich, wie er über die Planken klet-
terte. Beim Anblick eines andern menschlichen Wesens verließ
mich meine Betäubung, und ich lehnte mich, eifrig lauschend,
aus dem Fenster.
„Pst!" rief ich leise.
Er blieb, wie im Zweifel, auf dem Geländer reitend. Dann
stieg er herüber und kam über den Rasen zur Ecke des Hauses.
Er ging vorgebeugt und trat nur leise auf.
„Wer ist da?" rief er im gleichen Flüsterton. Er stand
unter dem Fenster und spähte herauf.
„Wohin gehen Sie?" fragte ich.
„Gott weiß es."
„Wollen Sie sich verstecken?"
„Jawohl."
„Mein Gott!" sagte er, als ich ihn hereinzog.
„Kommen Sie ins Haus", sagte ich.
Ich ging hinab, öffnete die Tür und ließ ihn herein. Dann
58 —
schloß ich die Türe wieder ab. Sein Gesicht konnte ich nicht se-
hen. Er war ohne Hut und sein Rock war offen.
„Was ist denn geschehen?" fragte ich.
„Was ist nicht geschehen?" Selbst in der Dunkelheit konnte
ich sehen, wie er eine Gebärde der Verzweiflung machte. „Sie
haben uns weggewischt— einfach weggewischt", wiederholte er
immer wieder.
Er folgte mir mechanisch ins Speisezimmer.
„Nehmen Sie etwas Whiskey", sagte ich und schenkte ihm
ein tüchtiges Glas voll ein.
Er trank es aus. Dann setzte er sich plötzlich an den Tisch,
legte seinen Kopf auf seine Arme und begann zu weinen und zu
schluchzen wie ein kleines Kind in einer geradezu leidenschaftlichen
Erregung. Ich stand in einer merkwürdigen Vergessenheit mei-
ner eigenen, eben empfundenen Verzweiflung voll Staunens
neben ihm.
Es dauerte eine Weile, ehe er seiner Nerven so weit Herr
wurde, um meine Frage zu beantworten, und dann konnte er nur
verworren und gebrochen sprechen. Er war Kutscher in der Ar-
tillerie und war erst um sieben Uhr ins Gefecht gekommen. Zu
jener Zeit war das Geschützfeuer auf der Weide schon in vollem
Gange. Man sagte, daß die erste Abteilung der Marslente lang-
sam zum zweiten Zylinder hinkroch unter dem Schutze eines
Metallschildes.
Später erhob sich dieser Schild auf ein dreifüßiges Gestell
und wurde die erste jener Kriegsmaschinen, die ich gesehen hatte.
Das Geschütz, das-er lenkte, war bei Horsell abgeprotzt worden
mit dem Befehl, die Sandgruben zu bestreichen, und seine An-
kunft hatte den Kampf beschleunigt. Als die Protzwagenkanoniere
sich zur Nachhut begaben, trat sein Pferd in ein Kaninchenloch,
kam zu 'Fall und schleuderte ihn in eine eingesunkene Erdstelle.
Jni selben Augenblick explodierte die Kanone hinter ihm, die
Munition flog in die Luft. Alles um ihn herum stand in Flam-
men, und er fand sich unter einem Haufen verkohlter Leichen und
toter Pferde liegen.
59
„Ich lag ganz still," erzählte er, „sinnlos vor Schrecken,
das Vorderteil eines Pferdes auf mir. Wir waren weggewischt
worden. Und der Geruch — guter Gott! Wie verbranntes Fleisch!
Mein ganzer Rücken war wund durch den Sturz des Pferdes,
und ich mußte dort liegenbleiben, bis ich mich besser fühlte. Eine
Minute vorher war es ganz' so wie bei einer Parade gewesen —
dann ein Stolpern, ein Krachen, ein Zischen!"
„Weggewischt!" sagte er.
Lange Zeit lag er unter dem toten Pferde verborgen; nur
verstohlen spähte er auf die Weide hinaus. Die Cardiganleute
hatten einen Sturm versucht, in Plänkelordnung, auf die Grube
los, um einfach aus dem Leben hinausgefegt zu werden. Dann
hatte sich das Ungetüm auf seine Füße erhoben und wanderte
gemächlich zwischen den wenigen Flüchtigen die Weide entlang
auf und ab. Dabei drehte sich seine kopfartige Bedachung nach
allen Seiten genau so wie der Kopf eines mit einer Kapuze
bekleideten Menschen. Eine Art Arm trug einen komplizierten
metallischen Behälter, aus dem grüne Blitze sprühten, und aus
einem daran befestigten Trichter fuhr der Hitzstrahl.
Soweit der Soldat sehen konnte, war auf der Weide nach
wenigen Minuten kein lebendes Wesen mehr übriggeblieben,
mld jeder Busch, jeder Baum, der nicht schon ein geschwärztes
Gerippe war, stand in Flammen. Jenseits der Bodenerhebung
waren die Husaren auf der Straße gestanden, aber er sah keine
Spur von ihnen. Er hörte noch einige Zeit die Maximgeschütze
rasseln, aber dann wurde alles still. Das Ungeheuer schonte den
Wokinger Bahnhof und die Häusergruppe um ihn bis zuletzt;
dann aber wurde plötzlich der Hitzstrahl hingelenkt, und die
Stadt wurde ein Haufen brennender Trümmer. Darauf schloß
die Maschine den Hitzstrahl und begann, indem sie dem Artille-
risten den Rücken wandte, gegen das glühende Fichtengehölz zu
watscheln, das den zweiten Zylinder barg. Im selben Auger»--
blick erhob sich ein zweiter glitzernder Titan aus der Grube.
Das zweite Ungetüm folgte dem ersten, und dann erst be-
gann der Artillerist sehr behutsam über die heiße Heideasche hin
— 60
nach Horsell zu kriechen. Es gelang ihm, lebend bis zu einer
Pfütze im Straßengraben zu gelangen, und so entkam er nach
Wioking. Von da an bestand sein Bericht nur aus wirren Aus-
rufen. Durch den Ort zu kommen, war unmöglich. Nur wenige
Leute schienen noch am Leben zu sein, die meisten waren wahn-
sinnig, viele mit Brandwunden oder halb verbrüht. Er ging
um das Feuer herum und verbarg sich unter einige, fast ver-
sengend heiße Trümmer zerborstenen Mauerwerks. Da kehrte
eines der Marsungeheuer zurück. Er sah, wie es einen Mann
verfolgte, ihn mit einem seiner stählernen Fühler ergriff und
seinen Kopf gegen den Stamm einer Fichte schmetterte. Endlich,
nach Einbruch der Nacht, lief der Artillerist in eiliger Hast zum
Bahndamm und gelangte glücklich hinüber.
Seitdem hatte er sich weiter gegen Maybury zu fortge-
schlichen, in der Hoffnung, weiteren Gefahren zu entrinnen,
wenn er die Richtung nach London einschlug. Die Leute hielten
sich in Gräben und Kellern verborgen, und viele der Überlebenden
hatten sich nach Woking Village und Send aufgemacht. Der
Mann war fast verschmachtet vor Durst, bis er endlich in der
Nähe des Brückenbogens der Eisenbahn ein geborstenes Wasser-
rohr entdeckte, aus dem das Wasser wie aus eine Quelle sich auf
die Straße ergoß.
Das war der Bericht, den ich Stück für Stück aus ihm her-
ausbekam. Während des Erzählens wurde er ruhiger und ver-
suchte mir die Dinge so anschaulich zu machen, wie er sie gesehen
hatte. Seit Mittag, sagte er mir gleich anfangs, hatte er keinen
Bissen zu sich genommen. Ich fand etwas Hammelfleisch und
Brot in der Speisekammer und brachte es ins Zimmer. Wir
zündeten keine Lampen an, aus Furcht, die Aufmerksamkeit der
Marsleute auf uns zu lenken. Und immer wieder stießen unsere
Hände zusammen, wenn wir nach Brot oder Fleisch langten.
Während er sprach, traten die Gegenstände um uns dunkel aus
der Dunkelheit heraus, und die niedergetretenen Büsche und Ro-
sensträucher draußen wurden deutlich sichtbar. Es sah aus, als
hätte eine Schar Menschen oder Tiere den Rasen zerstampft. All-
61
mählich nahm ich auch das Gesicht meines Gastes Mahr; es war
geschwärzt und eingefallen, wie ohne Zweifel auch das meine.
Nachdem wir unsere Mahlzeit beendigt hatten, tappten wir
uns leise in mein Studierzimmer hinauf, und ich blickte wieder
durch das offene Fenster. In einer einzigen Nacht war aus dem
Tale eine Aschenstätte geworden. Die Feuer waren jetzt her-
untergebrannt. Wo Flammen gewesen waren, sah man jetzt nur
Rauchsäulen. Aber die zahllosen Trümmer eingestürzter und
verwüsteter Häuser, die geborstenen und geschwärzten Bäume,
welche die Nacht verhüllt hatte, erhoben sich nun unheimlich und
furchtbar in dem unbarmherzigen Scheine der Morgendämme-
rung. Hie und da aber war ein Gegenstand glücklich dem Ver-
derben entronnen — hier ein weißes Eisenbahnsignal, dort das
Ende eines Glashauses, weiß und heil inmitten der .Verhee-
rung. Nie vorher in der Geschichte der Kriegsführung war eine
Zerstörung so wahllos und allgemein vor sich gegangen. Und
beleuchtet von dem aufsteigenden Licht im Osten, standen drei
jener metallischen Riesen bei der Grube. Ihre Dachkappen dreh-
ten sich im Kreise herum, als überblickten sie die Verwüstung, die
sie angerichtet.
Mir schien, als hätte die Grube sich erweitert. Und immer
wieder fuhren Stöße lebhaft grünen Dampfes gegen den heller
werdenden Himmel auf — fuhren auf, drehten sich wirbelnd,
verteilten sich und verschwanden.
Jenseits erblickte man die Feuersäulen von Chobham. Sie
wurden Säulen blutig roten Rauchs beim ersten Strahl des
Tages.
XII.
Die Zerstörung von Weybridge und Shepperton.
Als es Heller wurde, zogen wir uns vom Fenster, von dem
wir die Marslente beobachtet hatten, zurück und gingen leise
die Stiege hinab.
Der Artillerist stimmte mit mir überein, daß das Haus
62 —
nicht der Ort sei, um dort zu verweilen. Wie er mir mitteilte,
hatte er vor, die Richtung nach London einzuschlagen, um dort
mit seiner Batterie — Nr. 12 von der reitenden Artillerie —
zusammenzutreffen. Meine Absicht war es, sofort nach Leather-
head zurückzukehren' und so mächtig war der Eindruck, den die
Kraft der Marsleute auf mich gemacht hatte, daß ich fest ent-
schlossen war, meine Frau nach Newhayen zu bringen, um dort
mit ihr, und zwar ohne Verzug, das Land zu verlassen. Denn
das hatte ich schon klar begriffen, daß die Gegend um London
unvermeidlich der Schauplatz verhängnisvoller Kämpfe werden
müsse, ehe Geschöpfe, wie diese, vernichtet werden konnten.
Aber zwischen uns und Leatherhead lag der dritte Zylinder
unter der Obhut der Riesen. Wäre ich allein gewesen, so hätte
ich, glaube ich, alles in die Schanze geschlagen und hätte quer-
feldein meinen Weg eingeschlagen. Aber der Artillerist riet mir
davon ab : „Einer rechten Frau", sagte er, „erweist man keinen
Gefallen, wenn man sie zur Witwe macht." Und schließlich ließ
ich mich überreden, unter dem Schutz der Wälder mit ihm nörd-
lich bis Street Chobham zu gehen. Dort wollten wir uns tren-
nen. Dann wollte ich einen großen Umweg über Epsom machen,
um Leatherhead zu erreichen.
Ich wäre auf der Stelle aufgebrochen, aber mein Gefährte
war in aktivem Dienst gestanden, und er verstand es besser.
Er veranlaßte mich, das ganze Haus nach einer Feldflasche zu
durchstöbern, die er mit Whiskey füllte; und jede mögliche Tasche
stopften wir mit Päckchen Zwieback und Fleischschnitten an.
Dann schlichen wir uns aus dem Hause heraus und liefen, so
schnell wir konnten, die schlechte Straße hinab, auf der ich die
Nacht vorher gekommen war. Die Häuser schienen verlassen.
Auf der Straße lag eine Gruppe dreier vom Hitzstrahl getroffe-
ner, dicht nebeneinanderliegender Leichen; und hie und da sah
man Gegenstände, welche die Leute auf ihrer Flucht verloren
hatten — eine Uhr, einen Pantoffel, einen Silberlöffel und ähn-
liche armselige Kostbarkeiten. An der Ecke gegen das Postamt zu
stand ein kleiner Karren, mit Koffern und Hausgerät bepackt,
63
ohne Pferd, halb umgestürzt mit einem gebrochenen Rade. Eine
Geldschatulle war hastig aufgebrochen und in den Wirrwarr zu-
rückgeschleudert worden.
Außer dem Pförtnerhäuschen beim Waisenhause, das noch
immer brannte, hatte keines der Häuser hier sehr gelitten. Der
Hitzstrahl hatte die Rauchfänge abgeschlagen und war weiter-
gefahren. Dennoch schien es außer uns keine lebende Seele am
Mayburyhügel zu geben. Die Mehrheit der Bewohner hatte aus
der Altwokingerstraße — derselben, auf der ich nach Leatherhead
gefahren war — ihr Heil in der Flucht gesucht, oder sie hielt sich
verborgen.
Wir gingen den kleinen Feldweg hinab, an der Leiche des
Mannes in Schwarz, die jetzt vom nächtlichen Hagelschlag ganz
durchnäßt war, vorüber und schlugen uns am Fuße des Hügels
in das Gehölz. Wir arbeiteten uns bis zur Eisenbahn hindurch,
ohne einer lebenden Seele zu begegnen. • Das Wäldchen jenseits
des Eisenbahndammes war nichts als ein Haufen zerschmetterten
und verkohlten Holzes; zum größten Teil waren die Bäume um-
gestürzt, aber eine geringe Anzahl stand noch da, trostlose graue
Stämme mit dunkelbraunen, statt grünen Nadeln.
Auf unserer Seite waren kaum andere Spuren des Feuers
wahrzunehmen, als daß einige näherstehende Bäume versengt
waren; doch nicht genügend, um einen Brand anzuregen. An
einer Stelle waren die Forstleute noch am Samstag beschäftigt
gewesen; gefällte und frischbeschnittene Baumstämme lagen mit
ganzen Hügeln von Sägespänen neben der Sägemaschine und
ihrem Motor in einer Lichtung. Dicht daneben sah man eine nur
für augenblicklichen Gebrauch gezimmerte Hütte, die verlassen
dalag. Nicht ein Lüftchen regte sich an diesem Morgen, und alles
war seltsam still. Selbst die Vögel waren verstummt, und als
wir so entlangeilten, sprach der Artillerist und ich nur im Flüster-
töne, und von Zeit zu Zeit blickten wir über die Schulter zurück.
Ein- oder zweimal hielten wir an, um zu lauschen.
Nach einiger Zeit näherten wir uns der Straße, und als
wir ihr ganz nahekamen, hörten wir das Klappern von Hufen
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und sahen durch die Baumstämme drei Kavalleristen, die lang-
sam gegen Woking zu ritten. Wir riefen sie an, und sie machten
halt, während wir auf sie zueilten. Es war ein Leutnant und
zwei Mann von den 8. Husaren. Sie trugen ein Gestell, das
wie ein Theodolit aussah, das aber der Artillerist mir als einen
Heliographen erklärte.
„Sie sind die ersten Menschen, die ich auf dieser Straße
heute morgen gesehen habe," sagte der Leutnant; „was ist denn
eigentlich los?"
Seine Stimme und sein Gesicht waren erfüllt von Wißbe-
gierde. Auch die Soldaten hinter ihm starrten uns neugierig an.
Der Artillerist sprang über den Graben auf die Strgße hinab
und salutierte.
„Kanonen zerstört vorige Nacht, Herr Leutnant. Habe mich
versteckt. Versuche, zur Batterie zurückzukommen, Herr Leutnant.
Sie werden, wenn Sie noch eine halbe Meile auf dieser Straße
reiten, die Marsleute zu Gesicht bekommen, glaube ich."
„Wie zum Kuckuck sehen die denn aus?" fragte der Leut-
nant.
„Riesen in Rüstung, Herr Leutnant. Hundert Fuß hoch.
Drei Beine und ein Rumpf wie Aluminium, mit einem unge-
heuren Kopf in einer Kappe, Herr Leutnant."
„Hören Sie doch auf!" rief der Leutnant. „Was für ein ver-
fluchter Unsinn!"
„Sie werden schon sehen, Herr Leutnant. Sie führen eine
Art Kasten mit sich, der Feuer ausspeit und Sie totschlägt."
„Was meinen Sie eigentlich — ein Geschütz?"
„Nein, Herr Leutnant", und der Artillerist gab nun eine
lebhafte Beschreibung des Hitzstrahls. Mitten in seiner Schilde-
rung unterbrach ihn der Leutnant und blickte nach mir. Ich
stand noch immer auf dem Damm neben der Straße.
, „Haben Sie es gesehen?" fragte der Leutnant.
„Es ist vollkommen wahr", erwiderte ich.
„So," sagte der Leutnant, „dann glaube ich, ist es wohl
auch meine Pflicht, es anzusehen. Passen Sie auf" —- er wandte
sich an den Artilleristen — „wir sind hier verteilt, um die Leute
ans ihren Häusern zu schaffen. Sie tun am besten, wenn Sie
sich beim Brigadegeneral Marvin melden und ihm alles be-
richten, was Sie wissen. Er ist in Weybridge. Weg bekannt?"
„Ich kenne ihn", sagte ich. Er wendete sein Pferd wieder
südwärts.
„Eine halbe Meile, sagen Sie?" fragte er.
„Höchstens", entgegnete ich und wies über die Baumwipfel
nach Süden. Er dankte mir und ritt weiter. Wir haben sie nie
wieder gesehen.
Etwas weiter stießen wir auf eine Gruppe von drei Frauen
und zwei Kindern. Sie waren eifrig damit beschäftigt, die Hütte
eines Tagelöhners auszuräumen. Sie hatten sich einen kleinen
Handwagen verschafft und belüden ihn mit unsauber aussehen-
den Bündeln und schäbigem Hausgerät. Sie waren viel zu eifrig
am Werk, um uns anzusprechen, als wir vorübergingen.
Beim Bahnhof von Byfleet kamen wir aus den Fichten-
bäumen heraus und fanden im Licht der Morgensonne das Land
ruhig und friedlich. Wir befanden uns jetzt weit außerhalb des
Bereiches des Hitzstrahls; wären nicht die große Stille und Ver-
lassenheit in manchen Häusern gewesen, und das geschäftige Trei-
ben und Packen in andern, hätten wir nicht die kleine Gruppe
von Soldaten gesehen, die bei der Eisenbahnbrücke stand und fort-
während nach Woking hinüberstarrte — es wäre ein Tag, sehr
ähnlich jedem anderen Sonntag gewesen..
Einige Bauernwagen und Karren bewegten sich ächzend auf
der Straße, die nach Oddlestone führt. Plötzlich bemerkten wir
durch die Zauntüre eines Feldes, jenseits eines Streifens ebenen
Wiesengrundes sechs Zwölfpfünder in gleichmäßigen Zwischen-
räumen aufgestellt und gegen'Woking gerichtet. Die Kanoniere
standen bei den Geschützen in Bereitschaft/und die Munitions-
wagen befanden sich in gefechtsmäßiger Entfernung. Die Leute
standen da, als warteten sie auf augenblicklichen Befehl.
„Sehr gut!" sagte ich. „Einen Schuß werden sie auf alle
Fälle abbekommen."
Wells, Der Krieg der Welten
o
66
Der Artillerist zögerte an der Türe des Zaunes.
„Ich gehe weiter!" sagte er.
Weiter hin gegen Weybridge zu, gerade bei der Brücke, stand
eine Anzahl Soldaten in weißen Arbeitsblusen und warf eine
lange Schanze auf. Dahinter wieder einige Geschütze.
„Einerlei, das nenne ich Pfeil und Bogen gegen Blitze",
sagte der Artillerist. „Me haben den Feuerstrahl noch nicht ge-
sehen."
Die Offiziere, die nicht beschäftigt waren, standen und
blickten unverwandt über die Baumwipfel südwestwärts. Und
die Mannschaft hielt alle Augenblicke mit dem Graben ein, um
nach derselben Richtung zu starren.
Byfleet war in wilder Bewegung. Die Leute packten ein,
und ein Trupp Husaren, einige zu Fuß, andere beritten, jagte sie
durcheinander. Drei oder vier schwarze stattliche Wagen mit dem
Kreuz im weißen Feld, und ein alter Stellwagen wurden nebst
andern Gefährten in der Dorfstraße beladen. Es waren Scharen
von Leuten in den Straßen, die meisten von ihnen sonntägig ge-
nug gestimmt, um mit ihren besten Gewändern bekleidet zu sein.
Die Soldaten hatten die größte Mühe, ihnen den Ernst ihrer
Lage begreiflich zu machen. Wir sahen einen runzligen alten
Gesellen mit einer riesigen Kiste und etwa zwanzig oder mehr
Blumentöpfen mit Orchideen, wie er wütend einen Korporal
anfuhr, der die Blumen zurücklassen wollte. Ich blieb stehen und
faßte ihn beim Arm.
„Wissen Sie, was dort drüben ist?" fragte ich ihn und
wies auf die Fichtenwipfel, welche die Marsleute verbargen.
„Was?" sagte er und wandte sich um, „ich habe eben aus-
einandergesetzt, wie kostbar diese Blumen sind."
„Der Tod!" schrie ich. „Der Tod kommt! Der Tod!" Und
indem ich es ihm überließ, das hinunterzuwürgen so gut er konnte,
eilte ich dem Artilleristen nach. An der Ecke blickte ich zurück.
Der Soldat hatte ihn stehengelassen; aber er stand noch bei
seiner Kiste und den Orchideentöpfen und starrte verständnislos
über die Bäume hinweg.
67
Kein Mensch in Weybridge konnte uns sagen, wo das Haupt-
quartier ausgeschlagen war. Der ganze Ort befand sich in einem
Zustande geräuschvoller Verwirrung, den ich selbst in Städten
nie vorher gesehen hatte. Überall Karren und Wagen, die er-
staunlichsten Zusammensetzungen von Fahrgelegenheiten und
Pferdematerial. Die angesehenen Einwohner des Ortes, Män-
ner in Golf- und Ruderkostümen, hübsch gekleidete Frauen, alle
packten ein, von den Flußbummlern kräftig unterstützt. Die Kin-
der aufgeregt und zum größten Teil höchlichst entzückt über diese
erstaunliche Änderung ihrer Sonntagserfahrungen. Und inmitten
dieses Wirrwarrs stand der würdige Prediger, der mit aner-
kennenswertem Mut einen Frühgottesdienst abhielt. Seine Glocke
klang lustig in die Aufregung hinein.
Der Artillerist und. ich, wir saßen auf der Sockelstufe des
Trinkbrunnens und hielten mit den mitgenommenen Eßvor-
räten eine ganz leidliche Mahlzeit. Soldatenpatrouillen, hier
nicht Husaren, sondern weiße Grenadiere, ermahnten die Leute,
nicht länger zu zögern, sondern zu fliehen oder in den Kellern
ihre Zuflucht zu nehmen, sobald das Schießen beginnen werde.
Als wir die Eisenbahnbrücke überschritten, sahen wir, daß ein
stetig anwachsender Menschenhaufen sich in und vor dem Bahn-
höfe angesammelt hatte, und daß der von Menschen wimmelnde
Bahnsteig mit Koffern und Paketen überhäuft war. Der ge-
wöhnliche Verkehr war unterbrochen worden.
Wir hielten uns einige Zeit in Weybridge auf. Um die
Mittagsstunde befanden wir uns an der Stelle neben der Shep-
pertonschleuse, an der Wey und Themse sich vereinigen. Bis
dahin hatten wir einen Teil unserer Zeit damit verbracht, zwei
alten Frauen beim Beladen ihres kleinen Karrens behilflich zu
sein. Der Weh hat eine dreiteilige Mündung, und an dieser
Stelle kann man Boote mieten oder man benutzt die Fähre, die
über den Fluß führt. Auf der Seite von Shepperton war ein
Gasthaus mit einem Rasenplatz, und dahinter erhob sich der
Turm der Sheppertoner Kirche über den Bäumen.
Hier fanden wir einen erregten und lärmenden Hausen
68
Flüchtiger versammelt. Bisher war die Flucht noch nicht zu einer
Panik angewachsen;, doch waren schon jetzt viel mehr Leute da,
als die Boote, die hin und her fuhren, aufnehmen konnten. Immer
mehr Menschen kamen, die unter ihren schweren Lasten keuchten.
Ein Ehepaar schleppte sogar eine kleine Haustüre heran, auf die
es seine Gerätschaften getürmt hatte. Ein Mann meinte, er
würde es vursuchen, vom Sheppertoner Bahnhof abzufahren.
Es wurde viel hin und her geschrien, und ein Mann machte
sogar Witze. Die Vorstellung der Leute schien die zu sein, daß
die Marsleute einfach furchtbare menschliche Wesen seien, die
wohl eine Stadt angreifen und plündern könnten, aber die man.
schließlich doch ganz gewiß vernichten werde. Jeden Augenblick
spähten die Leute über den Wey hinweg nach den Wiesen in der
Richtung gegen Chertsey. Dort aber war alles ruhig.
Jenseits der Themse, außer gerade dort, wo die Boote lan-
deten, war alles still, in grellem Gegensatz zur Surreyseite. Die
Leute, welche dort landeten, trabten alle den Feldweg hinab. Das
große Fährboot hatte eben eine Fahrt zurückgelegt. Drei oder
vier Soldaten standen auf dem Rasenplatz des Gasthauses, gafften
und machten sich über die Flüchtlinge lustig, ohne Miene zu
machen, ihnen zu helfen. Das Gasthaus war geschlossen, eine
Folge der Sonntagsruhe.
„Was ist das?" rief ein Bootsmann, und „Kusch dich du
Narr!" herrschte ein Mann neben mir seinen kläffenden Hund
an. Da war der Ton wieder, dieses Mal aus der Gegend von
Chertsey, ein dumpfer Schlag — das Feuern eines Geschützes.
Die Schlacht begann. Fast unmittelbar fielen unsichtbare
Batterien — unsichtbar wegen der Bäume — jenseits des Flus-
ses zu unserer Rechten in den Chor ein, heftig feuernd — eine
nach der andern. Eine Frau kreischte. Jedermann stand bei
dem plötzlichen Beginn der Schlacht wie gebannt da; sie tobte
neben uns, und uns doch unsichtbar. Nichts war zu sehen, als
ebene Wiesengründe, als meist unbekümmert weitergrasende Kühe
und beschnittene Silberweiden, die regungslos im warmen Son-
nenlicht standen.
69
„Die Soldaten werden's ihnen schon zeigen", meinte eine
Frau neben mir etwas unsicher. Ein feiner Rauch -erhob sich
über den Baumkronen.
Plötzlich sahen wir eine Rauchwolke in weiter Ferne fluß-
aufwärts auffahren, ein Rauchstoß, der in die Luft schoß und
dort hängen blieb. Im selben Augenblick hob sich der Boden
unter unsern Füßen, und ein heftiger Zündschlag erschütterte
die Luft; einige Fenster in den näher gelegenen Häusern zer-
schellten. Wir blieben betäubt stehen.
„Da sind sie!" schrie ein Mann in blauem Jersey. „Da
drüben! Seht Jhr's nicht? Da drüben!
Blitzschnell, einer nach dem andern, tauchten ein, zwei, drei,
vier gepanzerte Marsleute in weiter Ferne bei den kleinen Bäu-
men, jenseits der ebenen Wiesen auf, die sich nach Chertsey hin-
ziehen. Sie näherten sich eilends dem Flusse. Kleine kapuziner-
artige Gestalten schienen sie zuerst, die sich rollend fortbewegten,
schnell wie fliegende Vögel.
Dann, in schiefer Richtung gerade auf uns zu, kam ein
Fünfter. Ihre gepanzerten Leiber glitzerten in der Sonne, als
sie auf die Geschütze zurasten, und im Näherkommen mit reißen-
der Schnelligkeit wuchsen. Einer, der- am weitesten entfernt,
ganz links fuhr, schwang einen ungeheuren Behälter in die Luft,
und der geisterhafte, furchtbare Hitzstrahl, den ich schon Freitag
nachts gesehen hatte, fuhr gegen Chertsey und traf die Stadt.
Beim Anblick dieser seltsamen, schnellen, schrecklichen Ge-
schöpfe schien die Menge am Ufer wie von Schrecken erstarrt zu
sein. Man hörte weder Schreien noch Jammern. Alles blieb
still. Dann ein heiseres Gemurmel, eine Bewegung von Füßen
— ein Aufspritzen von Wasser. Ein Mann, der zu erschreckt
war, um seine Reisetasche, die er auf der Schulter trug, fallen
zu lassen, warf sich herum und stieß mich mit der Kante seiner
Bürde fast zu Boden. Eine Frau stieß mit ihrer Hand nach mir
und stürzte an mir vorüber. Zugleich mit der Menge wandte
auch ich mich um; aber mein Entsetzen war nicht stark genug,
um mich am Denken zu hindern. Der furchtbare Hitzstrahl
70
beschäftigte meine Gedanken. Unter das Wasser flüchten! Das
war das Richtige!
„Unters Wasser!" schrie ich, ohne gehört zu werden.
Ich wandte mich wieder um und rannte dem herankommen-
den Marsmann entgegen — rannte spornstreichs die kiesige Bö-
schung hinab und stürzte mich kopfüber ins Wasser. Andere
folgten mir. Ein Boot .kam zurück und die Leute sprangen
heraus, als ich an ihnen vorbeistürmte. Die Steine unter
meinen Füßen waren lehmig und schlüpfrig, und der Fluß
war so seicht, daß ich vielleicht zwanzig Fuß weit lief und das
Wasser mir nur bis zur Hüfte reichte. Dann, als der Mars-
mann kaum zweihundert Pards entfernt zu meinen Häupten auf-
tauchte, warf ich mich nieder und tauchte unter. Das Auf-
klatschen des Wassers, so oft die Leute aus den Booten in den
Fluß sprangen, scholl wie Donnerschläge in meinen Ohren. Auf
beiden Seiten des Flusses stiegen Leute ans Land.
Aber die Marsmaschine beachtete diese hin und her laufende
Menschenmenge nicht mehr, als etwa ein Mensch, dessen Fuß
einen Ameisenhaufen zerstört hat, die Verwirrung beachtet, die er
im Ameisenvolk angerichtet hat. Als ich> halb erstickt, meinen
Kopf über das Wasser erhob, war die Dachhaube des Mars-
mannes gegen die Batterien gerichtet, die noch immer über den
Fluß schossen; und als er herankam, schwang er frei in der
Luft jenes Ding, das der Erzeuger des Hitzstrahls sein mußte.
Im nächsten Augenblick war die Maschine am Ufer, und
weit ausschreitend watete sie halb durch. Die Knie der Vorder-
beine waren schon auf dem anderen User, und gleich darauf
erhob es sich schon zu seiner vollen Höhe, ganz in der Nähe
von Shepperton. Sofort begannen die sechs Geschütze, welche
jedermann unsichtbar, am rechten Ufer, hinter den Ausläufern
des Dorfes, verborgen waren, gleichzeitig zu feuern. Die un-
erwartete Nähe der Erschütterung, die Schnelligkeit, mit der
der letzte Schuß dem ersten folgte, ließen meine Pulse fliegen.
Das Ungeheuer erhob schon den Behälter, der den Hitzstrahl
71
erzeugte, als die erste Bombe sechs Dards über der Dachhaube
platzte.
Ich stieß einen Schrei des Erstaunens aus. Ich sah und
hörte nichts Vvn den vier anderen Marsungetümen, meine Auf-
merksamkeit galt einzig und allein dem naheliegendsten Ereignis.
Gleichzeitig barsten zwei weitere Bomben in der Luft dicht neben
dem Körper des Riesen; er drehte die Dachhaube, gerade zur
rechten Zeit, um die vierte Bombe zu erhalten, aber nicht rasch
genug, um ihr auszuweichen.
Die Bombe fuhr mitten in das Gesicht des Marsmannes.
Die Haube blähte sich auf, funkelte und zersprang in ein Dutzend
zerschellter Stücke roten Fleisches und glitzernden Metalls.
„Getroffen!" schrie ich; meine Stimme klang halb krei-
schend, halb jubelnd.
Ich hörte die antwortenden Schreie von den Leuten, die
um mich herum im Wasser standen. In der augenblicklichen
freudigen Stimmung hätte ich aus dem Wasser springen können.
Der enthauptete Koloß wankte wie ein betrunkener Riese.
Aber er stürzte nicht. Wie durch ein Wunder gewann er sein
Gleichgewicht wieder. Nichts war mehr da, das seinen Lauf
zügelte, und die Kamera, die den Hitzstrahl abfeuerte, stand
offen da. So raste er polternd auf Shepperton los. Die
lebende Intelligenz, der Marsmann in der Dachhaube, war
erschlagen und seine Reste waren in die vier Winde zerstoben;
das Ding war jetzt nur mehr ein wildes Gewirr von Metall,
das seiner Vernichtung entgegeneilte. Ledig jeder Leitung, fuhr
es in gerader Richtung weiter. Es traf den Turm der Shepper-
toner Kirche, zerschmetterte ihn, so wie ein Kriegswidder ihn
zerschmettert hätte, bog seitwärts ab, polterte weiter, stürzte
endlich unter ungeheurem Getöse in den Fluß und entschwand
meinen Blicken.
Ein heftiger Zündschlag erschütterte die Luft. Ein Ge-
wirr von Wasser, Dampf, Schmutz und zersplittertem Metall'
schoß hoch auf. Als die Kamera mit dem Hitzstrahl das Wasser
berührte, verwandelte sich dieses unaufhaltsam in Dampf. Im
72
nächsten Augenblick wälzte sich eine ungeheure Woge, wie eine
schlammige Springflutwelle, aber fast kochend heiß, den ge-
krümmten oberen Teil des Flusses entlang. Ich sah, wie Leute
dem Ufer zustrebten und hörte ihre jammernden Schreie nur
undeutlich neben dem Zischen und Brüllen, das den Zusammen-
bruch des Marsungeheuers begleitete.
Für den Augenblick beachtete ich die Hitze nicht, und ver-
gaß die dringende Notwendigkeit der Selbsterhaltung. Ich watete
durch das aufgeregte Wasser, schob einen schwarz gekleideten Mann
zur Seite, um vorwärts zu kommen. Ein halbes Dutzend ver-
lassener Boote trieb ziellos auf dem Wellengewirr umher. Weiter
unten sah ich das gestürzte Marsungetüm quer über dem Flusse
liegen; der größte Teil war unter Wasser.
Dichte Wolken von Dampf strömten aus dem Wrack, und
durch die wie toll wirbelnden Wellen konnte ich die riesenhaften
Glieder sehen, wie sie das Wasser bewegten und einen Schauer
von Schlamm und Schaum aufpeitschten. Die Fühlfäden griffen
und schlugen um sich wie lebende Arme, und abgesehen von der
hilflosen Zwecklosigkeit dieser Bewegungen, sah das Ganze aus,
als führe ein verwundetes Geschöpf mit den Wellen einen ver-
zweifelten Kampf um sein Leben. Ungeheure Mengen einer
rötlichbraunen Flüssigkeit spritzten in lärmenden Funken aus
der Maschine.
Meine Aufmerksamkeit wurde von diesem Augenblick durch
einen starken quiekenden Laut abgelenkt, wie ihn jene Spiel-
zeuge von sich geben, die man in unseren Fabrikstädten Sirenen
nennt. Ein Mann, der knietief neben dem Leinpfad stand, rief
mich, laut flüsternd, an und machte mir ein Zeichen. Zurück-
blickend, sah ich die anderen Marsleute mit Riesenschritten das
Flußufer aus der Richtung von Chertsey herabeilen. Dieses Mal
sprachen die Geschütze von Shepperton vergeblich.
Ich tauchte sofort unter, hielt den Atem an, bis jede Be-
wegung in mir erstarrte, und trieb, von Schmerz gequält, mich
unter dem Wasser weiter, solange es mir möglich war. Das
Wasser um mich war in wildem Aufruhr und wurde mit reißender
73
Schnelligkeit heißer. Als ich einen Augenblick meinen Kops aus
dem Wasser steckte, um Atem zu schöpfen und Haare und Wasser
mir aus den Augen zu wischen, stieg der Dampf wie ein wir-
belnder, weißer Nebel auf, der die Marsleute zuerst meinen
Blicken entzog.
Der Lärm war betäubend. Dann aber sah ich sie, riesige
graue Gestalten, durch den Nebel noch vergrößert. Sie waren
an mir vorübergeschritten, und zwei von ihnen beugten sich
gerade über die schäumenden und tobenden Trümmer ihres
Kameraden.
Der dritte und der vierte standen neben ihnen im Wasser,
einer vielleicht zweihundert Pards von mir entfernt, der andere
nach Laleham blickend. Sie hielten die Behälter, die den Hitz--
strahl erzeugten, hoch ^n der Luft, und die zischenden Strahlen
fuhren nach allen Richtungen.
Die Luft war von Lärm erfüllt, von einem betäubenden
und verwirrenden Zusammenwirken von Geräuschen, von dem
klirrenden Getöse der Marsmaschinen, dem Krachen einstürzender,
Häuser, dem dumpfen Aufschlagen der Bäume, Gitter und
flammenumzüttgelter Scheunen, und dem Knattern und Prasseln
des Feuers. Dichter, schwarzer Rauch fuhr auf und vermischte
sich mit dem Dampf des Flusses; und wie der Hitzstrahl über
Weybridge hinfuhr, wurde sein Einschlagen durch ein Auffahren
weißglühenden Lichtes kenntlich, das sich sofort in einen rauchigen
Tanz gelblicher Flammen verwandelte. Die näherliegenden
Häuser waren noch unversehrt; beschattet, durch den Qualm
undeutlich und düster, erwarteten sie ihr Schicksal, während das
Feuer hinter ihnen auf und nieder raste.
Einen Augenblick lang, nicht länger stand ich da, brusthoch
in dem fast kochenden Wasser, betäubt von meiner Lage, ohne
Hoffnung, zu entrinnen. Durch den Qualm hindurch konnte
ich die Leute sehen, die mit mir im Flusse gewesen waren, wie
kleine Frösche, die durchs Gras fliehen, wenn ein Mensch sie
aufschreckt, arbeiteten sie sich durch das Schilf aus dem Wasser
oder rannten in wildem Entsetzen am Leinpfad auf und ab.
74
Plötzlich kamen die weißen Blitze des Hitzstrahls auf mich
zugeschossen. Die Häuser sanken bei ihrer Berührung zu-
sammen und spien Flammen aus; die Bäume verwandelten sich
mit Getöse in Feuersäulen. Die Blitze flackerten auf dem Lein-
pfad planlos auf und ab und verzehrten die Leute, die dort
planlos auf und nieder liefen. Dann näherten sie sich dem Rande
des Wassers, nicht fünfzig Aards von der Stelle entfernt, auf
der ich stand. Nun fuhr der Strahl über den Fluß hinüber
nach Shepperton, und wo er das Wasser berührte, da schwoll es
in einer kochenden, dampferfüllten Blase auf. Ich wandte mich
dem Ufer zu.
Im nächsten Augenblick hatte sich die riesige, dem Siede-
punkt nahe Welle über mich gestürzt. Ich schrie laut auf, und
halb verbrüht, halb geblendet, taumelte ich, sinnlos vor Schmerz,
durch das aufschießende, zischende Wasser dem Ufer zu. Wäre
mein Fuß ausgeglitten, es wäre das Ende gewesen. Hilflos
fiel ich, vor den Augen der Marsleute, auf die breite, nackte,
kiesige Sandbank, die als Wahrzeichen der Vereinigung von
Wey und Themse sich dort hinzieht. Ich erwartete nichts als
den Tod.
Ich erinnere mich dunkel, wie ein Marsmann den Fuß seiner
Maschine etwa zwanzig Aards von meinem Kopf entfernt nieder-
stellte, wie dieser tief in den lockeren Kiessand einsank, wie
der Kies hierhin und dorthin stob, wie jener Fuß wieder er-
hoben wurde. Ich erinnere mich der Augenblicke banger Er-
wartung, und dann, wie die Vier die Überbleibsel ihres Ka-
meraden forttrugen, erst ganz deutlich sichtbar, gleich darauf
verschwommen in einem Rauchschleier, endlich, wie es mir schien,
auf einer unermeßlichen Fläche von Fluß und Wiese in un-
endlicher Entfernung gänzlich verschwindend. Und nun kam
es mir, nur allmählich, zum Bewußtsein, daß ich wie durch
ein Wunder entkommen war.
75 -
XIII.
Wie ich mit dem Küretten zusammentraf.
Nachdem sie uns diesen unerbetenen Unterricht über die
Unvollkommenheit der irdischen Waffen erteilt hatten, zogen
sich die Marsleute wieder in ihr ursprüngliches Hauptquartier
auf der Horsell-Weide zurück. In ihrer Hast und überdies mit
den Resten ihres zerschmetterten Gefährten beladen, übersahen
sie ohne Zweifel viele solche verstreut liegende und unnötige
Opfer, wie ich es war. Hätten sie ihren Kameraden im Stich
gelassen und hätten sie sich sofort aufgemacht, so hätte es zu
jener Zeit zwischen ihnen und London nichts gegeben, als Bat-
terien zwölfpfündiger Geschütze; und ohne Zweifel hätten sie
die Hauptstadt schneller erreicht, als die Kunde ihres Heran-
nahens. Ihre Ankunft wäre ebenso plötzlich, erschreckend und
vernichtend gewesen, wie das Erdbeben, das ein Jahrhundert
vorher Lissabon zerstört hatte.
Doch sie hatten keine Eile. Ein Zylinder folgte dem anderen
auf seiner Bahn von Planet zu Planet; alle vierundzwanzig
Stunden erhielten sie Verstärkungen. Unterdessen gingen die
Militär- und Marinebehörden, die sich jetzt der ungeheuren
Gewalt ihrer Gegner völlig bewußt waren, mit fieberhaftem
Eifer ans Werk. Jede Minute wurde ein neues Geschütz auf-
gepflanzt; bevor noch die Dämmerung hereinbrach, barg jedes
Gehölz, jede Reihe vorstädtischer Landhäuser an dem hügeligen
Abhang um Kingston und Richmond eine kampflustige schwarze
Mündung. Durch die verkohlte und verödete Fläche — in
einem Ausmaß von etwa zwanzig Quadratmeilen —, die das
Feldlager der Marsleute auf der Horsell-Weide umschloß, durch
die ausgebrannten und in Trümmern liegenden Dörfer mit
ihren grünen Bäumen, durch die schwarzen und rauchenden
Säulengänge, die noch einen Tag vorher Fichtenanpflanzungen
gewesen waren, krochen die treuen Kundschafter mit den Helio-
graphen, welche den Kanonieren das Herannahen der Mars-
leute anzeigen sollten. Die Marsleute aber waren jetzt von
76
der Bedeutung unserer Artillerie unterrichtet, sie kannten die J
Gefahren menschlicher Nähe, und nicht einer von ihnen wagte sich z
außerhalb des Bereiches einer Meile vor jedem Zylinder, außer (
um den Preis seines Lebens.
Es schien, als verbrachten diese Riesen den frühen Nach- j
mittag damit, hin und her zu wandern und den gesamten In- !
halt des zweiten und des dritten Zylinders — jener lag in !
Addlestone-Golf links, dieser bei Pyrford — in ihre ursprüngliche !
Grube auf der Horsell-Weide zu schaffen. Weiter drüben, bei |
dem geschwärzten Heidekraut und den zertrümmerten Gebäuden, !
die sich weit und breit erstreckten, stand einer als Wache, wäh- |
rend die übrigen ihre riesigen Kriegsmaschinen verließen und
in die Grube hinabstiegen. Sie arbeiteten bis spät in die Nacht i
hinein mit vollen Kräften, und die hochgetürmte Säule dichten,
grünen Rauches, die sich aus der Grube erhob, konnte von den
Hügeln bei Merrow gesehen werden und soll selbst von Banstead ;
und Epsom Dowes bemerkt worden sein.
Während so die Marsleute hinter mir sich für ihren nächsten
Ausfall rüsteten, während vor mir die Menschheit sich zum
Kampf vorbereitete, bahnte ich mir unter unsäglichen Schmerzen
und Mühen meinen Weg vom Feuer und vom Rauch des bren-
nenden Weybridge nach London.
Ich sah ein sehr kleines verlassenes Boot in ziemlicher Ent-
fernung flußabwärts treiben. Und nachdem ich den größten
Teil meiner durchnäßten Kleidungsstücke abgeworfen hatte, eilte
ich ihm nach, erreichte es und entkam so der Verwüstung. Es
waren keine Ruder im Boot, aber ich beschloß, zu plätschern,
soweit es meine verbrühten Hände erlaubten. So gelangte ich
nur sehr mühsam mich weitertreibend, den Fluß hinab nach
Halliford und Walton; dabei blickte ich mich unaufhörlich um,
wie man wohl begreifen wird. Ich folgte dem Flusse, indem
ich mir sagte, daß das Wasser mir die beste Gelegenheit zum
Entkommen bieten werde, wenn jene Riesen wiederkehrten.
Das heiße Wasser, das sich bei dem Sturz der Mars-
maschine gebildet hatte, floß mit mir stromabwärts, und so
konnte ich fast während einer Meile nur wenig von beiden Ufern
erblicken. Einmal jedoch gewahrte ich eine Reihe schwarzer
Gestalten, die aus der Richtung von Weybridge über die Wiesen
eilten. Halliford schien gänzlich verödet zu sein, und einige
dem Fluß zugewendete Häuser standen in Flammen. Es be-
rührte mich seltsam, den Ort so friedlich daliegen zu sehen, so
verlassen unter dem heißen, blauen Himmel, und wie doch der
Rauch und kleine Fenerfäden kerzengerade in die schwüle Luft
des Nachmittags aufstiegen. Ich hatte nie noch vorher Häuser
ohne den Zulauf einer im Wege stehenden Menschenmenge
brennen sehen. Ein wenig weiter rauchte und glühte das aus-
gedörrte Schilf am Ufer, und eine Feuerlinie, die landeinwärts
führte, kroch gierig über ein verspätetes Heufeld.
