3 9 5 Drittes Kapitel Die Reformzeit in Rußland § 44. Die letzten Jahre vor den Reformen (1848—1855) Der Beginn des Zeitalters der „zweiten Emanzipation“ in West europa fiel mit dem Endabschnitt der Periode der Unterdrückung in Rußland zusammen. Trostlos war dieser Zeitabschnitt, die letzten sieben Regierungsjahre Nikolaus' I., für sein ganzes Land überhaupt, besonders aber für seine jüdischen Untertanen. Durch die Märzrevo lution aus den westeuropäischen Ländern verbannt, wütete der Abso lutismus mit desto größerer Grausamkeit in dem Lande, dessen Ge bieter sich den Ruhm eines „Gendarmen Europas“ erwerben sollte. Die jenseits der Reichsgrenze sieghaft ertönenden Freiheitsrufe ver setzten die reaktionäre Regierung Nikolaus' I. vollends in Raserei. Die berüchtigte Geheimpolizei des Zaren beschnüffelte die Kreise der In tellektuellen, die es wagten, im Verborgenen von politischen und so zialen Reformen zu träumen, und brachte die von ihr überführten Träumer nach Sibirien oder ins Zuchthaus (so im Jahre 1849 den damals noch jungen, zum Kreise Petraschewskijs gehörenden Dostojewskij). Die automatische Regierung ließ keinen Zweifel dar über, daß sie angesichts der sich regenden liberalen Strömungen die Absicht habe, die Unterdrückungsmaßnahmen des Polizeistaates noch weiter zu verschärfen. Unter solchen Umständen hatten die im An siedlungsrayon zusammengepferchten, unter der Geißel der Konskrip tion stöhnenden Juden (oben, §§ 2 2—2 3) am allerwenigsten Grund, auf eine Erleichterung ihres Loses zu hoffen. Das zu Beginn der vierziger Jahre inszenierte Zwischenspiel, die kurze Episode der Kul turreformen, vermochte das instinktsichere Volk nicht zu täuschen: es sah voraus, daß dieselbe Hand, die ihm das amtlich approbierte Aufklärungsprogramm darbot, bald zu neuen Schlägen ausholen werde