Erstes Kapitel Die nationale Bewegung (1897—1905) § 33. Herzl und der „Judenstaat“ Die antisemitische Reaktion in Europa hatte die große Wanderung der jüdischen Volksmassen und zugleich die Erschütterung der Ideo logie der assimilierten Gebildetenschicht zur Folge. Symptome eines Umschwungs in der Geschichte des Wandervolkes, waren seine Mas senwanderungen stets von geistigen Krisen begleitet. Während jedoch diese Krisen in älterer Zeit eine religiöse Färbung hatten und in einem mystischen Messianismus zum Ausdruck kamen, sollte die innere Krise gegen Ende des XIX. Jahrhunderts im Zeichen eines politischen Messianismus stehen. Angesichts der sich innerhalb der Diaspora vollziehenden Verschiebung des nationalen Zentrums mußte naturnotwendig die Frage entstehen, ob dieses Zentrum nicht aus der Diaspora nach Palästina, dem Heimatlande Israels, verlegt werden solle. Die unzerstörbare Sehnsucht der jüdischen Nation nach dem Lande, in dem ihre geschichtliche Wiege gestanden hatte, er wachte mit neuer Kraft, und in dem Dunkel der feindlichen Fremde leuchtete die verheißungsvolle Zukunft des „Landes ohne Volk“, das dem „Volke ohne Land“ zurückgegeben werden sollte. Die Idee der Wiederherstellung des nationalen Zentrums in Palä stina war bereits der Leitstern der „Chibath-Zion“-Strömung, jener palästinafreundlichen Bewegung, die in den achtziger Jahren in Ruß land, dem Hauptherd des Judenhasses, zum Durchbruch gekommen war. In ihren Hoffnungen auf die bürgerliche Emanzipation ent täuscht, hatten Lilienblum, Pinsker und Lewanda die Parole ausge geben: „Wir sind überall fremd, es gilt heimzukehren!“ Diese ein fache Lösung des vielverschlungenen Problems des Judentums fand zwar als Theorie lebhaften Anklang, hatte jedoch in der Praxis nur 3i 1