Lange Zeit trieb ich so hin; ich war von Schmerzen ge-
peinigt und erschöpft nach alt dem Schrecklichen, das ich erlebt;
und. die Hitze auf. dem Wasser war fast unerträglich. Dann
überfiel mich wieder die Furcht, und ich nahm mein Plätschern
wieder auf. Die Sonne versengte meinen bloßen Rücken. End-
lich, als nach der Krümmung die Brücke von Walton mir ent-
gegenblickte, besiegten Fieber und Schwäche meine Furcht; ich
landete am Middlesexufer und legte mich, fast zu Tode erschöpft,
im langen Grase nieder. Es war, wie ich vermute, etwa vier
oder fünf Uhr. Ich erhob mich bald wieder, ging eine halbe
Meile weiter, ohne einer lebenden Seele zu begegnen, und legte
mich dann wieder in den Schatten einer Hecke. Ich erinnere
mich dunkel, während dieses letzten anstrengenden Marsches mit
mir selbst gesprochen zu haben. Ich war auch sehr durstig
und bereute es bitter, nicht mehr Wasser getrunken zu haben.
Es ist auch eigentümlich, daß ich etwas wie Ärger über meine
Frau empfand; ich kaun es mir nicht erklären; aber mein ohn-
mächtiges Verlangen, Leatherhead zu erreichen, brachte mich über
die Maßen auf.
Ich entsinne mich nicht mehr deutlich der Ankunft des
Kuraten. Ich schlummerte also wahrscheinlich. Ich wurde seiner
erst gewahr als eines Geschöpfes, das mit rußbedeckten Hemd-
— 78 —
ärmeln dasaß und mit.seinem aufwärts gerichteten glattrasierten
Gesicht auf ein schwach flackerndes Licht starrte, das am Himmel
tanzte. Es war ein Himmel, den man bei uns einen „Makrelen-
Himmel" nennt, über und über besät mit feinen, daunenfeder-
gleichen Wölkchen, die von der sinkenden Hochsommersonne rosig
angehaucht waren.
Ich setzte mich auf, und beim Geräusch meiner Bewegung
blickte er rasch nach mir.
„Haben Sie etwas Wasser?" fragte ich ohne Begrüßung.
Er schüttelte den Kopf.
„Sie haben schon seit einer ganzen Stunde um Wasser
gebeten", sagte er.
Einen Augenblick lang schwiegen wir und maßen uns ge-
genseitig mit den Blicken. Ich muß gestehen, daß er eine
recht wunderliche Gestalt in mir fand, nackt bis auf meine
durchnäßten Beinkleider und Socken, halbverbrüht, und Gesicht
und Schultern von Rauch geschwärzt. Sein Gesicht war das
eines blonden Schwächlings, sein Kinn trat stark zurück, und
sein Haar lag in krausen, fast flachsfarbenen Wellen auf seiner
niedrigen Stirn. Seine Augen waren ziemlich groß, blaßblau
und ins Leere starrend. Er sprach abgebrochen und blickte
gewöhnlich unstet von mir weg.
„Was bedeutet das?" sagte er, „was sollen alle diese Dinge
bedeuten?"
Ich starrte ihn an und gab keine Antwort.
Er streckte eine dünne, weiße Hand aus und fuhr in fast
klagendem Tone fort:
„Warum werden solche Dinge zugelassen? Was für Sünden
haben wir begangen? Die Morgenandacht war zu Ende, ich
wandelte durch die Straßen, um meine Gedanken für den Nach-
mittag zu klären — da — Feuer, Erdbeben, Tod! Als ob es
Sodom und Gomorrha wäre! Die ganze Arbeit zerstört, die
ganze Arbeit... Wer sind diese Marsleute?"
„Wer sind wir?" antwortete ich und räusperte mich.
Er umklammerte seine Knie und wandte sich wieder mir
79
zu. Eine halbe Minute vielleicht brütete er schweigend vor
sich hin.
„Ich wandelte durch die Straßen, um meine Gedanken zu
klären", sagte er. „Und plötzlich Feuer, Erdbeben, Tod!"
Er verfiel wieder in Schweigen; sein Kinn sank fast auf
seine Knie.
Bald darauf fing er wieder an und fuhr mit der Hand
umher.
„Die ganze Arbeit — alle die Sonntagsschulen. Was haben
wir denn getan — was hat Weybridge getan? Alles ver-
schwunden — alles zerstört. Die Kirche! Wir haben sie erst
vor drei Jahren wieder aufgebaut. Verschwunden! — Vom
Erdboden weggefegt! Warum?"
Abermals eine Pause; dann brach er wieder los wie ein
Rasender.
„Der Rauch seines Feuers gehet auf für ewig und immer-
dar!" schrie er.
Seine Augen flammten, und sein magerer Finger wies
gegen Weybridge.
Ich war jetzt soweit, um mir über ihn klar zu werden.
Das entsetzliche Trauerspiel, in das er verflochten war — er
war offenbar ein Flüchtling aus Weybridge — hatte ihn an
den Rand des Wahnsinns getrieben.
„Sind wir weit von Sunbury?" fragte ich in einem gleich-
gültigen Tone.
„Was sollen wir tun?" fragte er. „Sind denn diese Ge-
schöpfe überall? Ist ihnen denn die Erde übergeben worden?"
„Sind wir weit von Sunbury?"
„Diesen Morgen erst hielt ich den Frühgottesdienst ab."
„Die Dinge haben sich seither verändert", sagte ich ruhig.
„Sie müssen Ihren Kopf oben behalten. Es gibt noch Hoff-
nung."
„Hoffnung!"
„Ja; Hoffnung in Menge — trotz aller dieser Zerstörung!"
Ich fing an, meine Ansicht über unsere Lage darzulegen.
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Er hörte anfangs zu, aber während ich weitersprach, verwan-
delte sich das Interesse in seinen Augen wieder in das leere
Starren von früher, und seine Blicke schweiften von mir weg
in die Ferne.
„Das muß der Anfang vom Ende sein," sagte er, mich
unterbrechend, „das Ende! Der große und schreckliche Tag des
Herrn! Wenn die Menschen werden anrufen die Berge und die
Felsen, daß sie mögen fallen auf sie und sie verbergen — ver-
bergen vor seinem Angesicht, vor dem Antlitz dessen, der da
sitzet auf dem Throne!"
Ich begann die Sachlage zu verstehen. Ich gab meine
anstrengenden Vernunftspredigten auf, richtete mich mühsam
auf, und zu ihm tretend, legte ich meine Hand auf seine Schulter.
„Seien Sie ein Mann", sagte ich. „Der Schrecken hat
Sie um Ihren Verstand gebracht. Wozu ist denn die Religion
gut, wenn sie beim ersten Unglück zusammenbricht? Bedenken
Sie doch, was Erdbeben und Wasserfluten, Kriege und Vulkane
schon früher der Menschheit angetan haben. Dachten Sie denn,
daß Gott mit Weybridge eine Ausnahme machen wollte?...
Er ist kein Versicherungsagent, Herr."
Eine Zeitlang saß er in Schweigen verloren da.
„Aber wie sollen wir entfliehen?" fragte er plötzlich. „Sie
sind unverwundbar, sie sind erbarmungslos."
„Weder das eine, noch, vielleicht, das andere", antwortete
ich. „Und je mächtiger sie sind, um so vernünftiger und be-
hutsamer sollten wir sein. Nicht drei Stunden sind es her,
daß einer von ihnen da drüben getötet wurde."
„Getötet!" sagte er, und starrte mich an. „Wie können
die Gesandten des Herrn getötet werden?"
„Ich sah es", fuhr ich in meiner Erzählung fort. „Der
Zufall will es eben, daß wir ins Ärgste hineingeraten sind,"
sagte ich, „das ist alles."
„Was bedeutet denn jenes Flackern am Himmel?" fragte
er unvermittelt.
Ich sagte ihm, daß es die Signale der Heliographen
81
'feien — das Zeichen menschlicher Hilfe und Bemühungen am
Himmel.
„Wir sind gerade mitten drinnen," sagte ich, „so ruhig
alles auch ist. Das Flackern am Himmel deutet auf nahenden
Sturm. Dort drüben, glaube ich, sind die Marsleute, und
gegen London zu, dort, wo die Hügel um Richmond und
Kingston sich erheben und die Bäume Schutz gewähren, werden
Schanzen aufgeworfen und Geschütze aufgepflanzt. Bald werden
die Marsleute wieder hierherkommen..."
Während ich noch sprach, sprang er auf und unterbrach
mich mit einer Gebärde.
„Hören Sie", sagte er...
Von jenseits der niedrigen Hügel über dem Wasser er-
schollen der dumpfe Widerhall ferner Geschütze und in weiter
Ferne, ein unheimliches Schreien. Dann war alles still. Ein
Maikäfer schwirrte über die Hecke an uns vorüber. Hoch im
Westen hing, bleich und kaum sichtbar, die Sichel des Mondes
über dem Rauch von Weybridge und Shepperton und der heißen,
stillen Pracht der sinkenden Sonne.
„Wir tun am besten, diesen Weg einzuschlagen," sagte ich,
„nach Norden."
XIV.
Zn London.
Mein jüngerer Bruder war in London, als die Marsleute
Woking überfielen. Er war Student der Medizin, arbeitete
gerade für eine bevorstehende Prüfung, und hörte von ihrer
Ankunft nichts vor Samstag früh. Die Morgenblätter am
Samstag enthielten als Ergänzung ziemlich ausführliche Fach-
artikel über den Planeten Mars, das Leben auf dem Planeten
und so weiter, und nur ein kurzes, in unbestimmten Wendungen
gehaltenes Telegramm, das durch seine Kürze um so auffälliger
wirkte.
Die Marsleute, durch die Annäherung einer Menschenmenge
Wells, Der Krieg der Welten ß
82
erschreckt, haben eine Anzahl Menschen mit einem Schnellfeuer-
geschütz getötet, so etwa lautete der Bericht. Das Telegramm
schloß mit den Worten: „So furchtbar sie auch scheinen mögen,
haben sich die Marsleute noch nicht aus der Grube, in die sie
gefallen sind, gerührt, und scheinen auch ganz unfähig dazu zu
sein. Dies ist wahrscheinlich eine Folge der relativ ungleich
stärkeren Anziehungskraft der Erde." Über diesen letzteren Punkt
verbreitete sich der Artikelschreiber mit großem Behagen.
In dem biologischen Kurs der Vorbereitungsschule, die
mein Bruder zu jener Zeit besuchte, waren natürlich alle Stu-
denten von dem lebhaftesten Anteil an diesen Vorgängen er-
füllt. Aber auf den Straßen waren keine Zeichen einer unge-
wöhnlichen Erregung wahrzunehmen. Die Nachmittagsblätter
verpufften einige Brocken Neuigkeiten unter riesigen Aufschriften.
Aber außer der Bewegung der Truppen auf der Weide und
dem Brand des Fichtengehölzes zwischen Woking und Weybridge
um acht Uhr, wußten sie nichts zu berichten. Später teilte
die „St. James Gazette" die nackte Tatsache von der Unter-
brechung der telegraphischen Verbindung in einer besonderen
Ausgabe mit. Man nahm an, daß dies dem Auffallen einiger
brennender Fichtenstämme auf die Drähte zuzuschreiben sei.
Über das Gefecht wurde in jener Nacht, der Nacht meiner Fahrt
nach Leatherhead und zurückj nichts weiter bekannt.
Mein Bruder war nicht im mindesten um uns besorgt, da
er aus der Beschreibung der Blätter wußte, daß der Zylinder
gute zwei Meilen von unserem Hause entfernt war. Er nahm
sich vor, in der Nacht zu mir zu fahren, um, wie er sagte,
sich die Geschöpfe anzusehen, bevor sie getötet würden. Er
sandte mir ein Telegramm, das mich nie erreichte. Das war
um vier Uhr. Den Abend verbrachte er in einer Singspiel-
halle.
Auch in London herrschte Samstag nachts ein starkes Un- 4
Wetter, und mein Bruder fuhr in einer Droschke zum Waterloo-
bahnhof. Auf dem Bahnsteig, von dem der Mitternachtszug die
Station gewöhnlich verläßt, erfuhr er nach einigem Warten,
83
daß ein Unfall die Züge verhindere, diese Nacht Woking zu
erreichen. Über das Nähere dieses Unfalls konnte er nichts
Verläßliches erfahren; selbst die Bahnbeamten wußten damals
noch nichts Bestimmtes. Auf dem Bahnhof herrschte nur eine
geringe Aufregung, und die Bahnbeamten, weit entfernt, etwas
anderes anzunehmen als eine geringe Störung zwischen Bhfleet
und der Wokinger Kreuzung, expedierten die Theaterzüge, welche
gewöhnlich über Woking fuhren, auf einem Umweg über Virgina
Water oder Gnildford. Ebenso eifrig waren sie damit beschäf-
tigt, die Linien der Sonntags-Vergnügungszüge nach Southamp-
ton und Portsmouth zu ändern. Der Nacht-Berichterstatter einer
. Zeitung, der meinen Bruder irrtümlich für den Betriebsleiter
hielt, mit dem er eine entfernte Ähnlichkeit besitzt, stellte sich
ihm in den Weg und versuchte, einiges aus ihm herauszube-
kommen. Außer einigen Bahnbeamten brachten nur wenige
Leute den Unfall mit den Marsmännern in Zusammenhang.
In einem anderen Berichte dieser Ereignisse habe ich ge-
lesen, daß am Sonntag -morgen „ganz London durch die Nach-
richten aus Woking elektrisiert war". In Wahrheit aber gab
es nichts, das diesen sehr übertriebenen Ausdruck rechtfertigen
konnte. Zahlreiche Leute in London hatten bis zur Panik am
Montag morgen nichts von den Marsleuten gehört. Und die
davon gehört hatten, bedurften einiger Zeit, um sich aus den
hastig entworfenen Telegrammen der Sonntagsblätter ein Bild
zu machen. Die Mehrheit der Leute in London liest keine
Sonntagsblätter.
Außerdem wurzelte das gewohnte Gefühl persönlicher Sicher-
heit so tief in-.der Seele des Londoners, und aufregende Zei-
tungsnachrichten sind eine so alltägliche Sache in London, daß
die Leute ohne besondere Furcht Dinge, wie diese, lesen konnten:
„Vorige Nacht kamen die Marsleute um sieben Uhr aus ihrem
Zylinder heraus. Sie wagten sich in Harnischen aus Metall-
platten hervor, zerstörten das Bahnhofsgeläigde von Woking
samt den umliegenden Häusern vollständig und vernichteten ein
ganzes Bataillon des Cardigan-Regiments. Einzelheiten sind
6*
84
nicht bekannt. Maximgeschütze erwiesen sich völlig nutzlos gegen
ihren Harnisch; Feldgeschütze wurden von ihnen zertrümmert.
Fliehende Husaren sprengten nach Chertsey. Die Marsleute
scheinen langsam nach Chertsey oder Windsor vorzürücken. In
West-Surrey herrscht große Angst, und Schanzen werden auf-
geworfen, um einem Einrücken in London vorzubeugen." In
dieser Weise drückte sich die „Sunday Sun" aus; und ein ge-
schickter und mit bemerkenswerter Schnelligkeit geschriebener Fach-
aufsatz im „Referee" verglich die Sache mit einer plötzlich auf
ein Dorf losgelassenen Menagerie.
Niemand war in London über die Beschaffenheit der ge-
panzerten Marsleute genau unterrichtet, und noch immer
herrschte die fixe Idee, daß diese Ungeheuer nur schwerfällig
„krabbelten", „mühselig krochen". Solche Ausdrücke fanden sich
fast in jedem der ersten Berichte. Keines jener Telegramme
konnte von einem Augenzeugen jener Vorgänge herrühren. Die
Sonntagsblätter druckten Sonderausgaben, als weitere Nach-
richten bekannt wurden, manche auch, bei denen das nicht
der Fall war. Aber es gab tatsächlich nichts, was man den
Leuten bringen konnte, bis zum späten Nachmittag, als die
Behörden den Preßagenten die Nachrichten übermittelten, die
in ihrem Besitze waren. Es wurde die Mitteilung gemacht, daß
die Bewohner von Walton und Weybridge, und überhaupt aus
diesem ganzen Bezirk auf den Straßen London zuströmten.
Das war alles.
Am Morgen ging mein Bruder in die Kirche der Findel-
anstalt, immer noch, ohne zu wissen, was sich am Abend vorher
zugetragen hatte. Er Härte-dort Anspielungen auf den Einfall der
Marsbewohner und ein besonderes Gebet um Frieden. Nach dem
Gottesdienst kaufte er eine Nummer des „Referee". Die darin
enthaltenen Nachrichten machten ihn doch besorgt, und er be-
gab sich neuerdings zum Waterloo-Bahnhof, um dort aus-
findig zu machen, ob die Verbindung schon hergestellt sei. Die
Stellwagen, die Droschken, die Radfahrer und die zahlosen Leute,
die in ihren besten Kleidern einherwandelten, schienen von den
86
Die Marsleute können doch nicht aus ihrer Grube Heraus?
Oder doch?"
Mein Bruder konnte ihnk keine Auskunft geben.
Später bemerkte er, daß ein unbestimmtes Gefühl der
Furcht sich auch der Benutzer der Untergrundbahn bemächtigt
hatte, und daß' die Sonntagsausflügler ans den südwestlichen
Sommerfrischen — Barnes, Wimbledon, Richmond, Park,
Kew und so weiter — zu ungewöhnlich früher Zeit zurückzu-
kehren begannen. Aber nicht einer von ihnen wußte außer
leeren Gerüchten etwas Nennenswertes zu erzählen. Jeder-
mann, der mit der Bahn zusammenhing, schien schlechter Laune
zu sein.
Um fünf Uhr etwa geriet der anschwellende Menschen-
haufe am Bahnhof in ungeheure Aufregung, weil die fast be-
ständig geschlossene Verbindungslinie zwischen den südöstlichen
und südwestlichen Haltestellen geöffnet wurde. Die Aufregung
wuchs beim Anblick einfahrender Güterwagen, die mit riesigen
Geschützen beladen, und Wagenabteilungen, die von Soldaten
dicht besetzt waren. Es waren die Geschütze, die von Woolwich
und Chatham herausgebracht worden waren, um Kingston zu
decken. Sofort begann ein Austausch von Scherzworten: „Ihr
werdet gefressen werden!" „Wir sind die Tierbändiger!" und
dergleichen. Kurz darauf kam eilt Zug Wachleute, welche die
Bahnsteige säuberten. Auch mein Bruder begab sich wieder
aus die Straße.
Die Kirchenglocken läuteten zum Abendsegen, und eine Ab-
teilung von Mädchen der Heilsarmee kam singend die Waterloo-
straße herab. Bei der Brücke beobachtete eine Anzahl Müßig-
gänger einen sonderbaren braunen Schaum, der stellenweise
sichtbar den Strom hinabtrieb. Die Sonne versank eben, und
der Uhrturm und die Häuser des Parlaments erhoben sich gegen
einen Abendhimmel, den man sich kaum friedlicher vorstellen
konnte, einen goldenen Himmel, unterbrochen von langen Quer-
streifen rötlichbrauner Wolken. Es ging die Rede von einem
schwimmenden Leichnam. Einer der Männer, ein Reservist, wie
87
er sagte, erzählte meinem Bruder, er habe im Westen den
Heliographen aufblitzen gesehen.
In der Wellingtonstraße begegnete mein Bruder einem
Paar stämmiger Bengel, die eben mit noch feuchten Zeitungs-
blättern und auffallenden Plakaten aus der Fleetstreet stürmten.
„Furchtbare Katastrophe!" brüllten sie, einer den anderen über-
schreiend. „Kämpfe in Weybridge! Ausführliche Beschreibung!
Fluchl der Marsleute! 'London in Gefahr!" Mein Bruder
mußte ihnen drei Pence für eine Nummer des Blattes geben.
Damals geschah es, damals erst, daß er sich einen Begriff
von der vollen Gewalt und der Furchtbarkeit jener Ungeheuer
machte. Er erfuhr, daß sie nicht bloß eine Handvoll kleiner,
plumper Geschöpfe waren, sondern geistig hochstehende Wesen,
die riesige mechanische Körper lenkten, die sich blitzschnell be-
wegen und mit solcher Kraft ihre Opfer treffen konnten, daß
selbst die mächtigsten Geschütze ihnen nicht standzuhalten ver-
mochten.
Sie wurden geschildert als „ungeheure spinnenartige Ma-
schinen, fast hundert Fuß hoch, fähig, sich mit der Schnelligkeit
von Eilzügen vorwärts zu bewegen, und imstande, Strahlen von
unermeßlicher Hitze abzufeuern". Verborgene Batterien, haupt-
sächlich aus Feldgeschützen bestehend, wären in der Umgebung
der Horsell-Weide aufgepflanzt worden, besonders zwischen dem
Wokinger Bezirk und London. Man hätte fünf Maschinen ge-
sehen, wie sie sich der Themse näherten, und eine wäre durch
eine Laune des Zufalls zerstört worden. In allen anderen
Fällen wären die Geschosse fehlgegangen und die Batterien von
den Hitzstrahlen sofort vernichtet worden. Schwere Verluste von
Soldaten wurden gemeldet, aber der Don des Berichts war
hoffnungsvoll.
Die Marsleute wären zurückgeschlagen worden; sie wären
, nicht unverwundbar. Sie hätten sich wieder in ihr Zylinder-
dreieck im Kreise von Woking zurückgezogen. Brave Leute, die
Heliographische Zeichen gaben, näherten sich ihnen unausgesetzt
von allen Seiten. Mit reißender Schnelligkeit würden von
88
Windsor, Portsmouth, Aldershot, Woolwich, selbst aus dem
Norden Geschütze an Ort und Stelle geschafft; unter anderen
lange, gezogene Geschütze von fünfundneunzig Tonnen aus Wool-
wich. Alles in allem würden hundertundsechzehn aufgestellt oder
hastig vorbereitet werden, hauptsächlich zum Schutze Londons.
Niemals vorher hätte in'England ein so ungeheures oder schleu-
niges Aufgebot von kriegerischer Macht stattgefunden.
Jeder in Zukunft niederfallende Zylinder würde, so hoffte
man, durch starke Sprenggeschosse sofort zerstört werden, die
schleunigst hergestellt und verteilt werden sollten. Ohne Zweifel,
fuhr der Bericht fort, könne die Lage nicht sonderbarer und
ernster sein, aber die Öffentlichkeit sei hiermit ermahnt, Pa-
niken zu vermeiden und hintanzuhalten. Ohne Zweifel seien
die Marsleute äußerst seltsame und erschreckende Geschöpfe, aber
im schlimmsten Falle gäbe es nicht mehr als zwanzig gegen
unsere Millionen.
Die Behörden hätten guten Grund, aus dem Umfange der
Zylinder zu schließen, daß im äußersten Falle nicht mehr als
fünf in jedem Zylinder stecken könnten — zusammen also fünf-
zehn. Und einer wenigstens 'sei schon abgetan — vielleicht
schon mehr. Die Öffentlichkeit sei schon genügend vor der
drohenden Gefahr gewarnt worden; und die umfangreichsten
Vorsichtsmaßregeln seien getroffen worden, um die Bevölkerung
der bedrohten südwestlichen Vororte zu schützen. Und mit wieder-
holten Beteuerungen in bezug auf die Sicherheit Londons und
in festem Vertrauen darauf, daß die Behörden ihrer schweren
Aufgabe gewachsen seien, schloß diese Quasi-Proklamation.
Das alles war in riesigen Buchstaben gedruckt, so frisch,
daß das Papier noch feucht war, und es war nicht Zeit gewesen,
ein Wort der Erklärung hinzuzufügen. Es war merkwürdig,
erzählte mein Bruder,, zu sehen, wie rücksichtslos der übrjge
Inhalt dieses Blattes verstümmelt und beseitigt wurde, um
für diese Mitteilung Raum zu schaffen.
Die ganze Wellingtonstraße entlang konnte man die Leute
sehen, wie sie diese blaßroten Blätter auseinanderfalteten und
89
lasen ; und der Strand x) war plötzlich erfüllt von den lärmenden
Stimmen eines Heeres von Zeitungsverkäufern, die jenen Pio-
nieren auf dem Fuße folgten. Die Leute kletterten von den
Stellwagen herab, um sich Blätter zu sichern. Diese Nachrichten
erregten die Menge natürlich aufs äußerste, so 'groß ihr früherer
Gleichmut auch war. Die Türe eines Landkartenladens am
Strande wurde aufgeschlossen, erzählte mein Bruder, und hinter;
dem Fenster wurde ein Mann in seinem Sonntagsstaate mit
zitronengelben Handschuhen sichtbar, wie er Karten von Surrey
hastig an das Glas befestigte.
Als er, die Zeitung in seiner Hand, den Strand entlang
zum Trafalgar-Platz kam, sah mein Bruder einige Flüchtlinge
aus West-Surrey. Ein Mann mit seinem Weibe, zwei Knaben
und einigen Einrichtungsstücken führten einen Karren, wie ihn
Gemüsehändler benützen. Er kam aus der Richtung der West-
minsterbrücke, und dicht hinter ihm kam ein Heuwagen mit
fünf oder sechs anständig aussehenden Leuten darauf, und einigen
Koffern und Bündeln. Die Gesichter dieser Leute waren einge-
fallen, und ihre ganze Erscheinung stand in auffallendem Gegen-
satz zu dem sonntäglich geschmückten Äußern der Leute in den
Stellwagen. Modisch gekleidete Menschen blickten neugierig aus
ihren Mietwagen auf die Flüchtlinge. Diese machten auf dem
Platze Halt, wie unschlüssig, welchen Weg sie einschlagen sollten.
Schließlich wandten sie sich ostwärts und zogen den Strand
entlang. Einige Zeit nachher kam ein Mann in Werktags-
kleidern auf einem jener altfränkischen Dreiräder mit einem
kleinen Vorderrade. Er hatte ein kreideweißes Gesicht und war
über und über von Schmutz'bedeckt.
Mein Bruder wandte sich abwärts nach Viktoria und be-
gegnete einer Anzahl solcher Leute. Er hegte den völlig un-
bestimmten Glauben, auch auf mich zu stoßen. Er bemerkte eine
ungewöhnlich große Menge von Schutzleuten, die den Verkehr
*) Eine nur durch eine Häuserreihe vom Themseufer getrennte Ver-
gnügungsstraße in London. Sie ist die Fortsetzung der obenerwähnten Fleet-
ftreet, in der sich fast sämtliche Londoner Zeitungsexpeditionen befinden.
— 90 — V
regelten. Einige von den Flüchtlingen besprachen die Ereignisse
mit den Leuten in den Stellwagen. Einer behauptete, die Mars-
leute gesehen zu haben. „Kessel auf Stelzen, sage ich Ihnen,
die einhergehen wie Menschen." Die meisten erschienen durch
ihre seltsamen Erfahrungen belebt und aufgeregt.
Jenseits von Viktoria machten die Wirtshäuser mit diesen
Ankömmlingen ein gutes Geschäft. An allen Straßenecken sam-
melten sich Leute an, lasen Zeitungen, sprachen erregt mit-
einander oder starrten diese ungewohnten Sonntagsgäste an.
Diese schienen sich mit der allmählich anbrechenden Nacht nur
noch zu vermehren, und schließlich sahen die Straßen aus, nach
dem Berichte meines Bruders, wie die Hochstraße von Epsom
an einem Derbytag. Mein Bruder sprach mehrere dieser Flücht-
linge an, erhielt aber von den meisten nur unzulängliche Ant-
worten.
Keiner von ihnen konnte ihm irgendwelche Nachrichten von
Woking mitteilen, außer einem Manne, der ihm versicherte, daß
Woking in der vorigen Nacht gänzlich zerstört worden sei.
„Ich komme ans Byfleet," erzählte er; „ein Mann auf einem
Zweirad kam am frühen Morgen durch unseren Ort; er lief von
Tür zu Tür und ermahnte uns zur Flucht. Dann kamen Sol-
daten. Wir gingen hinaus, um zu sehen, was los sei und sahen
dichte Rauchwolken gegen Süden — nichts als Rauch; keine
lebende Seele kam des Weges. Dann hörten wir die Geschütze
in Chertsey, und die Leute eilten aus Weybridge heran. So
schloß ich denn mein Haus ab und ging fort."
Zu jener Zeit herrschte ein starkes Gefühl der Erbitterung
auf den Straßen. Man fand, daß die Behörden wegen ihrer
Unfähigkeit, der fremden Eindringlinge ohne alle diese Un-
zukömmlichkeiten Herr zu werden, Tadel verdienten.
Um acht Uhr etwa erscholl im ganzen Süden Londons
heftiges Geschützfeuer. Bei dem großen Lärm auf den Haupt-
straßen konnte es mein Bruder nicht hören, aber als er sich durch
die stillen Nebengassen zum Flusse durchschlug, hörte er es
ganz deutlich.
— 91 —.
Es war zehn Uhr geworden, als er von Westminster nach
seiner Wohnung am Regents Park zurückkehrte. Er war jetzt
schon sehr besorgt um mich und durch die sichtliche Tragweite
dieser Ereignisse ganz verstört. Es wandelte ihn die Lust an,
sich in seinen Gedanken mit kriegerischen Einzelheiten zu be-
schäftigen, genau so wie auch ich. mich am Samstag damit be-
schäftigt hatte. Er dachte an alle jene in erwartungsvoller
Ruhe harrenden Geschütze, an jenen plötzlich in einen Nomaden-
bezirk verwandelten Landstrich. Er bemühte sich, hundert Fuß
hohe „Kessel auf Stelzen" sich vorzustellen.
Einige Karren, besetzt von Flüchtlingen, fuhren die Oxford-
street entlang, manche auch in der Marylebonestraße. Aber
so langsam verbreiteten sich die Nachrichten, daß die Regent-
straße und die Portlandstraße von jenen Leuten, die gewöhnlich
Sonntag nachts dort lustwandeln, voll waren. Wohl standen
auch Gruppen lebhaft sich besprechender Menschen umher. Aber
am Rande des Regents Parkes ergingen sich so viele stille
Pärchen im Lichte der spärlichen Gaslampen, wie man sie nur
immer gewohnt war, dort zu. sehen. Die Nacht war still und
warm, fast ein wenig drückend; gelegentlich scholl der Lärm
der Geschütze herüber, und nach Mitternacht bemerkte man ein
Wetterleuchten gegen Süden.
Mein Bruder las immer wieder das Zeitungsblatt und
fürchtete schon, daß mir das Schlimmste zugestoßen sei. Er war
rastlos und nach dem Abendbrot ging er wieder aus und trieb
sich ziellos umher. Dann kehrte er zurück und versuchte, seine
nagenden Gedanken durch seine Prüfungsschriften zu ver-
scheuchen. Bald nach Mitternacht ging er zu Bett, wurde aber
in den ersten Morgenstunden des Montags durch den Schall
von Türklopfern, Füßegetrappel auf den Straßen, Getrommel und
Glockenläuten aus einem düsteren Traum geschreckt. Ein roter
Widerschein spielte auf der Decke. Einen Augenblick blieb er
betäubt liegen und fragte sich, ob der Tag schon angebrochen,
oder die Welt verrückt geworden sei. Dann sprang er aus dem
Bett und eilte ans Fenster.
--d -92 ;
Sein Zimmer war eine Dachkammer; und als er den Kopf
zum Fenster hinaussteckte, vernahm er die Straße hinauf und
hinab einen dutzendfachen Widerhall des Lärmes, den das Öffnen
seiner Fenster hervorrief; und Köpfe in allen Spielarten nächt-
licher Verstörtheit tauchten auf. Überall wurden fragende Rufe
laut: „Sie kommen!" brüllte ein Schutzmann, indem er auf
das Tor loshämmerte. „Die Marsleute kommen!" Dann eilte
er weiter zum nächsten Tor.
Der Lärm von Trommeln und Trompeten scholl von der
Kaserne in der Albanystraße herüber; und in jeder Kirche in
Hörweite war man damit beschäftigt, den Schlaf durch regel-
loses, heftiges Sturmläuten zu töten. Man vernahm das Ge-
räusch sich öffnender Tore, und in den gegenüberliegenden Häu-
sern flammte ein Fenster nach dem anderen in hellem, nach dem
Dunkel doppelt grellen Lichte auf.
Eine geschlossene Kutsche kam die Straße herausgesprengt.
Zuerst scholl das Geräusch unvermutet von der Ecke her, das
Gerassel erreichte seinen Höhepunkt unter dem Fenster, und all-
mählich erstarb es in der Ferne. Dicht auf dem Fuße folgten
zwei Mietwagen, der Vortrab einer langen Reihe dahinsausender
Gefährte, die |um größten Teil nach der Haltestelle Chalk Farm
eilten, wo die nordwestlichen Sonderzüge die Reisenden auf-
nahmen, und wo man die Steigung zum Euston Bahnhof ver-
meiden konnte.
Lange Zeit starrte mein Bruder in dumpfer Betäubung
aus dem Fenster; er sah dem Schutzmann nach, wie er auf,
ein Kaustor nach dem anderen hämmerte und sich seiner un-
verständlichen Botschaft entledigte. Da öffnete sich die Zimmer-
tür meines Bruders und der Mann, der jenseits der Treppe
wohnte, kam herein. Er war noch im Hemd, Beinkleidern und
Pantoffeln, die Hosenträger hingen lose herab und sein wirres
Haar verriet noch die Spuren der Nacht.
„Was zum Teufel ist denn los?" fragte er. „Ein Feuer?
Der Teufel hole diesen Radau!"
Beide steckten ihren Kopf weit aus dem Fenster, eifrig be-
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müht, zu verstehen, was es eigentlich war, was der Schutzmann
rief. Aus den Seitengassen kamen Leute heraus, die in eifrig
schwatzenden Gruppen umherstanden.
„Was zum Teufel soll denn das alles bedeuten?" fragte
der Nachbar meines Bruders.
Mein Bruder antwortete nur so obenhin und begann, sich
anzuziehen. Mit jedem Kleidungsstück eilte er ans Fenster, um
nur ja nichts von der wachsenden Erregung der Straßen zu
versäumen. Auf einmal tauchten Leute auf, die ganz frühe
Zeitungsblätter verkauften und mit ihrem Gebrüll die Straße
erfüllten.
„London in Erstickungsgefahr! Die Schanzen von Kingston
und Richmond erstürmt! Furchtbare Schlächtereien im Themse-
tal!"
Und rings um ihn herum — in den Zimmern unten, in
den Häusern nebenan und gegenüber, und hinten in den Park-
straßen und in den hundert Gassen jenes Teiles von Marylebone,
und im Westbourne-Park-Bezirk und in St. Pancras, und west-
lich und nördlich von Kilburn und St. Johns Wood und
Hampstead, und östlich in Shoreditch und Highbury und Hager-
ston und Kaxton und mehr noch, durch das ganze Riesengewirre
Londons hin von Ealing bis East Ham — rieben sich die Leute
die Augen und öffneten ihre Fenster, um hinauszustarren und
zwecklose Fragen zu stellen, und kleideten sich hastig an, als
der erste Windstoß, der dem kommenden Sturm der Angst
voranging, durch die Straßen fuhr. Es war das Herauf-
dämmern der großen Panik. London, das Sonntag nachts
schlaff und stumpf schlafen gegangen war, war nun in den
ersten Stunden des Montagmorgens zu einer starken Emp-
findung der Gefahr erwacht.
Außerstande, von seinem Fenster aus zu erfahren, was
eigentlich vorgefallen sei, ging mein Bruder hinab und trat
auf die Straße hinaus, gerade, ,als die Morgendämmerung die
Wolken zwischen den Firsten der Häuser rosig färbte. Die
fliehende Menge zu Fuß und im Wagen wurde jeden Augen-
94
blick zahlreicher. „Schwarzer Rauch!" hörte er die Leute rufen,
immer wieder „Schwarzer Rauch!"; die Ansteckung einer so
einmütig gefühlten Furcht war unvermeidlich. Als mein Bruder
an der Torschwelle zögerte, sah er einen anderen Zeitungs-
Verkäufer herankommen und kaufte ihm ein Blatt ab. Der
Mann eilte mit seiner Ware wieder weiter und verkaufte die
Blätter zu einem Schilling das Stück — ein groteskes Gemisch
von Habgier und Angst.
Und in jener Zeitung las mein Bruder jene verhängnis-
volle Meldung des Oberkommandanten:
„Die Marsleute sind imstande, vermittelst einer Art von
Raketen ungeheure Wolken eines schwarzen und giftigen Dampfes
zu versenden. Sie haben unsere Batterien erstickt, Richmonv,
Kingston und Wimbledon zerstört und rücken nun langsam gegen
London vor, indem sie unterwegs alles vernichten. Es ist un-
möglich, sie aufzuhalten. Es gibt keine andere Rettung vor
dem schwarzen Rauch, als unverzügliche Flucht."
Das war alles, aber es war genug. Die ganze Bevölkerung
der Sechsmillionenstadt schreckte auf, lief und stürzte in tollem
Wirrwarr durcheinander; in Kurzem würde sie sich wohl in
Massen nordwärts ergießen.
„Schwarzer Rauch!" hallte es von allen Seiten. „Feuer!"
Die Glocken der benachbarten Kirchen verursachten einen
bimmelnden Lärm, ein achtlos gelenkter Karren zerschellte unter
Schreien und Fluchen an einem Wassertrog auf der Straße.
Matte Lichter tanzten auf und ab in den Häusern, und auf
manchen der vorübereilenden Droschken schienen noch die un-
ausgelöschten Laternen. Und zu Häupten wuchs die Dämme-
rung zur Helle, klar und ruhig und mild.
Mein Bruder hörte in den Stuben nnd hinter ihm trepp-
auf und treppab eilige Schritte. Seine Hausfrau, nur in einen
Schlafrock und einen Schal gehüllt, trat ans Tor; unter kräf-
tigen Ausrufen folgte ihr Gatte.
Als mein Bruder anfing, sich die Bedeutung aller dieser
Dinge klarzumachen, ging er hastig auf sein Zimmer zurück,
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steckte alles vorrätige Geld — alles in allem etwa zehn Pfund —
in seine Tasche und trat wieder hinaus auf die Straße.
XV.
In Surrey.
Während der Kurat dasaß und an der Hecke auf der ebenen
Wiese bei Halliford verwirrte Reden führte, während mein
Bruder den Flüchtlingen zusah, wie sie über die Westminster-
Brücke strömten, hatten sich die Marsleute zum Angriff ent-
schlossen. Soweit man aus den widersprechenden Berichten,
die darüber abgefaßt wurden, klug werden kann, blieb die Mehr-
heit, eifrig mit Vorbereitungen beschäftigt, bis neun Uhr abends
in der Horsell-Grube. Sie arbeiteten mit großer Hast; und
riesige Mengen grünen Rauches wurden ausgeschieden.
Gewiß aber ist, daß drei Marsleute etwa um acht Uhr aus
der Grube herauskamen und, langsam und behutsam vorrückend,
sich ihren Weg durch Byfleet und Pyrford nach Ripley und
Weybridge bahnten. So kamen sie, die sinkende Sonne im
Rücken, in den Bereich der ihrer harrenden Batterien. Diese
Marsleute rückten nicht geschlossen vor, sondern in einer Linie,
jeder etwa anderthalb Meilen vom andern entfernt. Sie setzten
sich durch ein sireuenartiges Geheul miteinander in Verbindung,
das auf- und niedersteigeud, alle Noten der Tonleiter umfaßte.
Dieses Geheul und das Feuern der Geschütze in, Ripley
und auf dem Gt. Georgshügel waren es, was wir in Ober-
Halliford gehört hatten. Die Kanoniere in Ripley, unerfahrene
Artillerie-Freiwillige, denen man diese Aufgabe nie zuweisen
hätte sollen, feuerten eine wilde, vorzeitige und wirkungslose
Salve ab und flohen dann zu Pferd und zu Fuß kopfüber durch
das verödete Dorf. Der Marsmann stieg ganz gemächlich über
ihre Geschütze hinweg, ohne von seinem Hitzstrahl Gebrauch zu
machen, fuhr sachte zwischen ihnen hindurch, überholte sie und
kam so ganz unvermutet zu den Geschützen in Painshill-Park,
die er vernichtete.
96
Die Leute auf dem St. Georgshügel aber standen unter
besserer Führung oder waren von besserer Art. Da sie hinter
einem Fichtengehölz verborgen waren, schienen sie von dem
Marsmann, der ihnen am nächsten war, gar nicht bemerkt
worden zu sein. Sie richteten ihre Geschütze mit soviel Über-
legung, als ob sie sich bei einer Truppenschau befänden, und
gaben auf etwa tausend Aards Schußweite Feuer.
Die Geschosse blitzten alle um den Marsmann herum; man
sah ihn einige Schritte nach vorwärts machen, taumeln und
stürzen. Ein allgemeines, gellendes Geschrei, und die Geschütze
wurden in wilder Käst von neuem geladen. Der niederge-
worfene Marsmann stimmte ein langgedehntes Klagegeheul an,
und im Nu tauchte ein zweiter, blinkender Riese, der ihm ant-
wortete, bei den Bäumen im Süden auf. Es hatte den An-
schein, als sei ein Bein des Dreifußes von einem der Ge-
schosse zerschmettert worden. Die volle Ladung der zweiten
Salve fiel weit vor dem Marsmann zur Erde und im selben
Augenblick richteten seine beiden Gefährten ihre Hitzstrahlen auf
die Batterie. Die Munition flog auf, alle die Fichtenbäume
um die Geschütze herum loderten in Feuer, und nur einer oder
zwei von der Mannschaft, die bereits über den Kamm des Hügels
liefen, entkamen.
Dann schien es, als ob die drei eine eingehende Beratung
abhielten; die Späher, die sie beobachteten, berichten, daß sie,
ohne sich zu rühren, die nächste halbe Stunde dort geblieben
seien. Der niedergestürzte Marsmann kroch vorsichtig aus seinem
Gehäuse heraus. Eine kleine, braune Gestalt, die, wunderlich
genug bei dieser Entfernung, wie ein Rostfleck aussah. Er war
augenscheinlich damit beschäftigt, seine Stütze wieder auszu-
bessern. Um neun Uhr war er damit zu Ende, denn seine Kappe
tauchte wieder über den Bäumen auf.
Einige Minuten waren nach neun Uhr verstrichen, als sich
diesen drei Wachtposten vier andere Marsleute beigesellten, von
denen jeder ein dickes, schwarzes Rohr trug. Ein ähnliches Rohr
wurde jedem der drei anderen eingehändigt, und alle sieben
97
rückten nun vor, nur sich in gleichen Zwischenräumen in einer
gekrümmten Linie zwischen dem St. Georgshügel, Weybridge,
und dem Dorfe Send südwestlich von Ripley zu verteilen.
Ein Dutzend Raketen fuhren von den Hügeln vor ihnen
auf, sobald sie sich in Bewegung setzten, und warnten die war-
tenden Batterien um Ditton und Escher. Zur selben Zeit
übersetzten vier ihrer Kriegsmaschinen, mit ähnlichen Rohren
bewaffnet, den Fluß; zwei von ihnen kamen, sich vom westlichen
Himmel schwarz abhebend, dem Karaten und mir zu Gesicht, als
wir, erschöpft und von Schmerzen gequält, die Straße entlang
eilten, die von Halliford nordwärts führt. Es sah gerade so aus,
als ob sie auf einer Wolke fuhren, denn ein milchartiger Nebel
bedeckte die Felder und erhob sich zu einem Drittel ihrer Höhe.
Bei diesem Anblick verfiel der Kurat in ein leises Schluchzen
und begann zu laufen; ich aber wußte, daß es nicht gut tat,
einem Märsmann zu . entlaufen, wandte mich seitwärts und kroch
durch tauige Nesseln und Dornengestrüpp in den breiten Graben,
der neben der Straße lief. Der Kurat blickte sich um, sah,
was ich vorhatte und wandte sich nun, mir zu folgen.
Die zwei Marsmänner hatten halt gemacht; der eine, der
näher bei uns stand, blickte nach Sunbury, der andere, wie
eine graue Nebelmasse gegen den Abendstern zu, stand abseits,
in der Richtung nach Staines.
Das zeitweilige Geheul der Marsleute hatte aufgehört; in
jenem riesigen Halbkreis mit ihren Zylindern als Mittelpunkt,
bezogen sie in vollkommenem Schweigen ihre Stellungen. Es
war ein Halbmond, dessen Hornspitzen zwölf Meilen voneinander
entfernt waren. Wohl niemals seit der Erfindung des Schieß-
pulvers hat eine Schlacht in solcher Stille begonnen. Wir so-
wohl wie ein allfälliger Beobachter bei Ripley hätten genau
denselben Eindruck gewonnen — die Marsleute schienen im un-
bestrittenen Besitz der hereinbrechenden Nacht, nur von einem
milden Mondlicht, dep Sternen, dem Abglanz des scheidenden
Tages, und dem rötlichen Schein auf dem St. Georgshügel
und in dem Gehölz von Painshill beleuchtet.
Wells, Der Krieg der Welten
7
98
Aber, gegen diesen Halbmond gerichtet, überall, in Staines,
Hounslow, Ditton, Escher, Ockham, hinter Hügeln und Gehölz
südlich vom Flusse, die ebenen, sich nach Norden ziehenden Gras- |
wiesen entlang, wo nur immer eine Gruppe von Bäumen oder ;
Dorfhäusern genügend Deckung bot — standen die Geschütze
in stummer Erwartung. Die Signalraketen fuhren auf, er- |
gossen ihren Funkenregen in die Nacht und verschwanden. Und
-der Geist aller jener harrenden Batterien wuchs zur gespann- |
testen Erwartung. Die Marsleute brauchten nur bis in die
Feuerlinie vorzurücken, und sofort würden jene regungslosen,
schwarzen Menschenmassen, jene Geschütze, die dunkel durch die
frühe Nacht blitzten, in die donnergewaltige Wut eines wilden
Kampfes ausbrechen.
