§ 2. Die Lossagung vom Nationaljudentum 27 politischer Leisetreterei verbunden gewesen wäre, das nicht nur von Mangel an Widerstandskraft zeugte, sondern sogar als Eingeständ nis der eigenen Schuld ausgelegt werden konnte. Als wirksames Kampfmittel war auf diese Weise nur noch die literarische Polemik übriggeblieben. Da nun die Ideologen des Anti semitismus dabei beharrten, daß die Judenheit innerhalb des deut schen Staatsorganismus einen Fremdkörper bilde, galt es das Ge genteil zu beweisen. Einen solchen Wahrheitsbeweis konnten die Wort führer der jüdischen Gebildeten durchaus bona fide an treten, weil sie sich ja der Nationalität nach als Yolldeutsche fühlten. So ließen denn Deklarationen der Lossagung vom Nationaljudentum nicht lange auf sich warten. Den Reigen eröffnete der Berliner Professor Moritz Lazarus (1824—1903), der einstmals in den reformistischen Syn oden den Vorsitz geführt hatte (Band IX, § 37). Schon im Dezember 1879, bald nach Gründung der „Antisemiten-Liga“ und dem Er scheinen des in akademischem Tone gehaltenen Pamphlets Treitschkes, hielt Lazarus in einer öffentlichen Versammlung in Berlin einen breit angelegten Vortrag über das Thema: „Was heißt national?“, der kurz darauf auch im Drucke erschien. Der Mitbegründer der „Völ kerpsychologie“ suchte durch wissenschaftliche, seinem Fachgebiet entlehnte Argumente den Beweis zu erbringen, daß das Wesen der Nation sich nicht in den äußeren Merkmalen der Abstammung oder der Sprache, sondern im subjektiven Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer bestimmten nationalen Gruppe manifestiere. Diese Begriffs bestimmung treffe nun in vollem Maße auf die Juden Deutschlands zu, die, ihrer Sprache nach längst Deutsche geworden, sich auch in ihrem geistigen Kern als solche fühlten: „Wir sind Deutsche, nichts als Deutsche, wenn vom Begriff der Nationalität die Rede ist; wir gehören nur einer Nation an: der deutschen“. Als sich zur jüdischen Religion bekennende Deutsche müßten aber die Juden in dem über wiegend protestantischen Deutschland etwa dieselbe Stellung einneh men wie die deutschen Katholiken. Indessen sollte auch diese nach drückliche Lossagung von der jüdischen Nationalität wirkungslos bleiben. In seinem dritten in den „Preußischen Jahrbüchern“ ver öffentlichten polemischen Aufsatz machte nämlich Treitschke Lazarus gegenüber geltend, daß Protestantismus und Katholizismus als in ihrer Wurzel zusammenhängende Ausläufer des Christentums sehr wohl im Deutschtum nebeneinander bestehen könnten, wohingegen