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SIMON DUBNOW
Weltgeschichte
des jüdischen Volkes
Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart
In zehn Bänden
EUROPÄISCHE PERIODE
Band V:
Das späte Mittelalter
JÜDISCHER VERLAG / BERLIN
SIMON DUBNOW
Die Gp^phichte
des jüdischen Volkes •
in Europa
Vom XIII. bis zum XV. Jahrhundert
Autorisierte Übersetzung aus dem russischen Manuskript
von
Dr. A. Steinberg
IN
JÜDISCHER VERLAG / BERLIN
47493
J/O :JtAo
Gedruckt bei Mänicke & Jahn A.-G., Rudolstadt
Copyright 1927 by Jüdischer Verlag / Berlin
Inhaltsverzeichnis
ERSTES BUCH: DIE FRANZÖSISCH-SPANISCHE HEGEMONIE
BIS ZUR VERTREIBUNG DER JUDEN AUS FRANKREICH
(i2i5—i3o6)
§ i. Allgemeine Übersicht.............................. n
Erstes Kapitel. Das französische Zentrum und die englische Kolonie
im XIII. Jahrhundert
§ 2. Der innere Kreuzzug und die Lateransynode .... i5
§ 3. Die königlichen und seigneurialen Juden unter Ludwig
dem Heiligen.....................................26
§ 4- Religiöse Disputationen und die Verbrennung des Tal-
mud; die Opfer der Inquisition....................36
§ 5. Philipp der Schöne und die Vertreibung im Jahre i3o6 48
§ 6. Die Juden in England unter Johann ohne Land ... 56
§ 7. Die Not der englischen Juden unter Heinrich III. ... 59
§ 8. Eduard I. und die Vertreibung der Juden aus England
(1290) 68
Zweites Kapitel. Die Juden im christlichen Spanien des XIII. Jahr-
hunderts
§ 9. Kastilien in der Epoche der Reconquista.......... 74
§10. Die Juden in Aragonien unter Jakob 1.............. 81
§ 11. Die autonome Gemeinde (Aljama)....................87
§12. Die kirchliche Politik und die Disputation in Rarcelona 90
§ i3. Die aragonischen Gemeinden unter Pedro III. und Al-
fons III. (1276—1291)........................................98
Drittes Kapitel. Die geistigen Strömungen in Spanien und Frankreich
im XIII. Jahrhundert
§ i4. Die Maimonisten und ihre Gegner..................io5
§ i5. Der Rabbinismus in Frankreich und Spanien . . . . n5
5
Inhaltsverzeichnis
§ 16. Philosophie und Freidenkertum.....................121
§17. Der Kampf gegen Philosophie und weltliche Wissen-
schaft ......................................................129
§ 18. Mystische Theosophie, Kabbala und messianische Schwär-
merei .......................................................139
§19. Das Auftauchen des „Sohar“......................... i47
Viertes Kapitel. Die deutschen Juden unter der Vormundschaft der
Kaiser und Lehensherren (XIII. Jahrhundert)
§20. Die „Kammerknechtschaft“ unter Friedrich II. (bis
i2 5o)............................................i53
§21. Die Ritualmordlüge und der päpstliche Protest . . . i5g
§22. Das Interregnum und die Judenmetzeleien (1254 bis
1273).............................................i65
§2 3. Die Judennot unter den Habsburgern und die Verfol-
gungen durch Rindfleisch (1298) 171
§24. Die Juden zwischen Staat und Kirche in Österreich, Roh-
men und Ungarn..........................................177
§2 5. Die Gemeindeverfassung und der Rabbinismus . . . 188
§ 26. Antirationalismus, Mystizismus und die Martyrologien . 193
Fünftes Kapitel. Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahr-
hundert
§27. Die römische Gemeinde...................................199
§28. Süditalien unter den Staufern, Anjou’s und Aragoniern . 2o3
§29. Das geistige Leben in Italien...........................208
§ 3o. Polen als Kolonie der deutschen Judenheit..............2i4
§ 3i. Ryzanz und Rußland (die Krim)..........................221
ZWEITES BUCH: DIE SPANISCH-DEUTSCHE HEGEMONIE BIS
ZUR VERTREIBUNG DER JUDEN VON DER PYRENÄISCHEN
HALBINSEL
(XIV. und XV. Jahrhundert)
§32. Allgemeine Übersicht...........................227
Erstes Kapitel. Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
§33. Die jüdischen Hof Würdenträger in Kastilien und die ju-
denfeindliche Agitation.............................232
6
Inhaltsverzeichnis
§ 34- Die Juden im kastilischen Bürgerkrieg...............238
§35. Die Erfolge der klerikalen Reaktion.................2 43
§36. Aragonien, Navarra, Portugal.........................249
§ 37. Der „Heilige Krieg“ vom Jahre i3gi ...... 257
§38. Der Rabbinismus und die konservative Philosophie (Cres-
cas) 263
Zweites Kapitel. Die Zerstörung des französischen Zentrums
(1315—1394)
§39. Die Rückkehr der Exulanten. Der Zug der Pastorellen
und die Verleumdung durch die Aussätzigen . . . 272
§ 4o. Der vorübergehende Aufenthalt der Juden in Frankreich
und ihre endgültige Vertreibung.................278
§ 4i. Die letzten Überreste der französischen Judenheit (XV.
Jahrhundert)....................................282
§ 42. Der Untergang der jüdischen Kultur in Frankreich . . 288
Drittes Kapitel. Die Jahrhunderte der Bedrängnis in Deutschland
(XIV.—XV. Jahrhundert)
§ 43. Bedrückung und Volksexzesse: Ludwig der Bayer und
die „Judenschläger“ ........... 294
§ 44. Der Schwarze Tod (i348—i349)......................... 3oo
§45. Verarmung und Rechtlosigkeit (zweite Hälfte des XIV.
Jahrhunderts)........................................309
§ 46. Die Hussitenbewegung und die klerikale Reaktion (i4oo
bis i45o) 317
§47. Der Ruin und der Niedergang der deutschen Gemeinden
in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts . . . 32 2
§ 48. Das innere Gemeindeleben und die rabbinische Literatur 333
Viertes Kapitel. Das letzte Jahrhundert des jüdischen Zentrums
in Spanien
§ 4g. Die Kirchenherrschaft und der Missionsterror (Paul von
Burgos und Vicente Ferrer)...........................344
§ 5o. Die Disputation zu Tortosa...........................35i
§ 5i. Die zeitweilige Restauration (i4i5—i454)............. 360
§52. Die Bewegung gegen die Marranen.........................365
§53. Portugal als Zufluchtsstätte der spanischen Juden . . 372
§54. Der Untergang der geistigen Kultur in Spanien . . . 377
7
Inhaltsverzeichnis
§55. Ferdinand und Isabella. Die Inquisition.............387
§ 56. Die Vertreibung der Juden aus Spanien (1492) . . . 397
§57. Die Vertreibung aus Portugal (1498).................4o6
Fünftes Kapitel. Italien zur Zeit der Frührenaissance
§58. Die römische Gemeinde...................................4i4
§59. Die Gemeinden Oberitaliens. Simon Tridentinus . . . 422
§ 60. Süditalien. Die Vertreibung aus Sizilien...............435
§61. Das jüdische Schrifttum in der Epoche der italienischen
Renaissance..........................................442
Sechstes Kapitel. Das östliche Europa und der jüdische Orient
§ 62. Der Aufschwung der Kolonien in Polen unter Kasimir
dem Großen...........................................452
§63. Polen und Litauen unter Jagello und Witold . . . . 458
§ 64- Der Widerstreit der klerikalen und liberalen Politik un-
ter den Jagellonen...........................................463
§ 65. Die Krim und Rußland unter der Tatarenherrschaft . 471
§66. Das neue Zentrum in der Türkei..........................477
§67. Ägypten und Palästina vor der Eroberung durch die Tür-
ken . 483
Anhang:
ZUR QUELLENKUNDE UND METHODOLOGIE .... 495
BIRLIOGRAPHIE (Quellen- und Literaturnachweise) . . . 5o4
NAMEN- UND SACHREGISTER . ...................................5i8
8
Erstes Buch
Die französisch-spanische Hege-
monie bis zur ersten Vertreibung
der Juden aus Frankreich
(i2i5—i3o6)
§ 1. Allgemeine Übersicht
Im XIII. Jahrhundert war der Aufbau der mittelalterlichen christ-
lichen Gesellschaft zu seinem endgültigen Abschluß gelangt, und da-
mit gewann auch die Lage der Juden innerhalb der christlichen Um-
welt eine feste, scharf umrissene Form. Die Könige, die Feudal-
fürsten, die christliche Kirche und die autonomen Städte — dies sind
die vier Mächte, die für das Los der Juden in den verschiedenen euro-
päischen Ländern entscheidend waren. Die Könige und Feudalherren
verschärften das schon von früher her bestehende System der Be-
vormundung der jüdischen Gemeinden. Wohl sicherte man den Juden
die Unantastbarkeit von Leben und Besitz zu und nahm sie vor den
Überfällen des christlichen Pöbels in Schutz, doch waren sie zugleich
einem streng gehandhabten Wirtschaftsregime unterstellt, an ganz be-
stimmte Erwerbsarten gebunden und dabei mit so schweren Steuern
belastet, daß sie nicht selten gleichsam zu Leibeigenen der Könige
und Fürsten degradiert waren. In Frankreich und England, wo die
Juden ausschließlich auf den Handel und insbesondere auf den Geld-
handel, d. i. auf das Kreditgeschäft, angewiesen waren, wurden sie
von den sie bevormundenden Machthabern als deren Handelsagenten
betrachtet und mußten einen bedeutenden Teil des bei den Handels-
geschäften erzielten Gewinnes an ihre Schutzherren abführen. Nament-
lich in Frankreich stritten Könige und Seigneurs um den Besitz dieser
Hörigen des Handels, als wären es ihre leibeigenen Bauern: den könig-
lichen Juden wurde es schließlich untersagt, in die Besitzungen eines
Seigneurs überzusiedeln, wie auch umgekehrt. In England pflegten
die Könige von Zeit zu Zeit das Vermögen ihrer jüdischen Handels-
agenten kurzerhand einzuziehen. In Deutschland bürgerte sich in dieser
Epoche das System der „Kammerknechtschaft“ in aller Form ein,
das die Juden der schrankenlosen Verfügungsgewalt der Kaiser aus-
lieferte. Im christlichen Spanien der Zeit der „Reconquista“ waren
Die französisch-spanische Hegemonie
zwar die Juden sozial viel besser gestellt und besaßen auch ein viel
ausgedehnteres Betätigungsfeld, doch stellten sie auch hier für die
aragonischen und kastilischen Könige, die ihren Staatsetat vornehm-
lich auf den von den jüdischen Untertanen bezogenen Einkünften
aufzubauen pflegten, lediglich ein Objekt der Ausbeutung dar. In
ungünstigster Weise wirkte auf die wirtschaftliche und rechtliche
Lage der Juden der Aufschwung der autonomen Städte, d. h. des
christlichen Bürgertums, zurück, der sich seit dem XIII. Jahrhundert
überall geltend zu machen begann. Von sämtlichen wirtschaftlichen
Organisationen der christlichen Stadt, Kaufmannsgilden wie Hand-
werkerzünften, geschweige denn von der städtischen Selbstverwaltung,
blieben die Juden völlig ausgeschlossen und wären auch aus allen Er-
werbszweigen überhaupt gänzlich verdrängt worden, wenn ihnen nicht
der Schutz der Könige und Fürsten zuteil geworden wäre. Indessen
kam ihnen dieser Schutz sehr teuer zu stehen und reichte überdies
nicht immer dazu aus, sie vor den Ausschreitungen des Stadtmobs zu
bewahren. Es kam schließlich so weit, daß die Juden aus zwei Län-
dern, in denen das Widerspiel der wirtschaftlichen Interessen beson-
ders kraß in Erscheinung trat, restlos vertrieben wurden: im Jahre
1290 wurden sie für immer aus England ausgewiesen und im Jahre
i3o6 mußten sie auch Frankreich, wenn auch nur für eine Zeit-
lang, verlassen.
Über dieser ganzen Lebensordnung schwebte aber der Geist der
mittelalterlichen Kirche, deren Einfluß auf die innere Politik der
europäischen Staaten im XIII. Jahrhundert seinen Höhepunkt er-
reichte. Der Beginn dieses Jahrhunderts ist durch den „inneren Kreuz-
zug“ der fanatischen Streitmacht des Papstes Innocenz III. gegen die
ketzerischen Albigenser gekennzeichnet, der die Begründung der kirch-
lichen Inquisition im Gefolge hatte, sowie durch die Lateransynode
im Jahre 1215, welche für die Juden ein herabwürdigendes Schand-
mal, eine Sondertracht, festsetzte. In das Ende desselben Jahrhunderts
fällt die Zerstörung der jüdischen Kolonie in England, auf die fünf-
zehn Jahre später auch die Vernichtung der französischen Metropole
dieser Kolonie folgte. Überall war es die kirchliche Politik, die für
solche legale Gewaltmaßnahmen gegen die Juden den geeigneten Bo-
den bereitete. Das von der Kirche den Juden aufgezwungene Kains-
zeichen sollte gleichsam ihre soziale Verstoßung symbolisieren. Es war
12
iflmllTO 1 fjfhfri (i iFfliMfflTn i Wi w IliIiWinMSijjiifif ^ 111
§ 1. Allgemeine Übersicht
dies ein gewandter Schachzug, durch den die Judenheit aus einem
lebenden Beweisstück gegen das Dogma des Christentums in einen
ebenso sprechenden Beweis seines Triumphes, des Sieges des Neuen
Testaments über das Alte, verwandelt werden sollte. Die öffentlichen
religiösen Disputationen (in Paris im Jahre 1240 und in Barcelona
im Jahre 12 63) sowie die aus Anlaß angeblicher Ritualmorde und der
Schändung von Kirchensakramenten inszenierten Inquisitionsprozesse
sollten die Überzeugung von der Unverbesserlichkeit des von Gott ver-
lassenen Volkes bei den Gläubigen endgültig befestigen.
Und doch war dieses Volk um jene Zeit auf dem Gebiete der geisti-
gen Kultur seinen Verfolgern unendlich überlegen. Jene reformato-
rische Bewegung der provenzalischen Katharer oder Albigenser, die,
wäre sie nicht in Strömen von Blut erstickt worden, zur Umbildung der
katholischen Kirche hätte führen können, war nicht zuletzt durch die
jüdische Aufklärungsbewegung in Spanien und in der Provence beein-
flußt worden. Tobte doch innerhalb der Judenheit selbst im Laufe des
ganzen XIII. Jahrhunderts unausgesetzt ein Kulturkampf, ein Kampf
zwischen Tradition und Aufklärung, zwischen den Orthodoxen und
den Verfechtern der maimonidischen Vernunftreligion, den Maimoni-
sten. Beide Hegemoniezentren des Judentums, Frankreich und Spa-
nien, stehen während eines vollen Jahrhunderts ganz im Banne dieses
Widerstreites, der erst zu Beginn des XIV. Jahrhunderts mit dem Siege
der Orthodoxie seinen Abschluß findet Ein anderer Ausgang des
Kampfes war auch nicht möglich. In dem zur Niederkämpfung der
Andersgläubigen und Andersdenkenden in ein Kriegslager verwandel-
ten christlichen Staate konnte das ringsum eingeschlossene jü-
dische Lager auf sein einziges Rüstzeug, jene Nomokratie, die
nicht so sehr seine Religion als vielmehr seine Nationalität schützte,
in keiner Weise verzichten. So sind denn die Bemühungen der
nationalen Führer in dieser Epoche zugleich auch auf die Auf-
rechterhaltung und die Erweiterung der jüdischen Gemeindeautonomie
gerichtet (die Organisierung und der Ausbau der autonomen „Aljama“
in Spanien, die Kongresse der Gemeinden in Frankreich und Deutsch-
land). Immer höher führt der Rabbinismus den „Zaun um die Thora“
auf, immer tiefer lockt er den Volksgeist in sein dunkles Labyrinth
hinein, aus dem das freie Denken nur schwer den Weg in die weit-
räumigen Gefilde ungehemmter Forschung zu finden vermag. Hierbei
i3
Die französisch-spanische Hegemonie
sekundiert dem Rabbinismus die Geheimwissenschaft der Kabbala, die
das israelitische Lager mit der Wolkensäule des Mystizismus bedeckt
Mit allen Kampfmitteln der geistigen Selbstwehr ausgestattet, rüstet
sich so das jüdische Volk zu dem schweren Verteidigungskampf mit
der feindlichen Umwelt, den es bald, in der letzten und dunkelsten
Epoche des Mittelalters, im XIV. und XV. Jahrhundert, auszufechten
haben wird.
Mas«»
Erstes Kapitel
Das französische Zentrum und die
englische Kolonie im XIII. Jahrhundert
§ 2. Der innere Kreuzzug und die Lateransynode
An Stelle der unorganisierten Judenhetze des XII. Jahrhunderts,
die namentlich in den Massenausschreitungen der Kreuzfahrer zum
Ausdruck kam, trat im XIII. Jahrhundert die mit aller Planmäßigkeit
unter Oberleitung der katholischen Kirche organisierte Judenbedrük-
kung. Die Wendung vollzog sich in dem Moment, als die streitbare
Kirche, die ehedem die Kreuzfahrermassen nach dem Orient getrieben
hatte, den Aufruf zu einem inneren Kreuzzug gegen die in Europa
selbst, insbesondere in Südfrankreich zahlreich gewordenen Ketzer
ergehen ließ. Der Inspirator des neuen Feldzuges und der Schrecken
der Inquisition, Papst Innocenz III. (1198—1216), war zugleich der
Urheber jener kirchlichen Politik, die darauf ausging, die Juden
durch peinlich genaue Reglementierung ihrer Lebensverhältnisse
zu einer Pariakaste innerhalb der christlichen Gesellschaft herab-
zuwürdigen.
Die Leitsätze für diese neue antijüdische Politik stellte der Papst
Innocenz III. in seinen Sendschreiben an die Bischöfe und an die ver-
schiedenen europäischen Herrscher erst nach und nach auf. In einem
seiner ersten Erlasse (1199), in dem er die bekannte, alle Gewalttaten
gegen Juden untersagende Bulle seiner Vorgänger nach altem Herkom-
men bestätigte, begnügte er sich vorerst damit, diese Bestätigung durch
die Vorbemerkung abzuschwächen: „Wiewohl die verkehrte Glaubens-
lehre der Juden durchaus zu verdammen ist, so dürfen die Gläubigen
diese dennoch nicht allzusehr bedrängen, denn durch sie wird die Wahr-
.•nmmwwMv.w
rngm
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
heit unseres eigenen Glaubens bestätigt“1). Zehn Jahre später hatten
sich jedoch die judenfeindlichen Gefühle des Innocenz bereits so sehr
verschärft, daß er nunmehr gegen die Juden grausame Gewaltmaß-
nahmen forderte. In einem Sendschreiben an den Grafen von Nevers
(1208), der keinen Anstand nahm, die Juden zu begünstigen, heißt
es wörtlich: „Die Juden sind gleich dem Brudermörder Kain dazu
verdammt, als Flüchtlinge und Landstreicher auf der Erde umher-
zuirren und voll Scham ihr Antlitz zu verhüllen. Die christlichen
Herrscher dürfen sie nie und nimmer begünstigen, sondern müssen
sie vielmehr der Sklaverei preisgeben. Nicht recht handeln daher jene
christlichen Herrscher, die den Juden in ihre Städte und Dörfer Ein-
laß gewähren und ihre Wuchererdienste für die Herauspressung von
Geld aus der christlichen Bevölkerung in Anspruch nehmen. Geschieht
es doch, daß sie (die Herrscher) Christen wegen Zahlungsversäum-
nissen jüdischen Gläubigern gegenüber festnehmen lassen, diesen aber
gestatten, christliche Burgen und Güter als Pfand zu nehmen und,
was das schlimmste ist, es dulden, daß die Kirche auf diese Weise
(durch den Übergang der Ländereien in jüdischen Besitz) ihres Zehn-
ten verlustig gehe“. Mit den gleichen Vorwürfen überhäuft Inno-
cenz III. auch den französischen König Philipp August, der zwecks
Auffüllung seines Staatsschatzes die vertriebenen Juden in seinen
Herrschaftsbereich zurückberief. Der Papst gibt seiner Entrüstung
darüber Ausdruck, daß die Juden in Frankreich über ihnen verpfän-
dete oder von ihnen gepachtete Kirchengüter verfügen und in ihrem
Haushalt unangefochten christliche Dienerschaft beschäftigen. Beson-
ders regt er sich über die Nachricht auf, daß die Juden in einer der
französischen Städte (Sens) eine Synagoge erbaut hätten, deren Kuppel
den Giebel der benachbarten Kirche überrage, und daß sie bei Ver-
richtung ihrer Andacht so laut seien, daß dadurch der Kirchengottes-
dienst gestört werde. Ferner vermag der Papst nicht seine Entrüstung
darüber zu unterdrücken, daß die Juden in der Karwoche gleichsam
zur Verhöhnung der Anbeter des Gekreuzigten in den Straßen lust-
wandeln. Er ist sogar geneigt, dem Gerede über die geheimnisvolle
1) Unter den früheren Päpsten pflegte man die Schutzbulle durch die Worte:
„Sicut Judaeis non debet esse licentia“ (S. Bd. IV, § 5i) einzuleiten. Die Bulle
des Innocenz beginnt hingegen mit dem Satz: „Licet perfidia Judaeorum sit
multipliciter improbanda, quia tarnen per eos fides nostra veraciter comprobatur,
non sunt a fidelibus graviter opprimendi“.
§ 2. Der innere Kreuzzug und die Lateransynode
Ermordung von Christen durch Judenhand vollen Glauben zu schen-
ken. So verlangt er denn vom König, daß dieser gegen die Juden und
Ketzer in Frankreich die allerstrengsten Maßnahmen ergreife (i2o5).
Der Haß Innocenz’ III. gegen das Judentum, in dem er eine be-
deutende geistige und soziale Macht sah, steigerte sich in dem Maße,
in dem die von ihm bekämpfte ketzerische Strömung innerhalb
des Christentums selbst immer weiter um sich griff. Schon im XII.
Jahrhundert hatte nämlich im Süden Frankreichs und an anderen
Orten die Ketzerei der Waldenser oder der „Armen von Lyon“ Ver-
breitung gefunden, die die Rückkehr zum unverfälschten evange-
lischen Glauben predigten und sich gegen die ganze Verfassung der
Kirche samt deren Oberhaupt, dem römischen Papste, auf lehnten. Zu
Beginn des XIII. Jahrhunderts mehrten sich auch die Anhänger einer
anderen Sekte, der der Katharer oder Albigenser, wie man sie nach
der provenzalischen Stadt Albi zu nennen pflegte. Die Sektierer ver-
dammten den korrupten katholischen Klerus und sprachen ihm das
Recht auf Beichte und Absolution ab, wobei manche noch viel weiter
gingen und alle Kirchensakramente sowie die Anbetung der Mutter
Gottes, der Heiligenbilder und der Reliquien aufs entschiedenste ab-
lehnten. Die Lehren der Sekte stellten eine Kombination verschiedener
Bestandteile des antiken Gnostizismus, des manichäischen Dualismus
und des Dämonismus dar. Während viele unter den Katharern die
Ansicht vertraten, daß das Alte Testament von Satan-Jehova und
nur das Neue von dem wahren Gott herrühre, tauchte daneben
im Zusammenhang mit der Ketzerbewegung der Waldenser auch
eine Gruppe judaisierender Sektierer auf, die sich „Wanderer“ oder
„Beschnittene“ (Passagii, Circumcisi) nannten und die Rückkehr zum
Alten Testament predigten. Zu Beginn des XIII. Jahrhunderts war
die Zahl der verschiedenen Sektierer, insbesondere aber der Katharer
so groß, daß die christliche Bevölkerung in einigen Gegenden der
Provence und des Languedoc fast durchweg aus „Ketzern“ bestand.
Die Hochburgen der Ketzer waren die von Juden dicht bevölker-
ten Städte Beziers, Carcassonne, Albi, Toulouse sowie deren Be-
zirke. Bei der nahen Nachbarschaft der ketzerischen Albigenser
und der Juden mußte sich nun der Gedanke an einen unmittel-
baren Einfluß des Judentums auf manche Abarten der Ketzerei
gleichsam von selbst aufdrängen. Überdies traf es sich, daß ge-
rade der mächtigste Vasall des französischen Königs, Raimund VI.,
2 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
*7
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
Graf von Toulouse und Gebieter Südfrankreichs, in dem Rufe
stand, Juden wie Ketzer in gleicher Weise zu begünstigen. Daß
Raimund, ungeachtet der Forderungen der ßischöfe und des Papstes,
die Albigenser gewähren ließ, hatte seinen Grund darin, daß er an-
dernfalls die Treue eines beträchtlichen Teiles seiner Untertanen sich
unwiederbringlich verscherzt hätte. Die von ihm den Juden erwiesene
Gunst ging aber so weit, daß er sie an manchen Orten unter Miß-
achtung der kirchlichen Kanons sogar zu Staatsämtern zuließ. Alle
diese Umstände bestärkten den Papst Innocenz in seinem Entschluß,
zugleich mit den Ketzern auch die Juden zu bekämpfen.
Der Vernichtungskrieg gegen die Ketzer und ihre Gönner dauerte
mit Unterbrechungen volle zwanzig Jahre (1209—1229). Der von
Innocenz veranlaß te innere Kreuzzug lockte nach dem französischen
Süden ein ganzes Heer von Fanatikern und Abenteurern herbei, an
deren Spitze ßischöfe, Mönche oder habgierige Seigneurs von der Art
eines Simon de Montfort standen, die sich für die Teilnahme am
„heiligen Kriege“ durch bei den Ketzern eingezogene Ländereien zu
entschädigen suchten. Den Auftakt bildete eine grauenvolle Metzelei
in Reziers (im Juli 1209), wo etwa siebentausend in der Kirche der
Hl. Magdalene Zuflucht suchende Männer, Frauen und Kinder er-
barmungslos niedergemacht wurden. Im ganzen kamen hier etwa
zwanzig tausend Menschen ums Leben. Man mordete un terschiedslos
sowohl Ketzer wie auch jene rechtgläubigen Katholiken, die sich wei-
gerten, ihre sektiererischen Mitbürger auszuliefern. Das geflügelte
Wort des Anführers der Fanatiker, des Legaten Arnold: „Macht alle
nieder, Gott im Himmel wird die Seinen schon heraussuchen“ kenn-
zeichnet am treffendsten die damalige Lage. Was konnten unter sol-
chen Umständen die Juden erhoffen! Die lakonische Nachricht des
jüdischen Chronisten lautet: „Im Trauerjahre 169 (1209 d. ehr. Ära)
ergriffen verabscheuungswürdige Menschen in Frankreich das Schwert
und richteten am 19. Ab ein furchtbares Blutbad an: unter den Nicht-
juden wurden 20000, unter den Juden 200 ermordet; viele wurden
in die Gefangenschaft abgeführt“1). Derselbe Chronist berichtet, daß
im Jahre 1217 die Gattin des Ketzerhenkers Simon Montfort in Tou-
t) Schebet Jehuda, ed. Wiener, S. n3 (Bruchstücke aus einer alten Chronik
von Sanzolo). Der Name der Stadt ist hier allerdings nicht genannt, doch paßt
das Datum genau auf die Ereignisse von Beziers. In der Chronik Jochassin (ed.
Filippowsky, S. 220) wird hingegen Beziers als der Schauplatz der Katastrophe
gjgggj
§ 2. Der innere Kreuzzug und die Lateransynode
louse alle Juden mit Weib und Kind verhaften ließ und an sie mit
dem Ansinnen heran trat, ,,den lebendigen Gott mit dem toten zu ver-
tauschen“, d. h. in die Taufe einzuwilligen. Die minderjährigen Kin-
der wurden den Priestern übergeben und von diesen getauft, alle an-
deren blieben aber standhaft und bereiteten sich auf den Tod vor.
Doch wurden die Verhafteten auf Befehl des Montfort selbst, dem die
lebenden Juden gewinnbringender zu sein schienen als die toten, bald
wieder freigelassen, und auch ihr eingezogener Besitz wurde ihnen
zurückerstattet; indessen gab man die getauften Kinder den Eltern
nicht wieder zurück, „denn so gebot es der Kardinal“ (Bertrand).
Während der zwei Jahrzehnte des heiligen Krieges tobte sich nämlich
der katholische Klerus in der Provence in zügellosester Weise aus. So
ließ er auch die Kirchengesetzgebung aus der Zeit der Merowinger, die
auf die Erniedrigung der „Feinde Christi“ ausging, zu neuem Leben
erstehen. Im Jahre 1209 wurde auf dem Konzil zu Avignon die Be-
stimmung getroffen, daß alle Grafen, Kastellane und Bürger durch
einen Eid dazu verpflichtet werden sollten, die Ketzer zu vertreiben,
die Juden von allen Ämtern fernzuhalten und ihnen die Anstellung
christlicher Dienerschaft, die Arbeit an christlichen Feiertagen, ja
sogar den Genuß von Fleisch an christlichen Fasttagen zu verwehren
(auf diesen letzten Einfall durfte das Provinzialkonzil als auf seine
Originalschöpfung besonders stolz sein). In der Versammlung der
weltlichen und geistlichen Würdenträger zu Pamiers (1212) wurde
der Beschluß gefaßt, sowohl Ketzern (auch reumütigen) wie Juden
alle öffentlichen Ämter vorzuenthalten. Den Gipfel der kirchlichen
Gesetzgebung bilden aber die Vorschriften des Kirchenkonzils vom
Jahre 1215, der sogenannten „vierten Lateransynode“, die für die in
den christlichen Ländern lebenden Juden eine neue Rechtsstellung
schuf.
Die von Innocenz III. einberufene, in der Laterankirche zu Rom
tagende große Versammlung hatte in erster Linie über die Ausrottung
der Irrlehre der Katharer und die Bestrafung ihres Gönners Rai-
mund VI., aber auch über die Hebung des Sittenniveaus der Geistlich-
keit wie überhaupt über die Festigung der in ihren Grundlagen er-
„des Jahres 4969“ ausdrücklich erwähnt. Hier ist somit auch das Jahr mit aller
Genauigkeit nach der jüdischen Zeitrechnung angegeben, während es im „Schebet
Jehuda“ nur in abgekürzter Form durch die Zahl 169 (d. i. 48oo 169) be-
zeichnet wird. Vgl. auch Grätz VI, Note 1 ad 17.
19
schlitterten Kirche zu beschließen. Die jüdische Frage schien hierbei
mit diesen Hauptaufgaben so unzertrennlich verbunden zu sein, daß
fünf unter den siebzig vom Konzil auf gestellten Kanons ihr speziell
gewidmet sind. Durch diese kirchliche „Kanonade“ glaubte man die
inmitten der christlichen Welt ragende Feste des Judentums in Trüm-
mer legen zu können. Das Feuer wurde vor allem gegen die wirt-
schaftliche Position der Juden, gegen die von ihnen betriebenen Kredit-
geschäfte eröffnet. „Je entschiedener die Christen kraft der Gebote
ihrer Religion von der Zinserhebung bei Gelddarlehen Abstand neh-
— heißt es in einem der Kanons — „um so eifriger geben
men
sich mit derartigen Geschäften die ungläubigen Juden ab, um in kür-
zester Frist christliches Hab und Gut zu verschlingen. Um die Chri-
sten vor der Bedrückung seitens der Juden zu beschützen, treffen wir
daher durch Konzilbeschluß die folgende Verfügung: Sollten die Ju-
den den Christen unter irgendeinem Vorwände beschwerliche und un-
mäßige Zinsen abpressen, so sollen ihnen jegliche Geschäftsbeziehun-
gen mit Christen, solange sie diese von der unerträglichen Last nicht
befreit haben werden, untersagt bleiben“. Die Kontrolle über die Ein-
haltung dieser Vorschrift stand der kirchlichen Gewalt zu, die dabei
von der weltlichen unterstützt werden sollte. Des weiteren läßt sich die
Geistlichkeit schon pro domo aus: „Die Juden müssen dazu angehal-
ten werden, den Kirchen den Zehnten und die obligatorischen Ab-
gaben zu ersetzen, die sie von den christlichen Hausbesitzern und den
Eigentümern sonstiger Liegenschaften vor dem Übergang (dieser Gü-
ter) in jüdische Hände bezogen, damit die Kirche keine Vermögens-
einbuße erleide“. Auf diese Weise wurde die Entrichtung des Zehn-
ten zugunsten der Kirche den Juden überall zur gesetzlichen Pflicht
gemacht, während sie ehedem nur an einigen Orten dazu gezwungen
zu werden pflegten.
Die von der vierten Lateransynode eingeführte Hauptneuerung war
indessen in jener Bestimmung der antijüdischen Kanons enthalten,
durch die für die Juden zur Unterscheidung von den Christen eine
besondere Tracht festgesetzt wurde. Wer kann sagen, wie die Kirchen-
häupter darauf verfallen sein mochten, sich die alte Erfindung der
fanatischen muselmanischen Kalifen zu eigen zu machen, die sowohl
1) Die dritte Lateransynode vom Jahre 1179 untersagte bekanntlich den Christen
solche Geschäfte, was sie jedoch nicht daran hinderte, die Darlehensoperationen
auch fernerhin zu betreiben (die italienischen „Lombarde“ und Banken).
20
§ 2. Der innere Kreuzzug und die Lateransynode
Juden wie Christen durch besondere Abzeichen zu brandmarken pfleg-
ten. Jedenfalls war es der streitbare Papst Innocenz III., dem es Vor-
behalten blieb, dem Beispiel eines Mutawakil oder Hakim nach-
zueifern und Juden wie Muselmanen in den christlichen Län-
dern durch ein besonderes Zeichen kenntlich zu machen. Der diese
beiden Gruppen von Andersgläubigen gleicherweise treffende neue
Kanon hatte folgenden Wortlaut: „Während sich die Juden und Sara-
zenen in manchen Gegenden von den Christen durch eine besondere
Tracht unterscheiden, nimmt die Vermischung in anderen Gegenden
so sehr überhand, daß sie (die Andersgläubigen) in keiner Weise
mehr erkenntlich sind. Die Folge ist, daß die Christen irrtümlicher-
weise mit jüdischen und sarazenischen Frauen in Verkehr treten, die
Juden und Sarazenen aber mit Christinnen. Damit nun fürderhin im
Falle eines so frevelhaften Verkehrs kein Irrtum (als Entschuldi-
gungsgrund) vorgeschützt werden könne, verordnen wir, daß sich
solche Personen (fremden Glaubens), ob Mann oder Weib, in allen
christlichen Landen an öffentlichen Orten stets durch eine besondere
Art der Kleidung (,qualitate habitus') von der übrigen Bevölkerung
unterscheiden, um so mehr als dies ihnen (den Juden) auch von dem
Gesetze Moses’ vorgeschrieben ist“.
Ein kühner Römer sagte einmal dem Papst Innocenz III. offen ins
Gesicht: „Du redest göttliche Worte, vollbringst aber teuflische
Werke“. Ein solches Satanswerk verbarg sich auch hinter den Worten
des eben angeführten, vom Papste selbst inspirierten Konzilbeschlus-
ses. Die mit Absicht in mildem Tone gehaltene Begründung der neuen
Verordnung sollte lediglich deren harten Kern verschleiern. Ebenso
erlogen wie die Unterstellung, das Mosesgesetz schreibe den Juden
eine Sondertracht vor, war auch die andere Behauptung, daß durch
die neue Verfügung der „auf Irrtum“ (per errorem) beruhenden Ge-
schlechtsgemeinschaft zwischen Juden und Christen vorgebeugt wer-
den sollte. Waren doch Mischehen beiderseits gesetzlich untersagt,
während für ein außereheliches Zusammenleben auch die Sondertracht
kein unüberwindliches Hindernis bilden konnte. In Wirklichkeit ver-
folgten die Erfinder der äußeren jüdischen Kennzeichen viel weiter-
gehende Pläne: es lag ihnen daran, die Juden dadurch als eine be-
sondere Pariakaste auszusondern und ihnen den Stempel der Ver-
stoßenheit gleichsam auf die Stirn zu drücken. Jedem glaubenseif-
rigen Christen war so die Möglichkeit gegeben, die so Gezeich-
21
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
neten entweder zu meiden oder nach Belieben zu insultieren. Auf die
Juden selbst mußte dieses Kainszeichen überaus niederdrückend wir-
ken, indem es in ihnen das Bewußtsein ihrer Verstoß enheit stets wach
erhielt. Das Konzil vom Jahre 1215 setzte das Prinzip der äußeren
Kenntlichmachung der Andersgläubigen nur in allgemeiner Form fest
und überließ die Ausführungsbestimmungen der späteren Gesetz-
gebung, der so ein weites Feld für das freventliche Spiel mit der
jüdischen Ehre erschlossen ward. Nach und nach wurden denn auch
dem mit dem Wanderstab durch die Welt ziehenden Volk die bizarr-
sten Schandmale auf gezwungen: der „gelbe Fleck“ auf dem Ober-
gewand, die gehörnte Kappe und manches andere mit Raffinement
ausgeheckte „Kainszeichen“.
Darüber hinaus bestätigte die Kirchenversammlung von neuem eine
Reihe alter Kanons, denen sie eine in ihrer Absicht überaus durch-
sichtige Begründung anhängte. So durften sich die Juden an den
Trauer tagen der Karwoche aus dem Grunde nicht auf der Straße
zeigen, „weil viele von ihnen sich nicht scheuen, an solchen Tagen in
Festkleidung zu lustwandeln (wohl infolge des Zusammentreffens des
jüdischen Passah mit der Woche vor den christlichen Ostern) und sich
über die zum Andenken an die allerheiligsten Leiden Trauer anlegen-
den Christen lustig zu machen“. Die Übertretung der Verordnung
sollte streng geahndet werden, „damit sie (die Juden) es nicht wagen,
den um unseretwillen Gekreuzigten zu schmähen“. Ferner untersagte
die Lateransynode, unter Berufung auf die Beschlüsse der toleda-
nischen Konzile aus der westgotischen Zeit, die Einsetzung von Juden
in öffentliche Ämter: sollte ein Christ einem Juden dennoch ein sol-
ches Amt anvertrauen, so hatte er sich vor dem Kirchentribunal zu
verantworten, während der Jude „mit Schimpf und Schmach“ ab-
gesetzt werden mußte/wobei ihm jeglicher geschäftliche Verkehr mit
Christen so lange untersagt bleiben sollte, bis er das im Amte erwor-
bene Gut zugunsten der armen Christen dem Ortsbischof übergeben
haben würde. Höchst charakteristisch ihrem Stile nach ist auch die
folgende auf dem Konzil beschlossene Verfügung: „Manche (Juden),
die die heilige Taufe aus freien Stücken annahmen, haben, wie. uns
zu Ohren gekommen ist, den alten Adam noch immer nicht ganz ab-
zulegen vermocht, um statt seiner den neuen anzuziehen; indem sie
an den Überresten ihres alten Ritus festhalten, verunstalten sie durch
eine solche Vermischung die Herrlichkeit der christlichen Religion.
22
§ 2. Der innere Kreuzzug und die Lateransynode
Wir verfügen daher, daß sich die Kirchenprälaten dem Festhalten
(der Täuflinge) an den früheren Bräuchen in jeder Weise entgegen-
stellen, auf daß diejenigen, die von ihrem guten Willen zur christ-
lichen Religion geführt worden sind, vermittels heilbringenden Zwan-
ges (salutiferae coactionis necessitas) in ihr auch festgebannt blei-
ben“. Gemeint sind damit wohl diejenigen, die während der Juden-
hetze zur Zeit des Kreuzzuges gegen die Albigenser, von Todesangst
getrieben, in die Taufe einwilligen mußten. Die Anwendung des
„heilbringenden Zwanges“ solchen Abtrünnigen gegenüber kündigte
bereits das Regime der Inquisition und die künftigen Autodafes an.
Vor seiner Auflösung bestätigte noch das Konzil das päpstliche Dekret
über einen neuen, später fehlgeschlagenen Kreuzzug nach dem Orient.
Zugleich wurde den Kreuzfahrern der Erlaß der von ihnen geschul-
deten Zinsen sowie die Stundung der Kapitalschuld selbst in Aussicht
gestellt, wobei die jüdischen Gläubiger zur Nachgiebigkeit gezwungen
und den Widerspenstigen alle geschäftlichen Beziehungen zu Christen
untersagt werden sollten.
Noch vor der Einberufung der Synode bemächtigte sich der Juden
Südfrankreichs, denen die Absichten des Papstes Innocenz’ III. nicht
unbekannt geblieben waren, die größte Unruhe. Im Jahre 12iS ver-
sammelten sich, wie der Chronist berichtet, in Saint-Gilles Abgeord-
nete der jüdischen Gemeinden aus den Bezirken von Narbonne und
Marseille, um darüber zu beraten, „wer nach Rom gehen sollte, um
das Vorhaben des Papstes am Tage des Zusammentritts aller Bischöfe
zu vereiteln“. Ob sich eine solche Deputation tatsächlich nach Rom
begeben hat, bleibt unbekannt; jedenfalls gelang es nicht, die Gefahr
zu bannen, und so weiß derselbe Chronist weiter zu berichten: „Im
Jahre 49761) befahl die frevelhafte Regierung, daß sich alle unsere
Stammesgenossen vom zwölften Jahre ab durch besondere Merkzeichen
kenntlich machen: die Männer an den Kappen, die Frauen an den
Hauben. Und überdies legte man jedem Hausbesitzer eine Abgabe von
sechs ,Peschutim‘ auf, die man alljährlich vor dem christlichen Feier-
tag an die Ortspfaffen zu entrichten hatte. Im selben Jahre ist der
Papst, der über die Juden Schlechtes geredet hat, plötzlich gestorben“.
Der Urheber der im Jahre 1215 auf dem römischen Konzil prokla-
!) Der November des Jahres 1215, der Monat, in dem die Synode tagte, ent-
spricht dem Monat Kislev des Jahres 4976 nach der jüdischen Zeitrechnung.
S. „Schebet Jehuda“, S. n4~n5.
23
' .
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
mierten Verfassung, der Papst Innocenz III., starb in der Tat schon
in dem nächstfolgenden Jahre. Die von ihm ausgestreute böse Saat
zeitigte aber reiche Ernte. Die bischöflichen Konzile in Südfrankreich
bestätigten die in Rom aufgesteilten Kanons für die einzelnen Diö-
zesen und trugen für ihre praktische Verwirklichung Sorge. So traf
das partikuläre Konzil von Narbonne im Jahre 1227 die Verfügung,
daß die Juden auf ihrem Obergewand, und zwar auf der Brust, ein be-
sonderes Merkzeichen in Form eines runden Stof ff lecks (signum rotae)
tragen sollten; jede jüdische Familie war ferner verpflichtet, all-
jährlich zu Ostern dem Priester des betreffenden Kirchspiels eine
Steuer in der Höhe von sechs Denaren („deniers“, „Peschutim“ in
der jüdischen Chronik) zu entrichten. Die Vorschriften über die jü-
dische Sondertracht oder sonstige Merkzeichen wurden, ebenso wie
die anderen Entschließungen der Lateransynode, später auch auf den
Konzilen von Rouen (1281), Noyon (i233), Arles (1284 und 12 36)
und Beziers (1246) bestätigt. Das Konzil von Beziers fügte noch ein
neues Verbot hinzu: die Christen durften sich von jüdischen Ärzten
nicht behandeln lassen.
Die südfranzösischen Juden widersetzten sich mit aller Energie der
Durchführung der schmachvollen Verordnungen. In der Chronik1)
haben sich dunkle Nachrichten darüber erhalten, daß es einem von
Rachsucht gegen seine früheren Glaubensgenossen erfüllten Renegaten
aus Montpellier gelungen sei, in Rom eine Verfügung zu veranlassen,
wonach die Juden ein Merkzeichen aus rotem oder gelbem Stoff an
ihren Gewändern tragen sollten; daraufhin hätte sich eine Abordnung
der jüdischen Gemeinden von Avignon und Tarascon zum franzö-
sischen König begeben und wäre mit der frohen Botschaft zurück-
gekehrt, daß die Ausführung des päpstlichen Befehls hinausgescho-
ben worden sei. Bald aber — so berichtet weiter der Chronist —.
„spürten unsere Stammesgenossen die schwere Hand der Unter-
suchungsrichter“, d. h. der Inquisition, die damals in Südfrankreich
ihre Wirksamkeit begonnen hatte; „sie nahmen überall in der Pro-
vence Nachforschungen auf und erpreßten schweres Geld. So waren
denn viele vornehme Leute in Marseille und Avignon gezwungen,
Merkzeichen auf ihrer Kleidung öffentlich zur Schau zu tragen, wo-
bei namentlich die Juden von Avignon viel zu leiden hatten“. Aus
dem Bericht des Chronisten erfahren wir, daß der auf dem Ober-
■*■) Ibid. S. 114— n5 (anscheinend nach derselben alten Chronik des Sanzolo).
2 4
§ 2. Der innere Kreuzzug und die Lateransynode
gewand aufgenähte Fleck aus einem runden, vier Finger breiten, gel-
ben Stofflappen bestand, in dessen Mitte ein schwarzer Tuchstreifen
in Form einer Mondsichel angebracht war. Die Nachrichten beziehen
sich allem Anscheine nach auf die Regierungszeit Ludwigs des Heili-
gen, als die Renegaten ihren Stammesgenossen arg zusetzten. Die
Päpste Gregor IX. und Innocenz IV. ermahnten die weltlichen Macht-
haber, den Juden das Tragen der Merkzeichen keinesfalls zu erlassen.
So gab Innocenz IV. im Jahre 1248 seinem Unwillen darüber Aus-
druck, daß die Juden an manchen Orten runde breitrandige Hüte nach
Art der Priester trügen, so daß die christliche Bevölkerung ihnen irr-
tümlicherweise „ungebührliche Ehrerbietung“ erweise. Um solchen
Verwechslungen vorzubeugen, verlangte nun der Papst, daß sich die
Juden „nicht nur von den Klerikern, sondern auch von den Laien“
in ihrer Tracht unterscheiden sollten.
Der Religionskrieg hinterließ im Süden Frankreichs ein trauriges
Erbe in Gestalt zweier neuer Institutionen: des Dominikanerordens
und des Tribunals der „heiligen Inquisition“. Einer der Mitstreiter in
diesem Kriege und Missionar des Katholizismus unter den Ketzern,
der gestrenge spanische Mönch Dominikus stiftete nämlich im Jahre
1215, von Innocenz III. unterstützt, einen Orden der „predigenden
Brüder“. Ursprünglich beschränkte sich der Mönchsorden darauf, den
Laien die katholische Lehre zu predigen und die Schwankenden auf
den rechten Weg zu weisen, später gingen indessen die Dominikaner
von Worten zu Taten über, nahmen regsten Anteil an der Ermittlung
und Verfolgung der Ketzer und daneben auch der Andersgläubigen.
In ganz kurzer Zeit gelangte der Dominikanerorden wie auch der
gleichzeitig gestiftete Orden der Franziskaner oder der „Bettelbrüder“
(der „Minoriten“) in Frankreich, Spanien und anderen Ländern zu
höchstem Ansehen und Einfluß. Viele Klöster, Schulen und sonstige
öffentliche Institutionen standen unter ihrer Obhut. Den Hauptstütz-
punkt der Dominikaner bildete das Jakobiterkloster in Paris, weshalb
denn auch die Ordensbrüder im jüdischen Schrifttum nicht, selten
„Jakobiter“ genannt werden; auch an der Pariser Universität, dieser
Hauptpflanzstätte katholischer Theologie, faßten sie bald festen Fuß.
Die Dominikaner waren große Liebhaber religiöser Disputationen, in
die sie nicht selten auch Juden verwickelten. Zugleich lagen sie stets
auf der Lauer, um den Ketzern, den Freidenkern, den Judaisierenden
sowie ihren „Verführern“ aus der Mitte der Juden aufzuspüren. So
25
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
haben sie denn ganz jenen Beinamen „Wachhunde der Kirche“ ver-
dient, der ihnen auf Grund einer parodierenden Deutung des Ordens-
namens („Domini — canes“: Hunde des Herrn) beigelegt zu werden
pflegte. Mit besonderem Eifer beteiligten sie sich an der kirchlichen
Inquisition. Das geistliche Inquisitionsgericht, vom Papste Gregor IX.
unterstützt, entfaltete nämlich im zweiten Viertel des XIII. Jahrhun-
derts, während der Regierungszeit Ludwigs des Heiligen, eine immer
weiter um sich greifende Tätigkeit. An verschiedenen Orten wurden
von den Päpsten und Bischöfen Untersuchungsrichter („inquisitores“)
aus dem Kreise der Mönche, vornehmlich der Dominikaner oder Fran-
ziskaner, ernannt, die nach den Überresten der ketzerischen Albigenser
zu fahnden wie überhaupt jeden Fall einer Abweichung vom rechten
Glauben ans Tageslicht zu fördern hatten. Das geheime Ermittlungs-
verfahren, das Verhör auf der Folterbank, der Urteilsspruch nach
Gutdünken der fanatischen Richter, die Übergabe der Verurteilten
in die Hände der weltlichen Gewalt („brachium saeculare“) zur Ver-
brennung auf dem Scheiterhaufen — alle diese später in Spanien mit
so großer Virtuosität ausgebildeten Verfahrensweisen der inquisitori-
schen Justiz hatten sich in Frankreich bereits während der behandelten
Epoche voll eingebürgert. Die „das Blut verabscheuende Kirche“
(„Ecclesia abhorret a sanguine“) beschränkte sich nämlich darauf,
die verstockten Sünder aufzuspüren und sie zu richten, während sie
die Vollstreckung der Urteils den Laien überließ. Die von den Domi-
nikanern und Franziskanern geleitete päpstliche und bischöfliche In-
quisition verübte im Laufe des XIII. Jahrhunderts zuerst im Süden
und später auch in allen anderen Gegenden Frankreichs die fürchter-
lichsten Greueltaten. Zunächst nur zur Aburteilung der ketzerischen
Christen eingesetzt, zog dieses blutige Gericht nach und nach auch
die Juden in seine Schlingen. Bald brannten auf den von d,er streit-
baren Kirche errichteten Scheiterhaufen die ihr unliebsamen jüdischen
Bücher und zuweilen auch die Juden selbst, die von den Mönchen in
heimtückischer Weise der Ritualmordlüge zum Opfer gebracht wurden.
§ 3. Die königlichen und seigneurialen Juden unter Ludwig dem
Heiligen
Der Religionskrieg in Südfrankreich führte zu einer engeren Ver-
bindung zwischen Nord und Süd. Die Provence und das Languedoc,
die sich ehedem unter der Regierung der Grafen aus dem Geschlechte
26
§ 3. Die Juden unter Ludwig dem Heiligen
des Raimund und anderer Vizegrafen einer fast völligen Unabhängig-
keit erfreuten, verfielen allmählich der Gewalt der französischen Kö-
nige. Philipp August und sein Sohn Ludwig VIII. beteiligten sich an
dem Albigenserkriege und so waren den Kapetingern gar bald die
Früchte des Eroberungszuges des Simon Montfort zugefallen. Indessen
war der kühl berechnende Philipp August (1181 —122 3), nachdem
er mit dem Segen Innocenz’ III. den ketzerischen Süden gezüchtigt
hatte, durchaus nicht gewillt, die auf den Ruin der Juden abzielende
Politik der Kirche auch fernerhin mitzumachen. Seit dem Jahre 1198,
da dieser Herrscher sich veranlaßt gesehen hatte, die Juden nach zeit-
weiliger Vertreibung in seine nördlichen Besitztümer zurückzuberufen
(Band IV, § 35), ging er mit ihnen als einem wertvollen finanziellen
Werkzeug, das ihm bei der Beschaffung von Geldmitteln unersetzliche
Dienste leistete, mit der größten Behutsamkeit um. Bei den zugunsten
der jüdischen Gläubiger ergriffenen Schutzmaßnahmen hatte der
König nichts als seine eigenen Interessen im Auge: war er doch an
dem aus den Kreditgeschäften stammenden und in Form von hohen
Abgaben seinem Schatze zufließenden Gewinn unmittelbar beteiligt. Im
Jahre 120/i untersagte er der Geistlichkeit, die mit jüdischen Finanz-
männern in Handelsbeziehungen stehenden oder bei ihnen beschäftig-
ten Christen zu bannen — eine Verfügung, die mit den von Papsb
Innocenz III. in seinem Sendschreiben empfohlenen und bald darauf
von der Lateransynode gutgeheißenen Repressalien in direktem Wider-
spruch stand. Es fehlt jeder Hinweis darauf, daß Philipp auch nur
einem einzigen Beschluß dieser Synode praktische Geltung verschafft
hätte. Drei Jahre nach der Proklamierung der neuen Kirchenkanons
erläßt er aufs neue und zwar in erweiterter Form das von ihm schon
früher im Einvernehmen mit einigen seiner Vasallen festgesetzte Re-
glement für den jüdischen Geldhandel (Statut vom Jahre 1206, er-
gänzt im Jahre 1218). Diesem Reglement zufolge durften die Juden
für die von ihnen gewährten Darlehen bis zu 43 Prozent Jahreszinsen
beanspruchen; alle schriftlichen Handelsverträge und Schuldbriefe
mußten, um Gültigkeit zu erlangen, von einem Amtsschreiber abge-
faßt und mit einem besonderen Siegelabdruck versehen werden. Alle
diese Operationen und Formalitäten brachten dem König nicht wenig
ein. Im Jahre 1202 betrugen seine Einkünfte von den Juden (,,pro-
duits des juifs“) 1200 Livres, im Jahre 1217 wuchsen sie bis auf
755o Livres an. Die feudalen Freiherren und Grandseigneurs machten
27
tDas französische Zentrum und die englische Kolonie
es dem Könige nach und waren bestrebt, aus der in ihren Besitzungen
lebenden jüdischen Bevölkerung den größtmöglichen Nutzen zu ziehen.
Dies gab Anlaß zu mancherlei territorialen Streitigkeiten zwischen
dem König und den Feudalherren oder Seigneurs, deren Gegenstand
die Hoheitsrechte in bezug auf die ihren Wohnsitz wechselnden Juden
bildeten; die Konflikte wurden dadurch beigelegt, daß die Parteien
sich gegenseitig zur Auslieferung der Übergesiedelten verpflichteten.
So mußte Philipp August einst der Gräfin von Champagne den ihr
untergebenen reichen Juden Cresselin, der sich in einem Kronlande
niedergelassen hatte, zurückerstatten (i2o3); später wurde die gegen-
seitige Auslieferung solcher „flüchtig gewordenen4 * Juden auch grund-
sätzlich festgelegt (1210). Ähnliche Verträge schlossen auch die ein-
zelnen Seigneurs untereinander. Seitdem ist in den Urkunden immer
häufiger die Bezeichnung „königlicher Jude“ („judaeus regis“) an-
zutreffen, den man so von seinem irgendeinem Grafen oder Baron
Untertanen Stammesgenossen zu unterscheiden pflegte.
Der Nachfolger Philipps, der fromme Ludwig VIII. (1228 bis
.1226), der noch als Kronprinz die Ketzer im Süden in blutigster
Weise verfolgte, machte von neuem den Versuch, den Weg der Re-
pressalien zu beschreiten. Er erklärte alle den Juden gegenüber ein-
gegangenen Schuldverpflichtungen, insofern sie länger als fünf Jahre
bestanden, für null und nichtig und dispensierte außerdem auch die
übrigen Schuldner von jeder Zinsentrichtung: die Kapitalschuld selbst
sollte den Juden im Laufe von drei Jahren durch diejenigen zurück-
gezahlt werden, „denen sie untergeben“ waren, freilich erst nach Ab-
zug entsprechender Kommissionsgebühren zugunsten des Königs oder
der Barone. Zugleich wurde der mit den Baronen geschlossene Ver-
trag hinsichtlich der gegenseitigen Auslieferung der übergesiedelten
Juden aufs neue bekräftigt. Feste Formen nahm diese von kirchlichem
Geiste getragene Unterdrückungspolitik aber erst unter Ludwig IX.
dem Heiligen (1226—1270) an, der in der jüdischen Geschichte ein
trauriges Andenken hinterlassen hat.
Dieser König verkörperte gleichsam das von der Kirche erträumte
Ideal eines den Päpsten mit Leib und Seele ergebenen Monarchen.
Während sein Großvater, Philipp August, die Juden bald vertrieb,
bald wieder begünstigte, je nach den von ihnen zu erwartenden mate-
riellen Vorteilen, war der allen irdischen Gütern abholde Ludwig für
Judenverfolgungen um des Ruhmes des Christentums willen stets ohne
28
§ 3. Die Juden unter Ludwig dem Heiligen
weiteres zu haben. Ein Streiter der Kirche, erblickte er in der Ver-
folgung der Ketzer und Andersgläubigen seinen wahren Beruf; Kreuz-
züge, äußere wie innere, waren der Traum seines Lebens. Von Natur
gutmütig, war er indessen in Sachen des Glaubens unerbittlich. Er
träumte von einer Bekehrung der Juden zum Christentum und grün-
dete eine Sonderstiftung zur Unterstützung der Neubekehrten. Be-
sonders befürchtete er aber die Beeinflussung der Christen durch das
Judentum und empfahl daher den Laien, sich mit den Juden in keiner-
lei Erörterungen religiöser Fragen einzulassen. Der Freund Ludwigs
und Chronograph seiner Regierungszeit Joinville berichtet über den
folgenden Vorfall. Im Kloster von Cluny kam es einst zu einer reli-
giösen Disputation zwischen Mönchen und Juden. Ein als Gast im
Kloster weilender Ritter fragte bei dieser Gelegenheit einen Rabbiner,
ob dieser daran glaube, daß die Jungfrau Maria die Mutter Gottes sei.
Der Rabbiner verneinte es. „Dann ist es ja ein Wahnsinn — rief der
Ritter aus —, daß ihr im Hause der Heiligen Jungfrau erscheint, an
die ihr nicht glaubt und die euch verhaßt ist!“ Darauf überfiel er den
Rabbiner und schlug so heftig mit einem Stock auf ihn ein, daß seine
Stammesgenossen ihn schwer verletzt aus dem Kloster forttragen
mußten. Als der König von diesem für die Kirche so ruhmvollen Aus-
gang des Streites erfuhr, sagte er: „Mögen allenfalls die sanft-
mütigen Priester mit den Juden disputieren; ein Laie, in dessen
Gegenwart die christliche Religion verhöhnt wird, soll sie hingegen
mit seinem Schwerte verteidigen und die scharfe Klinge, so tief es
geht, in den Leib des Gotteslästerers stoßen“. Der gekrönte Kreuzritter
selbst fand sich in der Tat immer bereit, gegen das Judentum, das in
Frankreich eine bedeutende soziale und wirtschaftliche Macht dar-
stellte, das Schwert des Gesetzes zu ziehen; allerdings stand ihm hier-
bei die wirtschaftliche Ordnung des Landes im Wege und dieses Hin-
dernis vermochte auch der allgewaltige Monarch nicht zu überwinden.
In dem von einer Versammlung der Staatswürden träger in Melun
ausgearbeiteten Statut (ia3o) wurde kundgetan, daß der König „um
seines eigenen Seelenheils und um der Verherrlichung des Andenkens
seines Vaters und seiner Vorgänger willen“ gemeinsam mit den Ba-
ronen beschlossen habe, den Juden künftighin das Ausleihen von Geld
auf Zinsen gegen Schuldbriefe sowie die Beitreibung von Schulden
auf gerichtlichem Wege zu untersagen. Zugleich wurden die Juden
endgültig an ihre Herren gefesselt, da die Bestimmung getroffen
29
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
wurde, daß weder der König noch die Barone das Recht haben sollten,
„fremde Juden“, Untergebene eines anderen Lehensherrn, auf ihrem
Territorium zu behalten; jeder königliche Beamte oder Graf, der auf
fremdem Lehensgut „seinen Juden“ („judaeum suum“) ausfindig
machte, durfte ihn, als wäre er sein Sklave („tamquam proprium
servum suum“), festnehmen lassen. Auf diese Weise wurde die Über-
siedlung der Juden aus den königlichen Domänen in die der Lehens-
herren, wie auch umgekehrt, aber auch aus einem Lehensbereich in
einen anderen äußerst erschwert. Alle diese Maßnahmen zerschellten
indessen an den unerbittlichen Lebensnotwendigkeiten. Da das Geld
von den Juden gegen Schuldverschreibungen nicht mehr ausgeliehen
werden durfte, sahen sich die kreditbedürftigen Christen genötigt,
ihren jüdischen Gläubigern zur Sicherung sowohl des Kapitals wie der
Zinsen Pfänder zur Verfügung zu stellen. Darauf erging ein könig-
liches Dekret (i234), demzufolge die christlichen Schuldner von der
Entrichtung eines Drittels der geschuldeten Summe befreit wurden.
Alle diese Verordnungen stifteten die größte Verwirrung im Handels-
verkehr und trugen nur zur Vermehrung der christlichen Wucherer bei,
die, ungeachtet des kirchlichen Verbotes, Rittern und Kaufleuten Geld
auf Zinsen ausliehen. Im Jahre 1247, als sich Ludwig zu einem Kreuz-
zug nach dem Orient rüstete, nahm er sich vor, noch vor dem Abmarsch
zum Ruhme Gottes ein großes Werk zu vollbringen: er verfiel auf
den Gedanken, die Juden aus seinem ganzen Machtbereich zu ver-
treiben und ihr Eigentum einzuziehen. Das fromme Vorhaben des
Königs sollte indessen unverwirklicht bleiben, und nur einzelne Juden
gingen ihres Besitzes verlustig. Von seinem sechsjährigen mißglückten
Feldzug heimgekehrt, rückte der König von neuem den Juden zu
Leibe. Sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe: bezog doch der Staats-
schatz von allen Handelsgeschäften und Kreditoperationen der Juden
regelmäßige Einkünfte, und so war er, der allerchristlichste König,
gleichsam selbst am Wuchergeschäft beteiligt — ein Gedanke, dem es
jedenfalls nicht an Konsequenz fehlte. So erließ denn Ludwig den
Befehl (1257—12 58), daß allen christlichen Schuldnern oder deren
Erben die bereits beigetriebenen Zinsen zurückerstattet werden sollten.
Zu diesem Zwecke setzte er überall besondere Kommissare ein, die alle
Schuldverpflichtungen zu prüfen und die Ansprüche der Schuldner
zu befriedigen hatten.
Wie sich die Juden zu all diesen Experimenten des gottesfürch-
3o
§ 3. Die Juden unter Ludwig dem Heiligen
tigen Königs stellten, ist aus der uns überlieferten Rede eines dama-
ligen Rabbiners zu ersehen, die, obwohl allem Anscheine nach apo-
kryph, nichtsdestoweniger die Stimmung der französischen Juden in
der Regierungszeit Ludwigs des Heiligen wahrheitsgetreu widerspie-
gelt. Es wird nämlich erzählt, daß einer der königlichen Erlasse über
die Nichtigkeitserklärung jüdischer Schuldforderungen namentlich im
Bezirk von Narbonne große Erregung hervorrief. Die Vertreter der
dortigen jüdischen Gemeinde traten darauf zusammen, um über die
schwierige Lage zu beraten. Auch der Provinzialstatthalter, den die
Einmischung des Königs in die Angelegenheiten der autonomen Pro-
vinz verstimmt hatte, wohnte der Versammlung bei. Hier eben soll
der Rabbiner von Narbonne Meir ben Simon, ein bekannter Apologet
und Streitredner, mit der erwähnten Rede hervorgetreten sein1). Der
Redner wies auf die Vorrechte hin, die den Juden von den franzö-
sischen Königen seit der Zeits Karls des Großen eingeräumt zu werden
pflegten, und erinnerte zugleich an die von den Juden diesem Herr-
scher in seinem Kampfe mit den Arabern um den Besitz von Narbonne
erwiesenen Dienste. Heute aber — so fuhr R. Simon fort — sind d.ie
Juden durch die ungerechten Maßnahmen des Königs Ludwig in eine
prekäre Lage versetzt. Man verbietet ihnen, aus dem Lande eines Sei-
gneurs in das eines anderen zu ziehen — was sollen aber diejenigen
beginnen, die an ihrem Wohnorte keine Erwerbsquellen finden? Bei
der Übersiedlung aus einer Stadt in die andere wird ihnen am Stadt-
tore ein besonderer Eingangszoll abgenommen. Der König hat die
Statthalter angewiesen, den Juden bei der Eintreibung von Schulden
bei Christen keinerlei Beistand zu leisten, während doch die Juden
gezwungen sind, ihren christlichen Gläubigern die Schulden voll zu-
rückzuzahlen. Man verbietet den Juden, Geld auf Zinsen oder ,,mit
Nutzen“ auszuleihen, ohne zwischen übermäßigem „Wucher“ (usurae)
und rechtmäßiger Kapitalrente einen Unterschied zu machen, die we-
der von der Bibel noch von den christlichen Kaisern unter Verbot
gestellt wurde. Und doch können weder die Juden, die zu den anderen
Berufen keinen Zutritt haben, noch auch die häufig auf Darlehen an-
Ü Diese Rede hat sich in dem „Milchemeth mizwa“ betitelten Werke des
R. Meir erhalten, das einen Dialog zwischen einem Juden und einem Christen so-
wie andere theologische Erörterungen enthält. Sie ist auf Grund des in der Biblio-
thek von Parma aufbewahrten Manuskriptes in ,,Les rabbins frangais“ von Renan
und Neubauer sowie in anderen Quellen wiedergegeben, auf die unten in der
Bibliographie des näheren hingewiesen ist.
3i
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
gewiesenen Christen, vom Seigneur bis zum Bauer, auf solche Finanz-
geschäfte verzichten. Wie oft halfen jüdische Finanzmänner sogar
Königen aus der Klemme heraus, wieviel Siege sind von jenen Armeen
erfochten, die mit jüdischem Gelde ausgerüstet worden waren! . . .
Die beredte Beweisführung des Rabbiners ist wohl kaum bis zu
Ludwig dem Heiligen gedrungen; auch wäre der König, der für den
Zustand der Kirchen im Heiligen Lande viel mehr Interesse zeigte als
für die Prosperität Frankreichs, durch solche Gründe schwerlich be-
einflußt worden. Entsprang doch sogar der Kampf Ludwigs gegen
den Geldhandel, wie er in den damals üblichen Formen betrieben
wurde, weniger wirtschaftlichen Motiven als vielmehr dem Bestreben,
den kirchlich-kanonischen Forderungen Genüge zu tun. Wir werden
noch sehen, wie sich der König in unzartester Weise in das religiöse
Leben der Juden einmischte und ihre heiligen Bücher auf den von
der Inquisition errichteten Scheiterhaufen verbrennen ließ. Gegen
Ende seines Lebens neigte Ludwig immer entschiedener zu unver-
hohlenem Religionszwang. So befahl er im Jahre 1269 seinen
im Süden wirkenden Beamten, die Juden zum Anhören der Predigten
eines bekannten Missionars, des Dominikaners Paulus Christiani, zu
zwingen, der von Stadt zu Stadt zog und sie überall zu Disputationen
herausforderte; zugleich waren die Juden verpflichtet, dem missions-
eifrigen Mönch ihre religiösen Schriften zur Prüfung vorzulegen. Im
selben Jahre fiel dem König ein, daß die Verordnung der Lateran-
synode über die jüdische Sondertracht nicht genügend beachtet werde
und so gab er Befehl, dafür zu sorgen, daß sich die Juden überall
durch das grelle Zeichen auf ihrem Obergewand kenntlich machten.
Während Ludwig der Heilige den Juden so im nördlichen Frank-
reich hart zusetzte, bedrückte sie sein Bruder, Graf Alfons de Poitiers,
im Languedoc und besonders im Bezirk von Toulouse, der ihm als
Lehen in Nachfolge der freiheitlich gesinnten Grafen aus dem Ge-
schlechte Raimunds zugefallen war. Zum Unterschied von seinem Bru-
der ließ sich Alfons mehr durch Aussicht auf irdische Vorteile als auf
himmlischen Lohn leiten. Der unersättliche Drang nach Bereicherung
auf jüdische Kosten bewog ihn zu brutalsten Gewalttaten. So ließ er
denn häufig Befehle über die Ausweisung der Juden aus verschiedenen
in seinem Machtbereich gelegenen Städten ergehen, um dann, nach
Einkassierung des auf diese Weise erpreßten Lösegeldes, die Ver-
fügung wieder rückgängig zu machen. Im Jahre 1268 befahl Alfons,
32
§ 3. Die Juden unter Ludwig dem Heiligen
alle wohlhabenden Juden in seinem Herrschaftsbereich festzunehmen
und ihr Vermögen einzuziehen. Die Verhafteten wurden solange ge-
fangen gehalten, bis sie genaue Angaben über ihre finanzielle Lage
gemacht hatten. Nach langwierigen Unterhandlungen konnten sie
schließlich ihre Freiheit für die Summe von 20000 Livres erkaufen,
die von den jüdischen Gemeinden von Toulouse und anderen Städten
aufgebracht werden sollte. Im nächstfolgenden Jahre bestätigte Graf
Alfons, dem christlichen Klerus zuliebe, auch die Verordnung seines
Bruders über das „jüdische Zeichen“, ließ jedoch den Juden die
Möglichkeit, sich von dem ihnen auf gedrückten Schandmal mit viel
Geld loszukaufen. Auf diese Weise ward sowohl der Frömmigkeit wie
der Habsucht Genüge getan. Als der Graf später von einem schweren
Augenleiden befallen wurde, wandte er sich an den jüdischen Arzt
Ibrahim, einen berühmten Okulisten, wiewohl die Kirchenregeln guten
Christen die Konsultation jüdischer Ärzte strengstens untersagten.
Besser war die Lage der seigneurialen Juden in jenen Gegenden
Nord- und Südfrankreichs, die noch nicht unter die schwere Hand
der Kapetinger geraten waren. Die an den „jüdischen Einkünften“
in Form von Kopfsteuern und Handelszöllen interessierten Grafen und
Bischöfe waren gern bereit, den aus den königlichen Städten vertriebe-
nen Juden auf ihren Besitzungen Zuflucht zu gewähren. Im Süden
übersiedelten die Juden aus Toulouse, Nimes und anderen vom Königs-
bruder Alfons verwalteten Städten in unaufhaltsamem Zuge nach Nar-
bonne, wo zwei jüdische Gemeinden nebeneinander bestanden: die
eine in dem unter der Gewalt des Vizegrafen stehenden Viertel, die
andere in dem bischöflichen Stadtteil. Die durch den Verlust einer
so ergiebigen Einkommensquelle, wie es die Juden waren, schwer be-
unruhigten königlichen Beamten spürten den Auswanderern an ihren
neuen Wohnstätten nach, um bei ihnen als „königlichen Juden“ die
Kopfsteuer einzutreiben; der Vizegraf und der Bischof bestritten in-
dessen die Rechtmäßigkeit dieser Forderung, da sie die Einwanderer
als nur ihnen, den neuen Herren, tributpflichtig erachteten. Zugleich
suchte ein jeder der beiden Fürsten von Narbonne, der weltliche wie
der geistliche, die Juden durch Verheißung verschiedener Vorrechte
in seinen Bezirk, in den Kreis seiner eigenen Jurisdiktion zu locken.
So erfreute sich die Gemeinde in dem großen, unter der Protektion
des liberalen Vizegrafen stehenden Judenviertel („Grandes Juiveries“)
weitgehender Freiheiten. Sie wurde von aus ihrer eigenen Mitte ge-
3 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
33
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
wählten Ältesten oder „Konsuln“ verwaltet, die in Angelegenheiten
der städtischen Wohlfahrt und der Verkehrssicherheit den Stadt-
konsuln oder dem Magistrat unterstellt waren, in den inneren Ge-
meindeangelegenheiten aber völlig freie Hand hatten. An der Spitze
der Gemeinde stand ein „Nassi“ aus dem angesehenen Kalonymiden-
geschlecht (Band IV, §§35 und 89), der im Volke unter dem prunk-
vollen Namen „roi juif“ (jüdischer König) bekannt war. Seine Re-
sidenz („cortada“) — eine Reihe hochragender, architektonisch voll-
endeter Gebäude — lag im Zentrum der „Grandes Juiveries“. Eine
kleinere Gemeinde hatte sich im anderen, dem bischöflichen, Stadtteil
niedergelassen. Der Lehensherr dieser Gemeinde, der Erzbischof, be-
zog von ihr die landesüblichen Abgaben, wofür er sie seinerseits gegen
jeden Druck von außen und auch gegen die beengenden Kirchen-
kanons in Schutz nahm. So blieben denn hier nicht nur die von der
Lateransynode in bezug auf die jüdische Sondertracht erlassenen Vor-
schriften unbeachtet, sondern auch die diesbezüglichen Ausführungs-
bestimmungen, die im Jahre 1227 auf einem Konzil in Narbonne
selbst beschlossen worden waren. Der narbonnensische Erzbischof
Peter III., der auf diesem Konzil den Vorsitz führte, konnte auch
keinen Augenblick ernstlich daran denken, die für die Juden ernied-
rigenden Beschlüsse praktisch durchzuführen, da er sonst befürchten
mußte, daß seine Untergebenen in den anderen, unter der Jurisdiktion
des liberalen Vizegrafen stehenden Stadtteil übersiedeln würden. Zwar
machten die Kanoniker der Ortskirchen die Mißachtung der Kirchen-
vorschriften den Erzbischöfen zum Vorwurf, doch ließen sich diese
in ihrer doppelzüngigen Politik nicht beirren: während sie in den
Kirchenversammlungen verschiedene die Kreditgeschäfte der Juden
betreffende Verbote vorbehaltlos bestätigten (so z. B. in Montpellier
im Jahre 12 58), legten sie dem Geldgeschäft in ihren eigenen Stamm-
sitzen, da es sowohl ihren persönlichen Interessen wie denen des Orts-
handels überhaupt förderlich war, keinerlei Hindernisse in den Weg.
In dem Bestreben, Juden aus anderen Bezirken in seinen Machtbereich
zu ziehen, verlieh der Erzbischof von Narbonne, Peter IV., seinen Ju-
den einen neuen Freiheitsbrief (1284). Indem er sich die Erhebung
einer Hauptsteuer von jedem „Herd“ (feu) oder Rauchfang vorbe-
hielt, gewährleistete er zugleich den jüdischen Gläubigern das Recht,
alle ihre billigen Forderungen vor Gericht geltend zu machen sowie
gegebenenfalls sich an verpfändetem Gut schadlos zu halten, wobei
34
§ 3. Die Juden unter Ludwig dem Heiligen
allein das Kirchengerät nicht als Pfand genommen werden durfte.
Überdies versprach er, jeden wegen eines zivilrechtlichen Delikts ver-
hafteten Juden über den Sabbat oder die Feiertage unter der Bedingung
freizulassen, daß sich der Häftling nach Ausgang des Festtages selbst
stelle. Der Kirchenfürst wetteiferte somit ganz unverhohlen mit seinem
weltlichen Nachbar, dem Vizegrafen von Narbonne, der den Juden ihre
Freiheiten schon früher verbrieft hatte. Nicht selten kam es zwischen
den beiden Herrschern zu Kompetenzstreitigkeiten, deren Gegenstand
die aus einem Stadtteil in den anderen übersiedelnden Mitglieder der
jüdischen Gemeinden bildeten; solche Streitigkeiten pflegten häufig
durch Abschluß schriftlicher Verträge zwischen den rivalisierenden
Parteien beigelegt zu werden. Den Juden von Narbonne konnte aber
die Rivalität ihrer Beschützer nur zum Vorteil gereichen.
Zuweilen hatten die auf den seigneurialen Besitzungen lebenden Ju-
den ihren Schutzherren auch die Abwendung schwerster Gefahren zu
verdanken. So geschah es im Jahre 12 36 in Narbonne, daß ein Jude
im Streite mit einem Fischerknaben sich an diesem vergriff und ihn
schwer verletzte. Der an das Lager des Verwundeten gerufene christ-
liche Arzt konnte oder wollte ihn nicht kurieren und der Knabe er-
lag seinen Verletzungen. Dieser Vorfall rief in der Stadt die größte
Erregung hervor. Der durch Glockengeläut alarmierte Mob stürzte
sich auf die Häuser der Juden, schlug die Türen ein, mißhandelte und
plünderte die Hausbewohner. Mittlerweile begaben sich die Mitglieder
des Stadtrats, die Konsuln, zum Palast des Vizegrafen Aimery IV. und
forderten Sühne für den ermordeten Christen. Der Vizegraf, der von
barbarischen Vorurteilen frei war und in der Ermordung des Fischers
nichts als einen unglücklichen Zufall erblickte, zögerte indessen nicht,
den Juden zu Hilfe zu eilen. Er ließ einen Heerestrupp gegen die Plün-
derer vorrücken, der sie von dem jüdischen Viertel zurückschlug, und
befahl, die geplünderte Habe den Eigentümern zurückzuerstatten. Zur
Erinnerung an die Errettung aus der großen Gefahr wurde der be-
treffende Tag von der Gemeinde in Narbonne zu einem alljährlichen
Festtag erhoben (der 21. Adar, acht Tage nach Purim, darum „Nar-
bonnensisches Purim“ genannt).
Völlig machtlos standen hingegen die Ortsbehörden den Überfällen
der Kreuzfahrer gegenüber, die in Frankreich unter Ludwig IX.
mehrmals für einen Feldzug nach dem Orient angeworben wurden.
Da der geplante Feldzug immer wieder auf gegeben oder auf geschoben
8*
35
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
wurde, ließen es sich die bereits versammelten Scharen nicht nehmen,
jedesmal vor der Heimkehr ihren Kriegsfuror an den Juden auszu-
lassen. Im Sommer desselben Jahres 12 36, als die Gemeinden von
Narbonne in Gefahr schwebten, zogen zügellose Kreuzfahrerbanden
mordend und plündernd durch Bordeaux, Anjou, Poitou und andere
Städte. Nur wenige Juden suchten in der Scheintaufe Rettung,
während die Mehrzahl heldenmütig den Märtyrertod erlitt; manche
legten gleich den rheinischen Märtyrern des ersten Kreuzzuges selbst
Hand an sich. Etwa 3ooo Juden wurden in diesem grauenvollen Som-
mer ermordet oder verstümmelt1). Sogar Papst Gregor IX. vermochte
sich der an ihn ergangenen „flehentlichen Bitte der in Frankreich
lebenden Juden“ um Schutz gegen die Kreuzträger nicht zu verschlie-
ßen. In einem Sendschreiben an den Bischof von Bordeaux und an die
Kirchenfürsten der anderen heimgesuchten Städte erinnerte er sie dar-
an, daß das Judentum weder auf dem Wege der Vernichtung noch
mit dem Mittel der gewaltsamen Taufe bekämpft werden dürfe, um
so mehr als die Juden ohnehin in „einer neuen ägyptischen Knecht-
schaft“ („sub nova Egyptiaca servitute“) schmachteten — ein Ge-
ständnis, das im Munde des Hauptes der christlichen Kirche besonders
schwerwiegend erscheint.
§ 4. Religiöse Disputationen und die Verbrennung des Talmud;
die Opfer der Inquisition
Das Zeitalter tiefgreifender religiöser Gärung und kühner Neuerer
innerhalb des Christentums rief im Volke eine noch nie dagewesene
Vorliebe für religiöse Disputationen wach. Schon die Lehren der Wal-
denser und Albigenser, die die den Juden am meisten widerstrebenden
Dogmen des Christentums ablehnten, waren nicht zuletzt durch jene
leidenschaftlichen Wortkämpfe beeinflußt, deren Gegenstand gerade
diese Fragen bildeten und die von jeher zwischen Juden und Christen
geführt wurden. In der zweiten Hälfte des XII. Jahrhunderts, in der
Zeit der höchsten Blüte der „Irrlehren“ in Südfrankreich, wurden
1) In den jüdischen Quellen wird die Katastrophe nur in einer kurzen Notiz
der Chronik „Schebet Jehuda“ (im Anhang mit falscher Datierung: 1219) er-
wähnt, doch erfahren wir Genaueres darüber aus dem Sendschreiben des Papstes
Gregor, das mit den Worten: „Lacrimabilem Judaeorum . . . recepimus quaestio-
nem“ beginnt (S. Raynaldus, Annales ecclesiastici s. a. 12 36 und unten in der
Bibliographie).
36
§ 4. Religiöse Disputationen und Verbrennung des Talmud
die Disputationen in der Öffentlichkeit und Literatur gleichsam zu
einer Alltagserscheinung. Beide Parteien rüsteten sich voll Eifer zu
diesen Turnieren: verfaßten die katholischen Theologen polemische
Traktate zur Anleitung der Christen bei ihren Disputationen mit den
Juden1), so schrieben die Rabbiner ihrerseits Leitfäden zur Wider-
legung der Dogmen des Christentums sowie seiner abwegigen Bibel-
auslegung. Um diese Zeit eben verfaßten die in der Provence leben-
den Grammatiker und Kommentatoren Joseph und David Kimchi
(Band IV, § 47) ihre antichristlichen Apologien. Im Vorwort zu sei-
nem „Buch des Bundes“ („Sefer ha’berith“) betont Joseph Kimchi
ausdrücklich, daß er es auf Zureden seiner Schüler als Handbuch für
Disputationen mit Andersgläubigen und getauften Juden verfaßt hätte,
die den Sinn der Heiligen Schrift durch symbolische Auslegung in
christlichem Geiste zu entstellen und zu verdrehen suchen.
Der kurzgefaßte Traktat ist dem literarischen Brauche der Zeit
gemäß in Form eines Dialogs zwischen einem Christen und einem Ju-
den („Min u’maamin“) gehalten und behandelt in Rede und Gegen-
rede die Dogmen von der Dreifaltigkeit und der Mutter Gottes, von
Christus als dem Erlöser von der Erbsünde sowie seine angebliche
messianische Berufung. Zuweilen greift die theologische Auseinander-
setzung auch auf das Gebiet des sozialen und alltäglichen Lebens über.
So sucht der Jude in diesem Dialog zu beweisen, daß seine Stammes^-
genossen in moralischer Hinsicht den Christen überlegen seien. Die
Gebote: „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst nicht ehebrechen“ be-
folgten die Juden in viel strengerer Weise als die Christen, wie dies
durch die Tatsache bezeugt werde, daß unter ihnen Mörder und Lüst-
linge viel seltener anzutreffen seien; auch die Nächstenliebe sei bei
den Juden viel fester verwurzelt: stünden sie doch einander in der Not
stets hilfreich bei und trügen Sorge um ihre Armen, wobei sie den
verschämten Notleidenden die Unterstützung insgeheim zukommen lie-
ßen; sie zeichneten sich auch durch Gastfreundlichkeit aus und ließen
den Fremden nie die Zeche bezahlen, was bei den Christen nur sehr
1) Größtenteils wurden diese Bücher in Form von Dialogen zwischen einem
Christen und einem Juden abgefaßt. Große Volkstümlichkeit erlangten die Schrif-
ten des Mönches Ruppert: „Annulus seu Dialogus christiani et judaei de fidei
sacramentis“ und Peters von Blois: „Liber contra perfidiam judaeorum“. Im XIII.
Jahrhundert wurden solche polemische Leitfäden nicht selten auch in der franzö-
sischen Volkssprache verfaßt („De la disputaison de la sinagogue et de la sainte
6glise“).