Kein Zweifel, der Gedanke, der in tausenden jener wachen- 'j
den Köpfe alle anderen Gedanken beherrschte, der auch in meinem
Kopfe jeden anderen Gedanken zurückdrängte, war die ungelöste
Frage, in welchem Ausmaß jene uns wohl zu beurteilen ver- \
standen. Erfaßten sie, daß unsere Millionen ein geschlossenes,
durch Manneszucht und Arbeit geeintes Ganzes waren? Oder
legten sie unsere Feuerzeichen, unser Bombenschleudern, unser
hartnäckiges Bedrängen ihres Lagers etwa so- aus, wie wir
die wütende Einmütigkeit im Angriff eines gestörten Bienen-
schwarmes auslegen? Träumten sie davon, uns ausrotten zu
können? (Damals wußte noch niemand- welcher Art Nah-
rung sie bedurften.) Hundert solcher Fragen kreuzten sich in
meinem Geiste, als ich die riesigen Formen jener Wachtposten
beobachtete. Und im Hintergründe meiner Gedanken schlum-
merte noch die dunkle Empfindung aller jener unbekannten und
verborgenen Gewalten, die sich in der Richtung nach London zu
befinden mochten. Hatte man Grubenfallen angelegt? Hatte
man die Pulvermühlen in Hounslow gewissermaßen als Schlin-
gen fertiggemacht? , Würden die Londoner Herz und Mut
genug besitzen, um aus ihrem mächtigen Häuserbezirk ein größeres
Moskau zu machen?
Da klang nach einer, wie uns schien, unermeßlich langen
Zeit, als wir durch das Buschwerk
spähten, ein Schall wie der ferne Donner eines
zu uns herüber. Da hob der Marsmann, der neben
sein Rohr hoch in die Luft und feuerte es ab wie
schütz mit einem heftigen Knall, der die Erde erschüt
Der Marsmann, der bei Staines stand, folgte ihm.
blitzen war zu sehen, kein -Rauch, nichts, als jenes schußartig
Getöse.
Durch diesen, Notschüssen vergleichbaren Lärm wurde ich
derart erregt, daß ich meine persönliche Sicherheit und den
Zustand meiner verbrühten Hände vergaß und mich mühsam
in dem Gestrüpp aufrichtete, um gegen Sunbury Hinblicken zu
können. Wahrend ich mich noch durchkämpfte, folgte noch ein
zweiter Knall in meiner Nähe, und ein großes Geschoß sauste
inir zu Häupten gegen Hounslow hin. Ich erwartete wenigstens
Rauch oder Feuer oder eine andere ähnliche Folge zu sehen
Aber alles, was ich sah, war der tiefblaue Himmel droben,
auf dem ein einziger Stern schimmerte, und der weiße Nebel,
der sich unten weit und tief ausbreitete. Auch kein Geschütz-
donner war zu hören gewesen, kein die Herausforderung beant-
wortendes Getöse. Die Ruhe war wiederhergestellt; aus einer
Minute wurden drei.
„Was ist geschehen
erhoben hatte.
„Gott weiß es!" erwiderte ich.
Eine Fledermaus huschte an uns vorbei und verschwand.
Ein Geräusch wie von fernem Geschrei erhob sich und ver-
stummte. Ich blickte wieder nach dem Marsmann und sah,
wie er nun in pfeilschneller Bewegung in östlicher Richtung
das Flußufer entlang fuhr.
Jeden Augenblick erwartete ich, das Feuer einer verbor-
genen Batterie auf ihn losbrechen zu sehen. Doch die Rühe
des Abends blieb ungestört. Die Gestalt des Marsmannes wurde
immer kleiner in der Entfernung, und bald hatten ihn der
Nebel und die hereinbrechende Nacht verschlungen. Von einer
100
gemeinsamen Eingebung bestimmt, kletterten wir höher hinauf.
Gegen Sunbury zu erhob sich ein dunkler Gegenstand, so etwa,
als hätte sich ein kegelförmiger Hügel plötzlich dort eingeschoben,
der das weitere Land unseren Blicken verbarg. Jenseits des
Flusses oberhalb Waltons in der Ferne sahen wir eine zweite
solche Erhebung. Noch während wir sie anstarrten, schienen diese
hügelartigen Körper sich zu senken und auszubreiten.
Von einem plötzlichen Gedanken bewegt, blickte ich nach
Norden und sal» wie dort ein dritter dieser wolkigen, schwarzen
Kegel aufgetaucht war.
Alles war mit einem Male ganz still geworden. Fern im
Südosten hörten wir die eulenartigen Schreie der Marsleute,
durch die sie sich miteinander verständigten und durch die diese
unheimliche Stille uns nur noch mehr zum Bewußtsein gebracht
wurde. Dann wieder erbebte die Luft unter dem Donner ihrer
Geschütze; aber keine irdische Artillerie gab Antwort.
Zu jener Zeit konnten wir alle diese Vorgänge nicht be-
greifen; später aber sollte ich die Bedeutung dieser unheimlichen
Hügel, die sich in der Dämmerung bildeten, noch verstehen.
Jeder einzelne der Marsleute, die sich in jener halbmondartigen
Linie, die ich beschrieben habe, aufgestellt hatten, hatte auf ein
unbekanntes Zeichen hin vermittels jenes geschützartigen Rohres,
das er trug, einen ungeheuren Behälter überall dorthin ab-
gefeuert, wo ein Hügel, eine Anhöhe, eine Häusergruppe oder
irgendeine Schutzwehr, hinter der er eine Batterie vermuten
konnte, ihm ein Ziel geboten hatten. Manche feuerten nur eine
jener Büchsen ab, manche, wie in dem Falle, den wir gesehen
hatten, auch zwei; der Marsmann vor Ripley soll nicht weniger
als fünf Schüsse nacheinander abgegeben haben. Diese Büchsen
barsten, wenn sie zur Erde fielen, explodierten aber nicht. Un-
verzüglich aber strömte aus ihnen eine ungeheure Menge schwe-
ren, tintenschwarzen Dampfes, der sich aufwärts schlängelte und
sich zu einer riesigen, ebenholzschwarzen, geballten Wolke ver-
dichtete, zu einem gasförmigen Hügel, der sich hob und senkte,
und sich langsam über die ihn umgebende Bodenfläche hin aus-
101
breitete. Und die Berührung dieses Dampfes, das Einatmen
des geringsten seiner beißenden Teilchen, bedeutete für alles,
das atmete, den Tod.
Er war schwer, dieser Dampf, schwerer als der dichteste
Rauch. So kam es, daß nach dem ersten heftigen Ausströmen
und Aufschießen, das dem Bersten der Büchse folgte, er wieder
zu sinken begann und sich, mehr in der Art eines flüssigen, als
eines gasförmigen Körpers, über das Erdreich ergoß. Er ver-
ließ die Hügel und strömte in die Täler und Pfützen und
Wasserrinnen, ähnlich, wie es bei der Kohlensäure, die aus
vulkanischen Klüften hervorströmt, der Fall sein soll. Und
wo er das Wasser berührte, trat ein seltsamer chemischer Vor-
gang ein: die Oberfläche bedeckte sich sofort mit einem pulver-
artigen Schaum, der langsam sank und weiteren Raum schuf.
Dieser Schaum war unbedingt unauflöslich, und es ist eine
sonderbare Erscheinung, wenn man sie mit der augenblicklichen
Wirkung des Gases vergleicht, daß man das Wasser, von dem
jener Schaum durch Siebe entfernt wurde, ohne Schaden trinken
konnte. Der Dampf verteilte sich nicht, wie das bei echtem
Gas der Fall wäre. Er hing klumpenweise zusammen, ergoß
sich klebrig über abschüssiges Erdreich, ließ sich zögernd vom
Winde treiben, vermengte sich nur allmählig mit dem Nebel
und der Feuchtigkeit der Luft und fiel in der Gestalt von
Staub zur Erde. Wir können nur schließen, daß bei diesem
Dampfe ein uns unbekanntes Element wirksam sein muß, das
im Blau der Spektraanalyse eine Gruppe von vier Linien
hervorruft. In allem Übrigen tappen wir in bezug auf die
Art seiner Zusammensetzung völlig im Dunkeln.
Jetzt, da das heftige Ausfahren bei seiner Ausströmung
vorüber war, haftete der schwarze Rauch so fest auf dem Boden,
daß, selbst vor seinem Abfließen, in einer Höhe von fünfzig
Fuß in der Luft, auf Dächern und oberen Stockwerken hoher
Häuser und auf großen Bäumen, es eine Möglichkeit gab, seiner
giftigen Wirkung sich völlig zu entziehen; das bewährte sich
noch in jener Nacht in Street Cobham und Ditton.
102
Ein Mann, der an jenem Orte dem Tode entrann, über
liefert einen merkwürdigen Bericht von diesen Vorgängen: wie
er das seltsame, schlangenartige Verteilen des Rauches beobachtet
hätte, wie er vom Kirchturm aus heruntergeblickt und die Häuser
des Dorfes wie Geister aus dem pechschwarzen Nichts sich er-
heben gesehen habe. Einen Tag und einen halben blieb er oben,
erschöpft, halbverhungert und von der Sonne versengt; die Erde
hob sich unter dem blauen Himmel und vor dem Bilde der
fernen Hügel wie eine schwarzsamtene, weite Fläche ab; all-
mählich tauchten dann die roten Dächer, die grünen Bäume, und
später schwarzumschleierte Büsche und Zäune, Tennen, Hütten
und Mauern hier und dort - wieder zum Sonnenlichte empor.
Aber das geschah nur im Street Cobham, wo der schwarze
Dampf liegen blieb, bis er von selbst in die Erde sank. In
der Regel reinigten die Marsleute, wenn der Rauch ihren Ab-
sichten entsprochen hatte, die Luft, indem sie in den Qualm
hineinwateten und einen Dampfstrahl auf ihn richteten.
In dieser Weise verfuhren sie mit den Qualmmassen in
unserer Nähe, wie wir das von den Fenstern eines verlassenen
Hauses in Ober-Halliford, wohin wir zurückgekehrt waren, be-
obachten konnten. Von dort konnten wir auch die Schein-
werfer auf den Hügeln von Richmond und Kingston hin und her
leuchten sehen. Um elf Uhr klirrten unsere Fenster, und wir
hörten den Donner der riesigen Belagerungsgeschütze, die dort auf-
gepflanzt worden waren. In bestimmten Zwischenräumen dauerte
das Feuern ungefähr eine Viertelstunde lang. Das konnte nur
ein Abfeuern zufälliger Schüsse auf die unsichtbaren Marsleute
in Kampton und Ditton bedeuten. Dann verschwanden die
bleichen Strahlen des elektrischen Lichtes, um einem glühend-
roten Schein zu weichen.
Damals ging der vierte Zylinder — ein glänzendes, grünes
Meteor — nieder, wie ich später erfuhr, in Bushey-Park. Ehe
noch die Geschütze auf der Hügelkette von Richmond und Kingston
ihr Feuer eröffneten, fand fern im Südwesten noch eine un-
regelmäßige Kanonade statt, die, wie ich vermute, den ins
103
Blaue hinein abgefeuerten Schüssen der dort aufgepflanzten
Geschütze zuzuschreiben ist; sie wurden noch abgegeben, bevor
der schwarze Dampf die Bedienungsmannschaft überwältigte.
So nach einem wohlerwogenen Plane vorgehend, wie Men-
schen etwa ein Wespennest ausräuchern, versendeten die Mars-
leute diesen seltsamen, erstickenden Qualm über das Land in
der Richtung nach London zu. Die Enden der halbmondartigen
Linie erweiterten sich langsam, bis sie endlich das Land von
Hanwell bis Coombe und Malden umklammerten. Die ganze
Nacht hindurch rückten die Marsleute mit ihren vernichtenden
Rohren vor. Nicht ein einziges Mal, nachdem der Marsmann
am St. Georgshügel zu Fall gebracht worden war, gaben sie
der Artillerie auch nur den Schatten einer Gelegenheit zu
wirksamem Angriff. Wo immer eine Möglichkeit vorhanden
war, daß, ihnen unsichtbar, Geschütze aufgestellt sein konnten,
wurde eine frische Büchse jenes schwarzen Qualmes abgefeuert;
und wo die Geschütze ungedeckt dastanden, wurde der Hitzstrahl
in Anwendung gebracht.
Um Mitternacht warfen die glühenden Bäume au den Ab-
hängen des Richmonder Parkes und der Feuerschein auf dem
Hügel von Kingston ihr Licht auf ein Netzwerk schwarzen Rauches,
der das ganze Themsetal einhüllte und verschwinden ließ, und
sich, soweit das Auge reichte, erstreckte. Und durch alles dies
hindurch wateten langsam zwei Marsleute, die ihre zischenden
Dampfstrahlen hierhin und dorthin versendeten.
Die Marsleute wendeten in dieser Nacht den Hitzstrahl nur
sehr selten an, sei es, daß sie nur einen beschränkten Vorrat
an den Stoffen besaßen, mit denen sie ihn herstellten, sei es,
daß es nicht in ihrer Absicht lag, das Land zu verwüsten, son-
dern nur den Widerstand, den sie gefunden hatten, zu brechen
oder einzuschüchtern. Darin erreichten sie ohne Zweifel ihr Ziel.
Sonntag nachts fand der organisierte Widerstand gegen ihre
Bewegungen sein Ende. Von da an konnte keine wie immer
geartete Vereinigung von Menschen ihnen standhalten, so hoff-
nungslos war das Unternehmen gescheitert. Selbst die Mann-
104
schaft der Torpedoboote und der Torpedozerstörer, die ihre
Schnellfeuergeschütze die Themse heraufgebracht hatte, weigerte
sich zu bleiben, meuterte und kehrte wieder um. Das einzige
Angriffsunternehmen, an das sich die Leute nach jener Nacht
noch heranwagten, war die Anlage von Minen und Fallgruben;
aber selbst diese Arbeiten erfolgten unter einem teils unsinnigen,
teils krampfhaft überhasteten Aufwand von Kräften.
Man muß sich nur das Schicksal jener Batterien gegen Esher
zu vorstellen, die in fast übermenschlicher, gespannter Erwartung
im Zwielicht der Ereignisse harrten. Überlebende gab es nicht.
Man kann sich von allem nur ein Bild machen: alles in bester
Ordnung, voll Erwartung, die Offiziere eifrig und wachsam,
die Mannschaft bereit, der Schießvorrat aufgehäuft zur Hand,
die Abprotzer bei ihren Pferden und Wagen, die Menge bür-
gerlicher Zuschauer so nahe, als es ihnen gestattet wurde, die
milde Ruhe des Abends; die Ambulanzen und die Feldzelte mit
den Verbrannten und Verwundeten von Weybridge; dann plötz-
lich der dumpfe Widerhall der Schüsse, welche die Marsleute
abfeuerten, und die unförmigen Geschosse, die über Bäume und
Häuser sausten und auf den benachbarten Feldern zerschellten.
Man mag sich ferner ausmalen, wie die allgemeine Auf-
merksamkeit plötzlich erregt wurde, als diese schwarze Masse
in blitzschnellen Windungen und Aufblähungen nach vorwärts
schoß, sich himmelwärts, türmte und das Zwielicht tu völlige
Finsternis verwandelte; wie ein seltsamer und schrecklicher Gegner
in der Gestalt eines Dampfes sich auf seine Opfer stürzte, Ivie
Menschen und Pferde immer mehr in der Dunkelheit verschwan-
den, wie alles durcheinander flüchtete, wilde Rufe ausstieß und
kopfüber niederstürzte; man mag sich die Schreie des Ent-
setzens ausmalen, vorstellen, wie die Geschütze im Stich ge-
lassen wurden, wie die Menschen sich röchelnd am Boden wanden,
wie der dichte Rauchkegel sich nach allen Seiten hin ausbreitete.
Und dann Nacht und Vernichtung — nichts, als die schweigende
Masse undurchdringlichen Qualmes, der seine Toten umhüllte.
Vor dem Morgengrauen ergoß sich der schwarze Rauch durch
105
die Straßen Richmonds, und der in Auflösung begriffene Or-
ganismus der Regierung raffte sich vor seinem Ende noch zu
einer letzten Pflicht auf: die Bevölkerung Londons zur Not-
wendigkeit augenblicklicher Flucht zu erwecken.
XVI.
Die Flucht aus London.
So begreift man Wohl die brüllende Woge der Angst, die
durch die größte Stadt der Welt jagte, gerade, als der Montag
andämmerte —- der Strom der Flucht, der mit reißender Schnel-
ligkeit zu einem wilden Gewässer anschwoll, in schäumender Wut
um die Bahnhöfe brandete, sich bei den Schiffswerften der Themse
zu einem entsetzlichen Kampf aufbäumte und auf jedem möglichen
Strombett, das nach Norden oder Osten führte, durchzubrechen
suchte. Gegen zehn Uhr verlor die Organisation der Polizei,
gegen Mittag selbst die Organisation der Eisenbahnbeamten jeden
Zusammenhang, beide gaben ihre unterscheidenden und achtung-
gebietenden Formen auf, und verschmolzen erst zögernd, dann
um so rascher mit der großen, gleichartigen Masse des sozialen
Körpers.
Alle Eisenbahnlinien nördlich von der Themse und die
südöstliche Bahngesellschaft in der Tamonstreet waren schon
Sonntag Mitternacht von der drohenden Gefahr verständigt
worden; und schon um zwei Uhr waren die Züge überfüllt; die
Leute kämpften wie Wilde um Stehplätze in den Wagen. Gegen
drei Uhr wurden selbst in der Bishopsgatestreet Leute nieder-
getreten und erdrückt; etwa zweihundert oder noch mehr Uards
vom Liverpoolstreet-Bahnhof entfernt, wurden schon Revolver-
schüsse abgegeben und Leute erstochen; und die Schutzleute, die
hingeschickt wurden, um die Ordnung wiederherzustellen, zer-
schlugen, erschöpft und in Wut versetzt, den Leuten, die zu
beschützen sie beauftragt waren, die Köpfe.
Als der Tag vorschritt und die Zugführer und die Heizer
sich weigerten, nach London zurückzukehren, da trieb der, drückende
— 106 — - H.
Zwang der Flucht die Leute in immer mehr sich verdichtenden
Massen von den Bahnhöfen weg auf die Straßen, die nach
Norden führten. Um die Mittagsstunde war ein Marsmann
in Barnes gesehen worden, und eine Wolke mächtig sinkenden
schwarzen Qualmes trieb die Themse entlang über die Ebene
von Lambeth und schnitt in ihrem trägen Herannahen jede
Möglichkeit eines Entkommens über die Brücken ab. Eine
zweite Wolkenschicht trieb über Ealing hinweg und umzingelte
eine kleine Insel von Überlebenden auf Castle Hill, die wohl
ihr Leben fristen, aber auf keinen Ausweg der Flucht hoffen
konnten.
Nach fruchtlosem Kampfe, bei Chalk Farm in einen nord-
westlichen Zug zu gelangen — die Maschinen der Züge, welche
am Güterbahnhof Reisende aufgenommen hatten, pflügten ge-'
radezu durch einen schreienden Menschenhaufen hindurch, und
ein Dutzend handfester Männer kämpfte förmlich, um die Menge
zu verhindern, den Zugführer gegen seinen Heizapparat zu
schleudern — schlug sich mein Bruder auf die Falk Farm-Straße
durch, wand sich durch einen Schwarm dahineilender Fahrzeuge
vorwärts und hatte das Glück, bei der Erstürmung eines Fahr-'
räderladens als erster anzukommen.
Der vordere Radreif der Maschine, die er an sich riß, wurde
durchschnitten, als er sie durch das Fenster zerrte; gleichwohl
saß er auf und fuhr mit keiner ernsteren Verletzung als einen
Schnitt im Handgelenk ab. Der steile Anstieg des Haverstock-
hügels war einiger gestürzter Pferde wegen nicht passierbar,
und mein Bruder lenkte in die Belsizestraße hinein.
So entkam mein Bruder dem Wüten der Panik; dem Saum
der Edgwarestraße folgend, erreichte er, hungrig und erschöpft,
doch der Menge weit voran, um sieben Uhr Edgware. Die ganze
Straße entlang standen die Leute neugierig und staunend. Mein
Bruder wurde von einer Anzahl Radfahrern, einigen Reitern
und zwei Automobilen überholt. Eine Meile vor Edgware
brachen die Radreifen und die Maschine wurde unbrauchbar. Er
ließ sie auf der Straße liegen und schleppte sich ins Dorf. In
107
der Hauptstraße des Ortes waren die Läden halb geöffnet und
auf den Bürgersteigen, in den Hausfluren, an den Fenstern
sammelten sich Leute an, die verwundert auf jenen außer-
gewöhnlichen Zug von Flüchtlingen starrten, der jetzt heranzu-
nahen begann. Meinem Bruder gelang es, in einem Wirts-
hause etwas zu essen zu bekommen.
Er blieb einige Zeit in Edgware, ratlos, was er beginnen
solle. Die Flüchtlinge nahmen an Zahl immer mehr zu. Viele
von ihnen schienen wie mein Bruder geneigt zu sein, im Orte
zu bleiben. Von den Eindringlingen des Mars wußte niemand
Neues zu berichten.
Die Straße war jetzt schon voll von Leuten, aber noch lange
nicht überfüllt. Die meisten Flüchtlinge waren schon mit Fahr-
rädern ausgerüstet, bald aber tauchten auch Automobile, Han-
svms i) und Kutschen auf, die rasch vorübereilten und in den
dichten Staubwolken ■ verschwanden, die auf der Straße nach
St. Albans aufwirbelten.
Es war vielleicht nur ein ganz unklares Vorhaben, den
Weg nach Chelmsford zu wählen, wo einige seiner Freunde
wohnten, was meinen Bruder schließlich bewog, einen stillen
Feldweg, der ostwärts führte, einzuschlagen. Nach kürzer Zeit
gelangte er zu einer Zaunsteige, kletterte hinüber und folgte
einem Fußweg in nordöstlicher Richtung. Er kam an einigen
Bauernhäusern und mehreren kleinen Ortschaften vorbei, deren
Namen er nicht kannte. Er sah nur wenige Flüchtlinge, erst
auf einem Graswege in der Nähe von High Barnet stieß er auf
die zwei Frauen, die seine Reisegefährtinnen werden sollten.
Er kam gerade zur rechten Zeit, um sie zu retten.
Er hörte ihre Schreie und, um die Ecke eilend, sah er zwei
Männer,, die sie aus dem kleinen Ponywagen, den sie lenkten,
mit Gewalt herauszuzerren suchten, während ein Dritter sich
damit abmühte, den Kopf des erschreckten Ponys zu halten.
y Zweirädrige, einspännige Mietwagen, deren Kutschbock hinter dem
eigentlichen Wagen angebracht ist. Die übliche englische nach ihrem Erfinder
benannte Mictwngentype.
— 108
Die eine der Damen, eine kleine in Weiß gekleidete Frau,
kreischte nur immerzu; die andere, eine dunkle, schlanke Er-
scheinung, schlug nach dem Manne, der ihren Arm gepackt hatte,
mit der Peitsche, die sie in ihrer freien Hand hielt.
Mein Bruder erfaßte die Sachlage auf der Stelle, er rief
laut und eilte auf den Kampfplatz. , Einer der Männer ließ
sofort von den Damen ab und wandte sich 'ihm zu. Mein
Bruder, der aus dem Gesicht seines Gegners sofort erkannte,
daß ein Kampf unvermeidlich sei, stürzte sich als der erfahrene
Boxer, der er war, sofort auf ihn und schlug ihn, gegen das
Wagenrad zu, nieder.
Es war nicht die Zeit, um die Ritterlichkeit von Boxern
zu üben, und mein Bruder machte ihn durch einen Fußtritt
kampfunfähig. Dann packte er den Mann, der die schlanke
Dame am Arm gefaßt hatte, beim Rockkragen. Er hörte das
Klappern von Kufen, die Peitsche schlug ihm ins Gesicht, ein
dritter Gegner versetzte ihm einen wuchtigen Schlag zwischen
die Augen, und der Mann, den er festhielt, riß sich los und
rannte den Feldweg hinab in der Richtung, aus der er ge-
kommen war.
Halb betäubt sah mein Bruder sich jetzt dem Manne gegen-
über, der den Kopf des Pferdes gehalten hatte. Er bemerkte
dann, wie der Wagen mit den stets zurückblickenden Frauen,
heftig nach beiden Seiten schwankend, den Feldweg entlang da-
vonfuhr. Der Mann vor ihm, ein plumper Lümmel, machte
Miene, sich auf ihn zu stürzen, aber mein Bruder schleuderte
ihn mit einem Faustschlag ins Gesicht zurück. Als er sich so
endlich frei sah, warf er sich herum und lief, so schnell er
konnte, den Feldweg entlang dem Wagen nach; der Plumpe
war dicht an seinen Fersen und der Flüchtige, der sich jetzt
umgewandt hatte, folgte in einiger Entfernung.
Plötzlich taumelte mein Bruder und fiel zu Boden; sein
nächster Verfolger stürzte auf ihn los, und als er sich wieder
aufgerichtet hatte, sah er sich neuerdings zwei Angreifern gegen-
über. Wenig fehlte, und es wäre um ihn geschehen gewesen,
109
härte nicht die schlanke Dame mutig den Wagen angehalten.
Sie stieg aus und kam ihm zu Hilfe. Sie hatte von Anfang an
einen Revolver mit sich geführt, aber er war unter den Sitzen
verborgen, als sie und ihre Gefährtin angegriffen wurden. Sie
feuerte ihn nun auf eine Entfernung von sechs Pards ab und
hätte um ein Haar meinen Bruder getroffen. Der weniger
mutige Räuber machte sich davon und sein Spießgeselle folgte
ihm, seine Feigheit verwünschend. Sie machten beide noch in
Sicht halt und blieben auf dem Feldweg, dort, wo der dritte
Mann besinnungslos lag, stehen.
„Nehmen Sie ihn!" rief die schlanke Dame und reichte
meinem Bruder den Revolver.
„Gehen Sie zum Wagen zurück," bat mein Bruder, indem
er sich das Blut aus seiner gespaltenen Lippe wischte.
Sie wandte sich wortlos ab — beide keuchten heftig — und
dann gingen sie beide zum Wagen, in dem die 'Dame in Weiß
mit krampfhafter Anstrengung das erschreckte Pony' zu halten
bemüht war. ■
Die Räuber hatten offenbar genug. Als mein Bruder sich
wieder nach ihnen umblickte, zogen sie sich zurück.
„Ich setze mich hierher," sagte mein Bruder, „wenn ich
darf"; und er stieg ein und ließ sich auf den leeren Vordersitz
nieder. Die Dame blickte über ihre Schulter.
„Geben Sie mir die Zügel", sagte sie und strich mit der
Peitsche über die Flanke des Ponys. Im nächsten Augenblick
verbarg eine Krümmung des Weges die drei Männer den Blicken
meines Bruders.
So kam es, daß mein Bruder, keuchend, mit zerschnittenem
Mund, verletztem Kiefer und blutbefleckten Fingerknöcheln ganz
unvermutet auf einer unbekannten Straße mit zwei unbekann-
ten Frauen dahinfuhr.
Er erfuhr, daß sie die Gattin und die jüngere Schwester
eines in Stanmore lebenden Chirurgen waren, der in den frühen
Morgenstunden von einem gefährlichen Fall in Pinner zurück-
gekehrt war und auf einer Eisenbahnstation, an der ihn sein
110
Weg vorbeigeführt, von dem Heranrücken der Marsleute gehört
hatte. Er war nach Hause geeilt, hatte die Frauen geweckt —
das Dienstmädchen hatte sie schon vor zwei Tagen verlassen —
hatte etwas Mundvorrat zusammengerafft, zum Glück für meinen
Bruder einen Revolver unter die Sitze gelegt und ihnen auf-
getragen, nach Edgeware zu fahren, wo es ihnen gelingen würde,
in einen Zug zu kommen. Er blieb zurück, um die Nachbarn
zu verständigen. Er hatte ihnen versprochen, sie etwa um
halb fünf Uhr morgens einzuholen, und jetzt war es beinahe
neun Uhr, und sie hatten seither nichts von ihm gesehen. Sie
konnten wegen des fast beängstigend wachsenden Gedränges nicht
in Edgeware bleiben, und so waren sie auf diesen Seitenweg
gekommen.
Das war die Geschichte, die sie in abgebrochenen Sätzen
meinem Bruder erzählten. Dann machten sie in der Nähe von
Neu-Barnet wieder halt. Mein Bruder aber versprach ihnen,
so lange wenigstens bei ihnen zu bleiben, bis sie einen end-
gültigen Beschluß über ihre nächsten Schritte gefaßt hätten
oder bis der vermißte Arzt sie getroffen hätte. Er versicherte
ihnen, ein erfahrener Revolverschütze zu sein — er war alles
eher, als vertraut mit dieser Waffe —' um ihnen Vertrauen
einzuflößen.
Neben der Straße schlugen sie eine Art Lager auf, und
das Pony tat sich bei der Kecke gütlich. Mein Bruder erzählte
ihnen die Einzelheiten seiner Flucht aus London und über-
dies alles, was er von den Marsleuten und ihrem Treiben
wußte. Die Sonne stieg höher am Himmel, und nach einiger
Zeit stockte das Gespräch und wich einem unbehaglichen Zustand,
banger Erwartung. Einige Fußgänger kamen des Weges -ent-
lang, und aus ihnen brachte mein Bruder heraus, soviel er
konnte. Jede gebrochene Antwort, die er erhielt, vertiefte seinen
Eindruck von der schweren Heimsuchung, die über die Mensch-
heit gekommen war, vertiefte auch seine Überzeugung von der
zwingenden Notwendigkeit, die Flucht fortzusetzen. In drin-
gendey Worten machte er das den Damen begreiflich.
„Wir haben Geld bei uns", sagte das Mädchen, und dann
zögerte sie, fortzufahren.
Ihre Augen begegneten denen meines Bruders, und ihr
Vertrauen kehrte wieder.
„Auch ich habe Geld mit", sagte mein Bruder.
Sie erklärte nun, außer einer Fünf--Pfundnote ungefähr
dreißig Pfund in Gold bei sich zu führen, und schlug vor,
damit zu einem Zug bei St. Albans oder Neu-Barnet zu gehen.
Mein Bruder, der die Wut der Londoner, als sie die Züge
stürmten, mit angesehen hatte, hielt dieses Vorhaben für hoff-
nungslos und setzte nun seinen Plan auseinender: Essex zu
durchqueren und so nach Harwich zu gelangen, um von dort
das Land überhaupt zu verlassen.
Frau Elphinstone — so hieß die Dame in Weiß — wollte
auf keine Ratschläge hören und rief unaufhörlich nach ihrem
„George"; ihre Schwägerin aber war erstaunlich ruhig und
vernünftig und war schließlich bereit, dem Vorschlag meines
Bruders zu folgen.
Sv schlugen sie also die Richtung nach Barnet ein, in
der Absicht, die große, nach Norden führende Straße zu kreuzen;
mein Bruder lenkte das Pony, um es soviel als möglich zu
schonen.
Als die Sonne höher stieg, wurde es unbeschreiblich heiß
und unter den Füßen brannte ein dichter, weißlicher Sand,
so daß sie nur sehr langsam vorwärts kamen. Die Hecken
waren grau vor Staub. Und als sie in die Nähe von Barnet
kamen, vernahmen sie ein immer lauter anschwellendes Ge-
murmel.
Sie begegneten immer mehr Leuten. Die meisten starrten
vor sich hin, murmelten unbestimmte Fragen und sahen er-
schöpft, abgemagert und schmutzig aus. Ein Mann im Frack
ging zu Fuß an ihnen vorüber, seine Augen auf den Boden
geheftet. Sie hörten seine Stimme, und als sie nach ihm
blickten, sahen sie, wie er mit der einen Hand sein Haar
raufte und mit der anderen nach unsichtbaren Dingen schlug.
112
Als sein Wutanfall vorüber war, ging er seine Straße weiter,
ohne sich nur einmal umzublicken.
Als die Gesellschaft meines Bruders sich dem Kreuzweg im
Süden von Barnet näherte, sahen sie eine Frau über ein Feld
zur Linken gegen die Straße zu kommen. Ein Kind trug sic
auf dem Arm und zwei andere führte sie; dann ging ein Mann
in einem schmutzigen schwarzen Anzug vorbei, einen dicken Rock
in der einen Hand, eine kleine Reisetasche in der anderen. Als
sie um die Ecke des Feldweges fuhren, dort, wo bei seiner
Einmündung in die Landstraße einige Landhäuser stehen, käm
ein kleines Gefährt, von einem schweißbedeckten schwarzen Pony
gezogen, angefahren; ein blasser Bursche mit einem Sport-
hute lenkte es. Drei Mädchen, die wie Fabriksmädchen des
Londoner East Ends aussahen, und zwei kleine Kinder saßen
zusammengekauert in dem kleinen Wagen.
„Hier kommen wir doch nach Edgeware?" fragte der mit
wilden Augen dreinblickende, totenblasse Lenker des Gefährts
in unverkennbarer Londoner Mundart. Und als mein Bruder
ihm bedeutete, die Richtung zu seiner Linken einzuschlagen, hieb
er auf ’ das Pony ein, ohne sich lange mit der Förmlichkeit
des Dankens aufzuhalten.
Jetzt bemerkte mein Bruder, wie aus den Häusern vor
ihnen ein dünner, grauer Rauch oder Nebel aufstieg, der die
weiße Vorderseite einer Terrasse jenseits der Straße, die zwi-
schen den Landhäusern zum Vorschein kam, verschleierte. Frau
Elphinstone schrie beim Anblick einiger züngelnder rauchiger
Feuerflammen, die ans den Häusern vor ihnen gegen den
blauen Himmel aufschössen, plötzlich auf. Der wilde Lärm löste
sich jetzt in ein wirres Gemenge vieler Stimmen, das Knirschen
vieler Räder, das Ächzen von Wagen und das Geklapper von
Hufen auf. Keine fünfzig Iards vom Kreuzwege entfernt, machte
der Feldweg eine scharfe Biegung.
„Gott im Himmel!" rief Frau Elphinstone. „Wohin führen
Sie uns denn?"
Mein Bruder hielt an.
113
Denn die Hauptstraße war ein kochender Strom von Leuten,
ein reißender Wildbach menschlicher Wesen, die nach Norden
eilten, einer hinter dem anderen drängend. Ein langer Wolken-
zug von Staub, weiß und leuchtend im Sonnenglanz, ließ
alles innerhalb von zwanzig Fuß über dem Boden grau und
undeutlich erscheinen. Er bildete sich immer von neuem durch
die dahineilenden Füße einer dichten Menge von Pferden und
Männern und Frauen zu Fuß und durch die Räder von Ge-
fährten aller erdenklichen Art.
„Platz da!" hörte mein Bruder Stimmen schreien. „Macht
Platz!"
Zum Krenzungspunkt des Feldweges und der Straße zu
gelangen, hieß soviel, wie in den Rauch eines Feuers hinein-
fahren; die Menge brüllte wie ein Feuer, und der Staub war
heiß und prickelnd. Und in der Tat stand etwas weiter oben
an der Straße ein Landhaus in Flammen und wälzte dichte
Mengen schwarzen Rauches über die Straße, um die Verwirrung
zu erhöhen.
Zwei Männer kamen dem Wagen nach. Dann ein
schmutziges Weib, das ein schweres Bündel trug und heftig
schluchzte. Ein verlaufener Jagdhund, heruntergekommen und
bedeckt mit Schrammen, lief schnüffelnd um sie herum und floh,
als mein Brüder ihm drohte.
Soviel man von der Straße, die nach London führte,
zwischen den Häusern zur Rechten sehen konnte, war sie ein
wild einherfließender Strom schmutziger, fliehender Leute, die
zwischen die Landhäuser zu beiden Seiten des Weges einge-
klemmt waren; die schwarzen Köpfe, die dicht aneinander ge-
drängten Gestalten traten deutlicher hervor, als sie gegen die
Straßenecke zu stürzten und vorübereilten; dann tauchte ihre
Eigenart wieder in der fliehenden Menge unter, die endlich
von einer Staubwolke in der Ferne verschlungen wurde.
„Vorwärts!" Vorwärts!" riefen die Stimmen. „Platz da, '
macht Platz!"
Die Hände jedes Einzelnen drängten den Rücken seines
Wells, Der Krieg der Welten g
114
Vordermannes. Mein Bruder stand bei dem Kopfe des Ponnys.
Unwiderstehlich angezogen, ging er Schritt für Schritt vorwärts
den Feldweg hinab.
Edgware war ein Schauplatz der Verwirrung, Chalk Farm
ein aufrührerischer Tumult gewesen, hier aber war eine ganze
Bevölkerung in Bewegung. Man kann sich diese Scharen schwer
vorstellen. Sie hatten keine persönliche Eigenart mehr. Die
Gestalten ergossen sich nur so aus der Straßenecke, und schon
waren nur ihre Rücken mehr in der Menge am Feldweg zu
sehen. Zu beiden Seiten der Straße kamen die Flüchtlinge,
die, von den Rädern bedroht, über die Erdlöcher stolpernd,
einer auf den anderen taumelnd, zu Fuß gehen mußten.
Die Karren und die Wagen drängten sich dicht einer hinter
dem anderen und ließen nur wenig Platz für jene rascheren
und ungeduldigeren Fahrzeuge, die jeden Augenblick vorwärts
schossen, so oft sich eine Gelegenheit dazu bot, dabei schleu-
derten sie.die Leute rücksichtslos gegen die Zäune und die
Gitter der Landhäuser.
„Nur drauf los!" war der allgemeine Schrei. „Nur drauf
los! Sie kommen!"
Auf einem Karren stand ein blinder Mann in der Uniform
der Heilsarmee. Er schlenkerte mit seinen gekrümmten Fingern
herum und brüllte unaufhörlich: „O Ewigkeit! O Ewigkeit!"
Seine Stimme war heiser und überaus laut, so daß mein
Bruder ihn noch lange hören konnte, als er im südwestlichen
Staub schon den Blicken entschwunden war. Einige Karren
waren vollgepfropft von Leuten, die blödsinnig auf ihre Pferde
einhieben und mit anderen Kutschern zankten; einige Leute
wieder saßen regungslos da, mit trostlosen Augen ins Leere
starrend; andere nagten vor Durst an ihren Händen oder lagen
ans dem Boden ihres Fuhrwerks lang ausgestreckt. Die Zäume
der Pferde waren mit Schaum bedeckt, ihre Augen blutunter-
laufen.
Man sah Mietwagen, Kutschen, Geschäftswagen, Fuhrwerke
ohne Zahl, eine Postkutsche, einen Straßensäuberungswagen mit
115
der Aufschrift „Gemeindebezirk St. Pancras", einen riesigen
Bauholzwagen mit roh aussehenden Gesellen beladen. Der Ge-
schäftskarren einer Brauerei rasselte vorüber; seine beiden Räder
waren mit frischem Blut bespritzt.
„Aus dem Weg!" riefen die Stimmen. „Aus dem Weg!"
„Ewig—keit! Ewig—fett!" hallte es von der Straße wider.
Traurige, abgemagerte Frauen schleppten sich weiter, gut
gekleidet, mit Kindern, die weinten und immer stolperten; ihre
zarten Kleider erstickten in Staub und ihre müden Gesichter
waren von Tränen entstellt. Viele von ihnen waren von teils
hilfreichen, teils mürrischen und rohen Männern begleitet. Seite
an Seite mit ihnen drängte sich mit roher Gewalt ein Haufe
Londoner Straßenauswurfs vorwärts, in schwarze Lumpen ge-
kleidet, mit lauter Stimme unflätige Reden im Munde führend.
Dann sah man stämmige Arbeiter, die kraftvoll vorwärts dräng-
ten, elend aussehende, ungekämmte Burschen, offenbar Laden-
schwengel oder Tagschreiber, nach ihrer, Kleidung zu schließen,
die gelegentliche Raufereien veranstalteten; mein Bruder be-
merkte noch einen verwundeten Soldaten, ferner Leute, die wie
die Gepäckträger der Bahnhöfe gekleidet waren, und ein trostlos
aussehendes Geschöpf in einem Nachthemd, über das ein Rock
geworfen war.
Aber so verschieden auch ihre Zusammensetzung war, ge-
wisse Züge hatte diese Menge gemein. Angst und Schmerz
brüteten auf den Gesichtern, und Angst hinter ihnen. Ein Lärm
auf der Straße, ein Streit um einen Wagenplatz, waren ge-
nügend, um diese ganze Schar zur Beschleunigung ihrer Schritte
anzuspornen; selbst ein Mann, der so elend und gebrochen
war, daß seine Knie unter ihm wankten, wurde für einen Augen-
blick zu erneuter Tätigkeit aufgestachelt. Kitze und Durst hatten
bei dieser Menge schon ihr Werk getan. Die Kaut war trocken,
die Lippen waren schwarz und aufgesprungen. Alle waren
sie durstig und ermattet; ihre Füße wund. Und unter den
verschiedenartigen Schreien hör.te man Gezänk, Vorwürfe und
Gestöhne aus Ermattung und Schwäche. Die Stimmen der
8»
116
meisten waren schon heiser und schwach. Es war immer das
alte Lied mit dem alten Kehrreim:
„Platz! Platz! Die Marsleute kommen!"
Nur wenige rasteten ans oder trennten sich von d-ep Flut.
Der Feldweg mündete ziemlich abschüssig in einer engen -Off
Nung in die Hauptstraße und machte den trügerischen Ein-
druck, als käme er aus der Richtung von London. Dennoch
drängte ein geringer Bruchteil der Leute in die Mündung hinein;
Schwächlinge pufften sich mit den Ellbogen aus dem Strome
heraus; doch ruhten sie zum größten Teil nur einen Augen-
blick aus, um wieder in ihm einzutauchen. Ein wenig abseits
vom Feldweg lag, von zwei Freunden betraut, ein Mann;
eines seiner Beine war bloß, mit ein paar blutigen Lumpen
umwickelt. Er war glücklich genug, Freunde zu besitzen.
Ein altes Männchen mit einem kriegerisch aussehenden
Schnurrbart, mit einem fadenscheinigen, schwarzen Gehrock be-
kleidet, hinkte aus dem Haufen, zog seine Stiefel aus — seine
Socken waren mit Blut befleckt — schüttelte einen Kieselstein
heraus und humpelte weiter. Ein kleines Mädchen von acht
oder neun Jahren, ganz allein, warf sich neben die Hecke
dicht neben meinen Bruder und weinte bitterlich.
„Ich kann nicht weiter! Ich kann nicht weiter!"
Mein Bruder erwachte aus der Erstarrung seines Staunens;
er hob sie auf, sprach ein paar freundliche Worfe zu ihr und
trug sie zu Fräulein Elphinstone. Sobald mein Bruder sie
berührte, wurde sie ganz still, wie erschreckt.
„Ellen!" schrie eine Frau im Haufen, mit Tränen in der
Stimme. „Ellen!" Und das Kind machte sich von meinem
Bruder los und schoß, nach ihrer Mutter rufend, davon.
„Sie kommen," sagte ein Mann zu Pferde, der den Feld-
weg entlang ritt.
„Aus dem Wege da!" brüllte ein Kutscher und richtete
sich hoch auf; und mein Bruder sah einen geschlossenen Wagen
in den Feldweg hineinfahren.
Die Leute drängten, einer den anderen pressend, zurück,
117
um dem Pferde auszuweichen. Mein Bruder schob das Ponny
und den Wagen an die Hecke zurück, und der Mann fuhr
vorbei, um an der Wegbiegung zu halten. Es war eine Kutsche
mit einer Deichsel für zwei Pferde, aber nur eines war in den
Strängen.
Mein Bruder sah undeutlich durch den Staub hindurch,
wie zwei Männer einen Gegenstand auf einer weißen Trag-
bahre heraushoben und ihn behutsam auf das Gras zwischen
die Ligusterhecken legten.
Einer der Männer eilte auf meinen Bruder zu.
„Wo bekommt man hier etwas Wasser?" fragte er. „Ex
geht rasch seinem Ende entgegen und leidet heftigen Durst. Es
ist Lord Garrick."
„Lord Garrick!" rief mein Bruder, „der Präsident des
obersten Gerichts?"
„Das Wasser!" rief der andere.
„Vielleicht finden Sie in einem dieser Häuser eine Wasser-
leitung", sagte mein Bruder. „Wir haben kein Wasser, Und
ich darf meine Begleiterinnen nicht verlassen."
Der Mann drängte sich durch die Menge gegen das Tor
des Eckhauses zu.
„Vorwärts!" riefen die Leute, ihn zur Seite schiebend.
„Sie kommen! Vorwärts!"
Jetzt wurde die Aufmerksamkeit meines Bruders durch einen
bärtigen Mann mit einem adlerartigen Gesicht abgelenkt, der
eine kleine Handtasche trug, die gerade platzte, als meines
Bruders Augen auf sie fielen, und eine Masse Souvereign-
stücke i) entleerte, die in einzelne Münzen zu zerfallen schienen,
als sie den Boden berührten. Sie rollten hierhin und dorthin
unter die vorwärtsdrängenden Füße von Menschen und Pferden.
Der Mann blieb stehen und stierte stumpfsinnig auf den Gold-
haufen; die Deichsel eines Mietwagens traf seine Schulter und
*) Die gewöhnliche englische Goldmünze ini Werte von einem Pfund
Sterling — K 24.
118
warf ihn nieder. Er stieß einen Schrei aus und 'kroch zur Seite;
das Rad eines Karrens ging hart an ihm vorbei!
„Platz da!" rief die Menge um ihn herum. „Macht Platz!"
Sobald der Mietwagen vorbeigefahren war, stürzte er sich
mit beiden Händen auf die Goldhaufen und raffte eine Hand-
voll um die andere in seine Taschen. Ein Pferd bäumte sich
dicht über ihm; als er sich im nächsten Augenblick halb auf-
gerichtet hatte, war er schon unter die Hufe des Pferdes ge-
raten.
„Halt!" schrie mein Bruder, und, eine Frau zur Seite
drängend, versuchte er den Zaum des Pferdes zu fassen.
