Pogrome und Rechtlosigkeit in Rußland 212 des frei (Februar 1902). So war es gelungen, die heraufziehende Gefahr einer Dreyfus-Affäre in mittelalterlichem Gewände für eine Zeitlang zu bannen. § 22. Die innere Krise (1881—1897) Die zu Beginn der achtziger Jahre ausgebrochenen Katastrophen kamen für die fortschrittlichen Kreise der russischen Judenheit völlig überraschend. Noch standen die jüdischen Intellektuellen unter dem Eindruck der eben erst zum Abschluß gelangten „Epoche der Re formen“: der ersten Schritte der Regierung Alexanders II. auf dem Wege der Judenemanzipation, der Aufforderung der russischen Li beralen zur gegenseitigen Verständigung und der allgemeinen Hoff nung auf die Erneuerung Rußlands. Die kärglichen Zugeständnisse der Regierung lösten innerhalb der jüdischen Öffentlichkeit über schwängliche Gefühle der Dankbarkeit und Ergebenheit aus. Die aus der russischen Schule hervorgegangene jüngere Generation strebte aus ganzer Seele die kulturelle Verschmelzung mit dem kussentum an. Assimilation, „Russifizierung“ — dies war ihr Losungswort. So galten die politischen Ideale Jungrußlands auch den jüdischen Ge bildeten als heilig. Aber siehe dal Aus dem verherrlichten russischen Volke, an das die fortschrittlichen Kräfte der Judenheit Anschluß suchten, traten Banden von Plünderern und Mordbrennern hervor; die Regierung und die ihr ergebene Presse beschritten entschlossen den Weg der Reaktion und des Judenhasses, während die russischen liberalen Kreise und die diese repräsentierenden Blätter für das hart bedrängte jüdische Volk kaum noch Sympathie bekundeten. Das Ver halten der liberalen Presse war keineswegs allein durch die Strenge der Zensur bestimmt. Glaubten doch selbst die sich um die Zeit schrift „Vaterländische Annalen“ scharenden linksradikalen Publi zisten die Judenpogrome bloß als Auswüchse eines an sich normalen wirtschaftlichen Kampfes darstellen zu können, wie sie denn über haupt das ganze komplizierte jüdische Problem mit seiner jahrtau sendealten Tragik lediglich als eine nebensächliche sozial wirtschaft liche Frage zu behandeln pflegten. Zu derselben Zeit, als die Kory phäen der westeuropäischen Literatur: Victor Hugo, Renan und viele andere, gegen die Judenverfolgungen in Rußland leidenschaftlichen Protest erhoben, hüllten sich die großen russischen Dichter, wie etwa Turgenjew und Leo Tolstoj, die auf die grauenvollen Geschehnisse