37
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
selten vorkomme. Die heikle Frage des jüdischen Wuchers erledigt
der Disputant mit dem Hinweis darauf, daß die Thora den Juden aus-
drücklich untersagt hätte, an ihre Stammesgenossen Geld gegen Zin-
sen auszuleihen, und daß dies auch in der Tat so streng befolgt werde,
daß sich der Jude sogar davor hüte, Getreide und dergleichen in Vor-
aussicht einer Preiserhöhung aufzuspeichern, da schon der Spekula-
tionsgewinn als Wucher gelte; allerdings beanspruchten sie Zinsen
beim Geldausleihen an Fremdstämmige, aber auch die Christen ver-
führen in der gleichen Weise nicht nur mit den Juden, sondern sogar
mit ihren Glaubensgenossen. Ihr sagt — so argumentiert der Jude
weiter —, daß es unter euch heilige Männer gibt, die sich von allen
irdischen Gütern losgesagt haben, indessen findet man unter Tausen-
den kaum einen mit solchem Lebenswandel, während die übrigen im
Schmutze des Lebens versinken; sogar eure Priester und Bischöfe, die
die Keuschheit gelobt haben, geben sich der Unzucht hin, was unter
der jüdischen Geistlichkeit nie denkbar wäre. Noch größere Gewandt-
heit legt der Jude in dogmatischem Streit an den Tag. Hatte es denn
— so ruft er aus — der allmächtige, unergründliche Weltschöpfer
nötig, zur Erlösung der Welt von einem Weibe empfangen und ge-
boren zu werden, um dann zu sterben? Was bedeutet denn der Auf-
schrei Jesu am Kreuze: „Mein Gott, warum hast du mich ver-
lassen?“ Hat er denn sich selbst um Hilfe angefleht, da er doch selbst
Gott ist? Wenn er wirklich zur Erlösung der Menschheit von der Erb-
sünde Adams und Evas auf die Welt gekommen ist, warum hat er
dann viertausend Jahre lang auf sich warten lassen? Wäre er früher
erschienen, so hätte er ja Hunderte von Generationen beglücken kön-
nen, indem er sie von den um der Sünde ihrer Ahnherren willen er-
littenen Höllenqualen erlöst hätte. Ihr behauptet, daß die Juden aus
dem Grunde über die ganze Welt zerstreut und zu Leiden verdammt
seien, weil ihre Vorfahren Christus der qualvollen Kreuzigung preis-
gegeben hätten; aber ihr seid ja des Glaubens, daß Jesus selbst auf
diese Erde gekommen sei, um die Menschheit durch seine Qualen und
seinen Tod zu erretten: so haben denn unsere Vorfahren nur in sei-
nem eigenen Geiste gehandelt oder er als Gott hat ihnen vielmehr
selbst eine solche Handlungsweise eingegeben. Ist es denn gerecht, daß
ihre Nachkommen um dieser Wohltat willen leiden? Der Dialog
schließt mit den folgenden Worten: „Unsere Thora wird mit dem
§ 4. Religiöse Disputationen und Verbrennung des Talmud
Feuer verglichen, ihr hingegen habt das Wasser der Taufe, doch wird
euer Wasser unser Feuer nie zum Erlöschen bringen“.
Der Sohn des Joseph Kimchi, David, beteiligte sich nicht selten
auch persönlich an den Disputationen mit den Christen. Ein Wider-
hall dieser Wortgefechte ist in seinen Kommentaren zu den Psalmen
sowie in einer besonderen Apologie („Teschuboth ha’Radak“) ver-
nehmbar. Unter anderem weist er darauf hin, daß die Berufung der
evangelischen Apostel und der Kirchenväter auf die biblischen Pro-
pheten die Messianität Jesu keineswegs bestätige, da er keines der
von den Propheten verkündeten Kennzeichen des Messias in Wahrheit
besessen hätte: auch wenn man der neutestamentlichen Genealogie
Glauben schenken wolle, sei er ja nur mütterlicherseits ein „Sohn
Davids“; auch habe er weder das zerstreute Israel aus allen Enden
der Welt versammelt noch Jerusalem wiederhergestellt; oder hat
er vielleicht den Frieden auf Erden gestiftet, während doch die Kriege
weiter fortdauern und die Schwerter noch immer nicht zu Pflug-
scharen umgeschmiedet sind?
Die mündliche und schriftliche Polemik verschärfte sich besonders
im XIII. Jahrhundert, als Missionare aus dem Mönchsorden der Do-
minikaner oder der „predigenden Brüder“ (fratres praedicatores) auf-
tauchten, die den Juden die religiösen Disputationen geradezu auf-
zwangen. Der ewige Streit der beiden Religionen kam bald in Privat-
unterredungen zwischen Mönchen und Rabbinern zum Durchbruch,
bald entbrannte er in der Synagoge, wohin sich die missionseifrigen
Dominikaner nicht selten geAvaltsam Eingang verschafften. Viele ge-
lehrte Juden erlangten eine so große Fertigkeit in dieser Fechtkunst,
daß sie weit und breit als Meister ihres Faches bekannt wurden. Zwei
dieser Berufsdisputanten, Rabbi Nathan Official und sein Sohn Jo-
seph, die in Frankreich zur Zeit Ludwigs des Heiligen wirkten,
sind durch ihre häufigen Unterredungen mit Bischöfen, gelehrten
„Jakobitern“ (Dominikanern), Franziskanern und selbst mit dem kö-
niglichen Beichtvater besonders berühmt geworden. Die als Manu-
skript vorliegende Sammlung ihrer Antworten („Das Buch Joseph des
Eiferers“; „Josef ha’mekane“) zeugt davon, daß diese Gespräche mit
so großer Freimütigkeit und Unbefangenheit geführt wurden, wie
man es in jener Zeit der entfesselten religiösen Leidenschaften kaum
hätte erwarten können. In ihren intimen Unterredungen mit den kirch-
lichen Würdenträgern nahmen sich die jüdischen Disputanten durch-
39
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
aus kein Blatt vor den Mund, und viele ihrer Äußerungen zeichnen
sich durch Geist und Witz aus. Als einst R. Nathan die verfängliche
Frage vorgelegt wurde, warum denn nach der Zerstörung des ersten
Tempels das babylonische Exil nur siebzig Jahre gedauert hätte, wäh-
rend die Zerstreuung Israels nach der Zerstörung des zweiten Tem-
pels schon über tausend Jahre währe, ob nicht aus dem Grunde, weil
die Juden Christus verleugneten, gab Nathan zur Antwort: „Zur Zeit
des ersten Tempels bestand die Sünde des Volkes Israel einzig darin,
daß es elende und vergängliche Götzenbilder anbetete, in der Zeit des
zweiten Tempels aber brachte es Jesus und dessen Jünger hervor, die
ihrer Religion in der ganzen Welt Geltung verschafften — für diese
Sünde eben muß das jüdische Volk bis auf den heutigen Tag im Exil
schmachten“. Ein anderes Mal fragte ihn ein Priester, warum in den
jüdischen Synagogen kein Glockengeläut üblich sei. Da führte ihn
R. Nathan auf den Markt, wo gleich am Eingang armselige Herings-
händler mit lauter Stimme ihre Ware jedem Vorübergehenden an-
priesen; als sie dann aber zu den Marktreihen kamen, wo bessere
Fischsorten feilgeboten wurden, hörten sie keine Anpreisungen mehr.
„Siehst du — sagte R. Nathan —, wer gute Ware anzubieten hat,
kann sich das Anpreisen sparen, denn die Wäre spricht für sich
selbst: darum eben können auch wir Juden das Glockengeläute ent-
behren“. „Warum hat das Mosesgesetz für diejenigen, die einen Leich-
nam berührt haben, strenge Isolierung vorgeschrieben?“ fragte einst
der Kanzler der Pariser Universität den Sohn des Nathan Official.
Dieser antwortete: „Weil Gott vorausgesehen hat, daß man dereinst
Jesus gerade um des von ihm erlittenen Todes willen vergöttern werde;
so hat denn Gott Gesetze gegeben, die daran gemahnen, daß die Be-
rührung eines Toten verunreinige“. Ein Priester fragte einmal: „War-
um hat sich Gott Moses gerade in einem Dornstrauch (dem unver-
brennbaren Busch) und nicht in einem anderen Baume offenbart?“
— „Aus dem Grunde,“ lautete die Antwort, „weil man aus einem
Busch kein Kreuz zimmern kann“. Die jüdischen Opponenten schreck-
ten sogar vor der Verspottung des nationalen Hochmuts ihrer Wider-
sacher nicht zurück. Dem Hinweis darauf, daß die Knechtung der Ju-
den durch fremde Völker nicht ohne Gottes Willen geschehen sei, be-
gegnete Nathan mit den Worten: „Zwar tragt ihr kein fremdes Joch
und kein Stock schlägt euch auf den Rücken, doch seid ihr selbst
4o
§ 4. Religiöse Disputationen und Verbrennung des Talmud
nichts als ein niedersausender Stock: euer Werkzeug ist das Schwert,
euer Handwerk der blutige Krieg!“
Die Argumente der jüdischen Disputanten mußten die Christen in
größte Verlegenheit bringen und riefen nicht selten auch ihre Em-
pörung hervor. Friedliche religiöse Unterredungen endeten damit, daß
sich die Juden zu schärfsten Ausfällen hinreißen ließen, während die
Gegenpartei mitunter auch vor Handgreiflichkeiten nicht zurück-
schreckte, wie z. B. in dem zitierten Falle, in dem der Ritter dem Rab-
biner seine Argumente mit dem Stock einzubleuen versuchte. Wie
schon erwähnt, fanden solche Methoden der Beweisführung die volle
Billigung Ludwigs des Heiligen, der überhaupt der Ansicht war, daß
sich wohl gelehrte Theologen, nicht aber Laien in religiöse Ausein-
andersetzungen mit Juden einlassen dürften. Dabei ließ sich der Kö-
nig anscheinend von der Bulle des Papstes Gregor IX. vom Jahre
1228 leiten, die den Christen jegliche Disputation mit Juden über
religiöse Fragen aus dem Grunde untersagte, weil die einfältigen Ka-
tholiken dabei Gefahr liefen, in die Netze des Unglaubens verstrickt
zu werden. Mittlerweile begann die katholische Geistlichkeit, die in
ihren Privatdisputationen mit den Juden Niederlagen auf Niederlagen
erlitt, nach dem Waffenlager zu forschen, dem die Feinde Christi ihr
Rüstzeug entnahmen. Viele gelehrte Dominikanermönche waren des
Hebräischen kundig und vermochten mit Beistand getaufter Juden aus
der Mitte ihrer Ordensbrüder sogar den schwierigen Talmudtext zu
bewältigen. In ihm glaubten nun die christlichen Spitzel, mit Hilfe
der jüdischen Überläufer die Wurzeln der antichristlichen Ideen end-
gültig blößlegen zu können. So wurde denn dem Talmud der Prozeß
gemacht
Um seinen Kircheneifer zu bezeugen, überreichte nämlich der Do-
minikaner Nikolaus Donin, ein getaufter Jude aus La-Rochelle, im
Jahre 1289 dem Schutzherrn der Inquisition, dem Papste Gregor IX.,
ein Denunziationsschreiben, in dem er die Behauptung aufstellte, daß
der Talmud Christus und die Christen verletzende Ausdrücke enthalte
und überhaupt unsittliche Lehren vertrete. Daraufhin trug der Papst
den Bischöfen Spaniens, Frankreichs und Englands sowie den Domi-
nikanerprioren in Paris auf, den Juden ihre Talmudbücher wegzuneh-
men und die Stichhaltigkeit der Angaben des Donin zu prüfen. Das
Ermittlungsverfahren wurde zuerst in Paris in die Wege geleitet; man
entzog den dortigen Juden alle Talmudexemplare und forderte die
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
Rabbiner zu Gegenerklärungen auf. Eine besondere Kommission hatte
den Ankläger Donin sowie die jüdischen Gelehrten zu vernehmen. Von
jüdischer Seite waren vor der Kommission R. Jechiel aus Paris, R.
Moses aus Goucy und noch andere Rabbiner erschienen. Die öffent-
liche Disputation fand in Paris am 12. Juni des Jahres 12/io im Bei-
sein der höchsten geistlichen und weltlichen Würdenträger statt. Die
aus dem Pariser Erzbischof Guillaume d’Auvergne, dem Kanzler der
Pariser Universität Odon und einem Dominikanermönch, einem Mit-
glied der „heiligen Inquisition“, zusammengesetzte Prüfungskommis-
sion legte eine ausführliche Anklageschrift gegen den Talmud vor, die
mit Hilfe des Denunzianten Donin ausgearbeitet und in 35 Punkte zu-
sammengefaßt war. Die Anklage lief in ihren Hauptpunkten darauf
hinaus, daß im Talmud Schmähungen gegen Jesus Christus enthalten
seien, wie etwa die ßehauptung, daß er ein außerehelicher Sohn
Marias und eines gewissen Ren Sotada gewesen und wegen seines Ab-
falles vom Judentum zu ewigen Höllenqualen verdammt sei; ferner,
daß sich in dem fraglichen Werke gehässige Ausfälle gegen die Chri-
sten fänden: so werde darin beispielsweise gestattet, die „Gojim“ zu
töten und zu betrügen, ihre Götzen- oder Heiligenbilder zu verhöhnen
und sie in den Gebeten zu verfluchen; auch sonst strotze angeblich
der Talmud von gotteslästerlichen und unsittlichen Aussprüchen so-
wie von allerlei Unsinn und Grotesken.
Alle diese Anklagen gründeten sich auf Zitate aus dem haggadi-
schen Teil des Talmud, in dem sich neben zahlreichen Legenden und
Sinnsprüchen von edelster Gesinnung auch Spuren des Volksaber-
glaubens und der Feindseligkeit gegenüber den andersgläubigen Pei-
nigern erhalten haben. Ein Rationalist aus der Schule des Maimonides
hätte solchen Vorwürfen von vornherein mit der Erklärung begegnet,
daß die jüdische Religion für das freie Schrifttum der Haggada eben-
sowenig verantwortlich gemacht werden könne, wie das Christentum
für alle Schriften der Kirchenväter und für die Lebensbeschreibungen
der Heiligen, die an Aberglauben und religiöser Intoleranz der taU
mudischen Haggada keineswegs nachstanden; der Pariser Rabbiner
Jechiel aber und seine Genossen aus der Tossafistenschule, die die
gesamte Legendenliteratur kritiklos hinnahmen, sahen sich durch die
vorgebrachten Anschuldigungen in eine schwierige Lage versetzt Aus
seiner Verlegenheit half sich nun R. Jechiel mit Müh und Not da-
durch heraus, daß er einige der inkriminierten Wendungen als nicht
§ 4. Religiöse Disputationen und Verbrerinung des Talmud
auf Christus bezüglich deutete, doch unterließ er es, auf die poeti-
schen Sagen, in denen die Ankläger eine Gotteslästerung erblickten
(wie z. B. in der Parabel, daß Gott über die Zerstörung des Jerusa-
lemer Tempels und die Zerstreuung des Volkes Israel alltäglich Tränen
vergieße u. dgl. m.), des näheren einzugehen. Den für die „Gojim“
beleidigenden Talmudaussprüchen hielt R. Jechiel dem Talmud selbst
entnommene Maximen entgegen, die die Sorge um Bettler und Sieche,
wes Glaubens auch immer, zur religiösen Pflicht machen, den Will-
kommensgruß bei Begegnungen mit Nichtjuden ausdrücklich emp-
fehlen usw. „Du weißt wohl — so sprach er zu dem Ankläger Donin
— wie sehr wir unserem Gesetze ergeben sind, wie viele von uns um
des Glaubens willen ermordet, ertränkt, verbrannt, erdrosselt worden
sind, und doch unterhalten wir mit den Christen Beziehungen, die mit
den ,Gojim' zu pflegen uns untersagt ist. Das Gesetz (des Talmud)
lautet: ,Drei Tage vor den Iden (Feiertagen) der Gojim muß jeg-
licher Verkehr mit ihnen abgebrochen werden4 — nun gehe aber
durch die Judengasse und du wirst dich überzeugen, daß die Juden
sogar an den christlichen Feiertagen mit Christen Geschäfte abschlie-
ßen. Wir treiben Handelsgeschäfte mit ihnen, vertrauen unsere Säug-
linge christlichen Ammen an und unterweisen die christlichen Priester,
deren viele der hebräischen Sprache mächtig sind, in der Thora“. In
gleichem Sinne ließen sich auch die Genossen des R. Jechiel aus. Die
Mönche nahmen indessen in das Protokoll die Feststellung auf, daß
die Rabbiner viele anstößige Stellen „zugegeben“, d. h. ihr Vorhanden-
sein nicht in Abrede gestellt hätten. Daraus wurde nun der Schluß
gezogen, daß der Talmud ein gotteslästerliches und schädliches Buch
sei und daher vernichtet werden müsse. So traf denn das Kollegium
der hochwürdigen Väter die Verfügung, daß alle eingezogenen Ab-
schriften des vielbändigen Talmud den Flammen preisgegeben wer-
den sollten.
Durch die Verordnung der Pariser Kommission in höchste Be-
stürzung versetzt, scheuten die Juden keine Mühe, um bei den höch-
sten Instanzen wenn nicht die Aufhebung, so doch wenigstens die Hin-
ausschiebung der angeordneten Maßnahme durchzusetzen. Ein zeitge-
nössischer Dominikaner berichtet, daß die Pariser Juden einem Hof-
prälaten eine große Geldsumme gebracht und ihn angefleht hätten,
ihre Bücher von den Flammen zu erretten. Der bestochene Prälat soll
denn auch den König überredet haben, den Beschluß der Kommission
43
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
rückgängig zu machen, worauf die frohlockenden Juden die beschlag-
nahmten Bücher zurückerhielten. Indessen sollte ihr Jubel nur von
kurzer Dauer sein: etwa ein Jahr später, als derselbe Prälat einst vor
dem König erschien, empfand er plötzlich Schmerzen in den Ein-
geweiden und fiel tot zu Boden; der König erblickte hierin eine Sühne
für die von seinem Beichtvater den Juden gegenüber geübte Nach-
sicht und befahl das seinerzeit gefällte Urteil nunmehr unverzüglich
an den jüdischen Büchern zu vollstrecken. An diesem Bericht mag
nur das eine wahr sein, daß es den Juden gelungen war, die Ausfüh-
rung des Beschlusses der Pariser Kommission nahezu zwei Jahre hin-
auszuschieben. Im Jahre 1242 geschah jedoch das Unabwendbare: im
Juni dieses Jahres wurden 24 Fuhren Talmudbücher auf einem Pa-
riser Platze abgeladen und öffentlich verbrannt. Die Kunde von der
Verbrennung der heiligen Bücher erweckte unter den Juden aller Län-
der tiefste Trauer. Der deutsche Großrabbiner B. Meir aus Rothen-
burg verfaßte aus diesem Anlaß seine bekannte synagogale Elegie, die
mit den folgenden rührenden Worten an die heilige Thora beginnt:
„Frage nun, du vom Feuer Verzehrte, was aus denen geworden, die
über dein furchtbares Los Tränen vergießen“ („Schaali serufa“).
Auch in den Synagogen Frankreichs und Italiens wurde der Flammen-
tod der Thora in elegischen Gedichten betrauert. In Rom setzte man
aus Anlaß der Pariser Katastrophe einen besonderen Fasttag fest.
Der dem Papst Gregor IX. auf dem päpstlichen Stuhle gefolgte
Innocenz IV. fand für das Vorgehen Ludwigs des Heiligen in seinem
Kampfe gegen die „schädlichen Bücher“ der Juden zunächst nur
Worte der Billigung. So bittet der Papst den König in einem Schrei-
ben (1244)- „Gib Befehl, daß diese Bücher in deinem ganzen Reiche,
wo es auch sein mag, den Flammen preisgegeben werden“. Hierauf
kam es von neuem zur Beschlagnahme der talmudischen Bücher in
vielen jüdischen Gemeinden, und nach Paris sollte nunmehr die Pro-
vinz zum Schauplatz der Autodafes werden. Um jene Zeit kam der
Papst gerade zu einem längeren Aufenthalt nach Lyon und die Rab-
biner benützten die Gelegenheit, um sich über die gewalttätige Ein-
mischung in das jüdische religiöse Leben bei ihm zu beschweren. Ohne
den Talmud — so sprachen die Rabbiner — können wir die Bibel,
die er auslegt, nicht studieren und somit auch den Gesetzen unserer
Religion nicht Genüge tun. Innocenz IV. ersuchte nun den Pariser
Kardinal-Legaten Odon, den ehemaligen Universitätskanzler und Mit-
44
§ 4. Religiöse Disputationen und Verbrennung des Talmud
glied der ursprünglichen Untersuchungskommission, die talmudi-
schen Bücher erneut daraufhin zu prüfen, welche von ihnen ohne
Schaden für die Kirche den Juden zurückgegeben werden könnten
(1247). Gleichzeitig erklärte der Papst dem König Ludwig in einem
Schreiben, daß er, als Hohepriester der Kirche, die die Anhänger des
Alten Bundes neben sich durchaus dulde, es für seine Pflicht halte, die
Juden in Einklang mit ihren religiösen Gesetzen leben zu lassen. Die
vom Papste empfohlene Milderung der Repressalien fand jedoch bei
den Pariser Fanatikern keinen Anklang. In seinem Antwortschreiben
suchte der päpstliche Legat Innocenz IY. davon zu überzeugen, daß
der Talmud den Sinn der Bibel entstelle, daß die Rabbiner den Papst
und die Kardinäle durch die Behauptung, die Bibel sei ihnen ohne
den Talmud unverständlich, irreführten und daß es überdies ein
öffentliches Ärgernis bedeuten würde, wenn man den Juden die noch
unversehrt gebliebenen Abschriften der jüngst verdammten Bücher
nun zurückgeben wollte. Schlechte Bücher — meinte er — müßten,
auch wenn in ihnen manch guter Gedanke anzutreffen wäre, gleich
bösen Menschen, gleich Ketzern vernichtet werden: wird doch auch
ein Ketzer wegen der Verleugnung eines einzigen Glaubensdogmas,
auch wenn er alle übrigen voll anerkennt, in Grund und Boden ver-
dammt. Trotz all dieser Bedenken — fügt der Legat hinzu — wolle
er dem päpstlichen Befehl dennoch Folge leisten und die ihm von
den Juden vorgelegten Abschriften einiger Talmudtraktate nochmals
überprüfen. Die Revision wurde denn auch in einer neu eingesetzten
Zensurkommission unter Beteiligung namhafter christlicher Theolo-
gen ohne Säumen vorgenommen; zu den Zensoren gehörte unter an-
deren der berühmte Dominikaner Albertus Magnus, der die Haupt-
elemente seines theologischen Systems („Summa Theologiae“) aus
den philosophischen Werken des Maimonides und des Ibn Gabirol
schöpfte. Wie nicht anders zu erwarten war, wurde auch in der neuen
Kommission über den Talmud der Stab gebrochen. Ihr Vorsitzender,
der Kardinal-Legat Odon, erklärte (im Mai 1248), daß das Werk von
furchtbaren Verirrungen und Blasphemien strotze und daß es in einem
christlichen Staate nicht geduldet werden könne. Von neuem setzte
in verschiedenen französischen Städten die Jagd nach den jüdischen
Büchern ein. Die Akten des Jahres i2Öo verzeichnen eine ganze Reihe
solcher von den „predigenden Brüdern“ (Dominikanern) vollbrachten
Heldentaten. Späterhin ließen die Verfolgungen allmählich nach: den
45
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
Juden gelang es, wie schon so oft, sich auch von den neuen Be-
drückungsmaßnahmen loszukaufen. Auch diesmal konnten sie sich
für einen bestimmten Tribut den Beistand der weltlichen Macht
sichern. Das Talmudstudium auf den Rabbinerschulen Frankreichs
war allerdings für einige Zeit lahmgelegt, da viele Rabbiner und Ge-
lehrte das Land inzwischen verlassen hatten. Unter den Auswanderern
befand sich auch der bei der Pariser Disputation hervorgetretene R.
Jechiel, der nach Palästina übersiedelte (1259).
Die die jüdischen Bücher dem Feuer preisgebende dominikanische
Inquisition ließ zuweilen auch die Juden selbst in den Flammen um-
kommen. Ein erschütternder Vorfall ereignete sich im Jahre 1288 in
der Stadt Troyes, der Heimatstadt des Raschi und der Wiege des Tal-
mudstudiums in Frankreich. Am Karfreitag, den 26. März, der mit
dem vorletzten Tage des jüdischen Passah zusammenfiel, brach der
wohl durch die Passionspredigten aufgestachelte christliche Mob in
das Haus des reichen und gelehrten Juden Isaak Chatelin ein in der
Absicht, „den Tod des Erlösers zu rächen“. Wie aus Andeutungen in
den anläßlich der Katastrophe verfaßten Elegien zu entnehmen ist,
hatten Hetzer in heimtückischer Weise die Leiche eines Christen im
Hause des Chatelin versteckt, um sodann die erregte Menge zur Auf-
deckung des „jüdischen Verbrechens“ dorthin zu führen. Das Haus
wurde bis auf die Mauern ausgeplündert, während sein Eigentümer
mitsamt seiner ganzen Familie und noch acht Gemeindemitgliedern
verhaftet und der dominikanischen Inquisition überliefert wurde. Das
Inquisitionsgericht bezichtigte die Juden des Ritualmordes und ver-
urteilte dreizehn von ihnen zum Feuertode. Die Richter erklärten sich
allerdings bereit, denen, die die Taufe annehmen würden, das Leben
zu schenken, doch wiesen die Juden dieses Ansinnen ohne Zaudern
zurück. So wurde denn am 2 4- April die öffentliche Hinrichtung voll-
zogen. Das erschütternde Martyrium ist in vier zeitgenössischen Ele-
gien verewigt, von denen drei in hebräischer Sprache abgefaßt sind,
während die vierte in altfranzösischer Mundart, jedoch gleichfalls
in hebräischer Schrift festgehalten ist. Als erste bestiegen den Schei-
terhaufen Isaak Chatelin und seine Familie: seine schwangere Frau,
zwei Söhne und eine Schwiegertochter. Die Hände auf dem Rücken
gefesselt und laut Psalmen singend, gingen sie in den Tod. Schon
wird Isaak ins Feuer geworfen, „so reich an Gütern, der ruhmreiche
Schöpfer von Tossafoth und ein Meister der Bibelauslegung“. Bei die-
46
§ 4. Religiöse Disputationen und Verbrennung des Talmud
sem Anblick stößt seine Gattin den herzzerreißenden Schrei aus: „Ich
will dir folgen, mein Freund!“ — und auch die schwangere Frau ver-
schwindet in den Flammen. In Todesqualen ruft der jüngere Sohn
dem älteren zu: „Bruder, ich brenne!“, der ältere aber erwidert: „Du
gehest ins Eden ein“. Als die schöne Schwiegertochter, das Weib des
älteren Sohnes, an die Reihe kam, versuchten die Henker, sie zur
Taufe zu bewegen und stellten ihr einen schmucken Kavalier in Aus-
sicht, sie aber rief voll Empörung: „Martert mich, soviel ihr wollt,
ich lasse nicht von meinem Gotte!“ Einer der Gemeindenotabein, Sim-
son, legte besonderen Heldenmut an den Tag und sprach bis zum letz-
ten Atemzug seinen Genossen Mut zu. Baruch Tob-Elem (Bendit Bon-
fils) rief dem ihn folternden Schergen zu: „Schüre das Feuer, du
Bösewicht!“ Nicht ganz seiner Herr war nur Simon, der Sofer
(Schreiber) und Kantor, der „so herrlich den Gottesdienst in der Syna-
goge zu verrichten pflegte“; aber auch er weinte, wie er sagte, nicht
um seiner selbst, sondern „um der Kinder willen“. Als die „Prediger“
(Dominikaner) an Isaak Kohen herantraten und ihm zur Taufe zu-
redeten, sprach der Märtyrer: „Ich werde sterben um des Namens
Gottes willen; als Priester, der ich bin, werde ich ihm meinen eigenen
Leib zum Opfer darbringen“. Auf dem Scheiterhaufen fand auch der
treffliche Chirurg Chaim aus Brienon den Tod, der „manch Blindem
das Augenlicht wiedergab“.
Die Stadt Troyes, in der die grauenhafte Untat vollbracht wurde,
war in der Grafschaft Champagne gelegen, die kurz vorher infolge
der von der Gräfin dieser Provinz mit dem französischen König
Philipp dem Schönen eingegangenen Ehe den Kronlanden angegliedert
worden war. Als Philipp (in dessen Regierungszeit das Ereignis fällt)
von dem Wüten der Inquisition gegen die reichsten Mitglieder der jü-
dischen Gemeinde Kunde erhielt, erblickte er darin einen Anschlag
auf seine Hoheitsrechte sowie eine Beeinträchtigung seiner Einkünfte.
So erließ er denn drei Wochen nach der Exekution von Troyes einen
Befehl, demzufolge die mit der Inquisition beauftragten Mönche Ju-
den nur dann aburteilen durften, wenn der königliche Seneschall
zuvor den rein religiösen Charakter des betreffenden Verbrechens
festgestellt hatte.
Zwei Jahre nach der Tragödie von Troyes zeitigte der Volksaber-
glaube auch in Paris selbst eine grauenerregende Bluttat. Im Jahre
1290 wurde hier wegen angeblicher Durchstechung einer Hostie, des
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
Abendmahlbrotes, ein jüdisches Ehepaar auf dem Scheiterhaufen ver-
brannt. Im Volke kam die unsinnige Mär in Umlauf, aus der durch-
stochenen Hostie hätte sich ein Blutstrom ergossen, das Blut des sich
im Kirchenbrote in mystischer Weise verkörpernden Leibes Christi.
Das „Wunder“ wurde in Balladen verherrlicht und sein Schauplatz,
die Kirche in der Rue de Billettes, lockte viele Wallfahrer mit reichen
Weihgaben herbei. Zu diesem Ziele wird wohl auch der ganze jü-
dische Prozeß inszeniert worden sein. Zwei Juden mußten aber um
des Ruhmes des eucharistischen Dogmas willen ihr Leben auf dem
Scheiterhaufen lassen.
§ 5. Philipp der Schöne und die Vertreihung im Jahre 1306
Im Gegensatz zu dem frommen Ludwig IX. und dem gottlosen
Philipp dem Schönen, die einen aktiven Judenhaß an den Tag legten,
stand der in der Zwischenzeit regierende Philipp III. der Kühne
(1270—85) den Juden durchaus gleichgültig gegenüber. Die Persön-
lichkeit des Königs spielte bei den unter ihm gegen die Juden ergrif-
fenen Maßnahmen keine Rolle: die königliche Gewalt begnügte sich
damit, unter die Verordnungen der Kirchenbehörden, die in diesem
Zeitraum die judenfeindlichen Kanons mit besonderem Erfolg durch-
zuführen vermochten, nur ihr Siegel zu setzen. So erneuerte Phi-
lipp III. im Jahre 1271, auf die Forderung des Klerus hin, das De-
kret Ludwigs des Heiligen über die Stigmatisierung der Juden durch
rundförmige Sonderzeichen und gemahnte einige Jahre später an die
Befolgung der Kirchenkanons, die den Juden die Anstellung christli-
cher Ammen, den Verkauf von Fleisch an Christen sowie das gemein-
same Baden mit diesen u. dgl. m. untersagten. Mit dem Segen der römi-
schen Päpste entfaltete um jene Zeit der Dominikanerorden und das
geistliche Inquisitionsgericht auf französischem Boden eine überaus
intensive Tätigkeit, die sich auch den Juden in immer steigenderem
Maße fühlbar zu machen begann. Schon im Jahre 1267 erließ der
Papst Clemens IV. eine Bulle („Turbato corde“), in der er den Ketzer-
richtern aus der „geliebten Bruderschaft des Prediger- und Minoriten-
ordens“ den Befehl erteilte, nicht nur die zum Judentum verführten
Christen, sondern auch ihre Verführer, die Juden, nach Kräften zu
verfolgen. Als „verführte Christen“ galten aber gewöhnlich jene ge-
tauften Juden, die in ihrer Not zum Scheine das Christentum annah-
§ 5. Die Vertreibung aus Frankreich (1306)
men, um sich dann von ihm wieder loszusagen. Im Jahre 1273 be-
stimmte der Papst Gregor X., daß solche von der Kirche Abgefallene
mitsamt ihren Helfershelfern gleich den Ketzern dem Inquisitionsge-
richt verfallen sollten. Im nächstfolgenden Jahre wurde in der Pro-
vence der Mönch Bertrand Delaroche zum „Inquisitor gegen die Ketzer
und die judaisierenden Christen“ eingesetzt. Im Jahre 1277 fragten
die französischen Ketzerrichter bei dem Papst Nikolaus III. an, was
mit den vom Christentum abgefallenen jüdischen Täuflingen zu ge-
schehen habe, die, bereits ein ganzes Jahr eingekerkert, doch nicht
dazu zu bewegen seien, in den Schoß der Kirche zurückzukehren. Der
Papst gab zur Antwort, daß man mit den Starrköpfen wie mit unbo-
lehrbaren Ketzern zu verfahren und sie der weltlichen Gewalt z,ur
Verbrennung auf dem Scheiterhaufen zu übergeben habe. Auf Grund
dieser Anweisung wurde in Toulouse der Rabbiner Isaak Males dem
Feuertode preisgegeben, weil er einen auf dem Sterbelager reuig ge-
wordenen Täufling in die Glaubensgemeinschaft der Väter wieder auf-
nahm und ihn auf dem jüdischen Friedhof beisetzen ließ. Philipp III.
horchte aber voller Eifer auf die Stimme der Kirchenkonzile, auf de-
nen damals die päpstlichen Inquisitionsagenten das große Wort führ-
ten, und zögerte nicht, ihre Bestimmungen in königliche „Ordonnan-
zen“ umzusetzen. Nachdem das Konzil von Bourges (1276) eine neue
Ausnahmebestimmung gegen die Juden ausgeheckt hatte, derzufolge
sie sich nur in Städten und größeren Ortschaften, nicht aber auf dem
Lande aufhalten durften, damit sie nämlich die einfältigen Landbe-
wohner nicht vom rechten Glauben abbrächten, wurde einige Jahre
später (i283) dieser Kanon auch in Form eines königlichen Erlasses
promulgiert. In diesem Erlaß wurde es den Herzogen, Grafen, Ba-
ronen sowie den Bailli’s und sonstigen Beamten zur Pflicht gemacht,
„die Juden zum Aufenthalt in den großen Städten, die gewöhnlich
ihren Wohnsitz bilden, zu zwingen“. Zugleich befahl der König, dar-
auf zu achten, daß sie keine neuen Synagogen erbauen und keine Ab-
schriften der in Paris als anstößig und vernichtungswürdig befunde-
nen Talmudbücher in ihren Häusern aufbewahren.
Ein anderes System der Judenbedrückung bürgerte sich unter Phi-
lipp dem Schönen (1285—i3i4) ein. Dieser König, der es in seinem
Kampfe gegen das Papsttum bis zu einer Mißhandlung des Papstes
Bonifazius VIII. gebracht hatte, gab sich alle Mühe, der Inquisition
Zügel anzulegen und der Einmischung der Geistlichkeit in die Staats-
4 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
49
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
angelegenheiten einen Riegel vorzuschieben. Indessen handelte er so
durchaus nicht aus einer liberalen Gesinnung, sondern einzig und
allein aus dem Grunde, weil er keine Macht neben der seinigen,
keine Nebenbuhler in der Ausbeutung seiner Untertanen dulden wollte ;
nicht das grausame Walten der Inquisition, sondern das ihr zustehende
Recht, das Vermögen der Verurteilten einzuziehen — dies war es, was
ihm diese Institution, die ihn eines Teiles des Vermögens seiner Unter-
tanen beraubte, überaus verhaßt machte. Dies der Grund, wes-
halb Philipp IV. nach der geschilderten Tragödie von Troyes der In-
quisition die Aburteilung der Juden ohne Zustimmung der könig-
lichen Behörden für die Zukunft untersagte und seinen Beamten auch
späterhin mehrmals einschärfte, die Verhaftung der Juden auf Ver-
langen der Mönche, ja sogar hoher kirchlicher Behörden, erst dann
zu genehmigen, wenn sie sich überzeugt hätten, daß für die betref-
fende Angelegenheit der königliche Rat nicht zuständig sei (1288,
1291, i3o2). Daß der König desungeachtet dem dunkelsten Aber-
glauben der Menge in bezug auf das Judentum vorbehaltlos frönte,
ist schon daraus zu ersehen, daß während seiner Regierung und zwei-
fellos mit seiner Zustimmung in Paris anläßlich der bereits erwähn-
ten Hostienschändung zwei Juden den Flammen preisgegeben wurden.
Auch schrieb er seinen Beamten in einem besonderen Dekret (1299)
vor, auf Verlangen der „Inquisition in Sachen der ketzerischen Seuche“
Juden, die der Verführung von Christen zum Judentum oder der Schän-
dung des „allerheiligsten Leibes Christi“ (der Hostie) verdächtigt wür-
den, „zu verhaften, in den Kerker zu werfen, von Gefängnis zu Gefäng-
nis zu geleiten und nach den Gesetzen des apostolischen Stuhles zu be-
strafen“. In demselben Dekret zählt der König weitere „Verbrechen“
der Juden auf: sie verbergen in ihren Häusern flüchtige Ketzer, errich-
ten neue Synagogen, in denen sie allzu laut beten, und verbreiten über-
dies die verdammten Talmudbücher mit den „gotteslästerlichen“ Äuße-
rungen über die Jungfrau Maria. Überhaupt war Philipp IV. seiner
ganzen Gesinnung nach wie dazu geschaffen, im Kampfe gegen die
Juden mit der Inquisition Hand in Hand zu gehen; was ihn mit dieser
entzweite, Avar nur seine grenzenlose Gier, nach der ihm bei seinen
jüdischen Untertanen winkenden Beute. Auch aus dem Gesetz über
das jüdische Abzeichen wußte der unersättliche König Kapital zu
schlagen: er ordnete an, daß denen, die das Schandmal nicht tragen
wollten, eine Geldbuße auf erlegt werde (1288). Ferner bestätigte er
5o
§ 5. Die Vertreibung aus Frankreich (4306)
den Erlaß seines Vorgängers, der den Juden den Aufenthalt in kleinen
Flecken und Dörfern untersagte (1291), jedoch nicht so sehr jzur
Verhütung der religiösen Beeinflussung der „einfältigen Landleute“,
als vielmehr aus dem Grunde, weil auf dem Lande der Handel brach
lag und der Staatsschatz somit durch die jüdische Abwanderung aus
den Großstädten eines Teiles der Handelsabgaben hätte verlustig gehen
müssen.
Kein einziger unter den französischen Königen beschäftigte sich
soviel mit den Juden wie Philipp IV., der in dieser Beziehung sogar
seinen Urgroßvater Philipp August weit übertraf. Durch alle seine
Dekrete zieht sich wie ein roter Faden das eine Hauptinteresse: der
Schacher mit jüdischen Seelen, als wären die Juden seine Leibeigenen,
und das Bestreben, sie bis zum äußersten auszubeuten. Schon als Erb-
prinz, da er durch seine Ehe mit der Gräfin von Champagne zum Ge-
bieter dieser Provinz wurde, preßte er den dortigen Juden als Ent-
gelt für die Bestätigung ihres Aufenthaltsrechts eine „Mitgift“ von
2 5 000 Livres ab. Später rechtete er ständig mit den Baronen um die
Jurisdiktion über die in den Seigneurien lebenden Juden, indem er
sich auf seine königlichen Vorrechte berief. So mußte im Jahre 1297
zur Schlichtung des Streites zwischen dem König und seinem Bruder
Karl, dem Grafen von Valois, Alangon und Anjou, dessen Gegenstand
43 Juden bildeten, die jede Partei, als die „ihrigen“ reklamierte, ein
Schiedsgericht■ angerufen werden; das Gericht entschied, daß nur 12
der Umstrittenen dem Grafen gehörten, wobei die Parteien zugleich
übereinkamen, daß durch die Übersiedlung der Juden aus einem
Schutzbereich in einen anderen ihr ursprüngliches Abhängigkeits-
verhältnis nicht berührt werden sollte. Bemerkenswert ist es, daß hier-
bei als Schiedsrichter auch zwei Juden bestellt worden waren: Calot
aus Rouen als Vertreter der „königlichen“ Juden und Joucet aus Pon-
toise, „ein Jude des Grafen von Alangon“; Zwei Jahre später schlossen
die beiden Brüder einen neuen Geschäftsvertrag miteinander: der Graf
Karl von Valois verkaufte Philipp IV. alle auf seinen Besitzungen
lebenden Juden, 2000 an der Zahl, für 20 000 Livres. Der König
pflegte seine Provinzialbeamten, die Seneschalle und Bailli’s, immer
wieder zu ermahnen, die „jüdischen Steuern“ (taille des juifs) pünkt-
lichst einzutreiben, wobei die säumigen Zahler verhaftet und nach
Paris geschafft werden sollten. Die Funktionen der verantwortlichen
Steuereinnehmer wurden aber wohlhabenden Juden aufgezwungen.
5i
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
Auch die jüdischen Kreditgeschäfte wurden von Philipp IV. aufs
schärfste überwacht, damit ihm der entsprechende Gewinnanteil nicht
entschlüpfe. Im Jahre 1291 erging an den Seneschall von Caracas-
sonne, einem bedeutenden jüdischen Zentrum im Süden Frankreichs,
der königliche Befehl, über alle von Juden gewährten Zinsdarlehen Er-
kundigungen einzuziehen und durch Prüfung der Schuldbriefe sowie
durch Ausfragen der Schuldner die Höhe des jeweils geschuldeten Ka-
pitals sowie die der fälligen Zinsen festzustellen, um auf Grund dieser
Feststellungen den Schuldnern die Zinsen von Staats wegen zu er-
lassen. Ein Jahr später fiel es jedoch dem König ein, daß auch er
an diesem Geschäft verdienen müsse, und so befahl er, alle geschulde-
ten Kapitalien, die gegen wucherische Zinsen ausgeliehen worden
waren, zugunsten des königlichen Schatzes einzutreiben. Im Jahre
1295 wurden die reichsten Juden der Landvogtei von Beaucaire
festgenommen, nach Paris gebracht und so lange gefangengehalten,
bis sie die Gesamtsumme des von ihnen ausgeliehenen Geldes genau
angegeben und den erzielten „Wuchergewinn“ (usuraria) dem König
abgetreten hatten. So entpuppte sich der königliche Beschützer vor
wucherischer Ausbeutung selbst als ein Wucherer schlimmster Art
Alle diese Teilkonfiskationen waren aber nur ein Vorspiel zu der
bald erfolgenden allgemeinen Enteignung der Juden in Frankreich.
Es war von vornherein klar, daß Philipp der Schöne, der in den
Fußstapfen des Philipp August wandelte, schließlich zu dem gleichen
Endresultat gelangen werde: zur allgemeinen Ausplünderung seiner
jüdischen Untertanen und zu deren Vertreibung aus dem Lande. Dies
geschah denn auch in der Tat im Jahre i3o6. Der königliche Schatz
war leer, man benötigte dringend enorme Geldsummen, und so ent-
schloß sich der König, gleich dem habgierigen Bauer in der Fabel,
das Huhn, das goldene Eier legte, zu schlachten: die Juden des Landes
zu verweisen und ihre R.eichtümer an sich zu bringen. Zur Durch-
führung dieses Vorhabens wurden allerorten besondere Kommissare
eingesetzt Auf ihren Befehl wurden zunächst alle Vertreter der
jüdischen Gemeinden in fast allen Gegenden Frankreichs verhaftet,
während das gesamte Eigentum der Juden und ihre Handelsbücher
beschlagnahmt wurden. In solcher Weise verfuhr man nicht nur in
den Kronländern, zu denen jetzt viele der ehemaligen großen Graf-
schaften gehörten (außer Isle-de-France auch die Champagne, die
Normandie, Anjou, Languedoc u. a.), sondern auch in den meisten
§ 5. Die Vertreibung aus Frankreich (1306)
seigneurialen Herrschaftsbezirken, wo die königlichen Juden nicht
selten vor der Bedrückung Zuflucht suchten. Die Inhaftierung der
Juden ging überall gleichzeitig vor sich, am 22. Juli oder 10 Ab, an
dem dem nationalen Trauerfeste folgenden Tage. Den Verhafteten
wurde kundgetan, daß sie binnen Monatsfrist unter Zurücklassung
ihres gesamten Vermögens aus dem Lande ziehen müßten; nur ihre
Alltagskleider und ein geringes Zehrgeld durften sie mit sich nehmen.
So sahen sich viele Tausende von Juden (ihre genaue Zahl ist in den
Quellen nicht angegeben) mit einem Schlage sowohl der Heimat wie
des Besitzes beraubt. Nach Ablauf der festgesetzten Frist verließen sie
die Städte Frankreichs, wo sich schon zur Zeit des antiken Rom ihre
Vorfahren niedergelassen hatten. Das gesamte bewegliche und unbe-
wegliche Gut der Verbannten fiel dem König zu und wurde von ihm
mit hohem Vorteil versteigert. Nur die zum Christentum Übertre-
tenden blieben von der Verbannung verschont; indessen mochte eine
solche Vermehrung der Gemeinde Christi, durch die der König einen
Teil seiner Beute einbüßen mußte, ihn wohl kaum besonders erfreut
haben. Übrigens war die Zahl der Überläufer sehr gering, abgesehen
von Toulouse, wo viele, um dem Ruin zu entgehen, zum Scheine die
Taufe annahmen.
„Was nach Eröffnung des königlichen Beutezugs im Bezirk von
Toulouse vor sich ging — sagt ein moderner französischer Geschichts-
schreiber (Langlois) — scheint sich auch an anderen Orten abgespielt
zu haben1). Alles bewegliche und unbewegliche Gut der Juden wurde
eiligst mit Beschlag belegt und öffentlich versteigert. Manchen ge-
lang es, das Kostbarste zu verbergen; darauf begann man, nach den
vergrabenen Schätzen zu suchen, wobei den Angebern der fünfte Teil
der Funde in Aussicht gestellt wurde. Die Einnehmer sammelten das
einkassierte Geld und schickten die goldenen und silbernen Gegen-
stände: Becher, Gürtel, Ringe, zur Münze, mit Ausnahme der schön-
sten Stücke, die sie für den König zurückbehielten. Die Versteigerung
der Immobilien wurde in den meisten Bezirken auf mehrere Jahre
ausgedehnt, um das eingezogene Gut nicht zu verschleudern, wiewohl
die ,Kommissare in jüdischen Angelegenheiten4 von Paris aus ständig
D Nach Toulouse wurde eine besondere Requisitionskommission entsandt, an
deren Spitze der berüchtigte Guillaume de Nogaret, der Intimus des Königs stand,
der auch manch andere ruchlose Schandtat, so den Überfall auf den Papst Boni-
fazius und die Ausplünderung des Templerordens auf Philipps Geheiß zur Aus-
führung brachte.
53
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
ermahnt wurden, ,schneller und erfolgreicher‘ zu arbeiten . . . Die
Archive der alten Rechnungskammer enthalten viele von diesen Be-
amten zusammengestellte Register und Berichte; auch haben sich
viele Gerichtsprotokolle erhalten, aus denen zu ersehen ist, daß
manche jüdische Häuser, Gärten, Schulen und Friedhöfe zu sehr
hohen Preisen verkauft wurden. So erstanden die Konsuln (die Mit-
glieder des Stadtmagistrats) von Narbonne für 860 Livres die be-
rühmte ,Cortada.‘, die Residenz des Kalonyinidengeschlechts, dessen
Haupt der jüdischen Gemeinde als Fürst (,Nassi.‘) vorstandi Im gan-
zen wurde in der Landvogtei von Toulouse aus der Versteigerung
jüdischen Besitzes die Summe von 76 264 Livres vereinnahmt“.
Als einen Rechtfertigungsgrund für die Ausplünderung der Juden
pflegte Philipp der Schöne die Tatsache anzuführen, daß viele von
ihnen das schädliche Kreditgeschäft betrieben, was ihn jedoch
nicht daran hinderte, nach ihrer Vertreibung die ihnen von den
Christen geschuldeten Summen zu seinen eigenen Gunsten mit größter
Härte einzutreiben, allerdings unter Verzicht auf die fälligen Zinsen.
Diejenigen Schuldner, deren Schuldbriefe unter den Papieren der
Verbannten nicht vorgefunden worden waren, mußten den könig-
lichen Kommissaren über den geschuldeten Betrag selbst Mitteilung
machen; wer nicht aus freien Stücken erschien, wurde auf Grund der
bei den Juden beschlagnahmten Rechnungsbücher von Amts wegen
vorgeladen. Durch solche Zwangsmaßnahmen gelang es dem König,
auch verjährte und umstrittene Schuldposten zu Geld zu machen, so
daß er sich als ein bei weitem grausamerer Gläubiger erwies denn die
von ihm vertriebenen „Wucherer“. Traten hingegen Christen als Gläu-
biger der Juden hervor, um von den königlichen Beamten die Be-
gleichung der Schuld aus dem Erlös des bei den Juden eingezogenen
Gutes zu verlangen, so wurden sie in brutalster Weise abgewiesen: der
König dachte nicht im entferntesten daran, seinen eigenen Verpflich-
tungen nachzukommen. Auch die durch die Ausweisungen der Juden
aus den seigneurialen Besitzungen ihrer Einkünfte beraubten Feudal-
herren erhoben lauten Anspruch auf einen Teil der „jüdischen Beute“.
Die königlichen Kommissare bestritten zwar diese Ansprüche nicht,
schoben aber deren Befriedigung immer wieder hinaus, um so die
Seigneurs zu Konzessionen zu zwingen. Und in der Tat gaben sich alle
der Entscheidung ungeduldig harrenden Lehensherren schließlich mit
einem Drittel und zuweilen mit einem noch geringeren Bruchteil der
§ 5. Die Vertreibung aus Frankreich (1306)
geforderten Summe zufrieden. Das bei der Enteignung der Juden zur
Anwendung gekommene räuberische Verfahren stellte übrigens nur
einen Auftakt zu jenem Beutezug dar, den der ehrlose König und die
seiner würdigen Agenten einige Jahre später gegen den Templerorden
eröffneten. Trotz all seiner Voreingenommenheit gegen die Juden war
das französische Volk weit davon entfernt, die von dem König er-
griffenen grausamen Maßnahmen zu billigen. In französischen Volks-
liedern hieß es, daß „die Juden redlicher gehandelt hätten als nun die
Christen“, und daß das Land durch ihre Vertreibung verarmt wäre.
Neun Jahre später sah sich denn auch der französische König ge-
nötigt, „dem Notschrei des Volkes“ Gehör zu schenken und die Juden
ins Land zurückzuberufen; doch konnten sie sich von dem ihnen im
Jahre i3o6 versetzten Schlage nicht wieder erholen1).
Die Verbannten aus Nordfrankreich begaben sich zunächst in die
nahegelegenen Provinzen Lothringen, Burgund und Dauphine, deren
Lehensherren von der französischen Krone weniger abhängig waren.
Die im Süden Beheimateten zogen in jene Teile der Provence, die da-
mals unter der Gewalt der Könige von Mallorca aus dem aragonischen
Hause standen (die Stadt Perpignan u. a.). Diese wie jene gedachten
bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in die Heimat zurückzu-
kehren. Es gab indessen auch solche, die alle Hoffnungen auf eine
Heimkehr fahren ließen und nach Spanien, insbesondere in das nahe-
D Es verdient Erwähnung, daß die Juden in Frankreich nicht die einzige
Bevölkerungsgruppe waren, die von einem so schweren Schicksal betroffen wurde.
Außer den Templern, die Philipp IV. aus Habsucht der Vernichtung preisgab
(dieser Ritterorden zählte unter seinen Mitgliedern nicht wenige Bankiers, die Kö-
nigen und Päpsten Geld vorschossen), gab es in Frankreich noch eine andere Be-
völkerungsschicht, die in der Wirtschaft eine ähnliche Rolle wie die Juden spielte
und der auch das gleiche Los zuteil wurde. Es waren dies die unter dem Namen
,,Lombarden“ bekannten italienischen Kaufleute und Geldwechsler, die auch Geld
auf Zinsen ausliehen. Im XIII. Jahrhundert durften die Lombarden ihrem Be-
ruf unter der Bedingung nachgehen, daß ein bestimmter Prozentsatz von jedem
ausgeliehenen Betrag an den königlichen Schatz abgeführt wurde. Von Zeit zu
Zeit hatten auch sie unter plötzlichen Expropriationen zu leiden. So wurden im
Jahre 1277 alle in Frankreich wohnhaften Lombarden „in persona et rebus“ ver-
haftet; das gleiche wiederholte sich im Jahre 1291 unter Philipp dem Schönen.
Im Jahre i3ii, fünf Jahre nach der Vertreibung der Juden, erließ der König
den Befehl, alle Lombarden auszuweisen, da sie „an der Bevölkerung durch ihre
Wucherei zehren und den Kurs unserer Münze herunterdrücken“. Die Schuldner
der Verbannten waren verpflichtet, die geschuldeten Zinsen an die königlichen
Kommissare zu entrichten. Später wurde auch den Lombarden die Rückkehr nach
Frankreich von neuem gestattet.
55
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
gelegene Aragonien übersiedelten, wo sie in den großen jüdischen Ge-
meinden von Barcelona, Saragossa und anderen Städten aufgenommen
wurden, die um jene Zeit gerade der wirtschaftlichen Tätigkeit der
Juden ihre hohe Blüte verdankten.
§ 6. Die Juden in England unter Johann ohne Land
Die Geschichte der englischen Juden im XIII. Jahrhundert stellt
in den Hauptzügen ein treues Abbild der Geschichte der Juden in
Frankreich dar. Der jüdischen Metropole auf dem Festland und ihrer
Kolonie auf der Insel war im großen und ganzen das gleiche Los be-
schieden; soweit Abweichungen zu verzeichnen sind, waren sie durch
die Unterschiede in der Lebensordnung und in der politischen Struktur
der beiden Länder bedingt. Wie die Dinge in England lagen, mußte
die Kopie viel derbere Züge aufweisen als das Original. Das Prinzip:
„Die Juden sind Leibeigene des Königs“ gelangte hier in vereinfachter
Form zur Anwendung und wurde systematisch und ohne Nachsicht
durchgeführt.
Als der König Richard I. im Jahre 1194 nach dem Kreuzzuge
heimkehrte und von der unter den Juden während seiner Abwesenheit
angerichteten Verheerung Kenntnis erhielt (Band IV, § 36), ordnete
er eine strenge Untersuchung an, in erster Linie zur Feststellung des
dem Staatsschatz durch die Vernichtung des jüdischen Eigentums und
der Schuldbriefe zugefügten Schadens. Da nämlich der König von
jeder bei den Kreditgeschäften umgesetzten Summe bestimmte Ge-
bühren bezog, so erlitt er durch die Vernichtung nicht eingelöster
Schuldbriefe einen unmittelbaren Verlust. Um in Zukunft solche Miß-
stände zu verhüten, befahl der König seinen Beamten, alle jüdischen
Finanzoperationen zu registrieren. Alle Schuldverschreibungen und
Abrechnungen mußten in zwei Abschriften ausgefertigt werden, deren
eine in den Händen des jüdischen Gläubigers verblieb, während die
andere im Staatsarchiv in eigens dazu bestimmten Truhen verwahrt
wurde1). Auf diese Weise standen dem König für den Fall einer Ver-
nichtung des jüdischen Besitzes sowie der Geschäftsurkunden genaue
Abschriften zur Verfügung und, was das wichtigste war, durch die
U Die Schuldbriefe („Schetaroth“) pflegte man gewöhnlich in hebräischer
Sprache mit lateinischer Übersetzung abzufassen, zuweilen aber nur lateinisch oder
in der normannischen Mundart der französischen Sprache.
§ 6. England unter Johann ohne Land
Registrierung konnte er stets über den Gesamtwert der jüdischen
Finanzgeschäfte und über den ihm zukommenden Gewinnanteil auf
dem Laufenden gehalten werden. Aus diesem Kern entwickelte sich
einige Jahre später eine unter der Bezeichnung „Jüdische Schatz-
kammer“ (Exchequer of the Jews) bekannte Institution, die nicht nur
die von den Juden abgeschlossenen Geschäfte registrierte, sondern bei
finanziellen Streitigkeiten, wenn die Parteien verschiedenen Konfes-
sionen angehörten, auch als Gerichtsinstanz fungierte. Das Richteramt
konnte sowohl von Christen wie von Juden versehen werden, während
zu Beamten der Schatzkammer ausschließlich adelige Christen ernannt
wurden. Nach und nach konzentrierten sich in der „Jüdischen Schatz-
kammer“ alle die Juden betreffenden Steuerangelegenheiten. Hierher
flössen die königlichen Einkünfte vierfacher Provenienz: die bei den
Juden erhobene Erbschaftssteuer, die manchmal ein volles Drittel der
vererbten Summe betrug; die eingezogenen Vermögen der wegen Kri-
minalverbrechen Verurteilten; die von Gerichtsklagen, Kreditgeschäf-
ten, Schuldverschreibungen und sonstigen Verträgen bezogenen Ge-
bühren und schließlich die außerordentlichen Abgaben (tallages), die
der König in Geldnöten, sei es als Kopfsteuer oder als durch Gesamt-
bürgschaft gesicherten Tribut, einzelnen Gemeinden aufzuerlegen
pflegte. All diese fiskalischen Werkzeuge zur Ausbeutung der könig-
lichen Leibeigenen wurden in den Händen der habgierigen Herrscher
zu grausigem Foltergerät, vermittels dessen dem jüdischen wirtschaft-
lichen Organismus in England nach und nach das ganze Blut ab-
gezapft wurde, bis er schließlich völlig zusammenbrach.
Ein Meister dieses grausamen Handwerks war namentlich Johann
ohne Land (1199—1216). Der unersättliche König behandelte die
Juden wie einen Blasebalg, den er sich vollsaugen ließ, um ihn sodann
bis auf den Grund zu leeren. Alles von den Juden durch Handel und
Bankgeschäfte Erworbene betrachtete er als sein unbestrittenes Eigen-
tum. Zunächst verlieh er ihnen eine Charte (1201), die ihre früheren
Privilegien bestätigte: sie durften weiterhin überall wohnen und Han-
del treiben, bei Streitigkeiten mit Christen unter Umgehung des juden-
feindlichen ständischen Gerichtes den königlichen Gerichtshof an-
rufen, ihre internen Streitsachen aber vor einem Rabbinatsgericht zum
Austrag bringen; in Geldstreitsachen zwischen einem jüdischen Gläu-
biger und einem christlichen Schuldner war der erstere verpflichtet,
die tatsächlich ausgeliehene Summe zu offenbaren, während der letz-
57
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
tere den Beweis für die Unrechtmäßigkeit der Zinsforderung zu er-
bringen hatte, wobei Juden wie Christen in gleicher Zahl vor Gericht
als Zeugen vernommen werden mußten. Zugleich forderte der König
alle getreuen Untertanen auf, die Juden in Schutz zu nehmen, und
stellte für die Verletzung ihrer Rechte Strafen in Aussicht. Diese
Charte kostete die Juden 4ooo Mark. Zu Beginn seiner Regierung
setzte sich König Johann auch in der Tat für seine jüdischen Unter-
tanen kraftvoll ein. Als in London der Versuch einer Judenhetze, ge-
macht wurde, hielt der König den Mayors und Baronen vor, daß sie
den den Juden verheißenen Frieden nicht hielten und machte sie für
jede weitere Störung der öffentlichen Ordnung persönlich verantwort-
lich. Gleich nach seiner Thronbesteigung ernannte Johann einen der
jüdischen Notabein, Jakob aus London, zum leitenden „Presbyter der
Juden“ („presbyter judaeorum“) und verlieh ihm einen Schutzbrief,
in dem er ihn „unseren Geliebten und uns Nahestehenden (dilectus et
familiaris noster)“ nannte. Wie aus der Wirksamkeit der nachmaligen
Träger dieses Titels zu ersehen ist, lag dem Presbyter weniger die
geistliche Repräsentation als die finanzielle Vermittlung zwischen dem
König und den jüdischen Gemeinden zwecks wirksamerer Eintreibung
der Staatssteuern ob. |
Dank der königlichen Protektion vermochten sich die Juden von
den schweren Heimsuchungen des jüngsten Kreuzzuges zu erholen und
sich von neuem zu einem gewissen Wohlstand emporzuarbeiten. Jetzt
erst sollte aber das heimtückische Wesen des Königs in aller Unzwei-
deutigkeit zutage treten. Als er nämlich gewahr wurde, daß manche
Juden durch Handelsgeschäfte große Reichtümer erworben haften,
machte er sich daran, ihnen durch Freiheitsberaubung, Einkerkerung
und Tortur ihr Geld abzupressen. Die große Geldnot, in der er sich
nach dem Verlust der Normandie befand, bewog ihn neben den kirch-
lichen Institutionen (es war dies gera,de zu der Zeit, als sein Kampf
mit Innocenz III. seinen Höhepunkt erreicht hatte) auch die Juden
zu brandschatzen. Im Jahre 1210 forderte er den jüdischen Gemein-
den die ungeheure Summe von 66 000 Mark ab. Allein von dem
reichen Abraham aus Bristol verlangte er 10 000 Silbermark; da jener
indessen soviel Geld nicht hergeben wollte oder nicht aufbringen
konnte, ließ ihm der König, um die Erfüllung der Forderung zu er-
zwingen, täglich je einen Zahn ausreißen. Nachdem der Unglück-
selige auf diese Weise sieben Zähne eingebüßt hatte, fügte er sich
58
§ 7. Die Not der englischen Juden unter Heinrich III.
schließlich und erlegte die geforderte Summe. Unter einer solchen,
Willkürherrschaft konnte der innere Aufbau der jüdischen Gemein-
den in England naturgemäß keine Fortschritte machen. Aus vielen Ge-
meinden wanderten die Rabbiner und Gelehrten, die hier kein Be-
tätigungsfeld fanden, mitsamt einer Gruppe ihrer französischen Kol-
legen aus der Tossafistenschule nach Palästina aus (1211). Wenig be-
neidenswert war die Lage der Juden während des berühmten von den
Baronen und den Städten gegen Johann ohne Land angezettelten Auf-
standes, der die Begründung der englischen parlamentarischen Ver-
fassung im Gefolge hatte. Das Heer der Barone zerstörte nämlich in
London die jüdischen Häuser und verwandte das Baumaterial zur Be-
festigung der Stadtmauern, während der jüdische Besitz, der als
königliches Eigentum galt, eingezogen wurde. Als es den Aufständi-
schen schließlich gelungen war, Johann die Konstitution, die „Magna
Charta libertatum“, abzuzwingen (1215), wurde in diese auf Kosten
der jüdischen Gläubiger auch manche vornehmlich den freiherrlichen
Schuldnern zugute kommende Vergünstigung mit aufgenommen (so
hafteten die Rechtsnachfolger des verstorbenen Schuldners nur mit
jenem Teile des Nachlasses, der nach Abzug der für den standesge-
mäßen Lebensunterhalt der Witwe und der Waisen unentbehrlichen
Mittel übrigblieb).
§ 7. Die Not der englischen Juden unter Heinrich III.
Die lange Regierung Heinrichs III. (1216—1272) stellt in der
Geschichte der englischen Judenheit den unheilvollsten Abschnitt dar.
Es war dies die unausbleibliche Folge des diese Epoche ganz ausfül-
lenden Kampfes zwischen König und Ständen. Die sich auf die Juden
erstreckende königliche „Schutzherrschaft“ versetzte die Schutzbefoh-
lenen, abgesehen davon, daß sie ihnen teuer zu stehen kam, auch noch
in eine überaus prekäre Lage unter den übrigen Bevölkerungsschich-
ten. Die Feindseligkeit gegen den König griff zugleich auch auf die
„königlichen Leute“ über. Die ihre Autonomie gegen die Anschläge
der königlichen Gewalt verteidigende städtische Bevölkerung sah mit
Unwillen auf die in ihrer Mitte lebende fremdstämmige Bürgergruppe
herab, welche von der verhaßten Gewalt völlig abhängig war und
schon dadurch allein der Homogenität der sich selbst verwaltenden
Stadt Abbruch tat; der dem König feindliche Adel haßte aber die Ju-
59
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
neuem
den vor allem als die finanzielle Macht, die der Krone in ihrem völkeri
Kampfe gegen den Landadel stets zur Seite stand. Überdies nahmen ^ ^
die kleinen Gutsbesitzer unter den Baronen die Dienste der jüdischen nicht <
Geldgeber nur zu häufig selbst in Anspruch, indem sie diesen ihre
Y vJ J- ^ vU1
Ländereien verpfändeten; wenn dann der Zahlungstermin kam, er- auj?
blickte der leichtsinnige und sorglose Schuldner hinter dem Rücken 0(jer p
seines demütigen Gläubigers plötzlich die drohende Gestalt des im sprach
Interesse des königlichen Schatzes an den Ernst der Verpflichtung cjien
gemahnenden Beamten. Im Falle des Todes des Gläubigers oder der triebei
Einziehung seines Vermögens fiel aber die Forderung zum Teil oder cenz’ ]
ganz direkt an den König, und dann wurde die Schuld mit besonderer terbur
Härte beigetrieben. Dies der Grund, weshalb die Barone während der ape
Massenausschreitungen gegen die Juden vor allem danach trachteten, un(j y
in den Häusern ihrer Gläubiger die Schuldverschreibungen zu ver-
nichten. Was schließlich den katholischen Klerus anlangt, so war er breitel
dem Judentum gegenüber von vornherein feindselig eingestellt, ins- Erricl
besondere seit der Zeit, da der Papst Innocenz III. und die Lateran- y(
synode vom Jahre 1215 dem jüdischen Volke das Kainszeichen aufge- von ^
drückt hatte. Und doch hatten die Juden von allen diesen feindlichen Gerne
Mächten noch immer weniger als von ihrem „Beschützer4 * und Vor- der £
mund, dem König selbst, zu leidenj der seine Mündel unbarmherzig [n Qe
aussaugte und diesen Hörigen des Handels nur zu dem Zwecke zu bedro
Wohlstand verhalt, um sie dann um So besser ausplündern zu können; äußer
nicht einmal zur Zeit der Volksexzesse durften sie mit Sicherheit auf HinsL
seinen Beistand rechnen. So war denn die Lage der Juden unter all seinei
diesen sich gegenseitig befehdenden sozialen Mächten derart, daß sie (dom
mit vollem Recht hätten ausrufen können: „Gott schütze uns vor un- Fang
seren Freunden, vor unseren Feinden werden wir uns selbst schüt- lichei
zen!“ Der letzte Grund der jüdischen Tragödie in England lag eben Köni{
in der königlichen „Protektion“, darin, daß eine von Wölfen einge- Kircl
schlossene Herde einem gierigen Hirten anvertraut war, der selbst gezwi
seine Schafe nur zu gern abschlachtete. neber
In den ersten Regierungsjahren Heinrichs III., als infolge seiner dachl
Minderjährigkeit den Staat eine Regentschaft lenkte, machten sich J<
Anfänge zu einer gewissen Milderung des auf die Juden von oben aus- gesch
geübten Druckes bemerkbar. Vor allem befreite man die unter Johann Gelü:
eingekerkerten jüdischen Restanten. Ferner wurde die von ihrem wurd
Urheber selbst mit Füßen getretene Charte vom Jahre 1201 von
60
§ 7. Die Not der englischen Jaden unter Heinrich III.
neuem in Kraft gesetzt; es erging die Verfügung, die jüdische Be-
völkerung während des geplanten Kreuzzuges vor den Ausschreitungen
der Menge in Schutz zu nehmen (1217). Damit jedoch bei Überfällen
nicht die Unkenntnis der Schutz Vorschrift als Entschuldigungsgrund
vorgeschützt werden könnte, wurde den Juden zur Pflicht gemacht,
auf ihrem Gewände ein auffälliges, aus zwei Streifen weißen Linnens
oder Pergaments bestehendes Merkzeichen zu tragen (1218). Nun ent-
sprach das Kainszeichen ganz dem Sinne des Bibelwortes: „Ein Zei-
chen . . daß ihn niemand erschlüge, der ihn fände“. Mittlerweile
trieben die Spitzen der englischen Kirche ihre Politik im Geiste Inno-
cenz’ ui. weiter. Die Kreatur dieses Papstes, der Erzbischof von Can-
terbury, Langton, berief im Jahre 1222 ein Konzil nach Oxford, das
alle die Juden demütigenden Beschlüsse der Lateransynode bestätigte
und ihnen noch manches andere von sich aus hinzufügte. So sollten
die Juden als Sonderzeichen einen vier Finger langen und zwei Finger
breiten Wollstreifen auf ihrem Obergewand an der Brust tragen; die
Errichtung neuer Synagogen wurde unter Verbot gestellt, und auch
die Vorschrift über die unnachsichtige Erhebung des Kirchenzehnten
von den jüdischen Immobilien fand nachdrückliche Bestätigung. In
Gemeinschaft mit den Bischöfen von Lincoln und Norwich machte
der Erzbischof von Canterbury auch noch den Versuch, die mit Juden
in Geschäftsbeziehungen tretenden Christen mit dem Kirchenbann zu
bedrohen, doch beeilte sich der König diese für den Staatsschatz
äußerst nachteilige Maßnahme rückgängig zu machen. Nur in einer
Hinsicht gab er der Geistlichkeit nach: im Jahre 1282 wurde mit
seiner Genehmigung ein Asyl für zum Christentum bekehrte Juden
(domus conversorum) begründet, eine Einrichtung, die sich mit dem
Fang jüdischer Seelen zu befassen hatte. Dem Wunsche der christ-
lichen Bevölkerung Londons entgegenkommend, beschlagnahmte der
König überdies die neu erbaute prächtige Synagoge, um sie in eine
Kirche der Mutter Gottes umzuwandeln. Die Juden aber sahen sich
gezwungen, infolge der Mißgunst der Londoner Christen, denen eine
neben der Kirche ragende Synagoge ein Dorn im Auge war, ihre An-
dacht in unauffälligen Schlupfwinkeln zu verrichten.
Je älter Heinrich III. wurde und je mehr er sich um die Staats-
geschäfte kümmerte, um so mehr wuchsen auch seine finanziellen
Gelüste. Die Höhe der den Juden auferlegten Sondersteuer (tallages)
wurde mit größter Willkür festgesetzt: im Jahre 1226 betrug sie
61
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
rund 4ooo Mark, im Jahre i23o: 6000, im Jahre 1282: 18000,
und von 1289 ab mußte jeder Jude sogar einen dritten Teil seines
Vermögens hergeben. Nicht wenig blieb hierbei an den Händen der
Steuereinnehmer haften, die nicht selten ärgster Unterschleife über-
führt werden konnten. Aus Steuer technischen Gründen wurden die Ju-
den in bestimmten Städten konzentriert. Aus manchen Orten wurden
sie auf das Drängen der christlichen Bevölkerung, die sich hierbei auf
ihre Autonomie berief, ganz ausgewiesen: so aus Newcastle (i234),
aus Southampton (i236), aus Newbury (i244) usw. Im Jahre 12 53
wurde beschlossen, den Juden nur in denjenigen Städten den Auf-
enthalt zu gestatten, in denen Schatzkammern zur Registrierung und
Aufbewahrung von Schuldverschreibungen und anderen Handels-
urkunden (archa) vorhanden waren. Auf diese Weise wurde der An-
siedlnngsrayon der Juden in England im ganzen auf fünfundzwanzig
Städte beschränkt. In diesen wurde allerdings der Gewerbefleiß und
der finanzielle Unternehmungsgeist der Juden ermutigt, doch war
ihnen die Übersiedlung in andere Gegenden, geschweige denn die Aus-
wanderung aus England oder gar die Kapitalausfuhr strengstens
untersagt, alles um der Vorteile des königlichen Schatzes willen. Der
vom König ernannte „Presbyter“ der jüdischen Gemeinden Englands
hatte für die reguläre Beitreibung der Staatsabgaben bei den einzelnen
Gemeinden Sorge zu tragen und durfte zu diesem Zwecke auch
Zwangsmaßnahmen an wenden. Die Gemeindeorganisation war recht-
lich anerkannt: die Verwaltung wurde von „Parnassim“ und „Gab-
baim“ versehen, während ein Kollegium aus drei „Dajanim“ die rich-
terlichen Funktionen ausübte. Indessen wußte der königliche Fiskus
auch diese Zellen eigengesetzlichen Lebens seinen Interessen dienstbar
zu machen. Im Jahre 1241 berief Heinrich III. nach Worcester ein
jüdisches „Parlament“, an dem sich über hundert Abgeordnete aller
Gemeinden beteiligten. In dem Einladungsschreiben hieß es, daß die
Vertreter der Judenheit „zusammen mit dem König über alles zu be-
raten haben werden, was seine und ihre Interessen berührt“. Die Ju-
den erhofften nun davon eine Besserung ihrer Lage, insbesondere eine
Erleichterung der Steuerlasten, gingen aber in ihren Erwartungen
durchaus fehl. Gleich nach Eröffnung der Versammlung wurde den
Abgeordneten kundgetan, daß der König von den jüdischen Gemein-
den einen einmaligen Beitrag in der Höhe von 20000 Mark fordere
und die Versammelten für die pünktliche Entrichtung dieser Summe
62
§ 7. Die Not der englischen Juden unter Heinrich 111.
persönlich verantwortlich mache. So wurden die Abgeordneten samt
und sonders zu königlichen Steuereinnehmern degradiert. Trotz aller
Bemühungen vermochten jedoch viele Gemeinden ihren Anteil zum
festgesetzten Termin nicht aufzubringen; die Folge war, daß die be-
treffenden Abgeordneten mit Weib und Kind so lange gefangen ge-
halten wurden, bis sie die geforderte Summe aus eigenen Mitteln er-
legten. Auf diese Weise kam auch der für den pünktlichen Eingang
der Steuern verantwortliche jüdische Ober-„Presbyter“ zu Schaden:
der König nahm Aaron von York, der das Unglück hatte, damals die-
ses Amt zu bekleiden, die hohe Summe von 32 ooo Mark ab.
Auch noch unter einem anderen Übel hatten die englischen Juden
um diese Zeit schwer zu leiden: immer häufiger wurden gegen sie
Beschuldigungen religiösen und „rituellen“ Charakters erhoben. So
schuldigte man im Jahre i2 3o die Juden von Norwich an, einen fünf-
jährigen Knaben, den Sohn des christlichen Arztes Benedikt, entführt
und der Beschneidung unterzogen zu haben. Die Täter brachten zu
ihrer Rechtfertigung vor, daß sie den Knaben als dem Alten Bunde
angehörig betrachtet hätten (wohl aus dem Grunde, weil er ein Nach-
komme gewaltsam Getaufter war). Daraufhin wurden dreizehn jüdi-
sche Notabein von Norwich in Anklagezustand versetzt. Der Ange-
legenheit wurde eine solche Wichtigkeit beigemessen, daß man die
Angeklagten nach London über führte, wo sich ein Kollegium unter
Beteiligung des Königs, des Erzbischofs von Canterbury sowie anderer
weltlicher und geistlicher Würdenträger mit der Sache befaßte. Zehn
lange Jahre schmachteten die Angeklagten im Kerker, bis man
schließlich einige von ihnen zum Tode durch den Strang verurteilte;
vom Kerker bis zum Richtplatz wurden die Unglücklichen, an Pferde-
schweife gebunden, durch den Straßenkot geschleift. Der langwierige
Prozeß ging überdies nicht ohne Erpressungen an den Angehörigen
der Angeklagten ab. Im Jahre 12 44 machte man den Versuch, auch
in London selbst einen Ritualmordprozeß zu inszenieren. Auf irgend-
eine Denunziation hin wurde die Leiche eines christlichen Kindes
ausgegraben, auf der man seltsame Zeichen vorfand. In der Meinung,
es seien jüdische Schriftzeichen, rief man getaufte Juden als Sach-
verständige herbei, doch konnten sie die Schriftzüge nicht entziffern.
Auf Grund überaus zweifelhafter Aussagen wurde nun als wahr unter-
stellt, daß das Kind den Juden verkauft worden sei, worauf es zum
Märtyrer erklärt und seine Leiche als „heilige Reliquie“ in der
63
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
St. Paulus-Kathedrale beigesetzt wurde. Der König ließ aber die Ge-
legenheit nicht ungenützt und legte den jüdischen Gemeinden aus
diesem Anlaß eine Geldbuße in der Höhe von 60000 Mark auf (etwa
4o 000 englische Pfund nach heutigem Wert).
Viel folgenschwerer war für die Juden der Ritualmordprozeß in
Lincoln (1255), der die abergläubischen Geister von ganz England in
Spannung hielt und auch in den Yolkssagen seine Spur hinterließ. In
Lincoln war nämlich eines Tages der achtjährige Knabe Hugh plötz-
lich verschwunden. Nach langen Nachforschungen wurde seine Leiche
schließlich in einem Brunnen auf dem Hofe eines Juden entdeckt.
Ohne zu prüfen, ob hier nicht vielleicht ein Unglücksfall vorliege (der
Knabe konnte beim Spiel mit jüdischen Kindern in den Brunnen ge-
fallen sein) oder ob die Leiche womöglich von Mördern zur Irre-
führung der Behörden mit Absicht in den Hof eines Juden geworfen
worden sei, stellte das Gericht, dem Geschrei des abergläubischen
Pöbels ein williges Ohr leihend, die Untersuchung ganz auf die Auf-
deckung eines Ritualmordes ein. Dem verhafteten Besitzer des An-
wesens, auf dem die Leiche gefunden worden war, zwang man durch
allerlei Drohungen und Verheißungen die Aussage ab, daß die Juden
den Hugh ermordet hätten und daß sie „überhaupt alljährlich ein
Kindlein zu kreuzigen pflegten, um den Namen Jesu zu schänden“.
So war denn der Boden für eine Märiyrerlegende gut vorbereitet, und
die Priester von Lincoln beeilten sich, die „geheiligten Gebeine“ in-
nerhalb der Kirchen Umfriedung zu bestatten. Der König Heinrich III.,
der gleich den obskursten seiner Untertanen an die Ritualmordlüge
glaubte, gab hierauf den Befehl, die Schuldigen dem Gericht zu über-
geben und exemplarisch zu bestrafen; als „Schuldige“ erwiesen sich
aber nicht weniger als zweiundneunzig Personen, d. h. alle angesehe-
nen Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Lincoln. Sie wurden alle
festgenommen, nach London gebracht und in den Kerker geworfen.
Achtzehn von ihnen verurteilte man ohne Säumen zum Tode und ließ
sie am Galgen sterben. Die übrigen wurden im Tower gefangen ge-
halten und wären von demselben Schicksal ereilt worden, wenn sich
nicht der Bruder des Königs, der Graf von Cornwall, für sie ins
Zeug gelegt hätte; auf seine Vorstellungen hin ließ sich Heinrich,
wohl gegen schweres Lösegeld, zur Freigabe der Gefangenen bewegen.
An dem ganzen Prozeß verdienten nicht wenig sowohl der geldgierige
König, dem von Gesetzes wegen das eingezogene Vermögen der Hin-
§ 7. Die Not der englischen Juden unter Heinrich 111.
gerichteten zufiel, wie auch der Klerus der Lincolner Kirche, in die
dank der in ihr aufgestellten „wunderwirkenden Reliquie“ unzählige
Wallfahrer mit frommen Gaben aus dem ganzen Lande herbei-
strömten.
All diese blutigen Religionsverfolgungen bildeten den geeigneten
Boden für das Übergreifen religiöser Wahnideen auch auf die jüdi-
schen Yolksmassen. So geschah es einst in der Universitätsstadt Oxford,
daß ein von einer solchen Psychose befallener Jude sich einer Kirchen-
prozession entgegenwarf, dem Priester das Kruzifix aus der Hand riß
und es mit den Füßen zerstampfte (1268). Der Zwischenfall hätte
leicht zu einer neuen gerichtlichen Hetze, Avenn nicht gar zu Straßen-
exzessen Anlaß geben können, doch sah diesmal sogar der König
selbst ein, daß man für die Tat eines Wahnsinnigen nicht eine ganze
Gemeinschaft verantwortlich machen könne, und so begnügte man
sich in diesem Falle mit einer verhältnismäßig milden Strafe: die jü-
dische Gemeinde von Oxford erhielt den Befehl, der Universität ein
silbernes Kreuz darzubringen und mußte überdies an dem Tatort ein
großes Marmorkreuz errichten.
Die schweren Verfolgungen und Erpressungen, denen die engli-
schen Juden unaufhörlich ausgesetzt waren, brachten viele auf den
Gedanken, England zu verlassen und in anderen Ländern Zuflucht zu
suchen. Die Auswanderung war aber den Juden als den Leibeigenen
des Königs von Gesetzes wegen untersagt, und so mußten sie um die
Ausreisebewilligung wie um eine besondere Gnade nachsuchen. Im
Jahre 1254, als Heinrich III. ihnen von neuem überaus schwer
lastende Sondersteuern auferlegte, deren Eintreibung er seinem Bru-
der, Richard von Cornwall, auf trug, traten die Juden mit einer Kollek-
tivbitte hervor, in der sie ihrem Wunsche, das Land zu verlassen, be-
redten Ausdruck gaben. Der Presbyter Elias, der an der Spitze der
jüdischen Abordnung vor Richard erschienen war, soll sich an diesen
mit der folgenden Rede gewandt haben, die, wenn auch nicht ganz
authentisch, die Stimmung der englischen Juden jener Epoche den-
noch getreu widerspiegelt: „Es ist uns augenscheinlich — erklärte
er — daß unser Herr, der König, uns vom Erdboden vertilgen will.
So flehen wir ihn denn in Gottes Namen an, uns von dannen ziehen
zu lassen und uns einen Geleitbrief zur Ausreise aus seinem König-
reiche zu gewähren, damit wir an einem anderen Orte, unter der Ge-
walt eines den Gefühlen des Mitleids und der Gerechtigkeit sich nicht
5 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
65
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
ganz verschließenden Herrschers Zuflucht suchen könnten. Wir wol-
len fortziehen, um nie wieder zurückzukehren, und unsere Häuser
und Habe hier im Stiche lassen. Wie könnte auch der König uns un-
glücklichen Juden Liebe oder Schonung entgegenbringen, da wir in
die von ihm beschützte althergebrachte englische Lebensordnung wie
ein Fremdkörper ragen? Hat er doch sein eigenes Volk, seine eigenen
Kaufleute — ich will nicht gerade sagen, daß sie Wucherer sind,
doch verstehen sie es wohl, durch übermäßigen Gewinn große Geld-
mengen anzuhäufen. Möge nun der König auf sie rechnen und von
ihnen seine Einkünfte beziehen. Denn sie sind es, die uns das Leben
verleiden und uns an den Bettelstab bringen. Dem König kann es
nicht unbekannt sein, daß er von uns etwas verlangt, was wir beim
besten Willen nicht zu leisten vermögen, auch wenn er uns die Augen
ausstechen, die Kehle durchschneiden und die Haut abschinden lassen
wollte“. Als Graf Richard, der mehr als die anderen seines Ranges
den Juden gewogen war, die Rede vernahm, gab er zur Antwort, daß
der König die Auswanderung seiner jüdischen Untertanen keinesfalls
genehmigen könne und daß sie ihnen auch nicht viel nützen würde,
da weder Frankreich, dessen König (Ludwig der Heilige) vor kurzem
ein Dekret gegen die Juden erlassen habe, noch auch irgendein an-
derer christlicher Staat sie aufnehmen würde. Der König wäre in-
dessen bereit, sich mit der Summe zu begnügen, die die Juden im
Augenblick aufzubringen imstande w^ren. — Allein schon im nächst-
folgenden Jahre trat Heinrich III. an sie erneut mit der Forderung
einer ungeheuren Geldsumme heran und erwiderte auf ihre aber-
malige Beschwerde, daß er es satt habe, sich mit „seinen unnützen
Juden“ immer wieder abzugeben und daher beschlossen habe, sie auf
eine bestimmte Dauer für die Summe von 5ooo Pfund seinem Bru-
der Richard zu „verkaufen“, dem fortan die Besteuerung und die Be-
vormundung der Juden zustehen werde (i2Ö5). Der christliche Chro-
nist glaubt dazu bemerken zu müssen, daß „der König die Juden ge-
schunden und ihre Ausweidung dem Grafen überlassen habe“ („quos
rex excoriaverat comes evisceraret“); in Wirklichkeit war aber der
Wechsel in der Vormundschaft für die Juden von Vorteil: als Steuer-
pächter war Richard bei weitem nicht so erbarmungslos wie sein un-
ersättlicher Bruder.