Ehe er noch herankommen konnte, hörte er ein Geschrei
unter den Rädern und sah durch den Staub hindurch, wie die
Vorderräder des Karrens über den Rücken des armen Teufels
gingen. Der Kutscher des Karrens schlug- mit der Peitsche
nach meinem Bruder, der herum hinter den Karren eilte. Das
vielstimmige Geschrei betäubte seine Ohren. Der Mann wand
sich im Staube mitten unter seinem verstreuten Gelde, unfähig,
sich zu erheben, denn die Räder hatten ihm den Rücken ge-
brochen und seine Beine lagen schlaff und tot da. Mein Bruder
richtete sich auf und stieß einige gellende Rufe gegen den nächsten
Kutscher aus; ein Mann auf einem Rappen kam zu seinem
Beistand heran.
„Ziehen Sie ihn doch von der Straße weg", sagte er; und
mit seiner freien Hand den Mann am Kragen fassend, schleifte
ihn mein Bruder zur Seite, der Mann aber griff noch immer
gierig nach seinem Gelde, blickte meinen Bruder wütend an
und hämmerte mit einer Handvoll Gold fortwährend auf den
Arm meines Bruders. „Vorwärts!" riefen zornige Stimmen
von rückwärts. „Platz! Platz!"
Mit heftigem Krachen fuhr die Deichselstange einer Kutsche
in den Karren hinein, und der Reiter hielt an. Mein Bruder
blickte auf und der Mann mit dem Gold drehte seinen Kopf
herum und biß in das Handgelenk meines Bruders, um seinen
Kragen frei zu bekommen. Nun folgte ein Zusammenstoß, der
119
Rappe stolperte zur Seite und das Karrenpferd drängte nach.
Ein Huf verfehlte den Fuß meines Bruders um Haaresbreite.
Er ließ den Kragen des gestürzten Mannes los und sprang
zurück. Er sah noch, wie der Zorn in dem Gesicht des armen
Teufels sich in Entsetzen verwandelte; der nächste Augenblick
schon verbarg ihn seinen Blicken. Mein Bruder wurde nach
rückwärts gedrängt und von der Menge an der Mündung des
Feldwegs vorbeigerissen; er hatte in der wild einherströmenden
Menschenflut hart zu kämpfen, um die Mündung wiederzu-
gewinnen.
Er sah, wie Fräulein Elphinstone ihre Augen bedeckte und
wie ein kleines Kind, mit dem ganzen Mangel teilnahmsvoller
Vorstellungskraft des Kindes, mit weitgeöffneten Augen auf
ein staubbedecktes Etwas starrte, das schwarz und still, zer-
malmt und zerquetscht unter den rollenden Rädern lag. „Wir
müssen zurück!" schrie er, und begann das Ponny herumzu-
führen. „Wir können nicht hindurch durch diese — Hölle",
sagte er; und sie gingen etwa hundert Jards den Weg, beu sie
gekommen waren, zurück, bis die kämpfende Menge ihren Blicken
entschwand. Als sie an die Wegkrümmung kamen, sah mein
Bruder das Gesicht des sterbenden Mannes im Graben unter
der Ligusterhecke; es war totenblaß und verzerrt und glänzte
vor Schweiß. Die beiden Frauen saßen schweigend da, in
ihre Sitze gepreßt und bebend- vor Entsetzen.
Hinter der Wegbjegung machte mein Bruder wieder Halt.
Fräulein Elphinstone war totenblaß, und ihre Schwägerin saß
still weinend da, zu elend sogar, um nach ihrem „Georg"
zu rufen. Mein Bruder war entsetzt und verwirrt. Sobald
sie sich zurückgezogen hatten, kam es ihm wieder zum Be-
wußtsein, wie dringend und unvermeidlich es war, den Men-
schenstrom zu durchqueren. Ohne Verzug wandte er sich ent-
schlossen an Fräulein Elphinstone.
„Wir müssen diesen Weg einschlagen", sagte er, und lenkte
das Ponny wieder herum.
Zum zweiten Male an diesem Tage legte das Mädchen
120
eine Probe seiner Unerschrockenheit ab. Um eine Furt durch
diesen Menschenstrom zu erzwingen, stürzte sich mein Bruder
in das Getriebe hinein und hielt ein Droschkenpferd zurück,
während sie das Ponny an dessen Kopf vorbeilenkte. In diesem
Augenblick hemmte ein Fuhrwagen sein Rad und riß einen
langen Splitter von dem Ponnywagen ab. Gleich darauf wurden
sie vom Strom erfaßt und vorwärts getrieben. Mein Bruder,
dessen Antlitz und dessen Hände die roten Spuren von des
Kutschers Peitsche aufwiesen, kletterte in den Wagen zurück
und nahm seiner Begleiterin die Zügel ab.
„Richten Sie den Revolver auf den Mann hinter uns,"
sagte er, ihr die Waffe reichend, „wenn er zu heftig drängt.
Rein! —- Richten Sie ihn auf sein Pferd."
Dann begann er nach einer Gelegenheit auszuspähen, über
die Straße hinweg nach rechts seitwärts zu fahren. Aber ein-
mal im Strom drin, schien er seine Willenskraft zu ver-
lieren, ein Glied dieses staubbedeckten Menschenrudels zu werden.
Sie wurden von dem wilden Strom durch Chipping-Barnet ge-
schwemmt; sie befanden sich schon wieder eine Meile jenseits
des Mittelpunktes der Stadt, bevor sie sich auf die gegenüber-
liegende Seite des Weges durchgekämpft hatten. Der Lärm,
die Verwirrung waren unbeschreiblich. Aber in der Stadt und
hinter ihr zweigte sich die Straße zu wiederholten Malen und
lichtete so in einem beschränkten Maße den Andrang der Menge.
Sie wandten sich nun östlich durch Hadley, und dort stießen
sie auf beiden Seiten der Straße, und auch später, auf eine
beträchtliche Menge von Leuten, die aus dem Flusse tranken;
manche mußten geradezu kämpfen, um zum Wasser zu ge-
langen. Etwas weiter bemerkten sie von einer Anhöhe in
der Nähe von Ost-Barnet zwei Eisenbahnzüge, die langsam
einer hinter dem anderen ohne Signal, ohne Aufsicht dahin-
fuhren. , Die Züge wimmelten von Leuten, selbst zwischen den
Kohlen hinter der Maschine kauerten Menschen, die auf der
großen Nordlinie zu entkommen trachteten. Mein Bruder ver-
mutete, daß diese Züge sich erst außerhalb Londons mit Flücht-
121
lingen gefüllt haben mußten, denn zu jener Zeit hatte der
wütende Ansturm der Leute die Benutzung der hauptstädtischen
Bahnhöfe unmöglich gemacht.
In der Nähe von Hadley machte die Gesellschaft meines
Bruders für den Nachmittag Halt; denn die Schrecken des Tages
hatten alle drei fast völlig erschöpft. Schon regten sich in
ihnen die ersten Anzeichen des Hungers, die Nacht war kalt,
und keines von ihnen wagte zu schlafen. Am Abend eilten
viele Leute die Straße entlang, an ihrem Rastplatz vorbei, vor
ungekannten Gefahren fliehend, die in Wahrheit noch vor ihnen
lagen. Denn sie eilten nach der Richtung, von der mein
Bruder gekommen war.
XVII.
Der „Thunder Child'").
Hätten die Marsleute es nur auf blinde Zerstörung ab-
gesehen gehabt, so hätten sie am Montag die gesamte Be-
völkerung Londons vernichten können, wie sie sich langsam über
die nächsten Grafschaften hin ausbreitete. Nicht nur längs
der Straße durch Barnet, sondern auch durch Edgware und
Waltham Wbey, und die ostwärts laufenden Straßen entlang
nach Southend und Shoeburyneß, und südlich von der Themse
nach Deal und Broadstairs, ergoß sich derselbe tobende Haufe.
Wenn einer an jenem Junimorgen in einem Ballon in dem
strahlenden Blau über London geschwebt wäre, dann hätte er
jede Straße, die aus dem unendlichen Straßenknäuel nach Norden
oder Osten führte, von den dahinströmenden Flüchtlingen schwarz
übersät erblickt, jeder Punkt eine menschliche Agonie von
Schrecken und körperlichem Elend. Ich habe im vorigen Ab-
schnitt die Beschreibung, die mein Bruder von der Straße
durch Chipping-Barnet machte, ausführlich wiedergegeben, um
meinen Lesern eine Vorstellung davon zu ermöglichen, wie
*)■ Wörtlich „Donnerkind", Name eines englischen Kriegsschiffes.
122
jenes Gewimmel schwarzer Punkte einem unmittelbar daran
Beteiligten erschien. Nie noch in der Geschichte der Welt hatte
sich eine solche Masse menschlicher Wesen in Bewegung gesetzt,
nie noch so gemeinsam dieselben Leiden ertragen. Die sagen-
haften Scharen von Goten und Hunnen, die riesigsten Heere,
die Asien je erblickt hatte, was wären sie anderes gewesen, als
Wellen dieses Stromes. Und das war kein durch Manneszucht
geleiteter Marsch; es war ein zuchtloses Vorwärtsdrängen, riesen-
haft und schreckensvoll, ohne Ordnung, ohne Ziel, sechs Mil-
lionen Menschen, die, unbewaffnet und ohne Lebensmittel, blind-
lings weitertrieben. Es war der Anfang einer Ausrottung
der Gesittung, einer Niedermetzlung des Menschengeschlechtes.
Gerade unter sich hätte der Luftschiffer, ein weithin
gesponnenes Netzwerk von Straßen gesehen, von Häusern,
Kirchen, Plätzen, Gassen, Gärten, die, schon verödet, sich aus-
dehnten, wie eine ungeheure Landkarte, die im Süden verwischt
und zerstört war. Es sah aus, als ob eine Riesenfeder über
Ealing, Richmond und Wimbledon Tinte über die Karte ge-
spritzt hätte. Stetig und unaufhaltsam wuchs jeder dieser Flecken;
er breitete sich aus, sandte Abzweigungen hierhin und dorthin,
staute sich gegen Erhebungen des Bodens, ergoß sich dann
wieder über abschüssiges Erdreich in neuentdeckte Täler, genau
so, wie ein Strom von Tinte sich über Löschpapier verteilt.
Und drüben, bei den blauen Hügeln, die sich südlich vom
Flusse erheben, eilten die glitzernden Marsleute hin und her und
versendeten bedächtig und glanzvoll einmal über diesen, dann
über jenen Landstrich ihre Giftwolken, die sie, sobald sie ihren
Zweck erfüllt hatten, wieder mit ihren Dampfstrahlen erstickten.
So ergriffen sie Besitz von dem besiegten Lande. Ihr
Vorhaben schien nicht so sehr auf Ausrottung abzuzielen, als-
auf völlige Unterjochung und Niederwerfen jedes Widerstandes.
Sie sprengten jede Pulveransammlung, auf die sie stießen, in
die Luft, schnitten jede Telegraphenlinie ab und zerstörten, wo
sie konnten, jede Eisenbahn. Sie schnitten die Sehnen der
Menschheit durch. Sie schienen keine besondere Eile zu haben,
123
ihr Arbeitsfeld auszudehnen, und gelangten an diesem Tage
nicht über den Mittelpunkt von London hinaus. Es ist sehr
möglich, daß eine beträchtliche Anzahl Leute in London am
Montag morgen in ihren Häusern blieb. Daß viele, vom
schwarzen Rauch erstickt, zu Hause starben, ist gewiß.
Um die Mittagsstunde stellte die Werft von London ein
erstaunliches Schauspiel dar. Dampfboote und Schiffe aller
Art, deren Eigentümer von den ungeheuren Geldsummen, welche
die Flüchtlinge anboten, versucht wurden, lagen in Bereitschaft;
viele Menschen, welche an diese Fahrzeuge heranschwammen,
sollen mit Bootshaken zurückgestoßen und ertränkt worden sein.
Um ein Uhr nachmittags etwa wurde ein dünnes Überbleibsel
einer Wolke des schwarzen Qualmes zwischen den Bogen der
Blackfriars-Brücke gesehen. Und nun wurde die Werft der
Schauplatz einer wahnsinnigen Verwirrung, heißer Kämpfe und
Zusammenstöße; eine Zeitlang war eine Menge von Booten
und Barken im nördlichen Bogen der Towerbrücke eingeklemmt;
Seeleute und Löscharbeiter mußten wie Wilde gegen die Menge
ankämpfen, die in hellen Haufen vom Ufer her andrängte. Die
Leute kletterten tatsächlich die Brückenpfeiler hinab.
Als eine Stunde später ein Marsmann jenseits des Uhr-
turms des Parlamentshauses auftauchte und den Fluß hinab-
watete, trieben nur Schiffstrümmer am Limehouse vorüber.
Über den Niedergang des fünften Zylinders werde ich später
berichten. Der sechste ging bei Wimbledon nieder. Mein Bru-
der hielt neben den im Wagen schlafenden Frauen auf einer
Wiese Wache und sah seinen grünen Blitz weit drüben jenseits
der Hügel. Am Dienstag strebte die kleine Gesellschaft, noch
immer entschlossen, über das Meer zu fahren, durch das vou
Menschen wimmelnde Land gegen Colchester vorwärts. Die
Nachricht, daß die Marsleute nun im Besitze von ganz London
seien, wurde bestätigt. Sie waren in Highgate gesehen worden,
und, wie man erzählte, sogar schon bei Neasdon. Aber sie
kamen bis zum nächsten Morgen meinem Bruder nicht zu
Gesicht.
Am Dienstag nun begannen die verstreuten Massen die
zwingende Notwendigkeit zu empfinden, sich mit Lebensmitteln
zu versehen. Und sobald sie hungrig wurden, hörten sie ans,
das Recht des Eigentums zu beachten. Mit den Waffen in der
Hand rückten die Bauern ans, ihre Viehställe, ihre Scheunen,
ihre reifenden Feldfrüchte zn verteidigen. Eine Anzahl von
Leuten hatte wie mein Bruder nun die Absicht, eine östliche
Richtung einzuschlagen, und einige ganz Verzweifelte gingen
sogar nach London. zurück, um sich Nahrung zu holen. Das
waren hauptsächlich Leute aus den nördlichen Vororten, deren
Kenntnisse über den schwarzen Ranch nur vom Hörensagen
stammten. Mein Bruder erfuhr, daß etwa die Hälfte der Mit-
glieder der Regierung sich in Birmingham versammelt hatte
und daß ungeheure Mengen starker Sprengstoffe vorbereitet
wurden, um für selbsttätige Minen in den Binnengrafschaften
verwendet zu werden.
Zur gleichen Zeit hörte mein Bruder, daß die mittelländische
Eisenbahngesellschaft die im ersten Schrecken aufgegebene Strecke
wieder dem Verkehr übergeben hatte und von St. Albans nach
Norden gehende Züge abgehen ließ, um in den beängstigend
überfüllten Nachbargrafschasten Londons etwas Luft zn schaffen.
Ferner wurden in Chipping Ongar Kundmachungen erlassen,
dahin lautend, daß in den Nordstädten große Vorräte von
Mehl zur Verfügung ständen, und daß binnen vierundzwanzig
Stunden unter die hnngerleidende Bevölkerung der Nachbar-
schaft Brot verteilt werden würde. Diese Nachricht aber hielt
meinen Bruder nicht von der Ausführung des Fluchtplanes ab,
den er ersonnen hatte; und die drei Leute drängten den ganzen
Tag lang unaufhaltsam in östlicher Richtung vorwärts und
erlebten von jener Brotverteilung nicht mehr, als eben ihre
Verheißung. Tatsache ist, daß auch niemand anderer mehp
davon erlebte. In dieser Nacht ging der siebente Stern nieder
und fiel auf den Primrose-Hügel. Er ging nieder, während Fräu-
lein Elphinstone Wache hielt; denn sie unterzog sich abwechselnd
mit meinem Bruder dieser Pflicht. Auch sie sah den Stern.
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Am Mittwoch erreichten die drei Flüchtlinge, welche die
Nacht auf einem Felde unreifen Weizens verbracht hatten,
Chelmsford; hier bemächtigte sich eine Gruppe von Bewohnern,
welche sich „Öffentlicher Unterstützungs-Ausschuß" nannte, des
Ponnys als eines Nahrungsmittels und wollte nichts als Ent-
gelt dafür geben, als das Versprechen, die Besitzer am nächsten
Tage an seiner Verzehrung teilnehmen zu lassen. Hier waren
Gerüchte im Umlauf/daß die Marsleute in Epping seien; auch
erfuhr man, daß die Pulvermühlen von Waltham-Abbey wäh-
rend des fruchtlosen Versuches, einen der Eindringlinge in die
Luft zu sprengen, zerstört worden seien.
Die Leute spähten hier von den Kirchtürmen nach den
Marsleuten ans. Mein Bruder zog es vor — wie es sich
später herausstellte, zu seinem Glück — sofort nach der Küste
aufzubrechen, statt auf Nahrung zu warten, obwohl sie alle drei
sehr hungrig waren. Um die Mittagsstunde kamen sie durch
Tillingham, das, seltsam genug, ganz still und verödet schien,
bis auf einige diebische Plünderer, die nach Nahrungsmitteln
suchten. In der Nähe von Tillingham erblickten sie plötzlich
das Meer und zugleich die erstaunlichste Ansammlung von Fahr-
zeugen aller Art, die man sich nur vorstellen konnte.
Denn nachdem die Schiffer nicht mehr die Themse hinauf-'
fahren konnten, begaben sie sich an die Küste von Essex, nach
Harwich, Walton, Clacton und später nach Foulneß und Shoe-
bury, um Leute aufzunehmen. Die Schiffe waren in einer un-
geheuren, sichelförmigen Linie aufgestellt, die sich gegen das
Vorgebirge, die Naze, im Nebel verlor. Dicht am Ufer hatte
eine Unmenge Fischerbarken Anker geworfen, englische, schot-
tische, französische, holländische und schwedische; dann sah man
kleine Dampfboote von der Themse, Dachten und elektrische
Boote; darüber hinaus sah man Schiffe größerer Art, eine
große Menge schmutziger Kohlenschiffe, schmucke Kauffahrtei-
schiffe, Viehtransportfahrzeuge, Passagierdampfer, Petroleum-
tanken, Ozeanbummler, selbst einen alten, weißen Transport-
segler, zierliche weiße und graue Linienschiffe von Southampton
126
und Hamburg; und die ganze blaue Küste am Blackmater entlang
konnte mein Bruder dichte Schwärme von Booten wahrnehmen,
von denen aus mit den Leuten auf dem Ufer gefeilscht wurde.
Diese Bootmassen erstreckten sich auch das Blackwater hinauf
beinahe bis Maldon.
Ungefähr zwei Meilen draußen lag ein Panzerschiff so tief
im Wasser, daß es den Augen meines Bruders fast wie ein
halbversenktes Schiff schien. Das war das Rammboot „Thunder
Child". Es war das einzige Kriegsschiff in Sicht; aber in
weiter Ferne lag auf dem glatten Spiegel der See — an
jenem Tage herrschte Totenstille — eine Schlange schwarzen
Rauches, welche die nächsten Panzerschiffe der Kanalflotte an-
zeigte, die in einer weitgedehnten Linie auf und ab kreuzten;
sie fuhren während des Einfalles der Marsleute mit vollem
Dampf und klar zum Gefecht längs der Themsemündung, kampf-
bereit, und doch machtlos, einzugreifen.
Beim Anblick des Meeres wurde Frau Elphinstone trotz
der Zureden ihrer Schwägerin von heillosem Schrecken über-
wältigt. Sie war nie noch aus England hinausgekommen, und
erklärte, lieber sterben zu wollen, als sich ohne Freunde einem
fremden Lande anzuvertrauen, und so fort. Die Ärmste schien
sich vorzustellen, daß die Franzosen und die Marsleute sehr
ähnlich sein würden. Sie war während der zwei Reisetage immer
hysterischer, erschreckter und niedergeschlagener geworden. Ihre
fixe Idee war, nach Stanmore zurückzukehren. In Stanmore
sei immer alles gut und sicher vor sich gegangen. In Stanmore
würden sie Georg wiederfinden...
Nur mit den größten Schwierigkeiten gelang es ihnen, sie
zum Ufer hinab zu bringen, wo es meinem Bruder glückte, die
Aufmerksamkeit einiger Leute auf einem Raddampfer, der aus
der Themse fuhr, auf sich zu lenken. Der Dampfer schickte ein
Boot, und bald wurde man handelseins: sechsunddreißig Pfund
für alle drei. Das Schiff ging, wie die Leute ihnen mitteilten,
nach Ostende.
Es war etwa zwei Uhr geworden, bis mein Bruder, der
vor dein Betreten des Schiffes noch das Fahrgeld bezahlt Hatte,
sich mit seinen Schützlingen sicher an Bord des Dampfers be-
fand. Im Schiffe gab es Eßwaren genug, wenn auch zu ganz
abenteuerlichen Preisen. Und so gelang es den drei Personen,
auf den Vordersitzen eine Mahlzeit einzunehmen.
Es waren bereits etwa vierzig Personen an Bord, von
denen einige ihren letzten Groschen weggegeben hatten, um sich
die Überfahrt zu sichern. Aber der Kapitän blieb beim Black-
water bis fünf Uhr nachmittags stehen und nahm unausgesetzt
Passagiere auf, bis das Verdeck beängstigend voll war. Er hätte
wohl noch länger gezögert, hätte man nicht um jene Stunde
vom Süden her den Schall von Geschützfeuer vernommen. Gleich-
sam zur Antwort feuerte das seewärts liegende Panzerschiff ein
kleines Geschütz ab und hißte seine Flagge. Ein Rauchstrahl
schoß aus seinem Schornstein.
Einige Reisende waren der Meinung, daß der Geschütz-
lärm aus der Gegend von Shoeburyneß komme, bis mau be-
merkte, daß er immer stärker wurde. Gleichzeitig tauchten süd-
östlich in weiter Ferne die Masten und das Takelwerk dreier
Panzerschiffe, eines nach dem andern, aus dem Meere auf,
unter Wolken schwarzen Qualmes. Aber die Aufmerksamkeit
meines Bruders kehrte rasch wieder zu dem fernen Geschütz-
feuer im Süden zurück. Er glaubte, eine Rauchsäule aus den
fernen, grauen Nebelschleiern aufsteigen zu sehen.
Der kleine Dampfer nahm, aus der großen Halbmondlinie
von Schiffen heraus, schon klappernd seinen Weg ostwärts. Die
flache Küste von Essex schien schon blau und neblig, als plötz-
lich, winzig und undeutlich in der großen Entfernung, ein Mars-
mann auftauchte, der die lehmige Küste.entlang aus der Richtung
von Foulneß herankam. Bei diesem Anblick fluchte der Kapitän
auf der Schiffsbrücke mit dem Aufwand seiner ganzen Stimm-
mittel in Angst und Zorn über seine eigene Saumseligkeit,,
und die Räder schienen von seinem Schrecken angesteckt zu sein.
Jedermann an Bord des Schiffes stand jetzt am Geländer oder
auf den Stühlen und starrte nach jener fexnen Erscheinung, die,
128
jetzt schon höher als die Bäume und die Kirchtürme landeinwärts,
wie in einer verzerrten Nachahmung der menschlichen Gangart
immer näher kam.
Es war der erste Marsmann, den mein Bruder gesehen
hatte, und so stand er, mehr erstaunt, als erschreckt, da, und
beobachtete den Titan, wie er entschlossen den Fahrzeugen näher-
rückte, immer weiter und weiter, wie die Küste zurückwich, im
Wasser watend. Jetzt tauchte jenseits des Dünenkammes in
weiter Ferne ein zweiter Marsmann auf, der über die ver- j
kümmerten Bäume hinwegfuhr; und noch weiter zurück zeigte
sich ein dritter, der tief durch eine glitzernde Sumpffläche ivatete,
die halb zwischen Himmel und Erde zu hängen schien. Sie alle
stapften der See zu, als ob sie die Flucht jener Menge von
Fahrzeugen verhindern wollten, die in dichten Haufen zwischen
Foulneß und dem Vorgebirge Naze lagerten. Trotz der keuchen-
den Anstrengung der Maschinen des kleinen Raddampfers, trotz
der Ströme von Schaum, die seine Räder zurückließen, ent- i
fernte sich das Schiff nur mit erschreckender Langsamkeit aus -
dem Bereiche jener unheilvollen Ankömmlinge. . '
Nach Nordwesten blickend sah mein Bruder, wie dev riesige >
Halbkreis von Schiffen sich schon zu winden begann unter dem -
herannahenden Entsetzen. Jedes Schiff versuchte am anderen >
vorbeizukommen, um sich hinter die Breitseite der größeren s
Schiffe zu verbergen, die Dampfer pfiffen unaufhörlich und i
stießen ungeheure Qualmmengen aus, Segel wurden gehißt und (
Landungsboote schossen hin und her. Mein Bruder wurde von i
diesem Bilde und von der heranschleichenden Gefahr so in k
Anspruch genommen, daß er für alles, was auf hoher See vor- ,
ging, keine Augen hatte. So schleuderte ihn eine rasche Be- t
wegung des Dampfers (er hatte plötzlich gewendet, um nicht 1
in den Grund gefahren zu werden) kopfüber, von dem Sessel, l
auf dem er stand. Rings um ihn herum hörte er Geschrei, das d
Trappeln von Füßen und freudige Rufe, die schwach erwidert i'
zu werden schienen. Der Dampfer schoß vorwärts, und mein
Bruder kollerte über den Boden. tt
129
Er sprang auf seine Füße und sah nach dem Steuerbord.
Nicht hundert Uards von ihrem stoßenden, schwankenden Boote
entfernt, sah er eine riesige, eiserne Masse, die wie eine un-
geheure Pflugschar das Wasser teilte und nach beiden Seiten
gewaltige Schaumwogen schleuderte, die auf den Dampfer stürz-
ten, bis seine Räder hilflos in der Luft hingen, um gleich darauf
das Verdeck fast bis auf die Wasserfläche' hinabzutauchen.
Eine Flut von Gischt blendete einen Augenblick lang meinen
Bruder. Als sich seine Augen wieder geklärt hatten, sah er,
daß das Ungetüm schon vorbei war und dem Lande zuraste.
Mächtige Eisenkörper tauchten aus dem Riesenkörper auf; ein
Doppelschornstein erhob sich und spie einen zweifachen Schwall
feurigen Rauches in die Luft. Es war das Torpedo-Rammschisf
„Thunder Child", das in rasender Schnelligkeit den bedrohten
Schiffen zu Hilfe kam.
Indem er seinen Füßen auf dem schwankenden Deck dadurch,
daß er sie in das Netzwerk des Geländers einhakte, leinen sicheren
Halt schaffte, blickte mein Bruder über den dahinschießenden
Leviathan hinweg, wieder nach den Marsleuten. Er sah nun
alle drei dicht beieinander; sie standen so weit draußen im
Meer, daß ihre dreifüßtgen Stützen fast ganz unter Wasser
waren. So halb versenkt und in so großer Entfernung, sahen
sie weit weniger furchtbar aus, als die riesenhafte Eisenmasse,
in deren Kielwasser der Dampfer hilflos hin und her schwankte.
Es schien, als betrachteten die Marsleute diesen neuen Gegner
in hellem Staunen. Es mag sein, daß nach ihren Begriffen
dieser Riese ein ähnliches Wesen ihrer Gattung war. Der
„Thunder Child" feuerte keinen Schuß ab, er rückte nur in
voller Wucht gegen sie vor. Vermutlich dankte er nur dem
Umstande, daß er nicht feuerte, die Möglichkeit, jeneu so nahe
zu kommen. Sie wußten nicht, was sie aus ihm machen sollten.
Nur eine Bombe, und sie hätten ihn mit dem Hitzstrahl sofort
in den Grund gebohrt.
Das Schiff dampfte mit einer derartigen Schnelligkeit vor-_
wärts, daß es in einer Minute den halben Weg zwischen dem
Wells, Der Krieg der Welten
9
130
Dampfboot und den Marsleuten zurückzulegen schien — eine
sich immer mehr verringernde Masse, die sich schwarz von der
zurücktretenden horizontalen Linie der, Küste von Essex abhob.
Plötzlich senkte der vorderste Marsmann sein Rohr und
feuerte eine Büchse schwarzen Gases auf das Panzerschiff ab.
Sie traf ihn auf der Backbordseite und prallte in einem tinten-
artigen Strahl ab, der sich seewärts weiterwälzte als entfalteter
Strom schwarzen Rauches, dem das Panzerschiff glücklich entrann.
Den Zuschauern auf dem tief im Wasser fahrenden Dampfer,
welche überdies die Sonne im Gesicht hatten, schien es, als
sei das Schiff schon mitten unter den Marsleuten.
Sie sahen, wie die ungeschlachten Gestalten sich trennten
und sich immer höher aus dem Wasser hoben, indem sie sich
ans Ufer zurückzogen. Einer von ihnen erhob jetzt den kamera-
gleichen Erzeuger des Hitzstrahls. Er hielt ihn schräg nach ab- !
wärts gerichtet, und sofort fuhr eine Dampfwolke auf, als der
Strahl das Wasser berührte. Er mußte durch das Eisen des j
Schiffskörpers gefahren sein, ähnlich, wie weißglühendes Eisen
durch Papier dringt.
Das Zucken einer Flamme wurde in dem aufsteigenden
Dampf sichtbar, und der Marsmann wankte und taumelte nach
vorn. Im nächsten Augenblick war er niedergeschlagen, und
eine große Menge Wasser und Dampf schoß hoch in die Luft
auf. Die Geschütze des „Thunder Child" donnerten durch den
Qualm, eines nach dem andern; ein Geschoß klatschte dicht neben
dem Dampfer ins Wasser, prallte in der Richtung der anderen
fliehenden Schiffe nordwärts und zersplitterte eine Fischerbarke
in Zündhölzchen.
Niemand aber schenkte dem besondere Beachtung. Beim
Anblick des zusammenbrechenden Marsmannes stieß der Kapitän
auf der Brücke unartikulierte, gellende Laute aus, und die zu
einem Kaufen beim Steuerrad zusammengedrängten Reisenden
schrien wild durcheinander. Und noch einmal schrien sie auf.
Denn drüben, jenseits des großen Tumults, erhob sich ein
langer, schwarzer Rumpf und trieb kräftig weiter; Flammen
131
strömten aus seinen Mittelteilen, und die Ventilatoren und
Schornsteine spien Feuer.
Er lebte noch; sein Lenksteuer, scheint es, war unversehrt
und seine Maschinen arbeiteten. Er schoß gerade aus auf einen
zweiten Marsmann los und war noch hundert Uards von ihm
entfernt, als der Kitzstrahl seine Wirkung tat. Mit einem heftigen
Getöse und unter blendenden Blitzen flogen sein Verdeck und
seine Rauchfänge in die Luft. Der Marsmann wankte bei der
Keftigkeit des Zündschlages, und im nächsten Augenblick schoß
das flammende Wrack mit der ganzen Wucht seines stürmischen
Laufes vorwärts, warf den Marsmann nieder und zermalmte
ihn wie ein Stückchen Papier. Mein Bruder schrie unwillkürlich
auf. Kochende Dampfwolken hüllten alles wieder ein.
„Zwei!" jubelte der Kapitän.
Jedermann jauchzte und schrie; der ganze Dampfer hallte
von einem Ende bis zum anderen von den wilden Freudenrufen
wider, die zuerst vom nächsten und dann von allen den unzähligen
Booten und Schiffen aufgenommen wurden, die das offene Meer
zu gewinnen suchten.
Der Dampf hing viele Minuten hindurch über dem Wasser
und hüllte den dritten Marsmann und die Küste vollständig ein.
Und während dieser ganzen Zeit arbeitete sich das Dampfboot
stetig auf die hohe See hinaus, fort von dem Schauplatz jener
Schlacht. Und als sich endlich der Dampf verzogen hatte, da
traten die treibenden Wolken des schwarzen Rauches dazwischen,
und vom „Thunder Child" konnte nichts mehr gesehen werden;
auch der dritte Marsmann war verschwunden. Aber die Panzer-
schiffe, die seewärts lagerten, waren jetzt ganz nahe und standen
gegen die Küste zugekehrt hinter dem Dampfboot.
Das kleine Fahrzeug fuhr fort, sich seinen Weg seewärts
zu erkämpfen; die Panzerschiffe traten langsam gegen die Küste
zurück, die noch immer von der gefleckten Rauchwand, halb
Dampf, halb schwarzem Gas, in den abenteuerlichsten Gestalten
auf und nieder wallend, eingehüllt war. Die Flotte der Flücht-
linge zerstreute sich nach Nordosten; einige Fischerbarken segelten
9*
132
zwischen den Panzerschiffen und dem Dampfboot. Nach einiger
Zeit, bevor sie den sinkenden Wolkenzug erreichten, wandten
sich die Kriegsschiffe nach Norden, und mit einer unvermuteten
Schwenkung verschwanden sie in südlicher Richtung in dein
sich immer mehr verdichtenden Abendnebel. Die Küste verblaßte
und verschwand endlich völlig in den langen Wolkenzügen, die
sich um die sinkende Sonne lagerten.
Plötzlich scholl aus dem goldenen Nebelschleier des Sonnen-
unterganges das Getöse von Geschützen; und schwarze Schatten
tauchten auf und nieder. Alles stürzte wieder an das Geländer
des Dampfers und spähte nach dem blendenden Feuerherd des
Westens; aber es konnte nichts deutlich unterschieden werden.
Eine Menge dichten Rauches stieg schräg auf und verbarg das
Antlitz der Sonne. Das Dampfboot keuchte seinen Weg weiter;
und bange Erwartung lastete auf allen.
Die Sonne versank in graue Wolken; der Himmel zuckte
auf und verfinsterte sich wieder, und oben zitterte der Abend-
stern. Es war schon dunkles Zwielicht, als der Kapitän aufschrie
und nach aufwärts deutete. Mein Bruder strengte seine Augen
an. Aus dem Grau fuhr etwas hoch auf in die Luft, zuckte
in reißender Schnelligkeit schief hinüber zu dem glänzenden
Licht über den Wolken des westlichen Himmels, ein flacher,
breiter und sehr großer Körper; er raste in einer ungeheuren
krummen Linie weiter, wurde kleiner, sank dann langsam und
verschwand endlich in dem grauen Geheimnis der Nacht. Und
während er so hinflog, ergoß sich die Finsternis über das
Land.
Ende des ersten Buches.
Zweites Buch.
Das Land unter den Marsleuten.
i.
Anterwegs.
Im ersten Buche schweifte ich so weit von meinen eigenen
Abenteuern ach um die Erlebnisse meines Bruders zu berichten;
während der Ereignisse der letzten beiden Abschnitte hielten ich
und der Kurat uns auf der Lauer, in dem leeren Hause in
Halliford versteckt, in das wir uns flüchteten, um dem schwarzen
Rauche zu entrinnen. Hier will ich den Faden der Erzählung
wieder aufnehmen. Wir blieben während der ganzen Nacht des
Sonntags und den ganzen nächsten Tag — dem Tage der Lon-
doner Panik — in dem Hause, dem einzigen Eiland voll Tages-
licht, durch den schwarzen Rauch von der übrigen Welt abge-
schnitten. Wir konnten während dieser zwei trostlosen Tage
nichts tun, als in schmerzlicher Untätigkeit warten.
Mein Gemüt war von Sorgen um meine Frau erfüllt.
Ich malte mir aus, wie sie voll Angst und in Gefahr in Leather-
head weilte nnd mich bereits als einen Toten beklagte. Ich
schritt in den Zimmern auf und nieder und weinte laut bei dem
Gedanken, durch welche Abgründe ich von ihr getrennt war,
wenn ich mir vorstellte, was alles während meiner Abwesenheit
ihr zustoßen konnte. Mein Better, das wußte ich, würde jeder
ihr drohenden Gefahr mutig entgegentreten, aber er gehörte
nicht zu jener Gattung von Männern, welche rasch eine Gefahr
begreifen und sich rechtzeitig gegen sie schützen. Was jetzt Not
134
tat, war nicht Tapferkeit, sondern Umsicht. Mein einziger Trost
war die Vermutung, daß die Marsleute gegen London vor-
rückten, 'also fort von Leatherhead. Solche unbestimmte Angst-
gefühle machen die Gemütsverfassung eines Menschen reizbar
und leidend. Bei den unausgesetzten Klagerufen des Kuraten
wurde ich ärgerlich und gereizt, und der Anblick seiner selbst-
süchtigen Verzweiflung ermüdete mich. Nach einigen wirkungs-
losen Vorstellungen hielt ich mich abseits von ihm und zog
mich in ein Zimmer zurück, das Globen, Schulbücher und
Hefte enthielt, also offenbar ein Schulzimmer von Kindern war,
Als er schließlich mir auch dahin folgte, floh ich in ein Koffer-
zimmer auf dem Boden des Hauses, in dem ich mich einschloß,
um mit meinem nagenden Kummer allein zu sein.
Wir waren durch den schwarzen Rauch. den ganzen Tag
und den Morgen des nächsten hoffnungslos eingesperrt. Am
Sonntagabend waren Anzeichen wahrzunehmen, daß im Nach-
barhause noch Leute waren —■ ein Gesicht am Fenster, hin
und her flackernde Lichter, und später, das Zuschlagen einer Tür.
Aber ich weiß nicht, wer diese Leute waren, noch was aus ihnen
wurde. Am nächsten Tage erblickten wir keine Spur mehr
von ihnen. Der schwarze Rauch trieb langsam dem Flusse zu,
den ganzen Montagmorgen hindurch; er kroch näher und näher
an uns heran und wälzte sich endlich die Landstraße entlang,
außerhalb des Hauses, das uns verbarg.
Ein Marsmann kam gegen Mittag über die Felder ge-
fahren und vernichtete den Rauch durch einen Strahl über-
hitzten Dampfes, der gegen die Mauern zischte, alle Fenster,
die er traf, zerschmetterte und die Hand des Kuraten verbrühte,
als er sich aus dem Straßenzimmer flüchtete. Als wir, uns
endlich durch die durchnäßten Zimmer schlichen und hinaus-
blickten, sah das gegen Norden zu gelegene Land aus, als wäre
ein schwarzer Schneesturm darüber hingebraust. Und als wir
gegen den Fluß hinblickten, waren wir nicht wenig erstaunt,
wie dort eine unerklärliche Röte sich mit dem Schwarz der
versengten Wiesen vermengte.
135
Eine Zeitlang erfaßten wir nicht, ob diese Veränderung
unsere Lage günstiger gestalten würde, wir sahen nur, daß wir
von unserer Furcht vor. dem schwarzen Rauch erlöst waren. Aber
später begriff ich, daß wir nicht mehr aufgehalten seien, und
daß wir unseren Weg weiter verfolgen könnten. Sobald ich
mir klar wurde, daß der. Weg zur Flucht offen stand, kehrte
meine Fähigkeit, zu handeln, wieder zurück. Aber der Kurat
-war wie in einer Erstarrung und keinen Vernunftsgründen zu-
gänglich.
„Wir sind hier ja sicher," rief er unaufhörlich, „ganz
sicher."
Ich beschloß, ihn zu lassen, wo er war. Hätte ich es
nur getan! Durch die Lehren des Artilleristen klüger gemacht,
suchte ich jetzt nach Speise und Trank. Ich hatte Öl und
Linnen für meine Brandwunden gefunden, auch nahm ich einen
Hut und ein Flanellhemd mit mir, das ich in einem der Schlaf-
zimmer gesunden hatte. Als es dem Karaten aufdämmerte,
daß ich willens war, allein fortzugehen, daß ich mich mit dem
Gedanken, allein zu sein, völlig ausgesöhnt hatte, da raffte er
sich plötzlich zu dem Entschlüsse aus, mich zu begleiten. Und
da während des ganzen Nachmittags alles ruhig blieb, brachen
wir, wie ich vermute, um fünf Uhr auf, um bte rauchgeschwärzte
Straße nach Snnbury einzuschlagen.
In Snnbury und in gelegentlichen Zwischenräumen längs
der Straße lagen tote Körper in verzerrten Stellungen — Pferde
sowohl wie Menschen —, ferner umgestürzte Karren und Kisten,
alles mit einer dicken Schicht schwarzen Rauches bedeckt. Diese
Schichten von Aschenpulver erinnerten mich an alles, was ich
über die Zerstörung Pompejis gelesen hatte. Ohne weiteren
Unfall gelangten wir nach Hampton Court; unsere Ge-
danken waren erfüllt von allen den seltsamen und unge-
wohnten Bildern, die wir unterwegs erblickten. In Hampton
Court wurden unsere Augen geradezu von einem Banne erlöst,
als wir einen grünen Rasenfleck entdeckten, der dem erstickenden
Quäln: entgangen war. Wir gingen durch den Busheypark,
136
sahen das. Wild unter den Kastanienbäumen auf und ab gehen
und einige Männer und Frauen, die in weiter Ferne gegen
Hampton zu eilten. Das waren die ersten Leute, die wir sahen.
So kamen wir nach Twickenham.
Als wir über die Straße hinweg blickten, sahen wir, daß
das Gehölz jenseits von Ham und Petersham noch brannte.
Twickenham war sowohl vom Kitzstrahl, wie vom schwarzen
Rauch verschont geblieben, und so fanden wir hier herum schon
mehr Leute, von denen aber niemand uns Neues mitteilen konnte.
Zum größten Teil befanden sie sich in derselben Lage wie wir:
sie benützten eine augenblickliche Ruhe vor den Marsleuten,
um weiter zu fliehen. Ich gewann den Eindruck, daß viele
Häuser noch von eingeschüchterten Menschen bewohnt waren,
die zu erschreckt waren, um nur die Kraft zur Flucht zu besitzen.
Auch hier waren die Anzeichen eines hastig fliehenden Menschen-
haufens in Fülle längs der Straße vorhanden. Sehr lebhaft
erinnere ich mich eines Gewirres von drei zertrümmerten Fahr-
rädern, die von den Rädern nachfolgender Karren in die Erde
gestampft worden waren. Um halb neun Uhr etwa kamen wir
bei der Richmondbrücke an. Wir eilten selbstverständlich, so
rasch wir konnten, über die allen Angriffen sehr ausgesetzte
Brücke; dennoch bemerkte ich eine Anzahl roter Gegenstände,
die, einige Fuß von mir entfernt, den Fluß hinab trieben. Ich
wußte nicht, was jene Gegenstände bedeuteten —- ich hatte keine
Zeit, sie genau zu untersuchen —, aber ich legte ihnen eine viel
grauenhaftere Bedeutung bei, als sie verdienten. Hier, auf
der Surreyseite, sah ich wieder schwarzen Staub, der einmal
Rauch gewesen war und Leichen — einen großen Haufen beim
Eingang zum 'Bahnhof — aber nirgends war ein Marsmann
zu erblicken, bis wir uns in ziemlicher Nähe von Barnes befanden.
Wir sahen in der verdunkelnden Ferne eine Gruppe von
drei Leuten, welche eine Seitenstraße hinab dem Flusse zu-
liefen; sonst aber schien alles verödet. Im oberen Hügelviertel
brannte die Stadt Richmond lichterloh;, außerhalb Richmonds
war keine Spur des schwarzen Rauches zu entdecken.
137
Plötzlich, als wir uns schon Kew näherten, kam uns eine
Anzahl Leute entgegengelaufen, und, nicht hundert Dards von
uns entfernt, sahen wir die Oberteile der Kriegsmaschine eines
Marsmannes über die Hausdächer aufragen. Angesichts dieser
drohenden Gefahr standen wir wie versteinert da, und hätte
der Marsmann herabgeblickt, wären wir rettungslos verloren
gewesen. Wir waren so entsetzt, daß wir nicht wagten, weitex
zu gehen, sondern uns seitwärts wandten und uns in den Ver-
schlag eines Gartens versteckten. Leise vor sich hin weinend,
verkroch sich der Kurat und weigerte sich, wieder weiterzu-
gehen.
Aber ich hatte mich so fest in den Gedanken, Leatherhead
zu erreichen, eingesponnen, daß ich mir keine Rast erlaubte;
und im Zwielicht wagte ich mich wieder hinaus. Ich schlug
mich durch ein Gebüsch, das einen Laubengang entlang auf dem
Grundstück eines großen Hauses lief, und tauchte so auf der
Straße, die nach Kew führte, wieder auf. Den Kuraten ließ ich
im Verschlag, aber er hastete mir eilends nach.
Dieser zweite Aufbruch war das Aberwitzigste, was ich je
unternahm. Denn es war offenbar, daß die Marsleute hier
um uns herumschwärmten. Kaum hätte der Kurat mich ein-
geholt, als wir entweder dieselbe Kriegsmaschine, die wir früher
gesehen hatten, oder eine andere, in ziemlich großer Entfernung,
über die Wiesen in der Richtung nach dem Parkhause von Kew
fahren sahen. Vier oder fünf kleine, schwarze Gestalten liefen
über die grünlichgraue Fläche des Feldes vor ihr davon, und
im Nu war es mir klar, daß der Marsmann sie verfolgte. Mit
drei Schritten war er mitten unter ihnen, und sie stoben nun
nach allen Richtungen auseinander. Er gebrauchte nicht den
Hitzstrahl, um sie zu vernichten, sondern las sie, einen nach dem
anderen, auf. Ich glaubte zu erkennen, wie er sie in den großen,
metallischen Behälter schleuderte, der hinter ihm vorragte, ganz
so, wie ein Tragkorb, der über der Schulter eines Arbeites
hängt.
Zum ersten Male kam mir jetzt der Gedanke, daß die Mars-
138
leute noch andere Zwecke verfolgten, als die Vernichtung der
besiegten Menschheit. Wir standen einen Augenblick lang wie
versteinert da, dann kehrten wir um und flüchteten uns durch
ein hinter uns befindliches Tor in einen von Mauern um-
gebenen Garten. In einem Graben, der sich zu unserem Glück
dort vorfand und in den wir mehr hineinstürzten, als hinab-
stiegen, hielten wir uns versteckt. Bis nicht die Sterne am
Himmel standen, wagten wir kaum, flüsternd miteinander, zu
sprechen.