Indessen war die Frist der „Pachtung“ bald verstrichen und die
Juden sahen sich von neuem in der Gewalt des Königs. Damit setzte
66
§ 7. Die Not der englischen Juden unter Heinrich III.
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die altgewohnte Ausbeutung mit neuer Kraft ein und zugleich er-
wachte auch wieder der ungestüme Drang der Juden nach Auswande-
rung. Dies veranlaßte Heinrich III., die Verfügungsgewalt über die
Juden seinem Sohne, dem künftigen König Eduard I. zu übertragen,
der seinerseits die auf den Juden lastenden Abgaben den italienischen
Geldwechslern, den sogenannten „päpstlichen Wucherern“ oder „Ca-
horsins“, verpachtete (der Name rührt von der im Süden Frankreichs
gelegenen Stadt Cahors her, in der sich eine ihrer Hauptbanken be-
fand). Diese christlichen Kaufleute betrieben ihr Geschäft in Eng-
land in derselben Weise wie ihre lombardischen Landsleute in Frank-
reich: ungeachtet des kirchlichen Zinsverbotes verstanden sie es, auf
dem Umwege über allerlei Fiktionen sogar noch höhere Zinsen einzu-
heimsen als die Juden. Zu ihren Schuldnern gehörte der König selbst,
die Prinzen und der höchste Adel. Sie waren es nun, denen als Sicher-
heit für eine dem König gewährte Anleihe die Steuereintreibung bei
den Juden, ihren Rivalen im Geldhandel, überlassen wurde, und die
durchtriebenen Italiener nahmen selbstverständlich keinen Anstand,
aus der günstigen Sachlage den größtmöglichen Nutzen zu ziehen
(1265). Es mag nicht unerwähnt bleiben, daß auch der christliche
Mittelstand unter der fiskalischen Raubwirtschaft nicht wenig zu lei-
den hatte. Es wütete nämlich in England um jene Zeit ein unausge-
setzter Kampf um die Macht zwischen dem königlichen Despotismus
und der parlamentarischen Adelsoligarchie, und die besteuerten Stände
waren es, die die Zeche zu zahlen hatten.
Der Kampf Heinrichs III. gegen die Aristokratie führte in dem
letzten Jahrzehnte seiner Regierung zu einem offenen Aufruhr der
Barone, an dessen Spitze sich Simon Montfort II. stellte (der Sohn
des gleichnamigen Bezwingers der ketzerischen Albigenser). Der
Bürgerkrieg, der das Land für einige Jahre (1262—1265) der Oli-
garchie der Barone auslieferte, forderte auch von den Juden nicht
geringe Opfer. Die bei ihnen verschuldeten Barone legten die jüdi-
schen Häuser in Trümmer und vernichteten die dort sowie in den
Schatzkammern aufbewahrten Schuldbriefe. Als die Baronenarmee im
Jahre 1262 in London einzog, kamen bei der hier angezettelten Hetze
etwa siebenhundert Juden ums Leben. Zum Schauplatz ähnlicher Het-
zen, die gleichfalls nicht ohne Menschenopfer abliefen, wurden so-
dann auch die Städte Worcester, Northampton und Lincoln (i2Ö3
bis 1266). Der Anführer der Aufständischen, Montfort, entband die
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Juden, c
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
Barone all ihrer Verpflichtungen gegenüber jüdischen Gläubigern.
Nach der Unterdrückung des Aufstandes wurden zwar die Gläubiger-
rechte der Juden wiederhergestellt, jedoch mit sehr wesentlichen Ein-
schränkungen: den Gesetzen vom Jahre 1269 und 1271 zufolge durf-
ten sie künftig keine Landgüter mehr als Pfand annehmen und sich
an bereits früher bei ihnen verpfändeten Ländereien nicht schadlos
halten, wie sie denn überhaupt des Rechtes der Pfändung, aber auch
der Pachtung von Grundbesitz beraubt wurden. All diese Maßnahmen
wurden von dem Kronprinzen Eduard, der bereits in den letzten
Lebensjahren seines Vaters die Zügel der Regierung in der Lland
hatte, gebilligt. Ein eifriger Diener der Kirche, ein Mitstreiter Lud-
wigs des Heiligen in dem von diesem unternommenen Kreuzzuge, ver-
einigte er in seinem Wesen die Habsucht seines Vaters mit religiöser
Unduldsamkeit. Nach dem im Jahre 1272 erfolgten Tode Hein-
richs III. bestieg Eduard, der in der Geschichte der englischen Juden-
heit eine so verhängnisvolle Rolle spielen sollte, auch formell den Thron.
§ 8. Eduard /. und die Vertreibung der Juden aus England (1290)
Bald nach seiner Thronbesteigung faßte Eduard I. den Plan, „sei-
nen Juden“ eine neue Verfassung zu.bescheren. Im Jahre 1275 wurde
das neue „Statut in betreff des Judehtums“ („Statutum de judaismo“)
auch vom Parlament gutgeheißen. Djas Statut beginnt mit der feier-
lichen Erklärung, daß es den Juden „um des Ruhmes Gottes und um
des allgemeinen Volkswohles willen“ von nun ab untersagt sein solle,
Geld auf Zinsen auszuleihen. Alle schon abgeschlossenen Geschäfte
dieser Art wurden für ungültig erklärt, alle Darlehen sollten fortan
als zinsfrei gelten. Zur Befriedigung jüdischer Geldforderungen
durfte nur die Hälfte des Vermögens des christlichen Schuldners be-
schlagnahmt werden, während die andere Hälfte ihm zum Lebens-
unterhalt belassen werden sollte. Die Juden durften ausschließlich in
denjenigen königlichen Städten und Flecken leben, in denen es einen
besonderen „Aufbewahrungsort für ihre (Handels-) Urkunden“ gab.
Alle Juden vom siebenten Jahre ab waren verpflichtet, auf ihrem
Obergewand ein sechs Finger langes und drei Finger breites Abzeichen
aus gelbem Taft zu tragen. Vom zwölften Jahre ab hatten alle in Eng-
land wohnhaften Juden alljährlich zu Ostern eine Kopfsteuer in der
Höhe von drei Pence zu entrichten. Ohne Genehmigung des Königs
§ 8. Die Vertreibung der Juden aus England (1290)
läubigern.
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durfte ein Jude weder Haus noch Einkünfte übertragen, nicht einmal
einem Christen seine Schuld erlassen und überhaupt über sein Eigen-
tum in keiner Weise verfügen. Der König gestattete wohl den Juden,
Handel (mit Waren) zu treiben oder ein Handwerk auszuüben und,
soweit es ihr Gewerbe erforderte, mit Christen in Beziehungen zu
treten, doch wurde jeder häusliche Verkehr zwischen den Vertretern
beider Bekenntnisse strengstens untersagt. Nur solchen Juden, die
weder für den Handel noch für das Handwerk geeignet waren, war
es gestattet, für eine Dauer von höchstens zehn Jahren Land zu pach-
ten, wenn die Pacht nicht mit der Verfügungsgewalt über christliche
Arbeitskräfte oder Kirchengut verbunden war.
Es war von vornherein klar, daß die neue Verfassung die Lage der
Juden nur verschlimmern konnte. Durch das im Statut vom Jahre
1275 proklamierte Verbot jeglichen Zinsdarlehens wurde das jüdi-
sche Kreditgeschäft völlig lahmgelegt und damit auch die wirtschaft-
liche Hauptbasis des jüdischen Mittelstandes mit einem Schlage unter-
graben. Da der zahlungsunfähige Schuldner nur mit der Hälfte seines
Eigentums für die Schuld haftete, so war dem Gläubiger nicht einmal
die Rückzahlung des ausgeliehenen Kapitals gesichert. Die den Juden
gewährte Erlaubnis, Warenhandel und Gewerbe zu treiben oder sich
als Landpächter zu betätigen, wäre eine wahre Wohltat für sie ge-
wesen, wenn sie unter den damaligen Verhältnissen nicht ein leeres
Wort hätte bleiben müssen. In noch höherem Maße als in anderen
Ländern lagen nämlich in England sowohl Handel wie Handwerk in
den Händen der Zünfte und Gilden, geschlossener christlicher Kor-
porationen, zu denen die Juden keinen Zutritt hatten; was aber die
Landpachtung anlangt, so kam sie für Leute, die nie vor willkür-
lichen Vermögenseinziehungen oder Ausweisungen sicher sein konnten
und sich stets als potentielle Auswanderer fühlten, praktisch gleich-
falls nicht in Betracht. Um sich bei der herrschenden Wirtschafts-
ordnung irgendwie durchzuschlagen, sahen sich daher die Juden ge-
nötigt, das in Widerspruch mit dem Leben geratene Gesetz einfach
zu umgehen. So begannen denn die jüdischen Gläubiger dieselben
Kunstgriffe anzuwenden, die auch den italienischen Geldwechslern
ihre Bankoperationen ermöglichten: das Darlehen wurde zwar „ohne
Zinsen“ gewährt, jedoch so, daß in die nominelle Schuldsumme ein
bedeutender Nutzen hineinkalkuliert wurde. Indessen mußten die
Juden, die sich im Gegensatz zu den „päpstlichen Bankiers“ auf keine
69
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
hohe Gönnerschaft stützen konnten, im Wettstreit mit diesen den kür-
zeren ziehen. Der königliche Fiskus aber bestand nach wie vor auf
seinen Forderungen: der König verlangte seinen Anteil an jenem Ge-
winn, den er selbst als gesetzwidrig erklärt hatte. Treffend bemerkt ein
englischer Schriftsteller, daß die Juden Englands um jene Zeit unter
dem gleichen Joche stöhnten, wie einst ihre Vorfahren in Ägypten,
nur mit dem Unterschiede, daß man von ihnen jetzt statt Ziegel Gold-
barren forderte. Man könnte noch hinzufügen, daß die englischen Ju-
den gleich den ägyptischen allen Grund hatten, sich auch darüber zu
beklagen, daß „man ihnen kein Stroh gebe und doch verlange, daß sie
Ziegel machen“. Viele trieb die Not so sehr in die Enge, daß sie sich mit
dem wenig ehrenvollen Geschäft der „Münzenbeschneidung“ befaßten,
das damals übrigens auch unter den in England lebenden italienischen
Geldwechslern und den flämischen Wollexporteuren weit verbreitet
war. Im Jahre 1278 wurde eine große Zahl von Juden der Münzenver-
fälschung bezichtigt, wobei allein in London 293 Personen ihr Ende
auf dem Schafott fanden. Obwohl auch viele Christen an dem Münz-
verbrechen mitbeteiligt waren, traf dennoch die Schwere des Gesetzes
in erster Linie die Juden.
Während sich der König so das Verfügungsrecht über die mate-
riellen Verhältnisse der Juden vorbehielt, überließ er ihre Seelen
ganz der Fürsorge des Klerus, dessen Missionseifer er in jeder Weise
unterstützte. Die „predigenden Brüder“ entfalteten nämlich um jene
Zeit unter den verfolgten und ruinierten Juden eine tatkräftige Pro-
paganda, die anscheinend nicht ohne einigen Erfolg blieb. Das „Asyl
für Neubekehrte“ war voll von Unglücklichen, die nicht so sehr um
ihr Seelenheil besorgt waren, als vielmehr nach einer Zufluchtsstätte
ausspähten, die sie vor Verfolgungen, Not und Hunger schützen sollte.
Die von der magischen Wirkung ihrer Predigten überzeugten Missio-
nare warben aber ihre jüdischen Zuhörer nicht selten auf eine für
Glaubensapostel wenig würdige Weise. Auf ihr Drängen ließ Eduard I.
den Sheriffs und anderen Beamten einen Befehl zukommen, wonach
die Juden zum Anhören der die Verirrungen des Judaismus enthüllen-
den Predigten der Dominikaner zwangsweise angehalten werden soll-
ten (1279). Ein berühmter Scholastiker, der Franziskaner Duns
Scotus, fand für dieses System der gewaltsamen Erleuchtung der Un-
gläubigen nur Worte der Billigung. Er schlug sogar vor, den Juden
ihre minderjährigen Kinder wegzunehmen, um sie im christlichen
70
§ 8. Die Vertreibung der Juden aus England (1290)
Glauben zu erziehen, und riet überdies, auch die Eltern, sei es durch
Überredung oder durch Drohungen, zur Taufe zu bewegen. Gleich-
zeitig befahl der Erzbischof von Canterbury, John Peckham, alle jü-
dischen Bethäuser in London, jene bescheidenen Andachtstätten, die
nach der Beschlagnahme der großen Synagoge durch Heinrich III.
noch übriggeblieben waren, kurzerhand zu schließen (1282). Dieser
maßlose Kircheneifer der englischen Geistlichkeit wurde immer aufs
neue durch fanatische Hirtenbriefe des Papstes Honorius IV. ange-
facht. So erging er sich in einem Schreiben an die Erzbischöfe von
Canterbury und York (1286) in lebhaften Klagen darüber, daß die
„treulosen Juden“ ihre getauften Stammesgenossen zur Rückkehr zum
jüdischen Glauben bewegen, daß sie die Christen an Sabbat- und
Feiertagen in ihre Synagogen locken, ja sogar zu Verbeugungen vor
der Thorarolle anhalten, „so daß viele Christen gemeinsam mit den
Juden judaisieren“. Die zweifellos auf Übertreibung beruhenden Kla-
gen verfolgten nur den Zweck, die zuständigen Behörden an die Be-
f olgung der auf die Absonderung der Juden von den Christen abzielen-
den Kanons zu gemahnen. Der Klerus schenkte denn auch den päpst-
lichen Mahnungen volles Gehör: das bischöfliche Konzil in Exeter
(1287) beeilte sich, die Kirchenkanons, die den Juden die Bekleidung
öffentlicher Ämter, die Beschäftigung christlicher Dienstboten, die
Errichtung neuer Synagogen u. dgl. m. untersagten, nachdrücklichst
zu bestätigen.
Um diese Zeit trug sich aber König Eduard I. bereits mit dem
Plan, den gordischen Knoten der jüdischen Frage in England ein für
allemal zu durchhauen. Im Frühling des Jahres 1287 erging, gleich-
sam als Vorspiel zum entscheidenden Akt, der Befehl, alle jüdischen
Familienhäupter im Lande festzunehmen und so lange gefangenzuhal-
ten, bis sie 12 000 Pfund an den Staatsschatz abgeführt hätten. Drei
Jahre später entschloß sich dann der König zu dem folgenschweren
Schritt, auf den die ganze englische Judenpolitik mit schicksalhafter
Unabwendbarkeit hinauslief: zur restlosen Vertreibung der Juden aus
England1). Eduard I. weilte damals auf seinen französischen Besitzun-
1) Graetz (Gesch. VII, Note 11) bringt diese Maßnahme mit jener Episode
in Zusammenhang, die im Nachtrag zu den Annalen des englischen Chronisten
Florenz aus Worcester wiedergegeben ist. Es wird dort nämlich von einem Do-
minikaner, von dem „des Hebräischen kundigen, trefflichen Prediger Robertus
de Reddinge“ berichtet, der im Jahre 1275 von der Kirche abfiel, zum Juden-
tum übertrat, eine Jüdin ehelichte und den Namen Haggai annahm. Diese Epi-
71
Das französische Zentrum und die englische Kolonie
gen und leitete darum sein gottgefälliges Werk schon an Ort und
Stelle ein: er erließ ein Dekret über die Ausweisung der Juden aus der
ihm Untertanen südfranzösischen Provinz Gascogne. Als der König
bald darauf nach London zurückkehrte, wurde er von dem judenfeind-
lichen Teil der Bevölkerung mit Beifallskundgebungen überhäuft. Das
Parlament und die Geistlichkeit faßten den Beschluß, dem König,
falls er mit den englischen Juden ebenso verfahren würde wie mit
denen von Gascogne, reiche Gaben darzubringen. Die Würfel waren
indessen schon gefallen. Am 18. Juli 1290 Unterzeichnete Eduard I.
ein Dekret, demzufolge alle englischen Juden bis „Allerheiligen“, dem
1. November, das Land verlassen mußten. Sie hatten das Recht, ihr
bewegliches Gut zu verkaufen oder mit sich zu nehmen, während ihre
Häuser und Synagogen dem königlichen Fiskus zufielen; nur in ver-
einzelten Ausnahmefällen durften sie auch Immobilien verkaufen. Auf
das Verbleiben nach dem festgesetzten Termin stand die Todesstrafe.
Die den Auszug aus England schon lange herbeisehnenden Juden woll-
ten indessen den Ablauf der Frist gar nicht erst abwarten, und so stie-
ßen schon im Oktober 1290 16000 Juden in See, um ihre stief-
mütterliche Heimat für immer zu verlassen. Unterwegs wurden viele
Emigranten von den Schiffskapitänen ausgeplündert; manche kamen
bei der Überfahrt ums Leben. Die Mehrzahl der Verbannten begab sich
nach Frankreich. Philipp der Schöne gestattete ihnen zunächst, sich
vorübergehend auf seinen Besitzungen aufzuhalten, forderte sie aber
später auf, manche Orte wieder zu räumen (so z. B. Garacassonne im
Jahre 1291)., Desüngeachtet verblieb die Hauptmasse der englischen
Emigranten in Frankreich. Sechzehn Jahre später mußten sie aber ge-
sode wird auch in der1 Chronik „Schebet Jehuda“ (Nr. 20) erwähnt, doch ist sie
hier nicht nach England, sondern nach Frankreich verlegt und mit keinem Da-
tum versehen. In verschwommener Form ist die Nachricht überdies auch in der
poetischen Chronik des Samuel Usque („Consolacaos“) zu finden. Auf Grund
dieser verworrenen Nachrichten spricht Graetz die Vermutung aus, daß der Ab-
fall des Mönches, der die Königin-Mutter Eleonore und die Geistlichkeit in größte
Erregung versetzt haben soll, den Hauptanlaß zu der fünfzehn Jahre später er-
folgten Vertreibung der Juden aus England gebildet hätte. Es ist Graetz gewiß
als ein Verdienst anzurechnen, daß er über diese dunkle Episode durch Konfron-
tierung verschiedener Berichte einiges Licht verbreitet, doch scheint es uns ge-
wagt, dem Vorfall eine so entscheidende Bedeutung beizumessen. Die Ausweisung
wurde vielmehr durch die ganze ihr vorausgehende Geschichte der englischen
Juden vorbereitet und, wie oben betont, letzten Endes dadurch herausgefordert,
daß die Juden selbst von dem Drange beseelt waren, das Land der Bedrückung
schleunigst zu verlassen.
72
§ 8. Die Vertreibung der Juden aus England (1290)
meinsam mit den im Jahre i3o6 verbannten französischen Juden von
neuem den Wanderstab ergreifen. Ein kleiner Teil der aus England
Vertriebenen hatte sich nach Flandern begeben; einzelne Gruppen
wurden auch nach Spanien und Deutschland verschlagen.
So wiederholte sich denn im XIII. und XIV. Jahrhundert in zwei
europäischen Ländern die Geschichte des Auszuges aus Ägypten. Geist-
liche und weltliche Pharaonen taten sich zusammen, um für die Ju-
den mit vereinten Kräften eine neue Knechtschaft in Form von Han-
delsfrondienst und Entrechtung zu erfinden, und den Unterjochten
blieb nach langem vergeblichen Kampfe nur ein Ausweg: der Auszug.
Indessen war es jetzt nicht das gelobte Land der Freiheit, das den
Ausgezogenen winkte, sondern es breitete sich vor ihnen dieselbe dü-
stere mittelalterliche Wüste aus, in der das Wandervolk schon so lange
schmachtete, um nur hier und da auf eine erfrischende Oase zu sto-
ßen. Die Folgen der beiden Ausweisungen vom Jahre 1290 und i3o6
waren allerdings nicht ganz dieselben: während die englischen Juden
aus ihrer Heimat endgültig vertrieben wurden und eine neue jüdische
Kolonie in dem britischen Inselreiche auf legaler Grundlage erst vier
Jahrhunderte später begründet werden konnte, war es den französi-
schen Juden beschieden, bald wieder in ihre Heimat zurückzukehren,
um endgültig erst gegen Ende des XIV. Jahrhunderts verbannt zu wer-
den. Der tiefste Unterschied in dem Schicksal der Juden beider Län-
der tritt aber in der Verschiedenheit der ihnen zukommenden kulturell-
geistigen Bedeutung zutage: während die französische Judenheit trotz
der schweren Bedrängnis, unter der sie im XIII. Jahrhundert zu lei-
den hatte, nach wie vor ein wichtiges nationales Kulturzentrum bil-
dete, in dem gerade in diesem Jahrhundert die verschiedenartigsten
geistigen Strömungen miteinander wetteiferten (s. unten, Kap. 3),
sollte die englisch-jüdische Kolonie, die sich nie durch selbständige
schöpferische Kraft ausgezeichnet hatte, in der inneren Geschichte des
Volkes keine merklichen Spuren hinterlassen.
Zweites Kapitel
Die Juden im christlichen Spanien
des XIII. Jahrhunderts
§ 9. Kastilien in der Epoche der Reconquista
Der Anfang des XIII. Jahrhunderts bildet einen Wendepunkt in
der Geschichte der Pyrenäischen Halbinsel. Nach dem Siege der Kasti-
lier und Aragonier über die Almohaden bei Navas de Tolosa (im Juli
1212) erfolgt in der kurzen Zeitspanne nur einiger Jahrzehnte die
Wiederherstellung der christlichen Herrschaft im arabischen Spanien
(„Reconquista“). Der Sieg bei Tolosa wurde von den Spaniern in
einem nationalen Freiheitskriege erkämpft, in dem ihnen die Streiter
des Religionskrieges, des von Innocenz III. inaugurierten Kreuzzuges,
tatkräftig zur Seite standen. Nachdem nämlich die Kreuzfahrerhaufen
die Albigenser in Südfrankreich vernichtet hatten, zogen sie über die
Pyrenäen, um auch an der Ausrottung der ungläubigen Muselmanen
teilzunehmen. Der nationale Freiheitskampf der Spanier fand bei den
Juden zunächst vollen Anklang, da der Sieg auch sie von dem fana-
tischen Almohadenregime erlösen mußte; indessen wurden ihre patri-
otischen Gefühle durch den von den Kreuzfahrern in diesen Kampf
hineingetragenen religiösen Beiklang stark gedämpft, um so mehr,
als das Banner des Kreuzes fast immer das Signal zu Judenhetzen gab.
In der Tat ging es auch diesmal nicht ohne den Versuch einer Hetze
ab. Sorgenvolle Tage hatte im Sommer des Jahres 1212 namentlich
die jüdische Gemeinde von Toledo durchzumachen, als die Truppen
des päpstlichen Legaten Arnold, die kurz vorher die ketzerische Pro-
vence der Verheerung preisgegeben hatten, in die Stadt einzogen. Die
gegen die fanatischen Muselmanen kämpfenden fanatischen Christen
empfanden den Wohlstand und die blühende Kultur der kastilischen
Juden als aufreizendes Ärgernis, und so gingen sie daran, sich durch
§ 9. Kastilien in der Epoche der Reconquista
entsprechende Ruhmestaten ein bleibendes Andenken im Lande zu
sichern. Plötzlich überfielen sie die Juden von Toledo und begannen
schon blutige Ernte unter ihnen zu halten, als sich die kastilischen
Ritter ihnen in den Weg stellten und den Exzessen der „ultramonta-
nen“ (transpyrenäischen) Krieger ein Ziel setzten. Auch der nach der
siegreichen Schlacht bei Tolosa in die Residenz zurückgekehrte König
Alfons VIII. versicherte die Juden seines ungeteilten Wohlwollens.
Überhaupt standen die Kastilier dem von Innocenz III. proklamier-
ten kirchlichen Kampfprogramm zu jener Zeit noch ziemlich kühl
gegenüber und betrachteten die Juden als ihre natürlichen Verbünde-
ten in der Rekämpfung der Muselmanen. Durch eine Reihe siegreicher
Schlachten fiel dem kastilischen König Ferdinand dem Heiligen
(1217—12 52) der größte Teil Andalusiens mitsamt den alten jüdi-
schen Kulturzentren Cordova und Sevilla zu. Die Nachkommen der
arabisch-berberischen Eroberer, die Mauren, wurden in den äußersten
Südzipfel Andalusiens, in den Rezirk von Granada, zurückgedrängt,
wo sie ihre Unabhängigkeit noch bis zu einem gewissen Grade auf-
recht zu erhalten vermochten. Das im Jahre 12 36 von den Kastiliern
eroberte Cordova, die Geburtsstadt des Maimonides, öffnete nun den
Juden von neuem seine Tore und sah bald eine prächtige Synagoge in
seinen Mauern ragen. Die andere einstmalige jüdische Metropole, Se-
villa, wurde im Jahre 1248 eingenommen. Die Juden empfingen Fer-
dinand bei seinem Einzug in die Stadt mit heller Freude und brach-
ten ihm (oder seinem Sohn Alfons) einen silbernen Schlüssel als Ge-
schenk dar, auf dem die hebräische Aufschrift prangte: „Der König
der Könige wird öffnen, der König der Erde wird einziehen“ („Melech
melachim iftach, melech ha’arez jabo“), sowie ihre abgekürzte kasti-
lische Übersetzung: „Gott wird öffnen, der König wird einziehen“
(„Dios abrira, Rey enterara“). Ferdinand wies nun den Juden das
ehemalige weitausgedehnte jüdische Viertel von neuem als Wohnsitz
an und überließ ihnen drei Moscheen, die sie in Synagogen verwan-
delten.
Das mit dem Königreich Leon und mit dem neu eroberten Anda-
lusien vereinigte Kastilien, welches zugleich auch die Oberhoheit über
das noch in den Händen der Mauren verbliebene Granada innehatte,
erstreckte sich nunmehr über das ganze Zentralgebiet der Pyrenäi-
schen Halbinsel. Im Osten grenzte es an die kleineren Königreiche
Aragonien und Navarra, im Westen an den portugiesischen Küsten-
75
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
strich. Die Folge der Ausdehnung und der Befestigung der christ-
lichen Herrschaft in Spanien war ein lebhafter kultureller Verkehr
dieses Landes mit dem übrigen Europa, wo damals die kirchliche
Reaktion das Zepter führte. Die spanische Geistlichkeit, unter der die
Dominikaner reichlich vertreten waren, erstrebte nun auch ihrerseits
die Durchführung der vom Papste und von den Konzilien beschlosse-
nen Gesetze, die die Absonderung der Andersgläubigen und ihre De-
gradierung zu einer niederen Kaste bezweckten. Auf der Tagesordnung
stand insbesondere die Durchführung der Bestimmungen des Lateran-
konzils vom Jahre 1215, die in Spanien deshalb eine besondere Be-
deutung hatten, weil sie hier nicht nur die Juden, sondern auch die
Mauren oder „Sarazenen“ betrafen. Bezog sich doch die Hauptneue-
rung des Konzils, das Abzeichen auf dem Obergewande, auf , beide
andersgläubigen Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise. So sah sich
der Held des nationalen Krieges, Ferdinand der Heilige, vor ein
schwieriges Dilemma gestellt: sollte er der loyalen jüdischen Bevöl-
kerung, die im Wirtschaftsleben des Landes eine so wichtige Rolle
spielte, den Stempel der Verstoßenheit auf drücken oder aber sich als
ein unfolgsamer Sohn jener Kirche erweisen, in deren Namen er das
Land den Händen der Mauren entrissen hatte. Die Päpste Hono-
rius III., Gregor IX. und Innocenz IV. mahnten Ferdinand wiederholt
an die Befolgung der Konzilbeschlüsse, doch vermochte der König
ihnen beim besten Willen nicht Folge zu leisten: weder die Juden
noch die Mauren hätten sich mit der demütigenden Stigmatisierung
abfinden können, sich aber mit ihnen zu verfeinden, hieß eine schwere
Gefahr herauf beschwören, da der nationale Krieg nur mit dem
finanziellen Beistand der Juden und bei ruhigem Verhalten der ein-
heimischen Muselmanen glücklich zu Ende geführt werden konnte.
Aus demselben Grunde sah sich Ferdinand III. genötigt, auch die
die Errichtung neuer Synagogen untersagende kanonische Vorschrift
einfach zu ignorieren. So wurden denn um jene Zeit in den
neu eroberten Städten Andalusiens, in Cordova, Sevilla u. a., Syna-
gogen erbaut, die an Schönheit und Pracht den herrlichsten Kirchen
nicht nachstanden.
Eine zweideutige Politik trieb der Nachfolger Ferdinands, Alfons X.
der Weise (i2Ö2—1281), in dessen zwiespältiger Natur Freidenker-
tum und Aberglauben einander den Rang abliefen. In seinen ersten
Regierungsjahren nahm er sich vor, die in den verschiedenen Ge-
76
§ 9. Kastilien in der Epoche der Reconquista
gen den Kastiliens herrschenden Gesetze und Privilegien („Fueros“)
mit den Kirchenkanons in Übereinstimmung zu bringen, und ver-
öffentlichte zu diesem Zwecke einen neuen Kodex in kastilischer
Sprache („Las siete Partidas“), in dem eine Reihe von Artikeln sich 1
auch unmittelbar auf die Juden bezog. Der Gesetzgeber geht hierbei
von dem Grundsatz Innocenz’ III. aus: die Juden müssen zwar im
christlichen Staate geduldet werden, doch sollen sie sich in einem Zu-
stande „ewiger Knechtschaft“ befinden, auf daß alle ihrer Zugehö-
rigkeit zu dem Volke der Ghristusmörder eingedenk bleiben. Dem-
gemäß wurde ihnen die Predigt ihrer Glaubenslehren und die Be-
kehrung zu ihrer Religion bei Todesstrafe untersagt. Am Karfreitag
durften sich die Juden nicht auf der Straße zeigen. Eine besondere,
dem Aberglauben entstammende Vorschrift bestimmte, daß ein Jude,
der am Karfreitag zur Schändung Christi ein christliches Kind mar-
tern oder die Kreuzigung auch nur an einer Wachsfigur vornehmen
sollte, sein Leben verwirkte. Alle öffentlichen Ehrenämter sollten den
Juden unzugänglich bleiben. Es wurde ihnen ferner untersagt, mit
Christen zusammenzuleben, zu speisen und zu baden, wie auch christ-
liche Dienerschaft zu halten; auch durfte ein Christ keine Arznei aus
den Händen eines Juden annehmen. Das eheliche Zusammenleben zwi-
schen Juden und Christen wurde gleichfalls unter Verbot gestellt.
Neue Synagogen durften ohne Genehmigung des Königs nicht er-
richtet werden. Schließlich wurden die Juden verpflichtet, auf ihrer
Kopfbedeckung ein besonderes Abzeichen zu tragen; die Nichtbefol-
gung dieser Vorschrift zog eine Geldbuße von zehn Maravedi nach
sich oder wurde durch zehn Geißelhiebe geahndet. So wollte es das
neue Gesetz haben, doch in ganz anderer Weise gestaltete sich das
praktische Leben und ganz anders war auch das tatsächliche Verhalten
des Königs selbst, der durch die Veröffentlichung dieses Gesetzes sich
nur einer formellen Pflicht entledigte.
Alle Handlungen Alfons’ X. standen nämlich in krassem Wider-
spruch zu seinen gesetzgeberischen Verlautbarungen. Das jüdische
Zeichen wurde nirgends getragen, und es fehlt jede Nachricht dar-
über, daß diese Übertretung je bestraft worden wäre. Die spanischen
Juden waren auch viel zu stolz, um sich ohne weiteres brandmarken zu
lassen, und brachten ihre Gefühle den weltlichen und geistlichen Be-
hörden gegenüber mehrmals unzweideutig zum Ausdruck. Alfons X.
ging aber noch weiter: nicht genug damit, daß er diesen Kirchen-
77
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
kanon, dem, wie erwähnt, sogar in dem Frankreich Ludwigs des Hei-
ligen nur selten Folge geleistet wurde, mißachtete, schreckte er auch
davor nicht zurück, ein viel einschneidenderes, von ihm selbst be-
stätigtes Kirchen verbot zu übertreten, indem er in den Fällen, da es
sein Interesse erforderte, Juden in Staatsämter einsetzte. Gleich seinen
Vorgängern vertraute er die Verwaltung der Staatseinkünfte jüdischen
Finanzmännern an, denen er das Amt von „Almojarifen“ übertrug.
Es waren dies wohlhabende und zum größten Teil gebildete Männer,
die die Staatssteuern und Zölle in Pacht nahmen und die faktische
Verwaltung des Staatsschatzes in Händen hatten. Schon unter Ferdi-
nand dem Heiligen hatte Don Meir de Malea, den das Haupt der spa-
nischen Rabbiner jener Zeit (Ramban) als einen ,,hohen Würden-
träger und einen gelehrten Mann“ preist, das Amt eines Almojarifen
inne; diese Würde behielt er auch unter Alfons bei. Eine weitaus-
holende finanzielle Wirksamkeit entfalteten auch die Söhne des R.
Meir, Don Zag (Isaak) und Don Joseph. Durch ihre finanzielle Rüh-
rigkeit leisteten sie dem König bei seinen militärischen Unternehmun-
gen sowie bei der Durchführung anderer politischer Pläne wertvollen
Reistand. In Gemeinschaft mit zwei anderen reichen Juden führten
sie alljährlich ungeheure Pachtzinssummen an den königlichen Schatz
ab. Bei der Steuereintreibung standen ihnen die königlichen Orts-
beamten zur Verfügung, und so schienen sich die Befürchtungen der
Kircheneiferer zu bewahrheiten, daß die Juden über die Christen herr-
schen würden. Zwar riefen die Steuereinnehmer, die nicht selten zu
Zwangsmaßnahmen greifen mußten, die Feindseligkeit der Bevölke-
rung gegen die Juden als solche wach, doch wußten sich die Staats-
häupter ohne diese Finanzagenten nicht zu helfen und schenkten daher
der Unzufriedenheit der Kirche wie des Volkes keinerlei Beachtung.
Auch ließ sich Alfons X. trotz des den Christen die Heranziehung jü-
discher Ärzte verbietenden Kanons dauernd von dem Juden Jehuda
Koken behandeln, der zugleich als königlicher Sterndeuter an gestellt
war. Ein großer Liebhaber der Astrologie, versammelte nämlich der
König Mathematiker und Sterndeuter aller Nationalitäten an seinem
Hofe. Eine führende Stellung nahm unter ihnen der Kantor der
Synagoge von Toledo Isaak ihn Cid ein, der im Aufträge des Königs
astronomische Tabellen, die berühmten „Alfonsinischen Tafeln“, zu-
sammenstellte, die das altüberkommene Ptolemäische Weltsystem in
mancher Hinsicht verbesserten und bis zu den wissenschaftlichen Ent-
78
§ 9. Kastilien in der Epoche der Reconquista
deckungen der neueren Zeit den Fachleuten als ein unentbehrliches
Hilfsmittel dienten. Der bereits erwähnte Arzt Jehuda Kohen und an-
dere jüdische Gelehrte übersetzten auf Wunsch des Königs astrono-
mische und astrologische Werke aus dem Arabischen ins Spanische.
Der wachsende Einfluß der Juden am spanischen Hofe rief indessen
bald den Unwillen der klerikalen Partei hervor, die ihre Klagen wie-
derholt in Rom laut werden ließ. Der Papst Nikolaus III. wandte sich
darauf an Alfons mit einem Hirtenbrief, in dem er dem König die
flagrante Verletzung der Konzilbeschlüsse vorwarf und Kastilien we-
gen der „den Juden über die Christen eingeräumten Gewalt“ schweres
Unheil prophezeite, doch verhallten alle diese Ermahnungen ohne Ant-
wort. Die von dem katholischen Rom für die Juden erfundene Verfas-
sung der Rechtlosigkeit wurde eben im Mittelalter oft ebensowenig be-
achtet wie in neuester Zeit die verfassungsmäßige Gleichberechtigung.
Die glänzende Laufbahn des jüdischen Almojarifs Zag de Malea
sollte übrigens ein trauriges Ende finden. Der Sohn Alfons’ des Wei-
sen, der Infant Sancho, der mit seinem Vater in Fehde lag, verstand
es nämlich, dem jüdischen Schatzmeister eine bedeutende, aus Steuer-
eingängen stammende Geldsumme abzulisten, die für den Unterhalt
der in Algeciras gegen die Mauren kämpfenden Flotte bestimmt war.
Der darob erzürnte König ließ Zag mitsamt seinen Geschäftsgenossen
in den Kerker werfen. Als dann der Infant von seinem Feldzug nach
Sevilla zurückkehrte, wurde der unglückliche Don Zag an dem Palais
des Infanten vorbei durch die Straßen der Stadt geschleift und vor
dessen Augen hingerichtet (1280). Nicht genug damit, befahl Alfons
auch noch viele Vertreter der jüdischen Gemeinden an einem Sabbat,
da sie gerade in den Synagogen beteten, zu verhaften, worauf er ihnen
eine sehr schwere Geldbuße auf erlegte. Raid darauf gelang es jedoch
dem Infanten Sancho, sich an die Spitze der dem König feindlichen
Partei zu stellen, seinen Vater zu entthronen und die Zügel der Re-
gierung an sich zu reißen.
Einige Jahre nach seiner Thronbesteigung ließ Sancho IV. die Ab-
geordneten der jüdischen Gemeinden von Kastilien, Leon, Murcia und
Andalusien in Huete zusammentreten und trug ihnen auf, die den Ju-
den auferlegten Steuerlasten unter die einzelnen Gemeinden zu ver-
teilen (1290). Neben der üblichen Kopfsteuer legte man jedem über
zwanzig Jahre alten Gemeindemitglied auch noch eine besondere
„Dienststeuer“ (servicio) in der Höhe von 3 Maravedi oder 3o Denari
79
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
zur Erinnerung an die evangelischen „dreißig Silberlinge“ auf. Wäh-
rend bis dahin nur die einzelnen Familienhäupter für die pünkt-
liche Entrichtung der Kopfsteuer verantwortlich gemacht wurden, be-
schloß jetzt der König, dem Beispiel der ihm benachbarten Herrscher
folgend, fortan mit der Verteilung und der Eintreibung der Steuern die
jüdische Gemeindeselbstverwaltung zu belasten, wobei alle Gemeinde-
mitglieder für den regelmäßigen Eingang der Abgaben solidarisch
haften mußten. Aus den Kopfsteuerrollen einzelner Bezirke ist zu
entnehmen, daß die Gesamtsumme der Kopfsteuer damals die Höhe
von drei Millionen .Maravedi (etwa zwei Millionen Reichsmark) er-
reichte. Darüber hinaus lasteten auf den Juden noch allerlei Sonder-
steuern und außerordentliche Abgaben, wie der „Zehnte“ von den
Immobilien zugunsten der Kirche, die Krönungssteuer u. dgl. m. Die
im Jahre 1290 zusammengetretene Versammlung verteilte die Lasten
unter nicht weniger als 120 kastilische Gemeinden. Bedeutende jü-
dische Gemeinden beherbergten die Städte Toledo, Burgos, Carrion,
Cuenca, Avila, Valladolid, Huete, Soria, Murcia, Sepulveda und noch
manch andere. Wiewohl die Gesamtzahl der damals in Kastilien leben-
den Juden auf Grund der Steuerrollen nicht einmal annähernd be-
rechnet werden kann1), zeugen diese immerhin davon, daß die jü-
dische Bevölkerung im Lande verhältnismäßig sehr zahlreich war. Die
tatkräftige und betriebsame Bevölkerungsgruppe bildete eine bedeu-
tende wirtschaftliche Macht, da sie hier, im Gegensatz zu Frankreich
oder England, bei der Berufswahl in keiner Weise eingeschränkt war.
Neben den finanztüchtigen Steuerpächtern waren unter den kastili-
schen Juden auch Grundbesitzer anzutreffen. Die Versammlungen des
Landadels (die Cortes in Valladolid), die in der wachsenden Macht der
Juden eine ernstliche Gefahr erblickten, wandten sich zwar mehrmals
an den König mit der Bitte, den Juden den Ankauf christlichen
Grundbesitzes zu untersagen, während die Cortes der Städte ihrer-
seits die grundsätzliche Abschaffung der Steuerpacht beantragten;
doch pflegte der König seine diesbezüglichen Versprechungen nur sehr
*) Auf Grund nicht sehr sicherer Schätzungen veranschlagt Graetz die Ge-
samtzahl der in Kastilien gegen Ende des XIII. Jahrhunderts wohnhaften Juden
auf etwa 85o 000, während Isid. Loeb ihre Zahl auf 2 34 000 schätzt. Die letztere
Zahl scheint der Wirklichkeit eher zu entsprechen. Es darf nicht außer acht ge-
lassen werden, daß sich um jene Zeit eine zahlreiche jüdische Bevölkerung auch
in Aragonien und in anderen Gegenden der Pyrenäischen Halbinsel konzentriert
hatte.
80
§10. Aragonien unter Jakob 1.
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vermochte eben nicht nur die Regierung, sondern auch ein großer
Teil der Bevölkerung auf die finanzielle und industrielle Mitarbeit der
Juden, die sich in dem neuen christlichen Spanien ebenso wie in dem
ehemaligen arabischen als tatkräftige Mitbürger erwiesen, in keiner
Weise zu verzichten.
§ 10. Die Juden in Aragonien unter Jakob I.
Das neben Kastilien bestehende zweite spanische Königreich, Ara-
gonien, war im XIII. Jahrhundert in die Einflußsphäre des Papst-
tums und der Mönchsorden geraten und ähnelte darin dem ihm be-
nachbarten Frankreich. Zwischen den beiden Ländern bestand zum
Teil auch ein territorialer Zusammenhang: die aragonischen Könige
beherrschten als Souveräne einige Lehensgebiete in Südfrankreich und
in der hier behandelten Epoche unterstanden ihrer Gewalt namentlich
die Bezirke von Montpellier und Roussillon. Zum Begründer eines
neuen und mächtigen Aragonien wurde der König Jakob I. (Jayme),
dessen langjährige Regierung (1213—1276) mit der glänzendsten
Periode der Reconquista zusammenfällt. Dieser Herrscher, dem der
Beiname Eroberer (Conquistador) zugelegt wurde, teilte sich mit den
kastilischen Königen in das Erbe des zusammengebrochenen musel-
manischen Spanien und gliederte seinen Stammländern Aragonien und
Katalonien die Balearen und das reiche Valencia an. Die in diesem
ganzen Landgebiet von altersher ansässige jüdische Bevölkerung be-
trachtete er, gleich den französischen Königen, als sein persönliches
Eigentum. „Die in unseren Besitztümern lebenden Juden und Saraze-
nen — so lautet das für seine Regierung maßgebliche Grundgesetz —
gehören dem König und unterstehen mitsamt ihrem ganzen Vermögen
unserer Vormundschaft. Jeder, der sich unter die Vormundschaft ir-
gendeines Edelmannes begeben sollte, wird mit dem Tode bestraft
und sein Besitz zugunsten des Königs ein gezogen werden“. Hier kennt
man keine Einteilung der Juden in königliche und seigneuriale wie in
Frankreich: der König ist der alleinige Vormund der Juden wie auch
der in den unterworfenen Provinzen lebenden Mauren. Unter diesen
Umständen hätte auch Jakob I., ein Zeit- und zum Teil Gesinnungs-
genosse Ludwigs des Heiligen, gleich diesem manches Experiment im
Geiste der damals so kriegerischen Kirche mit „seinen Juden“ unter-
6 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
8l
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
nehmen können, wenn er nicht selbst von ihnen ebenso abhängig ge-
wesen wäre wie sie von ihm. Für seine Kriege gegen die Mauren und
für den Ausbau des erweiterten Staates fortwährend große Geldsum-
men benötigend, stützte er sich auf die Juden als auf einen mäch-
tigen finanziellen Apparat, ohne den er weder hätte ein „Conquista-
dor“ sein noch auch überhaupt sein Land leidlich verwalten können.
Der König preßte zwar der jüdischen Bevölkerung alle möglichen Ab-
gaben ab und nahm überdies bei einzelnen reichen Juden oder bei
ganzen Gemeinden nicht nur für Staatszwecke, sondern auch für sei-
nen persönlichen Aufwand Anleihen auf, doch ließ er im übrigen
seine jüdischen Untertanen gewähren und räumte ihnen weitestgehende
Gewerbefreiheit ein. Freilich vergaß er hierbei nicht an seine Pflich-
ten als christlicher König, als treuer Diener Roms und Gönner der
Mönchsorden, insonderheit der Dominikaner, deren Zahl damals in
Aragonien immer mehr zunahm. Der König unterstützte sie in ihren
zur Bekehrung der Juden unternommenen Versuchen und versuchte
auch selbst, den Kirchenkanons Geltung zu verschaffen, fand sich
aber mit dem ihm hierbei beschiedenen Mißerfolg leicht ab: was
konnte auch die Mißachtung der Gebote Roms gegenüber einer Fi-
nanzkrise bedeuten, die den Verlust einer ganzen Reichsprovinz hätte
nach sich ziehen können?
Die in den Archiven erhalten gebliebenen zahlreichen Urkunden
aus der Regierungszeit Jakobs I. werfen ein helles Licht auf die so-
ziale Lage der aragonischen Juden. Die wichtigsten Gemeinden be-
standen in der aragonischen Hauptstadt Saragossa und der Hauptstadt
Kataloniens Barcelona, doch existierten bedeutende Gemeinden auch
in den Städten Calatayud, Daroca, Huesca, Barbastro, Lerida, Va-
lencia, Tortosa, Gerona, Besalu, Perpignan, Montpellier sowie in an-
deren Orten der alten und der neu angegliederten Provinzen. Das
Bestreben Jakobs I. ging nämlich dahin, die Städte in den den Musel-
manen entrissenen Gebieten vornehmlich mit Juden zu besiedeln. So
verteilte er nach der Eroberung von Valencia (i238) viele maurische
Häuser nicht nur unter seine Soldaten, sondern auch unter die Ju-
den; daneben wurden diesen außerhalb der Städte Äcker, Obstgärten
und Weinberge zugeteilt. Im Jahre 1247 stellte der König allen Ju-
den, die sich in Mallorca, Katalonien und Valencia niederlassen woll-
ten, das Vollbürgerrecht in Aussicht. Er berief dahin sogar Juden aus
Fez und Marokko. In Mallorca wies er den neuen Ansiedlern einen
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§ 10. Aragonien unter Jakob 1.
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Stadtteil in der Nähe seines Palastes an und verlieh ihnen verschiedene
Vorrechte. In Montpellier, wo die Juden in zwei Vierteln, in dem des
Königs und dem des Bischofs, ihren Wohnsitz hatten, erließ Jakob I.
denjenigen Juden, die aus dem bischöflichen Viertel ins königliche
übersiedelten, die Hauszinssteuer. Es war den Juden grundsätzlich ver-
boten, ohne königliche Genehmigung den Wohnsitz zu wechseln, wäh-
rend die Ausreise nach dem Ausland mit besonders großen Schwierig-
keiten verbunden war. Mit um so größerer Bereitwilligkeit wurden in
Aragonien die vor der harten Vormundschaft Ludwigs des Heiligen
aus Frankreich geflüchteten jüdischen Auswanderer auf genommen.
In der den Juden von Montpellier verliehenen Charte sagt Jakob mit
Stolz, daß er, obwohl die Juden überall in den christlichen Ländern
das Joch der Sklaverei zu tragen hätten, in seinem Herrschaftsbereich
es nicht dulden werde, daß man sie erniedrige oder beschimpfe
(i2 58). Zu Beginn seiner Regierung gelang es den Juden, sich auch
von der Pflicht, das Sonderzeichen zu tragen, für eine Zeitlang zu
befreien; diese Vergünstigung erwirkte beim Papste Honorius III. der
einflußreiche aragonische Hofarzt Isaak Benveniste. Späterhin ver-
mochte allerdings der König dem Drängen der Geistlichkeit nicht län-
ger zu widerstehen und schrieb im Jahre 1228 seinen jüdischen Un-
tertanen vor, einen runden gelben Fleck (rota) auf dem Obergewand
oder einen Überwurf mit runder Kapuze (capa rotunda) zu tragen;
aber auch nach diesem Erlaß wurden einzelne Gemeinden auf beson-
dere Fürsprache hin von der Erfüllung dieser Vorschrift befreit (z. B.
die von Barcelona im Jahre 1268 und sonst). Überdies gestattete der
König den auf Reisen begriffenen Juden, zur Vermeidung von Unan-
nehmlichkeiten statt des vorschriftsmäßigen Überwurfs den landes-
üblichen zu tragen. Gänzlich unberührt von der Kleiderordnung blie-
ben die königlichen Finanzagenten. In Montpellier wurden namentlich
den Einwohnern der königlichen „Juiverie“ mancherlei Erleichterun-
gen in dieser Hinsicht gewährt, um sie dadurch dem bischöflichen
Stadtviertel abspenstig zu machen, wo man den Juden noch viel „ent-
ehrendere Zeichen“ auf nötigte. Überdies trug der König Sorge für die
Sicherheit der Juden in den unheilschwangeren Tagen der Karwoche,
besonders am Karfreitag, an dem die durch die „Passionsspiele“ auf-
gestachelten Christen nach altem Volksbrauch ihre jüdischen Mitbürger
sowohl auf offener Straße wie in ihrer Häuslichkeit zu belästigen
pflegten. Indessen geriet auch Jakob I. zuweilen unter den Einfluß
6*
83
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
der Geistlichkeit und traf dann Verfügungen, die die Beziehungen
zwischen Juden und Christen überaus gespannt machten: so zwang er
die Juden, den Missionspredigten der Dominikaner beizuwohnen sowie
mit diesen über Glaubensfragen öffentlich zu disputieren, und nahm
keinen Anstand, gleich Ludwig dem Heiligen, auch die jüdischen reli-
giösen Bücher zu verfolgen.
Der zwischen Gesetz und Praxis klaffende Widerspruch kam auch
sonst in der Handlungsweise dieses Monarchen nur zu oft zum Vor-
schein. Zu Beginn seiner Regierung nahm er, dem Drängen der Geist-
lichkeit nachgebend, eine Reihe von Kirchenkanons in das gemeine
Recht auf, so auch jenen, der den Juden die Bekleidung öffentlicher
Ämter untersagte. In der Praxis wurde aber dieses Gesetz von Jakob I.
ständig mißachtet und er pflegte seine jüdischen Untertanen nicht
nur zu Steuereinnehmern zu ernennen, sondern zuweilen auch in das
verantwortliche Amt eines „Bajulus“, d. i. eines königlichen Stadt-
richters oder Fiskals, einzusetzen. So war Jehudci de Cavalleria lange
Zeit als königlicher Bajulus in Saragossa tätig, ebenso wie Vidal S,alo-
mon und Beneveniste de Porta in Barcelona und Astrug Jakob in Tor-
tosa. Überdies bekleideten Juden sowohl am Hofe des Königs wie an
-dem seines Sohnes, des Infanten Pedro, das Amt von „Alfaquimen“
oder Übersetzern aus dem Arabischen und anderen Sprachen ins Ka-
stilische und wurden auch mit verschiedenen diplomatischen Auf-
trägen betraut (so Bahiel, Bonsenior u. a.). Es verdient noch Erwäh-
nung, daß Jakob I. gleich vielen anderen Herrschern jener Zeit seine
Gesundheit wie die seiner Familie, ohne sich an das Kirchen verbot zu
Ikehren, der Fürsorge jüdischer Ärzte anzuvertrauen pflegte.
Die finanzielle Machtstellung verlieh denen, die die Kirche zu Skla-
ven erniedrigen wollte, Einfluß und Ansehen. Dies der Grund, wes-
halb sich die Warenhandel, Gewerbe und an einigen Orten auch Land-
wirtschaft1) treibenden aragonischen Juden mit ganz besonderer Vor-
liebe dem Kreditgeschäft zuwandten. Jakob I. strebte nun danach,
1) Aus den amtlichen Akten ist zu ersehen, daß die Juden 'Farmen (al-
querias), Gärten und Weinberge besaßen und mit Getreide, Öl, Käse, Tuch sowie
anderen „nach Maß und Gewicht verkäuflichen“ Waren, wie auch mit Vieh han-
delten. Daneben gab es unter ihnen Schiffsreeder, die das Transportgeschäft zwi-
schen den Häfen Spaniens und Marokkos betrieben. Indessen kam es oft vor, daß
den Juden kraft der Ortsbräuche oder „fueros“ der Handel mit Lebensmitteln und
einigen anderen Artikeln untersagt wurde. Manche Notizen bezeugen außerdem
das Gedeihen bedeutender jüdischer Werkstätten.
84
§10. Aragonien unter Jakob I.
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diese Geschäfte in geregelte Bahnen zu lenken. Seit dem Jahre 1228
war in Aragonien ein von dem König, den Adelscortes und den
Kirchenkonzilen mehrmals bestätigtes Gesetz in Kraft, wonach die
Höhe des von den jüdischen Geldgebern geforderten Zinsfußes zwan-
zig Prozent pro Jahr nicht übersteigen durfte. Bei Abschließung der
Kreditgeschäfte hatten die Notare darauf zu achten, daß dieses Ge-
setz nicht durch Einkalkulierung des Zinsgewinnes in das geschuldete
Kapital umgangen werden sollte, wie dies bei christlichen Wucherern
(z. B. bei den italienischen „Lombarden“) gang und gäbe war. In
manchen Gegenden mußten sich die christlichen Gläubiger mit
einem Zinsfuß von zwölf Prozent bescheiden, während die Juden volle
zwanzig Prozent beanspruchen durften. Die Übertretung dieses Ge-
setzes wurde durch Einziehung der gesamten Schuldsumme bestraft,
von der die eine Hälfte dem königlichen Schatz zufiel, die andere dem
Schuldner zugute kam. Der König hatte das Recht, in die jüdischen
Finanzoperationen entscheidend einzugreifen: er konnte nach Gut-
dünken entweder die Begleichung der Schuld stunden oder aber den
Schuldner zu pünktlicher Rückzahlung nötigen. Es bedarf kaum der
Erwähnung, daß der König dieses Recht zu seinem eigenen Vorteil
auszunützen wußte, indem er diejenigen Finanzmänner, die ihm selbst
günstige Kreditbedingungen bewilligten, tatkräftig unterstützte und
ihnen sogar die Übertretung des Zinsgesetzes gnädigst nachzusehen
pflegte. Zur Sicherung der bei den reichen Juden aufgenommenen
Anleihen stellte ihnen Jakob I. nicht selten die Steuereinkünfte ir-
gendeines Bezirkes oder einer jüdischen Gemeinde zur Verfügung. So
kam es häufig vor, daß die jüdischen Gemeinden (Aljama) den Gläu-
bigern des Königs dessen Schulden zurückzahlen mußten, wie dies
aus den Urkunden jener Zeit zu ersehen ist, in denen viele solche Ab-
rechnungen zwischen König und Gemeinden zu finden sind. Zuweilen
schossen die Gemeinden selbst die erst zu einem späteren Termin fäl-
ligen Steuersummen dem König vor, und so verwandelten sich die
Gemeindekassen im Laufe der Zeit in Banken zur Finanzierung des
Königs und des Infanten. Als Kompensation für diese in Zeiten
größter Geldverlegenheit gewährten Vorschüsse verlieh ihnen der Kö-
nig weitgehende Freiheiten oder setzte von früher her bestehende
Rechtsbeschränkungen außer Kraft. Auf diese Weise wurden jüdische
Kreditoperationen, Personal- und Gemeindesteuerlasten mit den kö-
niglichen Anleihen in einen einzigen festen Knoten verknüpft.
85
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
Die Belastung der Juden war enorm: sie mußten direkte und in-
direkte, Kopf- und Kollektivsteuern, Brücken- und Ausfuhrzölle so-
wie Abgaben von ihren Handels- und Kreditgeschäften entrichten.
Neben der Geldsteuer waren ihnen auch Naturalleistungen auferlegt,
so z. B. die „Quartierpflicht“: während des Aufenthaltes des Königs
oder des Infanten in der Provinz mußten nämlich die ortsansässigen
Juden ihnen und ihrem Gefolge entsprechende Unterkunft gewähren
und auch die Unterhaltskosten bestreiten. Manche Herren des könig-
lichen Gefolges nützten ihr Privileg zu willkürlichen Requisitionen
aus, indem sie in den jüdischen Häusern und Läden das Beste ausi-
suchten und ohne Entgelt an sich nahmen. Auf die aus diesem Anlaß
von den verschiedenen Gemeinden (in Barcelona, Villafranca, Gerona,
Tarragona u. a.) vorgebrachten Beschwerden hin räumte Jakob I. den
Juden die Befugnis ein, den Personen des königlichen Gefolges, ja
sogar den Infanten und den Mitgliedern des Königshauses den Ein-
tritt in ihre Häuser und Läden zu verwehren; an manchen Orten
wurde die Quartierpflicht der Juden bei Hofbesuch auf die Herbei-
schaffung von Bettwäsche für zehn Personen beschränkt. Dieses Ent-
gegenkommen konnte freilich den auf den Gemeinden lastenden
Steuerdruck nur ganz unerheblich erleichtern. Verstand es doch Ja-
kob I. noch besser als die anderen zeitgenössischen Herrscher, die
Steuerschraube anzuziehen: für seine fiskalischen Zwecke pflegte er
nämlich viel häufiger die Dienste der Gemeindeverwaltung als die der
privaten Steuerpächter in Anspruch zu nehmen. Die Selbstverwaltungs-
behörde trieb bei den Gemeindemitgliedern neben den kommunalen
Abgaben (vicinalia) zugleich auch die königlichen ein, so daß dem
König stets ein Vorwand zur Verfügung stand, sich den gesamten
Steuer betrag vorschießen zu lassen oder seine eigenen Schulden auf
die Gemeinde abzuwälzen, was für ihn freilich viel gewinnbringender
war als die Vermittlung der auf ihren eigenen Vorteil bedachten
Steuerpächter. Die Gemeinde nützte aber ihre wichtige Rolle in der
staatlichen Finanzmaschinerie zur Erweiterung ihrer Autonomie wie
überhaupt zur Verteidigung der jüdischen nationalen Interessen aus.
So kam es, daß sich die aragonischen Juden einer so weitgehenden
Autonomie erfreuten, wie sie ihnen in der behandelten Epoche
nirgends sonst zuteil geworden war. Nirgends wurden aber auch
diese Gunstbezeugungen so häufig von Repressivmaßnahmen ab-
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86
§11. Die autonome Gemeinde (Aljama)
gelöst wie in diesem Lande, wo rings um den Thron des klugen und
energischen Monarchen die dominikanische Inquisition ihre Ränke
schmiedete.
§ 11. Die autonome Gemeinde (Aljama)
Im XIII. Jahrhundert lebten die Juden überall in Aragonien ab-
gesondert von den Christen in besonderen Straßen. Im jüdischen Vier-
tel (Call judaicum, Juderia) gab es zwar hie und da einzelne christ-
liche Häuser, doch gingen auch diese nach und nach in jüdische Hände
über (einem Befehle Jakobs I. gemäß durften nämlich solche Häuser
ausschließlich an Juden verkauft werden). An manchen Orten führte
ein besonderer Toreingang in der Stadtmauer oder am Ende der be-
treffenden Straßen in das jüdische Viertel, so daß der ganze Stadt-
teil in Notfällen von der Außenwelt abgesperrt werden konnte. Die
territorial in der „Juderia“ zusammengefaßte Gemeinde war durch
die nationale Selbstverwaltung in gewissem Maße auch politisch zu
einer Einheit verbunden. Die jüdische Gemeinde, in Spanien „Al-
jama“ oder „Alhama“1) genannt, galt seit der Zeit Jakobs I. als eine
völlig autonome Organisation, die ihre eigenen gewählten Vorsteher
sowie ihre besonderen administrativen und gerichtlichen Behörden be-
saß. Dem König und seinen Provinzialstatthaltern stand nur das Recht
der Bestätigung und der Kontrolle der von der Gemeinde ernannten
Amtspersonen zu. Aus den erhalten gebliebenen zahlreichen Urkunden
ist indessen zu ersehen, daß der König, der auf die jüdische Selbst-
verwaltung ein scharfes Auge hatte, zuweilen keinen Anstand nahm,
in die Gemeindeangelegenheiten selbstherrlich einzugreifen. Die Re-
gister der zu bestätigenden neuerwählten Gemeindeältesten oder „Adel-
antados“ wurden von ihm auf das sorgfältigste geprüft. Auch die
Rabbiner und die nach jüdischen Gesetzesnormen („asuna“) Recht
sprechenden Richter mußten von dem König in ihrem Amte bestätigt
werden. Überdies bedurften die wichtigeren Beschlüsse des Gemeinde-
rates der königlichen Konfirmierung; nötigenfalls regte der König
auch selbst die Beschlußfassung über neue Maßnahmen an, die er
1) Das Wort „aljama“ rührt von dem arabischen „al-djamaa“ her, das in der
Form: „djamaa-al-jehud“ als Bezeichnung für die jüdische Gemeinde oder deren
Gemeinderat gebräuchlich war. Von den Spaniern übernommen, wurde das Wort
der kastilischen Aussprache des Lautes j gemäß „alhama“ ausgesprochen, wie
dies aus seiner lateinischen Transkription in einem aus dem Jahre 1268 stam-
menden Dekret Jakobs I. zu ersehen ist.
87
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Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
mit dem hebräischen Ausdruck „Tecana“ („Takana“) zu bezeichnen
pflegte. So wird in den königlichen Dekreten den Gemeinderäten nicht
selten vorgeschrieben, über Gesetzesübertreter oder über säumige
Steuerzahler den Bannfluch (in den Akten: „Cherem“ und „Nidduj“,
spanisch „Alatma“ vom Worte „Anathema“) zu verhängen. Dies hin-
derte indessen den König nicht, die Verurteilten, die unter seiner be-
sonderen Protektion standen, in den vorigen Stand wieder einzusetzen
und von den Gemeinden zu verlangen, daß sie die Exkommunizierten
aus der Andachtsgemeinschaft nicht ausschließen und sie auch sonst
nicht der Ächtung preisgeben. Es kam auch vor, daß der König seine
Favoriten zum Zeichen besonderer Gunst von der Wirkung der
„Tecana“ oder des „Cherem“ im voraus eximierte.
Eine weitgehende Autonomie, die aber gleichfalls im freien Er-
messen des Königs ihre Schranke fand, wurde den Aljamas auf dem
Gebiete der Rechtspflege eingeräumt. Streitsachen zwischen Juden
mußten von dem jüdischen Gericht und nach jüdischem Recht ent-
schieden werden, aber auch Prozesse zwischen Juden und Christen
konnten auf deren Wunsch vor jüdischen Richtern ausgetragen wer-
den. Das Richterkollegium setzte sich aus dem Rabbiner und drei von
dem Gemeinderate ernannten „Dajanim“ zusammen, zu denen sich in
wichtigeren Fällen auch noch Beisitzer gesellten, so daß der Gerichtshof
dann im ganzen aus zehn Personen bestand. Dieses Gericht war sowohl
für zivil- wie für strafrechtliche Sachen zuständig (im letzten Falle
nur, soweit sie Juden betrafen). Für schwerere Kriminalverbrechen
war eine kompliziertere Prozeßordnung vorgesehen: der vollzählige,
zehngliedrige Gerichtshof verhandelte im Beisein des Bajulus und be-
kräftigte bei der Schuldigsprechung seine Entscheidung durch einen
Eid, worauf der Bajulus das Urteil sprach, das auch auf Todesstrafe
lauten konnte. Ein solches Prozeßverfahren war z. B. für Gemeinde-
mitglieder von lasterhaftem Lebenswandel vorgeschrieben, denen die
Ältesten Unredlichkeit zur Last legten oder als Denunzianten („mal-
sin“, wie der hebräische Ausdruck in den amtlichen Urkunden
lautet) bloßstellten. Indessen mischte sich der König nicht selten
auch in die autonome Gerichtsbarkeit ein, indem er die rechtskräftig
gewordenen Urteile wieder außer Kraft setzte und sogar auf die Zu-
sammensetzung des Gerichts durch Ernennung ihm gefälliger Richter
Einfluß nahm, was freilich auf den energischen Widerstand der Ge-
meinderäte stieß. Streitsachen zwischen Juden und Christen wurden
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§11. Die autonome Gemeinde (Aljama)
gewöhnlich vor dem allgemeinen Landgericht unter dem Vorsitz des
„Bajulus“ oder des Richters, des „Alcaide“, verhandelt; zuweilen wur-
den zu diesem Richterkollegium auch Juden als Beisitzer zugelassen,
insbesondere bei Prozessen, in denen die jüdischen religiösen Bräuche
eine Rolle spielten. Die von einem Christen gegen einen Juden vorge-
brachte Beschuldigung galt nur dann als erwiesen, wenn sie von zwei
Zeugen, einem Juden und einem Christen, bekräftigt wurde. Der Jude
sprach seinen Eid über der Gesetzestafel und nicht über dem „Buche
der Verfluchung“ — dem biblischen Kapitel mit dem Register der die
Abtrünnigen bedrohenden Flüche —, wie dies sonst an vielen Orten
zur Demütigung der jüdischen Prozeßbeteiligten Brauch war. Ver-
boten war es, einen Juden wegen Geldforderungen an einem Sabbat-
oder Feiertage vor Gericht zu zitieren oder zu verhaften; die wegen
solcher Sachen in Haft Befindlichen wurden jeden Freitag Morgen
wie auch am Vorabend anderer jüdischer Feiertage freigelassen unter
der Bedingung, daß sie nach Ausgang des Feiertages freiwillig ins
Gefängnis zurückkehrten.
Trotz der häufigen Einmischung des Königs und seiner Beamten
in die Angelegenheiten der Selbstverwaltung bot diese den Volksfüh-
rern dennoch genügenden Spielraum zur Ausgestaltung einer festen
inneren Gemeindeorganisation. Der König wies auch seine Beamten
wiederholt an, die jüdische Autonomie in jeder Weise zu schützen
und der Autorität der Gemeinderäte Geltung zu verschaffen (so war
namentlich die Ehre der Gemeinderatsmitglieder durch verschärfte
Sanktionen unter besonderen Schutz gestellt). Indessen war die Re-
gierung hierbei, wie kaum hervorgehoben zu werden braucht, weniger
auf die nationalen Interessen der Juden als vielmehr auf ihre eigenen
fiskalischen Vorteile bedacht. Wie bereits oben erwähnt, war die Al-
jama für den König nur ein Werkzeug, um die verschiedenartigsten
Abgaben aus der jüdischen Bevölkerung auszupressen, sowie ein Mittel
zur Durchführung von allerhand finanziellen Transaktionen. Je weit-
gehender nämlich die Gewalt der Gemeinderäte war, um so leichter
konnten mit ihrer Hilfe die Steuern und außerordentlichen Abgaben
eingetrieben werden. So enthalten denn auch die amtlichen Urkunden
jener Zeit vornehmlich Steuerabrechnungen zwischen König und Ge-
meinde sowie die darauf bezügliche Geschäftskorrespondenz. Bald
melden Abgeordnete der einzelnen Gemeinden oder ganzer Bezirke ihr
Erscheinen bei Hofe an, zwecks Vorlegung von Rechenschaftsberich-
89
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
ten über ein getriebene Staatssteuern sowie über auf Kosten des Staats-
schatzes vorgenommene Zahlungen und sonstige Ausgaben, bald ist es
der König, der die Gemeinden zur Beteiligung an dem Gemeindever-
tretertag eines ganzen Bezirkes oder einer Provinz zwecks entsprechen-
der Verteilung der aufzubringenden Pauschalsteuersumme auffordert.
Auf den Einfall, das Steuerwesen in dieser Weise zu zentralisieren, kam
der König erst im letzten Jahrzehnte seiner Regierung; seitdem pflegte
man in jeder der drei Hauptprovinzen seines Reiches: in Aragonien,
Katalonien und Valencia sowie auf den französischen Besitzungen und
auf den Balearen solche Zusammenkünfte der jüdischen Gemeinde-
vertreter Jahr für Jahr abzuhalten. Wiewohl sich die Abgeordneten
hierbei in erster Linie mit der Verteilung der üblichen Steuerlasten
und der außerordentlichen Abgaben befaßten, beschränkte sich ihre
Tätigkeit selbstverständlich nicht allein darauf. Vielmehr berieten sie
zugleich über ihre gemeinsamen materiellen und geistigen Angelegen-
heiten, arbeiteten gleichartige Selbstverwaltungsstatute aus und war-
fen auch Fragen allnationalen Charakters auf. So trugen die fiskali-
schen Interessen der aragonischen Krone nicht nur zur Festigung der
jüdischen Gemeindeautonomie in den einzelnen Städten, sondern auch
zum Zusammenschluß der Gemeinden und somit zur nationalen Ver-
einheitlichung der Judenheit bei, was freilich den Absichten der da-
maligen Herrscher durchaus fern lag. Erleichterte doch der nationale
Zusammenschluß den Kampf der Juden gegen die dunklen Mächte des
Klerikalismus, denen auch der kühl rechnende Jakob I. nicht immer
standzuhalten vermochte.
§ 12. Die kirchliche Politik und die Disputation in Barcelona
Unter Jakob I. war Aragonien zu einer der wichtigsten Hochbur-
gen des Mönchsordens der Dominikaner geworden. Das Haupt dieses
Ordens, Raimund von Pennaforte, war zugleich der Beichtvater des
Königs. Auf Betreiben der mit dem römischen Papst in ständiger Füh-
lung stehenden Mönche wurde in Aragonien zur Verfolgung der Ka-
tharer und sonstiger christlicher Schismatiker die Inquisition einge-
führt; daneben waren die Dominikaner bestrebt, eine rege Missions-
tätigkeit unter den Juden und den Mauren zu entfalten. Mit schwerer
Besorgnis erfüllte die Geistlichkeit namentlich der Aufschwung der
jüdischen Gemeinden Aragoniens und die ihnen vom König gewährte
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§12. Die Disputation in Barcelona
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Mißachtung der Kirchenkanons, wie sie namentlich in der Beförde-
rung von Juden zu dem hohen „Bajulus“-Amt oder in ihrer Anstel-
lung als Finanzagenten zum Ausdruck kam. So fehlte es denn nicht
an Versuchen, den König entsprechend zu beeinflussen: sein Beicht-
vater Pennaforte sowie angesehene Bischöfe gaben sich alle Mühe,
ihren König gemäß dem für sie in Ludwig dem Heiligen verkörper-
ten idealen Herrschertypus umzumodeln, doch konnte Jakob I., dem
Baumeister eines neuen Reiches, sein französischer Nachbar, der durch
blinde Kirchenpolitik seinen eigenen Staat nur untergrub, nichts we-
niger als ein Vorbild erscheinen. Immerhin blieb die klerikale Agi-
tation am aragonischen Hofe nicht ganz ohne Folgen. Gegen Ende
seines Lebens fand sich nämlich der auf finanziellem Gebiete nach wie
vor um die Gunst der Juden buhlende König dazu bereit, seine Sün-
den durch Gewährung mancher Konzessionen an die heiligen Väter zu
büßen. So gestattete er den „predigenden Brüdern“, ungeachtet der
den Gemeinden zugesicherten Religionsfreiheit, unter den Juden eine
religiöse Propaganda zu entfalten.
Die Dominikaner ließen es sich angelegen sein, auf ihren Schulen
gewandte und im hebräischen Schrifttum wohl bewanderte Wort-
kämpfer auszubilden. Besonders willkommen waren ihnen Überläufer
aus dem jüdischen Lager, die die „Verirrungen“ des Talmud und son-
stige rabbinische „Irrlehren“ zu entlarven vermochten. Ein solcher
für die Kirche überaus wertvoller Agitator sollte schon bald nach der
von den Dominikanern mit Beistand des Renegaten Donin erwirkten
Talmudverbrennung (oben, § 4) auch in Südfrankreich und in Ara-
gonien auftauchen. Aus der Provence gebürtig, hatte nämlich Paulus
Christiani oder Bruder Pablo (fra Pablo) gleich Donin die jüdischen
Reihen verlassen, um in die Phalanx der streitbaren Kirche, in den
Dominikanerorden, einzutreten. Mit dem Namen des Apostels ge-
schmückt, durchzog der Renegat die Provence und Katalonien (um
1260), forderte Rabbiner zu religiösen Disputationen heraus und
suchte die Wahrheit der christlichen Dogmen auf Grund der Bibel
und sogar des Talmud zu beweisen, ohne freilich auch nur den gering-
sten Erfolg zu erzielen. In der Stadt Gerona, dem Mittelpunkt der tal-
mudischen Gelehrsamkeit, lebte um jene Zeit der weise und allgemein
beliebte Rabbiner Moses ben Nachman, dessen spanischer Name (Bo-
nastrug de Porta) längst in Vergessenheit geraten ist, der aber unter
91
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
seinem abgekürzten literarischen Namen: Nachmanides oder Ramban
bis auf den heutigen Tag im Andenken des Volkes fortlebt. In den
konservativen Kreisen des Judentums genoß Ramban hohes Ansehen
als mystisch veranlagter Theologe und als Gegner des Maimonidischen
Rationalismus (s. das folgende Kapitel). Er war es nun, den sich
Pablo Christiani zum Gegner iji einer öffentlichen religiösen Disputa-
tion ausersehen hatte. Der Mönch verstand es, seinen Ordensbrüdern
die Überzeugung beizubringen, daß er aus dem theologischen Streit
mit dem Rabbiner als Sieger hervorgehen würde, und so suchten denn
die Mönche von Gerona bei dem König die Veranstaltung einer öffent-
lichen Diskussion in der Hauptstadt Kataloniens, Barcelona, zu erwir-
ken. Ihr Anliegen wurde auch von Raimund Pennaforte unterstützt,
der seinem königlichen Beichtkind einredete, daß der Sieg des Paulus
über seine ehemaligen Glaubensgenossen einen Triumph des Christen-
tums bedeuten und vielleicht gar den Juden die Augen öffnen würde.
Der König gab denn auch seine Einwilligung. Er setzte die Disputa-
tion auf den Juli des Jahres 1263 fest und sandte an „Rabbi Moses,
den Meister der Juden von Gerona“, ein Schreiben, in dem er ihn mit-
samt seinen gelehrten Genossen zu einer religiösen Disputation einlud.
Obwohl mit Widerwillen,, nahm Ramban die Einladung dennoch an
und erschien an dem festgesetzten Tage in Barcelona.
Die Disputation begann am 20. Juli 1263 und dauerte vier Tage.
Sie fand in dem königlichen Palast, im Beisein des Königs, seiner
Hofleute, vieler Ritter, Bischöfe und Mönche sowie einiger Gelehrter
aus dem Gefolge des Ramban statt. Pablo Christiani ließ nun ver-
lauten, daß, obwohl die Wahrheit des Christentums über alle Zweifel
erhaben sei, er doch zu einer Diskussion über die Dogmen der christ-
lichen Religion bereit sei, um den Juden auf Grund ihres eigenen reli-
giösen Schrifttums die folgenden vier Thesen zu beweisen: 1. Der von
den Juden erwartete Messias sei schon längst erschienen; 2. der Mes-
sias sei, den biblischen Prophezeiungen gemäß, Mensch und Gott in
einem Wesen; 3. der Messias hätte das Martyrium und den Tod um
der Erlösung des Menschengeschlechtes willen erlitten; 4- alle Gesetze
und Vorschriften der Thora hätten nach dem Erscheinen des Messias
ihre Gültigkeit eingebüßt. Ramban war sich wohl im klaren darüber,
welchen Gefahren der jüdische Wortführer bei der Erörterung solcher
Fragen ausgesetzt war; je entschiedener er diese grundlosen Behaup-
tungen widerlegen würde, um so größer würde die Entrüstung ihrer
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§12. Die Disputation in Barcelona
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Streitern der Inquisition schon längst geläufig gewordene Beweismittel
reichlich zur Verfügung standen. So wandte er sich denn vorher an
den König und an Pennaforte mit der Bitte, ihm volle Redefreiheit zu
gewähren. Pennaforte stellte indessen die Gegenbedingung, daß der
Rabbiner der Ehre der Kirche nicht zu nahe träte, worauf Ramban
ihm zur Antwort gab: „Aber freilich, ich will ja nicht eurem Gerichte
verfallen. Ich möchte nur, daß mir die gleiche Redefreiheit gewährt
sei wie euch und ich werde schon in meiner Ausdrucksweise den An-
stand zu wahren wissen“. Daraufhin wurde dem Antrag des Ramban
stattgegeben. Zur Begründung seiner ersten These berief sich nun-
mehr Paulus Christiani auf die von den Christen schon so oft falsch
gedeuteten Bibelverse, z. B.: „Es wird das Zepter von Juda nicht ent-
wendet werden, bis daß der Erlöser komme“, wobei er triumphierend
ausrief: Das Zepter ist ja den Juden schon längst entrissen, ihr habt
weder König noch Land und Christus der Erlöser ist es also, mit des-
sen Kommen die Juden ihres irdischen Reiches verlustig gegangen
sind. Ramban hielt ihm aber entgegen, es sei ja schon früher einmal
der Fall gewesen, daß die Juden ihres Staates zeitweilig beraubt wor-
den waren, nämlich während des babylonischen Exils, und doch sei
der Messias, auch nach dem Glauben der Christen, damals noch nicht
erschienen. Auch in der talmudischen Haggada suchte Paulus eine
Reihe dunkler Stellen heraus, die, wie er meinte, auf das schon er-
folgte Erscheinen des Messias hinwiesen. Nun entspann sich ein langer
Wortkampf, in dessen Verlauf Ramban die ironische Bemerkung fal-
len ließ: „Fra Pablo scheint also den Talmud besser zu kennen als
die Talmudisten selbst. Seiner Meinung nach erkannten sie sowohl
Jesus wie seine Lehre an, warum handelten sie aber dann nicht wie
fra Pablo (nahmen nicht die Taufe an)?“ Unter anderem führte Ram-
ban auch das übliche jüdische Argument gegen das Christentum ins
Treffen: noch immer sei die Weissagung der Propheten, wonach mit
dem Erscheinen des Messias eine Ära ewigen Friedens anbrechen
würde, nicht in Erfüllung gegangen: „Heißt es doch, daß die Völker
dann ihre Schwerter in Pflugscharen umschmieden und nicht mehr
kämpfen lernen werden, wie schlimm würde es aber dir, o König —
so wandte sich der Rabbiner an den königlichen Eroberer — und dei-
nen dich hier umgebenden Rittern ergehen, wenn ihr das Kriegshand-
werk schon jetzt verlernen wolltet!“
93
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
Um dem fruchtlosen Debattieren über die Auslegung verschiedener
Textstellen ein Ende zu machen, erklärte Ramban dem König, daß
der Streit zwischen Judentum und Christentum letzten Endes nicht
auf das messianische Dogma, sondern auf die verschiedene Auf-
fassung des göttlichen Wesens zurückgehe: „Von dem Wesen der
Gottheit sagt ihr aber etwas aus, was (uns) sehr schmerzlich berührt.
Du, mein Herr und Gebieter, bist der Sohn eines Christen und von
einer Christin geboren, dein Leben lang hämmerten dir deine Priester
und Mönche eine Vorstellung von der Gottheit ein, wie sie dem Dogma
eures Glaubens entspricht; indessen ist diese Vorstellung sowohl der
Vernunft wie der Natur zuwider, und auch die Propheten haben kei-
nesfalls daran glauben können, daß der Schöpfer des Himmels und
der Erde in einer Jüdin Mutterleib Fleisch werden, sieben Monate lang
darin reifen, dann als Säugling zur Welt kommen und heran wachsen
werde, um seinen Feinden überantwortet, zum Tode verurteilt und
hingerichtet zu werden, damit er schließlich auferstehe und in seinen
göttlichen Urzustand zurückkehre. Solche Vorstellungen sind für die
Vernunft eines Juden wie eines jeden Menschen überhaupt geradezu
unfaßbar. Umsonst ist daher all eure Redekunst, denn an diesem
wesentlichsten Punkt muß unsere Verständigung scheitern“. Diese
Worte des Ramban beleüchteten schlaglichtartig den klaffenden Ab-
grund, der die christliche Gotteserkenntnis von der jüdischen trennt;
indessen durften die Debatten nicht auf die Spitze getrieben werden,
denn für eine der Parteien hätte der Streit ein schlimmes Ende neh-
men können: auf dem Scheiterhaufen der Inquisition . . .
Schon zeigten sich in Barcelona Anzeichen der Erregung. Die Hof-
ritter äußerten ihren Unwillen über die Verwegenheit des Rabbiners,
der die ihnen heilige Wahrheit zu bestreiten wagte; manche unter den
Stadtnotabein und den geistigen Würdenträgern, darunter ein an der
Disputation beteiligter Minoritenbruder (Franziskaner), rieten Ram-
ban, die Diskussion abzubrechen. Besonders große Unruhe herrschte
im jüdischen Viertel, da man hier die Empörung der christlichen Be-
völkerung und die Rache der Dominikaner befürchtete. In Anbetracht
all dieser beunruhigenden Symptome machte Ramban dem König den
Vorschlag, der Disputation ein Ende zu machen, doch bestand dieser
auf der Fortsetzung der Debatten, denen er mit größtem Interesse
folgte. Anläßlich einer der Repliken des Ramban bemerkte Jakob I.,
daß „er noch nie einer so geistreichen Verteidigung einer ungerechten
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§ 12. Die Disputation in Barcelona
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ein Ende, und wurde schon nach vier Sitzungen jäh abgebrochen. Von
ihrem Ausgang berichtete jede der Parteien in ihrer Weise. In dem
von den Dominikanern abgefaßten Bericht hieß es, daß der „Rab-
biner Moses“, im Vorgefühl seiner Niederlage, einer öffentlichen
Widerlegung des Paulus Christiani aus dem Wege gegangen sei und
versprochen hätte, seine Gegenbeweise in einer geschlossenen Ver-
sammlung vor dem König und einigen Auserwählten vorzubringen,
dann aber, die zeitweilige Abwesenheit des Königs benützend, aus
Barcelona geflohen sei und damit seine „Machtlosigkeit in der Ver-
teidigung des falschen Glaubens“ allen offenbar gemacht hätte. In
dem von Ramban selbst abgefaßten Bericht heißt es hingegen, daß
die Disputation auf Wunsch des Königs zunächst im königlichen
Palast stattgefunden hätte, dann aber in der Synagoge fortgeführt
worden sei, wohin sich an einem Sabbat der König, Raimund Penna-
forte und die „predigenden Brüder“ mit Paulus Christiani an der
Spitze begeben hätten. Hier hätte dann Raimund selbst eine Predigt
über das Dreifaltigkeitsdogma gehalten. Während der Debatten hätte
der König dem Gedanken Ausdruck verliehen, daß die Dreieinigkeit
Gottes mit dem Wein verglichen werden könnte, in dem Farbe, Ge-
schmack und Geruch zu einer Einheit verschmolzen seien. Anläßlich
dieses Gleichnisses des großen Weinkenners erwiderte der mehr in
der Philosophie bewanderte jüdische Denker, daß man Attribute und
Substanz strengstens auseinanderhalten müsse und daß das christliche
Dogma gerade das substantielle Wesen der Gottheit als dreifältig er-
achte. Auf die Bemerkung des Paulus, das Dreieinigkeitsdogma sei ein
tiefes Mysterium, das selbst für die Engel undurchdringlich bleibe,
erwiderte Ramban, daß man um so weniger die Menschen dafür ver-
antwortlich machen dürfe, wenn dieses Mysterium ihrem Verstände
unfaßbar sei. Zum Schluß berichtet Ramban, daß er vom König
gnädig entlassen worden und daraufhin aus Barcelona abgereist sei.
Diese Erzählung eines Hauptteilnehmers der Disputation und eines
Mannes von strengster Wahrhaftigkeit erweckt größeres Vertrauen
als der Bericht der Mönche, in dem die Gereiztheit sogar in dem offi-
ziellen Ton der Darlegung mitschwingt.
Indessen sollte die Disputation in Barcelona für die aragonischen
Juden nicht ohne nachteilige Folgen bleiben. Nachdem den Domini-
kanern von dem kampferprobten jüdischen Theologen eine schwere
95
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
Niederlage beigebracht worden war, beschlossen sie, ihre Propaganda
in die jüdischen Volksmassen zu tragen; das Volk weigerte sich aber,
die „predigenden Brüder“ anzuhören und mußte mit Gewalt zu ihren
Predigten zusammengetrieben werden. Einen Monat nach der Dis-
putation, am 26. August 1263, erließ der König ein Dekret, in dem
den Behörden vorgeschrieben wurde, den Missionaren allerorten Bei-
stand zu leisten, die Sarazenen uiid Juden jeglichen Alters und beider-
lei Geschlechts zu zwingen, den Versammlungen der Ordensbrüder
beizuwohnen und ihre Predigten ohne Widerrede anzuhören sowie
die zur Taufe Geneigten vor Beschimpfung mit dem Schmähnamen
„renegado“ oder „tornadis“ (Renegat, Bekehrter) und vor sonstigen
Anschlägen in Schutz zu nehmen. Zum Leiter der Missionsaktion
unter den Juden wurde wiederum Paulus Christiani ernannt. Durch
einen besonderen königlichen Befehl (vom 29. August) wurde den
jüdischen Gemeinden kundgetan, daß der „zu ihrer Anleitung auf
dem Wege des Heiles“ entsandte Bruder Paulus bevollmächtigt sei,
in Synagogen und Privathäusern zu predigen, wobei von den Juden
verlangt wurde, daß sie diesen Predigten beiwohnen und „voll Ach-
tung und Demut, ohne Ausflüchte“ seine Fragen beantworten sollten;
auch waren sie angehalten, Paulus ihre Bücher zur Prüfung vorzu-
legen und auf seine Forderung hin die das Christentum herabwürdi-
genden Stellen auszumerzen. Am nächsten Tage traf indessen ein
neuer königlicher Befehl ein, der die am Vortage ergangene Ver-
fügung einschränkte, indem er die Juden von dem obligatorischen
Anhören der Missionspredigten und namentlich von der Beteiligung an
den religiösen Disputationen außerhalb des jüdischen Viertels befreite.
Bald erging auch eine authentische Interpretation des königlichen
Dekrets über die Rezensierung der jüdischen Bücher (1264) • eine
aus Kirchenwürdenträgern (Pennaforte, Raimund Martin, dem Ver-
fasser eines judenfeindlichen Buches u. a.) zusammengesetzte Zensur-
kommission sollte die von „Gotteslästerung“ zeugenden Stellen in den
jüdischen Büchern anstreichen und die Besitzer der Abschriften unter
Haftbarmachung der angesehensten Gemeindemitglieder zur Ausmer-
zung dieser Stellen auf fordern. Schon im Jahre 12 65 entband indessen
der König die Gemeinde von Barcelona auch von dieser Verpflichtung
und ließ überdies nochmals kundtun, daß die Juden den Predigten
der Dominikaner, Minoriten und anderer Mönche außerhalb des jü-
dischen Viertels nicht beizuwohnen brauchten. Diese letztere Maß-
96
§ 12. Die Disputation in Barcelona
nähme wurde damit begründet, daß die Juden bei Predigten außer-
halb ihres Viertels Verhöhnungen von seiten der Christen ausgesetzt
seien. Aus demselben Grunde war es den predigenden Missionaren
untersagt, die Synagogen in Begleitung einer christlichen Volksmenge
aufzusuchen, ihr Gefolge durfte vielmehr aus höchstens zehn christ-
lichen Notabein bestehen. All diese sprunghaften Schwankungen zwi-
schen generellen Repressivmaßnahmen und deren teilweiser Aufhe-
bung zeugen davon, daß sich der König unter der Einwirkung zweier
entgegengesetzter Faktoren befand: der klerikalen Partei und der jü-
dischen Bevölkerung, von denen die erste einen Druck auf seine Seele
ausübte, die andere aber auf seine Geldbörse, deren reichen Inhalt er
nicht zuletzt den jüdischen Finanzleuten zu verdanken hatte.
Die klerikale Partei dachte indessen nicht daran, den Kampf auf-
zugeben. Nach der in der Diskussion mit dem geistigen Führer der
Judenheit erlittenen Schlappe suchte die Geistlichkeit einen Vorwand,
um sich an ihm zu rächen. Ein solcher Vorwand wurde denn auch
bald ausfindig gemacht. Um nämlich die Lügenhaftigkeit des von
Paulus Christiani zu Agitationszwecken verbreiteten Berichtes über die
Disputation zu enthüllen, schrieb Ramban eine (unserer Schilderung
zugrunde gelegte) wahrheitsgetreue Darstellung des Disputationsver-
laufes nieder, mit der er verschiedene jüdische Gemeinden durch Ab-
schriften bekannt machte; eine Abschrift davon übergab er auch dem
Bischof von Gerona. Die Dominikaner waren über den Bericht, der
ihre gefälschten Siegesmeldungen Lügen strafte, überaus erbost. Da
in der Darstellung des Ramban auch die von ihm bei der Disputation
gebrauchten unzarten Wendungen über das Dreifaltigkeitsdogma so-
wie seine Worte von dem „aus dem Leibe einer Jüdin hervorgegan-
genen Gott“ wieder gegeben waren, so wandten sich die in der Zensur-
kommission tätigen Mönche an den König mit der Forderung, daß der
Verfasser (in der amtlichen Urkunde wird er mit seinem spanischen
Namen Bonastrug de Porta genannt) wegen Blasphemie belangt werde.
Der König berief denn auch Ramban nach Barcelona, um von ihm
Rechenschaft zu verlangen. Der Beschuldigte erklärte nun in Gegen-
wart des Bischofs von Barcelona und einiger Priester, daß er in sei-
nem Bericht dieselben Ausdrücke wortgetreu wiedergegeben hätte, die
er während der Disputation gebraucht habe, bei der ja der König
selbst ebenso wie Pennaforte ihm Redefreiheit gewährt hätten. Nach
Prüfung der Angelegenheit wurde vom König in Gemeinschaft mit
7 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
97
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
dem Bischof das folgende Urteil gefällt: die Abschriften des Send-
schreibens des Ftamban sollten verbrannt, er selbst für zwei Jahre aus
Aragonien verbannt werden (ia65). Die Dominikaner gaben sich aber
mit dem ihnen viel zu milde dünkenden Urteil nicht zufrieden und
appellierten an den römischen Papst. Daraufhin sandte Clemens IV.
an den König von Aragonien eine Bulle (1266), in der er Um wegen
der Zulassung der Juden zu öffentlichen Ämtern sowie wegen der den
Lästerern der Kirche gegenüber geübten Nachsicht scharf tadelte, den
Verfasser der „von Lügen und Verleumdungen“ strotzenden pole-
mischen Schrift gegen das Christentum aber exemplarisch bestraft
wissen wollte. Ramban lief nun Gefahr, in die Hände der Inquisition
zu fallen, und so zog er es vor, Spanien beizeiten zu verlassen. Der
siebzigjährige Greis begab sich nach Palästina und kam dort im Jahre
1267 wohlbehalten an.
§ 13* Die aragonischen Gemeinden unter Pedro III. und Alfons III.
(1276—1291)
Unter den nächsten Nachfolgern Jakobs I. dauerte der Kampf
zwischen staatlichen und kirchlichen Prinzipien, zwischen Staatsinter-
essen und klerikalen Aspirationen unausgesetzt fort. Der König
Pedro III. (1276—12 85) stand schon als Infant in geschäftlichen
Beziehungen zu den jüdischen Finanzmännern und Gemeindevertre-
tern. Ohne sich an den Protest des Papstes zu kehren, beließ er in der
ersten Zeit seiner Regierung die der katholischen Geistlichkeit so
verhaßten jüdischen Beamten nach wie vor auf ihren Posten. So ge-
langte der frühere Statthalter oder „Bajulus“ von Saragossa, Jehuda
de Cavalleria, unter Pedro zu hohem Einfluß und versah hin und
wieder sogar das Amt des Hauptbajulus, das etwa dem des Regie-
rungspräsidenten einer Reichsprovinz entsprach; in seinen Dekreten
nannte ihn der König „unser Getreuer, der Mann unseres Ver-
trauens“. In späterer Zeit sah indessen Pedro, den Forderungen
der Cortes von Saragossa nachgebend, von der Einsetzung jüdi-
scher Provinzialstatthalter ab. Dagegen nahm er keinen Anstand, den
Juden Samuel Abinnachim als Leibarzt und zugleich als Übersetzer
aus dem Arabischen (Alfaquim) an seinem Hofe anzustellen. Als die
jüdische Gemeinde von Valencia Samuel zur Steuerentrichtung auf-
forderte, erklärte ihr der König, daß königliche Beamte Steuerfreiheit
98
§ 13. Die aragonischen Gemeinden (1276—1291)
genössen. Den Richtern und Verwaltungsbeamten aber gab der König
den Befehl, seinen „getreuen Alfaquim“ vom Tragen des Überwurfes
mit der berüchtigten runden Kapuze zu befreien, da es den dem Ge-
folge des Königs angehörenden Personen nicht gezieme, in der Son-
dertracht der barcelonischen Juden aufzutreten (1284). Nur durch
solche gewundene Ausflüchte konnte eben der auf die Dienste der ge-
bildeten Juden Wert legende König die kirchlichen Gesetze durch-
löchern.
Mittlerweile fuhren die klerikalen Judenhasser fort, mit den ver-
gifteten Waffen der antijüdischen Kirchenkanons zu kämpfen. So
gruben sie ein altes Gesetz wieder aus, demzufolge ein Jude verpflich-
tet war, seine zur Taufe bereiten muselmanischen Sklaven ohne Löse-
geld freizugeben. Die dominikanischen Missionare verlegten sich nun
darauf, die in der jüdischen Landwirtschaft beschäftigten leibeigenen
Mauren zur Taufe zu bewegen, indem sie ihnen die sofortige Be-
freiung von ihrem Frondienst in Aussicht stellten. Die Vertreter der
jüdischen Gemeinden beschwerten sich beim König Pedro über den
dadurch verursachten Ruin vieler landwirtschaftlicher Betriebe und
wiesen darauf hin, daß viele muselmanische Sklaven die Taufe nur
als Vorwand benützten, um ohne Entgelt die Freiheit zu erlangen. Der
König setzte hierauf eine Kommission von Rechtsgelehrten ein, die
nach reiflicher Überlegung zu dem Schlüsse kam, daß es sowohl
nach bürgerlichem wie nach kanonischem Rechte gestattet sei, für
die Freilassung eines vor der Taufe stehenden, jedoch „vom katholi-
schen Glauben noch nicht durchtränkten“ Sklaven ein angemessenes
Lösegeld zu beanspruchen. Auf Grund dieser Entscheidung räumte
der König den Juden das Recht ein, für jeden zur Taufe bereiten
Muselmanen bei dessen Freilassung ein Lösegeld von zwölf Gold-
maravedi zu verlangen (1277). Auch ließ es Pedro III. gleich seinem
Vater nicht zu, daß die Bischöfe die Juden mit willkürlich auferleg-
ten Abgaben überbürdeten. Der Klerus hatte bekanntlich das Recht,
einen „Zehnten“ von an Juden verkauften christlichen Ländereien und
Häusern zu fordern, doch verlangte er nicht selten die Entrichtung
dieser Steuer auch von anderen jüdischen Immobilien und erhob über-
dies an manchen Orten auf die Erstlinge Anspruch. Der König wies
nun seine Beamten an, solchen Forderungen, insbesondere der Bean-
spruchung der Erstlinge, die nicht einmal von den Christen gefordert
zu werden pflegten, energisch entgegenzutreten (1280). — Ferner
7*
99
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
suchten die Mönche auch noch eine andere aus alter Zeit stammende
Art der Judenenteignung neu einzuführen: bei der Anwerbung von
Freiwilligen für den neuen Kreuzzug nach dem Orient (1278) dis-
pensierten sie nämlich auf Grund der einst ergangenen päpstlichen
Bulle die in das Heer eintretenden Schuldner von allen Verpflichtun-
gen gegenüber ihren jüdischen Gläubigern. Pedro III. schrieb hier-
auf an den Bischof von Tarragona, daß sich viele Freiwillige weniger
„zwecks Überquerung des Meeres (um nach Palästina zu gelangen),
als vielmehr um sich vor der Rückzahlung der Schulden zu drücken“
in das Kreuzfahrerheer einreihen ließen, weshalb er darauf bestehe,
daß solche säumigen Schuldner ihren Verpflichtungen pünktlichst
nachkommen.
Die gleiche Politik vertrat auch König Alfons III. (1285—1291).
Auch er verteidigte „seine Juden“ gegen die ihnen feindlich gesinn-
ten Stände. Als der König erfuhr, daß die Mönche in Valencia durch
eine von ihnen in die Schutzmauer des jüdischen Viertels gelegte
Bresche in dieses eingedrungen waren und mit dem Kreuz in der Hand
die Straßen durchzogen, unter den Einwohnern Furcht und Schrek-
ken verbreitend, wies er die Ortsbehörden an, die Öffnung unverzüg-
lich wieder zuzumauern (1287). Den Bewohnern der Juderia stand
nämlich schon von früher her das Recht zu, durch Abriegelung der
Tore den ihnen unwillkommenen Nachbarn den Eintritt zu verweh-
ren. Einige Jahre später teilte man dem König mit, daß von den zwei
Zugängen zum jüdischen Viertel in Villafranca nur der eine durch
Schloß und Riegel gesichert sei, während der andere offen stehe, was
den jüdischen Einwohnern nicht wenig Unannehmlichkeiten verur-
sache; prompt erteilte er den Juden die Erlaubnis, auch an dem bis
dahin ungeschützten Ende des Viertels ein Tor zu errichten, wobei
von den zwei angefertigten Schlüsseln der eine den Juden, der andere
den hier wohnhaften Christen anvertraut werden sollte (1290). Die Ju-
den wußten die Sorge des Königs um ihre Sicherheit wohl zu schätzen
und standen ihrerseits der aragonischen Dynastie in Notfällen treu zur
Seite. Als in der Hauptstadt Saragossa ein Aufstand der Notabein und
Ritter gegen den König ausbrach, hielten sich die Juden von dem Auf-
ruhr fern, was ihnen nach seiner baldigen Unterdrückung von Alfons
dadurch vergolten wurde, daß er sie von der der Stadt auferlegten
Kontribution befreite (1287).
Freilich waren auch unter den Nachfolgern Jakobs I. die gegen-
100
§ 13. Die aragonischen Gemeinden (1276—1291)
seitigen Beziehungen zwischen der obersten Gewalt und den Juden
von dem Prinzip des „do ut des“ beherrscht. Pedro und Alfons gin-
gen ihre „getreuen jüdischen Aljamas“ unaufhörlich um finanziellen
Beistand an. Neben reichlichen Vorschüssen auf Rechnung der in Zu-
kunft fälligen Steuern forderten König und Infant nicht selten finan-
zielle Hilfe für besondere Verwendungszwecke. So sah sich Pedro III.
genötigt, zur Ausrüstung einer Strafexpedition gegen einen aufrühre-
rischen Grafen die Aljamas von Katalonien um eine Unterstützung in
Höhe von iooooo Soldi anzugehen (1282). Die Zusammenkunft mit
dem „ruhmreichen König von England“ veranlaßte Alfons III., „die-
jenigen unter seinen Untertanen, die den Befehlen ihres Königs stets
bereitwilligst Folge leisten“, zu finanzieller Hilfeleistung heranzu-
ziehen und mehreren Gemeinden außerordentliche Abgaben aufzuer-
legen (1287). Nicht wenig Geld kostete die aragonischen Juden auch
die Eroberung von Sizilien, in dessen endgültigen Besitz sich Pedro
nach der „Sizilianischen Vesper“ im Jahre 1282 gesetzt hatte1); für
die dortigen Juden bedeutete freilich die Herrschaft der aragonischen
Könige nach den blutigen Wirren, von denen der Kampf der letzten
Hohenstaufen mit denAnjou’s begleitet war, eine ersehnte Ruhepause.
Die Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinden von Aragonien,
Katalonien und Valencia erfuhr gegen Ende des XIII. Jahrhunderts
eine bedeutende Erweiterung. Die von dem König zwecks Verteilung
der Steuerlasten einberufenen Konferenzen der Gemeindevertreter
wurden nach und nach zu regulären Kongressen, auf denen auch all-
gemeine Fragen der Selbstverwaltung zur Verhandlung kamen. Die
amtlichen Urkunden sowie die rabbinischen Responsen jener Zeit wer-
fen einiges Licht auf die damalige Gemeindeverfassung. Der aus den
„erlesensten Männern“ erwählte Gemeinderat ernannte alljährlich aus
seiner Mitte eine Verwaltung, deren Mitglieder hebräisch „Berurim“
(Erwählte) oder „Neemanim“ (Bevollmächtigte) genannt wurden, was
den spanischen Bezeichnungen „Adelantados“ und „Sekretarii“ ent-
sprach. Unter den Verwaltungsmitgliedern unterschied man je nach
1) Aus den königlichen Akten ist zu ersehen, daß im Jahre 12 85 alle Ein-
künfte der Juden mit einer Steuer in Höhe von zwölf einhalb Prozent zugunsten
des Königs Pedro III. belastet waren. Infolge der übermäßigen Steuerlast waren
die Gemeinden dermaßen verarmt, daß sie sich genötigt sahen, bei Christen hoch-
verzinsliche Anleihen aufzunehmen. Der damalige Rabbiner von Barcelona, Raschba,
schrieb, daß „nicht selten auch die Ernte der ertragreichsten Äcker zur Auf-
bringung der königlichen Steuern nicht ausreiche“.
IOI
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
ihren Funktionen: „Berure-Dajanim“ (Wahlrichter), „Berure-Mi-
doth“ (Maß- und Gewichtkontrolleure), „Berure-Aberoth“ (Strafpre-
diger, Sittenzensoren), „Memunim al ha’mas“ oder „Gabbae mas“
(Steuerverwalter, Steuereinnehmer) usw. Den „Sittenzensoren“ lag
es ob, Leute von anstößigem Lebenswandel und namentlich De-
nunzianten, die aus Eigennutz zuweilen ganze Gemeinden schwe-
rer Gefahr aussetzten, ausfindig zu machen und zur Verantwor-
tung zu ziehen. Für die Entscheidung der wichtigsten Verwaltungs-
angelegenheiten scheint die Vollsitzung des Gemeinderates („Kerue
ha’eda“, „Rasche ha’kehila“) zuständig gewesen zu sein. Eine wich-
tige Rolle spielte im Gemeinderat der „Gesetzeslehrer“ oder Rab-
biner, ohne dessen Mitwirkung keine einzige Frage des jüdischen
Rechts entschieden zu werden pflegte. Auf seine Rechtsberatung war
auch das allgemeine Krongericht angewiesen, da es Streitsachen zwi-
schen Juden nach jüdischem Recht schlichten mußte. In den amt-
lichen Urkunden jener Zeit treten uns denn auch sehr häufig die Na-
men rabbinischer Autoritäten entgegen, wie z. B. der des Salomo ben
Adret (der berühmte Raschba) aus Barcelona, der in einem der kö-
niglichen Dekrete (1281) als „der mit der Entscheidung von Streit-
sachen zwischen Juden betraute Meister der jüdischen Gesetzeslehre“
tituliert wird (unten, § i5).
Den hervorstechendsten Zug dieser Zeit bildet die andauernde Be-
vormundung der jüdischen Gemeinden durch die aragonischen Könige.
Im Archiv von Barcelona haben sich aus den zwei kurzen Regierungen
Pedros III. und Alfons' III., also aus einem Zeitraum von nur fünf-
zehn Jahren (1276—1291), fast zweitausend die Juden betreffende
königliche Akten erhalten. Geht man diese Akten der Reihe nach
durch, so gewinnt man den Eindruck, als hätte der König keine grö-
ßere Sorge gehabt, als mit den überall in seinem Lande verstreuten
jüdischen Gemeinden oder mit den Ortsbehörden über jüdische Ange-
legenheiten zu korrespondieren, als ob deren Regelung im Mittel-
punkt der gesamten Innenpolitik stünde. Meist stellen diese Akten
Steuerquittungen und finanzielle Abrechnungen zwischen König und
Gemeinden sowie Veranlagungen zu außerordentlichen Abgaben dar.
Indessen mischte sich der König zuweilen auch in die inneren Ge-
meindeangelegenheiten ein. So spielte er nicht selten die Rolle eines
Schiedsrichters in Streitsachen zwischen zwei Gemeinden oder zwi-
schen der Gemeindeverwaltung und Privatpersonen. Von fiskalischem
102
§ 13. Die aragonischen Gemeinden (1276—1291)
Interesse geleitet, hatte der König ein wachsames Auge auf diejeni-
gen unter seinen Juden, die zwecks Steuerhinterziehung auf die Be-
sitzungen der Ritter oder der Mönchsorden übersiedelten, ohne dabei
auf ihre Einkünfte von den auf königlichem Boden zurückgelassenen
Gütern zu verzichten; der König ersuchte seine Beamten, die Rück-
stände solcher Flüchtlinge auf die betreffenden jüdischen Gemeinden
abzuwälzen. Zugleich setzte er sich freilich für seine auf den Besitzun-
gen der Edelleute und Bischöfe bedrückten Juden in jeder Weise ein.
Bei der Schlichtung von Privatstreitsachen pflegte der König sehr oft
daran zu erinnern, daß die Entscheidung sich nach den Normen des
jüdischen Rechts („asuna“) zu richten hätte. Als einmal eine Jüdin
aus Saragossa eine Stammesgenossin der Erpressung von Wucher-
zinsen in Mißachtung des den Wucher gegenüber Volksgenossen un-
tersagenden jüdischen Gesetzes beschuldigte, schrieb der König der
Aljama von Saragossa vor, nach Prüfung des wahren Sachverhaltes)
über die Wuchererin den Bannfluch (Alatma, Anathema) zu verhängen
und sie zur Rückzahlung des rechtswidrigen Gewinnes zu veranlassen.
Indessen kam es vor, daß der König auch den Wucherern Vorschub
leistete. Da im Bezirk von Barcelona das Kreditgeschäft eine der
Haupterwerbsquellen der Juden bildete, so machte Pedro III. für die
Provinz Katalonien das unter seinem Vorgänger ergangene Zinseszins-
verbot wieder rückgängig; dieses Vorrecht wurde dann auch von Al-
fons III. bestätigt. Zuweilen erstreckte der König seine Vormund-
schaftskompetenz sogar auf jüdische Familienangelegenheiten. So ge-
stattete Alfons III. einem Juden in Barcelona, in Anbetracht der Kin-
derlosigkeit seiner Gattin mit deren Einwilligung eine zweite Frau zu
ehelichen, wenn dies dem jüdischen Gesetze nicht widerspräche. Zu-
gleich forderte er den Bajulus von Lerida auf, gegen einen des un-
ehelichen Zusammenlebens mit einer Christin überführten Juden ein
Strafverfahren einzuleiten. Alles in allem zeugen die königlichen Ur-
kunden von einem durchaus wohlwollenden Verhalten des Königs
gegenüber seinen jüdischen Untertanen.
Nach dem Tode Jakobs I. (1276) fielen die Balearen und die ihm
Untertanen französischen Provinzen (Montpellier, Roussillon, Per-
pignan) von seinem Nachfolger auf dem aragonischen Throne, Pe-
dro III., ab, um sich unter dessen Bruder, Jakob II., dem „König von
Mallorca“, zu einem besonderen Staat zusammenzuschließen. Die Brü-
der lagen in unausgesetzter Fehde miteinander. Der König von Mal-
Die Juden im christlichen Spanien (XIII. Jahrhundert)
lorca, der meist in Perpignan seine Residenz hatte, neigte eher zu der
in Frankreich den Juden gegenüber geübten Politik. Ein Teil seiner
jüdischen Untertanen unterstand sogar unmittelbar der Regierungs-
gewalt des französischen Königs Philipp IV. Es waren dies die Ju-
den von Montpellier, die noch immer in zwei abgesonderten Vierteln
lebten: auf königlichem und auf bischöflichem Boden. Im Jahre 1293
trat nun der Bischof dem auf die jüdischen Einkünfte erpichten fran-
zösischen König alle seine Rechte auf die Juden seines Viertels ab und
der geschickte Philipp nützte die günstige Lage aus, um auf Kosten
des Königs von Mallorca zum alleinigen Herrn der jüdischen Stadt-
einwohner zu werden. Nach einem kurzen Streit kam es zwischen den
beiden Königen zu dem folgenden Übereinkommen: Jakob trat dem
französischen König ein Drittel seiner Einkünfte aus seinem jüdischen
Viertel gegen einen gleichen Teil der Einkünfte von den bischöflichen
Juden ab, wobei Philipp sich zugleich die Obergewalt über die jüdi-
sche Bevölkerung der Stadt und des Bezirkes von Montpellier sicherte.
Indessen vermied es der nach dem Tode Alfons’ III. zum König des
gesamten Aragonien ausgerufene Jakob II., der französischen Raub-
politik gegenüber den Juden auch in seinen Stammlanden Eingang zu
verschaffen. Als später derselbe Philipp IV. zwecks Enteignung des
jüdischen Besitzes die Juden aus Frankreich vertrieb, gewährte ihnen
der aragonische König bereitwillig eine sichere Zuflucht in seinem
spanischen Herrschaftsbereiche.
Drittes Kapitel
Die geistigen Strömungen in Spanien und
Frankreich im XIII. Jahrhundert
§ 1U. Die Maimonisten und ihre Gegner
In den beiden Hegemoniezentren des Judentums, in Spanien und
Frankreich, war das XIII. Jahrhundert trotz des zunehmenden kirch-
lichen Druckes eine Periode regsten geistigen Lebens. In Spanien war
dies eine Folge der in der vorangegangenen arabischen Epoche er-
blühten literarischen Renaissance, die in der großartigen Synthese des
Maimonides ihren Höhepunkt erreichte; in Nordfrankreich wirkte da-
gegen noch immer der Einfluß der von Raschi und den Tossafisten
begründeten talmudischen Schule nach. Zwischen den beiden Ländern
lag aber, politisch und kulturell aufs engste mit ihnen verbunden, die
Provence mit ihren alten jüdischen Zentren, wo Elemente französi-
scher und arabisch-spanischer Kultur unmerklich ineinander übergin-
gen und wo der Kampf des konservativen Rabbinismus gegen das
Freidenkertum gleichsam eine Parallele zu dem Kampf der Kirche
gegen das Schisma der Albigenser bildete. Die umgebende geistige
Atmosphäre blieb eben nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung der
geistigen Rewegungen innerhalb des Judentums selbst. In denselben
Jahren, da der Papst Innocenz III. und die unter seinem Segen ge-
stifteten Mönchsorden eine alleuropäische klerikale Organisation zur
Unterdrückung der die Kirchenautorität gefährdenden Glaubensströ-
mungen schufen, verschärften sich die konservativ-orthodoxen Ten-
denzen auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Die Wächter der
Kirche ließen zu beiden Seiten der Pyrenäen Inquisitionstribunale zur
Aburteilung der Freidenker erstehen; die Eiferer der Synagoge fahn-
deten ihrerseits nach der Ketzerei in ihrer eigenen Mitte und erblick-
ten sie in der sich frei entfaltenden Religionsphilosophie, die in dem
io5
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
System des Maimonides den vollendetsten Ausdruck gefunden hatte.
Freilich waren Ziele und Mittel der christlichen und der jüdischen
Glaubenseiferer von Grund aus verschieden: einerseits die streitbare
Kirche, die nicht so sehr von religiösen als vielmehr von klerikalen
Tendenzen sowie vom Autokratismus des päpstlichen Rom durchdrun-
gen war; andererseits die vom Schreckgespenst der dem Judaismus
drohenden Gefahren verfolgten Rabbiner, die in ihrer Angst in Mai-
monides den an den Grundfesten des Glaubens und an den heiligsten
Überlieferungen der Nation rüttelnden heidnischen Geist des -Aristo-
teles witterten. Die Kirche bekämpfte das Freidenkertum mit Feuer
und Schwert, der Synagoge stand aber einzig und allein die geistige
Waffe der Exkommunikation („Cherem“) zur Verfügung, die über-
dies bei fehlender Einhelligkeit innerhalb der Gemeinden ihre eigent-
liche Schärfe einbüßte. Desungeachtet bestand zwischen den gleich-
artigen Erscheinungen in den beiden Lagern zweifellos ein geschicht-
licher Zusammenhang. Es war durchaus kein Zufall, daß das Ge-
spenst des Aristoteles in Frankreich1) in dem gleichen Zeitpunkt, zu
Beginn des XIII. Jahrhunderts, sowohl die Torwächter der Kirche wie
die der Synagoge mit Furcht und Schrecken erfüllte. In späterer Zeit
gelang es spitzfindigen dominikanischen Theologen von der Art eines
Albertus Magnus oder Thomas von Aquino, die heidnischen Philo-
sophen zahm zu machen und sie sogar vor den Kirchenwagen zu span-
nen. Den jüdischen Gelehrten wollten hingegen solche Versuche einer
Versöhnung von Glauben und Vernunft nicht gelingen, der klaffende
Abgrund zwischen Religion und Philosophie blieb unüberbrückt und
der Kampf der durch ihn getrennten Geister dauerte fast ein ganzes
Jahrhundert fort.
In seiner ursprünglichen Phase drehte sich der Streit ausschließ-
lich um die Lehren des „jüdischen Aristoteles“, um Maimonides. f)ie
Ironie des Schicksals wollte es, daß gerade diejenige Lehre, deren
Hauptziel die Versöhnung von Glauben und Vernunft war, zu einem
entscheidenden Zusammenstoß der beiden Prinzipien führen sollte.
Noch zu Lebzeiten des Maimonides gab die weitherzige Gesinnung des
Schöpfers der „Mischne-Thora“ sowie dessen Absicht, die Geister vom
1) Die aus Spanien nach Frankreich gedrungenen Abschriften der Werke des
Aristoteles und seiner Kommentatoren riefen in den Geistern eine Gärung her-
vor und die Kirchenbehörden beeilten sich, das Studium dieser Werke unter
strengstes Verbot zu stellen: „Non legantur libri Aristotelis de metaphysica et
naturali philosophia“ (um 1210).
§ iU. Die Maimonisten und ihre Gegner
Talmudstudium abzulenken, zu manchen Ausfällen von orthodoxer
Seite Anlaß (Band IV, § 49)* Namentlich war es das erste Buch des
maimonidischen Kodex, das „Buch der Erkenntnis“, in dem die Dog-
matik des Judaismus im Lichte der Philosophie dargestellt wurde, das
bei den Verfechtern des Althergebrachten auf schärfsten Widerspruch
stoßen mußte, weil ihnen darin alle traditionellen Vorstellungen von
der Gottheit, von den Wundern und vom Leben im Jenseits gleichsam
zu blassen metaphysischen Abstraktionen degradiert schienen. In noch
viel höherem Maße rief der „Führer der Irrenden“ ihre Empörung
hervor, in welchem, dem bekannten mittelalterlichen Grundsatz zu-
wider, die Religion als Handlangerin der Philosophie erschien. Aber
auch die weitsichtigeren unter den Orthodoxen erblickten in der
Grundeinstellung der vom Geiste des Rationalismus getragenen mai-
monidischen Lehre eine Gefahr für den nationalen Judaismus. Und
doch fand diese in den gebildeten Kreisen größten Anhang und be^-
geisterte Verehrer. Besonders zahlreich waren sie in der Provence, in
Kastilien und Aragonien vertreten, wo der „Führer“ in den hebräi-
schen Übersetzungen des Ibn Tibbon und des Dichters Alcharisi von
Hand zu Hand ging und von den Freidenkern gleichsam als neue
Offenbarung gepriesen wurde. Schon ein Menschenalter nach dem
Tode des großen Meisters begann sich die liberale geistige Bewegung
im Leben des Volkes weithin bemerkbar zu machen. Das Freidenker-
tum trat hierbei nicht nur in der Gesinnung, sondern auch in Hand-
lungen, in der Mißachtung der religiösen Bräuche hervor. So unter-
nahm der französische Rabbiner Moses aus Coucy im Jahre 12 36
eigens eine Reise nach Spanien, um diejenigen, die wichtige religiöse
Riten (wie z. B. das Tefillin-, Zizith- und Mesusothgebot) außer acht
ließen oder gar mit Christinnen in Ehe oder Konkubinat lebten1), auf
den rechten Weg zu weisen. Auch sein Zeitgenosse, der Pariser Bi-
schof Guillaume d’Auvergne, bezeugt die zunehmende Verbreitung der
Irrlehren unter den Juden, besonders in dem ehemaligen sarazenischen
Herrschaftsbereich in Spanien: „Viele schließen sich der Lehre von
der Ewigkeit der Welt und den übrigen Verirrungen des Aristoteles
an“, während andere das „unnütze Joch“ der Gesetze und Glaubens-
1) Klagen über das auch nach den Kirchenkanons strafwürdige Zusammen-
leben von Juden mit Christinnen in Aragonien sind außerdem in den amtlichen
Urkunden aus der Zeit Jakobs I. häufig anzutreffen (Regne, Catalogue des actes,
Nrn. 200, 206, 619 u. a.).
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
riten abstreifen. Gleich den christlichen Bischöfen schoben auch die
konservativen Rabbiner die ganze Schuld an den Verirrungen dem
bösen Einfluß der Philosophie zu. Das Vordringen rationalistischer
Ideen in das Gebiet der Religion drohte, wie sie glaubten, die „Zügel
des Gesetzes“ immer mehr zu lockern. Das Bestreben des Maimonides,
für jede der jüdischen Gesetzesvorschriften einen Vernunftgrund aus-
findig zu machen, unterwühle, meinten sie, die ganze Achtung vor die-
sen Gesetzen, da dadurch die Annahme nahegelegt werde, als seien
religiöse Vorschriften, für die sich keine rationale Begründung an-
führen lasse, nebensächlich oder gar gänzlich überflüssig. „Maimoni-
des“ — so ließen sich die gemäßigteren Hüter des Gesetzes verneh-
men — „hat zwar die Wurzeln der Religion (die Dogmen) gekräftigt,
ihre Zweige jedoch abgehauen“. Die jedem Kompromiß zwischen
Glauben und Wissen abholden Fanatiker verstiegen sich aber zu der
Behauptung, daß die Lehre des Maimonides den Judaismus sogar in
seinen Wurzeln untergrabe.
Die Hochburg der Konservativen war um jene Zeit die Stadt Mont-
pellier, die zu den Erbbesitzungen des aragonischen Königs Jakob I.
gehörte. Hier eben sollte gegen die aus Spanien eindringenden libera-
len Ideen ein Damm errichtet werden. Das Werk wurde vom tatkräfti-
gen Talmudforscher Salomo ben Abraham vom Berge („Min ha’har“,
d. h. aus Mont-pellier) in Angriff genommen. Besonders verurteilungs-
würdig erschien ihm die Mißachtung, die die Maimonisten der talmu-
dischen Haggada entgegenbrachten, in der sie nichts als eine Menge
poetischer Sagen erblickten; es kam ihm auch zu Gehör, daß manche
von ihnen sogar in den biblischen Geschichten nicht wirkliche Ge-
schehnisse sehen wollten, sondern lediglich didaktische Erzählungen.
Eine solche Auffassungsweise schien Salomo ben Abraham das ge-
schichtliche Fundament der Offenbarung und der an sie anknüpfen-
den Tradition ganz zu unterwühlen, und so ließ er sich in einen lang-
wierigen Streit mit den Anhängern des Maimonides in Montpellier ein,
ohne diese jedoch umstimmen zu können. Die Polemik führte nur zu
einer weiteren Verschärfung des Parteihaders. R. Salomo schlossen sich
der Rabbiner von Gerona Jona Gerondi, der Verfasser eines bekann-
ten Traktats über die Buße, sowie ein gewisser David ben Saul an.
Das dreigliedrige Rabbinerkollegium entschloß sich nun zu einem
folgenschweren Schritt: es verhängte den „Cherem“ über alle diejeni-
gen, die sich mit Philosophie und mit „profanen Wissenschaften“
108
§ 1U. Die Maimonisten und ihre Gegner
überhaupt, insonderheit aber mit den philosophischen Werken des
Maimonides („More nebuchim“ und „Sefer ha’mada“) befaßten, wie
auch über solche, die die Überlieferungen der Bibel und des Talmud
in rationalistischem Geiste auszulegen wagten (zu Beginn des Jahres
1232). Die Eiferer von Montpellier und Gerona fanden bei ihren Ge-
sinnungsgenossen in Nordfrankreich, wo von jeher die scholastische
Geistesrichtung der Tossafisten vorherrschend war, ungeteilte Billi-
gung. Die Rabbiner des Nordens priesen den Eifer ihrer südlichen
Verbündeten und erteilten dem gegen die Freidenker proklamierten
Cherem ihre vorbehaltlose Sanktion.
Die provenzalischen Maimonisten ließen sich indessen durch die
Herausforderung nicht einschüchtern. Gleich ihren Gegnern erhoben
auch sie das Banner der Religion und traten für den Mann in die
Schranken, dem das Judentum nicht nur ein neues religionsphiloso-
phisches System, sondern zugleich einen neuen Talmud, einen zun
Festigung des jüdischen Ritensystems geschaffenen Gesetzeskodex zu
verdanken hatte. So zögerten denn die Gelehrten von Beziers, Lunel
und Narbonne nicht, Salomo von Montpellier und seine beiden Genos-
sen, die das Andenken des großen Meisters beschimpft hatten, ihrer-
seits in den Bann zu tun und den von ihren Widersachern verhängten
Cherem für null und nichtig zu erklären. Aus Südfrankreich griff der
Streit auf Aragonien und Kastilien über. In Aragonien wurden näm-
lich durch den Bannstrahl der Konservativen viele einflußreiche Ge-
meindevertreter, Ärzte und Gelehrte, getroffen, von denen manche
dem Hofe Jakobs I. nahestanden. Der königliche Arzt und „Alfaquim“
Bahiel Alkonstantini bewog nun die Gemeindehäupter von Saragossa,
über die Antimaimonisten von Montpellier einen Gegencherem zu ver-
hängen (im Juli 1232). Zugleich richteten die Maimonisten von Sara-
gossa ein Rundschreiben an die übrigen Gemeinden Aragoniens mit
dem Aufruf, „für Moses (Maimonides) und seine heilige Lehre in die
Schranken zu treten, für jenen Moses, der uns aus dem Abgrunde der
Unwissenheit, des Irrtums und der Torheit gezogen, um den Baum der
Erkenntnis unter uns zu pflanzen“. Das Sendschreiben betonte ferner,
daß die Altmeister des Judaismus das Studium der weltlichen Wissen-
schaften und der Religionsphilosophie nicht nur für zulässig, sondern
sogar für verbindlich erklärt hätten, da die Juden sonst im Streite
mit Andersgläubigen wehrlos dastehen würden; so sei es durchaus un-
umgänglich, in der Astronomie, Geometrie und in den anderen ange-
109
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
wandten Wissenschaften, die „weder aus der Thora noch aus der Ge-
mara gelernt werden können“, Bescheid zu wissen. Darauf schlossen
sich vier aragonische Gemeinden (Huesca, Monzon, Calatayud und
Lerida) der Gemeinde von Saragossa an und bekräftigten den Bann-
fluch gegen die „drei Sünder von Israel“, Salomo aus Montpellier und
Genossen; zugleich priesen sie in ihren Flugschriften alle diejenigen,
die „Gott und seinem Diener Moses (Maimonides) sowie dem von Mo-
ses den Kindern Israel vor gelegten göttlichen Gesetz im Glauben zu-
getan sind“ und stellten so den neuen Moses dem biblischen als eben-
bürtig zur Seite.
Indessen gab es auch im aufgeklärten Spanien Rabbiner, die mehr
mit der antiphilosophischen Richtung sympathisierten. Der später un-
ter dem Namen Ramban berühmt gewordene Rabbiner von Gerona,
der Held der Disputation von Barcelona (oben, § 12), nahm zunächst
zwischen den kämpfenden Parteien eine neutrale Stellung ein. Er
wandte sich an die Gemeinden von Kastilien, Navarra und Aragonien
mit der Ermahnung, Salomo aus Montpellier und dessen Mitstreiter
nicht eher zu verdammen, bis sie deren Erklärungen angehört haben
würden, um so mehr als auch die rabbinischen Autoritäten Nordfrank-
reichs sich mit den Verfemten bereits solidarisch erklärt hätten. Mit
größerer Entschiedenheit trat der alte Gegner des Maimonides Meir
Ahulafia (oder Abu-Alafiah) aus Toledo auf die Seite der Feinde der
Gedankenfreiheit. Dieser Talmudgelehrte war noch bei Lebzeiten des
Maimonides mit einem „Sendschreiben an die Weisen von Lunel“ her-
vorgetreten, in dem er seiner Entrüstung darüber Ausdruck gab, daß
der Verfasser der „Mischne-Thora“ das Auferstehungsdogma mit
Schweigen übergangen hätte. Aus diesem Anlaß bedachte ihn ein Ver-
ehrer des Maimonides mit dem folgenden spitzen Epigramm: „Kann
denn Leuchte (Meir) sich nennen, wer in der Finsternis irret?“ In Ge-
meinschaft mit den neuen Bekämpfern des Rationalismus erhob jetzt
dieser überzeugte Obskurant wieder einmal seine Stimme. In einem
Schreiben an Ramban erklärte Abulafia, daß er die Handlungsweise
des Salomo aus Montpellier und seiner Gesinnungsgenossen durchaus
billige, weil sie ja nur diejenigen aus der Gemeinschaft der Gläubigen
ausgeschlossen hätten, die „im Wahne, Gott sei nur die innere Kon-
templation und die Erkenntnis des Schöpfers sowie der weisen Welt-
ordnung wohlgefällig, im Begriffe seien, das Joch der Gesetze abzu-
streifen und sich der Fesseln (der Riten) zu entledigen“. Im übrigen
110
§ 1U. Die Maimonisten und ihre Gegner
entwickelte Abulafia in seinem Schreiben nur die schon oben ange-
führte Kennzeichnung der Lehre des Maimonides als einer, die die
„Wurzeln des Glaubens zwar kräftige, dessen Zweige aber abhaue“.
Zuletzt sprach er die Zuversicht aus, daß der Aufruf der Freidenker
aus Saragossa in Kastilien ohne Widerhall verklingen und daß seine
bedeutendste Gemeinde, die von Toledo, der Protestkundgebung der
fünf aragonischen Gemeinden nicht beitreten werde.
Und in der Tat erwies sich die Gemeinde von Toledo als ein Hort
strengster Rechtgläubigkeit. Ihr Haupt, der „Nassi“ Jehuda Alfachar,
hüllte sich allerdings nach dem Bekanntwerden der Protestäußerungen
der provenzalischen und aragonischen Maimonisten zunächst in
Schweigen. Dadurch irregeführt, hoffte nun der hochbetagte Gram-
matiker David Kimchi (Band IV, § 47) diesen einflußreichen Mann
und durch seine Vermittlung auch die Vertreter der übrigen kastili-
schen Gemeinden auf die Seite der Maimonisten zu ziehen und begab
sich zu diesem Zwecke aus Narbonne nach Toledo. Unterwegs, in
Avila, wurde er indessen von einer Krankheit befallen und mußte sich
daher mit einem Schreiben an Alfachar begnügen, in dem er diesen
darum anging, bei der Bekämpfung der Obskuranten seinen ganzen
Einfluß aufzubieten. Hierauf kam es zu einem schriftlichen Meinungs-
austausch, aus dem Kimchi erkannte, daß er es mit einem entschiede-
nen Gegner zu tun hatte. Der „Nassi“ von Toledo hatte nämlich
Kimchi selbst wegen Ketzerei in Verdacht, da ihm dessen freie Den-
kungsweise, die ihn bereits mit den französischen Rabbinern entzweit
hatte, nicht unbekannt geblieben war. So legte er sich denn in seiner
Antwort an den narbonnensischen Gelehrten keine Zurückhaltung auf.
In seinem Schreiben tadelte er vor allem den Versuch des Maimoni-
des, das Unvereinbare, den Judaismus und die griechische Philosophie,
zusammenkoppeln zu wollen; denn die Thora und die „griechische
Weisheit“ mit der in ihr vorherrschenden „Sophistik“ bildeten, meinte
er, einen unüberbrückbaren Gegensatz. Wie sollten sie auch gleich
zwei Schwestern nebeneinander leben, da sie doch wie die zwei Wei-
ber des Salomonischen Gerichtes um den Besitz des „lebendigen Kin-
des“, der Wahrheit, ständig miteinander hadern müßten. Der „Führer
der Irrenden“ führe in Wirklichkeit nur selbst in die Irre, da er z. B.
behaupte, daß das Stillstehen der Sonne in Gibeon oder die Rede der
Eselin Bileams nichts weiter als poetische Sagen wären; auf diese
Weise könne man sich aber bis zur Leugnung aller biblischen Wunder
in
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
versteigen und so die Grundfesten der Offenbarung selbst erschüttern.
Zwar erkenne er die großen Verdienste des Maimonides auf dem Ge-
biete der Gesetzeskunde an, müsse aber zugleich seiner Betrübnis dar-
über Ausdruck geben, daß der Philosoph durch seinen „Führer“ dem
Judentum nicht wenig geschadet hätte; darum treffe auch den Über-
setzer des verfänglichen Buches ins Hebräische, Samuel ibn Tibbon,
eine schwere Schuld. So müsse er denn das Verhalten des gottesfürch-
tigen Salomo aus Montpellier und seiner Gesinnungsgenossen uneinge-
schränkt billigen.
Die Zuspitzung der Gegensätze erfüllte den schon einmal als Frie-
densvermittler hervorgetretenen Ramban mit schwerer Besorgnis, und
er trat daher mit einem neuen Versöhnungsvorschlag an die Öffentlich-
keit : er schlug vor, den Bannfluch gegen den Religionskodex des Mai-
monides aufzuheben, die Verbreitung des philosophischen „Führers“
hingegen, der die unreifen Geister nur verwirren könne und auch von
dem Verfasser selbst nur für wenige Auserlesene bestimmt sei, zu
unterbinden. Dem gleichen Gedanken gab der Dichter Meschullam da
Piera in folgenden Versen Ausdruck:
„Meide, o Meister, den ,Führer' — enthalte dich der Betrachtung,
Huld’ge allein der ,Erkenntnis'1) — und Gottes Geist wird dir nah sein“.
Indessen vermochten Kompromisse die erhitzten Gemüter nicht mehr
zu beschwichtigen. Die Leidenschaften waren entfesselt, und der
Kampf nahm ein überaus schmähliches Ende.
Als nämlich der Fanatiker Salomo aus Montpellier von dem durch
die Maimonisten gegen ihn verhängten Gegencherem Kunde erhielt,
geriet er in rasenden Zorn und entschloß sich zu einem unerhörten
Schritte. Um jene Zeit (i233) war die auf Antrieb des Papstes Gre-
gor IX. aus einem zeitweiligen in ein permanentes Tribunal verwan-
delte katholische Inquisition gerade damit beschäftigt, die Überreste
der ketzerischen Albigenser in der Provence aufzuspüren und sie der
Strafe zuzuführen. Besonderen Eifer legten hierbei die dominikani-
schen Inquisitoren in Toulouse und Montpellier an den Tag. Die Ver-
folger des jüdischen Freidenkertums kamen nun auf den Gedanken,
daß ihre Ziele im großen und ganzen mit denen der kirchlichen
Ketzerverfolger übereinstimmten. So gingen denn Salomo und sein
Mitstreiter Jona Gerondi, wie die damaligen Streitschriften wissen
1) Gemeint ist das erste Buch des Kodex „Mischne-Thora“: „Das Buch der
Erkenntnis“.
I 12
§ 1h. Die Maimonisten und ihre Gegner
wollen, zu den Dominikanern von Montpellier und sprachen zu ihnen:
„Wisset, daß es in unserer Stadt viele Ketzer und Gottlose gibt, die
sich durch die Lehre des Moses aus Ägypten (Maimonides), des Ver-
fassers ruchloser philosophischer Bücher, verführen ließen. Vertilget
ihr eure Ketzer, so vertilget mit ihnen auch die unseren und verbren-
net die schädlichen Bücher“. Zugleich legten sie den Mönchen Aus-
züge aus den Werken des Maimonides vor, bei deren Lektüre den ge-
schworenen Feinden der Gedankenfreiheit wohl die Haare zu Berge
gestiegen sein mußten. Darauf wurde dem von dem Papst zur Anlei-
tung der Ketzerrichter nach Südfrankreich entsandten Kardinal-Lega-
ten über die ganze Sache ausführlicher Bericht erstattet. Der Kardi-
nal, der die Befürchtung hegte, daß die Ansichten des jüdischen Phi-
losophen sich auch unter den Christen verbreiten könnten (war doch
der „Führer“ bereits ins Lateinische übersetzt), traf hierauf die Ver-
fügung, daß die von den Rabbinern angezeigten Bücher des Maimoni-
des den Flammen preisgegeben werden sollten. So wurden denn die
jüdischen Häuser in Montpellier nach Abschriften des „Führers“ und
des „Buches der Erkenntnis“ durchsucht und die Vorgefundenen
Exemplare öffentlich verbrannt (Ende des Jahres 1233). Überdies
verfielen die geächteten Bücher auf kirchlichen Befehl dem gleichen
Los auch in Paris, wobei, wie erzählt wird, zur Entzündung des Schei-
terhaufens eine aus einer katholischen Kirche herbeigebrachte Altar-
kerze verwendet wurde.
Dieses verräterische Bündnis der Fanatiker der Synagoge mit de-
nen der Kirche, den erbitterten Verfolgern des Judentums, rief in
den Gemeinden der Provence und Spaniens helle Entrüstung hervor.
Sogar die gemäßigte Partei rückte nunmehr von Salomo und seinem
Anhang als von niedrigen Denunzianten entschieden ab. Die übereifri-
gen Dunkelmänner wurden in einer Reihe geharnischter Sendschrei-
ben mit Flüchen überhäuft. Der Schriftsteller Abraham ben Chisdai
aus Barcelona, der Übersetzer eines arabischen didaktischen Werkes:
„Der Prinz und der Derwisch“ („Ben ha’melech we’ha’nasir“), ver-
sandte ein Rundschreiben an die Gemeinden Spaniens, in dem er sei-
ner Entrüstung über die Verfolger des schöpferischen Denkens freie-
sten Lauf ließ. Ramban und Meir Abulafia, durch die Handlungs-
weise der Fanatiker beschämt, wahrten tiefstes Schweigen. Alfachar
war der einzige, der, in Erwiderung der von David Kimchi erhobenen
8 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
Vorwürfe, Salomo damit zu entschuldigen versuchte, daß dieser sich
zu seiner Untat durch die Feindseligkeit der Gegenpartei habe hin-
reißen lassen.
Die Agitation der Orthodoxen zog bald für einige von den Ver-
fechtern der Rechtgläubigkeit überaus traurige Folgen nach sich. Den
Maimonisten gelang es nämlich, die Zeugen, die die Anklage gegen die
verurteilten Bücher vor dem Inquisitionsgericht unterstützt hatten,
des Meineids zu überführen. Man vermutet, daß es die am Hofe des
Gebieters von Montpellier, des aragonischen Königs Jakobs I., ein-
flußreichen Juden (Bahiel Alkonstantini u. a.) waren, die sich die Be-
strafung der Schuldigen besonders angelegen sein ließen. Die des fal-
schen Zeugnisses Überführten mußten ihr Vergehen aufs schwerste
büßen: es wurde ihnen, laut gerichtlichem Urteilsspruch, die Zunge
abgeschnitten. Einer der Maimonisten wandte auf die Verurteilten den
biblischen Vers an: „Ihr Mund richtete sich gegen den Himmel, nun
schleppt ihre Zunge im Staube“. Was aus Salomo selbst, dem Urheber
des ganzen Streites, geworden ist, bleibt unbekannt. Von seinem
Kampfgenossen Jona Gerondi wissen wir dagegen, daß er seine Tat
später aufrichtig bereute. Es geschah dies einige Jahre nach der Ver-
brennung der Bücher des Maimonides in Montpellier und Paris, als
in der französischen Hauptstadt nach der bereits geschilderten Dis-
putation über das talmudische Schrifttum auch Talmudbücher auf
einem Pariser Platze öffentlich verbrannt wurden (oben, § 4)- Das
Autodafe machte auf Jona Gerondi einen erschütternden Eindruck:
in dem Scheiterhaufen für die talmudischen Bücher erblickte er
eine Strafe Gottes für die von ihm und seinen Gesinnungsgenossen
durch die Vermittlung derselben Dominikaner herbeigeführte Ver-
brennung der Werke des Maimonides. Der fromme Rabbiner legte
sich nun eine schwere Buße auf, um die an dem Andenken des gro-
ßen Mannes begangene Sünde zu sühnen. Er kam nach Montpellier
und legte in der Synagoge vor der versammelten Gemeinde ein Buß-
bekenntnis ab, indem er ausrief: „Moses (Maimonides) hat recht und
seine Lehre ist gerecht, wir aber lügen!“ Darauf zog Jona von Stadt
zu Stadt, um sich überall derselben Bußzeremonie zu unterziehen. Zu-
gleich tat er das Gelübde, nach dem Orient zum Grabe des Maimoni-
des zu wallfahrten, um bei dem Verstorbenen Vergebung zu erflehen.
Doch war es ihm nicht beschieden, seinen Plan auszuführen: auf sei-
§ 15. Der Rabbinismus in Frankreich und Spanien
ner Wanderung durch Frankreich und Spanien ereilte ihn in Toledo
der Tod (1264). Auch manch anderer von den Helfershelfern der In-
quisition bekannte bußfertig seine Verirrung.
§15. Der Rabbinismus in Frankreich und Spanien
Die systematischen Verfolgungen des Talmud seit den Zeiten Lud-
wigs des Heiligen (die öffentliche Verbrennung der Bücher und deren
häufige Einziehung zu Rezensierungszwecken) setzten der Entwick-
lung des Piabbinismus in Frankreich bald ein Ziel. Die Metropole der
talmudischen Scholastik, die Pflanzstätte der Tossafisten, hatte in den
ersten Jahrzehnten des XIII. Jahrhunderts blühende rabbinische
Hochschulen aufzuweisen. Das Haupt der Jeschiba von Paris war der
Rabbiner Jechiel ben Joseph, der Gegner des Renegaten Donin in der
Disputation über den Talmud. Den in tossafistischem Geiste gehalte-
nen Vorträgen des R. Jechiel folgte eine Hörerschaft von dreihundert
Jüngern. Nach der Verurteilung des Talmud geriet indessen die Pari-
ser Schule gänzlich in Verfall. Infolge des eingetretenen Mangels an
Talmudabschriften mußte der Unterricht häufig nur mündlich gehal-
ten werden, was das Studium nicht unerheblich erschwerte. Der Schü-
ler der Pariser Jeschiba wurden immer weniger, und bald wanderte
auch R. Jechiel selbst, wie erwähnt, nach Palästina aus (um 1260).
Die Verfolgungen, denen das talmudische Schrifttum ausgesetzt
war, gaben dem Werk der Sicherstellung und Zusammenfassung der
überlieferten Schätze einen neuen Anstoß. Von der Besorgnis erfüllt,
die „Thora könnte in Israel in Vergessenheit geraten“, bemühten sich
jetzt die Gelehrten vor allem um die Erhaltung der wesentlichsten
Partien des ihnen anvertrauten Erbgutes. So verfaßte der Rabbiner
Moses aus Coucy, der zusammen mit R. Jechiel an der verhängnis-
vollen Pariser Disputation teilgenommen hatte, einen neuen Kodex
unter dem Titel „Großes Buch der Gebote“ („Sefer mizwoth gadol“,
abgekürzt „Semag“). Das Werk zerfällt in zwei Teile, in deren einem
die Gebote („Mizwoth asse“), in dem anderen die Verbote („Mizwoth
lo’taasse“) dargelegt sind. Die Absicht des konservativen Verfassers
ging dahin, durch seine Sammlung den Kodex des Maimonides, in
dem ihm manche rituelle Vorschriften nicht genügend betont zu sein
schienen, zu berichtigen und zu ergänzen. Der mystisch gestimmte Rab-
biner aus Coucy erzählt hierbei, daß ihm der Plan zu seinem Werke
115
8*
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
in einem Traumgesicht vom Himmel selbst eingegeben worden sei.
Obwohl R. Moses somit ein ausgesprochener Gegner des Rationalis-
mus war, hielt er sich dennoch von dem schmählichen Feldzug der
Antimaimonisten durchaus fern. Vielmehr suchte er das, was Salomo
aus Montpellier durch gewaltsame Maßnahmen erzwingen wollte,
nämlich die Aufrechterhaltung der Rechtgläubigkeit in den gebildeten
Gesellschaftsschichten, auf dem Wege friedlicher Propaganda zu er-
reichen. Zu diesem Zwecke zog er von Stadt zu Stadt und rief die
Freidenker in leidenschaftlichen Predigten zur Buße auf (i236). Un-
ter dem Einfluß seiner Strafreden lösten denn auch manche ihre mit
Christinnen eingegangenen Ehen wieder auf und wandten sich der
Beobachtung ehedem mißachteter Riten zu (so dem Anlegen von Te-
fillin u. dgl. m.). Zugleich ermahnte R. Moses in seinen Predigten zur
sittlichen Vervollkommnung und zur Redlichkeit im alltäglichen Ver-
kehr. Der gottesfürchtige Rabbiner starb im Jahre 1260. Als Gegen-
stück zu seinem Hauptwerke stellte sein jüngerer Zeitgenosse Isaak
aus Corbeil einen kurzgefaßten Kodex unter dem Titel „Kleines Buch
der Gebote“ („Sefer mizwoth katan“, abgekürzt „Semak“) zusammen,
den er an die einzelnen Gemeinden mit der Bitte versandte, Abschrif-
ten davon anzufertigen, da „in unserer unheilvollen Zeit das Studium
der Thora im Schwinden begriffen sei und die Gefahr bestehe, daß
ihre Gebote in Vergessenheit geraten könnten“ (um 1280).
Gegen Ende des XIII. Jahrhunderts gehörte die Tossafistenschule
in Nordfrankreich („Zarfath“) bereits der Vergangenheit an. Die
Glossen der Tossafisten sind aber auch heute noch neben dem klassi-
schen Raschikommentar in allen Ausgaben des babylonischen Talmud
als Begleittext zu finden (Band IV, § 89). Die talmudische Schola-
stik sollte indessen nach ihrem Zusammenbruch in Frankreich auf
spanischem Boden eine neue Blütezeit erleben. Allen Bemühungen
des Maimonides, die kasuistische Methode des Talmudstudiums durch
die positive zu ersetzen sowie der Anhäufung von Zusätzen („Tossa-
foth“) und von Novellen („Chidduschim“) Einhalt zu gebieten, war
nämlich sogar in Spanien, dem Heimatlande der Wissenschaft und der
Philosophie, kein durchschlagender Erfolg beschieden. In der rabbi-
nischen Literatur des XIII. Jahrhunderts herrschten noch immer raf-
finierter „Pilpul“ und juristische Grübelei vor, die zum Selbstzweck,
zur „Wissenschaft um der Wissenschaft willen“ geworden, den Geist
von den lebendigen Erkenntnisquellen ablenkten. Zu den kraftvollsten
§15. Der Rabbinismus in Frankreich und Spanien
Förderern des französischen „Tossafismus“ auf spanischem Boden
gehörte der hervorragende Gelehrte Ramban aus Gerona (Moses ben
Nachman), den wir anläßlich der Disputation in Barcelona und des
antimaimonistischen Feldzuges bereits kennen gelernt haben.
Ramban (1195—1270) war von weltlichem Wissen nicht unbe-
rührt geblieben und besaß insbesondere weitgehende Kenntnisse in
der Medizin, doch wollte er auf dem Gebiete der rabbinischen Gelehr-
samkeit den Geist der freien Kritik nicht anerkennen und zog es vor,
„bei den altehrwürdigen Autoritäten zu lernen“. Er beherrschte mei-
sterlich die Methode der Apologie und der gekünstelten Überbrückung
der in den „maßgebenden“ Quellen klaffenden Widersprüche. Schon
in seiner Jugend trat er mit einer Apologie („Milchamoth“) hervor,
in der er mit den Mitteln haarspaltender Dialektik das halachische
Kompendium des Alfassi gegen die Einwendungen des Serachia Halevi
(Band IY, § 39) verteidigte. Die zahlreichen talmudischen Unter-
suchungen des Ramban („Chidduschim“) sind von jenem Geiste der
Tossafisten durchtränkt, der in den Worten des Rabbenu Tarn so dra-
stisch zum Ausdruck kommt: „Wenn ein und derselbe Fall an einer
Stelle des Talmud in positivem, an einer anderen in negativem Sinne
entschieden wird, so werde ich immer noch ein Mittel finden, den
Widerspruch zu beheben“. Wie sehr Ramban im Banne des Autori-
tätsglaubens stand, zeigt sein schon in vorgeschrittenem Alter verfaß-
ter Kommentar zum Pentateuch, mit dem er den offenbaren Zweck
verfolgte, dem kritischen Kommentar des Abraham ibn Esra entgegen-
zuwirken. In die auf grammatische Regeln und aramäische „Targu-
mim“ sich gründende Auslegung des unmittelbaren Textsinnes flicht
Ramban in seinem Kommentar nicht selten haggadische und sogar
mystische Deutungen ein. Er war es, der als erster in die Bibelexegese,
allerdings noch mit aller Behutsamkeit, den Geist der sich um jene
Zeit in Spanien verbreitenden Kabbala oder „GeheimWissenschaft“
hineintrug. Seinen Kommentar beendete Ramban erst in Palästina,
wohin er nach der Disputation in Barcelona übersiedeln mußte. Der
bereits erwähnte kurze Bericht über die Disputation („Wikkuach
ha’Ramban“), der den Verfasser Verfolgungen von seiten der Domi-
nikaner aussetzte, besitzt nicht nur geschichtlichen, sondern auch gro-
ßen theologischen Wert und wird die schweren rabbinischen Folian-
ten des Ramban sicherlich überdauern.
In den letzten Jahrzehnten des XIII. Jahrhunderts stand an der
117
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
Spitze des spanischen Rabbinismus Salomo ben Adret, der unter der
literarischen Abbreviatur Raschba bekannter ist (um 1245—i3io).
Ein Schüler des Ramban und des Jona Gerondi, nahm dieser Rabbiner
aus Barcelona regsten Anteil an den Selbstverwaltungsangelegenheiten
aller jüdischen Gemeinden von Katalonien und sein geistiger Einfluß
erstreckte sich weit über die Grenzen seines unmittelbaren Wirkungs-
kreises hinaus. Als offiziell anerkannter „Meister der jüdischen Ge-
setzeslehre“ und als Oberrichter in jüdischen Streitsachen kam
Raschba häufig mit den Königen Pedro III. und Alfons III. in Be-
rührung. Zusammen mit den Ältesten der Juderia von Barcelona regu-
lierte er die Steuerabrechnungen mit dem König und wurde nicht sel-
ten auch zum Krongericht bei der Verhandlung von Juden betreffen-
den Strafsachen heran gezogen1). In der jüdischen Gemeinschaft galt
er aber als der maßgeblichste Gesetzeslehrer, den alle Gemeinden
Spaniens und sogar der Nachbarländer um Rechtsentscheidungen an-
gingen. Es haben sich über 3ooo „Responsen“ oder Gutachten („Te-
schuboth“) des Raschba erhalten, die einzelnen Personen und Ge-
meinden in Beantwortung verschiedener religiöser, wissenschaftlicher
und das öffentliche Leben betreffender Fragen zugegangen sind.
Überdies verfaßte er systematische Werke über mancherlei Probleme
der Gesetzeskunde. Er war einer jener unermüdlichen Baumeister,
die ungeachtet dessen, daß das Gebäude des Talmudismus bereits in
die Wolken ragte, sich mit der Aufführung immer neuer und neuer
Stockwerke abmühten. Der Kodex des Maimonides, der das stolze Ge-
bäude nach einem vereinfachten Entwurf umzugestalten versuchte,
vermochte Raschba, den Verehrer der tossafistischen Dialektik, in kei-
ner Weise zu befriedigen. So stellte er denn ein neues, von überwäl-
tigender Gelehrsamkeit zeugendes Kompendium religiös-ritueller Ge-
setze unter dem Titel „Thorath ha’baith“, einen „Leitfaden für den
häuslichen Gebrauch“ (Speisegesetze usw.) zusammen, das aber statt
eines übersichtlichen Systems nur eine „Gemara in neuer Gestalt“
darbot, in der sich Thesen und Schlußfolgerungen in einem Meere
t) In den spanischen Akten wird er „Salomon d’en Adret”, zuweilen auch
nach seinem Vaternamen „d’en Abraham” genannt. Aus der Tatsache, daß der
Infant Alfons sich einst an die Familie des Raschba mit der Bitte wandte, einem
seiner Ritter und dessen Nachbarn ihre Schulden zu stunden (i283), ist zu er-
sehen, daß die Familie des Rabbiners sich nebenbei auch mit Bankoperationen be-
faßte. S. Regne, Gatalogue etc. Nrn. 384, 873, gi5, 998, 1192 (vgl. Biblio-
graphie).
118
§ 15. Der Rabbinismus in Frankreich und Spanien
kasuistischer Yerschnörkelungen verloren. Das Werk wurde von einem
anderen „Pilpulisten“ aus Barcelona, R. Aaron Halevi, in der Schrift
„Bedek ha’baith“ („Reparierung des Baues“) einer strengen Kritik
unterzogen, und Raschba sah sich genötigt, eine Gegenkritik zu schrei-
ben, die er nunmehr „Mischmereth ha’baith“ („Zum Schutze des
Baues“) betitelte.
Als Mann der Öffentlichkeit hatte Raschba zuweilen auch die von
feindlicher Seite stammenden Angriffe zu parieren. Kurz nachdem sein
Meister Ramban mit den Dominikanern mündlich disputiert hatte,
trat ihnen der Rabbiner von Barcelona mit schriftlichen Argumenten
entgegen. Um das Jahr 1278 hatte nämlich der in einem Kloster zu
Barcelona lebende Dominikaner Raimund Martin, Mitglied der Kom-
mission für die Prüfung jüdischer Bücher (oben, § 12), zwei Schrif-
ten verfaßt, die die Titel: „Kappzaum für Juden“ („Capistrum Judae-
orum“) und „Glaubensschwert gegen Mauren und Juden“ („Pugio
fidei“) führten. Der Mönch verfolgte hierbei das Ziel, die dogmati-
schen „Verirrungen“ der Juden bloßzustellen sowie den Beweis zu er-
bringen, daß es im Talmud Stellen gäbe, die indirekt die Wahrheit
des christlichen Glaubens bestätigten (so z. B. den haggadischen Aus-
spruch, daß im messianischen Zeitalter das alte Gesetz außer Kraft
treten werde). Sogar in dem erzjüdischen Glaubensbekenntnis des
Monotheismus: „Höre, Israel, Gott ist einzig!“ glaubte der übereifrige
Mönch einen Hinweis auf das Dreieinigkeitsdogma entdecken zu kön-
nen. Es scheint, daß Martin die von seinem Ordensbruder Paulus
Christiani begonnene Missionspropaganda von neuem anzufachen ge-
dachte. Raschba fand es nun für geboten, die Sophisterei des Martin
in einem Traktat zu widerlegen, der indessen in einem sehr zurück-
haltenden Tone abgefaßt ist. Die für Ramban so traurigen Folgen
der Disputation in Barcelona veranlaßten, wie es scheint, seinen Jün-
ger, bei der Polemik Vorsicht walten zu lassen. Mit größerem Frei-
mut äußert sich Raschba in einer anderen, gegen die Schrift eines
muselmanischen Rationalisten gerichteten Apologie (wohl gegen den
berühmten Traktat „Religion und Sekten“ eines Theologen des XI.
Jahrhunderts, Ibn Hazm aus Gordova), der die Tatsache der Sinai-
offenbarung und den göttlichen Ursprung der Mosesgesetze in Ab-
rede gestellt hatte. In diesem Falle brauchte sich der jüdische Apo-
loget vor keiner Zensur zu fürchten, vielmehr durfte er in seinem
Kampfe gegen das Freidenkertum sogar auf gewisse Sympathien im
Ir9
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
Dominikanerlager rechnen. Späterhin ließ sich der konservative Rab-
biner, wie wir noch sehen werden, auch in einen erbitterten Streit
mit den Rationalisten innerhalb des Judentums selbst ein, mit den
erlesensten Repräsentanten der damaligen jüdischen Geistesaristo-
kratie.
Während Raschba so in Spanien die Traditionen der französischen
konservativen Schule Wurzel fassen ließ, wurden von einem anderen
hervorragenden Talmudisten jener Zeit, von Ascher hen Jechiel, be-
kannt unter seinem literarischen Namen Rosch (um I2ÖO—1827),
die noch viel engherzigeren Traditionen des deutschen Rabbinismus
dorthin verpflanzt. Aus Deutschland gebürtig, war Rosch ein typischer
Vertreter des dortigen rabbinischen Geistes: ein eifriger Talmudver-
ehrer, ein Hort der traditionellen Frömmigkeit und ein ausgesproche-
ner Gegner aller „profanen Wissenschaften“. Sein Meister war einer
der letzten Tossafisten, der berühmte Meir aus Rothenburg. Die bluti-
gen Verfolgungen, denen die Juden gegen Ende des XIII. Jahrhun-
derts in Deutschland ausgesetzt waren und die die Vernichtung vieler
jüdischen Gemeinden nach sich zogen, veranlaßten Rosch, seine Hei-
mat zu verlassen und nach Spanien auszuwandern. Er stand noch von
früher her in gelehrtem Briefwechsel mit vielen Rabbinern, darunter
auch mit Raschba, und sein Ruhm war ihm schon lange vor seiner
Übersiedlung vorausgeeilt. In Spanien angelangt (i3oo), trat Rosch
das Amt eines Rabbiners und eines „Rosch-Jeschiba“ in der kastili-
schen Hauptstadt Toledo an. Im rabbinischen Schrifttum verewigte er
seinen Namen durch eine umfangreiche Halachothsammlung („Piske
ha’Rosch“), bei deren Abfassung ihm die Werke des Alfassi als Vor-
bild dienten. Gleich diesen ist sie eine Art komprimierter Talmud, ein
Extrakt aus der gesamten Halacha mit vielen Ergänzungen auf Grund
der tossafistischen Schriften. Das Kompendium des Rosch wurde zum
Gegenstand des Studiums in den Schulen und wird auch heute noch
den vollständigen Ausgaben des babylonischen Talmud als Anhang
beigegeben. Der weltlichen Wissenschaft und der Philosophie bekun-
dete hingegen Rosch unzweideutige Mißachtung. Auf die Philosophie
wandte er den biblischen Ausspruch von dem unzüchtigen Weibe an:
„Wer zu ihr hingeht, kehret nicht wieder“. „Eure weltlichen Wissen-
schaften kenne ich nicht“ — pflegte er voll Selbstbewußtsein zu den
gebildeten spanischen Juden zu sagen — „und danke Gott, daß er
120
§ 16. Philosophie und Frcidenkertum
mich davor bewahrt hat“. Diese Worte ertönten mitten in einem
heißen Kampfe, der in Spanien und Südfrankreich in den ersten
Jahren des XIV. Jahrhunderts aufs neue entbrannt war.
§16. Philosophie und Freidenkertum
Im XIII. Jahrhundert stießen in der christlichen Scholastik, deren
Mittelpunkt die Pariser Universität war, zwei Richtungen hart aufein-
ander. Die eine war bestrebt, die Religion mit der Philosophie des
Aristoteles zu versöhnen, degradierte aber in Wirklichkeit die Philo-
sophie zu einer „Dienstmagd der Theologie“ (ancilla theologiae), in-
dem sie sich des logischen Apparates der aristotelischen Lehre nur als
eines Hilfsmittels zur Begründung religiöser Dogmen bediente. Der
hervorragendste Vertreter dieser Richtung war der berühmte Kirchen-
lehrer, der Dominikaner Thomas von Aquino, der die Kenntnis der
aristotelischen Lehre vornehmlich den Werken des Averroes und des
Maimonides verdankte. Die andere Richtung, die die Unvereinbarkeit
von Philosophie und Religion behauptete, vertrat den Standpunkt der
„zwiefachen Wahrheit“. Die Wahrheit des Glaubens — so meinten
die Parteigänger dieser Richtung — stimme nicht immer mit der
Wahrheit der Vernunft überein, da die eine von den natürlichen Er-
scheinungen, die andere aber von den übernatürlichen Tatsachen ihren
Ausgang nähme. Eine Zwiefältigkeit der Weltauffassung sei daher
unvermeidlich: es stehe jedem frei, auf dem Wege der Vernunft et-
was zu erkennen und dabei an das Gegenteil zu glauben. Dieser ge-
fährliche Dualismus, auf den die Anhänger des Averroes verfallen
waren, wurde von den rechtgläubigen Theologen aufs schärfste ver-
folgt. Im Jahre 1269 und 1277 verhängte die Pariser Universität, auf
die Forderung der Geistlichkeit hin, den Bannfluch über alle Ver-
fechter dieser Ansicht, zugleich aber auch über alle diejenigen, die
sich zu den den Kirchendogmen zuwiderlaufenden Grundsätzen der
„natürlichen Philosophie“ bekannten: zu der Ewigkeit oder Uner-
schaffenheit der Welt, zu der Beseeltheit der Himmelssphären, zur
Leugnung der leiblichen Auferstehung u. dgl. m.
Von ähnlichen, wiewohl nicht ganz gleichen Tendenzen war um
jene Zeit auch der Entwicklungsprozeß des jüdischen philosophischen
Denkens beherrscht. Die treu zum Vermächtnis ihres Meisters halten-
den Maimonisten taten nämlich der Philosophie um deren Anpassung
121
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
an die Dogmen der Religion willen bei weitem nicht solche Gewalt
an, wie ein Albertus Magnus oder Thomas von Aquino, sie waren viel-
mehr bestrebt, auf dem Wege gegenseitiger Konzessionen zwischen
Philosophie und Religion volles Einverständnis zu erzielen. Es war
ihnen dies um so leichter, als sie im Gegensatz zu den christlichen
Theologen in ihrem Denken durch keinerlei Fesseln mystischer Dog-
men behindert waren. Ein konsequenter Maimonist brauchte sich über
die Grunddogmen des Glaubens nicht hinwegzusetzen (die Haupt-
punkte des dreizehngliedrigen Glaubensbekenntnisses des Maimonides
standen mit seiner Philosophie in vollem Einklang) und konnte sich
damit begnügen, nur auf den naiven Glauben an die geheiligten Sa-
gen, die bildlichen Redewendungen der Bibel und die unverbindlichen
Aussprüche der Haggada Verzicht zu leisten, die nie als Dogmen gal-
ten und die freie Auslegung durchaus vertrugen. Den jüdischen Ra-
tionalisten stellte sich indessen ein anderes ernstliches Hindernis in
den Weg: eine fest eingewurzelte Weltanschauung, in der religiöse
und national-geschichtliche Vorstellungen, Legende und Historie, Ge-
fühl und Gedanke zu einer unzertrennlichen Einheit verschmolzen wa-
ren, und der jeder Eingriff der kühlen, nüchternen Analyse stets ein
Greuel war. Allerdings gab es auch unter den Juden Denker, denen
als Ausweg die Theorie von der doppelten Wahrheit winkte, doch ent-
schlossen sie sich zu dieser nur aus tiefster Seelennot, nach vergeb-
lichen Bemühungen, die religiöse Wahrheit mit der philosophischen
in Einklang zu bringen; bedeutete dies doch eine schmerzvolle Vivi-
sektion an einem Organismus, dessen Pflege sich viele Generationen
von versöhnungssüchtigen Philosophen, von Saadia Gaon angefan-
gen bis Maimonides, liebevoll hingegeben hatten. Diese Verzweifelten
sahen sich an jenem Kreuzwege, der zum Bewußtsein entweder von
der Ohnmacht der Vernunft oder aber des Glaubens führen mußte.
Und hart an ihrer Seite standen die Wortführer des traditionellen
Judaismus, die voll Grauen mitansehen mußten, wie der dem Ansturm
von Jahrtausenden trotzende nationale Bau systematisch unterwühlt
wurde . . . All dies zeitigte einen tiefen seelischen Zwiespalt in den
Wahrheitssuchern selbst und zugleich einen leidenschaftlichen Kampf
zwischen den Vertretern der aufeinanderstoßenden geistigen Strömun-
gen.
Die jüdische Literatur des XIII. Jahrhunderts spiegelt all diese
Schwankungen des religionsphilosophischen Denkens aufs getreueste
122
§ 16. Philosophie und Freidenkertum
wieder. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts war die Gewalt des
die führenden Geister beherrschenden Aristotelismus noch unge-
brochen. In der Provence, in der Werkstatt der Tibboniden (Band IV,
§ ki)> wirkten drei Generationen von Übersetzern unablässig an der
Übertragung der arabischen wissenschaftlichen und philosophischen
Werke ins Hebräische. Der Übersetzer des „Führers“ des Maimonides,
Samuel ibn Tibbon, brachte in seinem Werke „Die Ansichten der Phi-
losophen“ („Deoth ha’philosophim“) auch das System des Averroes
zur Darstellung. Sein Sohn Moses ibn Tibbon übersetzte neben den
meisten „Kommentaren“ des Averroes noch eine Menge anderer
Schriften arabischer und griechischer Verfasser über Mathematik,
Physik und Medizin. Der Schwiegersohn des Samuel ibn Tibbon, Ja-
kob Anatoli (um 1200—1260), der aus der Provence nach Italien
übergesiedelt war, wirkte in Neapel am Hofe des Förderers der
Wissenschaften, Friedrichs II. von Hohenstaufen, als gelehrter Über-
setzer. Im Aufträge des Kaisers übertrug er philosophische und
wissenschaftliche Werke aus dem Arabischen ins Hebräische, wohl
zu dem Zwecke, um sie dann mit Hilfe seines christlichen Freundes,
des Hofastrologen Michael Scotus, weiter ins Lateinische zu über-
setzen. Bekannt sind namentlich seine Übertragungen des „mittleren
Kommentars“ des Averroes sowie die mancher astronomischer Schrif-
ten (1281—1236). Überdies gab Jakob Anatoli als treuer Anhänger
des Maimonides dessen rationalistischen Ideen in Predigten über Bibel-
stellen Ausdruck, die er an den Sabbattagen in der Synagoge zu hal-
ten pflegte. Der Unwille, den die allzu kühnen Schlußfolgerungen des
Predigers bei einem Teil seiner Zuhörerschaft hervorriefen, veran-
laßte ihn, seine öffentlichen Vorträge aufzugeben und die von ihm
verfochtenen Gedankengänge in schriftlicher Form, in einem „Leit-
faden für Studierende“ („Malmad ha’talmidim“) darzulegen. In dem
Vorwort zu diesem Buche beklagt er sich bitter über das Mißtrauen,
das die Seelsorger allen Regungen des freien Gedankens entgegen-
bringen; er verweist die Fanatiker der Tradition darauf, daß die Bibel
selbst ein von größter Gedankenfreiheit zeugendes Buch enthalte, das
desungeachtet in den Ruf ausklinge: „Fürchte Gott und halte seine
Gebote!“ (Kolieleth). Führt doch — so meint Anatoli — religiöse
Tradition und philosophische Forschung auf verschiedenen Wegen
zum gleichen Ziele: zur Gotteserkenntnis und zur Hochhaltung der
Sittlichkeit als des Grundprinzips des Lebens. Die Hauptaufgabe sei-
123
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
nes Buches sei daher die Herausarbeitung des religiös-sittlichen Inhal-
tes der Sagen und Gesetzesvorschriften der Thora. Manchmal entdeckt
der Verfasser in der einen oder anderen biblischen Erzählung oder
Gesetzesvorschrift auch noch einen „geheimen Sinn“, eine symboli-
sche oder allegorische Anspielung, und erscheint so als Vorbote jener
Symbolisten, die bald nach ihm auf den Plan traten, um die allegori-
sche Methode der Bibelauslegung auf die Spitze zu treiben.
Der Maimonismus mußte eben mit seiner fortschreitenden Ent-
wicklung unabweisbar von der Synthese weg zur Antithese führen,
von der Überwindung des Gegensatzes zwischen Glauben und Wissen
zu seiner zunehmenden Verschärfung. Zunächst wirkten die gemäßig-
ten Maimonisten noch in der von ihrem Meister vorgezeichneten syn-
thetischen Bichtung. Zu diesen vermittelnden Denkern gehörte vor
allem der aus Südspanien gebürtige Kommentator des „Führers“
Schemtob Falaquera (um 1225—1290). In dem von ihm verfaßten
Dialog zwischen einem Gläubigen und einem Philosophen („Iggereth
ha’wikkuach“) verficht er den Gedanken, daß zwischen der Grund-
auffassung der Bibel und der der Philosophie ungetrübte Harmonie
walte. In seiner didaktischen Novelle „Ha’mebakesch“ („Der Su-
chende“) preist er den Liebhaber des enzyklopädischen Wissens, das
er durch den Mund eines „Weltweisen“ in folgender Stufenfolge der
Jugend beizubringen empfiehlt: „Zunächst gilt es, sich die Kenntnis
der schriftlichen Lehre (Bibel), sodann die der mündlichen (Talmud)
nebst Kommentaren anzueignen; heutzutage genügt es indessen (statt
des Talmud) das ,Buch HalachotlT des Alfassi in Verbindung mit
dem Werke des Maimonides ,Mischne-Thora‘ und dessen Mischna-
kommentar durchzunehmen. Dies mag ausreichen, um sich in den
Fragen der religiösen Praxis zurechtzufinden. Wenn es die Zeit je-
doch erlaubt, so wäre auch das Studium der Mischna mit den talmu-
dischen Erläuterungen zu empfehlen, da dies zur Schärfung des Ver-
standes beiträgt. Indessen rate ich dir: vergeude nicht die Zeit mit
der Anhäufung von Fragen und dem Ausklügeln von Antworten, wie
es jene zu tun belieben, die sich Nächte hindurch mit der Erforschung
einer einzigen Halacha abgeben und am Morgen, über das Ergebnis
ihrer Arbeit befragt, um die Antwort verlegen sind. Nachdem du die
Thora bewältigt, widme dich den Wissenschaften, in erster Linie je-
nen, die die Vorstufe zur Physik und Metaphysik bilden. Erst dann
wirst du einsichtsvoller Frömmigkeit und wahrer Gotteserkenntnis
124
§ 16. Philosophie und Freidenkertum
teilhaftig werden“. Ungeachtet dieser Grundsätze weicht jedoch der
Verfasser in der Praxis von seinem Programm ab: als der „suchende“
Jüngling, der Held der Novelle, nach Bewältigung der Bibel, der
Mischna und des Talmud und sodann auch der Mathematik, Logik
und Physik seinen Meister darum angeht, ihn nunmehr in der Meta-
physik zu unterweisen, erhält er den folgenden Bescheid: „Versuche
doch selbst, die Metaphysik des Aristoteles zu lesen, denn es ist nicht
geboten, in Dingen zu unterweisen, die nicht für jeden Verstand faß-
bar sind“. Bei all seiner Hochachtung für Wissenschaft und Philo-
sophie war also Schemtob Falaquera dennoch geneigt, das Studium
der Metaphysik auf den engen Kreis auserwählter und gereifter Gei-
ster zu beschränken. Die geistige Gärung jener Zeit scheint ihn eben
mit schwerer Sorge erfüllt zu haben. In seinem Kommentar zu dem
„More nebuchim“ des Maimonides („More ha’more“, Vorrede) nimmt
Falaquera in folgender Formulierung auf die damaligen geistigen
Kämpfe Bezug: die einen glaubten, daß allein die „vom Himmel emp-
fangene Thora“ Wahrheit verbürge, Wissenschaft und Spekulation
aber nichts wert seien, namentlich insofern sie mit der Thora in Wi-
derspruch geraten; hingegen seien die anderen der Überzeugung, daß
allein die vernunftgemäße Untersuchung die Wahrheit ergebe, in-
dem sie behaupten, „Vernunft und Glaube seien zwei Lichter: die Ver-
nunft das große Licht, der Glaube aber das kleine, das seine Leucht-
kraft ebenso von dem großen empfange, wie sie der Mond der Sonne
verdankt“. Nur Maimonides sei es gelungen, meint sein Kommentator,
die Thora mit der Philosophie zu versöhnen, soweit man allerdings
von zwei Problemen absieht, deren Lösung die Philosophie grundsätz-
lich nicht gewachsen sei: dem der Weltschöpfung (die des Aristo-
teles’ Behauptung von der Ewigkeit der Materie Lügen strafe) und
dem der im irdischen Menschenleben waltenden Vorsehung. Aber auch
in bezug auf den „Führer“ glaubt Falaquera hervorheben zu müssen,
wie es schon Maimonides selbst in seiner Vorrede getan, daß sogar
dieses Buch nur für wenige Berufene bestimmt sei.