Ich glaubte, daß es nahezu elf Uhr nachts war, ehe wir
genug Mut faßten, um abermals aufzubrechen. Diesmal aber
wagten wir uns nicht mehr auf die Straße hinaus, sondern
schlichen uns an Hecken entlang, oder durch Baumpflanzungen
hindurch; dabei spähten wir scharf in die Dunkelheit nach den
Marsleuten aus, die rings um uns her.um zu schwärmen
schienen. Der Kurat wachte zur Rechten und ich zur, Linken.
Einmal stolperten wir über eine versengte und rauchgeschwärzte
Rasenfläche, die aus ausgekühlter Asche bestand, und taumelten
über eine Anzahl menschlicher Leichname, deren Köpfe und
Leiber grauenhaft verbrannt, deren Beine und Stiefel aber
in den meisten Fällen unversehrt geblieben waren; dann stießen
wir auf tote Pferde, die etwa fünfzig Fuß hinter einer Gruppe
von vier zertrümmerten Geschützen und zerschellten Lafetten
lagen.
Das Dorf Sheen war offenbar von der Zerstörung ver-
schont geblieben, aber der Ort war still und verlassen. Hier
trafen wir auf keine Toten, doch war die Nacht zu dunkel, um
uns einen Einblick in die Seitengassen des Dorfes zu erlauben.
In Sheen klagte mein Gefährte plötzlich über Schwäche und
Durst; und so beschlossen wir, in eines der Häuser einzudringen.
Das, erste Gebäude, das wir, nach einigen Schwierigkeiten
mit dem Fenster, betraten, war ein kleines, halb freistehendes
Landhaus; aber im ganzen Hause war nichts Eßbares übrig-
geblieben, als etwas schimmeliger Käse. Doch fanden wir Wasser,
um unseren Durst zu löschen. Ich nahm noch ein Beil Mit mir,
139
das bei unserem nächsten Hauseinbruch von Nutzen zu sein ver-
sprach.
Nach einer Wegkreuzung gelangten wir an einen Platz,
von dem die Straße nach Mortlake abbiegt. Hier nun stand
ein weißes Haus in eineni eingefriedeten Garten. In der Speise-
kammer dieses Hauses fanden wir Eßvorräte — zwei Brotlaibe,
in einer Schüssel ein rohes Stück Fleisch und einen halben
Schinken. Ich gebe dieses Verzeichnis deshalb so genau an,
weil es sich fügte, daß wir in den nächsten zwei Wochen von
diesem Vorrat unser Leben zu fristen verurteilt waren. Einige
Flaschen Bier standen in einem Fach, in dem wir auch zwei
Säcke welscher Bohnen und etwas welken Salat fanden. Diese
Speisekammer führte in eine Art Waschkammep, in der sich ge-
spaltetes Holz vorfand; wir entdeckten auch einen Verschlag, in
dem wir fast ein Dutzend Flaschen Burgunderwein, einige Zinn-
büchsen mit Suppenwürzen und Lachs und zwei Zwiebackbüchsen
fanden.
Wir saßen in der anstoßenden Küche ganz im Finstern —
denn wir wagten nicht, Licht zu machen — aßen Brot und
Schinken und tranken Bier aus einer Flasche. Diesmal war
es der noch immer verschreckte und rastlose Kurat, der, wunder-
lich genug, zum augenblicklichen Aufbruch drängte. Ich redete
ihm eben dringend zu, durch eine Mahlzeit seine Kräfte zu
sammeln, als sich der Vorfall ereignete, der uns zu Gefangenen
machte.
„Es kann noch nicht Mitternacht sein", sagte ich; und wäh-
rend ich noch sprach, zuckte ein blendender Schein auf, der von
einem lebhaften grünen Licht begleitet war. Jeder Gegenstand
in der Küche trat blitzschnell und ganz deutlich grün und schwarz
heraus, um sofort wieder zu verschwinden. Und dann erfolgte
eine derartige Erschütterung, wie ich sie weder vorher, noch
nachher je erlebt habe. So unmittelbar darauf, daß es fast
gleichzeitig schien, hörte ich hinter mir einen Aufschlag, ein
Klirren von Glas, ein Krachen und Prasseln rings um uns
einstürzenden Mauerwerks; gleich darauf fiel der Mörtel der
140
Decke auf uns herab und zerschellte auf unseren Köpfen in eine
Unzahl kleiner Bruchstücke. Ich stürzte der Länge nach auf den
Boden, fiel mit dem Kopfe gegen die Ofentür und verlor mein
Bewußtsein. Wie mir der Kurat erzählte, war ich lange Zeit
besinnungslos, und als ich wieder zu mir kam, beugte sich mein
Gefährte mit einem Gesicht, das, wie ich später fand, infolge
einer Stirnwunde von Blut durchnäßt war, über mich und be-
sprengte mich mit Wasser.
Einige Zeit lang konnte ich nicht begreifen, was geschehen
war. Aber allmählich dämmerte es mir. Eine Beule an meiner
Schläfe trug das ihre dazu bei.
„Fühlen Sie sich besser?" fragte der Kurat flüsternd.
Endlich konnte ich ihm antworten. Ich setzte mich auf.
„Rühren Sie sich nicht", sagte er. „Der Boden ist mit
Splittern dech Geschirrs bedeckt, das aus diesem Schrank fiel.
Sie können sich auch unmöglich bewegen, ohne Lärm zu machen.
Und ich glaube, s i e sind draußen."
Wir saßen beide ganz still da, so daß einer kaum des anderen
Atem hörte. Alles schien totenstill, nur einmal fiel etwas, viel-
leicht Mörtel oder gebrochenes Ziegelwerk, neben uns mit ziem-
lich starkem Geräusch zu Boden. Draußen, aber ganz in
unserer Nähe, hörten wir ein stellenweise aussetzendes, metal-
lisches Geklirr.
„Hören Sie?" flüsterte der Kurat, als es gleich wieder ver-
nehmlich war.
„Ja", sagte ich. „Aber was ist es?"
„Ein Marsmann!" sagte der Kurat.
Ich lauschte wieder.
„Es sah nicht wie der Hitzstrahl aus", sagte ich; und eine
Zeitlang gab ich mich der Vermutung hin, eine der großen
Kriegsmaschinen wäre gegen das Haus angerannt, so ähnlich,
wie ich eine gegen den Kirchturm von. Shepperton anrennen
gesehen hatte.
Unsere Lage war so wunderlich, so unbegreiflich, daß wir
drei oder vier Stunden lang, bis es dämmerte, uns kaum
141
rührten. Zögernd flutete das Licht herein, nicht durch das
Fenster, sondern durch eine dreieckige Öffnung zwischen einem
Balken und einem Kaufen zerbröckelter Ziegel in der Mauer
hinter uns. Zum ersten Male sahen wir in grauer Dämmerung
das. Innere der Küche.
Das Fenster war durch eine Masse Gartenerde eingedrückt
worden, die über den Tisch, auf dem wir saßen, herabrieselte
und sich um unsere Beine legte. Draußen war der. Boden hoch
gegen das Haus zu aufgeworfen. Am oberen Ende des Fenster-
rahmens konnten wir eine aufgerissene Dachrinne bemerken.
Der Boden war von gebrochenem Gerümpel aller Art dicht be-
deckt. Ein Teil der gegen die Hausmauer zu gelegenen Küchen-,
wand war eingestürzt; und nun, da das Tageslicht voll herein-
sah, wurde es uns klar, daA der größere Teil des Hauses zer-
trümmert war. Einen lebhaften Gegensatz zu dieser Verwüstung
bot der zierliche Anrichttisch, der nach der Mode blaßgrün ge-
strichen war und eine Anzahl Kupfergeschirre und Zinnkrüge
enthielt. Die Tapete bestand in einer Nachahmung blauer und
weißer Ziegel, und ein paar farbige Bögen flatterten von den
Wänden über den Küchenherd herab.
Als die Dämmerung fortschritt, sahen wir durch den Spalt
in der Mauer die Gestalt eines Marsmannes, der., wie ich
vermute, bei dem noch glühenden Zylinder Wache stand. Bei
diesem Anblick krochen wir so behutsam als möglich aus dem
Zwielicht der Küche in die. Dunkelheit der Waschkammer zurück.
Ganz unvermittelt dämmerte in mir nun die richtige Aus-
legung der nächtlichen Vorfälle auf.
„Der fünfte Zylinder", flüsterte ich, „das fünfte Geschoß
vom Mars hat dieses Haus gestreift und uns unter seinen Trüm-
mern begraben!"
Einige Zeit blieb der Kurat still, dann flüsterte er:
„Gott, erbarme dich unser!"
Dann hörte ich, wie er still vor sich hin wimmerte.
Von diesen Lauten abgesehen, lagen wir ganz still in der
Waschkammer. Ich für meinen Teil wagte kaum zu atmen und
142
saß da, mit meinen Augen unverwandt nach dem schwachen
pichte der Küchentür starrend. Ich konnte gerade noch das ,
Gesicht des Kuraten unterscheiden, eine undeutliche, ovale Fläche;
außerdem noch seinen Kragen und seine Manschetten. Draußen
begann jetzt ein Hämmern, wie auf Metall, dann ein heftiges
Geheul, und dann nach einer kurzen Stille ein Zischen, wie
das Zischen einer Maschine. Diese zum größten Teil rätsel-
haften Geräusche setzten sich mit geringen Unterbrechungen fort,
und schienen womöglich im Laufe der Zeit an Zahl zuzunehmen.
Jetzt hörte man ein gemessenes Aufschlagen, und die Erschütterung,
die folgte, ließ alles um uns herum erbeben. Das Geschirr
in der Speisekammer klirrte und tanzte. Das dauerte lange
so fort. Einmal erlosch das Tageslicht völlig, und der geister-
hafte Kücheneingang tauchte in vollständige Dunkelheit unter.
Viele Stunden lang müssen wir dort schweigend und fröstelnd
gekauert sein, bis endlich unsere ermattete Aufmerksamkeit er-
lahmte ...
Endlich erwachte ich, von nagendem Hunger gequält. Ich
muß wohl annehmen, daß der größere Teil eines Tages vor
jenem Erwachen vergangen war. Mein Hunger war mit einem
Male so heftig, daß er mich zum Handeln trieb. Ich sagte dem
Kuraten, daß ich nach Nahrung suchen wolle und tastete mich
leise nach der Speisekammer durch. Er gab keine Antwort, aber
sobald ich zu essen begann, veranlaßte ihn das leise Geräusch,
das ich machte, aufzustehen und mir nachzukriechen.
II.
Was wir von dem zerstörten Äause aus erblickten.
Nach dem Essen krochen wir wieder in die Waschkammer !
zurück; dort muß ich wieder eingeschlummert sein, denn als ich
erwachte, fand ich mich allein. Das Aufschlagen und die Er-
schütterung dauerten mit ermüdender Hartnäckigkeit an. Mehrere
Male rief ich flüsternd nach dem Kuraten; endlich tastete ich
mich nach der Küchentür hin. Noch war es Tag und ich bemerkte
143
meinen Gefährten, wie er am anderen Ende der Küche gegen
das dreieckige Loch zu, das auf die Marslente hinabsah, aus-
gestreckt lag. Seine Schultern waren in die Höhe gezogen, so
daß ich seinen Kopf nicht sehen konnte.
Ich vernahm ein Gewirr von Geräuschen, die fast an den
Lärm erinnerten, der aus einem Lokomotiv- — schuppen tönt.
Der Boden schwankte unter den heftigen Schlägen. Durch die
Maueröffnung konnte ich den von der Sonne vergoldeten Wipfel
eines Baumes und das warme Blau eines friedlichen Abend-
himmels sehen. Eine Minute etwa blieb ich stehen und be-
obachtete den Kuraten, dann schritt ich gebückt weiter und be-
mühte mich, mit äußerster Behutsamkeit durch die Mengen von
Scherben zu gehen, die den Boden bedeckten.
Ich berührte das Bein des Kuraten und er schreckte so
heftig zurück, daß sich draußen eine Menge Mörtel loslöste
und mit lautem Geräusch zu Boden fiel. Aus Furcht, er könnte
schreien, packte ich seinen Arm, und lange Zeit kauerten wip
bewegungslos nebeneinander. Dann wandte ich mich, um zu
sehen, wieviel noch von unserer Festung stehengeblieben war.
Die Loslösung des Mörtels hatte einen senkrechten Spalt in
der zerstörten Mauer gebildet, und indem ich mich vorsichtig über
einen Balken beugte, war ich imstande, von dieser Lücke aus
das zu erblicken, was vorige Nacht noch eine stille Vorstadt-
straße gewesen war. Die Veränderung, die wir erblickten, war
in der Tat erstaunlich.
Der fünfte Zylinder muß mitten in das Haus hineinge-
fahren sein, das wir zuerst betreten hatten. Das Gebäude war
verschwunden, vollkommen zerschmettert, durch die Wucht des
Stoßes zermalmt und zerstoben. Der Zylinder lag nun weit
unter den ursprünglichen Grundmauern, tief in einem Loch
drin, das noch unendlich größer war ,als die Grube, in die
ich bei Woking hineingeblickt hatte. Die Erde rings um den
Zylinder herum war bei der ungeheuren Wucht des Einfalls
aufgespritzt — „gespritzt" sage ich, das ist der einzige, zu-
treffende Ausdruck — und lag in aufgetürmten Haufen da,
— 144
welche die Nebenhäuser verbargen. Sie war gewichen wie Lehm
unter dem Aufschlag eines mächtigen Hammers. Unser Haus
war nach rückwärts eingesunken, sein vorderer Teil, selbst im
Erdgeschoß, war vollständig zerstört; durch einen Zufall blieben
die Küche und die Waschkammer unversehrt, lagen aber unter
dem Boden und unter den Trümmern begraben, ans allen
Seiten, außer der nach dem Zylinder zugewendeten, von Erd-
massen bedeckt. Über all dem hingen wir nun dicht am Rande !
der großen, kreisrunden Grube, die zu erweitern die Marsleute |
eifrig beschäftigt waren. Das heftige, stoßende Geräusch war
offenbar hart neben uns, und dann und wann zog ein glän- !
zender, grüner Dampf wie ein Schleier über unser Guckloch
hin aufwärts.
Im Mittelpunkt der Grube war der schon geöffnete Zylinder
und am anderen Ende, mitten in einem zerrissenen und mit
Kies bedeckten Gebüsch stand eine der großen Kriegsmaschinen.
Sie war von ihrem Lenker verlassen und hob sich mächtig vom
Abendhimmel ab. Anfangs bemerkte ich kaum die Grube, noch
den Zylinder (ich hielt es nur für gut, sie zuerst zu beschreiben).
Mein Blick wurde besonders durch die ungewöhnlich glitzernden,
mit der Aushöhlung beschäftigten Mechanismen und durch die
seltsamen Geschöpfe gefesselt, die langsam und schwerfällig über
den angehäuften Lehm krochen.
Die mechanischen Werkzeuge waren es, die meine Aufmerk-
samkeit zunächst in Beschlag nahmen. Das Werkzeug, das ich
jetzt sah, war eines jener komplizierten Erzeugnisse, die man
seither Handhabe-Maschinen genannt hat, und deren Studium
zu einem ungeheuren Ansporn für die irdische Erfindungskraft
geworden ist. Als es mir zuerst zu Gesicht kam, machte es mir
den Eindruck einer metallenen Spinne mit fünf gegliederten und
leicht beweglichen Beinen, mit einer außergewöhnlichen Anzahl
zusammengefügter Hebel und Riegel und mit langenden und
greifenden Fühlern an seinem Körpep. Die meisten Arme der
Maschine waren eingezogen, aber mit drei langen Fühlern
fischte sie eine Anzahl Stäbe, Platten und Riegel heraus, -die
145
offenbar die Kraft seiner Hände verstärkten. Sobald die Ma-
schine diese Gegenstände herausgehoben hatte, legte sie alle auf
eine mit deni Erdboden gleichlaufende Fläche hinter ihr.
Ihre Bewegungen waren so schnell, so gut ineinander-
greifend, so vollkommen, daß ich sie trotz ihres metallischen Ge-
funkels gar nicht für eine Maschine hielt. Die Kriegsmaschinen
waren zusammengesetzt und bis zu einem' außergewöhnlichen
Grade belebt worden, aber mit dieser Maschine können sie
nicht verglichen werden. Leute, die ihr Gefüge nie gesehen haben,
oder die keinen anderen Vorstellungsbehelf besitzen, als die man-
gelhaften Studien von Künstlern oder die unvollkommenen Be-
schreibungen von Augenzeugen, wie ich es bin, können sich nur
schwer ein Bild jenes lebendigen Gefüges machen.
Ich entsinne mich besonders des Bildes in einer der ersten
Schriften, die eine zusammenhängende Darstellung des Krieges
enthielten. Der Künstler hatte offenbar einen flüchtigen Umriß
von einer der Kriegsmaschinen gemacht, und damit hörten seine
Kenntnisse auf. Er stellte sie dar als steife, mit einem Dach
versehene Dreifüße, ohne Biegsamkeit und Gewandtheit, mit
einer irreführenden Eintönigkeit in ihrer Wirkung. Die Schrift,
welche diese Schilderung enthielt, hatte einen bedeutenden Ruf,
und ich erwähne sie hier nur, um den Leser vor den Eindrücken
zu warnen, die sie hervorgebracht haben mag. Dieses Bild
glich den Marsleuten, die ich in Tätigkeit sah, um kein Haar
mehr, als etwa eine Puppe einem menschlichen Wesen. Für
meine Begriffe hätte die Schrift ohne das Bild an Wert ge-
wonnen.
Anfangs machte mir, wie gesagt, die Handhabemaschine
nicht den Eindruck einer Maschine, sondern den eines krebs-
artigen Geschöpfes mit einer funkelndem Deckhaut; der über-
wachende Marsmann, dessen zarte Fühlfäden ihre Bewegungen
leitete, schien einfach der Ersatz der Gehirnteile eines Krebses
zu sein. Aber dann bemerkte ich die Ähnlichkeit seiner grau-
braunen, öligen, lederartigen Oberhaut mit jener der unten
umherkriechenden Körper, und jetzt erst ging mir ein Licht über
Wells, Der Krieg der Welten - ' c‘ 10
— 146 —
die wahre Art dieses geschickten Arbeiters auf. Nach dieser Fest-
stellung wandte sich meine Aufmerksamkeit jenen anderen Ge-
schöpfen zu, den eigentlichen Marsleuten. Ich hatte ja schon
einmal einen flüchtigen Eindruck von ihnen gewonnen, und das
ursprüngliche Gefühl des Ekels konnte meine Beobachtung nicht
mehr trüben. Überdies war ich ja verborgen und regungslos,
und war von keinem Zwang, zu handeln, bestimmt.
Die Marsleute waren, wie ich jetzt sehen konnte, Geschöpfe,
deren Bau allen irdischen Begriffen Hohn sprachen. Ungeheure
runde Körper — oder besser gesagt, Köpfe — etwa vier Fuß
im Durchmesser. Jeder dieser Körper hatte mitten auf seiner
Vorderseite ein Gesicht. Dieses Gesicht hatte keine Nasenlöcher
— den Marsleuten schien in der Tat jeder Geruchssinn gefehlt
zu haben — aber es hatte ein Paar sehr großer, dunkelgefärbter
Augen und gerade darunter eine Art fleischigen Schnabels.
Auf der Rückseite dieses Kopfes oder Körpers — ich weiß kaum,
wie ich es nennen soll — befand sich eine einzige straffe, trommel-
fellartige Fläche, die seither anatomisch als Ohr bezeichnet wurde,
obwohl sie in unserer dichteren Luft fast nutzlos gewesen sein
muß. In einer Gruppe um die Mundöffnung herum hingen
sechzehn zarte, fast peitschenartige Fühlfäden herab, auf jeder
Seite zwei Büschel zu acht. Diese Büschel wurden seither von
dem ausgezeichneten Anatomen, Professor Howes, sehr zutreffend
„Hände" genannt. Schon als ich diese Marsleute zum ersten
Male sah, machte es mir den Anschein, als bemühten sie sich,
mit Hilfe dieser Hände sich aufzurichten. Aber infolge des
vergrößerten Gewichts in der Erdatmosphäre war es ihnen na-
türlich unmöglich. Es ist Grund genug für die Annahme vor-
handen, daß sie sich auf dem Mars mit ziemlich großer Leich-
tigkeit auf ihnen fortbewegen konnten.
Der Bau ihres inneren Körpers — es sei mir gestattet,
dieses hier zu bemerken — war, wie der anatomische Befund
seither lehrte, fast ebenso einfach. Den größten Teil ihr.es Ge-
füges nahm das Gehirn ein, das ungeheure Nervenstränge zu
den Augen, den Ohren und den Tastwerkzeugen aussendete.
— 147
Außerdem waren vollständige Lungen, in die sich die Mund-
höhle öffnete, das Herz und seine Gefäße vorhanden. Die Stö-
rung ihrer Atmungsorgane, die durch die dichtere Luft und
die größere Anziehungskraft der Erde hervorgerufen wurde,
konnte nur zu deutlich an den heftigen Bewegungen der äußeren
Haut wahrgenommen werden.
Und damit ist die Aufzählung der Organe der Marsleute
erschöpft. So seltsam es auch einem menschlichen Wesen scheinen
mag, das verwickelte Gefüge der Verdauungswerkzeuge, das den
Hauptbestandteil unseres Körpers bildet, war bei den Mars-
leuten überhaupt nicht vorhanden. Sie waren Köpfe, nichts als
Köpfe. Sie hatten keine Eingeweide. Sie aßen nicht, brauchten
also auch nicht zu verdauen. Statt dessen nahmen sie das
frische, lebende Blut anderer Geschöpfe und führten es in ihre
eigenen Adern ein. Ich habe selbst gesehen, wie das vor sich
ging, und werde es an der geeigneten Stelle mitteilen. Aber,
so empfindelnd es klingen mag, ich kann es nicht über mich
bringen, das ausführlich zu beschreiben, was länger zu be-
obachten ich nicht imstande war. Dies möge genügen: Das
einem noch lebenden animalischen Wesen, in den meisten Fällen
einem Menschen, entzogene Blut wurde mittels eines kleinen
Röhrchens in den Aufnahmekanal eingeführt.
Die bloße Vorstellung dieses Vorganges erscheint uns ohne
Zweifel grauenhaft und abstoßend, aber wir sollten uns, denke
ich, Zugleich erinnern, wie widerwärtig unsere fleischfressenden Ge-
wohnheiten einem vernunftbegabten Kaninchen erscheinen würden:
Die physiologischen Vorteile dieses Gebrauches, Blut einzu-
führen, sind unleugbar, wenn man an die ungeheure Vergeu-
dung menschlicher Zeit und menschlicher Kräfte denkt, die durch
den Nahrungs- und den Verdauungsprozeß verursacht wird.
Unser Körper besteht zur Hälfte aus Drüsen und Röhren und
Werkzeugen, die damit beschäftigt sind, andersgeartete Nahrung
in Blut zu verwandeln. Die Beschaffenheit unserer Verdauung
und ihre Rückwirkung auf unser Nervensystem saugen unsere
Kräfte auf und geben unserer Gemütsart ihre Färbung. Die
10*
148
Leute sind glücklich oder elend, je nachdem sie eine heile oder
kranke Leber oder gesunde gastrische Drüsen besitzen. Die Mars-
leute aber waren über alle diese Wechselfälle in Stimmungen und
Empfindungen erhaben.
Ihre unbestreitbare Vorliebe für Menschen als Quellen
ihrer Ernährung ist zum Teil erklärt durch die Beschaffenheit
der Überbleibsel jener Opfer, die sie als Wegzehrung vom Mars
mitgebracht hatten. Soweit man nach den eingeschrumpften
Überbleibseln, die in menschliche Hände fielen, schließen kann,
waren diese Geschöpfe Zweifüßer mit brüchigen, verkiesten
Knochengerüsten (ähnlich denen verkiester Schwämme), von
schwacher Muskelbildung; sie waren im Durchschnitt sechs Fuß
hoch, besaßen runde, aufrechte Köpfe und große Augen in schiefer-
artigen Höhlen. Zwei oder drei von ihnen scheinen in jedem
Zylinder mitgebracht worden zu sein; alle wurden getötet, bevor
sie die Erde ■ erreichten. Für sie war es wohl ebensogut, denn
nur der bloße Versuch, auf unserem Stern aufrecht zu stehen,
hätte jeden Knochen in ihren Leibern gebrochen. .
Weil ich schon daran bin, diese Beschreibung zu machen,
will ich noch an dieser Stelle einige weitere Einzelheiten hinzu-
fügen, die, wenn sie uns damals auch noch unbekannt waren,
doch den Leser, der mit dem Leben der Marsleute nicht vertraut
ist, in den Stand setzen werden, sich von diesen gefährlichen Ein-
dringlingen eine deutlichere Vorstellung zu machen.
In drei anderen Punkten wich ihre Lebensweise seltsam von
der unseren ab. Ihre Organismen schliefen ebensowenig, wie
das Herz des Menschen schläft. Da sie nicht die Erholung von
nennenswerten, körperlichen Anstrengungen wiederzuerlangen,
brauchten, war dieses zeitweilige Erlöschen ihnen unbekannt.
Das Gefühl der Ermüdung besaßen sie nur in geringem Maße
oder wahrscheinlich gar wicht. Auf der Erde können sie sich nie
ohne Anstrengung bewegt haben, und doch waren sie bis zum
letzten Augenblick in Tätigkeit. Während vierundzwanzig Stun-
den taten sie vierundzwanzigstündige Arbeit, so wie es auf
Erden vielleicht bei den Ameisen der Fall ist.
149
Ferner, so wunderbar es in einer geschlechtlichen Welt er-
scheinen mag, waren die Marsleute durchaus geschlechtslos und
daher von allen den heftigen Erregungen frei, die in diesem
Unterschiede zwischen den Menschen ihren Ursprung besitzen. Es
kann heute nicht mehr bestritten werden, daß während des Krieges
ein Marskind auf der Erde geboren wurde; man fand es mit
seinem Erzeuger verwachsen, teilweise abknospend, genau so,
wie kleine Lilienzwiebel abknospen, oder die Jungen eines Süß-
wasserpolypen.
Bei dem Menschen, wie bei allen höheren organisierten irdi-
schen Lebewesen, ist diese Art von Fortpflanzung verschwunden;
aber selbst auf dieser Erde war sie gewiß die ursprüngliche Art.
In der niederen Tierwelt, selbst bei jenen ersten Verwandten
der Wirbeltiere, den Tunikaten, kommen beide Vorgänge neben-
einander vor. Schließlich aber trug doch die geschlechtliche Ver-
mehrung über ihren Mitbewerber vollständig den Sieg davon.
Auf dem Mars indessen ist offenbar gerade das Gegenteil der
Fall gewesen.
Es verdient, hier hervorgehoben zu werden, daß ein fin-
diger Kopf von angeblich wissenschaftlichem Ruf, der lange vor
dem Einfall der Marsleute schrieb, den Menschen ein künftiges
System vorhergesagt hat, das jenem nicht unähnlich war, das
tatsächlich auf dem Mars herrschte. Seine Prophezeiung erschien,
wenn ich mich recht erinnere, im November oder im Dezember
1893 in einer längst verschollenen Zeitschrift, dem „Pall Mall
Budget“, und auch eine Karrikatur davon kommt mir jetzt
in .Erinnerung, die in einem prämarsianischen Witzblatt,
dem „Punch", stand. Der Schreiber wies in einem albern
witzelnden Tone darauf hin, daß die Vervollkommnung der
angewandten Mechanik schließlich die Glieder und die Ver-
vollkommnung der Chemie die Verdauung überflüssig machen
würden; daß solche Organe, wie Haare, äußere Nasen, Zähne,
Ohren, Kinn, nicht länger wesentliche Teile des menschlichen
Körpers sein würden, und daß in den kominenden Geschlechtern
der Zug der natürlichen Zuchtwahl in der Richtung ihrer steti-
150
gen Abnahme liegen würde. Das Gehirn allein würde die
Hauptnvtwendigkeit bleiben. Nur noch ein Teil hes mensch-
lichen Körpers würde die Berechtigung besitzen, die übrigen zu
überleben, und der sei die Hand, „der Lehrer und Lenker des
Gehirns". Während der übrige Leib verkümmern und ver-
schwinden würde, würden die Hände immer größer werden.
In diesen Worten, wenn gleich im Scherz niedergeschrie-
ben, findet sich manches Wahre; und hier bei den Marsleuten
haben wir ohne Widerrede die tatsächliche Erfüllung jener Unter-
drückung der animalischen Seite des Organismus durch die
Vergeistigung gefunden. Es scheint mir ganz glaubwürdig, daß
die Marsleute von Wesen abstammen mögen, die uns nicht
unähnlich waren, und zwar durch die allmählige Weiterent-
wicklung ihrer Gehirnteile und Hände (die letzteren nahmen
endlich die Gestalt jener zwei Büschel zarter Fühlfäden an) auf
Kosten des übrigen Körpers. Ohne den Leib mußte das Gehirn
selbstverständlich ein bei weitem selbstsüchtigeres Geistesvermögen
werden, als ohne die Gefühlsunterlage des menschlichen Wesens.
Der dritte springende Punkt, in dem die Daseinsbedin-
gungen jener Geschöpfe von den unseren abwichen, ist in einer
Tatsache zu suchen, die manchem vielleicht als eine sehr neben-
sächliche Besonderheit scheinen wird. Mikroorganismen, die so
viel Krankheit und Schmerz auf Erden hervorrufen, haben sich
auf dem Mars entweder nie gezeigt oder sind durch die hygie-
nische Wissenschaft der Marsbewohner schon vor Zeiten aus-
gerottet worden. Alle die Hunderte von Leiden, die Fieber-
arten und ansteckenden Krankheiten, Auszehrung, Krebs, Tumor
und ähnliche Leiden, drängen sich niemals, ihr Dasein hem-
mend, in ihr Leben. Und da ich schon von den Unterschieden
zwischen dem Leben auf dem Mars und dem irdischen Leben
spreche, möchte ich hier auch die seltsamen Vermutungen in
der Frage des „roten Gewächses" erwähnen.
Offenbar ist das Pflanzenreich auf dem Mars, statt als
vorherrschende Farbe das Grün zu besitzen, stark blutrot gefärbt.
Auf alle Fälle brachten die Samen, welche die Marsleute ab-
151
sichtlich oder zufällig mitführten, ohne Ausnahme rotfärbige
Pflanzen hervor. Indessen konnte nur jene Pflanze, die
im.Volksmunde als „rotes Gewächs" bekannt wurde, neben den
irdischen Arten Ausbreitung gewinnen. Die rote Schlingpflanze
besaß nur ein vorübergehendes Wachstum, und nur wenige
Leute haben sie gesehen. Eine Zeitlang jedoch wuchs das „rote
Gewächs" mit erstaunlicher Kraft und Üppigkeit. Es breitete
sich über die Ränder der Grube am dritten oder vierten Tage
unserer Gefangenschaft aus, und seine kaktusartigen Zweige leg-
ten sich wie Fransen um den Mauerrahmen unseres dreieckigen
Fensters. Später fand ich es allenthalben im Lande verbreitet,
ganz besonders dort, wo sich fließendes Wasser befand.
Die Marsleute besaßen, was man ein Hörwerkzeug nennen
kann, eine einzige runde, trommelartige Fläche am Rücken ihres
Kopf-Leibes, außerdem auch Augen von einer Sehbeschaffenheit,
die sich von der unseren nicht sehr unterschied; außer daß, nach
Philips, die Farben Blau und Violett ihnen als Schwarz er-
schienen. Man nimmt allgemein an, daß sie durch gewisse
Laute und Bewegungen ihrer Fühlfäden miteinander verkehrten;
dies wird zum Beispiel in jener, von einer fähigen, aber ober-
flächlichen Hand verfaßten Schrift behauptet (die offenbar von
jemandem geschrieben ist, der kein Augenzeuge der Handlungen
der Marsleute war); ich habe auf diese Schrift als die bisher
verläßlichste Quelle für jene Ereignisse hingewiesen. Nun aber
hat wohl kein überlebender Mensch soviel von den in Tätigkeit
begriffenen Marsleuten gesehen, wie ich. Ich bin weit ent-
fernt, mich dieses Zufalles zu rühmen, aber es ist eine Tatsache.
Und ich darf wohl behaupten, daß ich von Zeit zu Zeit sie
scharf beobachtet habe, und daß ich vier, fünf und einmal sechs
von ihnen gesehen habe, wie sie mit äußerster Schwerfälligkeit die
allerfeinsten und mühsamsten Arbeiten gemeinsam verrichteten,
ohne jeden Laut, ohne jede Gebärde. Ihr eigentümliches Geheul
ging ausnahmslos nur ihren Mahlzeiten voran. Es war durchaus
eintönig und bedeutete, wie ich glaube, auf keinen Fall ein Signal,
sondern einfach den Austritt von Luft, der den Vorgang der
152
Bluteinführung einleitete. Ich kann einen gewissen Anspruch
auf eine wenigstens oberflächliche Kenntnis von Psychologie er-
heben, und was diese Frage betrifft, so bin ich überzeugt —
so fest, wie ^nan nur vou einer Sache überzeugt sein kann —
daß die Marsleute ohne jede physische Vermittelung ihre Ge-
danken austauschten. Davon bin ich trotz einer starken Vor-
eingenommenheit überzeugt. Vor dem Einfall der Marsleute
habe ich nämlich, wie sich ein gelegentlicher Leser vielleicht
hier und da erinnern wird, mit einiger Heftigkeit gegen die.
telepathische Theorie geschrieben.
Die Marsleute trugen keinerlei Kleidung. Ihre Begriffe
von Schmuck und Anstand waren notwendig von den unseren
verschieden. Auch waren sie offenbar nicht nur gegen den Wit-
terungswechsel viel weniger empfindlich, als wir es sind, und
dieser scheint ihre Gesundheit überhaupt nicht ernstlich gefährdet
zu haben. Aber wenn sie auch keine Kleider trugen, so waren
es doch jene anderen künstlichen Zutaten ihrer körperlichen Fä-
higkeiten, in denen ihre große Überlegenheit über die Menschen
bestand. Wir Menschen mit unseren Fahrrädern und Schlitt-
schuhen, unseren Flugmaschinen, Flinten und Stöcken und so
weiter, stehen gerade an der Schwölle jener Entwicklung, welche
die Marsleute bereits hinter sich haben. . Sie sind tatsächlich
eine bloße Gehirnmenge geworden, besitzen Körper, die ihren
Bedürfnissen angepaßt sind, genau so, wie Menschen ihre Stoff-
anzüge tragen, oder nach dem Fahrrade greifen, wenn sie in Eile
sind, oder nach dem Regenschirm, wenn es regnet.
In bezug auf die Hilfsmittel der Marsleute ist für die
Menschen vielleicht nichts wunderbarer, als die merkwürdige
Tatsache, daß ihnen jener Mechanismus, der der irdischen Technik
das hervorragendste Gepräge verleiht, vollständig fehlt: das Rad.
Unter allen den Dingen, die sie auf die Erde mitbrachten, ist
nicht die leiseste Spur zu entdecken, die den Gebrauch von Rädern
andeutete. Man hätte es wenigstens als Fortbewegungsmittel
erwarten können. In diesem Zusammenhang schalte ich die
sonderbare Beobachtung ein, daß selbst auf unserer Erde die
153
Natur niemals auf das Rad abzielte, oder irgendwelche Vor-
aussetzungen zu einer Entstehung schuf. Und die Marsleute
kannten entweder das Rad nicht (was ich für unwahrscheinlich
halte), oder sie benützten es nicht. Jedenfalls ist in ihren
Werkzeugen die fixe oder die relativ fixe Achse mit den um sie
herum stattfindenden kreisenden Bewegungen auffallend wenig
in Verwendung. Fast alle Glieder ihrer Maschinen stellen ein
verwickeltes Gefüge von schleifenden Teilen dar, die sich auf
kleinen, aber prächtig geschwungenen Reibestützen bewegen. Und
da ich schon bei diesen Einzelheiten bin, will ich noch hervor-
heben, daß die langen Hebelarme ihrer Maschinen in den meisten
Fällen mittels einer Art Scheinmuskulatur von Scheiben in
elastischen Scheiden in Bewegung gesetzt werden; diese Schei-
ben werden polarisiert und dicht und mächtig zusammengezogen,
wenn ein elektrischer Strom durch sie geleitet wird. Auf diese
Weise entstand die merkwürdige Ähnlichkeit mit animalischen Be-
wegungen, die auf den menschlichen Beobachter so auffallend und
verwirrend wirkte. Solche Quasimuskeln fanden sich besonders
häufig bei der krebsähnlichen Handhabemaschine, die ich be-
obachtete, wie sie während meines ersten Ausblicks aus der
Mauerspalte den Zylinder auspackte. Diese Maschine glich un-
endlich mehr einem lebenden Wesen, als die wirklichen Mars-
leute, die drüben im Lichte der untergehenden Sonne lagen,
heftig keuchten, ihre Fühlfäden zwecklos umhersendeten und sich
nach ihrer unermeßlichen Reise durch den Weltraum nur mühsam
bewegen konnten.
Während ich noch ihre schwachen Bewegungen im Sonnen-
lichte beobachtete und mir jede seltsame Einzelheit ihrer Er-
scheinung genau einprägte, erinnerte mich der Kurat dadurch
an seine Anwesenheit, daß er mich heftig am Arm zerrte. Ich
wandte mich um und erblickte sein mürrisches Gesicht und seine
schweigend beredten Lippen. Er wollte jetzt wieder an die Spalte,
die nur einem zur Zeit hinauszuspähen gestattete; und so mußte
ich einige Zeitlang meine Beobachtungen aussetzen, während
der Kurat sich seines Vorrechtes erfreute.
154
Als die Reihe wieder an mich kam, hatte die geschäftige
Handhabemaschine bereits einige der Gegenstände, die sie aus
dem Zylinder hervorgeholt hatte, zu einem Apparat zusammen-
gefügt, der eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihrer eigenen
Form besaß. Und weiter unten zur Linken tauchte jetzt ein
kleines, grabspatenartiges Werkzeug auf, das Strahlen grünen
Dampfes ausstieß und sich seinen Weg rund um die Grube
herum bahnte, indem es in planvoller und bedächtiger Art
Erde aushöhlte und aufschichtete. Dieses Werkzeug war es,
das jenes regelmäßige, stoßende Geräusch und die fast rhythmi-
schen Erschütterungen hervorgerufen hatte, die unseren in Trüm-
mern liegenden Zufluchtsort erbeben machten. Während es
arbeitete, tutete und pfiff es unaufhörlich. Soviel ich sehen
konnte, arbeitete das Ding ohne jede Unterstützung eines Mars-
mannes.
III.
Die Tage der Gefangenschaft.
Die Ankunft einer zweiten Kriegsmaschine trieb uns von
unserem Guckloch in die Waschkammer zurück, denn wir fürch-
teten, daß der Marsmann von seiner Höhe herab uns hinter
unserer Schanze zu Gesicht bekommen könnte. Mit der Zeit
aber verloren wir wieder das Gefühl der Gefahr, erblickt zu
werden; denn einem Auge im blendenden Glanze des Sonnen-
lichtes mußte unser Versteck als tiefschwarze Nacht erscheinen.
Aber anfangs trieb uns schon der leiseste Argwohn einer An-
näherung unter Herzklopfen in unseren Zufluchtsort, in die
Waschkammer, zurück. Aber so schrecklich die Gefahren waren,
die rings um uns lauerten, die Versuchung, durch die Mauer-
spalte zu blicken, war unwiderstehlich. Und es nimmt mich
heute wunder, wenn ich mich erinnere, wie wir trotz der un-
endlichen Gefahr, in der wir schwebten, auf der einen Seite
verhungern, auf der anderen ein noch grauenvollerer. Tod, heftig
mit einander um das schreckliche Vorrecht, hinausblicken zu
155
dürfen, streiten konnten. Wir konnten um die Wette durch die
Küche laufen, in einem ganz abenteuerlichen Laufschritt, der
zwischen Eifer und der Furcht, Lärm zu machen, die Mitte hielt,
wir konnten uns schlagen, mit Fäusten und Füßen uns gegen-
seitig stoßen — und das alles nur durch einige Zoll breit vor
Entdeckung gesichert.
Tatsache ist, daß wir beide ganz unvereinbare Veranla-
gungen und Gewohnheiten im Denken und Handeln hatten, und
daß die Gefahr und unsere Einschließung diese Unvereinbarkeit
nur verschärften. Schon in Halliford war mir des Kuraten
alberne Art, in tatenlose Klagen auszubrechen, die blödsinnige
Verbohrtheit seines Charakters verhaßt geworden. Seine end-
losen, im Murmeltone gesprochenen Selbstgespräche machten jede
Mühe, die ich mir gab, einen Fluchtplau zu entwerfen, zunichte,
und trieben mich, durch die Gefangenschaft doppelt gereizt, wie
ich war, manchmal an den Rand des Wahnsinns. Wie ein
hysterisches Weib war er unfähig, sich den geringsten Zwang
anzutun. Er konnte stundenlang vor sich hinweinen, und ich
glaube wahrhaftig, daß dieses vom Schicksal verzogene Kind
seine elenden Tränen nach irgendeiner Art hin für wirksam
hielt. Und ich saß in der Finsternis, durch seine Zudringlich-
keiten außerstande, meine Gedanken von ihm abzulenken. Er
aß mehr als ich. Und es war ganz vergeblich, ihm begreiflich
zu machen, daß die einzige Hoffnung, mit dem Leben davonzu-
kommen, darin lag, solange in diesem Hause zu bleiben, bis
die Marsleute mit ihrer Grube fertig geworden wären; es war
vergeblich, ihn zu warnen, daß während dieser langen Geduld-
probe wohl eine Zeit kommen könne, in der wir dringend der
Nahrung bedürfen würden. Er aß und trank, wann es ihm
gerade behagte, in sehr ausgiebigen Mahlzeiten, wenn auch in
langen Zwischenräumen. Er schlief wenig.
Als die Tage kamen und gingen, erhöhten seine ganz un-
glaubliche Sorglosigkeit und seine Rücksichtslosigkeit unsere Not-
lage und unsere Gefahr derart, daß ich, so sehr ich es auch
verabscheute, erst zu Drohungen, endlich zu Schlägen meine
— 156
Zuflucht nehmen mußte. Das brachte ihn eine Zeitlang zur
Vernunft. Aber er gehörte zu jenen von Tücke und Verschlagen- j
heit erfüllten Schwächlingen, die, jedes Stolzes bar, feige, fisch- l
blütig und gehässig, nicht Gott, nicht den Menschen, nicht ein- ]
mal sich selbst Rechenschaft geben können.
Es ist mir unangenehm, alle diese Dinge mir wieder ins
Gedächtnis zurückzurufen und sie niederzuschreiben, aber ich muß
es der Lückenlosigkeit meines Berichtes halber tun. Jene, welche
von den düsteren und furchtbaren Seiten des Lebens verschont
geblieben sind, werden schnell genug bei der Hand sein, meine
Gewalttätigkeit und meine Wutausbrüche am Ende unseres
Trauerspiels zu verdammen; denn besser als jedermann wissen
sie, was tadelnswert ist, aber nicht, was ein gefolterter Mensch
zu tun fähig ist. Jene aber, die „gewandert sind im dunklen
Tal", welche bis zum Urgrund der Dinge hinabgestiegen sind,
die werden ihr Herz weiter dem Mitleid öffnen.
Und während wir drinnen unseren düsteren, schattenhaften,
geflüsterten Kampf ausfochten, unter Schlägen und mit ge- ,
ballten Fäusten um Speise und Trank kämpften, vollzog sich
draußen im unbarmherzigen Sonnenbrand jenes schreckensvollen
Juni das seltsame Wunder des fremdartigen Getriebes der Mars- ,
leute in der Grube. Man erlaube mir, zu jenen, meinen ersten,
neuen Erlebnissen zurückzukehren. Nach langer Zeit wagte ich
mich wieder an das Guckloch und sah, daß die fremden Gäste
durch die Besatzung von nicht weniger als drei Kriegsmaschinen
verstärkt waren. Diese hatten wieder eine Anzahl neuer Werk-
zeuge mitgebracht, die in einer gewissen Ordnung um den Zy- I
linder herumstanden. Die zweite Handhabemaschine war jetzt
fertig und eifrig damit beschäftigt, eine. jener neuartigen Er- ,;1
findungen zu bedienen, welche die große Maschine mitgebracht
hatte. Das neue Werkzeug glich in seinen allgemeinen Linien
einer Milchkanne, über dem ein, in schwingender Bewegung be-
findlicher birnenförmiger Behälter angebracht war, von dem
ein Strom weißen Pulvers sich in ein kreisrundes Becken ergoß.
Die schwingende Bewegung des Behälters wurde von einem
Taster der Handhabemaschine hervorgerufen. Mit zwei anderen
spatenartigen Händen grub die Handhabemaschine große Mengen
Lehm aus und warf sie in das birnenförmige Behältnis hinauf,
während sie mit einein anderen Arm von Zeit zu Zeit eine Tür
öffnete, die im Rumpf der Maschine angebracht war, und rostige
und geschwärzte Schlacke daraus entfernte. Ein anderes stäh-
lernes Tastwerkzeug leitete das Pulver aus dem Becken durch
einen gerippten Kanal in einen anderen Behälter, der durch eine
Wolke bläulichen Staubes sich meinen Blicken entzog. Aus
diesem unsichtbaren Behälter stieg ein dünner Faden grünen
Rauches kerzengerade in die stille Luft auf. Während ich so
hinblickte, streckte die Handhabemaschine unter einem leisen musi-
kalischen Geklirr nach der Art eines Teleskopen einen Taster
aus,, der noch einen Augenblick vorher mir bloß wie ein stumpfer
Ausläufer der Maschine erschienen war. Sein Ende war nun
hinter dem Lehmhaufen verschwunden.' In der nächsten Sekunde
hatte er eine Stange weißen Aluminiums herausgehoben, die
in fleckenlosem und leuchtenden! Glanze schien, und legte sie
ans einen sichtlich wachsenden Haufen von Stangen, der sich
neben der Grube befand. Zwischen Sonnenuntergang und
Sternenlicht muß diese kunstvolle Maschine mehr als hundert
solcher Stangen aus dem rohen Lehm verfertigt haben, und die
Wolke bläulichen Staubes wuchs allmählich an, bis sie den
Rand der Grube erreichte.
Der Gegensatz zwischen den raschen und wunderbar in-
einandergreifenden Werkzeugen und der klotzigen und keuchen-
den Unbeholfenheit ihrer Herren war so verblüffend, daß ich
mir tagelang immer wieder sagen mußte, daß es die letzteren
seien, die in Wahrheit die lebenden Wesen von den beiden vor-
stellten.
Der Kurat war im Besitze der Mauerspalte, als die ersten
Menschen zur Grube gebracht wurden. Ich saß zusammen-
gekauert unter ihm und lauschte mit dem Aufgebot meiner ganzen
Hörkraft. Plötzlich fuhr er erschreckt zurück und ich, voll Angst,
daß wir entdeckt seien, verfiel in eine Art Krampf. Er glitt
158
nun das Geröll herab und verkroch sich neben mich in die
Dunkelheit, stieß einige verworrene Laute aus, machte einige
wilde Gebärden, und einen Augenblick lang teilte ich seinen
Schrecken. Seine Gebärden deuteten seinen Verzicht auf die
Mauerspalte an, und nach einer Weile machte meine Neugierde
nrir Mut; ich erhob mich, stieg über ihn hinweg und kletterte
hinauf. Anfangs konnte ich keinen Grund für sein Entsetzen
entdecken. Die Dämmerung war nun angebrochen, oben schienen
kleine, blasse Sterne, aber die Grube war erhellt von dem
flackernden grünen Feuer, das von der Aluminiumbereitung
herrührte. Das ganze Bild war ein Gemenge flackernder Strah-
len und auf und nieder gleitender schwarzer Schatten, seltsam
verwirrend für das Auge. Darüber hin und zwischen hinein
flogen unbeirrt die Fledermäuse. Die sich räkelnden Marsleute
waren nicht mehr zu sehen, die Wolke blaugrünen Pulvers war
schon hoch genug gestiegen, um sie unseren Blicken zu entziehen.
Eine Kriegsmaschine stand mit zusammengeklappten, eingezogenen
und verkürzten Beinen jenseits der Grube. Und mitten im Getöse
des arbeitenden Maschineuwerkes glaubte ich plötzlich, einen leisen
Laut von menschlichen Stimmen zu hören, ein Verdacht, den ich
hegte, um ihn sofort wieder aufzugeben.
Ich bückte mich nieder, um die Kriegsmaschine schärfer ins
Auge zu fassen, und überzeugte mich jetzt zum ersten Male, daß
die Haube wirklich einen Marsmann enthielt. Als die grünen
Flammen auffuhren, konnte ich den öligen Glanz seiner Oberhaut
und das Leuchten seiner Augen wahrnehmen. Plötzlich hörte
ich einen gellenden Schrei und sah einen weitgedehnten Fühler
über die Schulter der, Maschine hin zu dem kleinen Käfig langen,
der auf ihrem Rücken lastete. Und dann wurde etwas — etwas
heftig sich Sträubendes — hoch in die Luft emporgehoben, ein
vom Sternenlicht sich dunkel und unklar abhebendes, rätselhaftes
Ding. Und als dieser schwarze Gegenstand wieder herunterkam,
sah ich bei dem grünen Schein, daß es ein Mensch war. Einen
Augenblick lang war er ganz deutlich sichtbar. Es wär ein
stämmiger, blühend aussehender, gut gekleideter Mann in mitt-
159
leren Jahren; drei Tage vorher mochte er, ein Mann von be-
beträchtlichem Ansehen, durchs Leben gewandert sein. Ich konnte
seine starren Augen sehen und bemerken, wie die Lichtstrahlen
in seinen Hemdknöpfen und seiner Uhrkette spielten. Er ver-
schwand hinter dem Hügel und einen Augenblick lang herrschte
völliges Schweigen. Dann hörte man durchdringende Schreie
und das langgezogene Freudengeheul der Marsleute.
Ich glitt das Geröll hinab, richtete mich mühsam auf, legte
beide Hände an die Ohren und stürzte in die Waschkammer. Der
Kurat, der, mit den Armen seinen Kopf umklammernd, schweigend
zusammengekauert dagesessen hatte, sah auf, als ich an ihm
vorbeikam, schrie laut auf, als ich ihn verließ, und rannte
mir nach.
In dieser Nacht, als wir in der Waschkammer kauerten und
unsere Empfindungen zwischen Entsetzen und der furchtbaren
Anziehungskraft des Guckloches geteilt waren, keimte in mir
der heftige Wunsch, zu handeln, auf. Aber ich mühte mich ver-
geblich ab, einen Rettungsplan zu entwerfen. Später aber, am
zweiten Tage, war ich fähig, unsere Lage mit großer Klarheit zu
überdenken. Der Kurat, das sah ich, war nicht einmal zu einer
Besprechung zu brauchen; ungekannte Schrecken hatten ihn in
ein Geschöpf mit wilden Eingebungen verwandelt, hatten ihn
seines Verstandes, seiner Denkfähigkeit beraubt. Er war in
Wahrheit schon zum Tier herabgesunken. Ich aber faßte, wie
eine Redensart lautet, mich selbst mit beiden Händen an. Jetzt,
da ich die rauhe Wirklichkeit mit Händen greifen konnte, faßte
der Gedanke, daß, so schrecklich unsere Lage auch war, wir doch
noch kein Recht zu völliger Verzweiflung hätten, besser Wurzel
in meiner Seele. Unsere Nächstliegende Hoffnung, zu entrinnen,
war in der Erwartung begründet, daß die Marsleute in der
Grube nur vorübergehend ihr Lager aufgeschlagen hätten. Oder,
im Falle, daß sie es für beständig bezogen hätten, würden sie es
doch nicht für notwendig erachten, es stets zu bewachen; und so
könnte sie uns doch eine Möglichkeit der Flucht bieten. Ich erwog
auch sehr ernstlich den Plan, uns von der Grube weg einen
160 —
unterirdischen Gang zu graben, aber die Möglichkeit, beim Auf- I
tauchen einer wachestehenden Kriegsmaschine zu Gesicht zu kom-
men, schien mir anfangs doch zu erschreckend. Zu allem übrigen
hätte ich auch die ganze Grabearbeit allein zu verrichten gehabt.
Der Kurat hätte mich sicherlich im Stich gelassen.
Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, war es am dritten
Tage, daß ich die Tötung jenes armen Teufels mit ansehen mußte.
Es war das einzige Mal, daß ich die Marsleute Nahrung auf-
nehmen sah. Nach diesem Erlebnis vermied ich das Loch in der
Mauer während des größten Teiles des Tages. Ich begab mich
in die Waschkammer, hängte die Tür aus und brachte einige
Stunden damit zu, so geräuschlos als möglich mit meinem Beil
zu graben; aber als ich ein etwa zwei Fuß tiefes Loch gegraben
hatte, fiel die lockere Erde wieder polternd zusammen und ich
wagte nicht, die Arbeit fortzusetzen. Ich verlor allen Mut und
legte mich für eine lange Zeit auf den Boden der Waschkammer
und hatte nicht einmal mehr die Kraft, mich zu bewegen. Und von
nun an gab ich den Gedanken, durch einen ausgehöhlten Gang
zu entkommen, auf.
Für den Eindruck, den die Marsleute auf mich gemacht
hatten, ist es sehr bezeichnend, daß ich anfangs wenig oder viel- ...
mehr gar nicht daran dachte, einen Weg zur Rettung darin zu
erblicken, daß unsere Feinde etwa durch einen menschlichen An-
griff überwältigt werden könnten. Aber in der vierten oder
fünften Nacht hörte ich einen Lärm wie starkes Geschützfeuer.
Es war sehr spät nachts, und der Mond schien hell. Die
Marsleute hatten die Aushöhlemaschine entfernt; und abgesehen
von einer Kriegsmaschine, die an dem entfernteren Rande der
Grube stand, und einer Handhabemaschine, die, meinen Blicken
verborgen in einer Ecke der Grube unmittelbar unter meinem
Lugloch geschäftig arbeitete, war der Platz verlassen.
Von der Handhabemaschine tanzte ein blasser Schimmer aus,
und das Licht des Mondes schien auf die Stangen und auf einige
Stellen des Erdreichs. Sonst war die Grube in Dunkelheit ge- j
hüllt und ganz still. Nur das Geräusch der Handhabemaschine
161
war zu hören. Es war eine wundervoll heitere Nacht; nur mit
einem Sterne teilte der Mond seine Herrschaft über den Himmel.
Ich hörte einen Hund heulen, und dieser vertraute Laut bestimmte
mich, hinauszulauschen. Da hörte ich ganz deutlich ein Dröhnen,
genau so, wie den Donner schwerer Geschütze. Ich zählte deutlich
sechs Schüsse, und nach einer Unterbrechung wieder sechs. Und
das war alles.
IV.
Der Tod des Kuraten.
Es war am sechsten Tage unserer Gefangenschaft. Ich warf
noch einen letzten Blick durch das Guckloch, und als ich mich
umwandte, fand ich mich allein. Statt sich dicht an mich zu
halten und zu versuchen, mich von der Spalte wegzudrängen,
war der Kurat in die Waschkammer zurückgegangen. Ein Ver-
dacht schoß durch meinen Kopf. Ich ging schnell und leise in
die Waschkammer. In der Dunkelheit hörte ich den Kuraten
trinken. Ich griff aufs Geradewohl ins Dunkle, und meine
Finger bekamen eine Burgunderflasche zu fassen.
Gleich darauf rangen wir miteinander. Das dauerte wenige
Minuten, dann fiel die Flasche zu Boden und brach entzwei. Nun
ließ ich ihn los und erhob mich. Wir standen keuchend und
drohend einander gegenüber. Schließlich pflanzte ich mich zwi-
schen ihn und die Eßwaren auf und teilte ihm meinen festen
Entschluß mit, von nun an Manneszucht zu halten. Ich teilte
unsere Nahrungsmittel in der Speisekammer in Rationen ein,
die für zehn Tage ausreichen sollten. An diesem Tage erlaubte
ich ihm nicht mehr zu essen. Am Nachmittag machte er einen
schwachen Versuch, zu den Eßwaren zu gelangen. Ich war ein-
genickt, aber im nu war ich wach. Den ganzen Tag und die
ganze Nacht saßen wir uns Auge in Auge gegenüber, ich erschöpft,
aber entschlossen, er weinend und über seinen großen Hunger
klagend. Ich weiß, es war nup eine Nacht und ein Tag, aber
mir schien es — und scheint mir noch heute — eine unermeßlich
lange Zeit.
Wells, Der Krieg der Welten
11
162
Und so endete die Unerträglichkeit unserer Neigungen und
Anlagen im offenen Streit. Zwei ewige Tage lang balgten wir
uns in Flüstertönen und Faustkämpsen. Es gab Zeiten, in denen
ich mit Schlägen und Fußtritten ihn wie toll bearbeitete, und
Zeiten, da ich ihm schmeichelte und zu überreden trachtete. Und
einmal versuchte ich, ihn mit einer Flasche Burgunder zu be-
stechen, denn es war eine Regenwasserpumpe vorhanden, mittels
der ich mir Wasser verschaffen konnte. Aber da half weder Ge-
walt noch Güte: er war in der Tat schon von Sinnen. Er ver-
stand sich weder dazu, seine Angriffe auf die Speisevorräte auf-
zugeben, noch hörte er auf, laut mit sich selber zu schwätzen. Die
allernotwendigsten Vorsichtsmaßregeln, die unsere Gefangenschaft
erträglich machten, wollte er nicht beobachten. Allmählich be-
gann ich mir den vollständigen Zusammenbruch seiner Geistes-
kräfte klarzumachen, zu begreifen, daß mein einziger Gefährte
in dieser dumpfen und widerlichen Finsternis ein Wahnsinniger
war.
Einige unklare Erinnerungen bestimmen mich, zu glauben,
daß auch meine Gedanken zuzeiten sich verwirrten. Ich hatte
seltsame und furchtbare Träume, so oft ich einschlief. Es klingt
sonderbar, aber ich bin geneigt, zu glauben, daß die Schwachheit
und der Wahnsinn des Kuraten mich warnten, stählten und ver-
nünftig erhielten.
Am achten Tage begann er laut zu sprechen, statt zu flüstern,
und was ich auch tat, nichts konnte ihn bewegen, seine Sprache
zu mäßigen.
„Es ist gerecht, o Gott!" rief er einmal übers andere. „Es
ist gerecht. Über mich und die Meinen komme dein Grimm. Wir
haben gesündigt, wir sind zu leicht befunden worden. Da war
Armut, da war Kummer; die Armen wurden in den Staub
getreten, nichts aber störte meinen Frieden. Ich predigte einen
hübschen Unsinn — mein Gott, was für einen Unsinn! — als
ich hätte aufstehen sollen und sollte ich dafür auch des Todes
sterben, und rufen sollen: Tut Buße, Buße! Ihr Bedrücker der
Armen und Elenden. — Die Weinpresse des Herrn!"
163
Dann kehrten seine Gedanken unvermutet wieder zuin Essen
zurück, das ich ihm vorenthielt. Er bat, flehte, weinte, und
endlich drohte er. Er begann seine Stimme zu erheben — ich
bat ihn, es nicht zu tun; da sah er, daß er mich da fassen konnte
— er drohte, daß er nun schreien und die Marsleute herbei-
rufen werde. Eine Zeitlang schüchterte mich das ein; aber jedes
Zugeständnis hätte die Möglichkeit unseres Entrinnens ganz
unberechenbar verringern müssen. Ich widerstand, obwohl keines-
wegs darüber beruhigt, daß er seine Drohung nicht ausführen
werde. An diesem Tage wenigstens tat er es aber nicht. Er
sprach mit allmählich erhöhter Stimme während des größten
Teils des achten und des neunten Tages. Drohungen und Bitten
vermischten sich mit einer wahren Sturzflut halbverrückter, aber
immer überquellender Reue, daß sein Gottesdienst nur eitel
Wortgepränge gewesen sei. Ich konnte nicht umhin, ihn zu
bemitleiden. Dann schlief er ein wenig und dann begann er
wieder mit erneuter Kraft, und zwar so laut, daß ich gezwungen
war, ihn zurückzuhalten.
„Schweigen Sie!" flehte ich. Er erhob sich auf seine Knie,
denn er war bisher im Dunkeln neben dem Waschkessel gesessen.
„Ich habe schon zu lange geschwiegen", sagte er in einem
Tone, den man in der Grube hören mußte. „Und jetzt muß
ich Zeugnis ablegen. Wehe dieser ungetreuen Stadt! Wehe,
wehe! Wehe, wehe! den Bewohnern der Erde, durch die anderen
Stimmen der Posaune —."
„Hören Sie auf!" sagte ich, aufspringend, voll Angst, die
Marsleute könnten uns hören. „Um Gottes willen —."
„Mein", schrie der Kurat, so laut er konnte. Er stand auf
und breitete seine Arme aus. „Sprechen will ich! Das Wort
des Herrn ist in mir."
Mit drei Sätzen hatte er die Tür zur Küche erreicht.
„Ich muß mein Zeugnis ablegen. Ich gehe. Zu lange
schon habe ich gezögert."
Ich streckte meine Hand aus und tastete nach dem Hack-
messer, das an der Wand hing. Wie ein Pfeil schoß ich dem
11*
164
Kuraten nach. Ich war ganz toll vor Angst. Ehe er in der
Mitte der Küche war, hatte ich ihn eingeholt. Mit einem letzten
Funken von Menschlichkeit drehte ich die Schneide um und schlug
mit dem Rücken des Messers nach ihm. Er stützte kopfüber hin
und lag ausgestreckt am Boden. Ich stolperte über ihn und blieb
atemlos stehen. Er lag ganz still da.
Plötzlich hörte ich draußen ein Geräusch, das Rieseln und
Stürzen gleitenden Mörtels, und die dreieckige Öffnung in der
Mauer verdunkelte sich. Ich blickte auf und sah, wie die untere
Fläche einer Handhabemaschine sich langsam am Loch vorbeischob.
Eines ihrer ansgreifenden Glieder rollte sich im Schutt zu-
sammen; nun erschien ein zweites Glied, das sich seinen Weg
über die herabgestürzten Balken hin tastete. Ich starrte wie ver-
steinert hin. Da sah ich durch eine Art Glasplatte am Ende der
Maschine das Gesicht, wenn ich so sagen darf, und die großen
dunklen Augen eines Marsmannes hereinspähen, und dann
ringelte sich die lange, metallene Schlange eines Fühlers wie
prüfend durch das Loch herein.
Im Banne dieses Anblicks wandte ich mich mit einiger
Überwindung los, stolperte über den Kuraten und blieb an der
Tür der Waschkammer stehen. Der Fühler war jetzt schon etwa
zwei Pards oder mehr im Zimmer und fuhr züngelnd und
schlängelnd in blitzschnellen Bewegungen hierhin und dorthin.
Eine Zeitlang beobachtete ich, seltsam angezogen, sein allmäh-
liches, eigenartiges Näherkommen. Endlich zwang ich mich mit
einem leisen, heiseren Schrei, in die Waschkammer zu lausen.
Ich zitterte heftig; ich konnte mich kaum aufrecht halten. Ich
schloß die Tür des Kohlenkellers auf und stand da in der Finster-
nis, starrte nach der schwach beleuchteten Tür, die in die Küche
führte, und lauschte. Hatte der Marsmann mich gesehen? Und
was würde er jetzt tun?
Etwas bewegte sich dort sehr, leise hin und her; jeden Augen-
blick tappte es gegen die Mauer, oder setzte seine Bewegungen mit
einem schwachen, metallischen Klirren, ähnlich dem Geräusch
eines Schlüsselbundes, fort. Dann wurde ein schwerer Körper
165
— nur zu gut wußte ich, was für einer — über den Fußboden
geschleift und zur Öffnung hinausgehoben. Unwiderstehlich an-
gezogen, kroch ich zur Tür und spähte in die Küche. In dem
von der Sonne hell beschienenen Dreiecke sah ich den Marsmann,
wie ec in der Handhabemaschine, einem wahrhaften BriareuZi),
saß und den Kopf des Kuraten untersuchte. Ich zweifelte keinen
Augenblick, daß er aus der Münde, die mein Schlag jenem bei-
gebracht hatte, auf meine Anwesenheit schließen würde.
Ich kroch zum. Kohlenkeller zurück, schloß die Tür und be-
gann, so gut ich konnte, und so leise, wie es mir bei der Dunkel-
heit möglich war, mich unter das Brennholz und die Kohlen zu
verstecken. Jeden Augenblick hielt ich, starr vor Angst, ein, um
zu horchen, ob der Marsmann seinen Fühler wieder durch die
Öffnung gesteckt hätte.
Und das leise metallische Klirren ertönte von neuem. Ich
konnte es allmählich verfolgen, wie es sich durch die Küche durch-
tastete. Bald hörte ich es näher — in der Waschkammer, wie
ich vermutete. Ich hoffte, daß seine Länge nicht ausreichend sei,
bis zu mir zu dringen. Ich sprach ein Stoßgebet nach dem
andern. Da tastete das Ding unter leisem Kratzen über die
Kellertür; und nun kam eine Ewigkeit von unerträglicher, banger
Erwartung. Dann hörte ich es am Schloß herumfühlen. Es
hatte die Tür gefunden! Der Marsmann verstand sich auf
" Türen!
Eine Minute vielleicht hantierte es an: Verschluß, und dann
ging die Tür auf.
In der Dunkelheit konnte ich das Ding gerade noch sehen —
mehr als allem anderen glich es einem Elefantenrüssel — es
züngelte nach mir und tastete prüfend an der Mauer, an den
Kohlen, am Holz und an der Decke umher. Es sah aus wie ein
schwarzer Wurm, der seinen blinden Kopf hin und her bewegt.
Und einmal berührte es die Ferse meines Stiefels. Ich
war nahe daran zu schreien; ich biß mir in die Hand. Eine
Zeitlang blieb es ruhig. Ich hätte glauben können, daß es sich
>) Briareus, der hundertarmigc Titane der griechischen Göttersage.
166
schon entfernt habe. Plötzlich aber, mit einem unvermuteten
Vorstoß, griff es nach etwas — ich dachte zuerst, nach mir! —
und schien wieder aus dem Keller hinauszugehen. Eine Minute
lang war ich meiner Sache nicht sicher. Offenbar hatte es ein
Stück Kohle erfaßt, um es zu prüfen.
Ich benützte die Gelegenheit, um meine Lage ein wenig zu
verändern, denn ich hatte Krampf in den Füßen. Dann lauschte
ich wieder und flüsterte heiße Gebete um Rettung. Dann hörte
ich das langsame, bedächtige Geräusch wieder, wie es mir immer
näher kam. Mählich und leise kam es dicht an mich heran und
tappte die Mauer und die Einrichtungsstücke entlang.
Während ich noch zweifelte, sprang es rasch zur Kellertür
und schloß sie. Ich hörte es, wie es in die Speisekammer schlich.
Die Zwiebackbüchsen klirrten, und eine Flasche brach in Stücke.
Dann kam ein heftiger Schlag gegen die Kellertür. Dann war
es still — und die Stille wurde mir eine nicht enden wollende
Zeit höchster Anspannung.
War es fort?
Endlich war ich davon überzeugt.
Es kam nicht mehr in die Waschkammer; aber den ganzen
zehnten Tag lag ich in der stickigen Dunkelheit, unter Kohlen
und Brennholz vergraben, und ivagte nicht einmal mir einen
Trunk zu holen, nach dem ich lechzte. Schon war der elfte Tag
angebrochen, als ich mich erst aus meinem Schlupfwinkel her-
vorwagte.
V.
Die Stille.
Meine erste Handlung, bevor ich in die Speisekammer ging,
war, die Tür zwischen Küche und Waschkammer zu schließen.
Doch die Speisekammer war leer; jeder Bissen Essen war ver-
schwunden. Offenbar hatte der Marsmann am vorhergehenden
Tage alles fortgenommen. Bei dieser Entdeckung erfaßte mich
zum ersten Male die Verzweiflung. Weder am elften, noch am
zwölften Tage genoß ich Speise und Trank.
167 —
Erst trockneten mir Mund und Kehle völlig aus, und meine
Kräfte nahmen merklich ab. Ich saß hilflos in der Dunkelheit
der Waschkammer in einem Zustand mutlosen Elends. Meine
Gedanken beschäftigten sich unausgesetzt mit dem Essen. Ich
glaubte taub geworden zu sein, denn die geschäftigen Geräusche,
die ich von der Grube her zu hören gewohnt war, hatten
vollständig aufgehört. Ich fühlte mich nicht stark genug, um
geräuschlos zum Guckloch zu kriechen; ich hätte es sonst gewiß
getan.
Am zwölften Tage schmerzte mich mein Hals derart, daß
ich selbst auf die Gefahr hin, die Aufmerksamkeit der Marsleute
auf mich zu lenken, mich auf die knarrende Regenwasserpumpe
stürzte, die neben der Senkgrube stand, und mir ein paar Glas
voll geschwärzten und schmutzigen Regemvassers verschaffte. Ich
fühlte mich nun überaus erfrischt und durch die Tatsache ermutigt,
daß kein spürender Fühlfaden dem Geräusche folgte, das ich
beim Pumpen machte.
Während dieser Tage mußte ich viel an den Kuraten und
an die Art seines Todes denken; aber meine Gedanken waren
unklar und hatten nur wenig Zusammenhang.
Am dreizehnten Tage trank ich wieder etwas Wasser und
machte mir abenteuerliche Gedanken über Essen und alle mög-
lichen und unmöglichen Fluchtpläne. So oft ich einschlief, quälten
mich furchtbare Wahnvorstellungen, einmal vom Tode des Ku-
raten, dann wieder von üppigen Gelagen. Aber wachend und
schlafend empfand ich einen heftigen Schmerz, der mich zwang,
immer wieder zu trinken. Das Licht, das -jetzt in den Wasch-
raum drang, war nicht mehr grau, sondern rot. Meiner ver-
wirrten Einbildungskraft schien es die Farbe des Blutes.
Am vierzehnten Tage ging ich in die Küche und sah zu
meiner Überraschung, daß die Zweige des roten Gewächses gerade
über die Maueröffnung gewachsen waren und so das Dämmer-
licht des Raumes in eine karmesinrote Finsternis verwandelt
hatten.
Frühmorgens am fünfzehnten Tage hörte ich eine seltsame,
168
aber vertraute Aufeinanderfolge von Lauten in der Küche, und
aufhorchend erkannte ich das Schnüffeln und Scharren eines
Hundes. Als ich in die Küche ging, sah ich die Nase eines
Hundes, wie sie an einer Mauerlücke durch die rötlichen Zweige
hereinschnüffelte. Das überraschte mich außerordentlich. Als der
Hund mich witterte, bellte er kurz auf.
Wenn ich ihn bewegen könnte, leise hereinzukommen, so
hoffte ich, fähig zu sein, ihn vielleicht zu töten und zu verzehren.
Auf alle Fälle aber wäre es geraten gewesen, ihn umzubringen,
damit seine Bewegungen nicht die Aufmerksamkeit der Mars-
leute auf mich ziehen könnten.
Ich schlich mich zu ihm und rief schmeichelnd: „Guter
Hund!" Er aber zog auf der Stelle seinen Kopf zurück And ver-
schwand.
Ich lauschte — ich war ja nicht taub — aber, da war kein
Zweifel möglich, die Grube war still. Ich vernahm Laute, wie
das Flattern von Vogelschwingen und ein heiseres Krächzen, und
das war alles.
Lange Zeit lag ich dicht am Guckloch, aber ich wagte nicht,
die roten Pflanzen zur Seite zu drängen, die es verdunkelten.
Ein- oder zweimal hörte ich ein leises Getrippel von den Füßen
des Hundes, der tief unter mir auf dem Sande hin und her lief,
dann wieder Geräusche, die von Vögeln herrührten, aber das
war alles. Endlich, ermutigt durch die anhaltende Stille, blickte
ich hinaus.
Außer in der Ecke, wo eine Menge von Krähen umherhüpfte
und sich um die Gerippe der Toten zankte, welche die Mars-
leute verzehrt hatten, war kein lebendes Wesen in der Grube
zu sehen.
Ich starrte um mich und traute kaum meinen Achgen. Sämt-
liche Maschinen waren verschwunden. Abgesehen von dem großen
Hügel gräulichblauen Pulvers in einer Ecke, einer Anzahl Alu-
miniumstangen in einer anderen, den schwarzen Vögeln und
den Gerippen der Gemordeten, war der ganze Platz nichts als
eine leere kreisrunde Sandgrube.
169
Ich ließ mich langsam durch das rote Gestrüpp hinabgleiten
und stand jetzt auf dem Schutthaufen. Außer hinter mich nach
Norden, konnte ich in jede Richtung blicken. Und weit und breit
war weder ein Marsmann, noch das Anzeichen eines Mars-
mannes zu erblicken. Zu meinen Füßen fiel die Grube jäh ab;
aber als ich etwas weiter ging, fand ich auf dem Geröll einen
ganz leidlichen Weg, auf dem ich zum Gipfel des Trümmer-
haufens gelangen konnte. Die Gelegenheit, zu fliehen,, war ge-
kommen. Ich begann zu zittern.
' Ich zögerte einige Zeit, und in einer wilden Aufwallung
voil verzweifelter Entschlossenheit, mit heftig klopfendem Herzen,
kletterte ich auf die Spitze des Schutthaufens, unter dem ich so
lange begraben gewesen war.
Wieder blickte ich rings um mich. Auch nach Norden zu
war kein Marsmann zu sehen.
Als ich zuletzt im vollen Tageslichte diesen Teil von Sheen
gesehen hatte, da war er eine Straße zerstreut liegender und
behaglicher weißer und roter Häuser gewesen, umpflanzt von
üppigen, schattigen Bäumen. Jetzt stand ich auf einem Haufen
zerschellten Ziegelwerks, Lehms und Kiesels, über den eine Un-
menge roten kaktusartigen Gewächses wucherte. Es wuchs in
Kniehöhe, und nicht eine einzige irdische Pflanze machte ihm den
Boden streitig. Die Bäume in meiner Nähe waren erstorben und
braun, aber weiterhin umzüngelte ein Netzwerk roter Fäden die
noch lebenden Stämme.
Die benachbarten Häuser waren alle zerstört worden, keines
aber war niedergebrannt. Die Mauern standen bisweilen noch
bis zum zweiten Stockwerke, aber die Fenster waren alle zer-
schmettert und die Tore zertrümmert. Das rote Gewächs wucherte
üppig in den dachlosen Stuben. Unter mir war die große Grube
und die Krähen, die um die Abfälle zankten. Eine Anzahl an-
derer Vögel hüpfte zwischen den Trümmern umher. Weiter weg
sah ich eine ausgemergelte Katze, die eine Mauer entlang schlich,
von Menschen aber war nirgends eine Spur zu entdecken.
Der Tag schien, im Gegensatz zu meiner eben überstandenen
170
Einkerkerung, blendend hell, der Himmel strahlte in ungetrüb-
tem Blau. Ein sanftes Lüftchen hielt das rote Gewächs, das
jedes Stückchen unbenützten Bodens bedeckte, in sanfter Be-
wegung. Und welches Entzücken war es mir, wieder frische
Luft zu atmen?
VI.
Das Werk von fünfzehn Tagen.
Eine Zeitlang stand ich wankend auf dem Hügel, ohne
an meine Sicherheit zu denken. Als ich noch in jener wider-
wärtigen Höhle lag, aus der ich eben herausgekommen war,
hatte ich alle meine Sinne nur darauf gerichtet, mich überhaupt
nur zu retten. Das, was in der Welt vorgegangen war, hatte
ich nicht in Erwägung gezogen, noch hatte ich den sinnver-
wirrenden Anblick dieser völlig unbekannten Erscheinungen er-
warten können. Ich war darauf vorbereitet, Sheen in Trüm-
mern zu sehen — aber was ich jetzt sah, war die unheimliche
und düstere Landschaft eines anderen Planeten.
In diesem Augenblick wurde ich von einer Empfindung
bewegt, die sonst außerhalb des Bewußtseins der Menschen liegt,
die aber die armen Tiere, die wir beherrschen, nur zu gut
kennen. Mir war zumute wie einem Kaninchen, das in sein
Erdloch schlüpft und sich nun plötzlich einem Dutzend geschäf-
tiger Arbeiter gegenübersteht, die den Grund zu einem Hause
graben. Ich merkte die ersten Anzeichen eines Gefühls, das
sich bald in großer Klarheit meinem Geiste mitteilte und mich
viele Tage lang bedrücken sollte: das Gefühl der Entthronung,
die Überzeugung, daß ich nicht länger ein Herr, sondern ein
Tier unter Tieren, unter der Ferse der Marsleute sei. Uns
würde es nun gehen wie jenen: wir mußten jetzt lauern und
spähen, laufen und uns verstecken; die Macht des Menschen
und seine Fähigkeit, Furcht einzuflößen, waren von ihm ge-
nommen. Aber diese seltsamen Borstellungen gingen so schnell
vorüber, wie sie sich gebildet hatten, und mein alles beherr-
schendes Gefühl war nach meiner langen und trostlosen Fasten-
171
zeit der Hunger. In der Richtung, die von der Grube weg-
führtch erblickte ich jenseits einer rotbewachsenen Mauer ein
Fleckchen Gartengrund, das nicht verschüttet war. Das war
mir ein Fingerzeig, und ich arbeitete mich durch, knietief, manch-
mal bis zum Halse ins rote Gewächs verstrickt. Die Dichte
dieses Gestrüpps gab mir das trostreiche Gefühl, mich im Not-
fälle verbergen zu können. Die Mauer war etwa sechs Fuß
hoch, und als ich versuchte, sie zu erklettern, sah ich, daß ich
mich nicht auf ihren Rand hinaufschwingen konnte. So ging
ich nun an der Mauer entlang und gelangte zu einer Ecke,
wo ein Steinhaufen es mir ermöglichte, hinaufzuklimmen und
in den Garten hinabzugleiten. Ich fand einige junge Zwiebeln,
ein paar Siegwurzknollen und eine Anzahl unreifer Rüben,
die ich alle zusammenraffte. Dann stieg ich über eine ge-
borstene Mauer hinweg und verfolgte unter scharlach- und kar-
mesinroten Daumen meinen Weg weiter nach Kew. Es war
mir, als ginge ich auf einer Straße von riesigen Blutstropfen.
Von zwei Gedanken war ich erüfllt; mir mehr Essen zu ver-
schaffen und sobald und soweit meine Kräfte es mir erlaubten,
aus diesem fluchbeladenen, unirdischen Bereich der Grube hin-
auszukommen.
Etwas weiterhin fand ich auf einem Grasplatz eine Anzahl
Schwämme, die ich gleichfalls verschlang; aber diese karge Nah-
rung diente nur dazu, meinen Hunger zu schärfen. Dann stieß
ich auf eine braune Fläche fließenden, seichten Wassers, dort,
wo sonst Wiesen waren. Erst war ich über diese Überschwemmung
in einem heißen, trockenen Sommer überrascht, aber dann ent-
deckte ich, daß sie won der geradezu tropischen Üppigkeit des roten
Gewächses herrührte. Sobald diese außerordentliche Wucher-
pflanze Wasser berührte, wuchs sie mit einer unvergleichlichen
Fruchtbarkeit ins Riesenhafte. Ihr Samen wurde einfach in
das Wasser des Wey und der Themse geschüttet, und ihre mit
reißender Schnelligkeit wachsenden titanischen Zweige ließen beide
Flüsse sofort aus ihren Ufern treten.
In Putney war die Brücke, wie ich später sah', in einem
172
Gewirr dieses Unkrauts ganz versteckt, und auch in Richmond
ergossen sich die Themsewässer in einem breiten und seichten
Strom über die Wiesen von Hampton und Twickenham. Wie
das Wasser sich ausbreitete, folgte das Kraut ihm nach, bis
die zerstörten Landhäuser des Themsetals eine Zeitlang in diesem
roten Morast, dessen Rand ich durchsuchte, verschwunden waren.
Dadurch wurde vieles von dem Zerstörungswerk der Mars-
leute verhüllt.
Schließlich aber ging dieses rote Gewächs fast ebenso rasch
ein, wie es sich ausgebreitet hatte. Eine krebsartige Krankheit,
die, wie man annimmt, in der Wirkung gewisser Bakterien
begründet ist, erfaßte und zerstörte es. Durch das Gesetz der
natürlichen Zuchtwahl haben alle irdischen Pflanzen eine ge-
wisse Widerstandskraft gegen Bakterienkrankheiten gewonnen —-
wenigstens erliegen sie ihnen nie^ohne heftigen Kampf. Aber
das rote Gewächs verfaulte wie eine schon erstorbene Pflanze.
Die Zweige verblaßten, schrumpften zusammen und wurden
spröde. Bei der leisesten Berührung brachen sie ab, und das
Wasser, das ihr frühes Wachstum so angefeuert hatte, trug
ihre letzten Spuren ins Meer hinaus.
Als ich zum Wasser kam, war es selbstverständlich mein
erstes, meinen Durst zu löschen. Ich trank in vollen Zügen,
und, einer plötzlichen Eingebung folgend, zerbiß ich einige Zweige
des roten Gewächses. Aber sie waren wässerig und hatten einen
garstigen, metallischen Geschmack. Ich sah, daß das Wasser
seicht genug war, um sicher durchwatet werden zu können, ob-
wohl das rote Gewächs meine Füße oft hinderte, fest aufzu-
treten. Aber die Flut wurde gegen den-Fluß zu sichtlich tiefer
und ich mußte wieder in der Richtung nach Mortlake umkehren.
Es gelang mir dadurch, daß gelegentliche Trümmer von Land-
häusern und Hecken und Lampen mir den Weg wiesen, halbwegs
auf der Straße zu bleiben. So kam ich bald aus dem Über-
schwemmungsgebiet heraus, verfolgte meinen Weg zu dem Hügel,
der nach Roehampton führt, und gelangte schließlich bei der
Gemeindewiese von Putney heraus.
173
Hier war das Bild verändert: Nicht mehr Fremdartiges
und Seltsames, sondern die Zerstörung des Bekannten, Ver-
trauten: kleine Bodenstrecken sahen aus, als hätte ein Wirbel-
wind sie verwüstet. Hundert Schritte weiter traf ich auf völlig
unversehrte Stellen, Häuser mit nett herabgelassenen Vorhängen
und verschlossenen Türen, gleichsam, als hätten die Eigentümer-
sie nur für einen Tag verlassen, oder als schliefen die Bewohner
noch drin. Das rote Gewächs war hier nicht mehr so üppig; die
großen Bäume auf den Grasplätzen waren frei von der roten
Schlingpflanze. Ich suchte unter den Bäumen nach Nahrung,
ohne etwas zu finden, dann brach ich in ein paar stille Häuser
ein, aber die waren schon vor mir durchstöbert und ausge-
plündert worden. Den übrigen Teil des Tages blieb ich in
einem Gebüsch, da meine geschwächten Kräfte fair nicht er-
laubten, weiter zu gehen.
Während dieser ganzen Zeit sah ich kein menschliches Wesen,
noch auch Anzeichen von Marsleuten. Ich begegnete zwei hungrig
aussehenden Hunden, aber beide liefen in weitem Bogen davon,
als ich ihnen näher kam. In der Nähe von Roehampton sah
ich zwei menschliche Gerippe — nicht Leichen, sondern rein
genagte Gerippe — und im Gehölz neben mir stieß ich auf
gebrochene und verstreut liegende Knochen einiger Katzen und
Kaninchen und den Schädel eines Schafes. Aber als ich sie
teilweise zu benagen begann, wollte sich nichts Genießbares
daran finden.
Nach Sonnenuntergang schleppte ich mich auf der Straße
gegen Putney weiter, wo, wie ich glaube, aus besonderen Gründen
der Hitzstrahl in Anwendung gekommen sein mußte. In einem
Garten hinter Roehampton fand ich eine Anzahl unreifer Erd-
äpfel, hinreichend, um meinen Hunger zu stillen. Von diesem
Garten aus konnte man ans Putney und den Fluß hinabsehen.
In der Dämmerung bot dieser Ort ein Bild trostlosester Ver-
wüstung: geschwärzte Bäume, geschwärzte, traurige Mauertrüm-
mer, und den Hügel abwärts die weiten Flächen des aus den
Ufern getretenen Wassers, von dem Ma»Mraut rot gefärbt.
174
Hnb über allem — die große Stille. Ein unbeschreibliches Ent-
setzen kam über mich, als ich dachte, wie schnell diese trostlose
Veränderung hereingebrochen war.
Eine Zeitlang glaubte ich, daß die Menschheit einfach aus-
gerottet und daß ich nun ganz allein übriggeblieben sei, der
letzte, lebende Mensch. Dicht am Gipfel des Putneyhügels stieß
ich wieder auf ein Gerippe, dessen Arme abgetrennt und einige
Pards vom Körper entfernt lagen.
Ms ich weiter ging, wurde ich immer mehr und mehr über-
zeugt, daß die Ausrottung der Menschheit, von einigen Ver-
irrten, wie von mir, abgesehen, in diesem Teile der Welt bereits
eine vollendete Tatsache war. Ich vermutete, daß die Mars-
leute fortgegangen seie-n, das Land hinter sich verwüstet hätten
und jetzt irgend woanders nach Nahrung suchten. Vielleicht
wäre): sie eben daran, Berlin oder Paris zu zerstören, vielleicht
auch hatten sie sich nach Norden gewendet.
VII.
Der Mann auf dem Putneyhügel.
Ich verbrachte diese Nacht in einem Gasthofe, der auf der
Spitze des Putneyhügels steht. Seit meiner Flucht nach Leather-
head war es das erstemal, daß ich in einem gemachten Bette
lag. Ich will mich nicht mit der Beschreibung der unnötigen
Mühe, die ich hatte, als ich ins Haus eindringen wollte —
später fand ich, daß das Tor gar nicht verschlossen war —,
noch damit aufhalten, wie ich jeden Raum nach Lebensmitteln
durchstöberte, bis endlich, als meine Verzweiflung das äußerste
Maß erreichte, ich in einem Gelaß, das ich für ein Dienstboten-
zimmer hielt, eine rattenzernagte Brotkruste und zwei Büchsen
mit Ananas fand. Das Haus war offenbar schon durchsucht
und ausgeplündert worden. Im Schankraum entdeckte ich später
noch etwas Zwieback und Butterbrötchen, die übersehen worden
waren. Diese konnte ich nicht mehr genießen, jene aber stillten
nicht nur meinen Hanger, sondern füllten auch meine Taschen.
175
Ich steckte kein Licht an, da ich fürchtete, ein Marsmann könne
in der Nacht diesen Teil Londons nach Nahrung durchsuchen.
Ehe ich zu Bett ging, hatte ich eine Anwandlung von Rast-
losigkeit und hastete von einem Fenster znm anderen, um nach
einem Anzeichen jener Ungetüme auszuspähen. Ich schlief wenig.
Als ich im Bette lag, wurde ich von einer unausgesetzten Ge-
i dankenarbeit gepeinigt — eine Erscheinung, von der, seit meinen
Auseinandersetzungen mit dem Kuraten, ich mich nicht erinnere,
gequält worden zu sein. Während dieser ganzen Zwischenzeit
bestand meine geistige Verfassung in nichts anderem, als in
! einer hastenden Aufeinanderfolge von unbestimmten Gefühls-
zuständen oder in einer Art stumpfer Aufnahmsfähigkeit. In
dieser Nacht gewann mein Hirn, durch die Nahrung, die ich
zu mir genommen, wie ich vermute, gekräftigt, wieder seine
frühere Klarheit, und ich konnte wieder denken.
Drei Dinge waren es, die in meinem Vorstellungsgebiete
um die Herrschaft kämpften: Die Tötung des Kuraten, der
Aufenthaltsort und die Tätigkeit der Marsleute, und das Schicksal
meiner Frau. Das erste rief in mir kein wie immer geartetes
Gefühl von Entsetzen oder Reue wach; ich nahm es einfach als
eine geschehene Tatsache hin, als eine unsäglich peinliche Er-
innerung, aber völlig ohne die Merkmale der Reue. Ich be-
urteilte mich damals, wie ich mich jetzt beurteile, Schritt für
Schritt zu jener schnellen Tat getrieben, als das Geschöpf einer
Reihe von Zufällen, die unvermeidlich zu jenem Abschlüsse hin-
leiteten. Ich hielt mich nicht für verdammenswert; dennoch
aber lastete die Erinnerung daran auf mir, stetig, unverrückbar.
In der Stille der Nacht, mit jenem Gefühl der Nähe zu Gott,
das..einen manchmal in der Stille und in der Dunkelheit über-
kommt, bestand ich mein Verhör, mein einziges Verhör wegen
! jenes Augenblicks der Wut und der Angst. Ich rief mir jedes
Wort unserer Unterredung ins Gedächtnis zurück, von jenem
Augenblick an, als ich ihn zusammengekauert neben mir fand,
als er, meines Durstes nicht achtend, nach dem Feuer und dem
Rauch wies, der aus den Trümmern von Weybridge aufstieg.
176
Zu gemeinsamer Mitarbeit waren wir unfähig gewesen — der
grimmige Zufall aber hatte sich nicht darum gekümmert. Hätte j
ich in die Zukunft blicken können, hätte ich ihn in Halliford
gelassen! Aber ich konnte nicht vorhersehen, was kam. Ver- >
brechen aber ist, vorhersehen und doch tun. Und ich schreibe das
nieder, wie ich diese ganze Geschichte niedergeschrieben habe,
so wie sie war. Ich hatte keine Zeugen — ich hätte alle
diese Dinge verheimlichen können. Aber ich schreibe sie nieder
und der Leser mag sich nach seinem Gutdünken sein Urteil
bilden.
Als ich mich dann aufraffte, um das Bild jenes hingestreckten
Körpers aus meiner Seele zu bannen, faßte ich wieder die schweren
Fragen ins Auge, die ich mir über die Marsleute und über
das Schicksal meiner Frau stellte. Für beides hatte ich keine
Anhaltspunkte; ich konnte mir hundert verschiedene Vorstel-
lungen machen, sowohl über die Marsleute, als, unselig genug,
auch über meine Frau. Und ganz plötzlich wurde mir diese
Nacht zu einer Nacht des Schreckens. Ich fand mich in meinem
Bette aufsitzend und starrte in die Finsternis hinein. Ich hörte
mich beten, daß der Hitzstrahl sie unvermutet und schmerzlos
aus diesem Leben nehme. Seit jener Nacht meiner Rückkehr
aus Leatherhead hatte ich nicht mehr gebetet. Ich hatte Stoß-
gebete gestammelt, Fetischgebete, hatte gebetet, wie Heiden Be-
schwörungszauberformeln murmeln, als ich in äußerster Gefahr
schwebte. Jetzt aber betete ich wirklich, inbrünstig und bei voller
Besinnung, flehte von Angesicht zu Angesicht in der Dunkelheit
Gottes. Seltsame Nacht! Am seltsamsten darin, daß, sobald
der Tag herangraute, ich, der mit Gott gesprochen hatte, aus
dem Hause schlich, wie eine Ratte, die ihr Versteck verläßt — ein
Geschöpf, kaum größer als sie, ein niedriges Tier, ein Ding,
das die flüchtige Laune unserer Meister jagen und töten konnte.
Vielleicht beteten auch jene vertrauensvoll zu Gott. Wahrlich,
wenn wir nichts anderes gelernt haben, dieser Krieg hat uns
Erbarmen gelehrt, Erbarmen mit jenen vernunftlosen Geschöpfen,
die unter unserer Herrschaft leiden.
— 177
Der Morgen war hell und schön; der östliche Himmel glühte
in rosenroter Farbe und war mit kleinen goldenen Wolken über-
sät. Auf der Straße, die von der Spitze des Putneyhügels nach
Wimbledon führt, sah ich zahlreiche, jammervolle Spuren jenes
Sturmes von Angst, der in der Sonntagsnacht nach der Er-
öffnung des Krieges in der Richtung nach London gebraust war.