Andere Denker, die ungeachtet des erkannten Zwiespalts zwischen
Glauben und Vernunft auf keine der beiden Wahrheitsquellen ver-
zichten wollten, suchten der Schwierigkeiten dadurch Herr zu wer-
den, daß sie der „Pariser Mode“ jener Zeit zu huldigen begannen,
d. h. dem religionsphilosophischen Dualismus oder der Lehre von der
doppelten Wahrheit. Mit der größten Entschiedenheit brachte diesen
12 5
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
Gedanken der in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts in Süd-
frankreich lebende Isaak Albalag zum Ausdruck: „Jedesmal — sagt
er — wenn ich für die Thora oder den Talmud eine philosophische
Begründung ausfindig zu machen suche, vertiefe ich mich in die be-
treffende Textstelle, um sie, wenn es irgendwie angängig ist, auf diese
vernunftgemäße Weise zu erklären; erweist sich indessen der Weg
der logischen Ergründung oder Beweisführung in dem betreffenden
Falle als ungangbar, so lasse ich die Stelle einfach unerklärt und sage,
daß ich hier nichts verstehe, daß ihr Sinn mir verborgen bleibt. Dies
der Grund, warum du in vielen Fällen einen direkten Widerspruch
zwischen meinem Wissen und meinem Glauben entdecken wirst. Denn
auf Grund meiner wissenschaftlichen Einsicht bin ich oft davon über-
zeugt, daß sich etwas mit Naturnotwendigkeit auf eine bestimmte
Weise verhalte, und doch glaube ich auf Grund der Worte der Pro-
pheten, daß sich auf übernatürliche Weise das Gegenteil zugetragen
habe“. Der Philosoph und der Prophet erfassen eben die Wahrheit
auf verschiedenem Wege: der eine auf dem der Erkenntnis, der andere
auf dem der Offenbarung, weshalb sie sich denn auch nie verständi-
gen können. Die Antinomie sei unauflösbar, und der Denker sei zu
innerem Zwiespalt verdammt, einem Zwiespalt, der in dem Buche des
Albalag nur zu deutlich zum Ausdruck kommt. Bald läßt er sich zu
kühnen, geradezu häretischen Gedankengängen, wie z. B. zu der Ver-
teidigung der aristotelischen These von der „Urewigkeit des Welt-
alls“ hinreißen, bald wieder ist er geneigt, sogar den mystischen Über-
lieferungen vollen Wahrheitswert beizumessen. In seinem Geiste ver-
mählten sich auf sonderbare Weise der Konservativismus eines Al-
Ghazzali mit dem Radikalismus eines Averroes. So bringt er denn
seine eigenen Problemlösungen einerseits in der Form einer Umarbei-
tung der Werke des Al-Ghazzali, des „Umstürzlers“ in der Philo-
sophie, zur Darstellung (von diesem Buche des Albalag: „Tikkun
ha’philosophim“ sind bis jetzt nur Bruchstücke veröffentlicht) und
geht andererseits daran, die Geister durch eine Übersetzung der Werke
des Aristoteles zu erleuchten. Im weiteren Verlauf seiner philosophi-
schen Entwicklung führt Albalag die Theorie der doppelten Wahrheit
auf die folgende Formel zurück: der Unterschied zwischen den beiden
Wahrheitsquellen liege nicht in ihrem Wesen, sondern nur in ihrer
Ausdrucksform beschlossen; dieselben Ideen werden in der Philo-
sophie auf logischem Wege oder in Übereinstimmung mit den Natur-
126
§ 16. Philosophie und Freidenkertum
gesetzen dargetan, während sie in dem religiösen Schrifttum die Form
von Legenden annehmen, die sich der für die Menge mehr faßbaren
bildlichen Ausdrucksweise bedienen. So werden z. B. Ideen oder Dog-
men, wie die von der Unsterblichkeit, von der gerechten Vergeltung,
von der göttlichen Vorsehung u. dgl. für Erleuchtete und für Unauf-
geklärte in verschiedener Weise formuliert: in abstrakter und geisti-
ger Fassung für die einen, in konkreter und materialisierter Form für
die anderen. „In der Heiligen Schrift ist das eine für die Lippen, das
andere fürs Herz bestimmt. Der innere Sinn ist den Weisen, der
äußere den Einfältigen zugedacht“. Von hier aus war es nur noch ein
Schritt bis zum extremen Allegorismus, ein Schritt, den die Zeitge-
nossen des Albalag denn auch zu machen wagten.
An der Grenzscheide zwischen Rationalismus und Symbolismus
tritt uns um diese Zeit ein seltsamer Denker, der aus Villafranca bei
Perpignan gebürtige Lern ben Abraham ben Chaim oder Raibach, ent-
gegen (um 12 45—i3i5). Aus einer hochgebildeten Familie stam-
mend, mußte er später, von Mißgeschick verfolgt, mit dem Wander-
stab in der Hand, in Südfrankreich von Stadt zu Stadt ziehen. Eine
Zeitlang fristete er ein ärmliches Dasein als Lehrer in Montpellier,
um dann in Perpignan, im Hause eines reichen Mäzens, Samuel Sulami,
ein Asyl zu finden; später treffen wir ihn in Beziers und Arles. Die
zwei von ihm verfaßten Bücher („Bote ha’nefesch“ und „Liwiath
chen“) stellen eine Art Enzyklopädie der Wissenschaft und der Theo-
logie dar. Das erste, in Versen abgefaßte Buch handelt über Ethik,
Logik, Psychologie, Kosmogonie, über die Prophetie und das mes-
sianische Zeitalter; im zweiten werden allerlei mathematische, astro-
nomische, astrologische, physikalische und metaphysische Fragen be-
handelt und überdies theologische und dogmatische Probleme einer
eingehenderen Erörterung unterzogen. Der Verfasser gehörte offen-
bar zu jenen „Irrenden“, die am „Führer“ des Maimonides keinen
Rückhalt zu finden vermochten. Immer wieder kommt er auf die ihn
bewegende Frage von dem Unterschied zwischen einem Philosophen
und einem Propheten, von dem Gegensatz zwischen beweisbarer und
intuitiv erfaßbarer Wahrheit. Er bemüht sich, die Gebote des Judais-
mus zu rubrizieren und ihren inneren symbolischen Gehalt oder ihre
Bedeutung für die Sittlichkeit vor Augen zu führen. Er nimmt keinen
Anstoß daran, gleichzeitig sowohl die aristotelische Auffassung von
der Ewigkeit des Weltalls als auch das religiöse Dogma von der Welt-
127
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
erschaffung ex nihilo gelten zu lassen. Es ist für ihn bezeichnend,
daß er den wunderbaren Stillstand der Sonne und des Mondes wäh-
rend der Schlacht bei Gibeon auf „natürliche“ Weise zu erklären
sucht: Josua soll nämlich Gott nur darum gebeten haben, daß die
Wirkungskraft der den Feind Israels nach astrologischem Gesetze be-
günstigenden Gestirne unterbunden werde. Dieses Gemisch von Aber-
glauben und Freidenkertum ist für die ganze Weltanschauung des
Levi ben Chaim überaus charakteristisch. In den Fällen, wo vernunft-
gemäße Gründe für ihn nicht ausreichen oder er sie nicht in Anwen-
dung zu bringen wagt, nimmt er seine Zuflucht zu Symbolen oder
Allegorien. Um indessen nicht in den Verdacht der Ketzerei zu kom-
men, begnügte er sich häufig, gleich dem verkappten Freidenker Abra-
ham ibn Esra, mit unklaren Andeutungen und täuschte sogar Ab-
neigung gegen die Ansichten der „Allegoristen“ vor. Seine freidenke-
rischen Lehren pflegte Levi ben Chaim auch in mündlichen Vorträgen
und Predigten mitzuteilen, doch beschränkte er sich hierbei auf einen
engen Kreis von Gleichgesinnten und ging jeder Auseinandersetzung
mit Andersdenkenden behutsam aus dem Wege.
Die im Geiste der alten Schule des Philo von Alexandrien gehal-
tene Doktrin des Symbolismus oder Allegorismus war aber der einzig
mögliche Ausweg aus dem scharfen Widerstreit zwischen Tradition
und Freidenkertum. Die Rationalisten machten bei der von ihnen an-
gestrebten Säuberung des Gottesbegriffs vor den in Bibel und Hag-
gada vorkommenden anthropomorphistischen und bildlichen Redewen-
dungen nicht halt und versuchten, die Methode der allegorischen Aus-
legung auf den gesamten Inhalt der biblischen Erzählungen auszudeh-
nen. Sie gingen hierbei von der folgenden Erwägung aus: Sind wir
bereit, solche biblische Redewendungen wie „Gott sprach“, „Gott
streckte seinen Arm aus“ u. dgl. nur als poetische Bilder zu deuten,
warum sollten wir denn auch die heiligen Legenden nicht in über-
tragenem Sinne aufzufassen versuchen? Es schien ihnen unglaub-
lich zu sein, daß die Heilige Schrift, der Born tiefster Weisheit, sich
mit „unnützen“ Erzählungen über die Lebensschicksale einzelner Men-
schen hätte abgeben können. In dem ganzen erzählenden Teil der
Thora sahen sie daher nur einen Schleier, hinter dem tiefsinnige Ideen
verborgen wären. So ließen sie denn die in der Bibel wiedergegebenen
realen Tatsachen zu abstrakten metaphysischen Formeln oder mora-
lischen Grundbegriffen, Geschichte und Poesie zu philosophischer
128
§17. Der Kampf gegen weltliche Wissenschaft
Symbolik zusammenschrumpfen: Abraham und Sara z. B. seien, wie
sie meinten, nur Sinnbilder der Materie und der Form, die vier Erz-
mütter — die vier Elemente (Feuer, Luft, Wasser, Erde), der Kampf
der vier Könige gegen die fünf (Gen. Kap. i4) bedeute den Wider-
streit der vier Elemente gegen die fünf Sinne, die zwölf Stämme
Israels seien mit den zwölf Gestirnen des Tierkreises gleichbedeutend.
Manche der Allegoristen gingen aber noch weiter und ließen sogar
die praktische Frömmigkeit nicht unangetastet. Wenn alle Gesetze
und Bräuche des Judentums — so sagten sie — nur dazu da sind,
um in der Seele des Einzelnen erhabene religiös-sittliche Stimmungen
zu erwecken, so müßten diese Vorschriften für den, der von solchen
Stimmungen bereits durchdrungen ist, als unverbindlich gelten. Es
braucht kaum gesagt zu werden, daß derartige Lehren für den tra-
ditionellen Judaismus, wie ihn die Rabbiner auf faßten, eine schwere
Gefahr bedeuteten. Die Predigten der Freidenker und Skeptiker ge-
fährdeten das religiöse Gefühlsleben des Volkes und unterwühlten die
strenge rituelle Zucht. Die gesetzestreuen Rabbiner setzten sich zur
Wehr. Gleichwie sie in der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts gegen
die damals einsetzende Propaganda der Maimonisten in die Schränken
getreten waren, sahen sie sich jetzt, zu Beginn des XIV. Jahrhun-
derts, zur unnachsichtigen Bekämpfung der Folgen dieser Propa-
ganda genötigt.
§17. Der Kampf gegen Philosophie und weltliche Wissenschaft
Der von den Orthodoxen gegen die Freidenker wiederauf genom-
mene Kampf brach zuerst in demselben Montpellier aus, wo schon
siebzig Jahre früher auf Antrieb der Feinde der Gedankenfreiheit für
die Werke des Maimonides ein Scheiterhaufen errichtet worden war. An
die Spitze des neuen Feldzuges stellte sich ein glühender Fanatiker der
Tradition, Abba Mari Jarchi, der auch unter seinem französischen
Namen Don Astruc de Lunel bekannt ist. Diesem Glaubensschwärmer
schienen die Dinge recht einfach zu liegen: von zwiefachen Wahr-
heitsquellen wollte er nichts wissen und ließ nur die eine gelten,
die in der Thora enthaltene und im Talmud ausgelegte göttliche
Offenbarung1). Der Judaismus beruhe, seiner Meinung nach, auf
1) Die Ansichten des Abba Mari sind in seinen Streitschriften und Send-
schreiben zum Ausdruck gebracht, die in dem Buche ,,Die Weihgaben des Eifers“
(„Minchath Kenaoth“) wiedergegehen sind. Dieses Buch enthält den Briefwechsel
der Teilnehmer des in den Jahren i3o3— i3o5 ausgefochtenen Kampfes.
9 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
129
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
drei unerschütterlichen Dogmen: auf dem der Einheit und Unkörper-
lichkeit Gottes, der göttlichen Weltschöpfung und der Weltregierung.
Der Heide Aristoteles, meinte er, hätte mit seinem menschlichen Ver-
stände nur die eine dieser Grundwahrheiten erfaßt: das Dasein und
die Einheit Gottes, ohne jedoch die zwei anderen ergründen zu kön-
nen. Angesichts der Beharrlichkeit der Weltordnung hätte er nämlich
geglaubt, daß die Welt nicht durch den Willen Gottes erschaffen sei,
sondern seit Urewigkeit existiere und daß die göttliche Regierung
oder Vorsehung sich nur auf die höchsten Himmelssphären, nicht aber
zugleich auch auf das irdische Menschengeschlecht erstrecke. Indessen
sei schon der leiseste Zweifel an diesen zwei Dogmen für das gesamte
Religionsgebäude fatal: treten doch nach dieser Auffassung an die
Stelle des Schöpfers und des Weltlenkers, der die Menschen zu jener
sittlichen Vollkommenheit führe, die nur durch die Befolgung der
Israel zuteil gewordenen Gebote erreichbar sei, wesenlose, unpersön-
liche Naturmächte. So könnten sich diese beiden Weltanschauungen
nie vertragen und müßten immerdar in Fehde miteinander liegen.
Darum gelte es, ohne Aufschub außerordentliche Maßnahmen zu er-
greifen, damit die philosophische Ansteckungsgefahr sich nicht noch
weiter ausbreite und namentlich nicht auf die Jugend, die unreifen
Geister, übergreife, in deren Köpfen die neuen Ideen die schwersten
Verheerungen anrichten könnten.
In seiner schweren Sorge um die Zukunft des Judaismus suchte
sich Abba-Mari in den bevorstehenden Kämpfen des Beistandes des
Rabbiners von Barcelona Raschba zu versichern, der um jene Zeit als
höchste geistliche Autorität galt. Im Jahre i3o3 sandte Abba-Mari
nach Barcelona ein Schreiben, in dem er unter Hinweis auf die dem
Judaismus durch das Studium der Logik, der Naturwissenschaften
sowie der Philosophie des Aristoteles und des Averroes erwachsenden
Gefahren von dem „Führer der Generation“ ein entscheidendes Wort
der Verdammung gegen die „Verderber der heiligen Überlieferun-
gen“ verlangte. Nun war Raschba eigentlich mit dem provenzalischen
Eiferer ganz einer Meinung. In seinem Antwortschreiben gibt er denn
auch seinerseits der Empörung darüber Ausdruck, daß „Fremde in
die Tore Israels eingedrungen“ seien, daß „Araber und Grieche“ die
keusche Tochter Judas zur Sünde verführten, daß man Aristoteles Mo-
ses vorziehe und daß jung wie alt sich kopfüber in den Abgrund der
Metaphysik stürzten; desungeachtet sucht er mit der seiner Würde ge-
i3o
§17. Der Kampf gegen weltliche Wissenschaft
ziemenden Bescheidenheit die ihm zugemutete Einmischung in die
Angelegenheiten der provenzalischen Gemeinden abzulehnen: der An-
trieb müsse, meinte er, von den dortigen Rabbinern selbst ausgehen.
Hierauf ließ Abba-Mari seinem ersten Schreiben ein zweites folgen:
es gelte, keine Zeit zu verlieren, die Irrlehren griffen immer weiter
um sich, die Allegoristen verwandelten die Geschehnisse der Heiligen
Schrift in abstrakte Symbole, die Jugend predige hemmungslos ihre
Ideen in den Synagogen und in die Klänge der Davidspsalmen misch-
ten sich Reden eines Plato und Aristoteles. Es ist unsere Pflicht —
ruft Abba-Mari aus — die schädliche Ideen verbreitenden ketzerischen
Bücher „zu vernichten, zu verbrennen und auszurotten“, auch wenn
deren Verfasser die Larve der Frömmigkeit zur Schau trügen.
In seinem zweiten Antwortschreiben erklärt sich Raschba mit
diesen Gedankengängen durchaus solidarisch: auch er erblickte im
Allegorismus eine schwere Gefahr, da Menschen, für die Abraham und
Sara, die Urahnen der Nation, zu bloßen Symbolen der Materie und
Form verblaßt seien, auch mit der nationalen Religion innerlich be-
reits gebrochen hätten: „sie sind nicht Nachfahren Abrahams, nicht
einmal Esaus und Ismaels (also weder Juden, noch Christen, noch
Muselmanen), sondern stammen von der aus der Verbindung der
Lilith (der Urmutter der Dämonen) mit Adam entsprungenen Brut“.
Zugleich erteilte Raschba von neuem den Rat, für den Kampf gegen
die Ketzerei die an Ort und Stelle wirkenden Gesinnungsgenossen zu
gewinnen, wobei er die Führer der provenzalischen Gemeinden auch
von sich aus zu beeinflussen suchte. So wandte er sich mit einem Hir-
tenbrief an eines der angesehensten Mitglieder der Gemeinde von Per-
pignan, Don Crescas Vidal, in dem er diesen zum Kampfe gegen die
Ketzer aufrief, die, wie er sich ausdrückte, „die griechischen Philo-
sophen zu dem Range von Propheten erhoben, die wahren Propheten
aber zu Fabeldichtern herabgesetzt haben“. Als es Raschba zu Ohren
gekommen war, daß der Wortführer des Allegorismus, Levi ben
Chaim, in Perpignan im Hause des reichen Mäzens Samuel Su-
lami Zuflucht gefunden habe, machte der Rabbiner von Barcelona
diesem in einem besonderen Schreiben scharfe Vorhaltungen wegen der
Begünstigung der Ketzerei und verlangte, daß er dem Ketzer sein Haus
verbiete. Alle Beschwichtigungsversuche des Mäzens und des Levi ben
Chaim selbst vermochten Raschba nicht milder zu stimmen. Dennoch
zögerte Sulami eine Zeitlang, dem mittellosen Philosophen seine Hilfe
i3i
9*
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
zu entziehen, bis ein Familienunglück, der Tod seiner Tochter, in der
Gesinnung des Mäzens eine Änderung mit sich brachte. Der Philosoph
sah sich nun von neuem zu einem unsteten Wanderleben verdammt
und fiel so als erstes Opfer des vom Zaune gebrochenen „Religions-
krieges“.
Der von Abba-Mari und Raschba mit den Vertretern verschiedener
Gemeinden gepflogene Briefwechsel ergab, daß vielen Rabbinern und
Gemeindehäuptern der antiphilosophische Feldzug durchaus nach dem
Herzen war. Man einigte sich schließlich auf dem folgenden prak-
tischen Kampfziel: wenigstens den in den Talmudstudien noch nicht
genügend vorgeschrittenen jungen Leuten das Studium der Philo-
sophie und Naturwissenschaften unmöglich zu machen. Das Ptabbiner-
kollegium in Rarcelona erteilte diesem Angriffsplan seine Billigung,
wollte aber vor dessen Durchführung noch die Zustimmung der Ge-
meindevertreter von Montpellier einholen, wo der Urheber des ganzen
Streites, Abba-Mari, seinen Wohnsitz hatte. Bald (im Jahre i3o4)
traf denn auch in Montpellier ein Sendbote mit einem Brief aus Bar-
celona ein, der von Raschba und vierzehn Mitgliedern des Gemeinde-
rates unterzeichnet war. Die Verfasser schilderten in grellsten Farben
die Gefahr der ketzerischen Seuche und wiesen darauf hin, daß Ver-
breiter ähnlicher Irrlehren unter den Christen unweigerlich dem Flam-
mentod verfallen würden, während die Juden die Schuldigen nur mit
dem Bannfluch bestrafen könnten: so müsse denn über alle, die sich
vor Erreichung des dreißigsten Lebensjahres mit dem Studium „grie-
chischer Bücher“ befassen oder andere dazu anleiten, der strengste
Cherem verhängt werden. Abba-Mari begann hierauf in Montpellier
für diese folgenschwere Maßnahme Propaganda zu machen, doch
stellte es sich heraus, daß die Burg der Glaubenseiferer auch eine
Schar glühender Anhänger der Aufklärung beherbergte. An der Spitze
dieser Gruppe stand der Astronom und Philosoph Jakob ben Machir
aus dem ruhmreichen Geschlechte der Tibbons, der in christlichen
Kreisen unter dem Namen Profiat oder Profatius bekannt war. Sein
ganzes Leben lang stand dieser Mann im Dienste der Wissenschaft
und ihrer Verbreitung: so übersetzte er die „Elemente“ des Euklid,
den „Almagest“ des Ptolemäus, die „Logik“ des Averroes ins He-
bräische und verfaßte auch selbst astronomische Werke, die später
von Kopernikus und anderen hervorragenden Gelehrten in lateinischer
Übersetzung vielfach benutzt wurden. Um i3oo wurde er zum Dekan
i32
§17. Der Kampf gegen weltliche Wissenschaft
der medizinischen Fakultät von Montpellier ernannt, an der um jene
Zeit viele jüdische Ärzte wirkten. Gleich allen Tibboniden war auch
Jakob ben Machir ein eifriger Verfechter des geistigen Fortschritts.
Die von den Obskuranten entfachte Agitation erfüllte ihn mit Empö-
rung. Als nun das Sendschreiben der Rabbiner von Barcelona mit dem
Vorschlag, der Jugend das Studium von Wissenschaft und Philosophie
zu untersagen, in Montpellier eingetroffen war, trat Jakob Tibbon an
Abba-Mari mit der Bitte heran, zur Vermeidung einer Spaltung das
Schreiben unveröffentlicht zu lassen. Abba-Mari war aber keineswegs
geneigt, einem Plan zu entsagen, der ja von ihm selbst angeregt wor-
den war. In der Hoffnung auf die Unterstützung der Mehrheit entschloß
er sich, das Schreiben aus Barcelona an einem Sabbattage vor der ver-
sammelten Gemeinde zu verlautbaren (Elul i3o4). Jakob Tibbon
legte indessen gegen die geplante Unterdrückung der Gedankenfrei-
heit auf der Stelle energische Verwahrung ein und zog nicht wenige
Gemeindemitglieder auf seine Seite. Es kam zu schärfsten Ausein-
andersetzungen. Die Fortschrittler von Montpellier sandten nun ihrer-
seits ein beredtes Schreiben nach Barcelona, in dem sie darauf hin-
wiesen, daß der Judaismus weit davon entfernt sei, die weltlichen
Wissenschaften zu verpönen, daß er sie vielmehr von jeher in jeder
Weise begünstigt habe, daß schon König Salomo ein großer Natur-
forscher gewesen sei, daß auch die Schöpfer der Mischna in Mathe-
matik und Astronomie Bescheid gewußt hätten und daß der Entschluß,
der gesamten Jugend die weltlichen Wissenschaften vorzuenthalten, die
künftigen Generationen zu tiefster Unwissenheit verdammen würde.
Zum Schluß wandten sich die Brief Schreiber an Raschba und sein
Kollegium mit der Bitte, „das Schwert in die Scheide zu stecken“, um
den Spaltungen in Israel nicht noch weiter Vorschub zu leisten. Ihr
Ruf sollte jedoch ohne Widerhall verklingen.
Der Stein war ins Rollen gekommen. Aus Montpellier griff der
Parteihader auf die anderen provenzalisclien Gemeinden über. Von
beiden Seiten hagelte es Bezichtigungen und Schmähschriften; jede
der Parteien suchte die Mehrheit in den Gemeinden auf ihre Seite zu
bringen. Indessen war die Partei der Konservativen viel straffer or-
ganisiert: sie scharte sich um die beiden Zentralen in Barcelona und
Montpellier, deren eine von dem angesehensten Rabbiner jener Zeit,
deren andere von einem glühenden Agitator geführt wurde. Um sie
herum versammelten sich bald alle Obskuranten aus Lunel, Argentiere,
i33
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
Avignon und anderen Orten. Sie alle erwarteten von Raschba den ent-
scheidenden Schritt. Er aber zögerte noch immer: der geplante Che-
rem durfte, wie er meinte, erst dann verhängt werden, wenn min-
destens zwanzig Gemeinden, vor allem aber die älteste, die von Nar-
bonne, bereit sein würden, dem Bannspruch beizutreten. Es entspann
sich nun ein reger Meinungsaustausch zwischen Abba-Mari und dem
narbonnensischen „Nassi“ Kalonymos ben Todros. Abba-Mari suchte
Kalonymos zu überreden, seine weltliche Autorität mit der geistlichen
des Raschba zu vereinigen, damit der Bund der beiden heiligen Ge-
meinden Barcelona und Narbonne das Judentum vor der ihm drohen-
den Zersetzungsgefahr errette. Kalonymos hütete sich indessen, offen
Farbe zu bekennen. Mittlerweile traf in Spanien aus Deutschland, dem
Lande des engherzigsten Talmudismus, der schon erwähnte Rabbiner
Ascher ben Jechiel (Rosch) ein. Auf dem Wege nach Toledo be-
suchte er Montpellier sowie andere provenzalische Städte und sah hier
zu seinem Entsetzen, daß „viele den Naturwissenschaften nach jagen,
während sie den Pfad der Thora gänzlich vernachlässigen“. Dies
mußte auf einen Mann, für den der Talmud das A und 0 des Wissens
bildete, überaus betrübend wirken. So billigte denn Rosch durchaus
den Eifer des Abba-Mari und der anderen antiphilosophischen Ketzer-
richter und erklärte unumwunden, daß man das Studium der Philo-
sophie nicht nur Jugendlichen, sondern auch reifen Männern unter-
lagen müsse; denn will man, so meinte er, den biblischeii Ausspruch:
„Vertiefe dich in die Thora Tag und Nacht“ wahr machen, so dürfe
man sich den sonstigen Wissenschaften nur in der „Dämmerstunde,
die weder Tag noch Nacht ist“, widmen.
Als sich Raschba nunmehr davon überzeugt hatte, daß die Mehr-
heit in den Gemeinden auf seiten der orthodoxen Partei stand, ent-
schloß er sich endlich zu Taten überzugehen. An dem dem 9. Ab vor-
aufgehenden Trauersabbat (i3o5) wurde in der Synagoge von Bar-
celona die folgende Entschließung verkündigt, die auch für die an-
deren Gemeinden vorbildlich werden sollte: „Wir haben angeordnet
und es uns und unserer Nachkommenschaft zur Pflicht gemacht,
unter Aufbietung des Cherem darauf zu bestehen, daß kein Ge-
meindemitglied unter fünfundzwanzig Jahren, heute und fürder fünf-
zig Jahre lang, sich mit dem Studium von griechischen Büchern über
Naturkunde und Theologie, sei es im Urtext oder in irgendeiner Über-
setzung, befassen solle. Auch ist es allen Mitgliedern unserer Ge-
i34
§17. Der Kampf gegen weltliche Wissenschaft
mein de untersagt, irgendeinen Juden vor Erreichung des erwähnten
Alters in diese Wissenschaften einzuweihen, auf daß sie ihn nicht von
der über alle solche Wissenschaften erhabenen Thora Israels abbräch-
ten. Es geht nicht an, das auf Einbildung und sinnliche Wahrneh-
mung gegründete menschliche Wissen mit der Allwissenheit Gottes in
eine Reihe zu stellen. Der staubgeborene Mensch darf sich nicht an-
maßen, seinen Schöpfer zu beurteilen und etwa zu sagen: dies vermag
Er zu vollbringen, jenes aber nicht, denn die Frucht einer solchen
Gesinnung ist die völlige Abwendung vom Glauben. Von dieser Ver-
ordnung ist nur das Studium der Medizin ausgenommen, wiewohl
auch sie sich auf Naturkunde gründet, weil die Thora die Ausübung
der ärztlichen Kunst ausdrücklich gestattet“.
Der Wortlaut dieses Gherem weicht in manchen Einzelheiten von
dem ursprünglich geplanten Text ab, da er auf dem Wege eines Kom-
promisses zwischen den gemäßigten und den extremen Orthodoxen
festgelegt worden war: so ist die Altersgrenze für das Studium der
Philosophie von dreißig auf fünfundzwanzig Jahre herabgesetzt; die
Gültigkeitsdauer des Verbotes ist auf fünfzig Jahre beschränkt; fer-
ner ist auch die Kategorie der verbotenen Bücher streng umschrieben:
als solche gelten ausschließlich naturwissenschaftliche und theologi-
sche Werke griechischen Ursprungs. Zugleich mit diesem Gherem
wurde aber im Namen des Raschba und seines Kollegiums ein erwei-
terter Text veröffentlicht, der sich auch noch auf die Interpreten der
Bibel in philosophisch-allegorischem Geiste erstreckte: „Sie behaupten
— so hieß es unter anderem in dieser Kundgebung — alles, vom Be-
richt über die Weltschöpfung bis zu dem über die Verkündigung der
Sinaigebote, sei nur ein Gleichnis (eine Allegorie, ein Symbol), Abra-
ham und Sara seien Symbole der Materie und der Form, die zwölf
Söhne Jakobs die zwölf Gestirne usw. Sogar die Gesetze lassen sie
nicht unangetastet, indem sie zu beweisen suchen, ,Urim und TuminT
(das Orakel der Hohepriester im alten Tempel) seien ein jetzt „Astro-
labium4 genanntes Instrument gewesen; von Moses behaupten sie, er
sei nur ein Gesetzgeber gewesen, der Gebote und Verhaltungsmaß-
regeln für das Volk ausgearbeitet, ihm aber keineswegs eine vom
Himmel empfangene Thora überliefert habe. Einer von ihnen (den
Ketzern) ließ sich sogar in einer Synagogenpredigt in ein Rätselraten
darüber ein, warum Moses den Genuß des Schweinefleisches verboten
hätte: sollte es seiner Unbekömmlichkeit wegen gewesen sein, so
i35
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
müßte ja auch den Ärzten davon etwas bekannt sein. Ein anderer ver-
stieg sich zu der Behauptung, die Tefillin (Gebetriemen) würden ein-
zig und allein zu dem Zwecke um Haupt und Oberarm gebunden, da-
mit der Mensch beim Anblick dieser in der Nähe der Organe des Den-
kens und des Gedächtnisses, des Gehirns und des Herzens, getragenen
Ritualien sich an Gott erinnere (so daß der wahrhaft Fromme sie
wohl entbehren könne)“. Die Parteigänger solcher ketzerischen An-
sichten sollten nun als verflucht, als aus der Gemeinschaft ausge-
stoßen und zu ewigen Höllenqualen verdammt gelten; ihre Werke
wurden mit den Zauberbüchern in eine Reihe gestellt und zur Ver-
brennung verurteilt. Beide Cheremtexte1) wurden von Barcelona aus
allen Gemeinden Spaniens und Frankreichs zugeschickt, damit sie
nach diesem Vorbild auch ihren Mitgliedern den Bannfluch verkün-
deten.
Um den verhängten Cherem unwirksam zu machen, proklamierte
die von Jakob Tibbon geführte Aufklärerpartei in Montpellier einen
Gegencherem gegen alle diejenigen, die sich anmaßen sollten, Mai-
monides zu verketzern oder irgendeinen anderen rechtgläubigen
Schriftsteller um seiner philosophischen Lehren willen zu schmähen,
wie auch gegen die, die junge Leute am Studium der Naturkunde
und der Religionsphilosophie zu behindern trachteten. Auch der Ge-
gencherem ward der Öffentlichkeit mit aller Feierlichkeit mitgeteilt.
Mit Absicht setzten die Protestierenden an die Spitze ihrer Prokla-
mation den Namen des Maimonides, um dem Volke vor Augen zu füh-
ren, daß der Feldzug der Dunkelmänner auch gegen den großen
Meister gerichtet sei, den jetzt sogar die Orthodoxen nicht mehr offen
anzugreifen wagten. Der geschickte Gegenzug verfehlte auch nicht
seinen Zweck und viele schlossen sich dem Gegencherem an. Darüber
tiinaus wurde der Versuch gemacht, auch die christlichen Behörden
in den Parteikampf hineinzuziehen. Einflußreiche Männer aus der
Gefolgschaft des Jakob Tibbon, die zu dem Stadthaupt von Mont-
pellier freundschaftliche Beziehungen unterhielten, wandten sich näm-
lich an diesen mit der Bitte, ihnen bei der Durchführung der drei
Punkte des Gegenbannes Beistand zu leisten; der Stadthauptmann er-
1) Der ersle Cherem (vollständig in den Responsen des Raschba, Nr. 4*5
und 417 abgedruckt) ist von Raschba und 36 Notabein von Barcelona unter-
zeichnet, der zweite (im „Minchath Kenaoth“ zu finden) trägt hingegen nur
zwölf Unterschriften, die des Raschba mit einbegriffen.
i36
§17. Der Kampf gegen weltliche Wissenschaft
klärte aber, daß die beiden ersten, auf den inneren Religionsstreit
bezüglichen Punkte ihn nichts angingen und daß er seinen Freunden
nur in ihrem Kampfe gegen das Verbot der weltlichen Bildung behilf-
lich sein wolle. Indessen ist über den weiteren Verlauf dieser Ange-
legenheit nichts bekannt.
Zur Verteidigung der geächteten Wissenschaft erhoben sich eine
Reihe gelehrter Männer von hohem literarischen Ansehen, die sich
durch das in Barcelona proklamierte Anathema auch persönlich ge-
troffen fühlten. Der hervorragende Talmudgelehrte Menachem Meiri
aus Perpignan, der Verfasser eines sich an das System des Maimonides
anlehnenden kritisch-geschichtlichen Kommentars zum Talmud („Beth
ha’bechira“), richtete an Abba-Mari anläßlich des in Barcelona aus-
gerufenen Bannfluchs einen geharnischten Protest. Er verdammte dar-
in jene unsinnige Taktik, kraft derer die edelsten Früchte mensch-
licher Schaffenskraft nur aus dem Grunde verboten würden, weil der
unreife Verstand darüber stolpern könnte. „Ist denn — so ruft er
aus — der Garten der Weisheit (Pardes), seitdem Elischa ben Abu ja
dort Verheerungen angerichtet, endgültig geschlossen?“ Mit einem
nicht weniger scharfen Protest trat außerdem der begabte junge
Schriftsteller Jedaja Bederesi („aus Beziers“, um 1280—i34o) her-
vor, der wegen seines köstlichen hebräischen Stils auch ha’Penini
(„Perlenfischer“) genannt wurde. Ein großer Verehrer des Abraham
ibn Esra und des Maimonides, befaßte er sich vornehmlich mit moral-
philosophischen Fragen und schuf sich bleibenden Ruhm durch sein
volkstümlich gewordenes Werk „Bechinath olam“ („Prüfung der
Welt“), das tiefschürfende moralische und philosophische Erörterun-
gen im Stile des „Koheleth“ enthält. Als er von dem in Barcelona über
Wissenschaft und Philosophie verhängten Bannfluch Kunde erhielt,
konnte er nicht umhin, sich an Raschba mit einem von edler Ent-
rüstung zeugenden Schreiben zu wenden (i3o6). Es empöre ihn we-
niger — so schrieb er — die der Wissenschaft zugefügte Schmach,
denn die Wissenschaft sei ja über alle Schmähungen erhaben, als
vielmehr die grundlose, unerhörte Verketzerung der gesamten Ge-
lehrtenwelt der Provence. Wissenschaft und freie Forschung hätten
schon seit den Zeiten des Saadia Gaon im Judentum volles Bürger-
recht erworben und seien durch den Namen des großen Maimonides,
dessen Andenken von allen und jedem hoch in Ehren gehalten wer-
den müßte, für immerdar geheiligt. Die Philosophie hätte dem Judais-
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
mus unersetzliche Dienste geleistet: sie hätte den Gottesbegriff von
allem sinnlichen Beiwerk gesäubert sowie dem Prinzip der Willens-
freiheit und der sittlichen Verantwortung des Menschen höchste Gel-
tung verschafft. Eine von Philosophie und Wissenschaft nicht er-
leuchtete Religion würde zu rohestem Aberglauben ausarten. Zum
Schluß betonte Jedaja mit allem Nachdruck, daß es nie und nimmer
gelingen werde, die freie Wissenschaft durch Maßregelungen ver-
stummen zu lassen. „Möge nur Josua ben Nun (eine Anspielung auf
Raschba) die Wissenschaft verdammen, man wird ihm dennoch nicht
Folge leisten, denn das Volk hängt mit viel tieferer Verehrung an
Moses (Maimonides) und an seiner Lehre und ist bereit, sich für die-
ses Heiligtum mit Leib und Seele einzusetzen, um es auch den künf-
tigen Generationen als ungeschmälertes Erbe hinterlassen zu können“.
Der Kampf zwischen den Verteidigern und den Gegnern der Ge-
dankenfreiheit drohte immer bedenklichere Formen anzunehmen, als
die französischen Juden plötzlich von einem schweren Unheil heim-
gesucht wurden, das sie allen Parteihader zurückstellen ließ: genau
ein Jahr, nachdem in Barcelona und Montpellier der Cherem und
Gegencherem proklamiert worden waren, gab nämlich Philipp der
Schöne den Befehl, die Juden restlos aus Frankreich zu vertreiben.
Von diesem Schlage wurden, wie erwähnt, auch die jüdischen Gemein-
den von Languedoc und der Provence betroffen, mit Ausnahme der-
jenigen, die zu dem Besitzstand des aragonischen Königs Jakob II.
gehörten. Die jüdischen Zentren in Narbonne, Beziers, Lunel und an-
deren Städten wurden völlig zerstört. Dem gleichen Los verfiel auch
die Gemeinde von Montpellier, der Hauptschauplatz des Kulturkamp-
fes, die um jene Zeit unter der Oberhoheit des französischen Königs
stand (oben, § i3). Über das den dortigen Juden zugestoßene Miß-
geschick wie über sein eigenes erfahren wir von dem uns als Urheber
des unseligen Bruderzwistes bekannten Abba-Mari: „Im Jahre 5o66
(i3o6) haben es die himmlischen Mächte um unserer Sünden willen
bestimmt, daß ein Befehl des französischen Königs kundgetan werde,
wonach alle Juden ihres Besitzes beraubt, aus ihren Häusern vertrie-
ben und aus dem Königreiche ausgewiesen werden sollten. Alle, jung
und alt, Frauen und Kinder, wurden zunächst am Sonntag, dem 16.
Ab in Haft genommen, um sodann aus dem Lande verbannt zu werden.
Aus der Stadt Montpellier wurden die Juden im Monat Marchesch-
wan des Jahres 6 (Oktober i3o6) ausgewiesen. Ein Teil von ihnen
i38
§ 18. Kabbala und messianische Schwärmerei
begab sich nach Perpignan, wo sie unter dem Schutze des Königs von
Mallorca Sicherheit und Erwerbsmöglichkeit zu finden hofften, wäh-
rend die anderen, auf die Hilfe Gottes bauend, in der Provence ob-
dachlos umherirrten. Ich selbst übersiedelte zuerst aus der Provence
nach der Stadt Arles, um diese später zu verlassen und von neuem
nach Perpignan zu ziehen, wo ich am ersten Tage des Monats Schebat,
des sechsten Monats seit unserer Vertreibung, anlangte“. Ein großer
Teil der Verbannten hat sich somit in den unter der Gewalt des „Kö-
nigs von Mallorca“, d. i. Aragoniens, verbliebenen französischen Be-
sitzungen niederlassen können. Des weiteren berichtet Abba-Mari, die
Freidenker hätten ihn und seine Gesinnungsgenossen unter den Ver-
triebenen auch in seinem neuen Wohnorte nicht unbehelligt gelassen,
indem sie mit Hilfe der königlichen Beamten seine Niederlassung in
Perpignan zu hintertreiben gesucht hätten, doch seien die Orthodoxen
von einigen Mitgliedern der dortigen Gemeinde in Schutz genommen
worden. In der ersten Zeit vermochte also nicht einmal das gemein-
same Unglück die Gegner auszusöhnen; allmählich sollte indessen
der Kulturkampf erlöschen. Die Vernichtung des französischen Zen-
trums versetzte alle ohne Unterschied der Parteistellung in größte Be-
stürzung. Als die Vertriebenen dann im Jahre i3i5 in ihre alte Hei-
mat wieder zurückkehren durften, hatten sie an ganz anderes als an
innere Kulturkämpfe zu denken: standen sie doch vor einem erbitter-
ten Kampf ums bloße Dasein, der bis zum Ende des unheilvollen
XIV. Jahrhunderts unausgesetzt fortdauern sollte.
§18. Mystische Theosophie, Kabbala und messianische Schwärmerei
Wenn der Rabbinismus in seinem hundertjährigen Kampfe mit
der Aufklärungsphilosophie schließlich doch die Oberhand behielt,
so verdankte er seinen Sieg nicht zuletzt jener mystischen Nebenströ-
mung, die im XIII. Jahrhundert unter den spanischen und provenzali-
schen Juden immer weitere Kreise zog. Der Rationalismus des Mai-
monides und seiner radikaleren Anhänger vermochte das religiöse Ge-
wissen derjenigen, die während jener düsteren Epoche im Judaismus
Nahrung fürs Herz, nicht für den Verstand, Selbstvergessenheit, nicht
Selbsterkenntnis suchten, in keiner Weise zu befriedigen. Mystisch
gestimmte Menschen konnten sich mit der von den Philosophen auf-
gestellten Doktrin des gesunden Menschenverstandes, die die Religion
139
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
ihres geheimnisvollen Zaubers beraubte und die lebendigen Phantasie-
gestalten durch abstrakte Ideen ersetzte, durchaus nicht abfinden.
Noch weniger konnte ihnen die von den frommen Talmudisten mit
so großem Eifer gepflegte formalistische Gelehrsamkeit, die minu-
tiöse Filigranarbeit auf dem Gebiete der Gesetzeskunde Zusagen. Der
von den Philosophen geweckte religiöse Wissensdrang trieb solche
Geister in immer höhere Regionen des Transzendenten, in die Sphäre
des nur intuitiv Erfaßbaren. Die Vernunft, für die die Geheimnisse
des Weltalls undurchdringlich blieben, sah sich auf die Hilfe der
leichtbeschwingten Phantasie angewiesen, und so mußte die Theo-
logie der Theosophie den Rang abtreten1). Statt in der Naturkunde
und in der aristotelischen Metaphysik die Begründung für die er-
habensten Dogmen und Überlieferungen des Judaismus zu suchen,
suchte man sie nunmehr in den Urquellen des nationalen Schaffens.
In den tiefen Schluchten der talmudischen Haggada und des Mi-
drasch, in den Apokryphen und Apokalypsen des gaonäischen Zeit-
alters („Buch der Schöpfung“ u. a.; s. Band III, § 71) entdeckte
man unerschöpfliche Fundgruben theosophischer Weisheit, dort
glaubte man den Schlüssel zu den Geheimnissen des Glaubens
finden zu können. Zugleich erschien die „Geheimwissenschaft“
(„Chachma nistara“) den Orthodoxen als ein heilsames Gegengift
gegen die rationalistische Philosophie, weshalb denn auch der My-
stizismus, mit Ausnahme einiger seiner extremsten Abzweigungen,
zum treuen Gefährten und Kampfgenossen des Rabbinismus werden
konnte.
So verbreitete sich im Spanien und Frankreich des XIII. Jahr-
hunderts immer weiter jene esoterische Lehre, für die der Name
Kabbala, d. h. „Überlieferung für die Eingeweihten“, aufgekommen
war. Gleich der im Talmud fixierten „mündlichen Lehre“ des Alter-
tums klammerte sich auch die neue mystische Lehre an den Urquell
des Judaismus, an die Bibel. Ebenso wie einstmals die Schöpfer des
Talmud, sich auf die mündliche Überlieferung berufend, ihre zahl-
reichen Gesetzesvorschriften von dem Wortlaut der Thora abzuleiten
suchten, so wollten jetzt auch die Kabbalisten hinter jedem biblischen
1) Gleichwie in der Entwicklung der scholastischen Theologie läßt sich auch
auf dem Gebiete der Theosophie eine Parallele zwischen den damaligen jüdischen
und christlichen Geistesströmungen ziehen. Auch im Christentum vermochte
sich im XIII. Jahrhundert neben dem dominikanischen Intellektualismus eines
Thomas von Aquino die franziskanische Mystik eines Bonaventura durchzusetzen.
i4o
§ 18. Kabbala und messianische Schwärmerei
Ausdruck nur den Eingeweihten faßbare Erkenntnisse entdecken, die
sie ihrerseits auf mysteriöse, angeblich aus der Zeit der Erzväter
und Moses’ stammende Überlieferungen zurückführten.
Der Kabbala des XIII. Jahrhunderts lag als unverrückbare Voraus-
setzung das schon von Philo eingeführte Prinzip der Emanation zu-
grunde. Nach der Lehre der Kabbala ist Gott der „En-Sof“, das Un-
endliche, das unerfaßbare, aller konkreten Attribute bare Urwesen,
das sich nur in seinen Schöpfungswerken offenbart. Eine solche ab-
strakte, jeder Materialität entbehrende Macht habe indessen die ma-
terielle Welt nicht unmittelbar erschaffen können, weshalb zwischen
dem En-Sof und der wahrnehmbaren Welt zehn vermittelnde schöpfe-
rische Kräfte oder Sefiroth eingeschaltet seien („Sefira“ bedeutet
„Zahl“ im Sinne der alten, im „Sefer Jezira“ entwickelten Zahlen-
mystik und ist seinem Klang, zum Teil auch seinem Sinne nach, mit
den himmlischen „Sphären“ des Aristoteles verwandt). Zunächst sei
aus Gott auf dem Wege der Emanation oder Ausstrahlung die erste
Sefira hervorgegangen, aus der ersten dann die zweite und so weiter
bis zur zehnten. Diese zehn Sefiroth, Gott ähnlich, jedoch nicht
wesensgleich, stünden der sichtbaren Welt näher als ihr erster Ur-
heber. Sie seien es, die die Welt erschaffen hätten und sie lenkten,
wobei eine jede von ihnen ihre besondere Funktion zu erfüllen habe.
Die symbolischen Bezeichnungen für die Sefiroth in ihrer kabba-
listischen Rangordnung sind die folgenden: Krone, Vernunft, An-
schauung, Liebe (oder Barmherzigkeit), Macht, Schönheit, Festigkeit,
Pracht, Urgrund und endlich das Reich (Herrrschaft). Die ersten drei
Sefiroth seien für die höchste geistige Weltordnung bestimmend: für
die Vernunft, die Prophetie oder die göttliche Offenbarung; die vierte,
fünfte und sechste für die sittliche Weltordnung und die letzten vier
für die Welt der Sinne. Die drei Gruppen entsprächen zugleich den
drei Stufen des Schöpfungswerkes: dem Erkennbaren, dem Wahr-
nehmbaren und dem Materiellen (Muskal, Murgasch, Mutbaa). Ver-
mittels der Sefiroth werde die Gottheit unserer sinnlichen Wahrneh-
mung gleichsam erfaßbar. Wenn es in der Bibel heißt: „Gott sprach“,
„stieg auf die Erde herab“, „fuhr gen Himmel“, so bezöge sich dies
nicht auf den unergründlichen „En-Sof“ selbst, sondern nur auf die
von ihm ausgestrahlten Sefiroth. Das Geheimnis des Gebetes bestände
darin, daß der Mensch durch seine Inbrunst auf die eine oder andere
der Sefiroth einzuwirken vermöge, da jedes Wort des Gebetes in den
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
höheren Welten bestimmte Schwingungen auslöse. Die Lehre von der
Seele und dem Leben im Jenseits wird in der Kabbala mit der Lehre
von der Seelenwanderung („Gilgul“) verbunden. Nach Ablauf des
irdischen Wandels erhebe sich nämlich die makellose Seele unbehin-
dert in das Reich der unsterblichen Geister, während die durch Sün-
den befleckte in den Körper eines anderen, neugeborenen Menschen
hinüberwandere und solange in ihre irdische Hülle gebannt bleiben
müsse, bis sie ihre Sünden gebüßt und ihre Reinheit wiedererlangt
haben werde.
Diese nebelhafte Theosophie versöhnte die abstrakte Dogmatik des
Judaismus mit der für die Gläubigen unüberwindlichen Neigung, die
Gottheit zu materialisieren. Die über alle Schranken des Bewußtseins
hinaus strebenden Geister fanden in dieser Lehre das ersehnte Sprung-
brett. Die Kabbala schien ihnen die Lösung der tiefsten Welträtsel
zu bieten, auf die sie in dem „geheimen Sinn“ des Ribeltextes selbst
vielsagende Anspielungen zu finden vermeinten.
Die Ausbreitung der kabbalistischen Lehre unter den spanischen
und provenzalischen Juden ging in der ersten Hälfte des XIII. Jahr-
hunderts parallel mit der Verbreitung der Ideen des Maimonides. Zu
derselben Zeit, da die einen ihren Geist durch die nüchterne Philo-
sophie des „Führers der Irrenden“ erleuchteten, vertieften sich die
anderen in die Theosophie des „Ruches der Schöpfung“ und ähnlicher
mystischer Schriften. Die Urheimat der Kabbala war die aragonische
Stadt Gerona. Hier wurde die „Geheimlehre“ zu Beginn des XIII.
Jahrhunderts von einem gewissen R. Asriel gepredigt, über dessen
Leben uns jedoch nichts Näheres bekannt ist. Aus der ihm zuge-
schriebenen Abhandlung über die zehn Sefiroth („Esrath Adonai“) ist
zu ersehen, daß bereits ihm „Philosophen“ gegenüberstanden, die, nur
beweisbare Wahrheiten anerkennend, die übervernünftigen Begriffe
von den zehn Sefiroth und dem „En-Sof“ nicht gelten lassen wollten.
Diesem rätselhaften R. Asriel soll nun, wie vermutet wird, der be-
rühmte Ramban seine kabbalistischen Ideen entlehnt haben. In dessen
Kommentar zur Bibel sind vielfach Anspielungen auf die „Geheim-
nisse der Thora“ („Sodoth ha’thora“) zu finden. Zunächst scheint
sich die Kabbala, wie jede esoterische Doktrin, nur von Mund zu
Mund verbreitet zu haben, in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhun-
derts wagen sich indessen ihre Adepten auch schon in die breitere
Öffentlichkeit, in die Literatur hinaus.
I 4.2
§ 18. Kabbala und messianische Schwärmerei
Einer der ersten kabbalistischen Schriftsteller war der Oberrabbi-
ner von Kastilien, der „Nassi“ Todros Abulafia aus Sevilla (gest.
1283), der am Hofe des kastilischen Königs Alfons X. als Arzt oder
Finanzmann eine hohe Stellung einnahm. Ein Neffe des bekannten
Feindes der Philosophie Meir Abulafia, machte es Todros auch seiner-
seits den Rationalisten zum Vorwurf, daß sie sich anmaßten, die
Gottheit auf dem Wege logischen Denkens zu erfassen und die gött-
lichen Gebote nach ihrer sinnfälligen Zweckmäßigkeit zu beurteilen;
empörend fand er es unter anderem, daß die Philosophie die Existenz
der bösen Geister in Abrede stellte. Todros selbst huldigte der An-
sicht, daß die letzte Wahrheit nur vermittels der übermenschlichen, in
der Kabbala enthaltenen Weisheit zu erreichen sei. Zur Bekräftigung
der Lehre von den Sefiroth und der Seelen Wanderung pflegte er sich
auf die talmudische Haggada zu berufen und verfaßte in dieser Ab-
sicht, schon im Greisenalter stehend, ein Buch unter dem Titel ,,Ozar
ha’Kabod“ („Schatz der Herrlichkeit“), wo bereits manche im „Sohar“
wiederkehrende Sätze zu finden sind1).
Halb Metaphysiker, halb Mystiker war der Zeitgenosse des Abu-
lafia Isaak Allatif (gest. um 1290), der Verfasser mehrerer, von den
Kabbalisten hochgeschätzter Werke („Zurath ha’olam“, „Schaar ha’-
schamaim“ u. a.). Allatif vertritt den Standpunkt des mystischen Pan-
theismus: „Die absolute Übersinnlichkeit des göttlichen Wesens und
seine Allwissenheit zeugen davon, daß Gott in allem und alles in Gott
sei“. Die Selbstoffenbarung der Gottheit in der Welt der Geister und
1) Die biographischen Mutmaßungen von Graetz (VII, 188 und Note 12) be-
dürfen nach den neuesten Forschungsergebnissen mancher Berichtigung. Vor allem
hat sich die von Zacuto im „Jochassin“ wiedergegebene Nachricht bestätigt, wo-
nach Todros Abulafia im Jahre 12 83 und nicht erst im Jahre i3o4 gestorben
ist. Ferner wirkte er am Hofe des kastilischen Königs Alfons X. und nicht an
dem seines Nachfolgers Sancho IV. Eben als Gefolgsmann des Alfons mochte
Abulafia seine Reise nach Perpignan gemacht haben, wo ihn Abraham Bederesi
als einen Fürsten der Dichtkunst feierte. Die Verhaftung und Verurteilung des
Abulafia, von der Gavisson in „Omer ha’schikcha“ zu berichten weiß, stand wohl,
ebenso wie der Untergang des Don Zag de Malea (oben, § 9), mit dem von Sancho
gegen seinen Vater angezettelten Aufstand in Zusammenhang. In allerjüngster Zeit
ist ein völlig unversehrtes Manuskript des „Diwan“ des Todros Abulafia zu-
tage gefördert worden, das nahezu tausend Gedichte enthält und zur Zeit in
London publiziert wird. — S. Baer in „Debir“ II, 3i4; Scholem in „Kiriath
Sefer“ I, 168 und „Kitbe ha’Universita bi’Jeruschalaim“ I, 26; Gaster, The
Diwan of Todros Abulafia, in der Londoner Wochenschrift „The Jewish Guardian“
1926, Nr. 35i.
l43
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
in den nachgeordneten Sphären veranschaulicht Allatif durch geome-
trische Analogien: Gott verhalte sich zur Welt, wie etwa der Punkt zur
Linie. — Ein Zeitgenosse des Allatif, Joseph Gikatilla (gest. um
i3o5), neigte eher zu der „arithmetischen“ Methode in der Kabbala:
in dem Werke „Ginath egos“ („Der Nußgarten“) beschäftigte er sich
mit kabbalistischen Wortbildungen und Berechnungen („Zerufim“),
die er mit den einzelnen Sefiroth in Verbindung brachte. Er galt über-
dies als ein Meister in der Beschwörungskunst und auch als „Wunder-
täter“.
Die Kabbala beschränkte sich indessen nicht allein auf Wesens-
schau und Spekulation; sie ließ auch begeisterte Schwärmer auf kom-
men, die auf den prophetischen, ja auf den messianischen Beruf An-
spruch erhoben. Ein solcher hemmungsloser Schwärmer war Abraham
Abulafia aus Saragossa (um 12[\o—1291), dem ein ziemlich kurzes,
aber sturmbewegtes Leben beschieden war. Schon in seiner Jugend
unternahm er eine Reise mit dem abenteuerlichen Zweck, die jenseits
des legendären Stromes Sambation lebenden zehn Stämme Israels auf-
zusuchen, eine Reise, die ihn nach Italien, Griechenland und Palästina
führte. In Italien begeisterte er sich für die Philosophie und las meh-
rere Male hintereinander den „Führer“ des Maimonides. Nach Spa-
nien zurückgekehrt, gab er sich dem Studium der Kabbala hin. „In
meinem einunddreißigsten Lebensjahr, als ich in Barcelona weilte —
so erzählt Abulafia —, wurde ich durch göttlichen Willen aus meinem
Schlummer erweckt und vertiefte mich in das ,Buch der Schöpfung4
(„Sefer Jezira“) samt Kommentaren, und der Geist Gottes kam über
mich und ich schrieb gelehrte Bücher, darunter auch Werke prophe-
tischen Inhalts. Mein Geist wurde wach, denn es regte sich in mir der
Heilige Geist, und ich erschaute viele wunderbare Gesichte . . . Und
ich erblickte allerlei seltsame Phantasiegebilde und meine Gedanken
verwirrten sich, denn niemand war da, mich auf den rechten Weg zu
weisen, und fünfzehn Jahre lang war ich wie ein Blinder, der am
hellichten Tage nach seinem Wege tastet. Der böse Geist verfolgte
mich und ich war nahe daran, über all den Dingen, die ich erschaute,
den Verstand zu verlieren“. In einem solchen Zustande der Exaltation
erfand Abulafia seine eigene kabbalistische Theorie, die von der
Sefiroth-Lehre in vielen Punkten wesentlich abweicht. Er erweckte
die Grundidee des „Buches der Schöpfung“ zu neuem Leben, nach
der das Wort Gottes die Welt vermittels der zweiundzwanzig Buch-
i44
§ 18. Kabbala und messianische Schwärmerei
staben des hebräischen Alphabets erschaffen habe. Die Verbindung
der Buchstaben zu geheimnisvollen Formeln der Gottesnamen („ze-
rufe-schemoth“) verlieh dem Kundigen, wie die Mystiker meinten,
die Kraft, Wunder zu wirken, und so redete sich denn Abulafia ein,
daß auch er über eine solche Zauberkraft verfüge. Er begab sich nach
Italien, um dort seine Lehre in Wort und Schrift zu verbreiten. Um
diese Zeit verfiel er plötzlich auf den tollen Gedanken, durch die Ver-
mittlung der Kabbala das Christentum mit dem Judentum zu ver-
schmelzen. Eine Handhabe hierfür schien ihm die dem christlichen
Trinitätsdogma verwandte Sefirothlehre zu bieten. Ursprünglich hatte
allerdings Abulafia an dieser von ihm entdeckten Verwandtschaft
selbst Anstoß genommen und den Anhängern der Sefirothlehre aus-
drücklich vor gehalten, daß „gleichwie die Christen Gott verdrei-
fachen, sie ihn verzehnfachen“; doch hinderte ihn dies nicht, später
gerade diese Lehre als Mittel der Propaganda unter den Christen zu
Hilfe zu nehmen. Im Jahre 1280 faßte der exaltierte Schwärmer den
aberwitzigen Plan, den römischen Papst Nikolaus III. in seine Ent-
deckung von der Wesensverwandtschaft der „Sefirologie“ und der
Christologie einzuweihen und ihn so zum jüdischen Glauben zu be-
kehren. Dieser Versuch sollte aber Abulafia teuer zu stehen kommen:
er wurde in Suriano, in der Umgebung des päpstlichen Palastes, in
den er trotz der scharfen Bewachung einzudringen suchte, verhaftet
und nach Rom gebracht. Hier behielt man ihn achtundzwanzig Tage
lang in Haft, gab ihn aber dann wieder frei. Darauf wandte er sich
nach Sizilien, wo seine Exaltation den Höhepunkt erreichte: er gab
sich für den Messias aus und behauptete, Gott selbst habe ihm „das
Ende des Exils und den Anfang der Erlösung Israels“ offenbart
(1284). Die Zeit der Erlösung sollte nach seiner Prophezeiung im
Jahre 1290 anbrechen. Es fanden sich denn auch in Sizilien leicht-
gläubige Menschen, die sich für die Wahnideen des Abulafia be-
geisterten. Daraufhin wandten sich die besonneneren Vertreter der Ge-
meinde von Palermo an Ptaschba nach Barcelona, um bei ihm über
den verdächtigen Propheten Auskunft einzuholen. In seiner Antwort
teilte Raschba mit, daß er Abulafia schon lange als Schwärmer und
Mystiker kenne. Der falsche Prophet sah sich genötigt, Sizilien zu
verlassen und in der Nähe von Malta Zuflucht zu suchen. Hier faßte
er im Jahre 1288 seine messianischen Weissagungen, die er auf apo-
kalyptische Visionen und auf Kombinationen der die Gottesnamen bil-
10 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
i45
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
denden Buchstaben gründete, zu einem Buche zusammen („Buch von
dem Buchstaben“). Er klagt darin über „die jüdischen Klügler, die da
sagen: Was nützt uns die Berechnung der Namen Gottes? Wir wollen
lieber unser Gold und Silber zählen“. Bittere Klage führt er auch
über die Rabbiner, die sich nur mit der geoffenbarten, nicht aber mit
der geheimen Lehre beschäftigen wollten. Über das Lebensende des
ungestümen Phantasten ist nichts bekannt. Es sind uns von ihm meh-
rere kabbalistische Werke überliefert, deren veröffentlichte Teile ne-
ben allerlei Wahnideen auch manche tiefe Gedanken enthalten1).
Unter dem Einfluß der mystischen Predigten traten um dieselbe
Zeit auch in Kastilien zwei falsche Propheten auf, die sich indessen
nur als Vorläufer des Messias ausgaben: der eine im Bezirk von
Segovia, der andere in der Stadt Avila (1295). Über den Propheten
aus Avila ging die Mär um, er wäre des Lesens wie des Schreibens
unkundig gewesen, bis ein Engel es ihn gelehrt und er so auf Ein-
gebung des Himmels sein Werk „Wunder der Weisheit“ niederge-
schrieben hätte. Der überspannte Schwärmer fand zahlreiche Anhän-
ger. Die kaltblütigeren Mitglieder der Gemeinde wandten sich hin-
gegen wiederum an Raschba mit der Anfrage, ob sie den propheti-
schen Verheißungen Glauben schenken sollten, worauf ihnen dieser
den Rat erteilte, den angeblichen Wundertätern mit größtem Miß-
trauen zu begegnen. Indessen ließ sich das Volk von Avila durch
keinerlei Ermahnungen zurückhalten: die leichtgläubige Menge fastete
und verteilte freigebig Almosen in Erwartung der messianischen Wun-
der. An einem bestimmten Tage legten viele weiße Gewänder an und
versammelten sich in der Synagoge, um die Klänge der messianischen
Posaune zu vernehmen. Nach langem vergeblichen Warten verließen
sie enttäuscht die Synagoge und bemerkten nun plötzlich an ihren
Gewändern kleine Kreuze. Dieses „Wunder“ (wohl von den geschick-
ten Gegnern des falschen Propheten kunstvoll in Szene gesetzt) jagte
der Mehrzahl der Verführten heilsamen Schrecken ein. Manche waren
1) Der Titel und zum Teil auch der Inhalt eines der Werke des Abulafia: ,,Die
sieben Wege der Thora“ („Scheba netiboth ha’thora“) erinnern an die berühmte
Schrift „De septem gradibus contemplationis“ seines Zeitgenossen, des christlichen
Mystikers Bonaventura, mit dem Abulafia auch persönlich zusammengekommen
sein mag. Von den anderen Werken des Abulafia sind vollständig oder in Aus-
zügen die folgenden Schriften veröffentlicht: „Sefer ha’oth“ (Buch von dem
Buchstaben oder dem Zeichen), „Chaje ha’olam haba“ (Das Leben in der künf-
tigen Welt), „Imre schefer“ (Herrliche Worte).
i46
§ 19. Das Auftauchen des „Sohar“
jedoch durch die schwere Enttäuschung so sehr getroffen, daß sie
zum Christentum übertraten und zum Teil sogar das seelische Gleich-
gewicht einbüßten. Der falsche Prophet aber war spurlos verschwun-
den.
§19. Das Auftauchen des „Sohar“
Im XIII. Jahrhundert tauchten in den Konventikeln spanischer
Kabbalisten die ersten Abschriften jenes geheimnisvollen Kommentars
zur Bibel auf, der später unter dem Namen „Sohar“ („Glanz“) so
tiefgreifende Wirkungen auslösen sollte. Das Buch war in Form eines
haggadischen Midrasch abgefaßt und hatte Predigten und Belehrun-
gen des Rabbi Simon ben Jochai sowie anderer Tannaiten des II. Jahr-
hunderts zu seinem Inhalt, unterschied sich jedoch von den sonstigen
Midraschwerken vor allem durch seine undurchdringliche Mystik, fer-
ner dadurch, daß viele der Belehrungen Simon ben Jochai in Form
von Berichten über seine himmlischen Visionen und Offenbarungen
in den Mund gelegt wurden, und endlich durch seinen eigenartigen
aramäischen Stil. Man erzählte sich, die Abschriften seien von Ram-
ban in Palästina, wohin er um 1267 übersiedelt war, auf gefunden
und von dort nach Spanien gesandt worden; die Volkssage wollte
ihrerseits wissen, daß die mysteriöse Schrift von Simon ben Jochai
in den Jahren verfaßt worden sei, als er sich vor den Verfolgungen
der Römer in einer galiläischen Höhle versteckt hielt, und daß sie
dann viele Jahrhunderte lang an irgendeinem geheimen Orte ver-
borgen gewesen wäre, bis sie schließlich ans Tageslicht kam und den
Weg nach Kastilien fand. Fest steht indessen nur, daß in der zweiten
Hälfte des XIII. Jahrhunderts der kastilische Mäzen Todros Abulafia,
ebenso wie die anderen obenerwähnten Kabbalisten, in ihren Wer-
ken — allerdings in hebräischer Sprache und ohne Quellenangabe —
Gedankengänge entwickelten, die mit den später aus dem „Sohar“
bekannt gewordenen nicht nur inhaltlich, sondern zum Teil sogar
wörtlich übereinstimmten. Mehr als die anderen scheint aus diesen
„Geheimschriften“ der kastilische Kabbalist Moses ben Schemtob de
Leon (um i2 5o—i3o5) geschöpft zu haben, dem es beschieden war,
den „Sohar“ zur Heiligen Schrift der Kabbala zu erheben.
In der kastilischen Provinz Leon zu Hause und mit der Familie
des Todros Abulafia eng befreundet, betrieb Moses de Leon berufs-
mäßig die Vervielfältigung und Verbreitung kabbalistischer Werke.
147
10*
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
Er wechselte oft seinen Wohnsitz, hielt sich zunächst in Gualdalha-
jara, dann in Valladolid, zuletzt in Avila auf und scheint überall von
den Mäzenen, denen er seine Werke zu widmen pflegte, materiell ab-
hängig gewesen zu sein. Als Schriftsteller und Kopist war er aber
überaus fruchtbar. In dem Zeitraum zwischen 1287 und 1293 ver-
faßte er eine Reihe von Schriften, von denen zwei dem Sohne des
Todros Abulafia, Joseph, gewidmet sind. In diesen Schriften („Sefer
ha’rimmon“, „Sefer ha’mischkal“ oder „Hanefesch ha’chacharna“,
„Mischkan ha’eduth“ u. a.) beruft sich Moses de Leon häufig auf un-
bekannte kabbalistische Midraschim und zwar in der folgenden ver-
schleierten Form: „Ich fand in einem Midrasch“ oder „In einem
Jerusalemer Midrasch“, „Ich erfuhr aus den Geheimnissen der
Thora“, „Ich will dir ein tiefes Geheimnis verraten“ usw. Bei nähe-
rem Zusehen erweisen sich solche Zitate meistens als eine hebräische
Wiedergabe des aramäischen Sohartextes. Unter anderem wird in die-
sen Werken die Grundidee des „Sohar“ entwickelt, wonach die letzte
Wahrheit der Thora nicht auf dem Wege der Vernunft, sondern aus-
schließlich auf dem der Intuition oder der kabbalistischen „Geheim-
wissenschaft“ erfaßt werden könne. Wozu brauchte Gott — so spitzt
der Verfasser seine Fragestellung zu — uns die Sinaioffenbarung
unter Donner und Blitz zuteil werden lassen, wenn wir durch sie
nur dieselbe Lehre empfangen sollten, in der uns ein Aristoteles in
aller Ruhe und Gemütlichkeit unterweist? Weit entfernt, nur eine
philosophische Lehre zu sein, sei daher die Thora vielmehr die äußere
Hülle des göttlichen Gedankens, dessen Kern sich allein den Berufenen
und Eingeweihten offenbare. Es ist schwer zu entscheiden, ob Moses
de Leon tatsächlich daran glaubte oder nur andere daran glauben
machen wollte, daß nun gerade er sich im Besitze dieses verborgenen
Thorakerns und zwar in der Form der ihm überlieferten Geheim-
schriften befände; jedenfalls machte er von diesen Schriften den
weitestgehenden Gebrauch. Nicht genug damit, daß er vieles aus ihnen
in die von ihm verfaßten Werke übernahm, scheute er sich zugleich
nicht, in die „alten“ Manuskripte, die er nicht nur kopierte, sondern
auch rezensierte, seine eigenen Gedankengänge zu verpflanzen. So ist
denn das unter dem Namen „Sohar“ berühmt gewordene apokry-
phische Hauptwerk der Kabbalisten gleich vielen anderen Schriften
dieser Art die Frucht kollektiver Arbeit unbekannter Mystiker aus
älterer Zeit sowie der Kabbalabeflissenen des XIII. Jahrhunderts, deren
i48
§ 19. Das Auf tauchen des „Sohar“
Geisteserzeugnisse dann gegen Ende desselben Jahrhunderts von Moses
de Leon zu einem Ganzen vereinigt wurden. Im „Sohar“ selbst sind
freilich die Spuren der Mitwirkung späterer Verfasser geflissentlich
verwischt. Als Hauptschöpfer des Buches tritt uns hier im Glorien-
schein eines zweiten Moses Simon ben Jochai entgegen, dem seine
Offenbarungen unmittelbar von dem „Thronengel“ Metatron zuteil
werden. „Ich bezeuge bei dem Namen der hohen Himmel und des
Heiligen Landes — so erklingt feierlich die Stimme des Hellsehers —,
daß ich jetzt erschaue, was keinem Sterblichen seit der Zeit, da Moses
zum zweiten Male den Sinai erklommen, zu schauen gegeben ward.. “
(Sohar III, Abschn. Nasse).
Der „Sohar“ läßt sich in mehrere anscheinend zu verschiedener
Zeit niedergeschriebene Bücher zerlegen, die bei der späteren Redak-
tion rein äußerlich zu einer Einheit verbunden wurden. Die Grund-
schicht dieses umfangreichen Sammelwerkes setzt sich aus Predigten
über Pentateuchtexte zusammen, die ebenso wie bei allen Midraschim
zur Thora in der Reihenfolge ihrer zweiundfünfzig Wochenabschnitte
(„Paraschoth“) angeordnet sind. In diesen Grundtext sind indessen
Bruchstücke aus anderen Büchern eingefügt, die die andeutungs-
reichen Titel führen: „Große Versammlung“ („Idra rabba“), „Kleine
Versammlung“ („Idra sutta“), „Buch der Verborgenheit“ („Sifra di’
zeniuta“), „Der geheime Midrasch“ („Midrasch ha’neelam“), „Der
treue Hirte“ („Raaja mehemna“) usw. In seinen Hauptgedanken
stimmt der „Sohar“ mit jenen Beweisgründen überein, die im Laufe
des ganzen XIII. Jahrhunderts gegen den Rationalismus ins Feld ge-
führt wurden, nämlich mit der Ansicht, daß in den biblischen Er-
zählungen und Geboten die Enträtselung der tiefsten Weltgeheimnisse
verborgen liege. „Wehe dem Menschen — so ruft der angebliche
Simon ben Jochai aus — der da wähnt, die Thora enthalte alltägliche
Geschichten und Gespräche von Einfaltspinseln! Ist es denn denkbar,
daß der Allmächtige für seine Thora keine heiligen Worte gefunden
und sich auf all die faden Erzählungen von Hagar und Esau, von
Laban und Jakob, von Bileam und seiner Eselin angewiesen gesehen
hätte, um aus ihnen jene Thora zusammenzufügen, die die Lehre der
Wahrheit genannt wird? . . . Die Einsichtsvollen geben aber nicht
auf das Gewand, sondern auf den von ihm bedeckten Leib acht; noch
Weisere blicken in die Seele hinein, in den (geheimen) Sinn der Thora,
um in der künftigen Welt auch die Seele der Seele, d. h. den Heiligen
i49
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
Greis (Gott) selbst zu erschauen“ (Sohar III, Abschn. Behaalotcho).
So gelangen die Mystiker gleich den extremen Rationalisten zu dem-
selben Prinzip des Allegorismus, wenn auch aus ganz anderen Beweg-
gründen : während nämlich die Rationalisten in den heiligen Legenden
nur moralische Symbole, gleichsam Wegweiser für den irdischen
Wandel erblickten, glaubten die Kabbalisten theosophische Symbole in
ihnen wiederzuerkennen und lasen aus der Thora ein ganzes System
himmlischer Metaphysik heraus.
Der Theosophie des „Sohar“ liegt die schon flüchtig behandelte
Lehre von der Emanation oder den Sefiroth zugrunde. Es ist hier be-
reits die später ins Einzelne ausgebaute Theorie von einer Stufenleiter
der Welten zu finden und es werden demzufolge auseinandergehalten:
die Welt der Ausstrahlung oder der Emanation („Olam ha’aziluth“),
die Welt der Schöpfung („Olam ha’beriah“), die Welt der Bildung
(„Olam ha’jezirah“) und die Welt der Handlung („Olam ha assiah“).
Geheimnisvolle Fäden laufen herüber und hinüber, so daß die
menschlichen Taten auf der niedersten Stufe, auf der der „Handlung“,
einen Widerhall auf der viel höheren Stufe der „Schöpfung“ wecken.
Die menschliche Seele stehe nicht allein unter dem Einfluß der schöp-
ferischen Potenzen, der makellosen göttlichen „Sefiroth“: unter dem
Reiche der lichten Geister liege vielmehr noch ein finsteres Reich dor
bösen Dämonen, der zerstörenden Mächte, die die menschliche Seele
in ihre Netze locken. Das Reich des Lichts verhalte sich zu dem der
Finsternis wie die Vorderseite zur Rückseite („Sitra achara“), wie der
Kern zur Schale („Kelipa“). Auch das Dämonenreich sei zehnfach
abgestuft oder in zehn negative Sefiroth gegliedert; von dort her
steige eben alles Sündhafte in des Menschen Seele herauf. Jede Über-
tretung eines religiösen Gebotes liefere den Menschen der Gewalt der
Dämonen aus, während die Befolgung des Gesetzes ihn den reinen
schöpferischen Potenzen näher bringe. Dieses Emporheben des Men-
schen zu den höheren Regionen sei eben die Hauptbestimmung der
Thora.
Mit dem Auftauchen des „Sohar“, in dem die Kabbalisten die
Offenbarung einer zweiten geheimen Thora erblickten, wurden von
neuem messianische Hoffnungen rege. Wurde doch das Buch gerade
in der Mitte des ersten Jahrhunderts des sechsten Jahrtausends der
Welt bekannt, mit dessen Anbruch schon die alte talmudische Hag-
gada die Hoffnung auf das Erscheinen des Messias verband (Band III,
i5o
§ 19. Das Auf tauchen des „Sohar
§ 5o). Überdies waren im „Sohar“ selbst hier und da Anspielungen auf
die in den nächsten Jahrhunderten (vom XIV. bis zum XVII.) zu er-
wartenden messianischen Wunder und Zeichen verstreut: auf den be-
vorstehenden Zusammenbruch von Reichen und Nationen, auf den
Triumph Israels, auf die Rückkehr ins Heilige Land und schließlich
auf das große Wunder der Totenauferstehung.
So trat gegen Ende des XIII. Jahrhunderts aus einem mysteriösen
Dunkel dieses seltsame Ruch hervor, ein Gemisch von Metaphysik und
mystischen Wahnideen, das später zur ßibel der Kabbalisten werden
sollte. Gar viele waren des Glaubens, daß Moses de Leon in der
Tat Abschriften eines zu seinen Lebzeiten zutage geförderten echten
Manuskripts des R. Simon ben Jochai in Umlauf gebracht hätte;
andere wieder hielten es für wahrscheinlicher, daß Moses das Werk
zwar selbst geschrieben, jedoch kraft seiner Seelen Verwandtschaft mit
dem alten Tannaiten (dank der Kunde des „Schern ha’koteb“) das
Buch mit vollem Recht diesem in den Mund gelegt hätte; noch andere
glaubten nichts als eine plumpe Fälschung vor sich zu haben. Gleich
nach dem Ableben des Moses de Leon wurde denn auch der Versuch
gemacht, der Frage über die Echtheit des „Sohar“ auf den Grund zu
gehen. Ein reiches Gemeindemitglied in Avila bot der dort in ärm-
lichen Verhältnissen lebenden Witwe des Verschiedenen für die Ur-
schrift des „Sohar“, die angeblich ihrem Gatten Vorgelegen habe,
einen hohen Preis an; die schlichte Frau erwiderte jedoch, daß ihr
Mann keinerlei Handschriften kopiert, sondern alles „aus dem Kopfe“
geschrieben hätte. Andererseits bezeugte indessen der Freund des Ver-
storbenen Joseph ben Todros Abulafia, daß er verschiedene von Moses
angefertigte Abschriften verglichen hätte und daß sie alle wörtlich
miteinander übereinstimmten.
Der Streit über den wahren Ursprung des rätselhaften Werkes, das
als neue Offenbarung gelten wollte, dauerte auch in den folgenden
Jahrhunderten fort, namentlich nachdem es im Judentum eine mäch-
tige mystisch-messianische Bewegung ausgelöst hatte. Der Streit drehte
sich um das Dilemma, ob der „Sohar“ in der Tat im II. Jahrhundert
im Geiste des galiläischen Eremiten konzipiert worden oder das Er-
zeugnis eines elf Jahrhunderte später wirkenden Kabbalisten sei. Die
Geschichtswissenschaft lehnt indessen eine solche Fragestellung von
vornherein ab und sucht das Problem in derselben Weise zu lösen, wie
sie es in bezug auf andere kollektiv geschaffene Apokryphen zu tun
i5i
Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
pflegt. An der Abfassung des „Sohar“, der die Zusammenfassung
eines ganzen Zyklus mystischer Einzelschriften darstellt, wirkten Gott-
sucher verschiedenster Generationen mit: palästinensisch-babylonische
Mystiker der Epoche des „Buches der Schöpfung“, spanische und
deutsche Kabbalisten des XIII., aber auch der späteren Jahrhunderte,
bis in die Mitte des XYI. Jahrhunderts, als der „Sohar“ zuerst in
Italien im Druck erschienen war. Jeder der Mitwirkenden bereicherte
das Sammelwerk durch seine Beiträge, die er dem Urstil des Buches
anpaßte; entscheidend für das endgültige Gepräge des „Sohar“ war
jedoch die Redaktion, die ihm durch Moses de Leon zuteil geworden
war. Seit dieser Zeit wuchs in das religiöse Schrifttum allmählich ein
Buch hinein, welches dann in allen religiösen und messianischen Be-
wegungen, die die jüdische Welt vom XVI. bis zum XVIIL Jahr-
hundert in Atem hielten, als hochragendes Banner aufgepflanzt wer-
den sollte1).
!) In der Frage, ob Moses de Leon der Verfasser oder nur der Kompilator und
Redaktor des „Sohar* war, neigen wir also zu der letzteren Ansicht. Der ur-
wüchsige und stellenweise kunstvolle, von apokalyptischem Geiste getragene Stil
des „Sohar“ zeugt neben seiner aramäischen Sprache und dem an die alten
Midraschim gemahnenden Aufbau davon, daß das Gerippe des Werkes dem Morgen-
lande, keineswegs aber dem .Abendlande entstammt. Es ist durchaus nicht unwahr-
scheinlich, daß der kabbalistisch angehauchte Ramban, der um 1267 nach Palä-
stina kam, dort Überreste alter Midraschimhandschriften gesammelt und nach Spa-
nien „geschickt habe; das gleiche mag auch Abraham Abulafia auf seinen Wan-
derungen durch die Welt getan haben. Diese Bruchstücke mochten einige Zeit in
den Konventikeln der Eingeweihten von Hand zu Hand gegangen sein, bis sie dann
Moses de Leon zusammenfaßte und in der aramäischen Sprache der Urschriften
einer Bearbeitung unterzog, indem er mit dem Grundtext Gedankengänge der neuen
Kabbala verwob. Alle von Graetz in der Note 12 zum VII. Band seiner „Ge-
schichte“ zusammengestellten Zeugnisse sind kein genügender Grund, um Moses
de Leon der Fälschung zu bezichtigen, sondern zeugen nur davon, daß auch im
vorliegenden Falle die übliche pseudoepigraphische Verfahrensweise Anwendung ge-
funden hat. S. Bibliographie.
lös
Viertes Kapitel
Die deutschen Juden unter der Vormund-
schaft der Kaiser und Lehensherren
(XIII. Jahrhundert)
§ 20. Die „Kammerknechtschaft“ unter Friedrich II. (bis 1250)
Die Lage der Juden im Deutschland des XIII. Jahrhunderts war
von ihrer Lage in Frankreich in demselben Maße verschieden, wie die
politische Verfassung dieser beiden Länder verschieden war. In
Deutschland trug das Oberhaupt des Staates den Titel eines „römisch-
deutschen Kaisers“, und in der Zeit der Hohenstaufen erstreckte sich
seine Gewalt in der Tat auch auf einen bedeutenden Teil der italie-
nischen Lande. Kaiser und Päpste bestimmten, bald in friedlichem
Zusammenwirken, bald in scharfer Rivalität gegeneinander, die poli-
tischen Geschicke Europas. Dadurch abgelenkt, wandten die Kaiser
der inneren Verwaltung, die in Deutschland in den Händen einerseits
der weltlichen und geistlichen Lehensherren, andererseits der bürger-
lichen Stadtbehörden lag, nur geringe Aufmerksamkeit zu. In ihrem
Verhalten den Juden gegenüber ließen sich die deutschen Kaiser zu-
nächst weder von der räuberischen Habsucht eines Philipp IV. von
Frankreich noch von dem kirchlichen Fanatismus eines Ludwig des
Heiligen leiten. Das in der auf die Krfeuzzüge folgenden Zeit zur
Herrschaft gelangte Prinzip der fürstlichen Bevormundung der Ju-
den wurde eben in Frankreich oder England ganz anders auf gef aßt
als in Deutschland. Zwar hielten die Landesherren hier wie dort Gut
und Blut der Juden für ihr unbestrittenes Privateigentum, wobei sich in
Deutschland für die Juden die Bezeichnung: „Krön“- oder „Kammer-
knechte“ (Servi camerae nostrae, auch Reichsknechte) im XIII. Jahr-
hundert sogar in den offiziellen Urkunden eingebürgert hatte, doch
i53
Deutschland im XIII. Jahrhundert
verband man hier mit dieser „Knechtschaft“, im Gegensatz zu den
westlichen Ländern, wo die Könige die Hörigen des Handels nach Be-
lieben ausbeuteten, um sie dann aus dem Lande zu vertreiben, weniger
das Recht der souveränen Gewalt, die Juden auszubeuten, als die Ver-
pflichtung, ihnen Fürsorge und Schutz angedeihen zu lassen. In der
deutschen Öffentlichkeit jener Zeit war nämlich die Auffassung ver-
breitet, daß den römisch-deutschen Kaiser schon sein Titel mit einer
geschichtlichen Mission betraue: mit der Bevormundung des einstmals
von dem antiken Rom besiegten Volkes (Band IV, § 37). Im „Sachsen-
spiegel“, dem damals so volkstümlichen Rechtsbuch, wurde diese Auf-
fassung mit der folgenden geschichtlichen Sage begründet: nachdem
Josephus Flavius den Bezwinger Jerusalems, Titus, einst von einem
schweren Siechtum geheilt hatte, gelobte sein Vater, der Kaiser Vespa-
sian, den Juden stets ein treuer Beschützer zu sein. Der „Schwaben-
spiegel“ wußte überdies noch zu erzählen, daß Titus nach der Ein-
nahme Jerusalems viele der von ihm gefangen genommenen Judäer
mitsamt ihren Kindern und Kindeskindern dem römischen Hofe über-
eignet hätte; seitdem seien sie denn auch zu „Knechten des Reiches“
geworden. Hieraus wurde nun gefolgert, daß die deutschen Kaiser,
die ihre Gewalt von Karl dem Großen und also mittelbar von dessen
altrömischen Vorgängern geerbt hätten, von Rechts wegen Eigentümer
und Vormünder aller innerhalb der Reichsgrenzen verstreuten Juden
seien.