Ich sah einen kleinen zweirädrigen Karren, auf dem der Name
„Thomas Lobb, Grünzeughändler, New Malden" stand, mit
einem zertrümmerten Rade und einem im Stich gelassenen Blech-
koffer. Dann sah ich einen Strohhut, der in den schon hart
gewordenen Straßenschmutz hineingestampft worden war, und
auf der Spitze des Westhügels einen Haufen blutbefleckten Glases
neben dem umgestürzten Wassertrog. Ich ging nur langsam
weiter und meine Pläne waren völlig unklar. Ich hatte die
etwas unbestimmte Absicht, nach Leatherhead zu gehen, obwohl
ich wußte, daß ich gerade dort am wenigsten hoffen konnte,
meine Frau wiederzuftnden. Wenn nicht der Tod sie dort un-
versehens ereilt hatte, waren meine Verwandten gewiß schon
längst mit ihr von dort geflohen. Aber ich redete mir ein, daß
ich dort wenigstens sehen oder erfahren könnte, wohin die Be-
völkerung von Surrey geflohen sei. Ich wußte, daß ich meine
Frau wiederfinden wollte, daß ich eine schmerzliche Sehnsucht
nach ihr und nach Menschen empfand, aber ich hatte keine klare
Vorstellung, wie ich es anfangen sollte, sie zu finden. Auch
meiner trostlosen Vereinsamung war ich mir jetzt deutlich be-
wußt. Unter dem Schutze eines Dickichts von Bäumen und
Buschwerk kam ich allmählich an den Rand der Gemeindewiese
von Wimbledon, die sich nun weit vor mir erstreckte.
Diese dunkle Fläche war stellenweise von gelben 'Ginster-
sträuchen erhellt; das rote Gewächs war nirgends zu sehen;
als ich zögernd am Rande dieser freien Stelle hinschlich, ging
die Sonne auf, und nun flutete alles von Licht und Leben.
Ich stieß auf ein geschäftiges Volk kleiner Frösche, die auf einem
sumpfigen Platze unter den Bäumen umhersprangen. Ich stand
still, um sie zu betrachten, und nahm mir eine Lehre an ihrem
Wells, Der Krieg der Welten 12
kräftigen Entschluß, zu leben. Gleich darauf, als ich mit dein
sonderbaren Gefühl, beobachtet zu werden, mich plötzlich um-
drehte, sah ich etwas in einem Gestrüpp zusammengekauert liegen.
Ich stand da und betrachtete es. Dann machte ich einen Schritt
nach vorwärts, da erhob es sich und wurde ein mit einer Axt
bewaffneter Mann. Langsam näherte ich mich ihm. Er stand
schweigend und regungslos da und sah mich an.
Als ich näher trat, bemerkte ich, daß seine Kleider ebenso
staubbedeckt und von Schmutz starrend waren, wie die meinen;
er sah tatsächlich aus, als wäre er durch eine Gosse geschleift
worden. Näher kommend, konnte ich den grünen Schlamm von
Pfützen unterscheiden, der sich mit dem Hellbraun von getrock-
netem Lehm und glänzenden Kohlenflecken vermengte. Sein
schwarzes Haar fiel über seine Augen, und sein Gesicht war
dunkel und schmutzig und eingesunken, so daß ich ihn anfangs
nicht wiedererkennen konnte. Ich bemerkte eine rote Narbe,
die guer über den unteren Teil seines Gesichts lief.
„Halt!" rief er, als ich ihm auf zehn Pards nahe kam;
ich blieb stehen: Seine Stimme war heiser. „Woher kommen
Sie?" fragte er.
Ich überlegte, während ich ihn mir näher ansah.
„Ich komme von Mortläke", sagte ich. „Ich lag neben der j
Grube, die die Marsleute um ihren Zylinder machten, begraben.
Ich habe mich herausgearbeitet und bin entkommen." „Hier
herum ist keine Nahrung zu finden", sagte er. „Das ist mein
Land. Alles, von diesem Hügel bis hinab zum Fluß, und zurück
nach Clapham, und aufwärts bis zum Rande der Weide. Nur
für einen gibt's hier Nahrung. Welchen Weg werden Sie ein-
schlagen ?"
Ich antwortete zögernd.
„Ich weiß es nicht", sagte ich. „Ich lag in den Trümmern
eines Hauses dreiezhn oder vierzehn Tage lang vergraben. Ich
weiß nicht, was inzwischett geschehen ist."
Er sah mich zweifelnd an, dann stutzte er und blickte mich
mit verändertem Ausdruck an.
179
„Ich habe nicht die Absicht, in dieser Gegend zu bleiben",
sagte ich. „Ich denke, ich werde nach Leatherhead gehen, um
meine Frau zu suchen."
Er wies hastig mit dem Finger nach mir.
„Sie sind es?" rief er. „Der Mann von Woking! Und
Sie wurden nicht getötet in Weybridge?"
Im selben Augenblick erkannte ich ihn.
„Sie sind der Artillerist, der in meinen Garten kam!"
„Das nenne ich Glück!" rief er. „Wir sind ja Glücks-
pilze! Nein, daß Sie es sind!" Er streckte seine Hand aus,
die ich ergriff. „Ich bin damals einen Wassergraben hinauf-
gekrochen", fuhr er fort. „Aber sie haben nicht alle umgebracht.
Und als sie wieder weg waren, kroch ich heraus, gegen Walton
zu, über die Felder. Aber----------Es sind noch keine sechzehn
Tage her — und Ihr Haar ist grau!" Er sah plötzlich über
seine Schulter. „Nur eine Dohle", sagte er. ,„Man erfährt
in Zeiten, wie diesen, daß auch Vögel Schatten haben. Aber
hier ist es ein wenig offen. Kriechen wir in jenes Gebüsch und
erzählen wir uns unsere Erlebnisse."
„Haben Sie etwas von den Marsleuten gesehen?" fragte
ich. „Seit ich herauskroch-------—."
„Die sind jetzt über London hingegangen", erwiderte er.
„Ich denke, sie haben dort ein größeres Lager aufgeschlagen.
Am Abend ist dort drüben, gegen Hampstead zu, der ganze
Himmel hell von ihren Lichtern. Es ist wie eine große Stadt,
und im Schein kann man noch ganz deutlich ihre Bewegungen
sehen. Aber nicht bei Tage. Aber in der Nähe — habe ich
sie nicht gesehen -----." Er zählte an seinen Fingern. „Fünf
Tage. Da sah ich zwei von ihnen durch Hammersmith hinüber-
gehen und etwas Schweres schleppen. Und vorgestern nachts" — er
hielt inne, um in wichtigem Tone fortzufahren — „es waren frei-
lich nur Lichter, aber es war etwas oben in der Luft. Ich glaube,
sie haben eine Flugmaschine gebaut, und sie lernen jetzt fliegen."
Ich machte halt, mit Hunden und Knien auf dem Boden,
denn wir hatten das Gebüsch erreicht.
12*
180
„Fliegen!"
„Ja," sagte er, „fliegen."
Ich kroch in einen kleinen Laubverschlag und setzte mich
nieder.
„Dann ist es mit der Menschheit aus und vorbei", sagte
ich. „Wenn sie das können, dann werden sie ganz einfach um
die ganze. Welt gehen —."
Er nickte.
„Das werden sie auch. Aber------------. Unterdessen können
wir hier ein wenig Atem schöpfen------------." Er sah mich an.
„Sind Sie denn nicht zufrieden, daß es mit der Menschheit
vorbei ist? Ich bin's. Wir sind unterlegen; wir sind geschlagen."
Ich stutzte. So seltsam es scheinen mag, ich war noch nicht
zu diesem Schlüsse gekommen, einem Schlüsse, der mir voll-
kommen einleuchtete, sobald- jener ihn aussprach. Ich hatte
noch immer leise zu hoffen gewagt; '"'dem hatte ich mir mein
Leben lang immer selbst meine Gedanken zurechtgelegt. Er wieder-
holte seine Worte. „Wir sind geschlagen." Sie enthielten seine
unverrückbare Überzeugung.
„Es ist alles vorbei", sagte er. „Sie haben einen ver-
loren — nicht mehr, als einen. Und sie haben festen Fuß ge-
faßt und haben die größte Macht der Welt zum Krüppel ge-
schlagen. Sie sind über uns hinweg gegangen. Der Tod jenes
einen bei Weybridge war ein Zufall. Und dazu sind diese da
nur der Vortrab. Ununterbrochen kommen immer mehr. Diese
grünen Sterne — ich habe jetzt wohl fünf oder sechs Tage lang
keinen gesehen, aber ich zweifle nicht daran, daß sie jede Nacht
irgendwo niederfallen. Da ist nichts zu machen. Wir liegen
unten! Wir sind geschlagen!"
Ich gab ihm keine Antwort. Ich saß da und starrte vor
mich hin, indem ich vergebens versuchte, ihn zu widerlegen.
„Das ist ja kein Krieg", sagte der Artillerist. „Ist nie
ein Krieg gewesen, ebensowenig, wie es zwischen Menschen und
Ameisen einen Krieg gibt."
Plötzlich erinnerte ich mich an die Nacht auf der Sternwarte.
181
„yia.6) dem zehnten Schuß feuerten sie keinen mehr ab —
wenigstens nicht, bis der erste Zylinder kam."
„Woher wissen Sie das?" fragte der Artillerist. Ich er-
klärte es ihm. Er dachte nach. „Mag sein, daß, mit dem Ge-
schütz etwas nicht ganz in Ordnung ist", sagte er. „Aber, wenn
es sich auch so verhält, so haben sie das schon längst wieder
zurechtgekriegt. Und selbst, wenn es länger dauern sollte, an
der Sache wird nichts geändert. Menschen und Ameisen, sage
ich Ihnen. Da haben Sie die Ameisen, die bauen ihre Städte,
leben ihr kleines Leben, führen Krieg, machen Revolutionen,
bis der Mensch sie aus dem Wege räumen will; und dann gehen
sie eben aus dem Wege. So geht es uns jetzt — uns Ameisen.
Nur — —."
„Ja?" fragte ich.
„Wir sind eßbare Ameisen."
Wir sahen uns in die Augen.
„Und was werde.. ,.e mit uns anfangen?" fragte ich.
„Darüber habe ich ja immer nachgedacht", erwiderte er —
„darüber habe ich immer nachgedacht. Nach Weybridge ging
ich nach Süden — und dachte nach. Ich sah, was los war. Die
meisten Menschen waren eifrig bemüht, sich aufzuregen und zu
quietschen. Ich aber bin kein Freund vom Quietschen. Ich bin
schon ein- oder zweimal dem Tode gegenübergestanden; ich bin
kein Ziersoldat, und im besten und schlimmsten Falle, Tod ist
eben Tod. Und der Mann, der beharrlich nachdenkt, kommt
überall durch. Ich sah, wie jedermann nach Süden drängte.
Da sagte ich mir: ,Hier wird man über kurz oder lang nichts
mehr zu essen bekommen/ Und so machte ich stracks kehrt. Ich
ging den Marsleuten nach, wie die Spatzen den Menschen nach-
gehen. Rings um uns herum" — er fuhr mit seiner Hand
den Horizont entlang — „hungern sie in Haufen, reißen sie
aus und treten aufeinander herum."
Er sah mein Gesicht und hielt betreten inne.
„Ohne Zweifel sind Massen von Leuten, die Geld hatten,
nach Frankreich gegangen", sagte er. Er schien zu zögern, ob er
182
sich entschuldigen solle, begegnete meinen Augen und fuhr fort: j
„Hier herum gibt es genug zu essen. Gepökelte Ware in den
Läden; Wein, Schnaps, Mineralwasser; aber die Wasserbehälter
und Röhren sind leer. Also, ich habe Ihnen gesagt, worüber
ich nachdachte." „Hier haben wir intelligente Geschöpfe", sagte
ich mir, „und es scheint, daß sie uns zu ihrer Nahrung brauchen.
Zuerst werden sie uns zerschmettern — Schiffe, Maschinen,
Waffen, -Städte, jede Ordnung, jede Vereinigung. Alles das
wird verschwinden. Hätten wir die Größe von Ameisen, dann
könnten wir davonkommen. Aber wir haben sie nicht. Wir
sind viel zu groß und zu plump. Das ist die erste Gewißheit, j
Was?"
Ich bejahte.
„So ist es; ich habe es ausgedacht. Also gut; was kommt
dann? Zuerst werden wir gefangen, weil man uns nötig
hat. Ein Marsmann braucht nur ein paar Meilen zu gehen,
um einen fliehenden Haufen zu kriegen. Und ich habe einen
gesehen, eines Tages draußen bei Wandsworth, der Häuser in j
Stücke schlug und dann in den Trümmern umherstöberte. Aber
dabei wird es nicht bleiben. Sobald sie mit unseren Geschützen
und Schiffen aufgeräumt, unsere Eisenbahnen zerschmettert haben,
mit all den Dingen, die sie dort drüben tun, fertig geworden
sind, dann werden , sie anfangen, uns systematisch zu fangen,
die Besten von uns auszusuchen und uns in Käfigen und ähn- |
licheu Dinger aufzubewahren. Damit, verlassen Sie sich darauf, I
werden sie in kurzer Zeit beginnen. Mein Gott, sie haben ja
noch gar nicht mit uns angefangen. Sehen Sie denn das
nicht ein?"
„Noch nicht angefangen!" rief ich.
„Noch nicht angefangen", sagte er. „Alles, was bisher
geschehen ist, ist geschehen, weil wir nicht vernünftig genug
waren, still zu halten und sie mit Kanonen und ähnlichen Narr-
heiten geärgert haben. Weil wir unseren Kopf verloren haben
uno rudelweise dorthin stürzten, wo wir nicht um ein Haar
mehr sicherer waren, als wo wir zuerst waren. Sie wollen
183
uns ja nicht behelligen. Sie bringen einfach ihre Angelegenheiten
in Ordnung — verfertigen all die Dinge, die sie nicht mit sich
bringen konnten, und bereiten nur alles für die Übersiedelung
ihres Volkes vor. Es ist sehr leicht möglich, daß die Zylinder
nur deshalb für einige Zeit aufgehört haben, aus Furcht, die
zu treffen, die schon hier sind. Und statt blindlings umherzu-
rasen und Dynamit zu sammeln, in der Hoffnung, sie in die
Luft zu blasen, täten wir viel besser daran, uns ' aufzuraffen
und uns nach dem neuen Stande der Dinge einzurichten. So
lege ich miü's zurecht. Es ist freilich nicht der Zustand, den
der Mensch sich für seine Gattung wünscht, aber es ist der Zu-
stand, auf den die Tatsachen hinweisen. Und es ist der Grund-
satz, nach dem ich zu handeln gedenke. Städte, Völker, Ge-
sinnung, Fortschritt — damit ist es vorbei. D a s Spiel ist
ausgespielt. Wir sind geschlagen."
„Aber wenn es so ist, wozu sollen wir dann noch leben?"
Der Artillerist sah mich einen Augenblick an.
„Du lieber Himmel, Konzerte wird es freilich eine Million
Jahre oder so ähnlich keine mehr geben; und Bilderausstel-
lungen und kleine nette Mahlzeiten in Restaurants auch nicht.
Wenn Sie es aufs Vergnügen abgesehen haben, dann glaube ich,
ist das Spiel aus. Wenn Sie feine Manieren haben oder sich
entsetzen, wenn einer seine Birnen mit dem Messer ißt oder nicht
so spricht, wie's in der Grammatik steht, dann geht's freilich
nicht. Solche Dinge werden Sie in Zukunft nicht mehr brauchen."
„Sie meinen---------."
„Ich meine, daß Männer wie ich fortleben sollen — der
Zucht wegen. Ich sage Ihnen, ich bin fest entschlossen, weiter-
zuleben. Und, wenn sich nicht alles trügt, werden auch Sie
zeigen müssen, was Sie wert sind, und zwar in kurzer Zeit.
Wir lassen uns nicht ausrotten. Und ich habe nicht die Absicht,
mich fangen zu lassen, noch gezähmt und gemästet und gezüchtet
zu werden, wie ein fetter Ochse. Pfui! Denken Sie doch an
diese braunen Kriecher!" —
„Sie wollen doch nicht sagen —."
— 184
,/Ja, das will ich. Ich will weiterleben. Zu ihren Füßen.
Ich habe mir schon den Plan gemacht; habe alles ausgedacht.
Wir Menschen sind geschlagen. Wir wissen noch nicht genug.
Wir haben noch tüchtig zu lernen, ehe die Reihe an uns kommt.
Und wir haben noch zu leben und unabhängig zu sein, solange
wir lernen. Verstehen Sie? Das alles muß noch geschehen."
Ich starrte ihn an, verblüfft und tief bewegt von der Ent-
schlossenheit dieses Mannes.
„Großer Gott!" rief ich. „Sie sind in der Tat ein Mann."
Und ganz unvermittelt ergriff ich seine Hand.
„Was?" sagte er mit leuchtenden Augen. „Ich habe mir's
fein ausgedacht, was?"
„Fahren Sie fort", sagte ich.
„Gut also. Die sich nicht fangen lassen wollen, müssen sich
fertigmachen. Ich mache mich fertig. Passen Sie auf: Nicht
alle unter uns sind für die wilden Tiere gemacht; und darauf
kommt es an. Ich hatte meine Zweifel. Sie sind dünn und
schlank. Wissen Sie, ich wußte ja nicht, daß Sie es waren,
noch daß Sie so lange begraben lagen. Aber alle diese Leute
— diese Gattung Menschen, die in diesen Häusern lebten, und
alle jene albernen kleinen Ladenschwengel, die dort bergab leb-
ten — mit denen wird nichts anzufangen sein. Die haben den
rechten Geist nicht in sich — keine stolzen Träume und keine
stolzen Gelüste; und ein Mensch, der nicht das eine oder das
andere hat — Herrgott! was ist er anders, als ein Jammer-, |
Häring? Sie kennen nichts anderes, als sich zu ihrer Arbeit
trollen —. Ich habe Hunderte von ihnen gesehen; ihr bißchen
Frühstück in der Hand, schwitzen sie und keuchen sie, um ihren
kleinen Saisonbillettzug zu erwischen, aus Furcht, entlassen zu
werden, wenn sie zu spät kommen; dann arbeiten sie an ihrem
Tagewerk, das zu verstehen sie die Mühe scheuen; dann trollen sie
sich wieder eilends heim, aus Furcht, nicht zur rechten Zeit beim
Abendtisch zu sein; nach Tisch bleiben sie fein zu Hause, aus
Angst vor den Hintergassen; dann schlafen sie mit den Weibern,
die sie geheiratet haben, nicht weil sie sie gern hatten, sondern
185
weil diese Weiber ein Stück Geld hatten, das ihrem jämmerlichen
Durch-das-Leben-Keuchen einen kleinen Rückhalt bot. Sie haben
ihr Leben versichert und ein bißchen zurückgelegt aus Furcht vor
möglichen Unfällen. Und an Sonntagen — Furcht vor dem
Jenseits. Als ob die Hölle für Kaninchen gebaut worden wäre.
Nun, für diese Leute sind die Marsleute eine wahre Gottesgabe.
Nette, geräumige Käfige, fettbildendes Futter, sorgfältige Züch-
tung, keine Plage. Nachdem sie eine Woche oder dergleichen
mit leerem Magen durch Felder und Heiden gejagt sind, dann
werden sie kommen und sich mit Vergnügen fangen lassen. Nach
kurzer Zeit werden sie ganz fröhlich sein. Sie werden sich ver-
wundert fragen, was denn die Leute früher taten, als es noch
keine Marsleute gab, die für sie sorgten. Und die Kneipen-
helden und die Pflastertreter und die Sänger — die kann ich
mir ordentlich vorstellen. Die kann ich mir vorstellen", sagte
er mit einer Art düsterer Genugtuung. „Alle Art voll Gefühls-
duselei und Glauben wird dann massenhaft frei werden. Es
gibt hundert Dinge, die ich mit diesen meinen Augen gesehen
habe und die ich erst in diesen letzten paar Tagen zu verstehen
begonnen habe. Da wird es Massen geben, die, fett und dumm,
die Dinge nehmen werden, wie sie sind. Und wieder andere
Massen, die von einer Art Gefühl gequält sein werden, daß
nichts mir rechten Dingen zugeht, und daß sie etwas dagegen
tun sollten. Nun aber, sobald die Dinge so stehen, daß eine
Menge von Leuten die Empfindung hat, etwas tun zu müssen,
dann werfen sich die Schwachen und jene, die vor lauter ver-,
wickeltem Denken schwach werden, einer Religion des Nichts-
tuns in die Arme, die sehr fromm und erhaben ist und sich
jeder Verfolgung als dem Willen des Herrn unterwirft. Sehr
wahrscheinlich haben Sie ganz dasselbe beobachtet. Das ist
die Energie der feigen Angst, die jetzt zum Vorschein kommen
wird. Diese Käsige werden von Psalmen und Lobgesängen und
Frömmigkeit erfüllt sein. Und alle die Leute von weniger ein-
facher Gesinnung werden sich einer Religion mehr fleischlicher
Genüsse hingeben."
186
Er machte eine Pause.
„Es ist leicht möglich, daß die Marsleute einige Lieblinge
unter ihnen haben werden, sie in ihren Schlichen und Kniffen
unterweisen und — wer weiß? — vielleicht sentimental werden
wegen des Lieblingsknaben, der aufwuchs und getötet werden
mußte. Und es mag sein, daß sie einige auch abrichten werden,
auf uns andere Jagd zu machen."
„Nein," rief ich, „das ist unmöglich! Kein menschliches
Wesen---------."
„Was nützt es denn, heute noch solche Lügen aufrechtzu-
erhalten?" sagte der Artillerist. „Es gibt Menschen, die das
mit Vergnügen tun werden. Ein Unsinn, zu behaupten, solche
Menschen gebe es nicht!"
Und ich erlag seiner Überzeugung.
„Wenn die mir in die Nähe kommen werden", sagte er —.
„Herrgott! wenn die mir in die Nähe kommen werden!" und
er verfiel in eine Art grimmigen Brütens.
Ich saß da und dachte über alle diese Dinge nach. Und
es fiel mir nichts ein, womit ich den Gedankengang dieses
Mannes widerlegen hätte können. In den Tagen vor dem
Einbruch der Marsleute hätte wohl niemand meine geistige
Überlegenheit über die seine in Frage gezogen. — Ich, ein
erfahrener und anerkannter Schriftsteller philosophischer Werke,
und er, ein gemeiner Soldat — und dennoch hatte er sich unsere
Lage in einer Weise zurecht gelegt, die ich kaum zu träumen ge-
wagt hatte.
„Und was wollen Sie tun?" fragte ich nach einiger Zeit.
„Was für Pläne haben Sie sich ausgedacht?"
Er zögerte.
„Nun, ich denke mir das etwa so", sagte er. „Was haben
wir zu tun? Wir müssen uns eine Art Leben ersinnen, in dem
die Menschen leben und sich vermehren können und genügende
Bürgschaft besitzen, ihre Kinder aufzubringen. Warten Sie ein
wenig, ich werde Ihnen, was nach meiner Meinung geschehen
muß, klarer machen. Die Zahmen werden gedeihen, wie alle
187
zahmen Tiere; nach einigen Geschlechtern werden sie dick, schön
vollblütig, dumm sein — mit einem Wort: Schund! Es be-
steht nur die Gefahr, daß wir, die Wilden, mit der Zeit verwildern
— und entarten zu einer Art großer, wilder Ratten... Sie sehen
schon, wie unser Leben sein wird: unterirdisch. Ich habe dabei
an die Kanäle gedacht. Natürlich, alle, welche die Kanäle nicht
kennen, stellen sie sich nur als etwas Scheußliches vor; aber
unter diesem London gibt es Meilen und Meilen — Hunderte
von Meilen — solcher Kanäle; und wenn es ein paar Tage
regnet und London entvölkert ist, so sind sie rein und ange-
nehm. Die Hauptkanäle sind groß und luftig für jedermann.
Dann haben wir Keller, Gewölbe, Vorratsräume, von denen
Notausgänge in die Kanäle hergestellt werden können. Und
dann die Eisenbahntunnels und die Unterpflasterwege. Was?
Sie fangen an, zu begreifen? Und wir bilden einen Verband,
Männer mit starkem Körper und reiner Gesinnung. Wir werden
nicht jeden Abfall, der uns zutreibt, auflesen. Schwächlinge
müssen wieder hinaus."
„So wie Sie mich wegstoßen wollten?"
„O, ich unterhandelte doch mit Ihnen? Oder nicht?"
„Nun, wir wollen darüber nicht streiten. Aber fahren Sie
fort, bitte."
„Die, welche bleiben, müssen blindlings gehorchen. Weiber
mit starkem Körper und reiner Gesinnung brauchen wir nicht
minder — als Mütter und Lehrerinnen. Keine schmachtenden
Püppchen, keine albernen Augenverdreherinnen. Schwache und
Dämliche können wir nicht brauchen. Das Leben wird ernst
sein, und die Nutzlosen und Lästigen und Böswilligen müssen
sterben. Sie haben einfach zu sterben. Sie müssen einsehen,
daß sie zu sterben haben. Es ist eine Art von Hochverrat,
dann noch zu leben und die Rasse zu verschlechtern. Und sie
können auch nie glücklich sein. Überdies, Sterben ist nicht so
schrecklich — es ist nur die Angst, die es so arg macht. — Und
an allen jenen Orten werden wir uns versammeln. Unser
Sammelplatz wird London sein. Und vielleicht werden wir
188
sogar imstande sein, Wachen aufzustellen und im Freien umher-
zulaufen, wenn die Marsleute fern sind. Vielleicht Kricket
spielen. Auf die Weise werden wir die Rasse erhalten. Was?
Aber mit dem Erhalten der Rasse ist noch nichts getan. Wie
ich sage, das heißt nur Ratten züchten. Unsere Kenntnisse zu
erhalten und zu vermehren, darauf kommt es an. Da müssen
Männer wie Sie daran. Da gibt's Bücher, da gibt's Modelle.
Wir müssen große, sichere Räume tief drunten errichten und so
viel Bücher zu kriegen suchen, als wir können; nicht Romane
und erdichtetes Gewäsch, sondern Gedanken, wissenschaftliche
Bücher. Da wird es an der Zeit sein, daß Männer wie Sie
dran müssen. Wir müssen ins Britische Museum gehen und
all die Bücher dort durchforschen. Besonders aber müssen wir
unsere Kenntnisse auf der Höhe erhalten und mehr dazu lernen.
Wir müssen diese Marsleute beobachten. Einige von uns werden
Spione sein müssen. Wenn einmal alles eingerichtet sein wird,
werde ich es vielleicht tun. Und die Hauptsache ist, daß wir die
Marsleute ungeschoren lassen müssen. Wir dürfen nicht einmal
stehlen. Wenn sie uns in die Nähe kommen, müssen wir uns
davonmachen. Wir müssen ihnen zeigen, daß wir nichts Böses
im Schilde führen. Ja, ich weiß. Aber sie sind ja sehr kluge
Geschöpfe, und sie werden uns nicht zu Tode jagen, wenn sie
alles haben, was sie brauchen, und.glauben, daß wir nur harm-
loses Gewürm sind."
Der Artillerist hielt inne und legte seine gebräunte Hand
auf meinen Arm.
„Schließlich ist es vielleicht gar nicht so viel, was wir
noch zu lernen haben —. Stellen Sie sich nur einmal vor:
Vier oder fünf ihrer Kriegsmaschinen gehen mit einem Male
ab — Hitzstrahlen rechts und links, aber kein Marsmann in
ihnen. Kein Marsmann in ihnen, sondern Menschen — Menschen,
die gelernt haben, wie man's macht. Vielleicht erlebe ich noch
jene Menschen. Denken Sie sich das doch aus, eins von jenen
reizenden Dingern zu haben, mit seinem Hitzstrahl weit und
frei! Denken Sie sich das doch aus: damit umgehen zu können!
189
Was läge denn daran, nach einem solchen Lauf, nach einem
solchen Hochgenuß in Staub zermalmt zu werden? Die Mars-
leute, die werden ihre schönen Augen aufreißen, das glaube ich!
Sehen Sie sie nicht, Mann? Sehen Sie sie nicht, wie sie hin
und her laufen, wie sie um ihre anderen mechanischen Geschichten
blasen und pfeifen und tuten werden? Aus dem Häuschen
werden sie auf alle Fälle sein. Und huitt, bum, rum, huitt!
Gerade dann, wenn sie umherschießen, huitt kommt der Hitzstrahl,
und sehen Sie! Der Mensch ist wieder in den Besitz des
Seinen gekommen."
Lange Zeit beherrschten die kühne Einbildungskraft des Ar-
tilleristen und der sichere Ton und der Mut, mit dem er seine
Pläne vorbrachte, vollständig meine Gedanken. Ich setzte so-
wohl in seine Prophezeiung der menschlichen Bestimmung, wie
in die Ausführbarkeit seiner erstaunlichen Pläne unbedingten
Glauben. Und der Leser, der mich für leichtgläubig und ein-
fältig hält, muß sich nur den Gegensatz zwischen seiner und
meiner Lage vor Angen halten. Er liest alles nach und nach
und hat Muße, über alles reiflich nachzudenken, und ich kauerte
in furchtbarer Lage in einem Gebüsch und hörte zu, nicht selten
durch Angstvorstellungen verwirrt. Wir sprachen in dieser Art
während der frühen Morgenstunden und krochen dann aus dem
Gebüsch heraus; und nachdem wir behutsam nach Anzeichen
der Marsleute ausgelugt hatten, stürzten wir Hals über Kopf
nach dem Hause auf dem Putneyhügek, in dem er sich seine Höhle
bereitet hatte. Es war der Kohlenkeller; und als ich das Werk
sah, auf das er eine volle Woche verwendet hatte —- eine kaum
zehn Pards tiefe Höhlung, durch die er den Hauptkanal des
Putneyhügels erreichen wollte — da erhielt ich die erste Mah-
nung an die Kluft, die zwischen seinen Träumen und seinen
Kräften gähnte. Ein solches Loch hätte ich an einem einzigen
Tage gegraben. Aber mein Vertrauen zu ihm war stark genug,
mich zu bestimmen, den ganzen Morgen bis kurz nach Mittag
ihm bei seinem Graben zu helfen. Wir hatten einen Garten-
schubkarren und schütteten die ausgegrabene Erde gegen den
190
Küchenherd. Dann stärkten wir uns mit dem Inhalte einer
Mockturtlebüchse und mit etwas Wein aus der nahe gele-
genen Speisekammer. In dieser unausgesetzten Arbeit fand ich
eine seltsame Erholung von meinen qualvollen Erlebnissen. Wäh-
rend wir arbeiteten, beschäftigten sich meine Gedanken mit den
Plänen des Mannes, und bald genug stiegen Einwendungen
und Zweifel in mir auf; aber ich setzte doch die Arbeit den
ganzen Bormittag fort, so froh war ich, wieder ein Ziel zu
haben. Nachdem ich wieder eine Stunde gegraben hatte, fing
ich an, über die Entfernung nachzudenken, die zurückzulegen
war, bis der Kanal erreicht werden konnte — und über die
Möglichkeit, ihn überhaupt zu verfehlen. Meine unmittelbarste
Sorge war die Frage, wozu wir eigentlich diesen langen Gang
gruben, wenn es möglich war, durch die Abzugslöcher sofort
in den Kanal zu kommen und sich dann zum Hause zurück den
Weg zu bahnen. Auch kam es mir vor, als sei das Haus sehr
unglücklich gewählt, da es einen Durchstich von so unnötiger
Länge erforderte. Gerade als ich begann, diese Umstände in
Erwägung zu ziehen, hörte der Artillerist mit dem Graben auf
und blickte mich an.
„Wir arbeiten gut", sagte er und legte seinen Spaten hin.
„Ruhen wir jetzt ein bißchen aus", sagte er. „Ich glaube, es
ist Zeit, daß wir vom Hausdache aus jetzt Umschau halten."
Ich war fürs Weiterarbeiten, und nach einigem Zögern
griff er wieder nach seinem Spaten; und da erfaßte mich ganz
plötzlich ein Gedanke. Ich hielt inne, und er folgte sofort
meinem Beispiel.
„Warum waren Sie eigentlich auf der Weide draußen, statt
hier?" fragte ich.
„Wegen der frischen Luft", sagte er. „Ich kehrte gerade
zurück. Es ist sicherer bei Nacht."
„Aber die Arbeit?"
„O, man kann nicht immer arbeiten", sagte er. Und wie
in einer plötzlichen Erleuchtung erkannte ich den Mann, wie er
war. Er zögerte, den Spaten in der Hand. „Wir sollen jetzt
191
Umschau halten", sagte er. „Sie könnten in die Nähe kommen,
das Klirren unserer Spaten hören und uns unversehens über-
fallen."
Ich hatte keine Lust mehr, ihm zu widersprechen. Wir
stiegen beide aufs Dach hinauf und stellten uns auf eine Leiter,
von der wir durch die Dachluken spähten. Von den Marsleuten
war nichts zu sehen, und so wagten wir uns auf die Dachziegel
hinaus und glitten unter dem Schutze des Dachvorsprunges
hinab. ,
Von dieser Stellung aus verbarg ein Gebüsch den größeren
Teil Putneys, aber wir konnten den Fluß unten sehen, eine
gurgelnde Fläche des roten Gewächses; die niedrigen Teile Lam-
beths waren überschwemmt und blutrot. Die rote Schlingpflanze
bedeckte die Bäume, die um das alte Schloß standen, und ihre
Zweige dehnten sich morsch und absterbend, von vergilbten Blät-
tern bedeckt, aus den Wucherbüschen hervor. Es war seltsam,
wie das Gedeihen beider Marspflanzen so völlig vom fließenden
Wasser abhängig war. Um uns herum konnte keine der beiden
Wurzel fassen; Goldregen, roter Hagedorn, Schneebälle und
eine Gruppe von Lebensbäumen wuchsen aus Lorbeer und Hor-
tensien in leuchtenden Farben und frischem Grün zum Sonnen-
licht auf. Hinter Kensington erhob sich ein dichter Qualm,
der im Verein mit einem blauen Rauchschleier die nördlichen
Hügel einhüllte.
Der Artillerist begann, mir von dem Schlage Menschen zu
erzählen, die in London zurückgeblieben waren.
„In der vorigen Woche", sagte er, „bemächtigten sich eines
Nachts ein paar Narren des elektrischen Lichtes, und die ganze
Regentstreet und der Rundplatz waren taghell erleuchtet und von
einer Menge geschminkter und zerlumpter Trunkenbolde, Männer
und Weiber, dicht besetzt. Die tanzten und johlten bis zur
Morgendämmerung. Ein Mann, der dabei war, hat es mir
erzählt. Und als der Tag anbrach, sahen sie eine Kriegs-
maschine, die hart neben ihnen auf dem Langhamplatz stand
und auf sie herabsah. Der Himmel weiß, wie lange sie schon
192
dort gestanden war. Der Marsmann, der sie lenkte, fuhr jetzt
die Straße hinab auf sie zu und las fast hundert von ihnen auf.
Sie waren zu sinnlos betrunken oder zu entsetzt, um die Flucht
zu ergreifen."
'Wunderlicher Lichtstrahl auf eine Zeit, die keine Geschichte
je völlig beschreiben wird können!
Dann kam der Artillerist, meine Fragen beantwortend,
wieder auf seine, großartigen Pläne zu sprechen. Er redete sich
in eine wahre Begeisterung hinein. Er sprach mit solcher Be-
redsamkeit von der Möglichkeit, sich einer Kriegsmaschine zu
bemächtigen, daß ein gut Teil meines Glaubens an ihn wieder
zurückkehrte. Aber da ich jetzt anfing, etwas von dem Wesen
des Mannes zu begreifen, erriet ich auch, warum er so viel
Wert daraus legte, nichts überstürzt zu tun. Auch bemerkte ich,
daß jetzt nicht mehr davon die Rede war, daß er persönlich sich
der großen Kriegsmaschine bemächtigen werde.
Nach einiger Zeit gingen wir wieder in den Keller hinab.
Keiner von uns schien Lust zu haben, die Grabearbeit wieder
aufzunehmen. Und als er vorschlug, eine Mahlzeit zu nehmen,
hatte ich nichts dagegen. Er wurde plötzlich sehr freigebig, und
als wir gegessen hatten, ging er hinaus und kehrte mit einigen
vorzüglichen Zigarren wieder. Wir steckten sie an, und dabei
glühte auch wieder seine hoffnungsvolle Stimmung. Er war
geneigt, meine Ankunft als eine großartige Gelegenheit zu einem
Fest anzusehen.
„Im Keller gibt's auch etwas Champagner", sagte er.
„Es ist vielleicht besser, wenn wir bei unserem Burgunder
weitergraben", sagte ich.
„Nein", meinte er; „heute bin ich der Wirt. Champagner!
Großer Gott, die Aufgabe, die vor uns liegt, ist schwer genug.
Ruhen wir aus und sammeln wir Kräfte, solange es Zeit ist.
Sehen Sie doch diese schwieligen Hände!"
Und da er an seiner Vorstellung, daß es ein Feiertag sei,
festhielt, bestand er darauf, daß wir nach dem Essen Karten
spielten. Er lehrte mich ,Euere', das amerikanische Whist, und
— 193
da wir London schon zwischen uns verteilt hatten — ich nahm
die nördliche, er die südliche Seite —, spielten wir um Kirchspiele.
So albern und närrisch das auch dem nüchternen Leser scheinen
mag, so ist es doch durchaus wahr, und was noch bemerkenswerter
ist, ich faüd dieses Kartenspiel und noch einige andere, die wir
spielten, äußerst anziehend.
Wie seltsam ist doch der Mensch! Wir, deren Gattung am
Rande der Vernichtung oder doch vor einer erschreckenden Ent-
artung stand, mit keiner anderen Aussicht vor uns, als der
Möglichkeit eines grauenhaften Todes, wir konnten nun dasitzen
und den Glückslaunen dieser bemalten Papierstücke folgen und
mit lebhaftem Entzücken unsere Stiche zählen. Dann lehrte
mich der Artillerist ,Poker', und ich besiegte ihn in drei zähen
Schachpartien. Als die Dunkelheit anbrach, waren wir in einem
derartigen Eifer, daß wir uns entschlossen, es auf eine Entdeckung
ankommen zu lassen und eine Lampe anzuzünden.
Nach einer ungeheuren Reihe von Spielen nahmen wir
unser Abendbrot ein, und der Artillerist machte ein Ende mit
dem Champagner. Wir fuhren fort, Zigarren zu rauchen. Nun
war er aber nicht mehr der tatkräftige Erneueren unserer Gat-
tung, den ich am Morgen in ihm gefunden hatte. Er war noch
immer ein Optimist, aber es war kein umstürzender, es war ein
bedächtiger Optimismus. Ich erinnerte mich, wie er schließlich
mit mir anstieß und in einer Rede von geringer Abwechslung
und mit zahlreichen Unterbrechungen auf meine Gesundheit trank.
Ich nahm mir eine Zigarre und stieg hinauf, um nach den
Lichtern zu sehen, von denen er gesprochen hatte, und die so
grünlich längs den Highgatehügeln leuchten sollten.
Zuerst starrte ich ziemlich geistesabwesend über das Tal
von London. Die nördlichen Hügel waren in tiefes Dunkel
gehüllt, die Feuer in der Nähe von Kensington schienen rötlich
herüber, und hier und da zuckte eine orangefarbene Feuerzunge
auf, um in der tiefblauen Nacht gleich wieder zu verschwinden.
Das ganze übrige London war schwarz. Näher dem Hause be-
merkte ich jetzt ein seltsames Licht, einen blassen, blauvioletten,
Wells, Der Krieg der Welten 13
194
schillernden Schein, der in der Nachtluft hin und her zitterte.
Lange Zeit konnte ich ihn mir nicht erklären, bis es mir ein-
fiel, daß es das rote Gewächs sein mußte, von dein dieser
schwache Strahlenglanz ausging. Mit dieser Wahrnehmung er-
wachte auch wieder mein Gefühl des Staunens, meine Emp-
findung für das Verhältnis der Dinge. Ich blickte hinauf zum
Mars, der rot und klar hoch im Westen glühte, und'dann sah ich
lange und nachdenklich in die Dunkelheit von Hampstead und
Highgate.
Ich blieb sehr lange auf dem Dache und staunte über die
wunderlichen Wechselfälle des Tages. Ich erinnerte mich meiner
geistigen Verfassung, von dem mitternächtigen Gebet an bis zu
dem alberneu Kartenspielen. Ich verspürte ein Aufbäumen
meiner Gefühle. Ich erinnere mich, wie ich in einer Art ver-
schwenderischer Symbolik meine Zigarre wegschleuderte. Meine
Narrheit kam mir in verzerrter Übertreibung zum Bewußtsein.
Ich erschien mir als Verräter an meinem Weibe und an meiner
Gattung. Ich war erfüllt von Reue. Ich beschloß, diesen son-
derbaren ungezügelten Träumer großer Dinge seiner Flasche
und seinen Gelagen zu überlassen und nach London weiter zu
gehen. Dort würde ich wohl am ehesten erfahren können, was
die Marsleute und meine Mitmenschen jetzt taten. Ich befand
mich noch auf dem Dache, als der späte Mond aufging.
VIII.
Das tote London.
Nachdem ich mich von dem Artilleristen verabschiedet hatte,
ging ich den Hügel hinab und durch die High Street über die
Brücke nach Lambeth. Das rote Gewächs war hier besonders
üppig und versperrte fast hen Weg zur Brücke; aber seine Zweige
waren bereits von der immer weiter um sich greifenden Krank-
heit, die es so bald und so rasch vernichten sollte, gebleicht.
An der Ecke des Weges, der zum Bahnhof der Putneybrücke
führte, sah ich einen Mann liegen. Der schwarze Staub gab
195
ihm das Aussehen eines Schornsteinfegers; er lebte, war aber
sinn- und hilflos betrunken. Ich brachte nichts ans ihm heraus,
als Flüche und wütende Stöße gegen meinen Kopf. Ich glaube,
daß ich bei ihm geblieben wäre, hätte der rohe Ausdruck seines
Gesichts mich nicht abgeschreckt.
Auf der Straße, die von der Brücke weiter lief, war überall
der schwarze Staub zu sehen, der in Fulham noch dichter wurde.
Tie Straßen waren grauenvoll still. In einem Bäckerladen
fand ich etwas zu essen; es war sauer, hart und schimmelig, aber
noch ganz genießbar. Etwas weiter gegen Walham Green zu
waren die Straßen frei von Pulver; ich kam an einer lichterloh
brennenden Häuserreihe hinter einem terrassenartigen Vorsprung
vorüber. Der Lärm des Feuers schien mir geradezu eine Er-
leichterung. Als ich in der Richtung nach Brompton weiterschritt,
fand ich die Straße wieder ganz still.
Hier nun stieß ich abermals auf das schwarze Pulver und
auf Menschenleichen. Ich sah auf der langgelehnten Fulham-
straße, alles in allem, etwa ein Dutzend. Der Tod. hatte diese
Leute schon vor vielen Tagen ereilt, so daß ich schleunigst an
ihnen vorübereilte. Das schwarze Pulver bedeckte sie über
und über und milderte ihre Züge. Einer oder zwei waren schon
von Hunden entstellt worden.
Wo sich kein schwarzes Pulver fand, hatte das Straßenbild
eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem eines Sonntags in der
City: die geschlossenen Läden, die festversperrten Häuser, die
herabgelassenen Vorhänge, die Verödung, die Stille. In manchen
Häusern waren schon Plünderer an der Arbeit gewesen, aber
kaum nach anderen Dingen, als nach Eßvorräten und Wein.
In einem Hause fand ich das Schaufenster eines Goldschmieds
erbrochen, aber der Dieb war offenbar gestört worden, denn
eine Anzahl goldener Ketten und Uhren lagen verstreut auf dem
Straßeupflaster. Ich hielt mich nicht auf, die Dinge zu be-
rühren. Etwas weiter fand ich ein zerlumptes Weib zusammen-
gekauert auf einer Türstufe sitzen; die Hand, die über ihr Knie
herabhing, wies eine klaffende Wunde auf und das Blut rieselte
13*
196
über ihr rostbraunes Kleid; eine große zerbrochene Champagner-
flasche bildete eine Lache auf dem Straßenpflaster. Das Weib
schien schlafend, war aber tot.
Je weiter ich in London eindrang, desto tiefer wurde die
Stille. Aber es war nicht so sehr die Stille des Todes — es
war die Stille des Bangens, der Erwartung. Jeden Augen-
blick konnte die Zerstörung, welche schon die Nordwestgrenze
der Hauptstadt in Brand gesteckt und Ealing und Kilburn zer-
stört hatte, auch diese Häuser treffen und sie in einen rauchenden
Trümmerhaufen verwandeln. Es war eine zum Tode ver-
urteilte, im Stiche gelassene Stadt.
JnSouth-Kensington waren weder Leichname noch schwarzes
Pulver zu sehen. Es war in der Nähe von South^-Kensington,
daß ich zum ersten Male das Geheul hörte. Es schlich sich fast
unmerklich in meine Sinne. Es war ein schluchzender Wechsel
zweier Töne: „Ulla, ulla, ulla, ulla", klang es unaufhörlich.
Als ich durch Straßen kam, die nach Norden führten, schwoll
es stark an, und Häuser und Mauern schienen es abzuschwächen
und endlich zum Schweigen zu bringen. In der Ausstellungs-
straße schwoll es zur vollen Kraft an. Ich blieb verwundert
stehen, starrte nach dem Kensingtonpark und begriff nicht, was
dieses ferne Klagegeheul zu bedeuten hatte. Es war, als hätte
die gewaltige Häuserwüste eine Stimme für ihre Furcht und
ihre Einsamkeit gesunden.
„Ulla, ulla, ulla, ulla", klagte dieser übermenschliche Ton
— große Schallwogen fegten die breiten, sonnenhellen Straßen
zwischen den hohen Gebäuden auf beiden Seiten hinab. Von
Staunen ergriffen, wandte ich mich nach Norden gegen die
eisernen Tore des Hydeparks. Ich überlegte schon, ob ich in
das naturhistorische Museum eindringen und auf die Spitze
seines Turmes klettern sollte, um über den Park hinüberzu-
sehen. Aber ich entschloß mich doch, unten zu bleiben, wo ich
doch bessere Gelegenheit finden konnte, mich im Notfälle rasch
zu verstecken, und so ging ich auf der Ausstellungsstraße weiter.