Und in der Tat erachteten es die Kaiser seit derZeit der Kreuzzüge
als ihre offizielle Pflicht, die Juden vor Überfällen des christlichen
Pöbels zu beschützen und ihnen ihre dürftigen Rechte sowie die Frei-
heit ihrer Gemeindeselbstverwaltung zu verbürgen, wofür die gekrön-
ten Protektoren bestimmte Abgaben erhoben. Da es indessen den Kai-
sern aus den bereits erwähnten Gründen nicht möglich war, sich mit
den Angelegenheiten der inneren Verwaltung näher zu befassen, so
pflegten sie an vielen Orten, namentlich in den Städten mit größerer
jüdischer Bevölkerung, ihr „jüdisches Regal“ den Lehensherren und
vor allem den Bischöfen zu überlassen; in solchen Fällen zahlte der
geistliche Lehensherr dem Kaiser die Gesamtsumme der von der be-
treffenden Gemeinde während einer bestimmten Frist zu erhebenden
Steuern, die er dann seinerseits bei den ihm unterstellten Juden mit
großem Nutzen eintrieb. In Zeiten schwerer Geldnot kam es nicht sel-
ten vor, daß der Kaiser oder sein Stellvertreter die jüdische Gemeinde
i54
§ 20. Die Kammerknechtschaft unter Friedrich II.
dem Ortsbischof „verpfändete“, indem er diesem als Sicherheit für ein
von ihm erhaltenes Darlehen die Einkünfte aus der jüdischen Gemeinde
zur Verfügung stellte; da jedoch der kaiserliche Schatz das „Pfand“
oft lange Zeit nicht einzulösen vermochte, so wurde der lehensherr-
liche Gläubiger zum unumschränkten Gebieter der ortsansässigen jü-
dischen Bevölkerung. Unter den gleichen Bedingungen wurde die Vor-
mundschaft über die Juden (der Judenschutz) häufig auch den Stadt-
behörden, den Vertretern der christlichen Bürgerschaft, abgetreten,
die damals in Deutschland immer mehr als politische Macht in den
Vordergrund trat. Das Vorrecht des „Judenschutzes“ wurde auf die
Städte entweder unmittelbar vom Kaiser oder aber von dem Bischof
des betreffenden Bistums übertragen. In den autonomen Provinzen
lag das Los der Juden in den Händen der Herzoge, der Land- und
Markgrafen; der Kaiser beschränkte sich hier darauf, nur bei den
allerschwersten Katastrophen einzugreifen, als es galt, seine Schutz-
befohlenen vor weiteren Massenausschreitungen zu schützen.
So war denn in Deutschland in derselben Zeit, da in Frankreich
der Prozeß der Konzentration der Gewalt in den Händen des Königs
bereits merkliche Fortschritte gemacht hatte, die Vormundschafts-
gewalt über die Juden zwischen Kaiser, Lehensherren und Stadtbehör-
den aufgeteilt. Indessen war die Lage der Juden auch unter der Ob-
hut dreier Vormünder keineswegs beneidenswert. Auf die tiefste Stufe
der sozialen Leiter herabgedrückt, verfügten die Juden nur über jene
Rechte, die ihnen als kümmerlicher Rest übriggeblieben waren, nach-
dem die höheren und mittleren Stände der christlichen Bevölkerung
alle Freiheiten und Privilegien an sich gerissen hatten. Der Beruf, den
sie von Rechts wegen noch ausüben durften, war einzig und allein der
des Schutzes der Kaufmannsgilden beraubte Handel und namentlich
das Kreditgeschäft. Die Verweigerung der Gewerbefreiheit verdammte
die überdies auch noch mit allerlei willkürlichen Steuern und Ab-
gaben belasteten Juden zu einer wirtschaftlichen Scheinexistenz. Diese
Notlage erfuhr eine weitere Verschärfung dadurch, daß Leben und
Besitz der Juden stets in Gefahr schwebten, da in Deutschland, im
Gegensatz zu Frankreich, das Unheil nicht von oben, sondern von
unten drohte. Die auf dem Boden des religiösen Fanatismus üppig
wuchernden Judenhetzen wurden in den deutschen Städten zu einer
alltäglichen Erscheinung; gerichtliche Prozesse wegen angeblicher
Ritualmorde und Sakramentsschändungen endeten mit Massenhinrich-
i55
Deutschland im XIII. Jahrhundert
tungen von Unschuldigen. Die Hilfe des Kaisers, des offiziellen Be-
schützers der Juden, kam gewöhnlich viel zu spät, erst dann, als die
Untaten bereits geschehen waren; nur hier und da gelang es ihm, die
Anstifter der Judenmassaker der gerechten Strafe zuzuführen. Die
Kirchenfürsten suchten zwar in ihrem ureigensten Interesse den Fa-
natismus der von ihnen Betreuten im Zaume zu halten, doch sahen
sie sich hierbei genötigt, zwischen persönlichem Vorteil und klerikaler
Politik behutsam zu lavieren. Am unzuverlässigsten war die Protektion
der städtischen Behörden, der Repräsentanten der christlichen Bürger-
schaft, die den Juden als ihrer Handelskonkurrenz mit Feindseligkeit
gegenüberstanden. Die allgemeinen Zeitverhältnisse waren aber nichts
weniger als günstig: abgesehen von den Kriegen, die Deutschland nach
außen führte, hatte es in den Zeiten der periodisch wiederkehrenden
Interregna schwer unter Bürgerkriegen zu leiden. Die nach dem Tode
jedes Kaisers ausbrechenden dynastischen Zwistigkeiten, der endlose
Kampf der Staufer und Welfen, die Rivalität der Feudalfürsten — all
dies fachte die Wirren immer aufs neue an und begünstigte das
Regime des Faustrechts, dessen wehrloseste Opfer stets die Juden
waren.
Durch solches Wirrsal ist das XIII. Jahrhundert schon bei seinem
Beginn gekennzeichnet. Während des langwierigen Kampfes der Stau-
fer und Welfen um die deutsche Kaiserkrone (1198—1215), der der
Thronbesteigung Friedrichs IL, des Hohenstaufen, vorausging, lag die
Vormundschaft über die Juden häufig in den Händen der Bischöfe,
die somit von Rechts wegen die „Ungläubigen“ vor den Ausschreitun-
gen der christlichen Menge zu beschützen hatten. So sah sich der
Erzbischof von Magdeburg im Jahre 1207, als Bürgersleute in Halle
das jüdische Viertel in Brand steckten und alle seine Bewohner aus
der Stadt vertrieben, veranlaßt, die Schuldigen mit einer Geldbuße
in Höhe von tausend Silbermark zu bestrafen. Aber auch nachdem das
Land unter Kaiser Friedrich II. (1212—i2Öo) zur Ruhe gekommen
war, pflegte die kaiserliche Gewalt nicht selten die ihr zustehenden
Vormundschaftsrechte über die jüdischen Gemeinden den Bischöfen
abzutreten. Der ruhmreiche Kaiser, in dessen Wesen die größten gei-
stigen und sittlichen Gegensätze vereinigt waren, der ein weitherziger
Verehrer der arabisch-jüdischen Philosophie war und daneben An-
wandlungen von kirchlichem Fanatismus hatte, in dem sich Menschen-
freundlichkeit mit grausamster Tyrannei paarte, war auch in seinem
156
§ 20. Die Kammerknechtschaft unter Friedrich II.
Verhalten gegenüber den Juden überaus unbeständig. Im großen Gan-
zen neigte jedoch Friedrich II. dazu, seinen „Kammerknechten“ die
hohe Protektion nicht zu entziehen. Im Jahre 1216 verlieh er in
Regensburg „seinen treuen Juden“ (fidelibus nostris Judaeis) ein Pri-
vileg, das die ihnen von Friedrich I. zuteil gewordenen Freiheiten be-
stätigte und ihnen die Unantastbarkeit von Leben und Besitz voll ver-
bürgte. Im Jahre 12 36 kennt indessen Friedrich II. in dem von ihm
für die gesamte deutsche Judenheit erlassenen Statut nur noch die
Bezeichnung „unsere Kammerknechte“ (servi camerae nostrae) für
die Juden und betont darin ausdrücklich zweimal, daß der „kaiser-
lichen Kammer“ betreffs der Juden ein dingliches Recht zukomme
(„omnibus Judaeis ad cameram nostram immediate spectantibus“).
Durch diesen Erlaß wurde die Geltung der Statute, die unter Fried-
rich Barbarossa für einzelne Gemeinden aufgestellt worden waren
(Band IV, § 37), ausnahmslos auf alle deutschen Juden ausgedehnt;
das Prinzip der jüdischen Unfreiheit gelangte jedoch in dieser Ur-
kunde zu einer viel schärferen Formulierung. Freilich konnte der Aus-
druck „Kammerknechte“ sowohl Geringschätzung wie auch gnädiges
Wohlwollen zum Ausdruck bringen. Wie nun der Kaiser selbst diesen
Ausdruck gedeutet haben mochte: ob in dem Sinne, daß die Juden
ihm persönlich nahestehende Diener oder daß sie zur Knechtschaft
verdammte Stiefkinder seines Reiches seien, ist aus der widerspruchs-
vollen Politik Friedrichs II. nicht mit Bestimmtheit zu folgern. Im
Jahre 1237 z. B. hatte der Kaiser, nachdem er dem österreichischen
Herzog Friedrich dem Streitbaren Wien entrissen hatte, die Wiener
Bürgerschaft in Anerkennung ihrer Treue mit einem Freibrief be-
dacht, kraft dessen die Juden des Rechtes beraubt wurden, Ämter zu
bekleiden, die ihnen „die Bedrückung der Christen“ ermöglichen
könnten. Hierbei begründete der Kaiser seine Maßnahme ganz im Stile
eines Innocenz’ III.: „Denn von altersher sind die Judäer in Vergel-
tung des von ihnen begangenen Verbrechens (gegen Christus) von der
kaiserlichen (römischen) Gewalt zu ewiger Sklaverei verdammt“ (in-
dixerit perpetuam servitutem). Dies hinderte jedoch Friedrich nicht
daran, ein Jahr später den Wiener Juden einen Freibrief zu verleihen,
in dem er feierlich verkündete, daß er ihnen als „seinen Kammer-
knechten“ seine kaiserliche Protektion verbürge.
Wie sehr auch der doppelzüngige Kaiser seine Treue gegenüber
den Kirchenkanons zur Schau trug, so konnte es doch dem scharfen
iÜ7
Deutschland im XIII. Jahrhundert
Auge der Kirchenherren in Rom nicht entgehen, daß in Wirklichkeit
die die Juden betreffenden Kirchenregeln in Deutschland stark ver-
nachlässigt wurden und daß die Schuld hierfür auch viele Bischöfe
traf. So richtete Papst Gregor IX., der Förderer der Inquisition
und der Inspirator der Talmudverbrennung in Frankreich, im Jahre
12 33 an die deutsche Geistlichkeit ein Sendschreiben, in dem er mit
Vorwürfen wegen der den Juden in Deutschland in Mißachtung der
Beschlüsse der Kirchenkonzile zuteil gewordenen Freiheiten nicht
sparte. „Voll Betrübnis und Scham“ hebt der Papst die folgenden
„unerhörten“ Tatsachen hervor: die deutschen Juden seien im Besitze
von christlichen Sklaven, die sie zu ihrem Glauben verleiteten, und
zugleich gebe es auch Freie, die aus eigenem Antrieb „judaisieren“;
zuweilen seien die „Lästerer Christi“ als Amtspersonen mit Macht-
befugnissen gegenüber Christen ausgestattet; christliche Ammen und
Mägde seien in jüdischen Häusern angestellt, wo Dinge vor sich gin-
gen, über die man „ohne Abscheu und Schrecken“ nicht zu sprechen
vermöge; in manchen deutschen Gebieten seien die Juden überdies
auch ihrer Tracht nach von Christen nicht zu unterscheiden, was mit-
unter zu einer verdammungswürdigen Vermischung führe. So ver-
langt denn der Papst von der Geistlichkeit aller deutschen Eparchieen,
daß sie der flagranten Verletzung der Kirchenregeln entgegentrete und
insonderheit religiöse Disputationen zwischen Juden und christlichen
Laien untersage, da das Gemüt des einfältigen Mannes sich gar leicht
in den Netzen des Judentums verstricken könnte. Zur Bändigung der
jüdischen Frechheit sei es ratsam, den Beistand der weltlichen Gewalt
anzurufen (auxilio brachii saecularis), die sich vergehenden Christen
aber durch die „Kirchenzensur“ zu bestrafen. Dem Papste sekundier-
ten die örtlichen Kirchenkonzile. Schon im Jahre 1227 untersagte
das bischöfliche Konzil in Trier den Christen, mit Juden zu disputie-
ren, sich von ihnen in Krankheitsfällen behandeln zu lassen sowie
„Kawertschen“ („caorsini“, italienische Wucherer) und Juden Geld
anzuvertrauen, um sich durch ihre Vermittlung einen Zinsgewinn zu
sichern. In demselben Jahre, in dem das zornsprühende Sendschreiben
Gregors IX. an die Geistlichkeit ergangen war, beschloß das Provin-
zialkonzil zu Mainz, über alle bei Juden Dienst tuenden Christen den
Bannfluch zu verhängen. Allerdings wurden all diese Beschlüsse zu-
meist nur wenig beachtet. Die Bischöfe, die die jüdischen Gemeinden
unmittelbar bevormundeten, setzten nur selten die für beide Teile so
i58
§ 21. Die Ritualmordlüge und der -päpstliche Protest
nachteiligen Konzilbeschlüsse in die Tat um. Diese von Rechts wegen
angeordneten Repressalien waren aber noch lange nicht das Schlimm-
ste: viel unheilvoller waren die illegalen Wühlereien der dunk-
len Mächte, die über die Juden die wildesten, auf den Volksaberglau-
ben berechneten Gerüchte aussprengten. Um jene Zeit sickerte nämlich
nach Deutschland aus undurchsichtigen verpesteten Quellen (wohl
im Zusammenhang mit der Stiftung des Dominikanerordens und des
„Sanctum officium“ der Inquisition) das tödliche Gift der „Rlutlüge“
durch: bald hier, bald dort kamen Gerüchte in Umlauf, die Juden
hätten zu geheimnisvollen rituellen Zwecken christliche Kinder er-
mordet. Die fadenscheinigen Anschuldigungen mußten die Schuld-
losen auf den Richtplätzen mit ihrem Leben bezahlen. Im jüdischen
Martyrologium füllte sich eine neue Seite.
§ 21. Die Ritualmordlüge und der päpstliche Protest
Im Jahre 12 35 tauchte gleichzeitig an verschiedenen Orten
Deutschlands, gleichsam wie auf Verabredung, die für so viele Juden
zum Verhängnis gewordene Ritualmordlüge auf1). Auf Grund sol-
cher Anschuldigungen fanden in den zwei benachbarten Städten
Lauda und Bischofsheim einige Mitglieder der jüdischen Gemeinden
ihr Ende auf dem Schafott. Durch ein besonders düsteres Trauerspiel
ist das Ende dieses Jahres gekennzeichnet. In der Umgegend der Stadt
Fulda wurde am Heiligen Abend das Haus eines Müllers in seiner und
der Müllerin Abwesenheit niedergebrannt, wobei ihre fünf Kinder in
den Flammen umkamen. In der Stadt trieb sich um jene Zeit eine
Bande von Kreuzfahrern herum, unter denen der Schuldige vielleicht
am leichtesten hätte ermittelt werden können. Der Volksaberglaube
f) Eine alte deutsche Chronik berichtet, daß in Erfurt schon im Jahre 1221
sechsundzwanzig Juden „infolge eines ausgebrochenen Aufruhrs“ (orta seditione)
von friesischen Kaufleuten und ortsansässigen Christen erschlagen worden seien;
aus den synagogalen Aufzeichnungen und Elegien ist indessen zu entnehmen, daß
der „Aufruhr“ irgendwie mit einem Ritualmordprozeß zusammenhing. Der Verfasser
einer der Elegien, Salomo ben Abraham, legt gegen die niederträchtige Verleum-
dung in folgenden beredten Worten Verwahrung ein: „Es lügen, die da sagen,
daß wir Menschenfresser seien. Vielmehr sind sie es (die Christen), die uns ver-
zehren, unser Fleisch und Blut fressen“. Jedoch sind die beiden Quellen noch
immer nicht in Einklang miteinander gebracht und so bleibt die Erfurter Kata-
strophe in Dunkel gehüllt. Vgl. Aronius, Regesten, Nr. 413 und die hebräischen
Elegien in den Martyrologien von Bernfeld, B. I, S. 2Ö5f.
i5g
Deutschland im XIII. Jahrhundert
legte aber in seiner Voreingenommenheit die ganze Schuld den Juden
zur Last: sie benötigten, so hieß es, zu Heilzwecken christliches Blut
und also wären sie es gewesen, die die Kinder des Müllers ermordet
und das Haus zur Verwischung der Spuren in Brand gesteckt hätten;
man wollte sogar gesehen haben, wie die Bösewichte das Blut in
Lederschläuchen mit sich genommen hätten. Darauf wurden zweiund-
dreißig Mitglieder der jüdischen Gemeinde ergriffen und einem hoch-
notpeinlichen Verhör unterzogen; zwei von ihnen, die der Tortur ent-
gehen wollten, legten ein Geständnis über das nie begangene Ver-
brechen ab, worauf drei Tage später alle Verhafteten mitsamt ihren
Frauen und Kindern von den wütenden Kreuzfahrern niedergemacht
wurden. Friedrich II. weilte um jene Zeit in der Stadt Hagenau. Dort-
hin brachte man nun die exhumierten Leichen der ermordeten Kinder,
um die Übeltat der Juden dem Kaiser in aller Anschaulichkeit vor
Augen zu führen, und so die an ihnen geübte Justiz zu rechtfertigen.
Die christliche Bevölkerung geriet beim Anblick der Leichen der „hei-
ligen Märtyrer“ in größte Erregung, der skeptische Kaiser sagte je-
doch in einer Anwandlung von Ekel: „Verscharret sie, sie sind zu
nichts anderem mehr zu gebrauchen“. Nichtsdestoweniger sah er sich
zur Beruhigung der aufgewühlten Volksmenge veranlaßt, die Sache
von einer aus weltlichen und geistlichen Würdenträgern zusammen-
gesetzten Kommission untersuchen zu lassen. Die Kommission hatte
die grundlegende Frage zu klären, wie weit der Volksglaube, daß die
Juden christliche Kinder töteten, um deren Blut zu religiösen und
sonstigen Zwecken zu verwenden, auf Wahrheit beruhe. Die Meinun-
gen der Kommissionsmitglieder gingen auseinander, indem die einen
die Anschuldigung aufrechterhielten, während die anderen sie auf
das bestimmteste verwarfen. Der Kaiser erklärte hierauf, er sei
zwar von der völligen Unschuld der Juden auf Grund einschlägi-
ger Quellen durchaus überzeugt, wolle aber dennoch getaufte Ju-
den, die so verabscheuungswürdige Eigentümlichkeiten der von ihnen
abgelehnten Glaubenslehre sicherlich nicht verschweigen würden, als
Sachverständige vorladen. Die aus verschiedenen Orten zusammen-
berufenen Sachkundigen bezeugten nun einhellig, daß im jüdi-
schen Schrifttum keinerlei Hinweise auf die Verwendung von Men-
schenblut zu finden seien, daß vielmehr die Thora und der Talmud
sogar den Genuß von blutigem Tierfleisch streng untersagen. Auf
Grund dieses Gutachtens faßte und Unterzeichnete die aus Bischöfen,
160
§ 2i. Die Ritualmordlüge und der päpstliche Protest
Mönchen, Herzogen und Grafen bestehende Kommission die folgende
Entschließung: die Juden von Fulda treffe in der Sache des Kinder-
mordes keinerlei Schuld und es sei zur öffentlichen Kenntnis zu brin-
gen, daß alle derartigen Beschuldigungen nichts als Verleumdungen
seien und daß kein deutscher Jude auf Grund solcher Anklagen zur
Verantwortung gezogen werden dürfe. Der Beschluß der Kommission
wurde dann vom Kaiser in einem besonderen Erlaß (Juli 12 36) be-
stätigt und dem erwähnten, den deutschen Juden im selben Jahre ver-
liehenen Generalprivileg als Anhang beigefügt. Es geschah dies auf
die Bitte der schwer beunruhigten Juden hin, die die kaiserliche
Gnade, wie alle sonstigen Privilegien und Schutzbriefe, wohl mit
reichlichen Gaben vergolten haben mochten. Die kirchlichen Chro-
nisten unterließen es denn auch nicht, aus dem Ausgang der Anger
legenheit den böswilligen Schluß zu ziehen, daß „die kaiserliche
Strenge nur durch das viele jüdische Geld in Milde umgewandelt“
worden sei.
Ebenso jedoch, wie es dem kaiserlichen Verdikt an Kraft fehlte,
die Märtyrer von Fulda wieder ins Leben zurückzurufen, ebenso fehlte
es ihm an Macht, der Verbreitung der unheilvollen Blutlegende Ein-
halt zu gebieten. Nach wie vor bildete jede unaufgeklärte, an Christen
begangene Mordtat den Anlaß zu eigenmächtigen, von Marterung,
Mord und Plünderung begleiteten Überfällen auf die in der Nähe des
Tatorts ansässigen Juden. Nicht selten wurden Christenleichen auch ab-
sichtlich in jüdische Häuser eingeschmuggelt, um den Verdacht auf de-
ren Eigentümer abzulenken, wobei die Ortsbehörden jedesmal den ein-
geschüchterten jüdischen Gemeinden mit Erpressungen hart zusetzten.
Die durch die unausgesetzte Bedrängnis an den Rand der Ver-
zweiflung gebrachten deutschen Juden flehten nun durch ihre Ab-
geordneten den Papst Innocenz IV. an, sie in Schutz nehmen zu wol-
len und der christlichen Welt die Lügenhaftigkeit der abergläubi-
schen Anschuldigungen klarzumachen. Der um jene Zeit in Lyon
weilende Papst ging auf das Gesuch ein und erließ am 5. Juli 1247
an die Erzbischöfe und Bischöfe Deutschlands eine Bulle folgenden
Inhalts: „Wir habeü die flehentliche Klage der Juden vernommen,
daß manche kirchliche und weltliche Würdenträger wie auch sonstige
Edelleute und Amtspersonen in euren Städten und Diözesen gottlose
Anklagen gegen die Juden erfänden, um sie aus diesem Anlaß aus-
zuplündern und ihr Hab und Gut an sich zu raffen. Diese Männer
11 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
l6l
Deutschland im XIII. Jahrhundert
scheinen vergessen zu haben, daß es gerade die alten Schriften der
Juden sind, die für die christliche Religion Zeugnis ablegen. Wäh-
rend die Heilige Schrift das Gebot auf stellt: ,Du sollst nicht töten!‘
und ihnen am Passahfest sogar die Berührung von Toten untersagt,
erhebt man gegen die Juden die falsche Beschuldigung, daß sie an
diesem Feste das Herz eines ermordeten Kindes äßen. Wird irgend-
wo die Leiche eines von unbekannter Hand getöteten Menschen
gefunden, so wirft man sie in böser Absicht den Juden zu. Es ist
dies alles nur ein Vorwand, um sie in grausamster Weise zu verfolgen.
Ohne gerichtliche Untersuchung, ohne Überführung der Angeklagten
oder deren Geständnis, ja in Mißachtung der den Juden vom Aposto-
lischen Stuhl gnädig gewährten Privilegien, beraubt man sie in gott-
loser und ungerechter Weise ihres Besitzes, gibt sie den Hunger-
qualen, der Kerkerhaft und anderen Torturen preis und verdammt
sie zu einem schmachvollen Tode. So haben denn die Juden unter
der Gewalt solcher Fürsten und Machthaber noch viel mehr zu leiden
als einst ihre Urahnen unter den Pharaonen in Ägypten. Solcher Ver-
folgungen wegen sehen sich die Unglückseligen gezwungen, jene Orte
zu verlassen, wo ihre Vorfahren von altersher ansässig waren. Eine
restlose Ausrottung befürchtend, rufen sie nun den Apostolischen
Stuhl um Schutz an. Da wir die Juden, deren Bekehrung Gott in sei-
ner Barmherzigkeit noch immer erwartet, nicht ungerechterweise ge-
quält wissen wollen, gebieten wir euch, ihnen freundschaftlich und
wohlwollend zu begegnen. Solltet ihr in Zukunft von solchen gesetz-
widrigen Bedrückungen von seiten der Prälaten, Edelleute oder Wür-
denträger hören, so achtet darauf, daß die Schranken des Gesetzes
nicht überschritten werden, und lasset nicht zu, daß man die Juden
unverdienterweise belästige4 4.
Aus dieser Bulle dringt ein Widerhall all jener Greuel zu uns, die
um jene Zeit anläßlich der Ritualmordlüge in Deutschland und
Frankreich stets an der Tagesordnung waren. (Die Bulle war auch
an die französischen Bischöfe gerichtet.) Bei seiner Verteidigung der
Juden ließ sich freilich der Papst weniger von Mitleid als von der
Hoffnung leiten, daß das jüdische Volk einstmals durch seine Bekeh-
rung „zum wahren Glauben44 der Kirche einen Triumph bereiten
würde. Solange jedoch diese glückhafte Stunde noch nicht geschla-
gen, sei es notwendig — so meinte er —, die Juden von den Christen
zu isolieren, damit diese nicht unter den schädlichen Einfluß des
162
§ 21. Die Ritualmordlüge und der päpstliche Protest
Judentums gerieten. Darum ließ auch Innocenz IY. im Jahre 1254,
als er davon Kenntnis erhielt, daß sich die Juden der Konstanzer
Diözese von den Christen in ihrer Tracht nicht unterschieden, an den
dortigen Bischof den Befehl ergehen, diesen Mißstand unverzüglich
abzustellen, damit jeder Verkehr zwischen Juden und Christen,
namentlich zwischen Personen verschiedenen Geschlechts, den Bestim-
mungen der Lateransynode gemäß unterbunden werde.
Im Jahre 1241 hatte die jüdische Bevölkerung mehrerer deutscher
Städte aus einem besonderen Anlaß sorgenvolle Tage durchzumachen.
Die deutsche Ostmark (die Gegend von Breslau) wurde plötzlich
durch eine Invasion mongolischer Horden heimgesucht, die bereits
vorher Rußland und einen Teil Polens verheert hatten. Im Volke ver-
breitete sich nun das Gerücht, daß die eingedrungenen asiatischen
Völkerschaften mit den Juden verwandt und von diesen zum Sturz
der christlichen Gewalt nach Deutschland berufen worden seien. Die
christliche Chronik (des Matthäus von Paris) will sogar wissen, daß
Grenzwächter eines Tages bei jüdischen Kaufleuten in Weinfässern
für die Mongolen bestimmte Waffen entdeckt hätten, worauf die jü-
dischen Händler zum Teil hingerichtet, zum Teil ins Gefängnis ge-
worfen worden seien. Das im Volke verbreitete Gerücht scheint mit
jener messianischen Erregung in Zusammenhang gestanden zu haben,
die sich um diese Zeit der europäischen Judenheit bemächtigt hatte.
Viele hegten nämlich den Glauben, daß mit dem Jahre 12^0, das dem
Jahre 5ooo der jüdischen Zeitrechnung entsprach, die Ära der Er-
lösung Israels anbrechen werde, da sich nach der talmudischen Über-
lieferung im sechsten Jahrtausend der Welt das messianische Zeit-
alter bereits vollenden müßte. Die Invasion wildfremder asiatischer
Völkerschaften, die halb Europa unter ihre Gewalt gezwungen hatten,
rief in den Juden die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung
mit ihren östlichen Brüdern und auf die Befreiung des Heiligen Lan-
des von dem christlich-muselmanischen Joche wach. Diese den Chri-
sten nicht entgangene dumpfe Bewegung wird in einer deutschen
Chronik („Gesta Trevirorum“) mit folgenden Worten erwähnt: „Die
Juden sind von großer Freude ergriffen, da sie im Jahre 1241 seit
der Leibwerdung unseres Herrn das Erscheinen ihres Messias und
ihre Befreiung erhoffen“. Indessen sollten all diese Illusionen an der
traurigen Wirklichkeit restlos zerschellen. Noch im selben Jahre be-
kam die jüdische Gemeinde der kaiserlichen Stadt Frankfurt am Main
11*
i63
Deutschland im XIII. Jahrhundert
ihre Schutzlosigkeit in schmerzlichster Weise zu spüren. Aus einem
ganz geringfügigen Anlaß (einem jüdischen Jüngling, der zum Chri-
stentum übertreten wollte, wurden von seinen Eltern und Freunden
Hindernisse in den Weg gelegt) brach zwischen Juden und Christen
ein Streit aus, der tags darauf eine Judenhetze nach sich zog: die
in Raserei geratenen Christen drangen in die Häuser der Juden ein
und machten etwa 180 von ihnen nieder. Voll Verzweiflung steckten
die Juden ihre Häuser eigenhändig in Brand und das auf die Nachbar-
straßen übergreifende Feuer legte die Hälfte der Stadt in Asche.
Manche der Überfallenen, insbesondere Frauen, entrannen nur da-
durch dem sicheren Tode, daß sie in die Taufe einwilligten. In-
zwischen hatten sich die Mongolen nach Ungarn gewandt, die Ge-
rüchte von dem jüdischen Verrat wurden gegenstandslos, und Fried-
rich II. zog nun die Frankfurter Bevölkerung wegen der Niedermetze-
lung seiner Kammerknechte zur Verantwortung. Da er indessen selbst
durch seine italienischen Sorgen viel zu sehr in Anspruch genommen
war, beauftragte er mit der Untersuchung der verübten Untaten sei-
nen jugendlichen Sohn Konrad, den nominellen Gebieter Deutsch-
lands. Die Ermittlung zog sich mehrere Jahre hin und endete mit der
Begnadigung sämtlicher Angeklagten.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß bei all diesen Zusammenstößen
auch wirtschaftliche Motive mitspielten, doch war die wirtschaftliche
Rivalität für die Gestaltung der christlich-jüdischen Beziehungen in
Deutschland im XIII. Jahrhundert bei weitem noch nicht so aus-
schlaggebend, wie sie es in den folgenden Jahrhunderten werden
sollte. Der Aufstieg der Städte und der Bürgerschaft ging im feuda-
len Deutschland nur sehr langsam vor sich und so machte sich die
Konkurrenz des jüdischen Händlers noch nicht in ihrer ganzen
Schärfe fühlbar. Die neu entstehenden geschlossenen Organisationen,
die Handwerkerzünfte und die Kaufmannsgilden, drängten die deut-
schen Juden nach und nach auf das Gebiet des Geldhandels zurück,
aber auch hier waren ihnen keine so weitgehenden Entfaltungsmög-
lichkeiten geboten wie ihren reichen Stammesgenossen in Frankreich
oder England. Sie pflegten Darlehen gewöhnlich gegen Unterpfand
und nur auf kurze Fristen zu gewähren, was zwar das Risiko des
Gläubigers, aber auch die Höhe des Zinsfußes verringerte. Diese
wurde durch Verfügungen der lehensherrlichen und städtischen Be-
hörden reguliert. Ein im Jahre 1255 in Mainz abgehaltener Städtetag
i64
§ 22. Das Interregnum (1254—1273)
gestattete den Juden bei kurzfristigen Anleihen wöchentlich höch-
stens zwei Pfennig vom Pfund (= 2^0 Pfennig) als Zins zu erheben;
aber auch bei langfristigen Anleihen mit jährlicher Abrechnung
durfte der Zinssatz 33 Prozent nicht übersteigen. Angesichts der da-
maligen Geldknappheit galt ein solcher Gewinn als durchaus beschei-
den, und so sahen sich die Behörden später selbst gezwungen, die
Zinssätze zu erhöhen. Jedenfalls sind es um jene Zeit noch keines-
wegs die Kreditbeziehungen, die in Deutschland Anlaß zu schwereren
Konflikten geben. Die Hauptursache der antijüdischen Stimmung in
den Massen bildete damals vielmehr der religiös-nationale Antagonis-
mus, der durch die politischen Wirren, die in der zweiten Hälfte des
XIII. Jahrhunderts besonders bedrohliche Dimensionen angenommen
hatten, immer mehr verschärft wurde.
§ 22. Das Interregnum und die Judenmetzeleien (1254—1273)
Das auf den Tod des Kaisers Friedrich II. folgende große Inter-
regnum (i2Ö4—1273) wirkte auch auf das Los der Juden in fühl-
barster Weise zurück. Die Schwächung der zentralen Gewalt brachte
sie in völlige Abhängigkeit von den lehensherrlichen und städtischen
Ortsbehörden, die eine so einträgliche Bevölkerungsschicht nur zu
gern in ihre Obhut nahmen. In vielen Städten wetteiferten Bischof und
Magistrat um die Bevormundung der Juden. So gab sich der Kölner
Bischof Konrad alle Mühe, jüdische Auswanderer aus anderen Orten
in seine Residenz zu locken. Schon im Jahre 1252 verkündete er für
die in Köln ansässigen und dorthin zuwandernden Juden eine Ver-
fassung, in der er sich bereit erklärte, ihnen gegen eine zweimal jähr-
lich, am Johannistage und zu Weihnachten, zu leistende Sonderabgabe
(tributum, servitium) jegliche Protektion zu gewähren. Zugleich
sicherte er der jüdischen Gemeinde das Selbstverwaltungsrecht zu und
behielt sich nur die Jurisdiktion in strafrechtlichen Sachen vor. Der
Gemeinde stand das Recht zu, den „jüdischen Bischof“ (episcopus
Judaeorum), d. h. den Rabbiner, frei zu wählen, wobei sie bei jedem
Wahlgang nur einen Betrag von fünf Mark an den erzbischöflichen
Schatz zu entrichten hatte. Bei Verkündigung dieses Freibriefes er-
suchte der Kölner Kirchenfürst die Bürgermeister und die Mitglieder
des Stadtrates, über die den Juden verliehenen Rechte sorgsam zu
wachen, „um so die jüdischen Stadtbewohner an ihre Heimat zu fes-
i65
Deutschland im XIII. Jahrhundert
sein und Auswanderer aus anderen Orten in die Stadt herbeizulocken“.
Die Kölner Bürgerschaft war indessen nicht geneigt, dem Erzbischof
die alleinige Gewalt über die Juden zu überlassen und machte auch
ihrerseits Ansprüche geltend. Im Jahre 12 58 wurde der darob ent-
standene Streit vor einem Schiedsgericht verhandelt, vor dem der
Erzbischof erklärte, daß die Bürger kein Recht hätten, sich in seine
Beziehungen zu den Juden einzumischen, da ihm diese als Lehen vom
Kaiserreich übertragen worden wären (tenet ipsos Judaeos in feudo
ab imperio). Das Gericht entschied, daß die Juden zwar von Rechts
wegen zur erzbischöflichen Kammer gehörten, daß sie aber zugleich
dem Magistrat unterständen, so daß jede der Behörden die Hälfte der
Abgaben von den jüdischen Immobilien beanspruchen dürfe, unter
der einzigen Bedingung, daß die den Juden bischöflicherseits ver-
liehenen Privilegien auch von den Stadtbehörden respektiert würden.
Der Nachfolger des Konrad im Erzbistum von Köln, Engelbert II.,
verlieh den Juden in Anbetracht ihrer wachsenden Verarmung eine
Reihe neuer Vorrechte; so untersagte er zugewanderten Geldwechslern,
den „Kawertschinen“, sowie anderen das jüdische Kreditgeschäft un-
tergrabenden christlichen Wucherern den Aufenthalt in Köln. Damit
die den Juden gewährten Freiheiten der Mitwelt wie der Nachwelt in
Erinnerung blieben, ließ er den Schutzbrief in einen Stein einmeißeln
und diesen auf einem öffentlichen Platze aufstellen.
In einen anderen zwischen dem Bischof und der Bürgerschaft
von Würzburg ausgebrochenen Streit um die Jurisdiktion über die
Juden mischte sich der Papst Innocenz IV. selbst ein. Der Papst be-
stätigte die Machtkompetenz des Bischofs, untersagte der Bürger-
schaft, die jüdische Bevölkerung durch Abgaben zu bedrücken, und
mahnte sie daran, daß die heilige Kirche, gleich einer „weichherzigen
Mutter“, gewillt sei, die Juden neben ihren erstgeborenen Kindern zu
dulden und sie, in der festen Hoffnung auf ihre dereinstige Bekeh-
rung, nach ihren Sondergesetzen leben zu lassen (12 53). Die Würz-
burger Bürger mußten sich denn auch verpflichten, in die Beziehun-
gen zwischen dem Bischof und der jüdischen Gemeinde nicht störend
einzugreifen und diese ohne Einwilligung des Kirchenfürsten durch
keinerlei Abgaben zu belasten. Wie aus den Akten zu ersehen ist,
pflegte nämlich die Bürgerschaft an manchen Orten bei den unter
bischöflicher Jurisdiktion stehenden jüdischen Gemeinden in will-
kürlicher Weise Steuern einzutreiben, wie dies z. B. aus einer Be-
166
§ 22. Das Interregnum (125U—1273)
schwerde des Straßburger Bischofs über die Beeinträchtigung seiner
finanziellen Hoheitsrechte hervorgeht (1261).
Indessen gab es auch unter den kirchlichen Lehensherren nicht
wenig untreue Hirten, die die von ihnen Betreuten nicht nur zu sche-
ren, sondern auch zu schinden pflegten. In solcher Weise verfuhr
z. B. der Magdeburger Erzbischof Robert (oder Ruprecht). Nach sei-
ner Rückkehr aus Rom, wo er für die Erwerbung seiner geistlichen
Würde viel Geld ausgegeben hatte, beschloß dieser mustergültige
Seelenhirt, sich an den ihm Untertanen Juden schadlos zu halten. An
einem Sukkothtage (1261) überfiel er mit einem Dienertrupp den
„Judendorf“ genannten jüdischen Vorort von Magdeburg, raffte eine
Menge Geld, Silber und Goldgeräte zusammen und ließ überdies zu
Erpressungszwecken die wohlhabendsten jüdischen Einwohner ver-
haften. Einen ähnlichen Überfall unternahm er auch auf die Juden
von Halle, das gleichfalls zu dem Magdeburger Episkopat zählte.
Hier traten jedoch dem räuberischen Bischof die Bürger entgegen
und erklärten, daß sich die Stadt zur Verteidigung der Juden ver-
traglich verpflichtet hätte und ihren Vertragspflichten getreu nach-
kommen werde. Der Erzbischof rief nun den Beistand der ihm ver-
wandten Grafen von Mansfeld an und belagerte die Stadt, während
sich der Bürgerschaft Herzog Albert von Braunschweig anschloß. Es
kam zu einer Schlacht, bei der der Herzog in Gefangenschaft geriet,
und so fiel Halle der Raubgier des Bischofs zum Opfer. Die Beute,
die diesem Raubritter im Priesterornat bei seinen beiden Streifzügen
in die Hände fiel, erreichte die ansehnliche Summe von 100000
Mark.
Die von den jüdischen Stadtbewohnern an die Bürgerschaft abge-
führten Abgaben bestanden entweder in einer bestimmten Jahressteuer
oder aber in Beiträgen für die außerordentlichen städtischen Aus-
gaben, wie etwa zur Verteidigung gegen feindliche Überfälle. In sol-
chen Fällen wurden die Juden auch zu Naturalleistungen angehalten.
So rüsteten sie in Regensburg in den Jahren i25i—1252 Krieger-
scharen zur Bewachung der städtischen Festungswerke aus. Auch in
Worms händigten sie der Bürgerschaft zweimal erhebliche Geldsum-
men zur Anwerbung von Schutztruppen ein (1259 und 1271). Ihre
Treue wurde dadurch belohnt, daß die Bestimmungen aller in jener
unruhvollen Zeit von den lehensherrlichen und städtischen Behörden
abgeschlossenen Landfriedensverträge auch auf die jüdischen Gemein-
167
Deutschland im XIII. Jahrhundert
den ausgedehnt wurden. Der im Jahre 12 54 zwecks Aufrechterhal-
tung der öffentlichen Sicherheit begründete Rheinische Städtebund,
dem außer den Städten Mainz, Worms, Köln, Speyer, Straßburg,
Basel u. a. die rheinländischen Bischöfe und Grafen beitraten, ver-
pflichtete sich, die Wohltaten des Landfriedens nicht nur den Vor-
nehmen, sondern auch den schlichten Bürgern und auch den Juden
angedeihen zu lassen. Dafür mußten aber die jüdischen Gemeinden
zur Aufrechterhaltung des Landfriedens auch ihren Anteil beisteuern.
Im Jahre 1265, während der schlimmsten Wirren des „großen Inter-
regnums“, schlossen die Erzbischöfe und Grafen sowie die Vertreter
der Bürgerschaft von Frankfurt, Friedberg und Wetzlar auf die
Dauer von drei Jahren einen Landfriedensvertrag miteinander, in dem
es unter anderem hieß: „Angesichts dessen, daß in vielen Städten
zügellose Menschen sich vermessen, gegen den Willen Gottes, um
dessen Martertodes willen und der Erinnerung an ihn die heilige Kirche
die Juden am Leben erhält, sowie zum Nachteil des Kaiserreiches und
seiner Schatzkammer Ruhe und Ordnung zu verletzen und den Juden
allerlei Beleidigungen zuzufügen, ja sie zuweilen in unmenschlichster
Weise niederzumetzeln, ist die Bestimmung getroffen, daß jeder, der
solcher Freveltaten oder Quälereien überführt wird, wegen Land-
friedensbruchs bestraft werden soll“. In der Tat waren in jenen Jah-
ren Judenhetzen stets an der Tagesordnung. In den synagogalen Mar-
tyrologicn sind von 1264—1267 die Namen vieler jüdischer Mär-
tyrer aus Koblenz, Sinzig und anderen rheinländischen Städten ent-
halten. Besonders grauenvoll war das Gemetzel in Sinzig, wo in der
angezündeten Synagoge 72 Juden in den Flammen umkamen. Den
Anlaß zu den blutigen Hetzen gab nicht selten die Ritualmordlüge.
So wurden in der elsässischen Stadt Weißenburg sieben Juden wegen
angeblicher Ermordung eines christlichen Kindes aufs Rad gefloch-
ten (1270); unter den Märtyrern befanden sich auch zwei zum Ju-
dentum übergetretene Christen, von denen der eine vor seiner Be-
kehrung „Prior der Barfüßler“, d. i. des Mönchsordens der Bettel-
brüder, war. Es mag sein, daß der Prozeß von den dominikanischen
Inquisitoren ausschließlich aus Rachsucht gegen die zwei Abtrünni-
gen inszeniert worden war und daß die Ritualmordlüge hierbei nur
als bequemer Vorwand diente.
Zu zügellosen Ausschweifungen wurde die Volksphantasie durch
den wilden Aberglauben auch in der badischen Stadt Pforzheim an-
168
§ 22. Das Interregnum (125ä—1273)
geregt. Das Märchen, das die einfältige Volksmenge für bare Münze
nahm, wollte wissen, ein altes Weib hätte sich mit den Juden an ge-
freundet und ihnen eine siebenjährige Waise verkauft, worauf die
Juden das Mädchen in ein faltenreiches Leinengewand gehüllt und
ihm unzählige Wunden beigebracht hätten, um das Gewand mit sei-
nem Blute zu durchtränken; nachdem das Blut auf solche Weise ab-
gezapft worden wäre, hätten die Bösewichte die Leiche in den Fluß
geworfen. Als sie dann von Fischern aus dem Flusse gezogen wurde,
rief das Volk laut, daß „nur die gottlosen Juden sich eines solchen
Verbrechens hätten schuldig machen können“. Bald waren auch die
„Beweise“ zur Stelle: als nämlich der Markgraf von Baden an die
Leiche des Kindes trat, hob es — so lautet der Bericht der Chronik
— die Hände gleichsam flehend zu ihm empor, als aber Juden in die
Nähe des Leichnams gebracht wurden, öffneten sich die Wunden und
begannen von neuem zu bluten. Das Volk soll durch diesen Anblick
in so maßlose Erregung geraten sein, daß es die unverzügliche Hin-
richtung der Schuldigen verlangte, die denn auch bald überführt
wurden: die Alte legte ein Geständnis ab und machte die Juden nam-
haft, die ihr das Mädchen angeblich abgekauft hätten, worauf diese
gerädert und sodann mit der alten Hexe am selben Galgen gehenkt
wurden. Dem chronographischen Bericht über diesen Vorfall, der
sich im Jahre 1267 abgespielt haben soll, liegt eine Erzählung zweier
„predigender Brüder“, d. i. Dominikanermönche, zugrunde, die dem
grauenhaften Geschehnis als Augenzeugen beigewohnt, vielleicht aber
auch eine aktivere Rolle dabei gespielt haben.
Welcher Art die von den Dominikanern ins Volk getragenen Leh-
ren waren, ist aus den in jenen sturmbewegten Jahren (i2 5o—1272)
von dem deutschen Mönch Berthold in Regensburg gehaltenen Pre-
digten zu ersehen. Juden, Ketzer und Heiden seien — so meinte er —
Kinder des Satans; Kaiser wie Lehensherren müßten sich alle Mühe
geben, die Christen vor ihrem verderblichen Einfluß zu bewahren.
„Ein Christ seinem Namen und ein Jude seinen Taten nach“ — dies
war die Redensart, mit der dieser Mönch jeden Unwürdigen zu kenn-
zeichnen pflegte. Mit den Juden solle man in keine näheren Be-
ziehungen treten, geschweige denn über Glaubensfragen mit ihnen
disputieren, denn sie verständen es nur zu gut, durch Scheinbelege
aus der Schrift die kirchlichen Glaubenslehren zu unterwühlen. Um
die Aufrichtung einer Scheidewand zwischen Juden und Christen wa-
169
Deutschland im XIII. Jahrhundert
ren auch die kirchlichen Provinzialkonzile aufs eifrigste bemüht. So
erinnerte das Konzil der Mainzer Diözese (1259) mit allem Nach-
druck daran, daß die Juden durch ein besonderes Abzeichen gebrand-
markt werden müßten. Im ganzen Mainzer Bezirk, in Stadt und Land,
wurden die jüdischen Einwohner beiderlei Geschlechts verpflichtet,
eine Sondertracht anzulegen oder ein Abzeichen an ihrem Gewände
anzubringen, damit sie so „ohne Fehl“ von den Christen erkannt
werden könnten. An den Orten, wo die Obrigkeit keine Maßnahmen zur
Durchführung dieser Vorschrift ergreifen würde, sollte mit dem Got-
tesdienst in den Kirchen so lange ausgesetzt werden, bis die Fürsten
und Notabein, in deren Herrschaftsbereich das „treulose und elende
Volk“ (gens perfida et misera) lebte, die störrischen Juden zur Be-
folgung des Kirchenkanons zwingen würden. Ein Jude, der sich am
Karfreitag auf der Straße zeigen sowie vor die Tür oder an das Fen-
ster seines Hauses treten sollte, hatte diesen Bestimmungen gemäß:
eine Geldbuße zugunsten des Erzbischofs zu erlegen. Ferner wurden
den die Kirchenvorschriften mißachtenden Juden alle geschäftlichen
Beziehungen mit Christen untersagt. Zugleich wurde es den Priestern
zur Pflicht gemacht, ihre Gemeinden während des sonntäglichen Got-
tesdienstes von diesen Verhaltungsmaßregeln in Kenntnis zu setzen.
Ein Volk, dem in den Kirchen derartige Vorschriften immer wie-
der eingehämmert wurden, mußte schließlich an seinem Rechts-
bewußtsein schweren Schaden nehmen. In die schon erwähnte, unter
dem Namen „Schwabenspiegel“ bekannte Volksrechtssammlung wur-
den denn auch die antijüdischen Kirchenkanons fast wörtlich mit-
übernommen : die Christen durften keine Tischgenossenschaft mit den
Juden pflegen, sie nicht als Gäste empfangen und mit ihnen zusam-
men nicht baden; vom Gründonnerstag bis zum Ostertage durften
sich die Juden nicht auf der Straße blicken lassen und mußten Tür
und Fenster geschlossen halten. Ferner waren sie zum Tragen spitzer
Hüte verpflichtet, damit sie von den Christen unterschieden werden
könnten, und durften in ihrem Hausstand keine christlichen Dienst-
boten anstellen. Bei der gerichtlichen Eidesleistung mußte der Jude,
während er die rechte Hand auf den Pentateuch legte, mit den Füßen
auf eine Schweinshaut treten. Auf das Zusammenleben eines Christen
mit einer Jüdin oder eines Juden mit einer Christin stand für beide
Teile der Flammentod. Obzwar die Juden zur Taufe nicht gezwungen
werden durften, mußte doch derjenige, der einmal, und sei es auch
170
§ 23. Die Jadenhetzen unter den Habsburgern
zwangsweise, getauft worden war, in dem aufgenötigten Glauben ver-
harren: der Abfall eines Täuflings von der Kirche sollte gleich der
Ketzerei mit Verbrennung geahndet werden. All diese Gesetzesbestim-
mungen treten uns in einem Kodex entgegen, der sich sonst auf dem
Niveau eines durchaus normalen Rechtsbewußtseins hält. Heißt es
doch darin, daß den Juden kraft des „Kaiserfriedens“ gleich allen
anderen wehrlosen Landesbewohnern, Frauen, Priestern und Kauf-
leuten, Sicherheit und Unantastbarkeit verbürgt sei, daß die Ermor-
dung eines Juden ebenso scharf bestraft werden müsse wie die eines
Christen u. dgl. m. Der hier zum Ausdruck kommende innere Wider-
spruch mag indessen dadurch überwunden worden sein, daß weder
den strengen kanonischen Vorschriften noch auch den feierlichen
Sicherheitsgarantien in der Praxis jo voll Genüge geschah.
§ 23. Die Judennot unter den Habsburgern und die Verfolgungen
durch Rindfleisch (1298)
Die Wirren des Interregnums hatten ihr Ende erreicht, und nun
waren es die Kaiser, die die Juden ihre schwere Hand spüren ließen.
Nach langwierigen Kämpfen mit ihren Rivalen schließlich zur Macht
gelangt, benötigten die neuen Herrscher große Geldmittel zur Til-
gung ihrer Kriegsschulden. Die von den Juden bezogenen Einkünfte,
die im Reichsetat einen ansehnlichen Posten bildeten, gewannen jetzt
besonders an Bedeutung; in der fortwährenden Erhöhung dieser Ein-
künfte fand die damalige Regierungskunst gleichsam ihren prägnan-
testen Ausdruck. Die neuen Gebieter Deutschlands aus dem den
Hohenstaufen folgenden Habsburgerhause waren auf diesem Gebiete
in der Tat Meister. Schon die Regierung des Kaisers Rudolf von Habs-
burg (1278—1291), während der auch ganz Deutschland unter
einem unerträglichen Steuerdrücke stöhnte, war für die Juden eine
Zeit härtester Bedrängnis. Für die ihnen erwiesene „Protektion“, für
die Bestätigung ihrer altanerkannten Rechte und „Privilegien“ hatten
die unter der Gewalt der Habsburger stehenden Gemeinden Deutsch-
lands und Österreichs riesige Geldsummen aufzubringen. Immer häu-
figer fand das System der Verpfändung einzelner Gemeinden an die
kaiserlichen Gläubiger Anwendung und auch Erpressungen bei ein-
zelnen reichen Juden wurden zu einer alltäglichen Erscheinung. Wenn
der Kaiser außerhalb Deutschlands weilte, wurde mit der Eintreibung
Deutschland im XIII. Jahrhundert
der „jüdischen Einkünfte“ in den kaiserlichen Besitzungen der das
Reichskanzleramt bekleidende Erzbischof von Mainz betraut; hierbei
floß der zehnte Teil aller Eingänge dem Schatze des Erzbischofs zu,
der auf diese Weise an der Erhöhung des kaiserlichen Einkommens
ein unmittelbares Interesse hatte. Der Druck der Steuerlast wurde so
unerträglich, daß die Juden aus Mainz und anderen rheinländischen
Städten in das an Deutschland grenzende Polen und noch weiter, in
„überseeische Länder“ überzusiedeln begannen. Darauf gab Rudolf
den Befehl (1286), daß Grundbesitz, Häuser und Vermögen der ohne
seine Genehmigung auswandernden Juden zugunsten des kaiserlichen
Schatzes eingezogen würden. „Alle Juden sind samt und sonders —
so begründete er seine Maßnahme — unsere Kronknechte und ge-
hören mitsamt ihrem Vermögen einzig und allein uns oder denjeni-
gen Fürsten, denen wir sie nach lehensherrlichem Rechte abgetreten
haben; wenn also manche Juden ohne unsere besondere Genehmigung
davonlaufen, um sich jenseits des Meeres anzusiedeln, sich so der Ge-
walt ihres gesetzlichen Herrn entziehend, so ist es Rechtens, daß
all ihr Hab und Gut, bewegliches wie unbewegliches, unser werde“.
Im Zusammenhang mit dem auf den Juden lastenden Steuerdruck
und mit dem an diese Hörigen des Kaisers ergangenen Aus-
wanderungsverbot kam es zu einem tragischen Vorfall, dessen Held
der geistige Führer des deutschen Judentums, Rabbi Meir aus Rothen-
burg, war. Dieser Jünger der Tossafistenschule hatte auf seinen Wan-
derungen durch die verschiedenen jüdischen Kulturzentren Deutsch-
lands und Frankreichs viele traurige Ereignisse jener Zeit aus nächster
Nähe miterlebt. Als Schüler des R. Jechiel wohnte er im Jahre 12 4o
der religiösen Disputation in Paris bei, die in der öffentlichen Ver-
brennung des Talmud ihren Abschluß fand. Dort eben stimmte der
jugendliche Talmudgelehrte sein berühmtes Trauerlied: „Frage nun,
du vom Feuer verzehrte“ (oben, § 4) an. Bald darauf kehrte er nach
Deutschland zurück, wo er den der Talmudwissenschaft in Frank-
reich versetzten Schlag wieder wettzumachen suchte. In dem kleinen
fränkischen Städtchen Rothenburg ob der Tauber gründete er eine
Talmudschule, die zu einer neuen Pflanzstätte des Rabbinismus in
Deutschland werden sollte. Von hier aus ergingen an alle Gemeinden
maßgebende Entscheidungen über Fragen der religiösen Praxis und
des bürgerlichen Rechts, hier erstand der deutschen Judenheit ihre
höchste Gerichtsinstanz. Ohne offiziell den Titel eines Oberrabbiners
172
§ 23. Die Judenhetzen unter den Habsburgern
von Deutschland zu führen, versah Rabbi Meir faktisch die einem
solchen Amte zukommenden Funktionen. Plötzlich sollte über den
greisen Volksführer das Unheil hereinbrechen. Als nämlich die Aus-
wanderung aus Deutschland einsetzte, faßte auch R. Meir den Plan,
nach einem überseeischen Lande (wohl nach Palästina) zu ziehen.
Unauffällig für die Behörden verließ er mit seinen Angehörigen Ro-
thenburg und kam wohlbehalten in der Lombardei an. Hier hielt er
Rast in Erwartung einer nachkommenden Auswandererschar, mit der
zusammen er sich einzuschiffen gedachte. Der Zufall wollte es jedoch,
daß er hier von einem getauften Juden aus dem Gefolge des aus Rom
heimkehrenden Baseler Bischofs wiedererkannt und denunziert wurde.
Der Bischof versäumte nicht, die „Flucht“ des Rabbiners den Orts-
behörden anzuzeigen, die Rabbi Meir auf der Stelle festnahmen, um
ihn dem Kaiser Rudolf auszuliefern. Der Flüchtling wurde hierauf in
der Burg von Ensisheim im Elsaß eingekerkert (1286). Die jüdischen
Gemeinden boten dem Kaiser 20000 Mark als Lösegeld für den
Rabbiner an, doch wollte sich der Habsburger mit dieser Summe nicht
zufrieden geben, und so blieb Rabbi Meir sieben Jahre lang in Haft.
Es wird erzählt, daß er selbst den Gemeinden untersagt hätte, eine
höhere Summe zu bieten, um den erpresserischen Praktiken der
Machthaber keinen Vorschub zu leisten. Die Gefangenschaft hinderte
ihn nicht, seine Forschungsarbeit fortzusetzen und den schriftlichen
Verkehr mit den Gemeinden aufrechtzuerhalten; manche seiner Jün-
ger harrten in Treue an seiner Seite aus und erleichterten ihm die
Drangsale der Deportation. Er starb im Jahre 1293. Die Behörden
verweigerten den Juden die Herausgabe der Leiche ihres Seelenhirten.
Erst vierzehn Jahre später gelang es einem frommen Manne namens
Süßkind Wimpfen, die Gebeine des Rabbi Meir loszukaufen und sie
auf dem jüdischen Friedhof zu Worms beizusetzen, wofür er sich von
der Gemeinde die Gunst ausbedang, nach seinem Tode neben dem
heiligen Manne ruhen zu dürfen.
Die ganze Regierungszeit des Kaisers Rudolf ist von Ritualmord-
prozessen und von den damit zusammenhängenden Blutgerichten er-
füllt. Im Jahre 12 83 wurde zur Osterzeit in Mainz die Leiche eines
Christenkindes gefunden, und wiederum waren es die Juden, die da-
für büßen mußten. Der Volksmund wollte wissen, eine Amme hätte
das Kind an die Juden verschachert. Ein Ritter, ein Anverwandter
des ermordeten Säuglings, zog mit der Leiche auf den Schultern
173
Deutschland im XIII. Jahrhundert
durch die Straßen und rief laut nach Rache. Vergebens bemühte sich
der Mainzer Erzbischof, die aufgeregte Menge zu beschwichtigen, in-
dem er eine strenge Untersuchung und rücksichtslose Bestrafung der
Schuldigen in Aussicht stellte. Die rasend gewordenen Christen stürz-
ten sich am zweiten Ostertage auf ihre jüdischen Nachbarn und
machten zehn von ihnen nieder. Den Mördern wurde später im
Gnadenwege jede Strafe erlassen. In demselben Frühjahr fielen der
niederträchtigen Verleumdung sechsundzwanzig Juden in Bacharach
zum Opfer. Im Jahre 1286 legte in München die fanatisierte Menge
Feuer an die Synagoge, wobei viele Juden in den Flammen umkamen.
In Oberwesel kam das Gerücht in Umlauf, die Juden hätten einen
unter dem Namen „der gute Werner“ bekannten frommen Mann zu
Tode gepeinigt und die Leiche strahle nun eine wunderwirkende
Leuchtkraft aus; hierauf machten die Bürger mit den angeblichen
Tätern kurzen Prozeß, dem Grabe des „heiligen“ Werner strömten
aber Scharen glaubensseliger Schwärmer zu. Nachdem sich Rudolf
auf die Beschwerde der Juden hin von der Grundlosigkeit der Be-
schuldigung überzeugt hatte, legte er den abergläubischen Bürgern
eine Geldbuße auf und befahl, die Leiche des falschen Heiligen in
Rauch auf gehen zu lassen (1288).
Um dieselbe Zeit fand im Volke auch das abergläubische Märchen
von der wunderbaren Hostie (hostia mirifica) Verbreitung, dem
letzten Endes das eucharistische Dogma zugrunde lag. Man erzählte
sich nämlich, daß die Juden aus Haß gegen Christus die Hostie als
das Symbol des Leibes des Gekreuzigten zu durchstechen pflegen,
worauf aus dem geschändeten Abendmahlsbrote gar oft Blut von
wunderbarer Heilwirkung hervorströme1). Eine solche wunderwir-
kende Hostie wurde nun im Jahre 1287 in der Stadt Pritzwalk (in
Brandenburg) entdeckt. Auf Veranlassung des Ortsbischofs errichtete
man an der Fundstätte ein Frauenkloster, in dessen Hallen sich bald
Scharen von Genesung suchenden Siechen mit reichen Gaben drängten.
Mit dem wachsenden Ruhme des Klosters stiegen auch die Einkünfte
des Bischofs sowie der gesamten Geistlichkeit dieses Kirchspiels. Seit-
dem nahmen die auf ihren Vorteil sowie auf die Festigung des Glau-
1) Die in jüngster Zeit vorgenommenen chemischen Untersuchungen ergaben,
daß sich auf lange liegenden Abendmahlsoblaten durch Farbstoff ausscheidende
Mikroben leicht rote Flecke bilden können, die wohl von den unaufgeklärten Volks-
massen der Vorzeit für Blutflecken gehalten wurden.
174
§ 23. Die Judenhetzen unter den Habsburgern
bens im Volke bedachten frommen Kirchenhirten keinen Anstand
mehr, das Hostienwunder sogar selbst zu inszenieren, und die Fabri-
kation des „heilspendenden Blutes“ wurde zu einem besonderen Er-
werbszweig der kirchlichen Mystifikatoren.
Im Jahre 1298 gab in Bayern das alberne Gerede von der Hostien-
schändung zu Judenmetzeleien Anlaß, wie sie in solchem Ausmaß seit
den Kreuzzügen nicht mehr vorgekommen waren. Es geschah dies
gegen Ende des siebenjährigen Bürgerkrieges, der nach dem Tode
Rudolfs zwischen dessen Sohn Albrecht von Österreich und einem
anderen Kronprätendenten, Adolf von Nassau, ausgebrochen war. Ganz
Deutschland war dem „Faustrecht“ ausgeliefert. Die durch die un-
ausgesetzten Wirren verwilderten Volksmassen waren ein geeignetes
Werkzeug in den Händen der raubgierigen und blutrünstigen Fana-
tiker. Es wurde das Gerücht ausgesprengt, die Juden hätten in dem
fränkischen Städtchen Röttingen zur Verhöhnung des Sinnbildes des
Leibes Christi aus der Kirche die Hostie entwendet und sie in einem
Mörser zerstoßen, so daß sie bald zu bluten begann. Ein ortsansässiger
Edelmann, wenn nicht ein gemeiner Metzgermeister, worauf sein Name
Rindfleisch hindeuten würde, versammelte eine große Menge um sich
und verkündete, daß er vom Himmel selbst dazu ausersehen sei, die
Kirchenschändung zu rächen und die schuldigen Juden vom Erdboden
zu vertilgen. Im April 1298 zog die Bande des Rindfleisch, nachdem
sie alle Juden von Röttingen niedergemacht hatte, ins Land hinaus.
Auf ihrem Wege schlossen sich ihr immer neue Scharen von Mord-
brennern an und das Verbrecherheer überflutete das ganze Land.
„Rot vom Blute“ der jüdischen Märtyrer wurde die Stadt Rothenburg
(„Ha’ir ha’aduma mi’dam“, wie es in der damals gedichteten synago-
galen Elegie heißt). Dreimal hintereinander wurde diese Gemeinde
von den Räuberbanden heimgesucht, denen ihr Zerstörungswerk jedes-
mal noch nicht gründlich genug getan zu sein schien (Juni—Juli).
Von den größeren Gemeinden erlitten den schwersten Schaden Würz-
burg und Nürnberg. Die von Würzburg wurde fast gänzlich ver-
nichtet; nur wenige, die zum Scheine die Taufe annahmen, sowie die
gewaltsam getauften Kinder entgingen dem Tode. In Nürnberg setzten
sich einige Hundert Juden in der Burg zur Wehr, wurden aber schließ-
lich überwältigt und niedergemetzelt. Unter den Umgekommenen be-
fand sich auch der berühmte Rabbiner Mardochai ben Hillel, der Ver-
fasser des talmudischen Kompendiums „Mardochai“. Die Zahl der
175
Deutschland im XIII. Jahrhundert
sich selbst Umbringenden oder der „sich Aufopfernden“, wie es in der
damaligen Sprache hieß, war nicht geringer als in dem Jahr des ersten
Kreuzzuges. Ganze Familien, groß und klein, stürzten sich ins Feuer
oder ins Wasser, um nicht den verruchten Missetätern in die Hände zu
fallen; Frauen banden ihre Kleinen an die Brust fest und sprangen
mit ihnen in die Flammen. Die städtischen Behörden wollten oder
konnten den Juden keinen Schutz gewähren; nur in sehr wenigen
Städten, so in Augsburg und Regensburg, hatten die jüdischen Ge-
meinden ihre Errettung der Bürgerschaft zu verdanken.
Ein halbes Jahr lang, vom Frühjahr bis zum Herbst 1298, wüteten
die Banden des Rindfleisch unausgesetzt in Bayern und im benach-
barten Österreich. Ihrer Vernichtungswut fielen im Laufe dieser Zeit
etwa hundertundvierzig jüdische Gemeinden und Siedlungen zum
Opfer1). Die Welle der Judengemetzel ebbte erst nach dem Tode
Adolfs von Nassau ab, als die Kaiserkrone an seinen Widersacher,
Albrecht von Habsburg (1298—i3o8), gefallen war, dem es nach
dem langwierigen Bürgerkriege endlich gelang, im Lande Ruhe und
Ordnung wiederherzustellen. Der neue Kaiser setzte sich für seine ver-
folgten jüdischen Untertanen kraftvoll ein: er legte den Städten, die
in ihren Mauern Mord und Plünderung geduldet hatten, Geldstrafen
auf und gestattete den flüchtigen Juden, ihre alten Wohnstätten wie-
der aufzusuchen, während die gewaltsam Getauften unbehindert ihrem
angestammten Glauben nachgehen durften. Für sein Vorgehen waren
weniger menschenfreundliche Gefühle als Nützlichkeitserwägungen
entscheidend, dieselben Motive, die seinerzeit Kaiser Rudolf zum
Einschreiten gegen die jüdische Auswanderung veranlaßt hatten: be-
rührte doch die Vernichtung der Kammerknechte und ihres Besitzes
unmittelbar die Interessen des kaiserlichen Eigentümers.
Wie fest um jene Zeit die Auffassung, daß die Juden nichts als
kaiserliches Privateigentum seien, eingewurzelt war, ist deutlich aus
dem naiven Bericht des deutschen Dichterchronisten Ottokar von
Horneck über die Ursachen der im Jahre i3o6 erfolgten Verbannung
der Juden aus Frankreich zu ersehen. Albrecht I. soll nämlich von
1) Anläßlich der von Rindfleisch angezettelten Judengemetzel, über die sich
in den deutschen Chroniken nur kurze Notizen erhalten haben (gesammelt in den
„Fontes rerum germanicarum“ von Böhmer), sind einige Elegien entstanden, un-
ter denen besonders das Klagelied des Moses ha’Kohen Hervorhebung verdient
(s. unten, § 26).
I76
§ 24. Österreich, Böhmen und Ungarn
seinem politischen Gegner, dem französischen König Philipp dem
Schönen, die Anerkennung der Oberhoheit des römisch-deutschen Kai-
sers über die französischen Juden als über die Nachkommen der ein-
stigen Gefangenen des Yespasian und Titus verlangt haben. Hierauf
hätte Philipp seine Rechtsberater versammelt und ihnen die Frage
vorgelegt, ob derlei Forderungen des deutschen Kaisers hinlänglich
begründet seien; als dies dann von den Rechtsgelehrten bejaht worden
sei, hätte er den Befehl gegeben, den französischen Juden all ihr
Hab und Gut wegzunehmen und sie nackt und entblößt zu ihrem
Herrn Albrecht zu schicken. Diese Sage kennzeichnet in treffendster
Weise die mittelalterlichen Anschauungen, die über die soziale Stel-
lung der Juden sowohl in Deutschland als auch in Frankreich ver-
breitet waren.
§ 24. Die Juden zwischen Staat und Kirche in Österreich, Böhmen
und Ungarn
Aus den deutschen Stammlanden, aus Bayern und den rheinischen
Provinzen, ergoß sich im XIII. Jahrhundert unausgesetzt ein Aus-
wandererstrom in die östlicher gelegenen Gebiete, nach dem Herzog-
tum Österreich. Nicht allein die Ungunst der Verhältnisse war es, die
die Juden nach der Ostmark trieb, vielmehr übte die Donauhauptstadt
Wien sowie die anderen Städte, die an der großen, Deutschland mit
den slawischen Ländern verbindenden Handelsstraße gelegen waren,
auch eine unmittelbare Anziehungskraft auf sie aus. Die österreichi-
schen Herzoge aus dem Hause Babenberg brachten den Juden in der
ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts nicht weniger Wohlwollen ent-
gegen als ihre Vorgänger (Band IV, § 37). Jüdische Finanzmänner
und Steuerpächter verfügten am Wiener Hofe über einen nicht un-
bedeutenden Einfluß, doch war die den jüdischen Steuereinnehmern
im Widerspruch zu den Kirchenregeln verliehene Macht über die
Christen diesen stets ein Dorn im Auge. Wir haben bereits gesehen,
in welcher Weise Friedrich II., der Kaiser mit dem Januskopf, bei
der Besetzung Wiens im Jahre 1287 auf diese „christlichen“ Ge-
fühlswallungen reagierte und wie er den Wienern dadurch entgegen-
zukommen suchte, daß er die „zur Knechtschaft verdammten Juden“
der Bekleidung öffentlicher Ämter für unwürdig erklärte (oben,
§ 20). Nachdem jedoch der Herzog Friedrich der Streitbare Wien
12 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
177
Deutschland im XIII. Jahrhundert
und die anderen österreichischen Länder von der Herrschaft des deut-
schen Kaisers wieder befreit hatte, sah er sich zur Aufrechterhaltung
seiner Unabhängigkeit auf die finanziellen Dienste der Juden ange-
wiesen. Dies bewog ihn, im Jahre 12 44 ein für die jüdische Bevölke-
rung überaus günstiges Statut zu veröffentlichen, das den bald darauf
in Böhmen, Ungarn, Schlesien und Polen erlassenen Verfassungs-
urkunden als Muster dienen sollte.
Das österreichische Statut vom Jahre 12 44 sicherte den Juden vor
allem volle Unverletzlichkeit von Leben und Besitz zu. Auf die Er-
mordung eines Juden stand die Todesstrafe und Einziehung des ge-
samten Vermögens des Mörders, auf Körperverletzung eine schwere
Geldbuße. Jeder Anschlag auf jüdische Friedhöfe und Synagogen
ebenso wie auf „jüdische Schulen“ (scolas Judaeorum) sowie die Ent-
führung von jüdischen Kindern zwecks gewaltsamer Taufe war aufs
strengste verboten. Die von einem Christen gegen einen Juden er-
hobene Anklage galt nur dann als erwiesen, wenn sie auch von einem
jüdischen Zeugen bekräftigt wurde. Für alle diese Strafsachen war
nicht das allgemeine Land- oder Stadtgericht, sondern ein eigens
von dem Herzog aus der Mitte seiner christlichen Beamten ernannter
„Juden-Richter“ (judex Judaeorum) zuständig. Streitsachen zwischen
Juden konnten aber bei Übereinkommen der Parteien entweder
vor diesem herzoglichen Richter oder vor dem jüdischen Gemeinde-
gericht verhandelt werden. Den Juden wurde in ganz Österreich un-
eingeschränkte Freizügigkeit, das Niederlassungsrecht sowie die Frei-
heit des Handels, namentlich des Geldhandels, zuerkannt. Die in
dem Statut für Kreditgeschäfte festgesetzten Vorschriften waren
so gefaßt, daß das Bestreben des Gesetzgebers, den Unterneh-
mungsgeist der jüdischen Kapitalisten gerade auf dieses Gebiet zu
lenken, in die Augen springt. Das durch diese Bestimmungen fest-
gelegte Höchstmaß an Zinsgewinn (wöchentlich acht Pfennig von
dem 240 Pfennig betragenden Pfund, was einen Zinsfuß von 173
Prozent ergibt) übersteigt weit die in den meisten europäischen
Ländern zulässigen Zinssätze. Es ist wohl anzunehmen, daß den
Machthabern selbst der jüdische Kredit unter viel günstigeren Be-
dingungen gewährt zu werden pflegte, weshalb ihnen die Not
der kleineren Schuldner ziemlich gleichgültig war. Noch weniger
kümmerten sich die Schutzherren des Geldhandels um die trau-
rigen Folgen, die solche Handelsbräuche für die bei der Bevölkerung
178
§ 24. Österreich, Böhmen und Ungarn
so unbeliebten „privilegierten Wucherer“ zeitigen konnten. Im Gegen-
satz zu dem Kreditgeschäft, das den Juden somit in weitestem Maße
zugänglich gemacht worden war, wurde ihnen der Zutritt zum
Warenhandel und zum Gewerbe durch die in Aufstieg begriffenen
Organisationen der Bürgerschaft, durch die Kaufmannsgilden und
Zünfte, immer mehr verbaut.
Herzog Friedrich der Streitbare, dem die jüdischen Finanzmänner
bei allen seinen Kriegsunternehmungen treu zur Seite standen, fand
im Jahre 1246 im Kriege mit dem Ungarnkönig Bela IV. den Tod.
Zum österreichischen Herzog wurde durch die Stände der Markgraf
von Mähren, der nachmalige böhmische König Ottokar II., erwählt
(i2Öi). Die Juden hatten sich inzwischen in Böhmen von den schwe-
ren Heimsuchungen der ersten Kreuzzüge längst erholt (Band IV,
§37) und die Gemeinden in Prag sowie in den anderen böhmischen
Städten erfuhren durch den Zustrom von Auswanderern aus Deutsch-
land einen bedeutenden Zuwachs. Als irreguläre Kreuzfahrerbanden
den Versuch machten, die jüdischen Gemeinden zu überfallen, trat
ihnen König Wenzel I. (i235—12 53) mit aller Entschiedenheit ent-
gegen. Während eines dieser Überfälle ließ er unter die Juden Waffen
verteilen, worauf sie den Mordbuben einen gehörigen Denkzettel ga-
ben. Der Sohn Wenzels, Ottokar II. (1253—1276), der noch bei
Lebzeiten seines Vaters Herzog von Österreich geworden war, ver-
einigte nach dessen Tode unter seinem Zepter ein weitausgedehntes
Reich, das Böhmen, Mähren, Österreich und die Steiermark umfaßte.
Die Großmachtstellung züchtete kriegerischen Geist: es galt, die
Reichsgrenzen vor den Nachbarn, vor Ungarn, Deutschland und Polen
zu schützen. So war denn Ottokar noch mehr als sein Vorgänger auf
dem österreichischen Throne auf die Dienste jüdischer Geldgeber und
Steuerpächter angewiesen. Die Folge war, daß er die Juden in den
ihm untergebenen Ländern mit einem Freibrief bedachte, der an Weit-
herzigkeit sogar das von Herzog Friedrich verliehene Statut übertraf
(1254, erneut bestätigt 12 55 und 1268). Von den neuen, durch Otto-
kar verkündeten Privilegien war für jene Zeit die folgende Bestim-
mung von besonderer Bedeutung: „In Übereinstimmung mit den Be-
schlüssen des Papstes und im Namen des Heiligen Vaters — so ließ sich
der König vernehmen — untersagen wir es aufs strengste, die in un-
serem Reiche wohnhaften Juden wegen Gebrauches menschlichen Blu-
tes zu belangen, da sie kraft ihres Gesetzes den Genuß jeglichen Blu-
12*
*79
Deutschland im XIII. Jahrhundert
tes überhaupt verabscheuen“. Ungeachtet dieser Bezugnahme auf die
berühmte Bulle Innocenz’ IV. vom Jahre 1247 glaubte der König,
von den Vorschriften der Päpste und Kirchenkonzile, soweit sie gegen
die Juden gerichtet waren, in den Bestimmungen seines Freibriefes
gänzlich absehen zu dürfen. So wurde denn in das Statut des Ottokar
kein einziger der Kirchenkanons mitübernommen, nicht einmal der,
nach dem die Juden kein Amt bekleiden und überhaupt keinen Macht
über Christen verleihenden Auftrag ausführen durften. Pflegte doch
der König die Dienste jüdischer Steuerpächter und Finanzagenten nur
zu gern in Anspruch zu nehmen. So werden z. B. in den Akten aus
dem Jahre 1257 ein Jude Lublin und sein Bruder Nekolo als „Kam-
mergrafen des erlauchten Herzogs von Österreich“ (comites camerae
illustris ducis Austriae) erwähnt, die nicht nur Großgrundbesitzer,
sondern anscheinend auch Vertrauensleute des Wiener Hofes in finan-
ziellen Angelegenheiten waren. Dieser Aufstieg der Kammerknechte
zum Range von Kammergrafen war gewiß keine alltägliche Erschei-
nung, doch scheint in der sozialen Stellung der Juden in Österreich
und Böhmen unter dem liberalen Regime des Ottokar auch ganz all-
gemein eine Wendung zum Besseren eingetreten zu sein.
Den Eiferern der Kirche ging dies freilich wider den Strich. Dem
Papst Clemens IV. wurde hinterbracht, daß im Reiche Ottokars II.
die Beschlüsse des Laterankonzils geradezu mit Füßen getreten wür-
den: die Juden herrschten als Obrigkeit über Christen, hielten christ-
liche Dienstboten in ihren Häusern, unterschieden sich nicht in ihrer
Kleidung von der christlichen Umwelt. Darauf entsandte der Papst
im Jahre 1265 nach Ostdeutschland, Österreich und Polen den Kar-
dinallegaten Guido mit einer Direktive, die wörtlich dem Buche des
Propheten Jeremias (1, 10) entlehnt war: „Du sollst ausreißen, zer-
brechen, zerstören und verderben, aber auch bauen und pflanzen“.
Der Kardinallegat entledigte sich seines Auftrags mit dem aller-
größten Eifer: er ließ überall Provinzialkonzile der Geistlichkeit ein-
berufen und setzte in den Versammlungen die Rom gefälligen Ent-
schließungen durch, die sowohl allgemein kirchliche Angelegenheiten
wie auch speziell das Judentum betrafen. Im Jahre 1267 tagten zwei
solche Versammlungen: in Breslau für die Diözesen Polen und Schle-
sien und in Wien für Österreich und Böhmen. An dem Wiener Konzil
beteiligten sich die Bischöfe von Wien, Prag, Regensburg und man-
chen anderen Städten sowie sonstige Vertreter der Priesterschaft.
180
§ 24. Österreich, Böhmen und Ungarn
Nachdem die allgemein kirchlichen Fragen erledigt waren, trat die
Versammlung an die Erörterung der „jüdischen Frage“ heran und
traf hierbei eine Reihe von Entscheidungen, die gleichsam einen kon-
zentrierten Auszug aus allen antijüdischen Kanons älteren und jün-
geren Datums darstellten. Die Entschließungen wurden mit dem fol-
genden Kampfruf eingeleitet: „Angesichts dessen, daß durch die maß-
lose Frechheit der Juden viele Christen an der Reinheit und Heiligkeit
ihres katholischen Glaubens Schaden genommen haben, bestimmen
wir, daß die zum Tragen einer sie von den Christen unterscheidenden
Kleidung verpflichteten Juden erneut die gehörnte Kappe (pileum
cornutum) anlegen sollen, die einstmals in diesen Gegenden ihre
Köpfe bedeckte und die sie, frech wie sie sind, abgelegt haben, damit
man sie der Bestimmung des ökumenischen Konzils (vom Jahre 1215)
gemäß von den Christen scharf zu unterscheiden vermöge. Sollte sich
ein Jude ohne dieses Abzeichen auf der Straße zeigen, so soll er fest-
gestellt und zur Erlegung einer von der Ortsobrigkeit festgesetzten
Geldstrafe angehalten werden“. Nunmehr folgen die sattsam bekann-
ten Vorschriften, die den häuslichen Verkehr zwischen Juden und
Christen und mit besonderem Nachdruck das Zusammenleben von
Personen verschiedenen Geschlechts untersagen (im Falle des Zu-
sammenlebens eines Juden mit einer Christin hatte jener eine schwere
Geldbuße, diese aber öffentliche Züchtigung und die Ausweisung aus
der Stadt zu gewärtigen). Wegen Vergiftungsgefahr sollte man bei
Juden kein Fleisch und überhaupt keine Nahrungsmittel kaufen. Die
Juden durften nicht als Zolleinnehmer fungieren und keine öffent-
lichen Ämter bekleiden. Wegen Überschreitung der zulässigen Zins-
sätze sollte der schuldige jüdische Gläubiger, solange er den Wucher-
gewinn nicht zurückerstattete, von jeglichem Geschäftsverkehr mit
Christen ausgeschlossen bleiben. Der Jude durfte sich mit dem schlich-
ten christlichen Manne in keinerlei religiöse Erörterungen einlassen.
Neue Synagogen durften nicht gebaut, neuerbaute mußten wieder
niedergelegt werden; die von früher her bestehenden durften zwar
renoviert werden, jedoch mit der Maßgabe, daß sie dadurch nicht
etwa hochragender oder prächtiger als zuvor würden. Der jüdische
Grundbesitzer hatte gleich dem christlichen an den Ortsgeistlichen
den Zehnten zu entrichten. Um all diesen Vorschriften Geltung zu
verschaffen, konnten die Kirchenbehörden der christlichen Bevölke-
rung den Geschäftsverkehr mit den gegen die Kanons verstoßenden
181
Deutschland im XIII. Jahrhundert
Juden untersagen; den Fürsten aber legte das Konzil ans Herz, den
widerspenstigen Juden ihren Schutz zu entziehen, wenn sie sich mit-
samt ihrer Beamtenschaft nicht der Gefahr aussetzen wollten, aus der
Gemeinschaft der Andächtigen ausgeschlossen zu werden.
Dieses von Drohungen begleitete Ansinnen der Kircheneiferer hatte
nur das eine Ergebnis, daß König Ottokar II. im folgenden Jahre
(1268) den der gesamten Judenheit seines Reiches verliehenen Frei-
brief aufs neue bestätigte, wobei er in der neu veröffentlichten Ur-
kunde ausdrücklich darauf hin wies, daß die Juden „der königlichen
Kammer zugehörten und unserer besonderen Hilfe und Fürsorge be-
dürften“. Einige Jahre später (1273) beschwerte sich denn auch der
Bischof Bruno von Olmütz in seinem Berichte an den Papst Gregor X.
darüber, daß die Juden nach wie vor christliche Ammen hielten, daß
sie in den Zollämtern und in der Münze als Beamte tätig seien und
daß sie Geld gegen so hohe Zinsen ausliehen, daß schon nach einem
Jahre die Zinssumme das Kapital überstiege, wobei sie, ungeachtet
des bestehenden Verbotes, Kirchengeräte als Pfand nähmen. Man kann
also wohl annehmen, daß auch die übrigen Bestimmungen der Wiener
Kirchenverfassung völlig unbeachtet blieben. Betonte doch auch die
Salzburger Landessynode vom Jahre 1274, daß der Mission des Kar-
dinallegaten Guido jeder Erfolg versagt geblieben sei.
Mit dem Tode Ottokars II., als Österreich unter die Herrschaft
des deutschen Kaisers Rudolf von Habsburg geriet und so in den
Kreis der allgemeinen deutschen Politik einbezogen wurde, war es mit
der guten Zeit für die Juden vorbei. Rudolf bestätigte zwar das für
die österreichischen Juden vom Herzog Friedrich (nicht aber das von
dem weitherzigeren Ottokar) erlassene Statut, suchte jedoch zugleich
die Sympathien ihrer Widersacher aus der Mitte der Bürgerschaft und
der Geistlichkeit zu gewinnen. In dem von ihm der Stadt Wien ver-
liehenen Privileg untersagte er den Juden, gleich Friedrich II.,
mit aller Bestimmtheit, irgendein öffentliches Amt zu bekleiden und
machte so den von den jüdischen Finanzmännem bei Hofe ausgeübten
Einfluß zunichte. Unter seinem Nachfolger, Albrecht I., kam die anti-
jüdische Bewegung im Lande bereits offen zum Durchbruch. Ihr
Anschwellen hing mit dem Wachstum der jüdischen Gemeinden in
Österreich zusammen (Wien, Wiener Neustadt, Sankt Pölten, Krems
u. a.), in die sich ein ununterbrochener Auswandererstrom aus
Deutschland ergoß. Der Sänger des zeitgenössischen Bürgertums,
182
§ 24. Österreich, Böhmen und Ungarn
Siegfried Gelbling, brachte wohl nur die gehässige Stimmung seiner
Umwelt zum Ausdruck, wenn er sich in seinen ungeschlachten Reimen
etwa folgendermaßen vernehmen ließ: „Zuviel Juden birgt das Land,
von ihnen kommt alle Sünde und Schmach. Schon dreißig Juden sind
übergenug, um eine ganze Stadt mit Gestank und Gottlosigkeit zu er-
füllen. Wär ich Fürst, ich würde euch, Juden, alle dem Flammentod
preisgeben. Kannten doch schon der Kaiser Yespasian und sein Bru-
der (?) Titus euren wahren Wert, da sie nach der Zerstörung Jeru-
salems dreißig gefangene Juden für einen Pfennig hergaben“. Die
Priesterschaft tat das ihre, um die abergläubische Menge durch wilde
Geschichten von Ritualmorden und Sakramentschändung zu verhetzen.
Die verleumderische Anschuldigung, die Juden hätten in Krems einen
Christen ermordet und ihm Blut abgezapft (propter capiendum san-
guinem), hatten zwei jüdische Märtyrer mit dem Leben zu büßen;
die übrigen Angeklagten kamen mit einer Geldstrafe zugunsten Al-
brechts I. davon (1293).
Im Jahre 1298 stießen die blutrünstigen Banden des Rindfleisch
aus Bayern nach Österreich vor und zerstörten mit Hilfe der
durch ihre Erzählungen über Hostienschändungen auf gestachelten
Menge eine Reihe jüdischer Gemeinden. Bald tauchten auch in Öster-
reich selbst in den Kirchen und Kapellen „wunderwirkende Hostien“
auf, um auch hier das abergläubische Volk in Massen herbeizulocken.
In der Stadt Korneuburg richteten es die Urheber der Wunder und
Zeichen so ein, daß an der Schwelle eines jüdischen Hauses ein zer-
stampftes und „blutendes“ Hostienstück vorgefunden wurde, wor-
auf die rasend gewordenen Bürger den Hausbesitzer mitsamt seiner
Familie in den Flammen sterben ließen, während sie ihre übrigen
jüdischen Mitbürger aus der Stadt vertrieben (i3o5 oder i3o6). So-
dann wurde das Stück Weizenbrot, der „Leib Christi“, in die Kirche
gebracht, und die von ihm gewirkten Wunder wollten nun kein Ende
nehmen. Bald wurde es indessen offenkundig, daß die Priester zu-
weilen solche Hostien selbst fabrizierten, indem sie sie mit Blut durch-
tränkten, und der Ortsbischof befahl daher, mit der Hostienanbetung
aufzuräumen. Dasselbe verlangte auch der Herzog Albrecht, dem die
durch die alberne Legende bewirkten Bluttaten schon längst ein
Greuel waren. Dies hinderte jedoch die verstockten Fanatiker in einer
anderen Stadt, in Sankt Pölten, keineswegs daran, eine neue Fabel
von einer geschändeten Hostie in Umlauf zu bringen; die mit den
i83
Deutschland im XIII. Jahrhundert
ortsansässigen Juden wegen Gelddifferenzen verfeindeten Bürger
machten sich die Gelegenheit zunutze, warfen sich zu Rächern für
das angeblich geschändete Heiligtum auf und überfielen ihre Wider-
sacher, die sie nicht nur ausplünderten, sondern zum Teil auch nieder-
metzelten. Dem König riß endlich ob der systematischen Plünderung
seiner Kammerknechte die Geduld und er beschloß, den Mordbren-
nern gegenüber keine Milde mehr walten zu lassen. Seine Heeres-
truppen schlossen die Stadt ein und drohten, sie dem Erdboden gleich-
zumachen; nur die Fürsprache des bischöflichen Stadtherrn hielt Al-
brecht von seinem Vorhaben zurück und bewog ihn, sich mit einer
von Geistlichkeit und Bürgerschaft erlegten Kontribution zufrieden
zu geben. Die gottesfürchtigen Christen verfluchten den „gottlosen“
Gönner der Juden, und als Albrecht I. bald darauf ermordet wurde
(1307), erblickte das Volk hierin eine gerechte Strafe Gottes für das
gegen die treuen Söhne der Kirche mit den Ungläubigen eingegangene
Bündnis.
Der zwischen der weltlichen und geistlichen Gewalt wegen der
Juden entbrannte Zwist griff auch auf jenes Österreich benachbarte
Land über, in dem die charakteristischen Züge der mittelalterlichen
Lebensordnung erst im XIII. Jahrhundert deutlich hervortraten. In
diesem Lande, in Ungarn, wo unte’r den Christen kompakte Massen
von Andersgläubigen: Muselmanen, Juden und sogar Heiden, ansässig
waren, mußte auch der Gegensatz zwischen den kirchlichen und den
staatlichen Interessen viel schärfer zutage treten als in Ländern mit
einer weniger bunten Bevölkerung. Während nämlich die von nüch-
ternem staatspolitischen Geiste beseelten ungarischen Könige den An-
dersgläubigen volle Duldsamkeit entgegenbrachten und ihre wirt-
schaftliche Leistungskraft dem Staate dienstbar zu machen suchten,
stellten die Kleriker (außer einigen an dem Gedeihen der Juden in
ihrem Machtbereiche persönlich interessierten Kirchenfürsten) sowie
die mit den Andersgläubigen wetteifernden christlichen Stände jedes
den Nichtchristen verliehene Privileg als eine Gefahr für den heiligen
Glauben hin. Da den ungarischen Juden die Schrecken der Kreuzzüge
erspart geblieben waren (Band IV, § 37)., wuchs ihre Zahl durch die
Zuwanderung aus dem Westen unausgesetzt an, so daß sie schon im
XII. Jahrhundert eine den Landesherren unentbehrlich gewordene
wirtschaftliche Macht darstellten. Gleich den Königen von Kastilien
und Aragonien waren auch die ungarischen Könige aus der Arpaden-
i84
§ 24. Österreich, Böhmen und Ungarn
dynastie in gewissem Maße von ihren jüdischen Finanzagenten mate-
riell abhängig: von den Steuerpächtern und den Steuereinnehmern,
von den Pächtern des Salzregals und den „Monetariern“ (den Münz-
meistern). Unter König Andreas II. (i2o5—12 35) waren einige die-
ser Finanzmagnaten Amtspersonen gleichgestellt und trugen ebenso
wie in Österreich den Titel von „Kammergrafen“ (comites camerae).
Einer der Vertreter dieser Hochfinanz namens Teckanus besaß in Un-
garn und Österreich weitausgedehnte Ländereien sowie ein palast-
artiges Haus in Wien und vermittelte die Finanzgeschäfte zwischen
dem ungarischen König und dem österreichischen Erzherzog.
Der von den hochgestellten Juden bei Hofe erlangte Einfluß em-
pörte aufs tiefste sowohl die ungarischen Edelleute, die ein Monopol-
recht auf alle Ämter und Würden zu haben glaubten, wie auch die
geistlichen Würdenträger, die in dem Aufstieg der Juden eine fla-
grante Verletzung des erst kürzlich auf dem römischen Konzil vom
Jahre 1215 proklamierten Dogmas von der ewigen Knechtschaft des
jüdischen Volkes erblickten. Gegen den liberalen König erhob sich
eine so stürmische Agitation, daß er sich gezwungen sah, dem Adel
eine „goldene Bulle“ zu verleihen (1222), in der er sich verpflich-
tete, die Vorrechte des adeligen Standes zu wahren und weder Juden
noch Muselmanen die Steuern, die Zölle oder das Münzregal, insofern
sie dadurch mit amtlichen Befugnissen ausgestattet würden, in Pacht
zu geben. Indessen vermochte der König sein Versprechen nicht zu
halten, da der Verzicht auf die Dienste der rührigen jüdischen Finanz-
männer mit dem Verzicht auf gesunde finanzielle Verhältnisse gleich-
bedeutend war. So sah er sich denn bald genötigt, Juden erneut zur
Steuereintreibung heranzuziehen. Auch vermochte der König, unge-
achtet des bestehenden kirchlichen Verbotes, den muselmanischen
Grundbesitzern nicht zu verwehren, christliche Leibeigene als Arbeits-
kräfte zu verwenden. Dies bewog nun den ungarischen Erzbischof, an
den Papst Gregor IX. eine zornsprühende Beschwerde zu richten:
Juden und Sarazenen rissen — so schrieb er — die Herrschaft im
Lande an sich, befreundeten sich mit Christen, ja träten sogar in
unerlaubten Verkehr mit Christinnen, verleiteten die Christen zu
ihrem Glauben u. dgl. m. Der Papst schrieb hierauf dem Erzbischof
vor, jeden, der sich die Begünstigung Andersgläubiger zuschulden
kommen lassen sollte, von der Kommunion und der Teilnahme an
i85
Deutschland, im XIII. Jahrhundert
sonstigen religiösen Bräuchen ausschließen zu lassen (ia3i). Der
König mußte wieder einmal nachgeben, doch pflegte er, wie aus den
wiederholten päpstlichen Ermahnungen zu ersehen ist, auch später
noch öfters gegen die geheiligten Kanons zu verstoßen.
Der Hauptgrund für die Feindseligkeit gegen die jüdischen Steuer-
einnehmer lag, wie ein Zeitgenosse bezeugt, darin, daß sie die Ab-
gaben ohne Nachsicht auch bei den bevorrechteten Edelleuten einzu-
treiben pflegten, die aus der Staatskasse zwar gern nehmen, ihr aber
nichts geben wollten. Die Interessen des Staatsschatzes legten es da-
her nahe, das ehedem bestehende Pachtsystem so schnell wie mög-
lich wiederherzustellen, und so gestattete der Papst Gregor IX. dem
neugekrönten König von Ungarn, Bela IV. (ia35—1270), auf des-
sen Vorstellungen hin, die Staatseinkünfte den Juden, die den Pacht-
zins auf eigene Gefahr vorzustrecken pflegten, von neuem in Pacht
zu geben (1239). Die jüdischen Steuerpächter sollten dem König bald
nach der Wiederaufnahme ihrer früheren Tätigkeit, als das Land
durch die Mongoleninvasion, unter der auch die jüdischen Landes-
einwohner nicht wenig zu leiden hatten, schwer heimgesucht worden
war (1241), überaus wichtige Dienste erweisen. Desungeachtet wur-
den die Juden durch den Druck der höheren Stände aus dem Gebiet
der finanzpolitischen Betätigung immer mehr in das des Privatkredit-
geschäftes zurückgedrängt. Diese Kreditgeschäfte wurden besonders
durch das königliche Statut vom Jahre i2Öi gefördert. Seinem In-
halte nach mit den schon erwähnten österreichischen Schutzbriefen
fast identisch, zeugt das von Bela IV. veröffentlichte Statut davon,
daß um diese Zeit auch die jüdische Kolonie in Ungarn bereits unter
denselben Verhältnissen zu leiden hatte, die für das Mittelalter über-
haupt charakteristisch waren. Das Gelöbnis des Königs, die Juden vor
Überfällen in Schutz nehmen zu wollen, ist ein Beweis dafür, daß die
Juden sich auch in Ungarn vor der gewalttätigen Bevölkerung nicht
mehr sicher fühlten. Als eine Konzession an die Kirchenregeln ist jene
Bestimmung des Statuts zu betrachten, derzufolge das einem jüdischen
Gläubiger in bezug auf adeligen Landbesitz eingeräumte Pfandrecht
ihm zwar die Befugnis gab, sich an den Einkünften vom verpfändeten
Gute schadlos zu halten, nicht aber über die dazu gehörigen Chri-
sten die herrschaftliche Gewalt auszuüben. Solche Konzessionen reich-
ten indessen bei weitem nicht aus, jene Kircheneiferer zufriedenzu-
186
§ 24. Österreich, Böhmen und Ungarn
stellen, denen die „jüdische Verfassung“ mit dem Inbegriff antijüdi-
scher Kirchenkanons gleichbedeutend war. So kam es hier ebenso wie
in Österreich bald dazu, daß die Geistlichkeit der weltlichen Ver-
fassung ihre eigene, die katholische, entgegensetzte.
Im Jahre 1279 tagte in der ungarischen Hauptstadt Buda (Ofen)
unter dem Vorsitz eines päpstlichen Legaten eine große Versammlung
von Bischöfen und Geistlichen. Obwohl das Augenmerk dieses Kon-
zils in erster Linie auf die Festigung der geistlichen Gewalt in Un-
garn und auf die Christianisierung des mohammedanischen Teils der
Bevölkerung gerichtet war, wurde nicht versäumt, auch der jüdischen
Frage Aufmerksamkeit zuzuwenden. Gleich allen Nichtkatholiken
wurde es auch den Juden untersagt, adeligen Grundbesitz in Pacht
zu nehmen, da die Pachtung mit gewissen Machtbefugnissen Christen
gegenüber verbunden war; Edelleute, die dieses Verbot mißachten
würden, verfielen bis zu ihrem Rücktritt vom Pachtvertrag dem Kir-
chenbann; sollten sich Bischöfe eines solchen Verstoßes schuldig ma-
chen, so gingen sie ihrer Würde verlustig; zur Vermeidung jeglicher
Annäherung zwischen Juden und Christen mußten alle jüdischen Lan-
deseinwohner, Männer wie Frauen, auf ihrem Obergewand den be-
rüchtigten roten Fleck tragen (den Muselmanen wurde ein ähnlicher
Flecken aus gelbem Stoff auf genötigt). Dem ungarischen König
Wladislaw IV. sagten indessen die vom Konzil gefaßten Beschlüsse
nicht im entferntesten zu und er soll, einem Bericht zufolge, die ehr-
würdigen Väter vorzeitig nach Hause geschickt haben, mußte aber
später nachgeben und sich zur Befolgung der Kirchenkanons förm-
lich verpflichten. Ob er seinen Verpflichtungen auch in der Tat nach-
gekommen ist, ist eine andere Frage: wenn selbst auf dem Konzil
Bischöfe Bischöfen für die Verpachtung von Land an Juden Amts-
enthebung in Aussicht stellen mußten, um wieviel weniger stand da
zu erwarten, daß die weltliche Gewalt den Kirchenregeln gewissen-
haft Folge leisten würde. Bis zum Sturze der Arpadendynastie (i3oi)
erfreuten sich jedenfalls die ungarischen Juden der königlichen Pro-
tektion, mit deren Hilfe sie den Bestrebungen der Klerikalen, die sie
zu Parias degradieren wollten, mit Erfolg Widerstand zu leisten ver-
mochten. Im XIV. Jahrhundert wurde jedoch auch für sie, ebenso
wie für alle europäischen Juden, das Unheil unabwendbar.
187
Deutschland im XIII. Jahrhundert
§ 25. Die Gemeindeverfassung und der Rahbinismus
In der deutschen Gesetzgebung des XIII. Jahrhunderts waren
Rechte und Pflichten der jüdischen Gemeinde durchaus nicht so ge-
nau umschrieben wie in den spanischen Gesetzen aus der gleichen
Zeitperiode (oben, §§ 11 und i3). Die deutschen Machthaber waren
noch nicht auf den Gedanken gekommen, die Gemeinden, ja ganze
Gemeindeverbände in ein Werkzeug des Fiskus und der Finanzpoli-
tik zu verwandeln. Zwar hatte der Gemeinderat die an den König
oder Feudalherrn abzuführenden gewöhnlichen und außerordent-
lichen Steuerlasten unter die Gemeindemitglieder zu verteilen und
war für deren pünktlichen Eingang voll verantwortlich1), doch hiel-
ten sich die Herrscher von jeder Einmischung in die inneren Ange-
legenheiten der autonomen Gemeinde durchaus fern. Das Bestehen be-
sonderer jüdischer Stadtviertel, das Amtieren der „Judenbischöfe“ und
Rabbiner, das Funktionieren des autonomen Gerichtes und der anderen
Gemeindeinstitutionen — dies alles nahmen die herrschenden Mächte
einfach als Tatsache hin. Zivilrechtliche Sachen durften von Juden
entweder vor dem rabbinischen Gericht oder vor dem eigens dazu
ernannten „königlichen Richter“ (judex Judaeorum) ausgetragen wer-
den; soweit beide Parteien einverstanden waren, konnte das rabbini-
sche Gericht vermögensrechtliche Streitsachen auch zwischen Juden
und Christen schlichten.
Das zeitgenössische rabbinisehe Schrifttum gewährt uns einen Ein-
blick auch in die inneren Verhältnisse der deutschen Gemeinden. Die
Vorsteher der Gemeinde oder die Gemeinderäte wurden von allen
steuerpflichtigen Gemeindemitgliedern gewählt. Der Wahlkampf
führte manchmal zu einer förmlichen Spaltung; hierbei spitzten sich
die Gegensätze zuweilen dermaßen zu, daß die unterlegene Partei den
Beistand der christlichen Ortsbehörden anrief. Indessen kamen solche
Fälle nur als seltene Ausnahme vor, da dies als Verrat gegen das Prin-
zip der Selbstverwaltung angesehen und einer Denunziation gleich er-
achtet wurde. Als der Kölner Erzbischof einst einem Anwärter auf
das Chasanamt aus eigener Machtvollkommenheit zu diesem Posten
1) In dem amtlichen rabbinischen Schriftwechsel jener Zeit (in den „Re-
sponsen'j treten uns Erwägungen und Entscheidungen über Steuerverteilung sowie
über die gegenseitigen Beziehungen von Gemeinden, Steuerzahlern und Behörden
überaus häufig entgegen. (S. z. B. die „Teschuboth“ des R. Meir von Rothen-
bürg.)
188
§ 25. Die Gemeindeverfassung und der Rabbinismus
verhelfen wollte, vernahm er die folgenden stolzen Worte: „Ich lehne
es ab, die Vollmacht, unserem Schöpfer zu dienen, aus deiner Hand
zu empfangen!“ Die Funktionen der Gemeindeversammlungen und
der Räte werden in dem Sendschreiben eines führenden Rabbiners
jener Zeit (des R. Meir aus Rothenburg) in folgender Weise um-
schrieben: „Sie haben Älteste und Kantoren zu wählen, Gabbaim (Ver-
waltungsbeamte) zu ernennen, Wohltätigkeitskassen zu gründen, für
die Erbauung oder Reparatur der Synagoge zu sorgen sowie Baulich-
keiten für Hochzeitsfeiern und für (öffentliche) Arbeiten zu erwer-
ben“. Die Gemeindevorsteher pflegten in der Regel für die Frist von
drei Jahren gewählt zu werden.
Die zuerst in Frankreich im XII. Jahrhundert üblich gewordenen
Landeskonferenzen der Rabbiner und Gemeindevertreter (Band IV,
§ 38) traten im folgenden Jahrhundert zu wiederholten Malen auch
in Deutschland zusammen. Es haben sich Nachrichten über solche
Vertretertage der rheinländischen Gemeinden, namentlich der von
Speyer, Worms und Mainz erhalten. Auf diesen Konferenzen wurden
„Takanoth“ oder Verordnungen in betreff der religiösen Praxis, des
Familienrechts und der Gemeindeangelegenheiten beschlossen, insbe-
sondere aber die Beziehungen der Juden zu der christlichen Umwelt
geregelt. Die Mainzer Versammlung vom Jahre 1220, an der sich
über zwanzig Abgeordnete, darunter einige hochangesehene Rabbiner
beteiligten, wandte ihre Aufmerksamkeit vor allem dem folgenden
Übelstand zu: wohlhabende Juden, die über Beziehungen bei Hofe
verfügten, pflegten sich Steuerfreiheit zu erwirken, so daß die Ab-
gabenlasten um so schwerer auf die unbemittelten Gemeindemitglieder
drückten; die Versammlung traf nun die Verfügung, daß auch die
von den Mächtigen begünstigten Juden gleich all ihren Stammes-
genossen an den öffentlichen Lasten teilnehmen sollten. Überdies
stellte die Versammlung jedem, der in Umgehung der geltenden
Wahlordnung seine Beförderung zu irgendeinem Gemeindeamt bei
den christlichen Behörden durchsetzen würde, den Gherem in Aus-
sicht. Daneben verpflichtete die Versammlung alle Juden zu pein-
lichster Rechtschaffenheit in Geldgeschäften mit Christen und unter-
sagte aufs strengste, falsche oder beschnittene Münzen in Verkehr
zu bringen; besonders scharf wurde die Angeberei verdammt, dieser
Krebsschaden jeder unterjochten Gemeinschaft. Ein Jude durfte den
Stammesgenossen nur unverzinsliche Darlehen gewähren, konnte sich
189
Deutschland im XIII. Jahrhundert
aber bei Finanzierung eines geschäftlichen Unternehmens einen Ge-
winnanteil ausbedingen, falls er auch für die möglicherweise ent-
stehenden Verluste einzustehen bereit war.
Die Rabbinerkonferenz traf auch noch manche auf das Familien-
recht bezügliche Entscheidung und mahnte ferner daran, daß sich
die Juden in ihrem Äußeren von den Christen unterscheiden müßten:
daß sie ihr Haar nicht nach landläufiger Art frisieren, kein wallendes
Haar tragen und sich vor allem den Bart wachsen lassen sollten. Eine
andere Rabbinerkonferenz jener Zeit verfügte obendrein, daß ein Jude
sich nie in nicht jüdischer Kleidung auf der Straße zeigen sollte, was
wohl mit den damals geltenden kirchlichen Vorschriften über die jü-
dische Sondertracht zusammenhing. Auf die Übertretung aller dieser
Vorschriften stand die einzige Strafe, die die Gemeindebehörden da-
mals verhängen konnten: der Gherem, der oftmals nicht nur den
Ausschluß aus der Gemeinde bedeutete, sondern auch Ächtung und
Verfolgungen nach sich zog. Angesichts der Härte dieser Strafe wurde
bestimmt, daß der Bann von dem „Parnas“ oder Rabbiner nur mit
der Zustimmung der vollzähligen Gemeindevertreterversammlung ver-
hängt werden durfte; das Gleiche war für den Widerruf des Cherem
im Falle der von dem Geächteten bekundeten Reue vorgeschrieben.
Die Verordnungen der rheinländischen Bezirkskonferenzen sind der
Nachwelt unter dem Namen „Takanoth Schum“, d. h. „die Verord-
nungen der Gemeinden von Speyer, Worms und Mainz“ überliefert,
deren Abgeordnete als Vertreter der ältesten Gemeinden auf den Zu-
sammenkünften die führende Rolle spielten. Der Tagungsort der Kon-
ferenzen war gewöhnlich die Stadt Mainz.
Den Mittelpunkt der Gemeindeselbstverwaltung bildete das Rabbi-
nat, das geistliche und gerichtliche Zentralorgan. Der rechtskundige
Rabbiner, der nicht selten auch an der Spitze der Talmudschule, der
„Jeschiba“, stand, stellte jene höchste Instanz dar, die zur Entschei-
dung von Rechtsstreitigkeiten und sonstigen verwickelten Fragen so-
wohl von Einzelpersonen als auch von ganzen Gemeinden angerufen
zu werden pflegte. Dank der auf diese Weise gewahrten Lebensnähe
konnte sich die Talmudwissenschaft in Deutschland mit immer stei-
gender Intensität weiter entwickeln. Die aus Frankreich überkom-
mene kasuistische Methode der Tossafisten sollte hier nicht nur ein
Mittel zur „Geistesschärfung“ im Schulbetrieb bedeuten, sondern zu-
gleich eine Handhabe für die praktische Rechtsfindung in verwickel-
§ 25. Die Gemeindeverfassung und der Rabbinismus
ten juristischen und rituellen Fragen bieten. Die Rechtsentscheidun-
gen der gelehrten deutschen Rabbiner sind denn auch von der raf-
finierten Tossafistendialektik ganz durchdrungen. Der Pflege dieser
Schultradition widmeten sich hier namentlich die drei bedeutendsten
rabbinischen Autoritäten des XIII. Jahrhunderts: Isaak Or-Sarua aus
Wien, Meir ben Baruch aus Rothenburg und Ascher ben Jechiel oder
Rosch, der später aus Deutschland nach Spanien übersiedelte.
Rabbi Isaak (um 1180—1260) führte in seinen Jugendjahren
das Leben eines wandernden Scholaren. Aus Böhmen gebürtig und
ein Zögling der Talmudschulen von Prag und Regensburg, studierte
er später auf den Jeschiboth der rheinländischen und nordfranzösi-
schen Tossafisten, hielt sich um 1220 in Paris auf, um sodann das
Rabbineramt in Würzburg, in Regensburg und endlich in Wien zu
bekleiden. Als vielgereister Mann war Rabbi Isaak mit dem Leben
und den Bräuchen der Juden der verschiedensten Länder aufs innigste
vertraut, was auch seinem umfangreichen Werke „Or Sarua" („Das
verbreitete Licht") in hervorragendem Maße zugute kam. Dieses
Werk, dessen Volkstümlichkeit so weit ging, daß die Nachwelt sei-
nen Titel dem Verfasser als Beinamen zulegte, stellt eine Zwischen-
form zwischen einem Halachothkodex und einem Talmudkommentar
dar. Die Darlegung lehnt sich an die Reihenfolge der Talmudtraktate
an, doch ist das Augenmerk des Verfassers stets auf eine Verwertung
seiner Interpretationen für die religiöse oder juristische Praxis ge-
richtet. Stellenweise ist in den Text der gelehrte Briefwechsel des
Verfassers mit den deutschen, österreichischen, französischen und ita-
lienischen Rabbinern eingeflochten. Gar häufig nimmt Rabbi Isaak
auf sein eigenes Heimatland, „Kanaan", d. h. das slawische Böhmen,
Bezug; er gibt für viele hebräische Wörter ihre Übersetzung in die
„kanaanäische“ oder slawische Sprache an, die wohl die Umgangs-
sprache der böhmischen Juden war; manchmal erwähnt er auch die
jüdischen Gemeinden in dem benachbarten Polen und Rußland. So
tritt uns Isaak Or-Sarua als einer der ersten Aufklärer der slawischen
Judenheit entgegen, der im Osten das „Licht" der westlichen Gelehr-
samkeit verbreitete. Auch in seinen letzten Lebensjahren, als er den
Rabbinerposten in Wien bekleidete, blieb Rabbi Isaak nach wie vor
in Fühlung mit den jüdischen Gemeinden Böhmens, das um jene Zeit
unter dem Zepter Ottokars II. mit Österreich vereinigt war.
Zu noch höherem Ansehen als R. Isaak gelangte sein Jünger,
Deutschland im XIII. Jahrhundert
R. Meir aus Rothenburg (1215—1298), von dem in anderem Zu-
sammenhang bereits die Rede war (oben, § 28). Die von ihm ent-
faltete akademische Wirksamkeit sowie seine wissenschaftlichen
Schriften („Tossafoth“ zu vielen Talmudtraktaten und zahlreiche,
auf die verschiedensten Fragen des jüdischen Rechtes bezügliche
„Teschuboth“) erhoben ihn zu dem Range des maßgebendsten Füh-
rers seiner Generation. Aus den „Teschuboth“ des R. Meir vernehmen
wir zuweilen einen Widerhall der Schrecknisse jener grauenvollen
Zeit. Während eines von Zwangstaufen begleiteten Judengemetzels
faßte einst eine jüdische Familie den Entschluß, freiwillig in den
Tod zu gehen: der Familienvater schnitt Frau und Kindern die Kehle
durch, blieb jedoch selbst am Leben; er begab sich nun zu R. Meir
und bat ihn, ihm eine der begangenen Sünde entsprechende Buße auf-
zuerlegen, vernahm jedoch, daß er durch die Unterdrückung seiner
Liebe zu den Angehörigen um der Liebe zu Gott willen bereits schwer
genug gebüßt habe und kein weiteres Sühnopfer mehr darzubringen
brauche. Als in einer anderen Sta,dt die Dominikaner jüdische Frauen
gewaltsam in einem Kloster zurückhielten, wo sie von einem Pre-
diger auf die Taufe vorbereitet wurden, und nach ihrer Befreiung die
Frage auf tauchte, ob die Ehemänner mit den „Gefangenen“ weiter
Zusammenleben dürften, erteilte R. Meir seine Erlaubnis dazu, da das
Anhören der Predigten, wie er meinte, an und für sich nicht ver-
unreinige.
Ebenso wie der Lebensabend des R. Meir von düsteren Wollten
überschattet war, sta,nd auch das Geschick seines hervorragendsten
Jüngers, des Ascher ben Jechiel oder Rosch, im Zeichen schwerster
Erschütterungen. Nach den von ihm miterlebten Greueltaten des Rind-
fleisch (1298) fühlte er sich dem damals in Angriff genommenen
Werke der Wiederherstellung der verheerten und durch die erpresse-
rische Politik Albrechts I. vollends an den Ruin gebrachten Gemein-
den nicht gewachsen und sah sich überdies als repräsentativer Füh-
rer der Judenheit von demselben Geschicke bedroht, das erst vor kur-
zem seinen Meister betroffen hatte. So entschloß er sich denn,
Deutschland für immer zu verlassen. Im Jahre i3o3 langte Rosch in
Savoyen an und gedachte hier ein Rabbineramt zu übernehmen. Als
er aber erfahren hatte, daß der Herzog von Savoyen ein Vasall des
deutschen Kaisers sei und ihn als einen flüchtigen Untertan diesem
ausliefern könnte, beeilte er sich, weiter nach Südfrankreich und von
§ 26. Antirationalismus, Mystizismus und die Martyrologien
dort nach Spanien zu ziehen, wo er in Toledo zum Rabbiner erwählt
wurde (oben, § i5). Hier geriet er, wie berichtet, mitten in das Feuer*
des zwischen Konservativen und Freidenkern wütenden Kulturkampf
fes und schloß sich bald vorbehaltlos den ersten an. Ein anderer
Schüler des R. Meir, der Nürnberger Rabbiner Mardochaj. ben Hillel,
fiel, wie schon erwähnt, den Horden des Rindfleisch als Märtyrer des
Glaubens zum Opfer. Das von ihm verfaßte talmudische Kompen-
dium „Mardochai“ lehnte sich an die Darlegungsweise des berühm-
ten Werkes des Alfassi an, war aber reichlich von der in den deut-
schen Schulen beliebten Kasuistik gewürzt. Die mangelhafte stilisti-
sche Bearbeitung des Werkes legt die Vermutung nahe, daß das tragi-
sche Schicksal den Verfasser mitten in seiner Arbeit ereilt hat.
§26. Antirationalismus, Mystizismus und die Martyrologien
In der gewitterschwangeren Atmosphäre, in der die deutsche Ju-
denheit um diese Zeit leben mußte, konnten sich die geistigen Schaf-
fenskräfte nur in sehr einseitiger Weise entfalten. So blieben die
deutschen Juden auch im XIII. Jahrhundert von den geistigen Be-
wegungen in Spanien und Südfrankreich völlig unberührt. In den
schmalen Bezirk des Talmudismus gleichsam wie in ihre enge Juden-
gasse eingezwängt, brachten die jüdischen Gelehrten Deutschlands den
weltlichen Wissenschaften und der Philosophie nur Gleichgültigkeit,
wenn nicht gar Feindseligkeit entgegen. Die wegwerfende Äußerung
des Rosch über die „profanen Wissenschaften“ (oben, § 17) ist auch
für alle seine Landsleute durchaus bezeichnend. Diese Stimmung kam
am krassesten in der Wirksamkeit des deutschen Rabbiners Moses
Tako zum Ausdruck (lebte in Regensburg und Wiener Neustadt in der
zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts), der der Philosophie des Mai-
monides in einem Lande den Kampf ansagte, wo zu ihrer Verteidi-
gung niemand auch nur ein Wort vorgebracht hätte. In seinem Werke
„Ketab tamim“ („Die Schrift eines Rechtgläubigen“) fällt er in hef-
tigster Weise über die Rationalisten her, die der Gottheit alle mensich-
lichen Eigenschaften absprächen, während doch in der Bibel unzwei-
deutig von dem „Arm Gottes“, dem „Antlitz Gottes“, vom göttlichen
„Zorne“, von seiner „Barmherzigkeit“ usw. die Rede sei. Solche Aus-
drücke müßten, wie Moses Tako meint, keineswegs nur bildlich, son-
dern wörtlich verstanden werden: Gott seien tatsächlich konkrete
13 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
193
Deutschland im XIII. Jahrhundert
Eigenschaften, Gefühle und Empfindungen eigen, anderenfalls wäre
er nichts als eine leere Abstraktion und könnte die materielle Welt
und das Menschengeschlecht mit den dieses aufwühlenden Gefühlen
und Leidenschaften nicht regieren. „Wer Gott jegliche festumrissene
Gestalt abspricht — so läßt sich Moses Tako vernehmen —, der leug-
net zugleich die Grundlagen des Glaubens. Wenn die Talmudisten da-
von reden, daß der Allmächtige auf dem himmlischen Stuhle throne,
so meinen sie damit, daß er ein Wesen mit bestimmter Gestalt und
mit Attributen sei, dem Gefühle wie Zorn und Gnade, Liebe und Haß,
Leid und Freude wohl eigen seien. Wer daran zweifelt, ist Ketzer und
Epikuräer“. Dieser Verfechter des kindlich unberührten Glaubens
vermag es dem ersten jüdischen Philosophen Saadia Gaon nicht zu
vergeben, daß er dem Rationalismus in die Regionen des Glaubens
Einlaß verschafft hat. Hat doch Saadia — so schreibt er — als erster,
wohl unter dem Einfluß nicht jüdischer Gelehrter oder der karäischen
Schismatiker, Gott in eine unpersönliche und willenlose Abstraktion
verwandelt, die biblischen Erzählungen aber in ideelle Allegorien.
Auch Abraham ibn Esra wäre so weit gegangen, die Existenz der Dä-
monen zu leugnen, deren Walten doch von der ganzen talmudischen
ILaggada bezeugt sei. Denselben Irrweg hätte auch Maimonides ein-
geschlagen. Gegen diese Ketzerei müsse man aufs schärfste ankämp-
fen, da sonst von dem Glauben an einen persönlichen Gott und an die
heiligen Legenden bald nichts als eine blasse Erinnerung übrig blei-
ben werde.
Die Herausforderung des Moses Tako verhallte in seinem Heimat-
lande, wo Talmudisten wie Mystiker in der Gegnerschaft gegen den
Rationalismus einig waren, ohne den leisesten Widerhall. In Deutsch-
land war um jene Zeit die Scheidelinie zwischen der „offenbaren“
und der „geheimen“ Lehre im Gegensatz zu Spanien, der Geburts-
stätte der Kabbala, noch nicht gezogen. Die deutschen Rabbiner wa-
ren nämlich alle mehr oder weniger mystisch gestimmt. Es war dies
ein Mystizismus von ganz besonderer Prägung, jenes Gemisch von
Asketismus und Aberglauben, wie es in volkstümlicher Form schon
im „Ruche der Frommen“ und in mehr gelehrter Darstellungsart im
„Rokeach“ (Band IV, § 4o) zum Ausdruck gekommen war. Da in
Deutschland die frei forschende Religionsphilosophie keine Wurzeln
gefaßt hatte, so fehlte hier auch jeder Antrieb zu jener Theosophie
oder spekulativen Kabbala, die in Spanien als Gegengewicht gegen
§ 26. Antirationalismus, Mystizismus und die Martyrologien
den Rationalismus ins Leben gerufen worden war. Für Deutschland
war eher der vage Hang zum Jenseitigen bezeichnend, der Drang der
gemarterten Seele, sich aus dem irdischen Jammertal zu jenen ge-
heimnisvollen Höhen emporzuschwingen, wo es weder Tränen noch
Leid gibt. Um so günstiger war hier der Boden für das Gedeihen der-
jenigen literarischen Gattung, die im damaligen Spanien nur sehr
wenig gepflegt wurde, für die Poesie des Märtyrertums, das Mar-
tyrologium.
Gleiche Ursachen — gleiche Wirkungen: wie im XII. Jahrhundert
(Band IV, § 4i), so mischte sich auch jetzt das in den Straßen ver-
gossene jüdische Blut mit den in den Synagogen fließenden Tränen.
Die wilden Ausschreitungen des XIII. Jahrhunderts, die von Tortur
und Hinrichtungen begleiteten Ritualmordprozesse und schließlich die
furchtbare Menschenschlächterei des Rindfleisch — all dies rief in
den Herzen der Gemarterten stürmische Empörung und himmelan-
steigende Wehklagen hervor, die in den synagogalen „Kinnoth“ oder
Elegien ihren beredten Ausdruck fanden. Während der Führer die-
ser Generation, R. Meir aus Rothenburg, in Paris in seiner Elegie
„Schaali serufa“ (oben, § 4) die Verbrennung des Talmud be-
trauerte, hatte man in Deutschland bei lebendigem Leibe verbrannte
Menschen zu beklagen. Die Hekatombe von Fulda (oben, § 21) ent-
rang der Brust eines unbekannten Elegiendichters den schon einst
geäußerten leidenschaftlichen Vorwurf: „Wer ist dir gleich unter
den Stummen, o Gott: du siehst zu und schweigest!“ Ein anderer
Dichter ruft das Gericht Gottes in folgenden Versen auf das deutsche
Sodom hernieder: „Vertilge ihr Land durch einen Hagel von Schwe-
fel und Salz, vergilt meine Leiden dem verabscheuungswürdigen und
gräßlichen Volke ... Zahle ihm heim für seine triumphierende
Raubgier, für das Blut der Unschuldigen, das sich mit dem Straßen-
kote vermengte!“ Bittere Ironie tönt uns aus dem ersten Satze der
dem Andenken der Märtyrer von Sinzig (oben, § 22) gewidmeten
Elegie entgegen: „Wieviel des Guten hast du, Herr, für diejenigen
übrig, die treu auf deinen Wegen wandeln und sich auf dem Altar
deiner Ehre aufopfern!“ Diese Elegie stammt von dem schon er-
wähnten Verfasser des Kompendiums „Mardochai“, der dreißig Jahre
später selbst in Nürnberg den Märtyrertod fand. Nicht stumm und
ergeben ließen die wehrlosen Opfer die Schrecken des inländischen
Kreuzzuges über sich ergehen, der ganz Bayern um einer den Leib
i95
13*
Deutschland im XIII. Jahrhundert
Christi symbolisierenden Teigoblate willen mit jüdischem Märtyrer-
blute tränkte. Von den Klagen der Gemarterten, in denen die Ent-
rüstung das jammervolle Flehen übertönte, erbebten die Mauern der
Synagogen. In einem dieser Klagelieder („Ebke li’ksche-jom“) heißt
es: „Beschmutztes Brot (die geschändete Hostie) gebrauchten sie als
heimtückischen Yorwand, indem sie zu den Söhnen des heiligen aus-
erwählten Volkes sprachen: Ihr habt unseren Gott gestohlen und ihn
in einem Mörser zerstoßen, bis das Blut zu fließen begann, das ihr
dann unter all euren Kampfgenossen verteilen ließet 1“ Der Dichter
zählt alle größeren von den Banden des Rindfleisch vernichteten Ge-
meinden auf: Röttingen, das „von Blut gerötete“ Rothenburg, Würz-
burg, Nürnberg — und ruft die Rache Gottes auf das „Land der
Edomiter“ („Adomim“ = Rote) hernieder, „auf daß es von dem Blute
seiner Fürsten und Mächtigen rot werde“. In allen anläßlich dieser
Katastrophe gedichteten „Kinnoth“ wird betont, daß das Unheil ge-
rade im Jahre 58 des sechsten Jahrtausends der jüdischen Zeitrech-
nung hereingebrochen war, jenes messianischen Jahrtausends also,
von dem das gemarterte Volk Befriedung sowie die Offenbarung der
messianischen Wunder erhoffte (die Zahl 58 = N. Ch. bildet die
Wurzel des hebräischen Wortes „Menucha“ [Ruhe]). Als Höhepunkt
dieser Elegienfolge erscheint das als ein einziger langgedehnter Klage-
ruf ertönende Trauergedicht „Me kol ha’zon“, das gleichsam die
Summe aller Märtyrerleiden des XIII. Jahrhunderts zieht und dessen
Verfasser, wie aus dem Akrostichon zu ersehen ist, ein gewisser Moses
ben Eleasar ha’Kohen war:
„0 Himmel, sind wir denn schlimmer als andere Völker? Ist denn unsere
Widerstandskraft gleich der eines Steines oder aus Erz unser Fleisch, daß wir so
schweres Unheil ertragen sollen? ... 0 Erde, nimm unser Blut nicht auf, und
möge das ganze Erdenrund von unserem Klagegeschrei widerhallen, von Klagen
über unsere bösen Nachbarn, über die Bedrücker, die uns voll Haß zurückstießen
. . . Zerfleischt haben uns ehemals Löwe und Bär, es würgte unsere Kinder der
wütende Tiger, es biß uns heimtückisch die zischende Schlange, nun aber zerfetzt
uns das Schwein, das uns mit seiner Last erdrücket . . . Schon tausendzweihundert-
unddreißig Jahre sind vorbei, seit der Feind uns verheeret (Zerstörung Jerusa-
lems), und noch würgt er uns mit seinen scharfen Krallen. Alle nur möglichen To-
desqualen ersinnt er, um uns zu vernichten: zum Schwerte greift er, zu Feuer
und Wasser. Verbrannt und geschlachtet werden klein wie groß, Frauen und Kin-
der, Greise und Jünglinge, Bräute und Bräutigame . . . Fraget alle, die auf der
Erde wandeln: hat je ein Volk solches zu erleiden gehabt? (Hier folgt eine er-
schütternde Schilderung der Gemetzel in Würzburg, Rothenburg und Nürnberg)
. . . Wehe uns auch in dem sechsten Tausend (der Welt), denn nun hat es uns
196
§ 26. Antirationalismus, Mystizismus und die Martyrologien
doch keinen Trost beschert: bei seinem Anbruch erhob sich der Feind gegen uns,
um uns zu verleumden1), im Jahre i3 gab man uns der Verhöhnung preis, im
Jahre 17 ereilten uns die Feinde mit schwer bewaffneter Hand, im Jahre 47
und 48 vernichteten sie uns im Süden und Norden* 2), bis schließlich im 58. Jahre
(1298) die heilige Herde den Peinigern ganz überliefert ward“ . . .
Wer mochte glauben, daß aus der Mitte dieser Gemarterten andere
Klänge ertönen könnten als die herzzerreißenden Lieder der um ihre
Märtyrer Trauernden? Und doch sollte um jene Zeit eine Weise ganz
anderer Art, das einsame Lied eines jüdischen Barden im Lager der
Fremden erklingen. Im XIII. Jahrhundert taucht nämlich die rätsel-
hafte Gestalt eines jüdischen Minnesängers auf, der von Burg zu Burg
zieht, um vor den deutschen Rittern seine Lieder anzustimmen. Dieser
arme Wandersänger, über dessen Schicksal uns sonst nichts bekannt
ist, hieß Süßkind von Trimberg (in Bayern). Allein nicht der Lust,
der Liebe und den schönen Damen, die von den christlichen Minne-
sängern gepriesen zu werden pflegten, galt das Lied dieses Juden in
den herrschaftlichen Burghöfen. In seinen sechs erhalten gebliebenen
mittelhochdeutschen Liedern wird vielmehr die Unbeugsamkeit des
Geistes, die tugendhafte Gattin, die Herzensgüte und der Edelmut
verherrlicht. „Den, der edel handelt — heißt es da —, preise ich als
einen Edelmann und nicht den, der nur mit dem Adelsbrief prahlt.
Sehen wir nicht Rosen zwischen Dornen blühen (die Tugend der
Armen), und die Unsitte unter den Edelleuten wuchern?“ Die von
den Freuden des Lebens Berauschten gemahnt Süßkind an den Tod,
der sie unweigerlich den Würmern zur Beute fallen läßt. Manche
seiner Strophen stellen eine Nachahmung der biblischen Psalmen
dar. Nicht beneidenswert war jedoch das Los des jüdischen Minne-
sängers, der in den Brutstätten des Lasters einen Hymnus auf die
Tugend anstimmte, und so sah sich Süßkind schließlich genötigt, auf
seine Kunst zu verzichten: „Ich will fliehen aus dem herrschaftlichen
Hofe — so ruft er aus —, mir einen langen Bart und graue Haare
wachsen lassen und fortan das Leben der alten Juden führen. Lang
wird mein Mantel sein und meinen Hut werde ich tief in die Stirn
drücken, demütig wird mein Gang sein und nur selten wird in den
Burgen mein Lied erklingen, nachdem mir die Herren ihre Gunst
!) Gemeint ist die Frankfurter Judenhetze vom Jahre 12 4i (oben, § 21),
das dem Jahre 5ooi der jüdischen Zeitrechnung entspricht.
2) Anspielungen auf die erwähnten Verfolgungen, die in den Zeitraum zwischen
'den fünfziger und achtziger Jahren des XIII. Jahrhunderts fallen.
191
Deutschland im XIII. Jahrhundert
entzogen“1). In den auf die jüdische Sondertracht hinweisenden Wor-
ten spiegelt sich die Zeit wieder, da der an manchen Orten sich ein-
bürgernde Brauch durch die berüchtigten Kirchenregeln bereits zur
Norm erhoben worden war. Eine Zeichnung, die einem handschrift-
lichen Liederbuche aus dem XIV. Jahrhundert (der Manessischen
Sammlung in Heidelberg) beigegeben ist, zeigt uns denn auch Süß-
kind, wie er vor geistlichen Würdenträgern in einem langen Mantel,
mit spitzem Hut und einem sein Gesicht umrahmenden dichten Bart
in typisch jüdischer Haltung steht.
!) ... Urit wil mir einen langen bart, lan wahsen griser haare,
Ich wil in alter Judenleben mich hinnan vür wert ziehen.
Min Mantel der sol wesen lank, tief under einem huote
Demueteklich sol sin min gank, usw.
Fünftes Kapitel
Die kleineren Zentren und Kolonien im
XIII. Jahrhundert
§ 27. Die römische Gemeinde
Wie schon ehedem, so kam die Macht der streitbaren Kirche auch
im XIII. Jahrhundert viel mehr in den anderen Ländern als in dem
päpstlichen Stammsitz selbst zur Geltung, wo die Autorität des Pap-
stes gering geschätzt zu werden pflegte. Ungeachtet dessen, daß Rom
jene Werkstätte war, in der die Werkzeuge zur Unterdrückung des
menschlichen Gewissens geschmiedet wurden, machte sich hier der
Despotismus Innocenz’ III. und die Wirkung der strengen Kanons
der Lateransynode vom Jahre 1215 am wenigsten fühlbar. Beinahe
hatte es den Anschein, daß die Päpste ihre eigenen, in dem ärmlichen
Stadtviertel am niederen Tiberufer lebenden Juden mehr zu schonen
geneigt waren als deren Brüder in Frankreich, Spanien oder Deutsch-
land. Sogar das Schandmal auf dem Gewände wurde den römischen
Juden bei weitem nicht so hartnäckig aufgezwungen, wie etwa ihren
Stammesgenossen im Reiche Ludwigs des Heiligen. Der Grund hier-
für lag zum Teil darin, daß in der Stadt Rom das Ideal der Ab-
sonderung der Juden bereits als verwirklicht galt: die in einem be-
sonderen Viertel, in einem ungesunden, von Überschwemmungen oft
heimgesuchten Stadtteil eingeschlossene Gemeinde, deren Häupter je-
dem neuen Papst demütig ihre Ergebenheit bezeugten, symbolisierte
schon an und für sich den Triumph der Kirche über die Synagoge,
Von der Höhe des Laterans auf die unansehnliche Synagoge in der
Tiefe herabsehend, konnten sich Innocenz III. und seine Nachfolger
in der Tat voll Selbstgefälligkeit sagen: dies ist ein lebendiger Be-
weis für unsere Auserwähltheit und die Verstoßenheit der Juden!
199
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
Diese waren freilich anderer Ansicht, doch mochten sie ihrerseits zu-
frieden gewesen sein, daß man sie wenigstens in Ruhe ließ.
Nur die aus den großen Diasporazentren eintreffenden Nachrich-
ten brachten in das Leben der römischen Gemeinde Unruhe und Be-
sorgnis. Es pflegten nämlich nach Rom von überallher jüdische Ab-
ordnungen zu kommen, um mit dem Beistand ihrer „dem Throne
nahestehenden“ Brüder den Papst zur Milderung neu angeordneter
Repressalien, zur Dispensierung vom Tragen des vorgeschriebenen
Kainsmals oder zur Abwendung der durch die Ritualmordprozesse
her auf beschworenen Gefahren zu bewegen. Diese flehentlichen Bitten
um Hilfe waren besonders häufig zur Zeit Gregors IX. zu vernehmen,
als die Inquisition gegen die Ketzer zu wüten begann und die Domini-
kaner die Inquisitionsmethoden auch gegen das jüdische religiöse
Schrifttum in Anwendung brachten. Die Pariser Talmudverbrennung
nach der Disputation vom Jahre 12^0 erschütterte aufs tiefste die
römische Gemeinde, die aus diesem Anlaß, wie erwähnt, sogar einen
alljährlichen Fasttag festsetzte. In dem Religionskodex („Schibbole
haleket“) eines italienischen Rabbiners jener Zeit, Zedekia ha’Rofe,
finden wir in dem auf die Fasttage bezüglichen Teil die folgende
Notiz: „In unseren Tagen wurde um unserer großen Sünden willen
die Thora unseres Gottes den Flammen preisgegeben. Im Jahre 5oo4
der Welt, am Freitag des Wochenabschnitts Chukath (17. Juni 12 44)
gingen in Frankreich, wie wir dies von den dortigen Rabbinern gehört
haben, vierundzwanzig Fuhrenladungen Talmudbücher, Halacha- wie
Haggadaschriften, in den Flammen auf“. In einer der damals in Italien
gedichteten synagogalen Elegien wendet sich der Verfasser an Gott
mit dem bitteren Vorwurf: „Sogar die Verbrennung der Gebeine des
Königs von Edom (Arnos 2, 1) ließest du einst nicht ungesühnt, soll
denn nun ungestraft bleiben, was man an deiner heiligen Lehre ver-
brochen?“ Eine andere aus der gleichen Zeit stammende Elegie legt
die Vermutung nahe, daß auch in Rom selbst ein freventlicher An-
schlag auf das jüdische Schrifttum nicht ausgeblieben war: die „Se-
licha“ erwähnt Thorarollen, die im Hause Gottes in Stücke gerissen
und mit einem Messer zerschnitten worden sind. Vereinzelte Gewalt-
taten lagen gewiß im Bereiche der Möglichkeit, da um jene Zeit die
Dominikaner in Rom heimisch geworden waren, und der Ordens-
bruder Nikolaus Donin, der Urheber des Pariser Autodafe, es wohl
200
§ 27. Die römische Gemeinde
auch weiterhin nicht unterließ, den Papst Gregor IX. auf die „Blas-
phemien“ des Talmud aufmerksam zu machen.
Ungeachtet all ihres Kircheneifers pflegten die Päpste des XIII.
Jahrhunderts, gleich ihren Vorgängern im XII. Jahrhundert, die
Schutzbulle „Sicut Judaeis“, sei es auf die Bitten der römischen Ge-
meinde oder auf die durch diese vermittelten Vorstellungen sonstiger
jüdischer Abordnungen hin, immer aufs neue zu bestätigen. Das Ent-
gegenkommen der Päpste wird ihnen wohl von den dankbaren Juden
entsprechend vergolten worden sein. Dem Papst Alexander IV., der
in geschäftlichen Beziehungen zu jüdischen Kaufleuten stand, hatten
die römischen Juden namentlich eine Begünstigung ihrer Handels-
tätigkeit zu verdanken: im Jahre 1255 befreite er sie im ganzen Be-
reiche des Kirchenstaates und Siziliens von der Entrichtung des Stra-
ßenzolls und stellte sie in dieser Beziehung den römischen Bürgers-
leuten christlichen Glaubens gleich. Aus der darauf bezüglichen Ur-
kunde ist zu ersehen, daß die Juden ihre Handelsgeschäfte manch-
mal in Gemeinschaft mit christlichen Kaufherren zu unternehmen
pflegten; desungeachtet verweigerte der Handelsstand die Aufnahme
jüdischer Berufsgenossen in die Gilden, da ihm die Juden nicht als
römische Vollbürger galten. Die ständische Verfassung der italieni-
schen Stadtrepubliken und die Kirchenkanons trugen in gleichem
Maße dazu bei, die Juden auf die Stufe einer geächteten Sonderkaste
herabzudrücken.
Die Zeit war stürmisch. In der zweiten Hälfte des XII. Jahr^
hunderts wurde Rom in die blutige Fehde hineingezogen, die zwischen
Welfen und Ghibellinen unter Manfred, dem Nachfolger Friedrichs II.
von Hohenstaufen, um das sizilianische Erbe entbrannt war. Der fran-
zösische Prinz Karl von Anjou, der für eine Zeitlang König „beider
Sizilien“ geworden war, errang auch in Rom als „Senator“ uneinge-
schränkte Gewalt (1268—1278). Noch weniger als die Italiener hat-
ten die Juden von diesem Tyrannen Gutes zu erwarten, doch sollte
sie seine Geldgier vor dem Schlimmsten bewahren. Zur Belohnung
für die ihm von jüdischen Finanzmännern erwiesenen Dienste ließ
er ihre Stammesgenossen nicht nur unbehelligt, sondern setzte sich
sogar manchmal für sie ein. Als der Papst Clemens IV. der Inquisition
mit seiner Bulle „Turbato corde“ (1267) eine tödliche Waffe gegen
die angeblich Christen und insbesondere Konvertiten verführenden
Juden in die Hand drückte und die Dominikaner in Rom eine ener-
201
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
gische Polizeiaktion in Szene setzten, wies Karl die Stadtbehörden an,
die Juden nicht zu belästigen und die ihnen verbürgten „Privilegien“
nicht anzutasten. Gegen Ende des XIII. Jahrhunderts wurde indessen
der auf die römische Gemeinde ausgeübte klerikale Druck so un-
erträglich, daß selbst der Papst Nikolaus IV. den Hilferufen der Be-
drückten sein Ohr leihen mußte. In einem an den römischen Vikar im
Jahre 1291 gerichteten päpstlichen Breve („Orat mater ecclesia“)
heißt es wörtlich: „Die Synagoge (Gemeinde) der Juden in Rom
unterbreitet uns eine Beschwerde über das verurteilungswürdige Ver-
halten mancher Kleriker, die ihnen (den Juden) Feindseligkeit ent-
gegenbringen, sie unausgesetzt durch schwer erfüllbare Forderungen
bedrängen, ihnen Schimpf antun und sie auch materiell schädigen.
Die Bedrängten flehen nun unsere apostolische Gnade um Schutz an.
In der Überzeugung, daß sich die christliche Liebe nicht in den
Juden zugefügten Schmähungen und Beleidigungen äußern dürfe,
gemahnen wir daran, daß sie unter unserer gnädigen Protektion ste-
hen und daß niemand befugt ist, sie zu bedrücken und zu mißhan-
deln. Durch dieses apostolische Schreiben beauftragen wir dich, dal-
auf zu achten, daß man die Juden nicht in gesetzwidriger Weise be-
lästige und daß die Zuwiderhandelnden der verdienten Kirchenstrafe
zugeführt werden“. Dieser vom Papste gegen seine eigenen Kleriker
zugunsten der Juden erlassene Befehl ist vielleicht auf die Fürsprache
seines jüdischen Leibarztes Maestro Ga jo zurückzuführen, eines der
gelehrtesten Mitglieder der damaligen römischen Gemeinde.
Schwere Gewitterwolken ballten sich über der römischen Gemeinde
in den sturmbewegten Jahren des Pontifikats Bonifazius’ VIII. zu-
sammen (1295—i3o3). Dieser hochmütige Hohepriester, dessen cae-
sarische Aspirationen nur zur Erniedrigung der päpstlichen Gewalt
führten, bekundete seine judenfeindliche Gesinnung schon bei der
Besteigung des apostolischen Stuhles. Bei seinem feierlichen Einzug
in Rom zog ihm unter den anderen Abordnungen nach altem Brauch
auch eine Deputation der jüdischen Gemeinde entgegen, die ihn an
der Tiberbrücke mit Psalmengesang empfing und ihm ehrerbietigst
eine reichgeschmückte Thorarolle darbot; Bonifazius wies jedoch die
Gabe mit einer brüsken Handbewegung zurück und wiederholte den
Ausspruch, den schon einmal bei ähnlicher Gelegenheit Innocenz II. ge-
tan (Band IV, § 5i), daß nämlich das Alte Testament zwar aller Ehren
wert sei, seine heutigen Bekenner aber nur Verachtung verdienten.
202
§ 28. Süditalien unter den Staufern; Anjous und Aragoniern
Bald brach in Rom zwischen Bonifazius und der Patrizierfamilie
Colonna ein erbitterter Kampf aus, in dessen Verlauf alle Mittel der
Inquisition mit ihrem raffinierten Spitzelwesen und ihren Feme-
gerichten in Anwendung kamen. Diesem Kampfe fiel unter anderen
auch eines der angesehensten Mitglieder der jüdischen Gemeinde,
Elias de Pomis, wohl ein Parteigänger des Geschlechtes der Colonna,
zum Opfer: im Jahre 1298 wurde er hingerichtet und sein ganzes
Vermögen eingezogen. Unter den willkürlichen Konfiskationen hatten
übrigens um jene Zeit gar viele wohlhabende Juden zu leiden, die von
den päpstlichen Spitzeln der Finanzierung der Opposition bezichtigt
wurden. Mittlerweile stieß der übermütige Bonifazius, der durch seine
herausfordernden Bullen („Jede Kreatur ist dem Papste untertan“ u.
dgl. m.) alle Herrscher Europas gegen sich auf brachte, auf einen
seiner durchaus würdigen Widersacher, auf den französischen Des-
poten Philipp den Schönen, und nun sollte es nicht nur zum Sturze
des Papstes, sondern auch zu dem des Papsttums selbst kommen. Die
Nachfolger des abgesetzten Bonifazius wurden aus Rom verbannt und
mußten in französischer Gefangenschaft schmachten. Durch dieses
„babylonische Exil der Päpste“ wurde im XIV. Jahrhundert für Rom
und somit auch für die römischen Juden eine ganz neue politische
Konstellation geschaffen.
§ 28. Süditalien unter den Staufern, Anjous und Aragoniern
Süditalien und Sizilien, wo schon in den vorhergehenden Jahr-
hunderten fremdländische Herrscher (Byzantiner, Araber und Nor-
mannen) immer wieder einander ablösten, stellte auch im XIII. Jahr-
hundert den Kampfplatz dreier Dynastien dar: der deutschen, fran-
zösischen und spanischen. Nur in der ersten Hälfte dieses Jahrhun-
derts gelang es dort für eine Zeit eine feste Gewalt zu begründen,
die in den Händen des deutschen Kaisers Friedrich II. von Hohen-
staufen lag. Friedrich, dem das Königreich Neapel und Sizilien schon
als väterliches Erbe zugefallen war und der den größten Teil seines
Lebens in Italien zubrachte, wandte auch den dort ansässigen Juden,
namentlich denen von Sizilien, nicht wenig Aufmerksamkeit zu. Er
hielt sich hierbei folgerichtig an jenes System der Bevormundung
seiner „Kammerknechte“, das er in Deutschland offiziell zum Prin-
zip erhob und das letzten Endes nur eine Fortentwicklung des von
203
Die kleineren Zentren Und, Kolonien im XIII. Jahrhundert
den Normannen eingeführten patriarchalischen Regimes (Band IV,
§§ 19 und Ö2) war. Je nach seinem politischen Verhältnis zu den
römischen Päpsten, mit denen er bald auf Kriegsfuß stand, bald in
Frieden lebte, pflegte Friedrich II. auch die Kirchenkanons in seinem
italienischen Herrschaftsbereiche bald einzuf ühren, bald wieder außer
Kraft zu setzen. Im Jahre 1221 versuchte der unbeständige Monarch
den Klerikalen zuliebe sogar die Inquisition in Sizilien einzuführen.
Zugleich erließ er ein Dekret, durch das die Juden zum Tragen eines
sie von den Christen unterscheidenden Abzeichens verpflichtet wur-
den, wobei er sich in der Begründung fast wörtlich an die bekannten
Argumente der Lateransynode hielt (oben, § 2). Neu war die Vor-
schrift, wonach jüdische Männer reiferen Alters sich den Bart wach-
sen lassen mußten. Den Zuwiderhandelnden wurde Vermögenskonfis-
kation und im Falle der Mittellosigkeit das Auf brennen eines Schand-
mals auf die Stirn in Aussicht gestellt. Es ist indessen kaum anzu-
nehmen, daß Friedrich den seiner Verordnung zugrunde gelegten reli-
giösen Motiven ernstlichere Bedeutung beimaß. Der aufgeklärte, wenn
auch despotische Monarch, der an seinem Hofe zu Neapel, wie er-
wähnt, jüdische und arabische Gelehrte mit wissenschaftlichen Auf-
trägen betraute und auch sonst dem Judaismus gegenüber Toleranz
bekundete, mochte derartige Maßnahmen ausschließlich aus politi-
schen Tagesinteressen getroffen haben. Und in der Tat werden in den
späteren Verordnungen des Kaisers die antijüdischen Kirchenregeln
mit keinem einzigen Worte mehr erwähnt. In dem im Jahre i23i von
ihm erlassenen Statut gelobt er, seine italienischen Juden und Mo-
hammedaner, die „durch grundlose Haßausbrüche seitens der Christen
nicht selten in Gefahr geraten“, in jeder Weise in Schutz zu neh-
men. Daneben sucht er die Juden zu einem Werkzeug seiner auf die
Monopolisierung der wichtigsten süditalienischen Produktionszweige
gerichteten Finanzpolitik zu machen und trägt so zur Konsolidierung
ihrer wirtschaftlichen Lage bei.
Im Gegensatz zu ihren Stammesgenossen in den anderen Ländern
nahmen nämlich die süditalienischen Juden von jeher regsten Anteil
an der industriellen Entwicklung dieses an natürlichen Hilfsquellen
so reichen Landes. Zwei Industriezweige lagen hier fast ausschließ-
lich in jüdischen Händen: die Stoffärberei und die Fabrikation von
Seidenwaren. Beide Erwerbsarten wurden hierher schon in viel älterer
Zeit durch Auswanderer aus dem Osten, namentlich aus Byzanz, ver-
!2o'4
§ 28. Süditalien unter den Staufern, Anjous und Aragoniern
pflanzt, wo die Stoffärber sowie die Seidenspinner, deren Erzeugnisse
sich den Weltmarkt erobert hatten, meistens Juden oder Griechen
waren. So hatten denn auch bereits die normannischen Gebieter Süd-
italiens hier gewinnbringende Färbereien (tinctoria) gegründet, an
deren Spitze jüdische Fachmänner standen. Friedrich II., der die- Ju-
den als Staatseigentum betrachtete, faßte nun den Plan, das faktisch
bestehende jüdische Färberei- und Seidenmonopol mit der Staats-
produktion zu verschmelzen. Im Jahre i23i gab er den Befehl, die
Färbung von Stoffen ausschließlich den von Juden geleiteten Staats-
färbereien von Neapel und Capua in Auftrag zu geben. Dementspre-
chend wurde auch das Staatsmonopol der Produktion und des Ver-
triebs von Seidenwaren geregelt. Die Hauptzentren dieses Gewerbes
waren der Hafenort Trani und manche andere Städte in Apulien und
Calabrien. Dank den Erwerbsmöglichkeiten, die sich so den Juden in
Süditalien und Sizilien in der verarbeitenden Industrie und im Waren-
handel boten, befaßten sie sich hier in viel geringerem Maße als in
anderen Ländern mit dem Kreditgeschäft. Ein Teil der sizilianischen
Juden trieb außerdem Landwirtschaft und namentlich Dattelpalmen-
zucht. Eigens zu diesem Zwecke wies Friedrich II. einer Gruppe
afrikanischer Juden in Palermo einen königlichen Palmenhain zu,
wie denn der Kaiser überhaupt jüdische Einwanderer gern aufzu-
nehmen und ihnen allerlei Vergünstigungen zu gewähren pflegte. Be-
zeugt ist auch noch, daß der königliche Gutsverwalter in Palermo den
jüdischen Kolonisten Land zur Kultivierung der Indigo- sowie anderer
in Afrika heimisch gewordener und den Sizilianern noch unbekannter
Nutzpflanzen in Pacht gab.
Freilich war Friedrich ungeachtet der von ihm getragenen sizili-
anischen Königskrone nicht der einzige Herr in den Städten: seine
Macht wurde ihm von den städtischen Magistraten streitig gemacht,
die die jüdischen Gemeinden unter ihre Gewalt zu zwingen und deren
Selbstverwaltung in jeder Weise einzuschränken suchten. Die christ-
liche Stadt wollte das auf ihrem Territorium sich erhebende Juden-
viertel um jeden Preis in ihrer Botmäßigkeit wissen, und so sahen
sich die Juden mit der fortschreitenden Schwächung der Staatsgewalt
und dem Aufstieg der mit dieser rivalisierenden Munizipalgewalt einer
ihnen feindlichen und an ihrer Rechtlosigkeit und wirtschaftlichen
Rückständigkeit interessierten Macht preisgegeben. An manchen Orten
waren die Juden außerdem ebenso wie in Deutschland der Jurisdiktion
205
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
der Bischöfe sowie dem Klerus der großen Kirchen und Klöster unter-
stellt, denen sie einstmals von den normannischen Herrschern, den
Vasallen der römischen Päpste, als „Geschenk“ überantwortet worden
waren. Zwar hatte Friedrich II. mit dieser Vasallenabhängigkeit von
Rom gründlich gebrochen, doch sollten nach seinem Tode in Süd-
italien tief einschneidende Änderungen eintreten.
Es entbrannte ein Kampf um das italienische Erbe, der sich über
mehr als dreißig Jahre hinziehen sollte. Der erste Akt dieses Kampfes
endete mit dem Untergange der Staufer und dem Übergang der Macht
an die von Karl von Anjou geführten Franzosen (1266—1282). Als
Schützling des römischen Papstes mußte Karl den Forderungen der
Kirche Genüge tun, zugleich sah er sich aber in seiner Geldnot ge-
zwungen, auch den Interessen der Finanzpolitik, in der die Juden eine
nicht unerhebliche Rolle spielten, in jeder Weise Rechnung zu tragen.
So wurde denn die Stellungnahme des neuen Königs von Neapel und
Sizilien zu den Juden gleichsam durch die Resultante zweier sich kreu-
zenden Komponenten bestimmt. Ein Förderer der in seinem Macht-
bereich gegen die Ketzer wütenden Inquisition, begünstigte Karl zu-
gleich die von den Dominikanern unter den italienischen Juden ent-
faltete Missionstätigkeit, ganz so wie es sein Bruder Ludwig der Hei-
lige in Frankreich tat. Auch in Italien fehlte es nicht an einem Pablo
Christiani, einem vor den Mönchen kriechenden Renegaten. Es war
dies der aus Trani stammende Manufortis, der nach seinem Übertritt
zum Christentum auch seine Stammesgenossen durch den neuen Glau-
ben zu erleuchten trachtete. Seine Bemühungen blieben denn auch
nicht unbelohnt: Karl befahl, dem Überläufer „für den Eifer, mit
dem er andere Juden auf den Weg der Wahrheit zu weisen bestrebt
war“, eine Jahresrente in Höhe von sechs Unzen Gold aus den Ein-
künften der monopolisierten Färberei zu Trani auszuzahlen (1267).
Auf die Denunziation dieses Renegaten, des „ehemaligen Juden und
Synagogenvorstehers“, hin ordnete der König außerdem an, daß den
Juden alle Talmudschriften, ja sogar die Gebetbücher weggenommen
würden (1270). Die Geistlichkeit hatte scharf darauf aufzupassen,
daß es zwischen Juden und Christen verschiedenen Geschlechtes nicht
zu „sündhaftem Verkehr“ komme und daß den Kirchen regelmäßig
der zehnte Teil der bei den Juden erhobenen Kopfsteuer zugeführt
werde. Andererseits nahm jedoch Karl von Anjou die ihm tribut-
.206
§ 28. Süditalien unter den Staufern, Anjous und Aragoniern
pflichtigen Juden stets gegen jene bischöflichen Lehensherren in
Schutz, die ihre jüdischen Untertanen erbarmungslos ausbeuteten. Als
der Erzbischof von Bari einst nach dem Vorbild der französischen und
englischen Könige die Gemeindeältesten einkerkem ließ, um ihnen
das Fünffache der üblichen Geldsteuer (zwanzig Unzen statt vier) ab-
zupressen, verfügte Karl die sofortige Freilassung der Verhafteten
(1273). Auch setzte er sich für die von dem Erzbischof und Kastellan
von Trani unbarmherzig geschröpften jüdischen Gewerbetreibenden
kraftvoll ein. Die Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinden pflegte
er voll zu respektieren, und behielt sich nur das Recht vor, die ge-
wählten Ältesten und Gesetzeslehrer im Amte zu bestätigen. So erteilte
er einst der in Palermo erfolgten Wahl des Rabbiners Meborach, der
ihm, wie er hervorhob, „von unserem treuen Magister Faradsch, dem
Dolmetscher unseres Hofes“, empfohlen worden war, seine ausdrück-
liche Sanktion1). In einem anderen Falle billigte der König die Ent-
scheidung des Bischofs der Stadt Trepani, der „kraft des ihm zu-
erkannten Rechtes“ einen gewissen Suleiman in der Würde eines jü-
dischen „Geistlichen“ (sacerdos) bestätigte. Ganz frei von fremder
Kontrolle war also die Gemeindeverwaltung doch nicht.
Im Jahre 1282 setzte die Sizilianische Vesper der französischen
Herrschaft auf der Insel ein Ziel, und seitdem beschränkte sich die
Gewalt der Anjous nur auf das auf dem Festlande gelegene König-
reich Neapel. Sizilien aber geriet für lange Zeit unter die Herrschaft
der aragonischen Dynastie. Der von der römischen Kurie unabhän-
gige aragonische König Pedro III. verwehrte es der Inquisition und
den Dominikanern, auf der Insel ihr Wesen zu treiben, und brachte
den Juden in Sizilien die gleiche Duldsamkeit entgegen wie in seinen
spanischen Stammlanden (oben, § i3). Er förderte auch auf der
Insel jenes System der Verpachtung von Staatssteuern und Zöllen an
wohlhabende Juden, das schon in Aragonien die Grundlage seiner
Finanzpolitik bildete. Auch unter den Nachfolgern des Pedro war für
Sizilien dieselbe allgemeinpolitische Richtung maßgebend, die im XIV.
Jahrhundert für die spanische Metropole bestimmend war.
!) Faradsch ben Salem oder F a r a g u t, in der sizilianischen Stadt Girgenti
zu Hause, war einer der gelehrtesten jüdischen Ärzte jener Zeit. Im Aufträge
Karls von Anjou übersetzte er medizinische Werke aus dem Arabischen ins La-
teinische. S. Steinschneider, Hebräische Übersetzungen, 974.
207
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
§ 29. Das geistige Lehen in Italien
Das geistige Leben der italienischen Juden bildete im XIII. Jahr-
hundert, wie schon ehedem, den Schnittpunkt verschiedenartiger Strö-
mungen, die in den beiden damaligen Hegemoniezentren, in Frank-
reich und Spanien, ihren Ursprung nahmen. Aus Nordfrankreich
wurde hierher namentlich die Talmudwissenschaft der Tossafisten
verpflanzt, die in den Jeschiboth von Rom, Trani und einigen an-
deren Städten zu hoher Entfaltung gelangte. Großes Ansehen genoß
der Rabbiner Jesaja di Trani (gest. um 1270). Er verfaßte Kom-
mentare und „Tossafoth“ zum Talmud und versandte überallhin seine
Entscheidungen über Fragen des Rechts und des Ritus. Allerdings war
er kein großer Freund des französischen Rigorismus, sein Restreben
ging vielmehr dahin, auf die Lebensbedürfnisse des Einzelnen Rück-
sicht zu nehmen und die Strenge des Gesetzes dementsprechend zu
mildern. Jesaja di Trani gestand offen ein, daß er in den weltlichen
Wissenschaften, in Mathematik und Astronomie, nicht Bescheid wisse
und pflegte, soweit dies für das Verständnis des Talmudtextes er-
forderlich war, sich bei Fachmännern Auskunft zu holen; so wußte
er z. B. nur vom Hörensagen, daß der Mond sein Licht von der Sonne
empfange. Sein Enkel, R. Jesaja di Trani II., gleichfalls ein hoch-
angesehener Rabbiner, in dessen Zeit die erbitterte Fehde zwischen
Religion und Philosophie fällt, ging in der Ablehnung der weltlichen
Wissenschaft noch viel weiter und wollte von ihnen überhaupt nichts
wissen; besondere Befürchtungen flößte ihm die Philosophie des Ari-
stoteles ein und er untersagte die Lektüre philosophischer Bücher, in
denen „die Thora, die Weltschöpfung (ex nihilo) und das Dogma der
Vergeltung“ geleugnet würden. Aus dem biblischen Gebot „Höre,
Israel“ zog er den Schluß, daß der Glaube sich nur auf das „Gehör“
gründen müsse, d. h. auf die von den Altvorderen empfangenen Über-
lieferungen, nicht aber auf die selbsterlangte Erkenntnis oder die
philosophische Forschung.
Neben den Talmudisten der tossafistischen Richtung erstanden in
Italien auch Kodifikatoren. So verfaßte der bereits erwähnte Zedekia
ben Abraham haRofe aus Rom (wirkte um die Mitte des XIII. Jahr-
hunderts) einen Gesetzeskodex unter dem Titel „Schibbole ha’leket“
(Ährennachlese), in dem die Vorschriften über Feiertage, Gottesdienst
und sonstige rituelle Bräuche zusammengestellt waren. Der Verfasser
208
§ 29. Das geistige Leben in Italien
begründet jede Gesetzesformulierung durch Belege aus dem Talmud
und der vorangehenden rabbinischen Literatur, zuweilen aber auch aus
den unverbindlichen Überlieferungen der Haggada. Er teilt viel Be-
merkenswertes über die in Frankreich, Deutschland und Italien gel-
tenden rituellen Bräuche mit und empfiehlt, die Volksriten, unge-
achtet des ihnen mitunter zugrunde liegenden Aberglaubens, in Ehren
zu halten. Zedekia glaubt z. B. an die prophetische Bedeutung der
Traumgesichte und an die Möglichkeit, sich von Gott eine durch den
Traum vermittelte Lösung irgendeiner schwer entwirrbaren Frage zu
erbitten („Schaalath chalom“); er erörtert allen Ernstes die in der
Haggada vorkommende Bemerkung, wonach die Engel kein Aramäisch
verständen, gestattet aber trotzdem, im Gebet aramäische Worte zu
gebrauchen, da ja in der Haggada auch solche Engel erwähnt würden,
die „alle siebzig Sprachen“ beherrschten. — Italien war übrigens von
altersher das Land des Aberglaubens (Band IV, § 21).
In seinem Kodex beruft sich Zedekia auf viele damals in Italien
wirkende Rabbiner, unter anderem auf die hervorragenden Talmud-
gelehrten aus der römischen aristokratischen Familie der Anawim
(Dei Mansi), der er selbst angehörte. Dieser hochgebildeten Familie,
der eine Reihe gelehrter Ärzte entstammten, entsproß auch der
Schriftsteller Jechiel ben Jekutiel, der Verfasser eines kurzgefaßten
moral-pädagogischen Traktats über die „Hebung der Sitten“ („Maa-
loth ha’midoth“, niedergeschrieben im Jahre 1278). Rabbi Jechiel
klagt in seiner Schrift über die Sittenverderbnis seiner Zeit und ver-
sucht für die Moral klare Leitprinzipien aufzustellen. Er klassifiziert
die ethischen Normen und stellt jeder Tugend das ihr entgegengesetzte
Laster gegenüber: dem Fleiß die Trägheit, der Bescheidenheit den
Hochmut usw. Hierbei beruft er sich auf alle möglichen „Weltweisen“
ohne Unterschied der Nation und Religion und zählt ihnen sogar Alex-
ander den Großen, ja Friedrich II. als Männer von hervorragender
Lebensklugheit zu. Der gesunden und lauteren Moral des R. Jechiel
liegt jeder düstere Rigorismus, wie er uns etwa in dem in Deutschland
entstandenen „Buche der Frommen“ entgegentritt, durchaus fern. Der
italienische Moralist predigt zwar auch die Demut, jedoch nur im
Sinne eines umsichtigen Taktgefühls: „Die Bescheidenheit führt den
Menschen zu hohen Ehren“, während der Stolz nur von Mangel an
Selbstachtung zeugt, denn „wenn der Mensch sich selbst achtet, kann
«r den anderen gegenüber nicht hochmütig sein“. Der Zorn sei nicht
14 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
209
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
nur eine verwerfliche, sondern auch eine unkluge Gewohnheit, die
alles Lächerliche an dem Menschen bloßstelle: „Solange der Topf
nicht kocht, weiß keiner, was darin ist, sobald er aber aufbraust und
überläuft, kommt alles zum Vorschein“. Zu einer Zeit, da die Kirche
die Tugend der Armut verherrlichte, scheute sich der jüdische Mo-
ralist nicht, gerade in der Heimat der franziskanischen Bettelmönche
die Vorzüge des Reichtums hervorzuheben, der Muße für geistige
Arbeit gewähre und die Wohltätigkeit fördere: „Das Beste im Leben
— so läßt er sich vernehmen — ist Wissen mit Reichtum gepaart:
die Auserlesenen werden dich wegen dessen schätzen, was dein Kopf
birgt, die Menge aber für das, was du in deiner Hand hast“.
Trotz der Abneigung vieler italienischer Rabbiner gegen die Philo-
sophie und die weltlichen Wissenschaften konnte Italien dennoch von
der allgemeinen geistigen Bewegung des Jahrhunderts nicht unberührt
bleiben. Neben dem nordfranzösischen Einfluß machte sich hier eben
auch die Einwirkung der spanisch-provenzalischen Aufklärungsbewe-
gung bemerkbar. Die Lehren des Maimonides bahnten sich namentlich
nach Süditalien den Weg, wo in Neapel der bereits erwähnte Jakob
Anatoli seine Tätigkeit entfaltete, dessen religionsphilosophische
Sabbatvorträge unter den italienischen Orthodoxen so großen An-
stoß erregten (oben, § 16). Die von dem provenzalischen Aufklärer
ausgestreute Saat fiel trotzdem nicht auf steinigen Boden. Schon um
die Mitte des XIII. Jahrhunderts ersteht in Italien ein selbständiger
Kommentator des „Führers“ des Maimonides, Moses aus Salerno.
Unter dem Eindruck des zwischen den Maimonisten und ihren Geg-
nern in der Provence ausgefochtenen Kampfes, der mit der Verbren-
nung des „Führers“ endete (oben, § i3), entschloß sich der Gelehrte
von Salerno, in der am heißesten umstrittenen Frage über die Anthro-
pomorphismen mit aller Entschiedenheit für die Maimonisten Partei
zu ergreifen. Er bedauerte aufs tiefste die Ignoranz der Massen, „die
sich Gott in Menschengestalt, mit Augen, Händen und Füßen vor-
stellen und jeden vernünftig denkenden Menschen, der zu behaupten
wagt, daß man die scheinbare Materialisierung der Gottheit in der
Schrift nicht wörtlich verstehen dürfe, als gottlos erachten“. Die Anti-
maimonisten hätten sich an dem Andenken des großen Denkers schwer
versündigt: hat er doch „einen Festungswall um die Thora errichtet
(den Kodex ,Mischne-Thora‘), Augen und Herz Israels erleuchtet und
uns mit Beweggründen versehen, mit denen wir unsere Gegner,
210
§ 29. Das geistiye Leben in Italien
sowohl die Christen (deren Gottmenschentum) wie auch die natura-
listisch Denkenden zu widerlegen vermögen“.
Mit einer noch viel größeren Kühnheit trat in Italien als Vor-
kämpfer des Rationalismus der spanische Emigrant Serachia ben
Schaltiel Chen auf, der in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts
in Rom lebte. Er verstand es, die fortschrittlichen Elemente der rö-
mischen Gemeinde, insbesondere die Jugend, durch seine Vorlesungen
über die Sprüche Salomonis und das Buch Hiob zu begeistern, bei
deren Auslegung er sich von den philosophischen Lehren der spani-
schen Schule leiten ließ. Maimonides galt ihm als eine unumstößliche
Autorität, während er für die Gegner der Philosophie nichts als un-
verhohlene Verachtung übrig hatte. Über seinen ruhmreichen Lands-
mann Ramban schrieb er ohne jede Zurückhaltung: „Seine ganze Ge-
lehrsamkeit ist auf das Gebiet des Talmud beschränkt, während er in
der Philosophie weder ein noch aus weiß; nur so ist es zu erklären,
daß er in seinem Kommentar zum Pentateuch in der Frage der pro-
phetischen Offenbarung mit Maimonides in Widerstreit geriet, doch
täte er besser zu schweigen, wenn von solchen Dingen die Rede ist“.