Alle die großen Zinshäuser auf beiden Seiten der Straße waren
197
leer und still, und meine Schritte hallten gegen die Häuser
wider. Am Ende der Straße, in der Nähe des Parkeinganges,
bot sich mir ein seltsamer Anblick — ein umgestürzter Stell-
wagen und das sauber abgenagte Gerippe eines Pferdes. Das
machte mich eine Zeitlang stutzig, dann aber ging ich über die
Brücke des Serpentinenteiches. Die Stimme wurde lauter und
lauter, obwohl ich jenseits der Häuserdücher auf der Nordseite
des Parkes nichts sehen konnte, als einen Rauchschleier im
Nordwesten.
„Ulla, ulla, ulla, ulla", heulte die Stimme, die, wie mir
schien, vom Bezirke um den Regentspark her kam. Der trost-
lose Schrei lastete sich mir auf die Seele. Die mutige Stim-
mung, die mich bisher aufrecht erhalten hatte, schwand wieder.
Das Klagegeheul bemächtigte sich meines Gemüts. Ich fand,
daß ich unendlich elend, ermattet und hungrig und durstig war.
Es war schon Mittag vorüber. Warum wanderte ich denn
da allein umher in dieser Stadt des Todes? Warum blieb ich
denn allein zurück, jetzt, da ganz London, in schwarzes Leichen-
tuch gehüllt, auf der Bahre lag? Ich fand meine Vereinsamung
unerträglich. Ich dachte an alte Freunde, die ich jahrelang ver-
gessen hatte. Ich dachte an die Gifte in den Chemikergeschäften,
an den Trank, den die Weinhändler aufgespeichert hatten;
ich dachte an die zwei weinseligen Geschöpfe der Verzweiflung,
die, soviel ich wußte, den Besitz der Stadt mit mir teilten.
Ich gelangte durch das Marmortor des Hydeparks in die
Oxfordstreet; hier fand ich wieder schwarzes Pulver und Leichen;
ein abscheulicher und verdächtiger Geruch stieg aus den Keller-
fenstern einiger Häuser auf. Die Hitze und mein langer Marsch
machten mich sehr durstig. Nach unendlicher Mühe gelang es
mir, in eine Schenke einzubrechen und etwas zu essen und zu
trinken zu finden. Nach der spärlichen Mahlzeit wurde ich
müde, ging in eine Stube hinter dem Schenktisch und schlief
auf einen: schwarzen Roßhaarruhebett, das ich dort fand.
Ich erwachte, um jenes schauerliche Geheul noch immer in
den Ohren klingen zu hören. „Ulla, ulla, ulla, ulla." Es
198
dämmerte schon, und nachdem ich einige Zwiebackstücke und etwas
Käse inl Schankzimmer zusammengerafft hatte — das Fleisch
war wohl unberührt, aber es bestand fast aus nichts, als aus
Maden — wanderte ich über die ruhigen Wohnplätze zur Baker-
str^et — der Portmanplatz ist der einzige, den ich mit Namen
nennen könnte — und gelangte endlich an den Regentspark.
Und als ich aus der Bakerstreet heraustrat, sah ich in weiter
Ferne jenseits der Bäume im klaren Lichte des Sonnenunter-
gangs die Haube eines Marsriesen, von dem das Geheul aus-
ging. Ich empfand keinerlei Furcht. Ich schritt auf ihn zu, als
wäre das eine ganz natürliche Sache. Eine Zeitlang beobachtete
ich ihn, aber er rührte sich nicht. Er stand nur da und heulte
aus einem Grunde, den ich nicht entdecken konnte.
Ich versuchte mir einen Plan zurechtzumachen. Dieses
unausgesetzte Geheul, dieses „Ulla, ulla, ulla, ulla" verwirrte
meinen Geist. Vielleicht war ich auch zu müde, um Furcht zu
haben. Gewiß ist, daß die Begierde, der Ursache dieses eintönigen
Geheuls auf den Grund zu kommen, stärker war als meine
Furcht. Ich wandte mich nun vom Park weg und schlug mich
in die Parkstraße mit der Absicht, den Park zu umgehen, ging
dann unter dem Schutz der Terrassen immer weiter, und bekam
nun diesen beständig heulenden Marsmann aus der Richtung
von St. Johns Wood zu Gesicht. Etwa zweihundert Pards von
der Bakerstreet entfernt hörte ich ein vielstimmiges, wütendes
Gekläff und sah erst einen Hund mit einem Stück fauligen, roten
Fleisches in den Zähnen blitzschnell auf mich zulaufen, und dann
eine Mente halbverhungerter Köter, die ihn verfolgten. Er
machte einen weiten Bogen, um mir auszuweichen, als fürchtete
er, in mir einen neuen Wettbewerber zu finden. Als das
Gekläff die breite Straße hinunter erstarb, scholl der klagende
Laut des „Ulla, ulla, ulla, ulla" mit verdoppelter Kraft.
Aus dem halben Wege zum Bahnhof von St. Johns Wood
stieß ich auf eine zertrümmerte Handhabemaschine. Erst glaubte
ich, daß ein Haus über die Straße gestürzt sei, aber als ich
unter seinen Trümmern umherkletterte, begriff ich, fast zurück-
199
prallend, die wahre Art dieses niedergestreckten mechanischen
Simson, dessen Tastwerkzeuge verbogen und zerschmettert und
verdreht unter den Trümmern, die es verursacht hatte, umher-
lagen. Der vordere Teil war zerschellt. Es schien, als sei die
Maschine geradewegs blindlings gegen das Haus gerannt und
durch die eigene Wucht, geborsten. Ich konnte mir nur vorstellen,
daß das mit einer Handhabemaschine geschehen sein könne, die
der Leitung ihres Marsmannes ledig war. Ich könnte nicht
genügend unter ihren Trümmern umherklettern, um sie genau
zu prüfen, und die Dämmerung war noch nicht so weit vor-
geschritten, um das Blut, mit dem ihr Sitz beschmiert war,
und die benagten Knorpeln des Marsmannes, welche die Hunde
übriggelassen hatten, meinen Blicken zu verbergen.
Von -Staunen über alle die Dinge, die ich gesehen hatte,
erfüllt, drang ich bis gegen den Primrosehügel vor. Weit ent-
fernt, sah ich durch eine Öffnung in den Bäumen einen zweiten
Marsmann, der schweigend und regungslos wie der erste im
Park gegen den zoologischen Garten zu dastand. In der Nähe
der Trümmer, die um die zerschmetterte Handhabemaschine lagen,
stieß ich wieder auf das rote Gewächs und fand den Regents-
kanal in eine schwanunige Masse dunkelroter Wncherpflanzen
verwandelt.
Plötzlich, gerade als ich über die Brücke schritt, hörte der
Ton des „Ulla, ulla, ulla" auf. Es war, als sei er entzwei-
geschnitten. Die Stille brach herein wie ein Dronnerschlag.
Die dämmerigen Häuser um mich herum standen unklar und
hoch und verschwommen da; die Bäume des Parkes hüllten sich
in Finsternis. Von allen Seiten kroch das rote Gewächs an
mich heran, als wollte es mich in seine Fänge verstricken. Die
Nacht, die Mutter der Angst und des Geheimnisses, brach über
mich herein. Solange jene Stimme noch ertönte, waren die
Einsamkeit, die Verlassenheit noch erträglich gewesen; solange
sie da war, schien London noch Leben zu enthalten, und das
Bewußtsein des Lebens um mich hatte mich aufrecht erhalten.
Und jetzt plötzlich ein Umschlag, das Aufhören von etwas —
200
ich wußte nicht was — und dann eine Stille, die man geradezu
fühlen konnte. Nichts als diese unheimliche Stille.
London schien mir ein geisterhaftes Wesen. Die Fenster
in den weißen Häusern sahen aus wie die Augenhöhlen von
Totenschädeln. Um mich herum fühlte ich es wie das Regen
von tausend geräuschlosen Feinden. Das Entsetzen faßte mich,
ein Grauen vor meiner Vermessenheit. Vor mir wurde die
Straße pechschwarz, als sei sie von Teer erfüllt, und eine ver-
krümmte Gestalt versperrte mir den Weg. Ich brachte es nicht
über mich, weiter zu gehen. Ich kehrte wieder zur St. Johns
Woodstraße zurück und rannte wie besessen vor dieser unerträg-
lichen Stille gegen Kilburn. Ich versteckte mich vor der Nacht
und der Stille, spät erst nach Mitternacht, in einer Kutscher-
herberge in der Harrowstraße. Aber noch ehe der Morgen
graute, kehrte mein Mut zurück, und während die Sterne noch
am Himmel standen, wandte ich mich wieder dem Regentspark zu.
In dem Straßengewirr verlor ich den rechten Weg; bald über-
sah ich weit unten, am Ende einer langen Straßenzeile, im
Halblichte der frühen Dämmerung die runden Linien des Prim-
rosehügels. Ans seiner Spitze stand, sich hoch gegen die erblassen-
den Sterne auftürmend, ein dritter Marsmann, aufrecht und
regungslos wie die anderen.
Ein wahnwitziger Entschluß hatte sich meiner bemächtigt.
Ich wollte allem ein Ende machen und sterben. Und ich wollte
mir selbst die Mühe sparen, mich selbst zu töten. Gleichmütig
ging ich auf den Titanen zu; als ich aber näher kam und es
immer Heller wurde, da sah ich, daß ein Schwarm schwarzer
Vögel flatternd seine Haube umkreiste. Bei diesem Anblick stand
mein Herz fast still, und ich begann die Straße hinabzulaufen.
Ich arbeitete mich durch das rote Gewächs durch, das die
St. Edmundsterrasse dicht umsponnen hatte. Brusthoch watete
ich durch einen Gießbach, der von den Wasserwerken zur Albert-
straße hinrauschte. Noch vor Sonnenaufgang erreichte ich den
Grasplatz. Auf dem Kamme des Hügels waren große Erdhaufen
aufgeworfen, die aus ihm eine mächtige Schanze machten: es
201
war das letzte und größte Kriegslager, das die Marsleute auf-
geschlagen hatten. Hinter diesen Erdhaufen stieg ein dünner
Rauch zum Himmel auf. In weiter Ferne sah ich einen gierigen
Hund laufen und verschwinden. Der Gedanke, der mir durch
den Kopk zuckte, wurde Wirklichkeit, wurde glaubhaft. Ich emp-
fand keine Angst, nur ein wildes, zitterndes Jubelgefühl, als
ich den Hügel aufwärts auf das regungslose Ungetüm zustürmte.
Aus seiner Haube hingen dünne, braune Lappen herab, an denen
die hungrigen Vögel pickten und zerrten.
Jur nächsten Augenblick hatte ich die Erdschanze erklettert
und stand auf dem Kamm des Hügels, das Innere des Lagers
tief unter mir. Es war ein mächtiger Raum, da und dort standen
riesige Maschinen, ungeheure Lager von Werkzeugen und selt-
same Schutzvorrichtungen. Und überall zerstreut, einige in den
umgestürzten Kriegsmaschinen, einige in den jetzt ruhigen Hand-
habemaschinen, und ein Dutzend steif und still, in einer Reihe
hingestreckt, lagen die Marsleute — tot — erwürgt von den
fäulnis- und krankheiterregenden Bakterien, gegen die ihre kör-
perliche Beschaffenheit widerstandslos war; erwürgt, wie das
rote Gewächs erwürgt worden war; erwürgt, nachdem alle An-
schläge der Menschen fehlgeschlagen hatten, von den niedrigsten
Wesen, die Gott in seiner Weisheit ins Leben gerufen hat.
Und so war gekommen, was ich und viele andere Leute
hätten vorhersehen können, hätten nicht Schrecken und Unglück
unseren Verstand verblendet. Diese Krankheitskeime haben seit
Anbeginn der Dinge ihren Zoll von der/Menschheit gefordert —
schon von unseren vormenschlichen Ahnen, seitdem Leben auf
unserem Stern bestand. Aber durch die Fähigkeit der natür-
lichen Zuchtwahl unserer Gattung haben wir die Widerstands-
kraft gegefl sie entwickelt; wir unterliegen keinem dieser Keime
ohne Kamps, und gegen viele — z. B. jene, welche in toten
Körpern Fäulnis hervorrufen — sind unsere Leiber überhaupt
gefeit. Aber auf dem Mars gibt es keine Bakterien, und von
dem Augenblick an, als jene Eindringlinge auf der Erde an-
langten, als sie aßen und tranken, machten unsere mikroskopischen
202
Verbündeten sich ans Werk, sie zu vernichten. Schon damals, als
ich sie beobachtete, waren sie unwiderruflich dem Tode ver-
fallen, starben und siechten sie hin, wahrend sie noch hin und her
gingen. Es war unvermeidlich. Durch das Opfer Millionen
Toter hat der Mensch sich sein Erstgeburtsrecht auf der Erde
erkauft, und trotz aller fremden Eindringlinge ist sie sein; sie
ist sein, und wären die Marsleute auch zehnmal so mächtig als
sie sind. Denn die Menschen leben weder, noch sterben sie ver-
geblich.
Hier und dort verstreut lagen sie da, fast fünfzig Marsleute
zusammen in der großen Schlucht, die sie sich gegraben hatten,
überwältigt von einem Tode, der ihnen so unfaßbar gekommen
sein muß, wie es ein Tod nur sein kann. Auch mir schien dieser
Tod damals noch unfaßbar. Alles, was ich wußte, war, daß
diese Wesen, die lebend ein solcher Schrecken für die Menschheit
waren, nun tot waren. Einen Augenblick lang glaubte ich, daß
das Gericht des Sennacherib sich wiederholt hätte, daß Gott
bereut und seinen Todesengel ausgesandt hätte, der sie in der
Nacht erschlug.
Ich stand da und starrte in die Grube, und mein Herz emp-
fand eine beseligende Erleichterung, gerade als die aufgehende
Sonne mit ihren Strahlen die Welt um mich in Glanz tauchte.
In der Grube herrschte noch Finsternis; die riesigen Maschinen,
so groß und wunderbar in ihrer Kraft und Vollendung, so un-
irdisch in ihren gewundenen Formen, ragten unheimlich und
verschwommen und abenteuerlich aus dem Schatten in das Licht
auf. Ein Rudel Hunde hörte ich tief unter mir um die Leichen
sich balgen, die dunkel in der Tiefe der Grube lagen. Jenseits
der Grube, an ihrem fernsten Rande, lag flach und riesenhaft
und seltsam die große Flugmaschine, mit der die Marsleute in
unseren dichteren Luftschichten Versuche angestellt hatten, als
Verfall und Tod ihnen Einhalt geboten. Der Tod war nicht
einen Tag zu früh gekommen. Ein Krächzen über mir ließ mich
nach oben blicken aus die ungeheure Kriegsmaschine, die nun
niemals wieder kämpfen würde, auf die zerfetzten roten Fleisch-
203
lappen, die auf die umgestürzten Bänke auf der Spitze des
Primrosehügels herniedertropften.
Ich wandte mich um und sah den abschüssigen Hügel hinab,
wo, von einem Kranze Vögel eingehüllt, jene anderen beiden
Marsleute standen, die ich in der vorigen Nacht gesehen hatte,
gerade als der Tod sie ereilte. Der eine war verendet, als er
eben nach seinem Gefährten geschrien hatte; vielleicht war er
der letzte Tote gewesen und hatte seine Stimme unaufhörlich
erschallen lassen, bis die Kraft seines Lebens erschöpft war.
Die Maschinen schimmerten nun, harmlose, dreifüßige Türme
leuchtenden Metalls, im Glanze der aufsteigenden Sonne.
Und rings um die Grube herum und wie durch ein Wunder
vor ewiger Zerstörung gerettet, breitete sich die große Mutter
der Städte aus. Jene, welche London nur in diei düsteren Schleier
des Rauches gehüllt gesehen haben, vermögen sich die nackte
Klarheit und Schönheit der schweigenden Wiidnis seiner Häuser
kauni vorzustellen.
Ostwärts, jenseits der rauchgeschwärzten Trümmer der Al-
bertterrasse und des zersplitterten Kirchturms, strahlte die blen-
dende Sonne auf dem wolkenlosen Himmel; und hier und da fing
eine glitzernde Fläche in dem großen Gewirr von Dächern das
Licht auf und glühte in schimmendem Weiß. Das Licht berührte
selbst die runden Weinspeicher beim Chalk Farm-Bahnhof und
die weitgedehnten Höfe des Bahngebäudes, die sonst durch die
zahllosen Stränge schwarzer Schienen kenntlich waren, heute aber
im schnellen Rosten einer vierzehntägigen Feier, fast in einer
Art geheimnisvoller Schönheit rot erglänzten.
Nordwärts lagen Kilburn und Hampstead, blau und mächtig
in ihreni Gedränge von Häusern; westwärts lag die große Stadt
im Nebel; aber südwärts, jenseits der Marsleute, traten die
grünen Wellen des Regentsparkes, das Langham Hotel, der Turm
der Albert Hall, das Reichsinstitut und die riesigen Zinshäuser
der Bromptonstraße klar und winzig im Lichte des Sonnen-
aufgangs heraus- und die zackigen Trümmer von Westminster
ragten nebelhaft im Hintergründe auf. In weiter Ferne sah
204
ich die blauen Surreyhügel, und die Türme des Kristallpalastes
schimmerten wie zwei Silberstäbe. Der Dom der St. Pauls-
kirche hob sich düster vom Glanze der aufgehenden Sonne ab
und war, wie ich jetzt erst sah, durch eine große klaffende Spal-
tung an der Westseite beschädigt.
Und als ich auf diese stille und verlassene Fläche von Häu-
sern, Fabriken und Kirchen blickte — als ich au die unendlichen
Hoffnungen und Mühen, die zahllosen Scharen von Menschen-
leben dachte, die der Bau dieses Riesenwerkes gekostet hatte, und
an die pfeilschnelle und rohe Zerstörung, die wie ein Gewitter
über all dem gehangen hatte — als ich nun die Gewißheit hatte,
daß die schweren Wolkenschatten wieder gewichen waren und daß
die Menschen wieder in diesen Straßen leben konnten und diese
meine teure, riesige, tote Stadt wieder zum Leben und zur Macht
zurückkehren würde — da wogte ein Strom von Empfindungen
durch meine Seele, die mich fast dem Weinen nahe brachte.
Die Qual war vorüber. Heute noch sollte die Heilung be-
ginnen. Die über das ganze Land zerstobenen Überlebenden —
die führerlos, rechtlos, ohne Nahrung wie Schafe ohne ihren
Hirten umherirrten — die Tausende, die zu Schiff entflohen
waren — alle sollten nun zurückkehren. Der Puls des Lebens
sollte, immer stärker und stärker anschwellend, nun wieder in
den leeren Gassen schlagen und sich über die verlassenen Plätze
ergießen. Was die Verwüstung auch betroffen hatte, die Hand
des Verwüsters war verdorrt. Die Hand des Verwüsters war
verdorrt! Alle diese elenden Trümmer, diese schwarzen Ge-
rippe von Häusern, die so unheimlich auf das sonnenbeglänzte
Gras des Hügels starrten, sie würden bald widerhallen von den
Hämmern der Wiedererbauer und fröhlich erklingen unter dem
Klopfen der Kellen. Bei diesem Gedanken breitete ich meine
Hände zum Himmel aus. In einem Jahre, dachte ich — in
einem Jahre...
Und dann kam mit überwältigender Kraft der Gedanke an
mich selbst, an mein Weib und an das alte Leben voll Hoff-
nung und zarter Hilfe, das für immer geschwunden war.
205
IX.
Die Verwüstung.
Und nun kommt das Seltsamste in meiner Geschichte. Und
.doch ist es eigentlich gar nicht so seltsam. Klar und kühl und
lebhaft erinnere ich mich an alles, was ich an jenem Tage tat,
bis zu jener Zeit, da ich auf der Spitze des Primrosehügels stand.
Von den nächsten drei Tagen weiß ich nichts. Seither er-
fuhr ich, daß nicht ich der erste Entdecker des Zusammenbruchs der
Marsleute war, sondern daß einige gleich mir in der Irre wan-
dernde Überlebende in -der vorigen Nacht ihn entdeckt hatten.
Ein Mann — der erste — war nach St. Martins-le-Grand ge-
gangen; und während ich in der Kutscherherberge Zuflucht ge-
funden hatte, war es ihm geglückt, nach Paris zu telegrafieren.
Und von dort zuckte die freudige Botschaft über den ganzen Erd-
kreis; Tausende von Städten, die von grauenvollen Vorstel-
lungen erschüttert waren, gaben sich nun der wildesten Be-
geisterung hin; man wußte es schon in Dublin, Edinburgh, Man-
chester und Birmingham zu jener Zeit, da ich noch zweifelnd am
Rande der Grube stand. Schon rüsteten die Menschen, vor Freude
weinend und jubelnd — die, wie ich hörte, ihre Arbeit unter-
brachen, nur um sich die Hände zu schütteln und zu jubeln,
Eisenbahnzüge aus — sogar schon in Crewe, um nach London
zu kommen. Die Kirchenglocken, die vierzehn Tage lang ver-
stummt waren, fingen die Nachricht auf, und ganz England
war ein Glockengeläute. Heruntergekommene Männer mit ein-
gefallenen Zügen sausten auf Rädern alle Wege entlang, um
die unverhoffte Erlösungsbotschaft den hageren, wild dreinstar-
renden Geschöpfen der Verzweiflung zuzurufen. Und die Le-
bensmittel! Über den Kanal, über die Irische See, über den
Atlantischen Ozean brachte man Getreide, Brot und Fleisch,
um unserer Not zu helfen. In jenen Tagen schien es, als
steuerten die Schiffe der ganzen Welt London zu. Aber von
allem dem wußte ich nichts. Ich irrte umher — ein seines Ver-
206
standes beraubter Mann. In dem Hause gütiger Menschen, die
mich aufgegriffen hatten, als ich weinend und rasend in den
Gassen von St. Johns-Wood umherstreifte, kam ich wieder zu
mir. Sie erzählten mir, daß ich unaufhörlich einen sinnlosen
Gassenhauer sang, so ähnlich wie „Der letzte, der am Leben blieb,
hurra! Der letzte, der am Leben blieb!" So sehr sie auch
von ihren eigenen Angelegenheiten bekümmert waren, belasteten
diese Menschen, deren Namen ich nicht nennen darf, so gerne ich
ihnen auch hier meine Dankbarkeit zeigen möchte, sich dennoch
auch mit mir, gaben mir Obdach und beschützten mich vor mir
selbst. Offenbar hatten sie während der Tage meines Irreseins
manches von meinen Erlebnissen erfahren.
Als meine Vernunft wieder zurückgekehrt war, brachten
sie mir sehr zart das wenige bei, was sie vom Schicksal Leather-
heads in Erfahrung gebracht hatten. Zwei Tage nach meiner
Einkerkerung in Sheen war das Dorf, mit jeder lebenden Seele
darin, von einem Marsmann zerstört worden. Er hatte es dem
Erdboden gleichgemacht, ohne jeden Grund, wie es schien, ganz
so, wie etwa ein Knabe aus bloßer Lust, seine Macht fühlen zu
lassen, einen Ameisenhaufen zerstampft.
Ich war ein einsamer Mann, und jene waren sehr gütig
gegen mich. Ich war einsam und traurig, und doch duldeten
mich jene bei sich. Nach meiner Erholung blieb ich noch vier
Tage bei ihnen. Während dieser ganzen Zeit fühlte ich eine un-
bestimmte, wachsende Sehnsucht, noch einmal, ein letztes Mal,
einen Blick zu tun auf.das wenige, was von dem kleinen Leben
übriggeblieben war, das so glücklich und hell in meiner Ver-
gangenheit geleuchtet hatte. Es war nur ein hoffnungsloses
Sehnen, noch einmal in meinem Jammer zu schwelgen. Meine
Wirtsleute rieten mir ab. Sie taten alles, was sie konnten,
um mich von diesem krankhaften Verlangen abzubringen. Aber
endlich konnte ich dieser Eingebung nicht länger widerstehen;
ich gab ihnen das feste Versprechen, zu ihnen zurückzukehren,
und verabschiedete mich, wie ich bekennen muß, mit Tränen von
diesen Menschen, die in vier Tagen mir zu Freunden geworden
207
waren, dann ging ich wieder in die Straßen hinaus, die jüngst
noch so düster und seltsam und öde gewesen waren.
Schon aber waren sie wieder erfüllt von zurückkehrenden
Menschen: hier und da waren schon wieder Geschäfte offen, und
ein Springbrunnen spendete wieder frisches Wasser.
Ich erinnere mich noch des fast höhnend schönen Tages, an
dem ich meine traurige Pilgerfahrt nach dem kleinen Hause tu
Woking antrat, wie geschäftig die Straßen waren, wie frisch
sich das Leben wieder rings um mich regte. Es war eine solche
Unzahl von Menschen, die sich in tausend Beschäftigungen in den
Straßen ergingen, daß es fast unglaublich schien, daß ein nen-
nenswerter Bruchteil der Bevölkerung getötet worden sein konnte.
Aber dann bemerkte ich, wie gelb die Haut der Leute war, die
ich begegnete, wie zerrauft ihr Haar war, wie fieberhaft glänzend
ihre Augen; jeder zweite Mensch trug noch seine beschmutzten
Lappen. Alle Gesichter schienen nur zwei Mienen auszudrücken
— entweder überschäumenden Jubel und feste Tatkraft, oder-
grimmige Entschlossenheit. Von diesem Ausdruck der Gesichter
abgesehen, schien London eine Stadt von Landstreichern zu sein.
Die Bezirksämter verteilten wahllos das Brot, das die fran-
zösische Regierung gesandt hatte. Den wenigen Pferden, die
man sah, traten die Rippen unheimlich heraus. Abgemagerte
Schutzleute mit weißen Abzeichen standeü an jeder Straßenecke.
Von dem Schaden, den die Marsleute gestiftet hatten, sah ich
nur wenig, bis ich zur Wellingtonstraße kam; dort erblickte ich
wieder das rote Gewächs, das sich an die Strebebogen der
Waterloobrücke anklammerte.
An der Ecke der Brücke fiel mir auch ein Bild in die Augen,
das in jener an krausen Gegensätzen überreichen Zeit zu den
Alltäglichkeiten gehörte. Gegen ein Dickicht des roten Gewächses
flatterte ein Blatt Papier, das ein Stab, der es durchlöcherte,
festhielt. Es war der Anzeigenbogen der ersten Zeitung, die
ihren Betrieb wieder aufgenommen hatte: der „Daily Mail".
Für einen geschwärzten Schilling, den ich in meiner Tasche fand,
kaufte ich mir ein Blatt. Der größte Teil des Papiers war leer;
208
aber der einsame Verfasser, der es veröffentlichte, hatte sich
damit vergnügt, das stereotype Schema eines „Kleinen Anzeigers"
auf die Rückseite zu drucken. Der eigentliche Inhalt erschöpfte
sich in Empfindungen; der Nachrichtendienst hatte noch nicht
seinen Weg zurückgefunden. Ich erfuhr nichts Neues, außer daß
schon binnen einer Woche die Prüfung der Werkzeuge der Mars-
leute zu erstaunlichen Ergebnissen geführt hatte. Unter anderem
versicherte die Zeituug, was ich damals noch nicht glaubte, daß
das Fluggeheimnis entdeckt worden sei. Im Bahnhöfe Waterloo
fand ich schon die Gratiszüge bereit, welche die Leute in ihre
Heimatsorte befördern sollten. Der erste Ansturm war schon
vorüber. Es waren nur wenige Leute im Zuge, und ich war
nicht in der Stimmung, gelegentliche Gespräche anzuknüpfen.
Ich erhielt eine Wagenabteilung für mich allein und saß mit
verschränkten Armen da und blickte trüb auf die vom Sonnen-
licht erhellten Bilder der Verwüstung, die an den Fenstern vorbei-
jagten. Gerade außerhalb des Bahnhofs polterte der Zug über
provisorisch gelegte Schienen, und auf jeder Seite des Bahn-
dammes lagen die Häuser in rauchgeschwärzten Trümmern. Bis
zum Knotenpunkt von Clapham war das Antlitz Londons vom
schwarzen Rauch verdunkelt, trotz zweier Tage heftigen Gewitter-
regens; und in Clapham war die Bahn wieder zerstört. Ich
sah Hunderte von arbeitslosen Schreibern und Ladenburschen,
die Seite an Seite mit den gewöhnlichen Arbeitern sich mit der
Ausbesserung der beschädigten Stellen beschäftigten; wir polter-
ten lange Zeit auf hastig angelegten Dämmen.
Die ganze Bahnlinie entlang bot das Land einen trostlosen,
fremdartigen Anblick. Besonders Wimbledon hatte schwer ge-
litten. Dank dem Widerstand seiner Fichtenwälder schien von
allen Ortschaften an der Bahn Walton am wenigsten von der
Verwüstung getroffen worden zu sein. Der Wandle, der Mole,
jeder kleine Bach war nichts als eine aufgetürmte Menge
roten Gewächses, dessen Farbe die Mitte hielt zwischen frisch-
geschlachtetem Fleisch und Rotkraut. Die Nadelwälder von
Surrey aber waren zu trocken für die Gehänge des roten Schling-
gewächses. Hinter Wimbledon sah man mitten in einem Blumen-
garten die großen Erdhaufen, die der sechste Zylinder aufge-
worfen hatte. Eine Anzahl von Leuten standen um die Grube
herum, und einige Sappeure waren in voller Tätigkeit. Dicht
dabei hatte man die britische Fahne aufgepflanzt, die lustig im
Morgenwind hin und her flatterte. Die Handelsgärten waren
rot gefärbt vom roten Gewächs, eine weitgedehnte Fläche schreien-
den Rots, von purpurnen Schatten unterbrochen; diese Farben-
mischungen taten den Augen geradezu weh. Meine Blicke wand-
ten sich mit unendlicher Erleichterung von dem versengten Grau
und dem düsteren Rot des Vordergrundes nach dem sanften
Blaugrün der östlichen Hügel zu.
Der Fahrdamm der gegen London zu gerichteten Seite des
Wokinger Bahnhofs war noch nicht völlig hergestellt; so mußte
ich in Byfleet aussteigen. Ich schlug deu Weg nach Maybury
ein, an der Stelle vorbei, an der ich und der Artillerist mit den
Husaren gesprochen hatten, und weiter zu den Weg, an dem ich
mitten im Gewitter dem Marsmann begegnet war. Von Neu-
gierde bewegt, ging ich zur Seite und fand in einem Gewirr
roten Geästes einen verbogenen und zerbrochenen Wagen und
die weißen zernagten Knochen des Pferdes, die verstreut umher-
lagen. Eine Zeitlang blieb ich stehen, in den Anblick dieser
Spuren versunken.
Dann kehrte ich, oft halstief im roten Gewächs watend,
durch deu Fichtenwald zurück und sah, daß dem Wirt vom
„Gefleckten Hund" schon ein Begräbnis zuteil geworden war.
Und so kam ich am „Kollegiums-Wappen" vorbei zu meinem
Hause. Ein Mann, der an der offenen Tür seines Häuschens
stand, grüßte mich mit Namen, als ich vorüberging.
Ich sah auf mein Haus, von einem jähen Hoffnungsstrahl
durchzuckt, der sofort wieder schwand. Das Tor war aufgesprengt
worden; es war nur angelehnt und ging langsam auf, als ich
näher kam.
Das Tor fiel wieder zu. Die Vorhänge des Arbeitszimmers
flatterten durch das offene Fenster, von dem ich und der Ar-
Wells, Der Krieg der Welten 44
210
tillerist den Anbruch des Tages erwartet hatten. Niemand hatte
seither das Fenster geschlossen. Das zertretene Gebüsch war
noch genau so, wie ich es vor fast vier Wochen verlassen hatte.
Ich stolperte in den Flur, und die Leere des Hauses bedrückte
mich. Der Treppenläufer war überall verschoben und verfärbt,
wo ich in jener Nacht des Schreckens, bis auf die Haut durch-
näßt, vor dem Gewitter flüchtend, gekauert hatte. Ich verfolgte
die lehmigen Fußtritte die ganze Stiege hinauf.
Ich folgte ihnen bis zu meinem Arbeitszimmer und fand auf
meinem Schreibtisch, von dem selenitenen Briefbeschwerer nieder-
gehalten, noch einen Bogen der Arbeit, die ich an dem Nach-
mittag, da die Öffung des ersten Zylinders vor sich gegangen
war, liegen gelassen habe.
Eine Zeitlang stand ich da und las in dieser im Stich ge-
lassenen Arbeit. Sie bestand in einer Abhandlung über die
wahrscheinliche Übereinstimmung der Entwicklung sittlicher Vor-
stellungen mit der Entwicklung der Zivilisation; der letzte Satz
war der Anfang einer Prophezeiung: „In zweihundert Jahren
etwa", hatte ich geschrieben, „dürfen wir erwarten------." Der
Satz brach plötzlich ab. Ich erinnerte mich meiner Unfähigkeit,
an jenem Morgen, seit deni kaum ein Monat verstrichen war,
meine Gedanken zusammenzuhalten; erinnerte mich, wie ich plötz-
lich abgebrochen hatte, um mir mein „Daily Chronicle" von dem
Zeitungsjungen zu holen. Ich erinnerte mich, wie ich zur
Gartentür hinabging, als der Junge herankam, und wie ich
seinen sonderbaren Bericht von den „Männern vom Mars"
anhörte.
Ich ging wieder hinab und trat ins Speisezimmer. Dort
lagen der Hammelbraten und das Brot, beides nun längst ver-
dorben, und eine umgeworfene Bierflasche, geradeso, wie ich
und der Artillerist das alles verlassen hatten. Mein Heim war
verödet. Ich begriff nun, wie unsinnig die leise Hoffnung war,
die ich so lange gehegt hatte. Und jetzt geschah etwas Seltsames.
„Es ist umsonst", hörte ich eine Stimme sagen. „Das Haus ist
verlassen. In den letzten zehn Tagen ist niemand hier gewesen.
211
Du sollst nicht läntzer hier bleiben nnb dich quälen. Niemand
ist entkommen, als du."
Ich fuhr zurück. Hatte ich meine Gedanken laut gesprochen?
Ich 'kehrte mich um und sah, daß! die Glastür offen stand. Ich
trat einen Schritt vor und blickte hinaus.
IIub da standen, erstaunt und erschreckt, so um' ich erstaunt
und erschreckt dastand, mein Vetter und meine Frau — meine
Frau, bleich und tränenlos. Sie stieß einen schwachen Schrei ans.
„Ich kam", sagte sie. „Ich wußte es — ich wußte—
Sic griff mit der Hand nach ihrem Hals und schwankte. Ich
trat einen Schritt vor und fing sie in meinen Armen auf.
14*
Schlußwort.
Nun, da ich meinen Bericht abschließe, kann ich es nur
bedauern, daß ich so wenig befähigt bin, zur.Erörterung so vieler
strittiger Fragen, die heute noch ungelöst sind, beizutragen. In
einer Beziehung werde ich ohne Zweifel Widerspruch hervor-
rufen. Mein eigentliches Wissensgebiet ist spekulative Philo-
sophie. Meine Kenntnisse in vergleichender Physiologie be-
schränken sich nur auf ein paar Bücher; aber ich glaube, daß
die Vermutungen Carvers in bezug auf die Ursache des jähen
Todes der Marsleute so wahrscheinlich sind, daß sie beinahe
den. Wert erwiesener Schlußfolgerungen besitzen. Ich habe von
ihnen bereits im Laufe meines Berichtes gesprochen.
Das eine wenigstens steht fest, daß in keinem einzigen Körper
der Marsleute, die nach dem Kriege untersucht wurden, andere
Bakterien gefunden wurden, als diejenigen, deren irdische Her-
kunft zweifellos war. Die Tatsache, daß sie nicht einen ihrer Toten
beerdigten, und die rücksichtslosen Schlächtereien, die sie veran-
stalteten, deuten gleichfalls darauf hin, daß der Vorgang der
Fäulnis ihnen vollständig unbekannt war. Aber so wahrschein-
lich sie sind, erwiesene Tatsachen sind diese Annahmen noch nicht.
Ebensowenig ist die Zusammensetzung des schwarzen Rauches
bekannt, dessen sich die Marsleute mit so furchtbarer Wirkung be-
dienten, und der Erzeuger des Hitzstrahls bleibt ein Rätsel. Die
entsetzlichen Unglücksfälle in den Laboratorien von Ealing und
South-Kensington haben die Chemiker vor genaueren Unter-
suchungen des Hitzstrahls abgeschreckt. Die Spektralanalyse des
schwarzen Pulvers deutet unverkennbar auf das Vorhandensein
eines unbekannten Elements mit einer leuchtenden Gruppe dreier
213
Linien in Grün hin; und es ist möglich, daß es sich mit Argon
verbindet, um ein Gemenge zu bilden, das auf irgendeinen
Bestandteil des Blutes eine unbedingt tötliche Wirkung ausübt.
Aber diese unerwiesenen Mutmaßungen werden für den großen
Leserkreis, an den dieser Bericht sich wendet, kaum von Interesse
sein. Keine jener braunen Schlammmengen, die nach der Zer-
störung Sheppertos die Themse hinab trieben, wurden damals
untersucht; und heute werden sie nicht mehr gefunden.
Die Ergebnisse einer anatomischen Prüfung der Marsleute,
soweit die herumstreichenden Hunde eine solche Prüfung möglich
machten, habe ich bereits mitgeteilt. Aber jedermann ist mit dem
wunderbaren und fast unversehrten Exemplar vertraut, welches
das naturhistorische Museum in Spiritus aufbewahrt hat, und
mit den zahllosen Zeichnungen, die nach ihm angefertigt worden
sind. Darüber hinaus aber gehört das Interesse an der Physio-
logie und dem Körperbau der Marsleute auf ein rein wissen-
schaftliches Gebiet.
Eine Frage von ernsterem und allgemeinerem Interesse aber
ist die Möglichkeit eines zweiten Angriffsder-Marsleute. Ich
glaube nicht- daß dieser Seite der Frage nur halbwegs genügende
Beachtung aeickienkt wird. Gegenwärtig befindet sich der Hlänet
Mars in der Konjunktion; aber mit jeder Rückkehr in die Oppo
sition sehe ich für meinen Teil eine Wiederholung des Abenteuers
voraus. Auf alle Fälle sollten wir vorbereitet sein. Es scheint
mir doch sehr leicht möglich, die Lage des Geschützes, aus dem
die Geschosse abgefeuert wurden, genau zu bestimmen und eine
ständige Bewachung dieses Teiles des Planeten einzurichten
und so die Möglichkeit eines zweiten Angriffs ins Auge
zu fassen.
In diesem Falle könnte der Zylinder durch Dynamit oder
mittels Artillerie zerstört werden, ehe er genügend abgekühlt
wäre, um den Marsleuten das Verlassen des Zylinders zu er-
möglichen; oder sie könnten mittels Geschützen sofort nieder-
gemacht werden, sobald die Schraube zu Boden fiele. In meinen
Augen haben die Marsleute dadurch, daß ihre erste Unterließ
214
tnunfl fehlschlug, einen ungeheuren Vorteil eingebüßt. Vielleicht
sehen sie es in. demselben Lichte.
Lessing hatte einige ausgezeichnete Gründe für die Annahme
vorgebracht,. daß es den Marsleuten tatsächlich gelungen sei,
auf dem Plaueteil Venus eine Landung zu belverksteltigen. Es
sind jetzt sieben Monate her, daß Venus und Mars in einer Liilie
mit der Sonne sich befanden. Das will sagen: Vom Standpunkt
eines Beobachters auf der Venus befand sich der Mars in Oppo-
sition. Jil der Folge tauchte ein sonderbares leuchtendes und
wellenförmiges Zeicheil auf der unbeschienenen Hälfte des mitt
seien Planeten auf, und fast gleichzeitig wurde ein schwaches,
dunkles Zeichen einer ähnlichen wellenförmigen Art auf einem
Lichtbilde der Marsscheibe wahrgenommen. Man muß die Zeich-
nungen dieser Erscheinungen sehen, um die bemerkensiverte Ähn-
lichkeit in der Beschaffenheit beider völlig zu würdigen.
Auf alle Fälle aber, ob wir nun einen zweiten Einfall er-
warten könlien oder nicht, mußten unsere Begriffe von der Zu-
kunft der Menschheit durch diese Ereignisse eine gewaltige Än-
derung erfahren. Wir sehen heute ein, daß lvir unseren Stern
durchaus nicht als einen gewissermaßen eingezäunten und sicheren
Wohnort kür die Men^mnmr bei rächten könnenHir können das
ungesehene Heil oder Unheil,....das nnver.mntet auL.de»> Welten-
raunl auf uns hereinbrechen .kann, nie vorhersehen. Es mag
sein, daß nach den gewaltigeren Plänen des Weltalls dieser
Einfall vom Mars nicht ohne einen schließlichen Segen für die
Menschheit stattgefunden hat. Er hat uns jener heiteren Ver-
tranensseligkeit in die Zukunft, weläbe die fnrebtbarste Quelle
des Verfalls ist, beraubt: die Bereicherungen, die er der mensth-
lichen Wissenschaft gebracht haß srndluüermeßlicki: und er üat
viel dazu beigetragen, das Gefühl des Gemeinwohls der Mensch-
heit zu fördern. Es mag sein, daß. die Marsbewohner über die
Unendlichkeit des Weltraums hinüber das Schicksal ihrer ersten
Sendlings beobachtet und sich daran eine Lehre genommen hatten,
und-daß ihnen der Planet Venus als eine sicherere Ansiedlung
erschienen ist. Doch wie -es auch immer sei, das eine steht fest,
215
daß auf viele Jahre hinaus in dem Eifer, mit dem die Mars-
scheibe beobachtet wird, keine Erschlaffung eintreten wird. Und
iene feurigen Geschosse des Himmels, die Sternschnuppen, wer-
den in ihrem Niedergang für alle Erdenkinder stets und unaus-
bleibliche ernste Mahnzeichen bedeuten.
Die Erweiterung des menschlichen Gesichtskreises, welche
der Marseinfall zur Folge gehabt hat, kann kaum überschätzt
werden. Ehe die Zylinder niederfielen, herrschte allgemein die
Überzeugung, daß es in. den ungeheuren Tiefen des Welt-
raums außerhalb der winzigen Oberfläche unseres kleinen Sternes
kein Leben gebe. Heute aber sehen wir weiter. Wenn die Mars-
leute auf die Venus gelangen können, so ist jeder Grund für die
Annahme, daß das den Menschen unmöglich sei, hinfällig. Und
wenn die langsame Abkühlung der Sonne unsere Erde unbewohn-
bar geniacht haben wird, wie es schließlich nicht ausbleiben wird,
dann mag es kommen, daß der Faden des Lebens, der hier seinen
Ansgang nahm, sich ausdehnen und unseren Schwesterplaneten
in sein Netz ziehen wird. Würden wir siegen?
Schattenhaft und wunderbar ist das Traumgesicht, das ich
im Geiste heraufbeschworen habe: wie das Leben sich allmählich
über unser kleines Samenbeet des Sonnensystems hinausdehnen
wird, hinaus in die unbelebte Unermeßlichkeit des gestirnten
Raumes. Aber das ist ein ferner Traum. Und, wer kann wissen,
ob die Vernichtung der Marsleute nicht nur einen kurzen Auf-
schub unseres endlichen Unterganges bedeutet? Vielleicht gehört
ihnen, und nicht uns die Zukunft.
Ich muß gestehen, daß die Aufregung und die Not der
Zeit in meinet Seele ein bleibendes Gefühl des Zweifels und
der Unsicherheit zurückgelassen haben. Ich sitze in meinem Ar-
beitszimmer und schreibe beim Schein der Lampe. Und plötzlich
sehe ich das wieder auflebende Tal, unten wieder von züngelnden
Flammen erfüllt, und fühle das Haus hinter mir und um mich
i leer • und verödet. Ich gehe hinaus in die Byfleetstraße, Fahr-
zeuge eilen an mir vorüber, ein Fleischerjunge in seinem Karren,
ein Wagen voll Besucher, ein Arbeiter auf seinem Zweirad,
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Kinder, die zur Schule gehen; und plötzlich wird alles ver-
schwommen und unwirklich, und wieder keuche ich mit dem
Artilleristen durch die heiße, brütende Stille. Und nachts sehe
ich das schwarze Pulver, wie es die schweigenden Straßen ver-
dunkelt, und sehe die verzerrten Leichen im Staube liegen; sie
steigen vor mir auf, zerlumpt und von Hunden zerfleischt. Sie
lallen und drohen mir, werden blässer, abscheulicher, endlich
wahnwitzige Spottgeburten menschlicher Gebilde — und ich er-
wache, in kaltem Schweiß gebadet, und elend in der Dunkelheit
der Nacht.
Ich gehe nach London und sehe die geschäftigen Volksmengen
in der Fleetstreet und am Strande, und nun lastet es mir auf
der Seele, daß sie alle nur Gespenster der Vergangenheit seien,
die in den Straßen spuken, die ich schweigend und jammervoll
gesehen habe. Daß sie hin und her gehen, Scheingebilde einer
toten Stadt, in einem künstlich belebten Körper, ein Hohn auf
das Leben. Und seltsam ist es, auf dem Primrosehügel zu
stehen, wie ich es erst gestern tat, diese riesige Menge von Häu-
sern trüb und blau durch den Schleier von Rauch und Nebel zu
erblicken, der endlich in weite Fernen verschwindet; alle die
Leute zu sehen, die zwischen den Blumenbeeten des Hügels auf
und nieder wandeln; die Menschen zu sehen, die gekommen sind,
sich die Marsmaschine anzuschauen, die noch immer hier steht;
den Lärm der spielenden Kinder zu hören — und dann sich die
Zeit wieder ins Gedächtnis zu rufen, da ich das alles hell und
scharfgeschnitten, grausam und still in der Dämmerung jenes
letzten, großen Tages gesehen habe.
Und seltsamer als das alles, ist es mir, wieder die Hand
meines Weibes zu halten und zu denken, daß ich sie, und sie
mich, schon zu den Toten gerechnet habe.
Ende.