Serachia selbst huldigte jener allegoristischen Auffassung der bibli-
schen Sagen, die bald in der Provence und in Spanien einen Sturm
aufwirbeln und eine förmliche Verketzerung der philosophie- und
wissenschaftbeflissenen Jugend nach sich ziehen sollte. Er glaubte in
der Bibel selbst einen Hinweis auf die im Mittelalter übliche Klassi-
fikation der Wissenschaften gefunden zu haben und stellte, wenn auch
in abweichender Weise, ein jüdisches Trivium und Quadrivium auf:
„Die Weisheit baute ihr Haus auf sieben Säulen“ (Sprüche, 9, 1) —
dies wolle besagen, auf sieben Wissenschaften, die in zwei Gruppen
zerfallen: die mathematische (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und
Musik) und die philosophische (Physik, Metaphysik und Politik). Sera-
chia gehörte dem radikalen Flügel der italienischen Freidenker an und
schreckte sogar vor solchen philosophischen Schlußfolgerungen nicht
zurück, die der Tradition direkt widersprachen. So wagte er es z. B.,
die ganze Geschichte des Propheten Jona für eine erbauliche Legende
zu erklären und bespöttelte den liturgischen Vers: „Derjenige, der
den im Leibe des Fisches betenden Jona erhörte, möge auch unser
Flehen erhören“. Dieses maßlose Freidenkertum brachte ihn schließ-
lich in Konflikt mit den gemäßigteren italienischen Maimonisten, an
deren Spitze um jene Zeit Hillel aus Verona (um 1220—1295) stand.
14*
21 I
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
Aus dem oberitalienischen Verona gebürtig, saß Hillel in seiner
Jugend in Barcelona zu Füßen des Jeschibahauptes R. Jona Gerondi,
der durch seine Teilnahme an der Bekämpfung der Maimonisten be-
kannt ist. Indessen brachte der junge Hillel aus Spanien mehr als
nur gründliche Talmudkenntnisse mit: er erwarb sich in der Fremde
auch reiche Wissensschätze auf dem Gebiete der Medizin, der Natur-
kunde und der Philosophie. So wurde er denn, im Gegensatz zu seinem
Meister, zu einem begeisterten Verehrer des Maimonides. Nachdem
er zunächst in Capua philosophische Vorlesungen gehalten hatte,
weilte er dann einige Zeit in Rom, um sich schließlich in Forli nieder-
zulassen, wo er sich vornehmlich mit der Übertragung griechisch-
arabischer medizinischer Werke ins Hebräische befaßte. Im Jahre
1291 verfaßte Hillel eine selbständige philosophische Abhandlung
über die Seele und die Unsterblichkeit („Tagmule ha’nefesch“), die
er indessen nur für „in spekulativen und naturwissenschaftlichen Din-
gen wohl bewanderte Männer“ bestimmte. Seine Lehre von der Seele
baut er auf den bekannten Voraussetzungen der aristotelisch-maimo-
nidischen Doktrin auf und verficht auch bei der Anwendung seiner
allgemeinen Prinzipien auf das Dogma von der Vergeltung im Jen-
seits mit aller Energie die nüchterne Auffassungsweise des Maimo-
nides. „Die der Seele zuteil werdende Vergeltung“ (wie die wörtliche
Übersetzung des Titels dieser Abhandlung lautet) könne, so führt
Hillel aus, nur geistiger, nicht aber, wie das Volk meint, körperlicher
Art sein. „Das gemeine Volk — sagt er —, das von wahrer Wissen-
schaft unberührt und der Spekulation nicht gewachsen ist, steht de-
nen, die den Beweis führen, daß die künftige Vergeltung mit dem
Leib nichts zu tun habe, ohne jedes Verständnis gegenüber. Es zittert
vor drohenden Strafen und zuckt zusammen bei dem Gedanken an
die die Leichen fressenden Würmer, die den Toten angeblich ähnliche
Schmerzen verursachen, wie eine in das Fleisch gestoßene Nadel dem
Lebenden1) ; dem gemeinen Mann jagt die Vorstellung vom Feuer,
das seine Gebeine verzehren und seinen Leib vernichten wird, pani-
schen Schrecken ein; er malt sich Plagegeister aus, die ihn aus den
Flammen in den Schnee und wieder zurück schleudern werden, sowie
manch anderes Bild physischer Qualen, die nur dem Körper eines
lebendigen Menschen Schmerzen verursachen können. Wollte ihn hin-
I) Eine wortgetreue Wiedergabe der im Babylonischen Talmud (Berachoth,
18 b) vertretenen Ansicht. S. Band III, $ 5o.
212
§ 29. Das geistige Leben in Italien
gegen jemand durch die Schilderung einschüchtern, wie die Seele (des
Sünders) in ewiger Finsternis und Schmach verharren und nie mehr
zu ihrem Urquell, dem ewigen Lichte, emporsteigen werde, so hätte
er dafür nichts als ein Lächeln übrig“. Der Verfasser ist sich dessen
wohl bewußt, daß er hierbei in Widerspruch mit den talmudischen
Aussprüchen gerät, und so verweist er die Leser darauf, daß nicht
jeder Ausspruch für bare Münze genommen werden dürfe, daß man
vielmehr die Dogmen des Glaubens von den in das religiöse Schrift-
tum eingedrungenen volkstümlichen Glaubensformen streng zu unter-
scheiden habe. Immerhin hütet er sich davor, auch biblische Er-
zählungen, wie etwa die Geschichte des Propheten Jona, gleich Se-
rachia Chen den nur didaktischen Fabeln zuzuzählen, so daß zwischen
den beiden Denkern aus solchen Anlässen manchmal eine schriftliche
Polemik entbrannte.
In seinen letzten Lebensjaliren mußte Hillel einen neuen Anschlag
der Obskuranten auf das Andenken des Maimonides abwehren. Im
Jahre 1288 unternahm nämlich ein gewisser Salomo Petit, ein aus
Nordfrankreich stammender Glaubenseiferer, eine Rundreise durch
Europa, um überall gegen die jüdischen „Ketzer“, die Freidenker,
zu hetzen. In Deutschland wurde er mit offenen Armen empfangen
und von den Rabbinern mit Empfehlungsschreiben an die Gemeinde-
häupter in den anderen Ländern ausgerüstet. Als er jedoch nach
Italien kam und dort gegen die Lehre des Maimonides zu predigen
begann, stieß er auf den energischen Widerstand des Hillel. Dieser
sandte aus Forli an seinen Freund Maestro Ga jo, den schon erwähnten
päpstlichen Leibarzt, ein Schreiben, in dem er ihm zuredete, der Agi-
tation in der römischen Gemeinde einen Riegel vorzuschieben. Hillel
erinnerte hierbei an die Geschichte des ersten antimaimonistischen
Feldzuges in Spanien und der Provence (in den dreißiger Jahren des
XIII. Jahrhunderts), der damit endete, daß die dominikanische Inqui-
sition von der Sache Wind bekam, so daß „sich die Asche des verbrann-
ten ,Buches der Erkenntnis* und des ,Führers* mit der der Talmud-
bücher vermischte**. Überdies versandte Hillel ein Rundschreiben an
die Gemeinden Ägyptens und Palästinas, wohin sich Salomo Petit in
seiner Missionsangelegenheit weiterbegeben hatte (unten, § 67), und
machte ihnen den Vorschlag, nach Venedig, Genua oder Marseille eine
gemeinsame Konferenz der morgen- und abendländischen Rabbiner
einzuberufen, um die bedrohte Autorität des Maimonides vor jedem
2l3
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
Anschlag zu sichern. Dies erwies sich jedoch als überflüssig, da die
morgenländischen Gemeinden bereits aus eigenem Antrieb Salomo
mitsamt seinem Anhang in Acht getan hatten.
Um diese Zeit vermochte in Italien auch die Kabbala Wurzel zu
fassen, die gleichfalls aus Spanien und zwar durch den bekannten
Mystiker Abraham Abulafia (oben, § 19) dorthin verpflanzt worden
war. Trotz des Mißerfolgs, der allen seinen abenteuerlichen Unter-
nehmungen beschieden war, blieb die von ihm ausgestreute kabba-
listische Saat nicht fruchtlos. Der erste dem italienischen Boden selbst
entsprossene Kabbalist war Menachem Rekanati, der um die Wende
des XIII. Jahrhunderts wirkte und der Verfasser eines mystischen
Kommentars zum Pentateuch und zum Gebetbuch war. Menachem
hielt an dem Parallelismus der geoffenbarten und der geheimen Lehre
unerschütterlich fest und nahm an, daß die letztere seit der Zeit des
Propheten Elias bis auf die des Ramban und der jüngsten Kabbalisten
in einer sich ununterbrochen fortspinnenden Tradition erhalten wor-
den sei. Seiner Exegese legt Menachem Rekanati solche unanfechtbare
Quellen wie hellseherische Träume, ja sogar unmittelbar vom Himmel
kommende Winke zugrunde: „Dieser Gedanke — so berichtet er —
offenbarte sich mir im Traume“ oder: „Was wir schrieben, wurde
uns vom Himmel eingegeben“. Die Begeisterung für die Kabbala hin-
derte indessen Menachem nicht daran, auch Maimonides Verehrung
entgegenzubringen und dessen „Führer“ in seinen wunderlichen
Schriften häufig zu zitieren. Dies ist wohl auf die der damaligen
Religionsphilosophie anhaftende Zwitterhaftigkeit zurückzuführen:
der in der Bibelexegese sich breitmachende Allegorismus oder Sym-
bolismus bildete nämlich eine Brücke, die von der Philosophie zur
Theosophie, vom Rationalismus zum Mystizismus hinüberleitete.
§ 30. Polen als Kolonie der deutschen Judenheit
Die nach dem ersten Kreuzzug einsetzende Auswanderung der deut-
schen Juden nach Polen (Band IV, §§ 3i und 55) kam auch im
XIII. Jahrhundert nicht zum Stillstand. Zugleich mit den Juden zogen
nach dem menschenarmen Polen auch viele den verschiedensten ur-
deutschen Gegenden entstammende Deutsche, die hier vor dem auf der
Stadt- und Landbevölkerung ihrer Heimat lastenden Drucke der herr-
schenden Klassen sowie vor den Schrecken des Bürgerkrieges Zuflucht
214
§ 30. Polen als Kolonie der deutschen Judenheit
suchten. Besonders stark war der Strom der christlichen und jüdi-
schen Emigranten aus Deutschland in der unruhevollen Zeit des Inter-
regnums, im dritten Viertel des XIII. Jahrhunderts angeschwollen.
Die polnischen Teilfürsten nahmen die Auswanderer in ihren von Dör-
fern sich kaum unterscheidenden Stadtsiedlungen mit größter Bereit-
willigkeit auf. So bildete sich in dem Lande der patriarchalischen
Naturalwirtschaft, wo bis dahin nur die zwei Stände der Guts-
besitzer und der Bauern nebeneinander bestanden hatten, nach und
nach der Kern eines dritten Standes. Die polnischen Fürsten ge-
währten den Deutschen in den Städten weitestgehende Selbstverwal-
tung gemäß den Prinzipien des „teutonischen Rechts“ (später „Mag-
deburger Recht“ genannt), und so kam mitten in den polnischen
Wäldern die typische mittelalterliche deutsche Stadt zur Entstehung,
in der neben der christlichen Bürgerschaft die autonome jüdische
Gemeinde erblühte. Die jüdischen Auswanderer aus Deutschland und
Österreich brachten in die neue Heimat ihre reichen wirtschaftlichen
Erfahrungen mit: den kaufmännischen Unternehmungsgeist, die
finanzielle Tüchtigkeit und damit zugleich die Befähigung für den
Ausbau des Kreditgeschäftes. Mit dem Aufblühen der deutsch-jüdi-
schen Städte in den westlichen Randgebieten Polens, namentlich in
dem Teilfürstentum „Großpolen“ (das Gebiet von Posen, Kalisch und
Gnesen), wurde es indessen immer mehr offenbar, daß der schon in
Deutschland zutage getretene Antagonismus zwischen dem christlichen
und jüdischen Teil der Stadtbevölkerung auch hier unausbleiblich zum
Durchbruch kommen werde. In Voraussicht des unvermeidlichen Zu-
sammenstoßes suchten sich nun die Juden durch einen besonderen
Verfassungsakt zu sichern, wie er den Deutschen in Form des „teu-
tonischen Rechts“ zuteil geworden war. Im Jahre 1264 wurde denn
auch den in Großpolen ansässig gewordenen Juden von dem Fürsten
Boleslaw dem Keuschen von Kalisch ein Freibrief verliehen, der sich
an die kurz vorher den österreichischen und böhmischen Juden ver-
liehenen Statute (oben, § 24) fast wörtlich anlehnte1).
1) In dieser Weise eben wird wohl, wie wir annehmen, die erste Verfassung
der polnischen Juden, der Schutzbrief Boleslaws von Kalisch, zur Entstehung ge-
kommen sein. Es war dies eine Art „Charter“, der den sich neu ansiedelnden
Juden zur Regelung ihrer erst für die Zukunft auf Grund der im Westen ge-
machten Erfahrungen vorausgesehenen Lage verliehen worden war. Es ist näm-
lich kaum anzunehmen, daß schon während dieser Periode der frühesten Ko-
lonisation in der Wirtschaftstätigkeit der Juden das Kreditgeschäft vorherrschend
2l5
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
Die Abweichung des polnischen Statuts von seinen westlichen Vor-
bildern beschränkt sich auf einige neuhinzugekommene Artikel und
auf manche unwesentliche Textänderungen in den wörtlich übernom-
menen Bestimmungen. Das Statut umfaßt im ganzen siebenunddreißig
Artikel und beginnt mit der folgenden Einleitungsformel: „Menschen-
werke, die durch Zeugen oder Urkunden nicht bekräftigt sind, ver-
gehen rasch und verschwinden aus dem Gedächtnis; so verkünden
denn wir, der Fürst Boleslaw von Großpolen, unseren Zeitgenossen
sowie der Nachwelt, zu der unser Schreiben gelangen sollte, daß wir
allen in unserem ganzen Herrschaftsbereiche ansässig gewordenen Ju-
den die nachstehenden Statute und Privilegien verliehen haben“. Der
erste Artikel dieser Verordnung besagt, daß bei gerichtlichen Ver-
handlungen zivil- und strafrechtlicher Sachen das von einem Christen
gegen einen Juden abgelegte Zeugnis nur dann berücksichtigt werden
solle, wenn es auch von einem jüdischen Zeugen bekräftigt wird.
Ferner wird die Prozeßordnung für zwischen Juden und Christen ent-
stehende Rechtsstreitigkeiten festgesetzt, soweit sie Gelddarlehen gegen
Verpfändung von beweglichem oder unbeweglichem Gut betreffen
(Artikel 2—7 sowie 24, 26, 3o, 33, 34). Alle diese Vorschriften
sicherten dem jüdischen Gläubiger wie dem christlichen Schuldner in
gleichem Maße Rechtsschutz zu. Für die Schlichtung von Rechts-
streitigkeiten unter Juden waren nicht die allgemeinen städtischen
Gerichte, sondern der Fürst selbst, sein Statthalter oder ein eigens
dazu ernannter Richter zuständig (Art. 8). Wegen Ermordung eines
Juden oder ihm zugefügter Körperverletzung hatte sich der schuldige
Christ vor dem fürstlichen Gerichte zu verantworten: auf den Mord
stand die „gebührende Strafe“ und die Vermögenseinziehung zugun-
sten des Fürsten; im Falle schwerer Körperverletzung sollte der Schul-
gewesen ist, das in dem Statut des Boleslaw einer so minutiösen Regelung unter-
zogen wird: befaßten sich doch die polnischen Juden auch noch in viel späterer
Zeit mehr mit Warenhandel, Land- und Steuerpacht als mit dem Zinsdarlehens-
geschäft. Der Freibrief des Boleslaw ist daher nur als eine mehr oder weniger
getreue Kopie der um jene Zeit in den Nachbarstaaten vorliegenden Muster zu
betrachten: des österreichischen Statuts vom Jahre .12 44, des österreichisch-böhmi-
schen vom Jahre 1254 und vielleicht auch des ungarischen vom Jahre 125i. Die
aus den deutsch-österreichischen Ländern zugewanderten Juden suchten sich ihr
heimatliches „jus judaicum“ ebenso im neuen Lande zu sichern, wie die Deut-
schen ihr „jus teutonicum“, und so erwirkten sie bei Boleslaw Rechtsgarantien
nach fertigem Vorbild. Bezieht sich doch das Statut des Boleslaw in seiner Ein-
leitung speziell auf die in Polen „ansässig gewordenen“ Juden (Judaeis nostris,
per totum districtum nostri dominii constitutis).
2l6
§ 30. Polen als Kolonie der deutschen Judenheit
dige nicht nur den Verletzten entschädigen, sondern auch eine Geld-
buße an den fürstlichen Schatz entrichten (Art. 9—10). Die den
Juden zugesicherte Unantastbarkeit von Leben und Besitz wird in
einer Reihe weiterer Artikel des näheren umschrieben: es wird ver-
boten, die auf Reisen begriffenen jüdischen Kaufleute in irgendeiner
Weise zu behelligen, höhere Zölle als bei den Christen von ihnen zu
erheben, jüdische Friedhöfe zu verheeren und die Synagogen oder
„Schulen“ zu überfallen (Art. 12—15). Im Falle eines nächtlichen
Überfalles auf die Behausung eines Juden mußten die christlichen
Nachbarn auf seine Hilferufe unverzüglich herbeieilen, sonst hatten
sie eine empfindliche Geldstrafe zu gewärtigen (Art. 36). Eingehend
werden die Funktionen des von dem Fürsten zu ernennenden Richters
in jüdischen Streitsachen (judex Judaeorum) sowie die Zeremonie der
Eidesleistung und die sonstigen Formalitäten der Gerichtsverhand-
lung bestimmt, die im Vorhofe der jüdischen „Schule“ (Synagoge)
oder an einem anderen von den Juden bezeichneten Orte stattzufinden
hatte (Art. 16—2 3). Der von dem Herrscher ernannte christliche
Richter, der nach Landesgesetz oder Landesbrauch (jus terrae, con-
suetudo terrae) Recht sprach, konnte in die inner jüdischen Streitig-
keiten nur mit Zustimmung der Parteien eingreifen, denen es jedoch
frei stand, ihren Prozeß auch bei ihren eigenen, nach jüdischem Ge-
setz Recht sprechenden Richtern anhängig zu machen. Eine strenge
Strafe stand auf die Entführung jüdischer Kinder, die wohl zwecks
gewaltsamer Taufe geraubt zu werden pflegten (oben, § 27). Ferner
wird „im Namen des Heiligen Vaters und den Verordnungen des
Papstes gemäß“ (die berühmte Bulle Innocenz’ IV. vom Jahre 1247)
strengstens untersagt, die Juden der Entwendung und Ermordung
christlicher Kinder zu angeblicher Blutabzapfung zu bezichtigen, „da
die Juden ihrem Gesetze zufolge sich überhaupt des Genusses jeg-
lichen Blutes enthalten müssen“; sollte eine solche Beschuldigung den-
noch laut werden, so mußte sie durch die Aussagen von mindestens
sechs Zeugen, drei Christen und drei Juden, bekräftigt werden; war
diese Bedingung erfüllt, so verfiel der so überführte Jude der Todes-
strafe, widrigenfalls traf die gleiche Strafe den christlichen Verleum-
der (Art. 32). Zugleich wurden die Juden von der Einquartierungs-
pflicht (hospitatio) befreit; an ihren Feiertagen durften sie nicht vors
Gericht zitiert und sollten auch nicht ungerechterweise des Münz-
verbrechens angeklagt werden (Art. 2 5, 29, 35). Trotz der Kirchen-
217
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
regeln war es den Juden gestattet, jede beliebige Ware, auch Lebens-
mittel, bei den Christen zu kaufen oder ihnen zu verkaufen (Art. 37).
Alle diese Rechte und Privilegien sollten nach dem Willen des Fürsten
Boleslaw und mit Zustimmung der höchsten Staatswürdenträger: des
Woiwoden, der Grafen und „vieler Barone unserer Länder“, die im
Jahre 1264 zusammen mit ihm den Erlaß in Kalisch unterzeichnet
hatten, für alle Zeiten in ungeminderter Kraft und Geltung bleiben.
Die den polnischen Juden verliehene Freiheitscharte konnte den
Torwächtern der katholischen Landeskirche nicht gleichgültig blei-
ben. Ein Staatsakt, in dem die Kirchenkanons fast gänzlich außer
acht gelassen waren, erschien gleichsam als eine Herausforderung
gegen die Geistlichkeit. Die Kleriker versäumten anscheinend nicht,
über die den „Feinden des Christentums“ gewährten Vorrechte in Rom
Bericht zu erstatten und zugleich auf die großen Gefahren des jüdi-
schen Einflusses in ihrem Lande hinzuweisen, wo die kirchliche Hier-
archie dem Kampfe mit der weltlichen Gewalt noch nicht gewachsen
war. Rom war nun der zwischen dem Freibrief des polnischen Für-
sten und den gleichartigen Erlassen des österreichisch-böhmischen Kö-
nigs Ottokar und des ungarischen Königs Bela bestehende Zusammen-
hang keineswegs entgangen, und so erweckte die sich immer mehr
ausbreitende Toleranzpolitik der katholischen Herrscher den Juden
gegenüber den stärksten Unwillen des Papstes Clemens IV. Als er
daher im Jahre 1265 den Kardinallegaten Guido nach Österreich
und Polen mit dem Auftrag „zu zerstören und aufzubauen“ entsandte
(oben, § 2 4), wurden ihm auch in bezug auf die Juden unzweideutige
Instruktionen mit auf den Weg gegeben. Im Februar des Jahres 1267
berief der Legat in Breslau eine Versammlung des polnischen Klerus
der Gnesener Diözese, zu der neben einem Teil Schlesiens auch
das großpolnische Fürstentum des Boleslaw von Kalisch gehörte.
Von den vierzehn Entschließungen dieser Synode waren fünf
den Juden gewidmet. Sie enthielten ein ausführliches Reglement, in
dem die üblichen von den Kirchenkonzilen proklamierten antijüdi-
schen Vorschriften noch erheblich verschärft waren. Die diesem Regle-
ment zugrunde liegenden Motive wurden in einem seiner Artikel mit
aller Offenheit zum Ausdruck gebracht: „In Anbetracht dessen, daß
Polen auf dem Boden des Christentums eine neue Anpflanzung dar-
stellt (in corpore christianitatis nova plantatio), steht zu befürchten,
daß sich die christliche Bevölkerung hier, wo die christliche Religion
218
§ 30. Polen als Kolonie der deutschen Judenheit
in den Herzen der Gläubigen noch keine festen Wurzeln zu fassen
vermochte, um so leichter von dem Afterglauben und den üblen Sit-
ten der in ihrer Mitte lebenden Juden beeinflussen lassen werde“.
Aus diesem Grunde erachtete es die Synode als geboten, vor allem die
Wohnstätten der Juden von denen der Christen zu trennen: „Wir ver-
ordnen aufs strengste, daß die in der Gnesener Diözese ansässigen
Juden nicht zusammen mit den Christen, sondern abgesondert, in
einem zusammenhängenden Häuserblock und zwar in einem ihnen
speziell angewiesenen Stadt- oder Dorfteil wohnen sollen. Dieser von
den Juden bewohnte Teil der Siedlung muß von den Wohnstätten der
Christen durch eine Umfriedung, eine Mauer oder einen Graben ab-
gegrenzt sein“. Juden, die in christlichen Stadtvierteln Häuser be-
saßen, wurden verpflichtet, diese in kürzester Frist zu verkaufen; soll-
ten sie bis zum nächsten Johannistage dieser Forderung nicht nach-
gekommen sein, so mußten die kirchlichen und weltlichen Ortsbehör-
den wegen ihres Versäumnisses zur Rechenschaft gezogen werden.
Ferner wurde vorgeschrieben, daß die Juden beim Durchzug von Kir-
chenprozessionen zu Haus bleiben, daß sie in jeder Stadt nicht mehr
als eine Synagoge haben und zu ihrer „Unterscheidung von den Chri-
sten“ auch hier wie in den westlichen Nachbarländern eine gehörnte
Kappe tragen sollten. Auf die Übertretung dieser Vorschrift stand die
landesübliche Geldstrafe. Daneben wurden von der Breslauer Ver-
sammlung auch alle jene von Judenhaß eingegebenen Kirchenregeln
fast wörtlich übernommen, die im selben Jahre auf dem Wiener Kon-
zil neu formuliert worden waren (oben, § 2 4). In der Begründung der
Vorschrift, die den Juden den Kirchenzehnten auferlegte, wurde dar-
auf hingewiesen, daß sie „den Platz einnehmen, wo eigentlich Chri-
sten wohnen sollten, weshalb sie auch verpflichtet sind, die dem Klerus
dadurch entstehenden Verluste zu ersetzen“.
Überhaupt fühlten sich die geistlichen Plantageherren in der neuen
„plantatio christianitis“ viel ungezwungener als in deren alten Pflanz-
stätten und erlaubten sich demgemäß, die von den früheren Konzilen
aufgestellten Kirchenregeln nach Gutdünken auszubauen. Da die be-
reits erwähnte große Ofener Kirchensynode vom Jahre 1279 unter
ihren Mitgliedern auch viele Vertreter der polnischen Kirche zählte,
so erstreckten sich die auf dieser Versammlung bestätigten Kanons,
insbesondere die Verordnung über den „roten Fleck“, auch auf Polen.
Im Jahre 1285 fügte die Kirchensynode von Leczyca den bereits be-
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
stellenden Beschränkungen die Verordnung hinzu, daß die Juden sich
nicht als Zoll- und Steuerpächter oder als Münzmeister betätigen durf-
ten. In Wirklichkeit sollten jedoch all diese Erfindungen der Kleriker
für das Los der jüdischen Kolonie in Polen in den nächsten Jahrhun-
derten keine ernstlichere Bedeutung erlangen. Es ging über ihre
Kraft, die von den Landesherren aus staatswirtschaftlichem Interesse
begünstigte Kolonisierung Polens durch die zusammen mit den Deut-
schen aus dem Westen, aus den deutschen und österreichisch-slawi-
schen Ländern zuwandernden Juden zu unterbinden. Wichtige Fol-
gen sollte die Begünstigung der jüdischen Einwanderung namentlich
im XIV. Jahrhundert zeitigen, als in Polen an Stelle der Teilfürsten-
tümer die Alleinherrschaft der das zerstückelte Land unter ihrem Zep-
ter vereinigenden Könige trat.
Welche polnischen Städte es waren, in denen sich um jene Zeit
jüdische Gemeinden gebildet hatten und ob sich damals in Polen
überhaupt ein normales Gemeindeleben entwickeln konnte, darüber
geben uns die spärlichen Quellen keinerlei Aufschluß. Es hat sich nur
ein indirekter Hinweis darauf erhalten, daß schon zu Beginn des XIII.
Jahrhunderts im Lande freilich noch mangelhaft organisierte jüdi-
sche Gemeinden bestanden. Der Rabbiner Elieser aus Böhmen schreibt
nämlich um das Jahr 1210 an R. Jehuda Chassid, den Verfasser des
„Buches der Frommen“: „In den meisten Gegenden Polens, Rußlands
und Ungarns gibt es keine gelehrten Männer unter den Juden, da diese
ihrer armseligen Verhältnisse wegen solche nicht zu erhalten ver-
mögen. Darum pflegen sie (die Gemeindemitglieder) den ersten besten
ihnen in den Weg kommenden Schriftkundigen zugleich als Vorbeter,
als Gesetzes- und als Schullehrer anzustellen. Da die Gemeinde den
Unterhalt dieser Männer nicht voll bestreiten kann, so ist es Brauch,
ihnen die am Purim- und am Simchath-Thora-Feste sowie bei Hoch-
zeitsfeiern eingesammelten Spenden zur Verfügung zu stellen. Wenn
man ihnen (den Rabbinern) diese Unterstützung entziehen wollte, so
müßten sie mangels Existenzmitteln ihren Ämtern entsagen und die
Gemeinden würden dann ohne Unterweisung, ohne Gottesdienst und
ohne Belehrung bleiben“. Unter den westlichen Rabbinern scheint es
eben um jene Zeit noch wenig kühne Pioniere gegeben zu haben, die
sich zwecks Errichtung neuer Heimstätten der nationalen Kultur in
diese entlegenen östlichen Kolonien hinausgewagt hätten. Die sich nur
langsam entfaltenden Gemeinden bezogen lange Zeit ihre geistige Nah-
220
§ 31. Byzanz und Rußland (die Krim)
rung von außerhalb, aus Deutschland und namentlich aus dem slawi-
schen Böhmen. Bei den maßgebenden österreichischen und deutschen
Rabbinern liefen denn auch oft Anfragen aus Polen ein. In den rabbi-
nischen Sendschreiben solcher Rechtsgelehrter wie R. Isaak Or-Sarua
aus Wien oder R. Meir aus Rothenburg ist häufig von den Juden in
den slawischen Ländern die Rede. Es ist indessen bemerkenswert, daß
„Russien“ als Handelskolonie in dem rabbinischen Schrifttum jener
Zeit viel häufiger als Polen genannt wird.
§ 31. Byzanz und Rußland (die Krim)
In der Geschichte zweier osteuropäischer Staaten, des Byzantini-
schen Reiches und des in Teilfürstentümer zerfallenden Russenreiches,
stellt das XIII. Jahrhundert eine Übergangsperiode dar. Byzanz ver-
wandelte sich für ein halbes Jahrhundert (1204—1261) in das „La-
teinische Kaisertum“, das Reich der westlichen Kreuzfahrer, während
das zerstückelte Rußland von der Tatareninvasion heimgesucht wurde,
um darauf auf lange Zeit hinaus zu einer Kolonie des mongolischen
Asien zu werden. In den beiden Reichen, von denen das eine bereits
dem Endpunkt seines geschichtlichen Weges nahe war, das andere
aber noch nicht einmal die allerersten Etappen dieses Weges zurück-
gelegt hatte, vollzogen sich tiefgreifende Verschiebungen der politi-
schen Kräfte, die auch auf das Schicksal des auf seiner tausendjähri-
gen Wanderung begriffenen jüdischen Volkes nicht ohne Rückwir-
kungen bleiben konnten.
Über die Lage der byzantinischen Juden in dieser Zeitperiode be-
sitzen wir nur überaus dürftige Nachrichten. Während der Belagerung
Konstantinopels (1208—1204) nahmen die Kreuzfahrer in der jüdi-
schen Vorstadt Aufstellung, was für die* Einwohner manche uner-
quicklichen Folgen mit sich brachte. Auch in dem dann der Zerstücke-
lung anheimgefallenen Reiche, in dem sich die Franzosen und die
Venezianer als Herren aufspielten, werden die jüdischen Gemeinden
wohl kaum vor der Willkür der Okkupationsmacht sicher gewesen
sein. Eigentümlicherweise spielten bei dieser Okkupation gegen ihren
Willen auch die französischen Juden eine gewisse Rolle. Das Haupt
des lateinischen Kaiserreichs Balduin II. benötigte nämlich Geld, um
das Ansehen der römischen Kirche auf griechischem Boden aufrecht
erhalten zu können; Papst Gregor IX. eilte ihm zu Hilfe: er machte
221
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
dem frommen französischen König Ludwig IX. den Vorschlag, dem
„Reiche von Konstantinopel“ den Rest jener Geldsummen zur Ver-
fügung zu stellen, die der König und seine Vorgänger (Philipp
August u. a.) bei jüdischen Kreditgebern eingezogen oder bei deren
christlichen Schuldnern eingetrieben hatten. Diese Geldmittel, mit de-
nen schon ehedem die Kreuzzüge bestritten zu werden pflegten, soll-
ten nunmehr nach päpstlichem Ratschluß billigerweise zur Unter-
stützung des Balkanreiches der Kreuzritter verwendet werden (i238).
Ludwig der Heilige leistete denn auch dem Wunsche des Heiligen
Vaters unverzüglich Folge, und so wurde der Triumph der römischen
Kirche mit jüdischem Gelde bezahlt. Die Griechen betrachteten aber
die Juden als Verbündete der Lateiner und darauf ist wohl auch die
§ich damals bemerkbar machende Verschärfung des griechischen Ju-
denhasses zurückzuführen.
In jenen Teilen von Byzanz, wo sich die griechische Gewalt noch
zu behaupten vermochte, hatten die Juden unter schweren Verfolgun-
gen zu leiden. Zu ihren ausgesprochenen Feinden gehörte namentlich
der Herr von Saloniki, Theodoros I. Als der Despot von dem bulgari-
schen König Johann Äsen besiegt und gefangen genommen wurde
(i23o), beschloß dieser, den Gefangenen blenden zu lassen und be-
traute mit der Henkersarbeit zwei Juden, in dem Glauben, daß sie
bei der Marterung des Feindes ihres Volkes besonders eifrig zu Werke
gehen würden. Die Juden fanden sich zunächst bereit, die grausige
Tat auszuführen, vermochten aber dann dem verzweiflungsvollen
Flehen des Unglücklichen nicht zu widerstehen und wiesen die ihnen
zugemutete Rolle von Henkersknechten mit Entschiedenheit zurück.
Der erzürnte bulgarische König ließ hierauf die beiden eigenwilligen
Juden von einem hohen Felsen herab ins Meer werfen, das Urteil an
Theodoros aber von gefügigeren Schergen vollstrecken; später gelang
es dem Geblendeten, aus der Gefangenschaft zu entfliehen. Verwor-
rene Nachrichten in den jüdischen Quellen geben zu der Vermutung
Anlaß, daß auch die letzten Herrscher aus dem griechischen Laskari-
denhause, Johann Batazes und Theodoros II. (1222—1254), die Ju-
den in ihren kleinasiatischen Besitzungen (im „Nicäischen Reiche“)
hart bedrängten und sogar zur Taufe zwangen. Die Verfolgungen hör-
ten erst unter dem Kaiser Michael Paläologos auf, dem es mit Hilfe
der Genuesen gelungen war, die Lateiner zu vertreiben und das grie-
chische Kaiserreich wiederherzustellen (1261). Seit diesem Zeitpunkt
222
§ 31. Byzanz und Rußland (die Krim)
bis zum Ausgang des XIII. Jahrhunderts bleibt das Los der byzan-
tinischen Juden in völliges Dunkel gehüllt.
Um dieselbe Zeit vermochte die Handelsflotte der Republik von
Genua, deren Flagge auf dem Mittelmeere über ihre venezianische
Rivalin triumphierte, sich bis zur Meeresküste Südrußlands den Weg
zu bahnen. Kurz vorher war über das Kiewsche Land sowie über die
anderen russischen Teilfürstentümer eine furchtbare Katastrophe her-
eingebrochen: die Invasion der Tataren (1287), die Rußland für
lange Zeit unter ihre Rotmäßigkeit zwangen. Die neue Völkerwande-
rung der Mongolen zeitigte für die jüdischen Kolonien am Schwar-
zen Meere, deren Mittelpunkt die Krim war, tiefgreifende Folgen.
Der von den Tataren besetzte Küstenstrich wurde bald von Griechen,
Italienern und Juden aus den benachbarten Balkanländern überflutet.
Um das Jahr 1260 gelang es den schon längst auf die Beherrschung
der Schwarzmeerküste ausgehenden Genuesen, von dem Tatarenchan
die Krimer Küstenstadt Kaffa, das ehemalige Theodossia, käuflich zu
erwerben und sie bald in eine blühende Handelsrepublik zu verwan-
deln. Die Festigung des politischen und wirtschaftlichen Stützpunktes,
der Genuesen in Konstantinopel nach dem Falle des lateinischen Kai-
serreichs brachte es mit sich, daß zwischen der byzantinischen Haupt-
stadt und dem „kleinen Konstantinopel“, wie um jene Zeit Kaffa ge-
nannt zu werden pflegte, eine Brücke geschlagen wurde. Die Schwarz-
meerkolonien der Genuesen bildeten den Punkt, wo sich die Wege
des italienisch-byzantinischen Handels mit denen des asiatischen kreuz-,
ten, und so lockten diese blühenden Kolonien, wie einst in der Cha-
sarenzeit, jüdische Kaufleute von Ost und West in Scharen herbei.
Von dem neu erwachten Leben auf der Nordküste des Schwarzen
Meeres blieb auch dessen östliche, kaukasische Küste sowie das Kaspi-
gebiet nicht unberührt. Der reißende Strom der großen mongolischen;
Völkerwanderung wühlte die alteingesessene kaukasische Judenheit
bis ins tiefste auf und brachte sie aufs neue mit den Krimer Stam-
mesbrüdern in Verbindung. Ein französischer Reisender, der Mönch,
Guillaume de Roubrouque, der von Ludwig dem Heiligen im Jahre,
12 54 mit einem Auftrag zu dem Tatarenchan gesandt worden war,
bereiste auf dem Rückwege den Kaukasus und traf dort, wie er be-
richtet, in den Städten „viele Juden“ an. Aus Derbent geriet er nach,
zwei Tagereisen in die an der Küste des Kaspischen Meeres sich er-,
hebende Stadt Samarok, wo er eine zahlreiche jüdische Bevölkerung
Die kleineren Zentren und Kolonien im XIII. Jahrhundert
vorfand. Auf seinem weiteren Wege nach Schemacha stieß der Rei-
sende auf von Juden besetzte Festungen. Die abgeschiedene Diaspora
Osteuropas, die Krim und der Kaukasus, erwachten in dieser Epoche,
als das genuesische Kaffa gleichsam zu einem Stadtviertel Konstanti-
nopels an der gegenüberliegenden Schwarzmeerküste geworden war,
zu neuem geistigen Leben. Aus Byzanz zogen nämlich nach der Krim
nicht nur jüdische Gewerbetreibende, sondern auch Gelehrte. Zu-
gleich nahm merklich die Einwanderung der Karäer zu, die auf
•der Halbinsel schon ehedem eine Kolonie besessen hatten. Im Jahre
1279 übersiedelte aus Konstantinopel nach der Stadt Sulchat (Eski-
Krim) der karäische Gelehrte Aaron ben Joseph, der Verfasser eines
umfangreichen Bibelkommentars unter dem Titel „Sefer ha’mibchar“,
der an seiner neuen Wirkungsstätte auch eine Rabbanitengemeinde
vor fand1).
So waren denn in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts die
«alten jüdischen Kolonien im Gebiet des Schwarzen Meeres und am
niederen Dnjepr gleichsam neu erstanden, um mit den in den fol-
genden Jahrhunderten erblühenden Kolonien in Polen und Litauen in
engste Beziehungen zu treten und durch deren Vermittlung der reifen
Früchte der westlichen jüdischen Kultur teilhaftig zu werden.
!) Es ist hier ein in Band IV, $ 54 stehengebliebener Druckfehler zu berich-
tigen: der karäische Gelehrte Jakob ben Rüben wirkte nicht im XI. sondern im
XII. Jahrhundert; ebenso muß es von dem dort schon erwähnten Aaron ben Joseph
richtig heißen, daß er im XIII. und nicht im XII. Jahrhundert gewirkt hat.
22 4
Zweites Buch
Die spanisch-deutsche Hegemonie
bis zur Vertreibung der Juden von
der Pyrenäischen Halbinsel
(XIV. und XV. Jahrhundert)
iUSSsg
§ 32. Allgemeine Übersicht
Während im frühen Mittelalter die Zentren der Judenheit in West-
europa zur Blüte gelangten, sollten sie im späteren Mittelalter der Zer-
störung anheimfallen. Der geschichtliche Weg des jüdischen Volkes
ist in dieser Zeitspanne durch zwei Zerstörungswerke begrenzt: durch
die zeitweilige Vertreibung aus Frankreich (i3o6) und die dauernde
Verbannung aus Spanien (1492). In dem achtzigjährigen Zeitraum
zwischen der Rückkehr der Verbannten und der erneuten Ausweisung
ihrer Nachkommen (i3i5—i3g4) fristet das französische Zentrum
ein trauriges Scheindasein. Das spanische Zentrum gelangt hingegen
gerade im XIV. Jahrhundert zu voller Entfaltung, um indessen schon
im folgenden Jahrhundert in denselben Abgrund zu stürzen. In der glei-
chen Zeit stöhnt die Judenheit Deutschlands unter ihrem Märtyrer-
schicksal und der Rechtlosigkeit, bietet aber allen Stürmen trotzig
die Stirn und weiß sich auch unter dem schwersten Drucke aufrecht
zu erhalten. Sie übernimmt die nationale Hegemonie des französi-
schen Zentrums, um diese mit der spanischen Judenheit zu teilen.
Aber auch für die deutschen Gemeinden bringt das verhängnisvolle
XV. Jahrhundert teilweise Zerstörung mit sich: Verfolgungen sowie
Ausweisungen aus verschiedenen Städten drücken die jüdische Be-
völkerung Deutschlands auf ein Minimum herab.
Neben den beiden Jahrhunderten gemeinsamen Zügen weist jedes
von ihnen auch ein besonderes Gepräge auf. Für die zwei Zentren
Mitteleuropas, das französische und deutsche, ist das XIV. Jahrhun-
dert das Jahrhundert des Martyriums. Die wilden Zuckungen der von
religiösem Irrwahn besessenen christlichen Massen: die „Hirtenzüge“,
die durch den „Schwarzen Tod“ hervor gerufenen Ausschreitungen,
die von Judenhetzen begleiteten Ritualmordprozesse — all dies zieht
für die jüdischen Gemeinden Verderben und Ruin nach sich. Der
15*
227
Die spanisch-deutsche Hegemonie
Jude ist gleichsam der Sündenbock für das Wüten der feindlichen
Elemente:
„Pestis regnavit plebis quoque millia stravit,
Contremuit tellus — populusque crematur hebraeus“1).
In Frankreich gesellen sich zu den Ausschreitungen des Straßenmobs
die Willkür der Könige und die Gewalttätigkeit der Behörden; das
Ergebnis ist ein neuer Auszug der Juden aus dem französischen
„Ägypten“. In Deutschland haben die Judenhetzen, die von den „Ju-
denschlägern“ und den Rächern für den „Schwarzen Tod“ angezettelt
wurden, die gleichen Folgen wie ehedem die Heldentaten der Kreuz-
fahrer: es kommt zu einer noch drückenderen Versklavung der Juden
durch ihre „Beschützer“: die Kaiser, Feudalfürsten und die Muni-
zipalbehörden. Im folgenden, im XV. Jahrhundert sinkt der Jude
in sozialer Hinsicht auf eine noch tiefere Stufe herab, der Abgrund
zwischen der jüdischen und der christlichen Gasse wird immer klaf-
fender und das geistige Blickfeld verengert sich zusehends. Der un-
bezwingbare Geist der Nation wirkt indessen in diesen engen Schran-
ken unentwegt weiter fort und führt einen immer höher ragenden
„Zaun um die Thora“ auf. Die Kraft der passiven Resistenz steigt ins
Unermeßliche. Sogar die grauenvollsten Massengemetzel vermögen
nicht zu einem Massenabfall vom Judentum zu führen: die Opfer sind
unbeugsam, die Märtyrer gehen mutig in den Tod, ohne auch nur
einen Augenblick an Rettung durch die Scheintaufe zu denken. In
ruhigeren Zeiten trägt der deutsche Jude voll Demut das Joch der
Rechtlosigkeit; er läßt sich wohl biegen, jedoch nicht brechen.
Ein ganz anderes Bild bietet die spanische Judenheit. Von den
Katastrophen des XIV. Jahrhunderts waren die spanischen Juden bis
zu dem letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts verschont geblieben.
In Aragonien und Kastilien waren sie aus der bürgerlichen Gesell-
schaft noch nicht ausgestoßen. In Kastilien breitet sich die Schicht
der jüdischen Granden aus, deren finanzielle Beziehungen zum Hofe
ihnen auch zu politischem Einfluß verhelfen. Zwar gebrauchten sie
diesen Einfluß nicht immer im Interesse ihres Volkes, doch konnten
immerhin in einem Lande, wo einem Juden die Ministerwürde zugäng-
1) „Ob die Pest wütete, um Tausende hinwegzuraffen, ob ein Erdbeben das
Land heimsuchte — für alles büßte in den Flammen das jüdische Volk“ (ein
Vers des Chronisten Fabricius).
228
§ 32. Allgemeine Übersicht
lieh war, dessen Stammesgenossen nicht zu Parias herabsinken. Die
soziale Lage der spanischen Juden war denn auch nach wie vor viel'
günstiger als die ihrer Brüder in allen anderen Ländern. Der Adel,
der Klerus, das Kleinbürgertum begegnen ihnen allerdings häufig mit
Haß oder Neid, jedoch nie mit Verachtung. Die Verachtung ist er^
niedrigend, der Haß aber gefährlich, und so waren die Juden Spa-
niens, die der Erniedrigung entgingen, um so schwereren Gefahren
ausgesetzt. Die Kleriker verstanden es, durch ihre hemmungslose Agi-
tation die unaufgeklärten christlichen Massen gegen die wachsende
„Verjudung“ aufzuwiegeln. Im Jahre 1891 sollte auch Spanien sei-
nen inneren Kreuzzug erleben: die wild gewordene Menge dringt unter
der Anführung von Mönchen in die jüdischen Häuser mit dem Rufe
ein: Taufe oder Tod! Das Gemetzel von Sevilla gibt das Zeichen zur
Vernichtung der Juden auch in den anderen Städten Kastiliens und
Aragoniens. Die Stunde der furchtbaren Prüfung, in der die spani-
schen Juden gleich den deutschen das Martyrium auf sich nehmen
mußten, war gekommen. Viele von ihnen waren der harten Prüfung
durchaus gewachsen, es gab jedoch auch solche, die den Mut verloren
und ihr Leben durch die Scheintaufe retteten. Die unfreiwilligen
Renegaten hofften wohl unter günstigeren Verhältnissen in ihre Ge-
meinden wieder zurückkehren zu können, doch erwies sich die Hoff-
nung als trügerisch: zu Beginn des XV. Jahrhunderts sollte sich der
Kirchenterror nur noch mehr verschärfen und den früheren Opfern
des Gewissenszwanges gesellten sich immer neue hinzu. Es begann die
Tragödie des Morranentums. Die jüdische Frage erfuhr durch das
Eindringen der „Neuchristen“ in die spanische Gesellschaft eine neue
schwere Komplikation. Die Kirche, der auf dem Wege der Gewalt
eine teilweise Christianisierung der Judenheit gelungen war, erbebte
nun vor den Anzeichen der drohenden Judaisierung Spaniens. Gegen
die geheimen Juden erhob sich der strafende Arm der Inquisition
(i48o). Er vernichtete eine Unmenge von Opfern, der Erfolg blieb
indessen aus. So entstand die Überzeugung, daß das geheime Juden-
tum erst dann mit Erfolg bekämpft werden könnte, wenn die offen-
kundigen Juden aus dem Lande verschwinden würden: sobald man
den Stamm abhauen würde, müßten ja die Zweige — sagte man sich
— von selbst verdorren. So kam er zu der Vertreibung der Juden aus
Spanien (1492) und dann auch aus Portugal und Navarra. Wieder
ward ein kulturelles Diasporazentrum vernichtet, wieder hatte ein Zeit-
229
Die spanisch-deutsche Hegemonie
abschnitt in der Geschichte der nationalen Hegemonie sein Ende er-
reicht.
In drei aufeinanderfolgenden Jahrhunderten ist somit das letzte
Jahrzehnt jedesmal durch die Zerstörung eines jüdischen Zentrums
gekennzeichnet: in das Ende des XIII. Jahrhunderts fällt die Ver-
treibung der Juden aus England, in das Ende des XIV. die Ausweisung
aus Frankreich, in das Ende des XV. schließlich die aus Spanien
und Portugal.
Gänzlich unberührt von der verheerenden Wirkung dieses Wirbel-
sturmes bleibt nach wie vor das jüdische Italien. Die Epoche der
italienischen Renaissance und des Aufstiegs der Stadtrepubliken ließ
für Ausbrüche mittelalterlicher Barbarei nur sehr wenig Spiel-
raum. Die jüdischen Gemeinden verstanden es, sich allen dort herr-
schenden Regierungsformen: der päpstlichen, republikanischen und
monarchischen (in Neapel und Sizilien) wohl anzupassen, und stell-
ten an manchen Orten innerhalb der christlichen Städte gleichsam
kleine autonome Republiken dar. Den Wühlereien der fanatisierten
Mönche war hier sehr selten Erfolg beschieden. Nur gegen Ausgang
dieser Epoche brauste auch über einen Teil Italiens jenes Un-
wetter dahin, das das spanische Zentrum dem Erdboden gleich
machte: nachdem auf die Vereinigung von Aragonien und Kastilien
die Einführung der Inquisition und die Vertreibung der Juden aus
Spanien gefolgt war, mußten auch die Juden des zum Besitzstände
der aragonischen Könige gehörenden Sizilien ihre Heimat mit dem
Wanderstab in der Hand verlassen.
Inzwischen verfiel das altersschwache Byzanz immer mehr der
Zersetzung und im Jahre i453 rissen die osmanischen Türken das
griechische Erbe endgültig an sich. Die neu begründete Türkei ge-
währt den verfolgten Juden in ihren europäischen und asiatischen
Besitzungen sichere Zuflucht. So wird an der Grenzscheide des Mittel-
alters und der Neuzeit von neuem eine Brücke zwischen der Diaspora
in Europa und der in Asien errichtet. Es naht das Wieder erwachen
des jüdischen Morgenlandes. Die unverzagten Exulantenscharen aus
Spanien sollten es aus seinem jahrhundertelangen Schlafe jäh auf-
rütteln.
Zugleich bildet sich gleichsam als Ersatz für die im Westen zer-
störten Zentren ein neuer nationaler Mittelpunkt im östlichen Europa.
Die Kolonie der deutschen Judenheit, Polen, gelangt zu immer höhe-
23o
§ 32. Allgemeine Übersicht
rer Entfaltung und Blüte. Gegen Ende dieser Epoche ist sie bereits
der Metropole ebenbürtig, um sodann das Mutterland sogar zu über-
flügeln.
Mit der Vernichtung der alten Hegemoniezentren verkümmern
auch die alten Herde der geistigen Kultur. Nach den wechselvollen
Kämpfen des Rabbinismus gegen die Philosophie, die zu Beginn des
XIV. Jahrhunderts mit dem Triumph des Rabbinismus enden, büßt
das geistige Leben überall seinen Farbenreichtum ein. In der Reli-
gionsphilosophie werden die konservativen Strömungen vorherrschend
(Grescas, Albo, Abravanel); der deutsche Rabbinismus faßt nunmehr
auch auf spanischem Boden festen Fuß (die Schule des Rosch, der
Kodex „Turim“); die Nachtfackel der Kabbala bannt in ihren ge-
heimnisvollen Lichtkreis jene „Irrenden“, die ehedem im klaren Lichte
des maimonidischen „Führers“ wandelten. In Deutschland selbst
herrscht uneingeschränkt der Talmudismus. Die Enge des geistigen
Gesichtskreises spiegelt gleichsam die ärmlichen Verhältnisse der ab-
geschlossenen „Judengasse“ wieder. In Italien dringt zwar der von
der Renaissance ausgehende frische Luftzug auch in die jüdische Li-
teratur ein, in der ein Dichter von Rang, Immanuel der Römer, der
berühmte Zeitgenosse Dantes, hervortritt, doch war es der einst in
Spanien erblühten jüdischen Renaissance nicht beschieden, auf dem
italienischen Boden neu zu erstehen. Was für das ausgehende Mit-
telalter charakteristisch ist, ist vielmehr das sich überall bemerkbar
machende Vordringen des Rabbinismus, dem bald die gemäßigte Phi-
losophie, bald die Mystik Hilfstruppen stellt. Allerorten macht sich
das Bedürfnis nach innerer Sammlung geltend, der Trieb zur Erhal-
tung des nationalen Geistes mitten in den alles zermalmenden Stür-
men der Zeit. Die spanisch-deutsche Hegemonie bewahrt allerdings
noch immer jene Zwiefältigkeit, die ehedem der spanisch-französi-
schen Hegemonie eigen war: ist doch auch jetzt in Spanien im Ge-
gensatz zu der deutschen Einseitigkeit eine gewisse Vielseitigkeit der
geistigen Interessen nicht zu verkennen; hier wie dort geht man aber
bei aller Verschiedenheit der Wege und Mittel auf das gleiche Ziel
aus: auf Erhaltung, auf Konservierung.
281
Erstes Kapitel
Das spanische Zentrum
im XIY. Jahrhundert
§ 33. Die jüdischen Hof Würdenträger in Kastilien und die juden-
feindliche Agitation
Während im XIII. Jahrhundert die führende Rolle in der Ge-
schichte der spanischen Judenheit das Königreich Aragonien inne-
hatte, fiel sie im XIV. Jahrhundert dem zweiten großen Königreiche
Spaniens, Kastilien, zu. Das in der Mitte und im Süden der Pyrenäi-
schen Halbinsel gelegene Kastilien besaß mitsamt dem ihm angeglie-
derten Leon eine kompaktere jüdische und muselmanische Bevölke-
rung als das östliche Nachbarland und war auch in seinem wirt-
schaftlichen Leben mit diesen fremden Elementen viel enger als jenes
verbunden. Die Herrscher mußten hier nach wie vor der finanziellen
Machtstellung der jüdischen Oberschicht in jeder Weise Rechnung
tragen. Die als „Almojarifen“ und als Staatssteuerpächter wirkenden
jüdischen Finanzmänner waren nicht selten in die zwischen den mit-
einander rivalisierenden Mitgliedern des Königshauses sowie zwischen
den Vertretern der Parteien und Stände wütenden Kämpfe verwickelt,
in die sie zuweilen auch ihre Stammesgenossen unwillkürlich mit-
hin einzogen. Die ständischen Organisationen gewannen nämlich in Ka-
stilien im XIV. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung. Die Adels-
versammlungen, die sogenannten Cortes, nötigten der Krone die von
ihnen beschlossenen Gesetze auf, die unter anderem auch auf die
Unterbindung des politischen Einflusses der Juden ausgingen. Gegen
die wirtschaftlichen Machtpositionen der Juden stürmten die in
„Hermandades“, d. h. in Verbände zur Verteidigung ihrer „fueros“
oder Autonomierechte zusammengeschlossenen Städte an. Den geisti-
282
§ 33. Die jüdischen Hof Würdenträger in Kastilien
gen Einfluß des Judentums endlich bekämpfte mit unermüdlichem
Eifer die katholische Geistlichkeit, die in Kastilien zu immer größe-
rer Macht gelangte. Der Klerus suchte sowohl von oben durchzudrin-
gen, indem er der Regierung die Beschlüsse seiner Konzile aufzwang,
wie auch von unten durch Aufhetzung der Massen gegen diejenigen,
die angeblich „das Land verjudeten“.
Die Folgen dieses von drei Seiten her geführten Angriffs sollten
sich schon unter den nächsten Nachfolgern des kastilischen Königs
Sancho IV. (oben, § 9), unter seiner Witwe Maria de Molina und
seinem Sohne Ferdinand IV. (1295—i3i2) bemerkbar machen. Dem
König Ferdinand stand nämlich als kluger Ratgeber der jüdische
Almojarif Don Samuel zur Seite, in dessen Händen die Verwaltung
der Staatsfinanzen lag. Die staatsmännischen Ratschläge des Samuel,
dem der jugendliche König sein volles Vertrauen schenkte, mißfielen
jedoch der herrschsüchtigen Königin-Mutter Maria de Molina, und
es kam so weit, daß die Hofpartei der Königin den ihr im Wege
stehenden königlichen Berater gewaltsam zu beseitigen versuchte. Als
Samuel den König einst auf einer Reise nach Sevilla begleitete, wurde
er von einem Meuchelmörder überfallen und so schwer verwundet,
daß er nur dank der meisterhaften Pflege des königlichen Leibarztes
am Leben blieb. Auf den Einfluß des jüdischen Finanzmannes ist
wohl die Tatsache zurückzuführen, daß den antijüdischen Bestrebun-
gen der Geistlichkeit und des Adels kein Erfolg beschieden war. Als
im Jahre 1807 die Geistlichkeit in Toledo das jüdische Kreditgeschäft
auf Grund einer von dem Papst Clemens IV. erlassenen Bulle einzu-
dämmen versuchte, gab Ferdinand IV. auf die Beschwerde der jüdi-
schen Gemeinde hin den Befehl, der wirtschaftlichen Tätigkeit der
Juden keine Hindernisse in den Weg zu legen. Die Juden — so be-
gründete er seinen Erlaß — seien nicht dem Papste, sondern dem Kö-
nige untertan, an den sie Steuern entrichteten, weshalb denn auch
jede Einschränkung ihrer Gewerbefreiheit auf den Staatsschatz nach-
teilig zurückwirken müßte. Zugleich weigerte sich der König, der
von den Adelscortes auf gestellten Forderung nachzukommen, wonach
die Juden nicht mehr als Steuereinnehmer und -Pächter verwendet
werden sollten: wie hätte er auch auf die Unterstützung der jüdischen
Finanzmagnaten in einem Augenblick verzichten können, da er sich
zu einem Feldzug gegen Gibraltar rüstete.
233
Das spanische Zentrum im XIV, Jahrhundert
Nach dem Tode Ferdinands IV. (i3ia), als infolge der Unmün-
digkeit seines Sohnes Alfons XI. die alte Königin Maria von neuem
die Regentschaft übernahm, sah sich die Regierung allerdings ge-
nötigt, in manchen Punkten den Wünschen des Adels und der Geist-
lichkeit entgegenzukommen. So untersagten die Reichsverweser den
Juden auf Grund der Reschlüsse der Kirchenversammlung von Za-
mora (i3i3) und der Cortes in Burgos (i3i5), christliche Namen
zu führen, in prunkvoller Tracht in der Öffentlichkeit aufzutreten
sowie christliche Ammen zu halten. Von einschneidenderer Bedeutung
waren die auf dem Gebiete des Geschäftslebens und der Gerichtsbar-
keit eingeführten Rechtsbeschränkungen, wonach der von jüdischen
Gläubigern beanspruchte Zinsfuß 33 Prozent nicht übersteigen durfte
und für Rechtsstreitigkeiten zwischen Juden und Christen ausschließ-
lich das königliche Gericht zuständig war; überdies sollte das Zeugnis
eines Juden gegen einen Christen nicht für vollgültig erachtet wer-
den. Indessen ging die Regierung in ihren Zugeständnissen an die
höheren Stände nicht so weit, um auch auf die Dienste der Juden in
staatsfinanziellen Angelegenheiten Verzicht zu leisten. Sowohl die Kö-
nigin Maria als auch das andere Mitglied des Regentschaftsrates, der
Infant Juan Manuel, schenkten jüdischen Finanzagenten gern ihr Ver-
trauen. Der Infant, ein Förderer der Wissenschaft und Literatur, er-
wies überdies auch jüdischen Gelehrten seine Gunst, deren einer,
Jehuda ibn Wakar aus Gordova, zu seinen vertrautesten Freunden ge-
hörte. Auf die Vorstellungen des Ibn Wakar hin räumte Juan Manuel,
nach dem Tode der Königin Maria zum alleinigen Regenten geworden,
den rabbinischen Gerichten die ihnen bei Lebzeiten seiner Mitregen-
tin entzogene Befugnis, über Gemeindemitglieder die Strafgewalt aus-
zuüben, erneut ein.
Als Alfons XI. (i325—x35o) nach erreichter Volljährigkeit die
Zügel der Regierung selbst in die Hand nahm, ernannte er zu seinem
Almojarifen den Juden Joseph Benveniste. Der tatkräftige Verwalter
des königlichen Schatzamtes wurde zum Vertrauensmann (privado)
des jungen Königs, dessen wichtigste Aufträge er auszuführen pflegte.
In Gemeinschaft mit zwei Alfons befreundeten Rittern lenkte Ben-
veniste das Steuer der Staatspolitik und lebte seiner Würde ent-
sprechend auf großem Fuße: er pflegte in einem prunkvollen Wagen
in Begleitung eines berittenen Gefolges auszufahren und bewirtete
234
§ 33. Die jüdischen Hof Würdenträger in Kastilien
an seiner Tafel die Granden Kastiliens, von deren Lebensweise sich die
seinige nur wenig unterschied. Dies erregte den Unwillen der christ-
lichen Gesellschaft: man sprach überall davon, daß der König die Re-
gierung des Landes einem jüdischen Schlaukopf und zwei leichtsinni-
gen Rittern überlassen hätte. Als ßenveniste mit dem König in Valla-
dolid weilte, kam es sogar zu einem Anschlag auf den jüdischen
Staatsmann. Alfons kümmerte sich jedoch nicht im geringsten um das
Murren des Volkes und behielt ßenveniste nach wie vor im Amte eines
Staatsschatzmeisters (tesorero) an seinem Hofe. Indessen sollten die
Hofintrigen, bei denen ein anderer jüdischer Günstling die Hand mit
im Spiele hatte, dem jüdischen Finanzminister ein trauriges Ende be-
reiten. Der König verpachtete nämlich dem skrupellosen Geschäfts-
mann Samuel ibn Wakar (Abenhuacar) die Zölle von den aus dem
maurischen Granada eingeführten Waren sowie das Münzregal mit
dem Rechte, nicht vollgewichtige Silbermünzen zu schlagen, was Sa-
muel nicht wenig Gewinn einbrachte. Als es ßenveniste gelungen war,
seinem Rivalen die Zollpacht zu entreißen, überredete dieser den Kö-
nig, die Wareneinfuhr aus Granada überhaupt zu untersagen und das
protektionistische Wirtschaftssystem einzuführen. Mittlerweile wuchs
die Empörung gegen die jüdischen und muselmanischen Steuerein-
nehmer und Privatwucherer im Lande immer mehr an. Die Cortes
von Valladolid und Madrid verlangten vom König, daß den Wuche-
rern ein Zaum angelegt werde, und es gelang ihnen auch, die Erneue-
rung des Gesetzes von der Herabsetzung des Zinsfußes auf 33 Prozent
zu erwirken. Überdies wurden Klagen über die schädlichen Folgen
der Ibn Wakar übertragenen Münzpacht laut: durch die von ihm be-
triebene Münzverschlechterung wäre, so sagte man, eine Teuerung der
Lebensmittel eingetreten, da die Lebensmittelhändler es vorzögen, ihre
Ware nach dem Auslande gegen vollgewichtiges Silber zu exportieren.
Schließlich gelang es einem geifernden Judenfeind, beide Finanz-
männer mit einem Schlage zu Falle zu bringen.
Die Rolle des Haman spielte hierbei ein gewisser Gonzalo Mar-
tinez, ein armer kastilischer Ritter, der in den Diensten des Joseph
ßenveniste stand und von diesem in die Hofkreise eingeführt worden
war. Martinez verstand es, sich rasch vorzudrängen: er brachte es
bis zur Würde des Großmeisters des Ritterordens von Alcantara und
gewann die besondere Gunst des Königs Alfons. Unter dem Einfluß
235
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
der judenfeindlichen Partei stehend, beschloß er nun, den jüdischen
Hofwürdenträgern und dadurch der gesamten Judenheit Kastiliens
einen tödlichen Schlag zu versetzen. So ließ er denn gegen die beiden
Steuerpächter die Beschuldigung laut werden, daß sie durch ihr fis-
kalisches System das Land ruinierten und sich selbst auf Kosten des
Staatsschatzes bereicherten. Martinez gelang es auf diese Weise, den
König Alfons zu überreden, die Reichtümer der Finanzagenten ein-
zuziehen, sie selbst aber als Staatsverbrecher dem Gericht zu überant-
worten. Hierauf wurden Benveniste und Ibn Wakar mitsamt ihren
Angehörigen verhaftet und in den Kerker geworfen (um i3Srj). Ben-
veniste starb im Gefängnis und auch Ibn Wakar fand auf der Folter-
bank den Tod. Dem letzteren wurde vor allem der Umstand zur Last
gelegt, daß seine Zollpolitik, durch die der Warenaustausch zwischen
Kastilien und Granada lahmgelegt worden war, die um jene Zeit er-
folgte Kriegserklärung des Emirs von Granada an Alfons XI. herauf-
beschworen hätte. In ihrem Kriegsunternehmen stützten sich die Mau-
ren von Granada auf die militärische Hilfe ihrer Stammesgenossen
aus Marokko, und es hatte den Anschein, als sollte Kastilien erneut
zum Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen Muselmanen und Chri-
sten werden. Gemeinsam mit Aragonien und Portugal rüstete sich Ka-
stilien zur Abwehr. Zur Führung des Krieges benötigte man indessen
vor allem Geld und so machte der zum Oberbefehlshaber ernannte
Gonzalo Martinez den Vorschlag, den Juden alle ihre Schätze weg-
zunehmen, sie selbst aber aus dem Lande zu vertreiben; dabei ver-
bürgte er sich dafür, daß die christliche Bevölkerung mit größter
Bereitwilligkeit jene Steuersummen auf bringen würde, die alljähr-
lich von den Juden eingingen. Dieser Vorschlag fand jedoch im Kron-
rate keinen Anklang. Sogar der höchste geistliche Würdenträger des
Reiches, der Erzbischof von Toledo, ließ sich dahin vernehmen, daß
die Befolgung des Ratschlages des Martinez dem Lande zum Verhäng-
nis werden würde, denn die Juden seien für den König ein kostbarer
Schatz: „Du willst — so sprach er — diesen Schatz vernichten und
den König zwingen, so zu handeln, wie keiner seiner Vorfahren je
gehandelt hat; du würdest aber dadurch mehr dem König schaden als
den Juden“. Die Kunde von den Plänen des Martinez rief in den jüdi-
schen Gemeinden schwerste Besorgnis hervor; man ordnete überall
Fasten an und betete inbrünstig um die Abwendung des Unheils. Be-
sonders groß wurde die Unruhe der Juden, nachdem es Martinez ge-
236
§ 33. Die jüdischen Hofwürdenträger in Kastilien
lungen war, der muselmanischen Armee eine Niederlage beizubringen
und so zu einem Nationalhelden zu werden. Glücklicherweise wurde
der Herrschaft des Martinez jählings ein Ziel gesetzt. Gleich dem
Judenhasser der Vorzeit wurde auch der neue Haman von einer könig-
lichen Favoritin ins Verderben gestürzt. Infolge einer von der Mä-
tresse des Alfons Leonora de Guzman angezettelten Intrige wurde
nämlich Martinez vom Kriegsschauplatz nach Madrid zurückberufen,
verweigerte jedoch den Gehorsam und erhob sich mitsamt den Rit-
tern des Alcantaraordens gegen den König. Er wurde indessen bald
ergriffen und zum Tode verurteilt (i33()). Es geschah dies gerade
im Monat Adar, in den auch das Fest der Befreiung vom persischen
Haman fällt.
Hand in Hand mit der politischen Agitation gegen die Juden ging,
wie bereits bemerkt, die religiöse. Ihr Urheber war ein selbst aus dem
Judentum hervorgegangener Renegat, ein schriftkundiger Mann mit
Namen Ahner oder Alfons aus Burgos (Alfonso Burgensis). In seiner
Jugend hatte er Gelegenheit gehabt, das biblische und talmudische
Schrifttum gründlich zu studieren. Im Jahre 1295 begeisterte er sich
für die Predigten der messianisch gestimmten Mystiker: er gehörte
zu denen, die an den Propheten von Avila geglaubt und später, als sie
plötzlich die rätselhaften Kreuze an ihren Gewändern erblickt hatten,
von ihm abgerückt waren (oben, § 18). Schon damals war Abner
in seinem Glauben wankend geworden. Zunächst neigte er unter dem
Einfluß der maimonidischen Philosophie zum Freidenkertum und gab
sich dem Studium der weltlichen Wissenschaften und der Medizin
hin, doch gewährte ihm die Ausübung des ärztlichen Berufs keinen
genügenden Lebensunterhalt. Da tauchte das Zeichen des Kreuzes,
das ihn einst in seiner Jugend in so schwere Bestürzung versetzt hatte,
gleichsam als die Lösung beider Probleme, des religiösen wie des
praktischen, vor seinem geistigen Auge auf. So ließ er sich denn
taufen und übernahm das Amt eines Sakristans an der Kathedrale
zu Valladolid. Nunmehr suchte Abner-Alfons die Gunst seiner neuen
Glaubensgenossen durch verleumderische Anschwärzung des von ihm
verratenen Glaubens zu gewinnen. Er verfaßte in hebräischer und
spanischer Sprache mehrere Schriften, in denen er. als Beweis für die
Unhaltbarkeit der jüdischen Religion unter anderem die große Zahl
der von ihr hervorgebrachten Sekten anführte — ein Vorwurf, den
der Judaismus am wenigsten verdient. Jüdische Schriftsteller (Isaak
237
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
Pulgar u. a.) traten dem Renegaten in ihren polemischen Schriften in
schroffster Weise entgegen, was diesen noch mehr erbittern mußte.
Abner-Alfons unterbreitete schließlich dem König eine verleumde-
rische Anzeige, in der er behauptete, daß die Juden in einem ihrer
Gebete die Verehrer Christi verfluchten. Aus diesem Anlaß kam es
in Valladolid im Beisein gelehrter Dominikaner zu einer Disputation
zwischen Abner und den dortigen Rabbinern. Die Rabbiner suchten
zu beweisen, daß das alte Gebet („Birchath ha’minim“, Band III,
§ io) sich nur auf die jüdischen Renegaten und Angeber, nicht aber
auf die Christen überhaupt bezöge; die jüdischen Wortführer nah-
men wohl an, daß die Kirche, die ihre eigenen Ketzer zu verwünschen
pflegte, auch der Synagoge erlauben würde, die ihrigen zu verfluchen.
Trotzdem gelang es dem Renegaten, der sich durch das jüdische Ana-
thema persönlich getroffen fühlte, den König und die Geistlichen
zu überzeugen, daß dieses zugleich auch eine Schmähung des Chri-
stentums darstelle. Daraufhin untersagte Alfons XI. den jüdischen
Gemeinden durch ein besonderes Dekret, bei einer Geldstrafe von ioo
Maravedi das erwähnte Gebet beim Gottesdienst zu sprechen.
Alfons XI. sah sich auch sonst gezwungen, den Feinden des Juden-
tums mancherlei Zugeständnisse zu machen. So erließ der König den
christlichen Schuldnern, die die jüdischen Gläubiger des Wuchers
bezichtigten, ein Viertel des geschuldeten Betrages, indem er zugleich
alle Wuchergeschäfte überhaupt untersagte. Andererseits begünstigte
er jedoch den jüdischen Grundbesitz, gegen den die Adelscortes so
scharf ankämpften, und gestattete den Juden, weitausgedehnte Grund-
stücke an beiden Ufern des Duero bis zum Werte von 5o ooo Mara-
vedi zu erwerben (i348).
§ 34. Die Juden im kastilischen Bürgerkrieg
Noch nie war das Los der Juden so eng mit den politischen und
dynastischen Umwälzungen in Spanien verknüpft, wie während der
Regierungen der Söhne Alfons XI., Pedro und Heinrich. Der König
Pedro IV., genannt „der Grausame“ (i35o—1369), verdient wohl
kaum diesen Beinamen, soweit man sein Verhalten den Juden gegen-
über in Betracht zieht. So ernannte Pedro zu seinem Hauptschatz-
meister (tesorero mayor) Samuel Halevi Abulafia, einen Vertreter der
jüdischen Aristokratie von Toledo, den er als Finanzfachmann in allen
238
§ 54. Die Juden im kastilischen Bürgerkrieg
Staatsangelegenheiten zu Rate zu ziehen pflegte. Abulafia rechtfertigte
voll das in ihn gesetzte Vertrauen und trug durch eine Reorganisie-
rung des Steuerwesens zur Gesundung der Staatsfinanzen bei. Ein
anderer Jude, Abraham Zarzal, versah das Amt eines königlichen
Leibarztes und Astrologen. Die politischen Gegner des Königs und
die Kircheneiferer tadelten ihn aufs schärfste wegen der Revorzugung
der Ungläubigen und nannten seinen Hof voll Verachtung einen „Ju-
denhof“. Als die Cortes von Valladolid den König um die Aufhebung
der autonomen jüdischen Gerichtsbarkeit angingen, erhielten sie einen
abschlägigen Bescheid mit der folgenden Regründung: „Die Juden
sind ein schwaches Volk. Wollte man sie der allgemeinen Gerichtsbar-
keit unterstellen, so müßten sie stets Unrecht leiden“. Neben den ge-
nannten Hofwürdenträgern stand Pedro auch noch der jüdische Dich-
ter Santob de Carrion nahe, der in seinen spanischen Versen dem
König Belehrungen und Ratschläge erteilte. Hätte Pedro diesen ehr-
lich gemeinten Ratschlägen Gehör geschenkt, so wäre er vielleicht
nicht in jene traurige Lage geraten, in die er sich infolge verhäng-
nisvoller Familienverhältnisse bald versetzt sah.
Pedro war nämlich der einzige Sohn Alfons XI. von dessen recht-
mäßiger Gattin; doch besaß Alfons von seiner Mätresse Leonora de
Guzman noch neun andere Söhne, von denen der älteste Heinrich de
Trastamara hieß. Dieser ehrgeizige Prinz machte nun seinem Stief-
bruder Pedro den Thron streitig und verstand es, die im königlichen
Hause herrschenden Zwistigkeiten im eigenen Interesse auszunützen.
Die Familienzwistigkeiten gingen darauf zurück, daß der König Pedro
seine junge Gattin Bianca, die ihm aus politischen Gründen auf ge-
drängte Tochter des Herzogs von Bourbon, verschmähte und seiner
Geliebten, der schönen Spanierin Maria de Padilla, den Vorzug gab.
Aus diesem Anlaß entbrannte bei Hofe ein Kampf, in dem die Partei-
gänger der Französin denen der Spanierin gegenüberstanden. Zu die-
sen letzteren gehörte auch der Schatzmeister Samuel Abulafia und
mit ihm die gesamte kastilische Judenheit, die allen Grund zu der Be-
fürchtung hatte, daß die französische Prinzessin die spanische Re-
gierung mit dem in ihrer Heimat herrschenden judenfeindlichen Geist
infizieren würde. Die franzosenfreundliche Hofpartei entschloß sich
nun, den König gewaltsam zu beseitigen, wobei auch Abulafia einem
der angezettelten Komplotte beinahe zum Opfer gefallen wäre: die
Verschwörer lockten ihn mitsamt dem König in die Festung Toro
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
und hielten dort beide gefangen, indessen gelang es ihnen später durch
Flucht zu entkommen. Die einseitige Parteinahme der Juden in dem
sich immer mehr verschärfenden dynastischen Streite wuchs inzwi-
schen für die jüdischen Gemeinden Kastiliens zu einer schweren Ge-
fahr aus, und als dieser Kampf in einen langwierigen Bürgerkrieg
ausartete, sahen sich die kastilischen Juden in die fürchterliche Lage
einer zur Abwehr ungerüsteten „kriegführenden Partei“ versetzt Das
Unheil brach zuerst über die jüdischen Einwohner der Hauptstadt
Toledo herein. Am Sonnabend, den 7. Mai i355 brachen die Banden
des Prinzen Heinrich in das jüdische Viertel ein, machten zahlreiche
Einwohner nieder (dem Berichte des Chronisten zufolge belief sich
die Zahl der Opfer auf 1200) und plünderten die Läden aus, doch
gelang es schließlich, mit Hilfe einer Schar königstreuer Ritter den
Ansturm gegen die Hauptstraßen der „Juderia“ zurückzuschlagen.
Einige Jahre später sollte der Mann, der die Juden ohne ihren
Willen in den politischen Kampf mithineingezogen hatte, jäh zu Falle
kommen. Als königlicher Schatzmeister ging nämlich Samuel Abm-
lafia bei der Beschaffung von Geldmitteln für seinen Herrn mit aller
Rücksichtslosigkeit vor und erkaufte so die Anerkennung des Königs
mit dem Unwillen des Volkes. Es entstand das Gerücht, daß der Mi-
nister nicht nur für den König, sondern auch zu seinen eigenen Gun-
sten dem Volke die Steuern abpresse. In einer zeitgenössischen kasti-
lischen Chronik (von Ayala) heißt es: „Die Juden saugen das Blut
der unterjochten Christen aus und lechzen nach Beute, der sie sich
durch Steuerpacht bemächtigen. Don Abraham und Don Samuel er-
reichen beim König durch ihre honigsüßen Reden alles, was sie wol-
len“. Dem im Wohlleben schwelgenden Abulafia entging jedoch das
unheilverkündende Wetterleuchten. Er lebte mit fürstlichem Pomp
in seinem Palaste zu Toledo, wo achtzig maurische Sklaven auf sein
Wort hörten. Um seinen Namen zu verewigen, ließ er*im Jahre i357
in der Hauptstadt eine prächtige Synagoge erbauen, deren Mauern
mit Arabesken und Inschriften zu Ehren des Stifters geschmückt wa-
ren. (Diese Arabesken zieren noch heute die Wände der katholischen
Kirche, in die die Synagoge von Toledo nach der Vertreibung der
Juden aus Spanien umgewandelt wurde.) Der auf seinen posthumen
Ruhm so sehr bedachte jüdische Grande kümmerte sich aber nur we-
nig um seine augenblickliche Sicherheit, obwohl die Zeitläufte kei-
neswegs günstig waren und sich von allen Seiten das giftige Zischen
§ 3U. Die Juden im kastilischen Bürgerkrieg
der Fremden und sogar seiner eigenen Stammesgenossen vernehmen
ließ. Es wird nämlich berichtet, daß einige von Neid getriebene Juden
dem König hinterbracht hätten, daß sein Schatzmeister sich auf Ko-
sten der Staatskasse bereichere. Es geschah nun, was schon oft in
solchen Fällen zu geschehen pflegte: nachdem der König durch den
in der Person des jüdischen Schatzmeisters verkörperten Steuerappa-
rat aus der Bevölkerung ungeheure Summen herausgepreßt hatte,
vermochte er der Versuchung nicht zu widerstehen, auch diesen Appa-
rat selbst zu leeren, an dem, wie er glaubte, manches von den jahre-
lang eingesammelten Abgaben haften geblieben sein mochte. Die bei
Samuel Abulafia vorgenommene Haussuchung förderte jedenfalls un-
ermeßliche Reichtümer ans Tageslicht: Hunderttausende von Gold-
und Silbermünzen sowie viele Truhen mit unzähligen Kostbarkeiten.
Nicht gering war auch der Fund, den man in den Gewölben unter
dem Palaste des jüdischen Magnaten machte. Die Schätze gehörten
allerdings nicht allein Samuel, sondern auch seinen Verwandten; des-
ungeachtet ließ Pedro sowohl den Schatzmeister als auch seine An-
gehörigen verhaften. Samuel wurde nach Sevilla gebracht und in ein
Gefängnis geworfen, wo man ihm auf der Folterbank eine Aussage
über noch anderweitig vergrabene Schätze abzuzwingen suchte. Durch
die Tortur völlig entkräftet, starb Samuel im Jahre i36o, nachdem
er zehn Jahre lang ein unnützes, von eitlem Glanz umgebenes Leben
in jenen „höchsten Sphären“ geführt hatte, die so häufig von den
allerniedrigsten Leidenschaften erfüllt sind. Das gesamte Vermögen
des Samuel sowie seiner Angehörigen fiel aber dem königlichen
Schatze zu.
Es stand zu befürchten, daß nach dem Sturze des jüdischen Mi-
nisters die Beziehungen zwischen dem König und den jüdischen Ge-
meinden sich trüben würden, doch war dies nicht der Fall. Die Ju-
den, die zu Beginn des Bürgerkrieges für Pedro Partei ergriffen hat-
ten, hatten auch in seinem weiteren Verlauf für den aufrührerischen
Kronprätendenten Heinrich nichts übrig. Der Bruderzwist hatte sich
aber inzwischen noch mehr verschärft. Die grausame Handlungsweise
des Königs, der die von ihm verschmähte Gattin Bianca im Gefängnis
meuchlings ermorden ließ, gab der von der feindlichen Partei im
Lande und in den Nachbarstaaten entfachten Agitation neue Nahrung.
In Kastilien war es namentlich die „Freundschaft des Pedro für die
Juden“, die man dem König zum Vorwurf machte. Es wurden Ge-
16 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
241
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
rüchte ausgesprengt, daß zwei Juden an der Ermordung der Königin
mitbeteiligt gewesen seien (viele der damals in Umlauf gebrachten Fa-
beln fanden ihren Widerhall in den späteren französischen Romanzen,
die die Tragödie der Prinzessin von Bourbon zum Gegenstände ha-
ben). Um den König noch mehr verhaßt zu machen, verbreitete man
das Märchen, Pedro wäre selbst Jude. Man erzählte nämlich, daß
Alfons XI. über seine Gattin ungehalten gewesen sei, weil sie ihm
lauter Mädchen gebar; daher hätte einst die Königin, als sie wieder
von einem Mädchen entbunden worden war und den Zorn ihres Gat-
ten fürchtete, mit Hilfe ihrer Hebamme statt des neugeborenen Kin-
des irgendeinen jüdischen Knaben unterschoben. Dieser falsche Kö-
nigssohn eben sei es gewesen, der später unter dem Namen Pedro den
Thron bestiegen hätte. Solche Erfindungen hatten keine geringe Wir-
kung auf den Verlauf des dynastischen Kampfes. Heinrich warf den
Kastiliern immer wieder höhnisch vor, daß sie von einem Juden
regiert würden, und bekräftigte seine Behauptung durch den Hinweis
auf die Pedro im Bürgerkrieg von jüdischer Seite zuteil gewordene
Unterstützung.
In der Tat hielten die Juden treu zu dem rechtmäßigen König,
um so mehr als sein Nebenbuhler Heinrich sich auf die ihnen feind-
liche klerikale Partei stützte. Bei der Belagerung der königstreuen
Städte durch die Truppen des Thronanwärters beteiligten sich die
jüdischen Gemeinden an der Abwehr der Aufrührer, wofür sie nicht
selten mit ihrem Leben oder Vermögen büßen mußten. So wurde in
Birviesca, in der Nähe von Burgos, nachdem die Stadt von den Auf-
rührern nieder gerungen worden war, die gesamte aus 200 Familien
bestehende jüdische Gemeinde restlos ausgerottet In Burgos selbst
berieten die drei dort vertretenen Bevölkerungsgruppen, Christen, Ju-
den und Muselmanen, darüber, ob man die Stadt dem herannahenden
Heere Heinrichs übergeben oder sich verteidigen solle. Die Christen
entschieden sich auf Zureden des Erzbischofs für die Übergabe und
ihnen schloß sich auch der muselmanische Bevölkerungsteil an; die
Juden bedangen sich aber, ehe sie an die Beschlußfassung gingen,
das Recht aus, falls ihr Entschluß mit dem der übrigen Stadtbewoh-
ner nicht übereinstimmen sollte, die Stadt verlassen und nach Ara-
gonien oder Portugal auswandern zu dürfen, stimmten indessen
schließlich dennoch für die Übergabe. Trotzdem legte Heinrich der
jüdischen Gemeinde nach seinem Einzug in Burgos (i366) eine
242
§ 35. Die Erfolge der klerikalen Reaktion
schwere Kontribution auf, deren Aufbringung sogar den Verkauf der
Verzierungen der Thorarollen notwendig machte. Später gelang es
Pedro mit Beistand der Truppen des englischen „schwarzen Prinzen“
und des Emirs von Granada, seinem Widersacher für eine Zeitlang eine
Reihe von Städten wieder zu entreißen. Unter diesen wechselvollen
Kämpfen hatten die Juden nicht wenig zu leiden. So wurde der Ge-
meinde von Burgos im Laufe des Krieges noch einmal eine Kontri-
bution in Höhe von einer Million Maravedi auferlegt, diesmal für die
Erlaubnis, in der Stadt zu verbleiben. An manchen Orten war es die
christliche Bevölkerung selbst, die ihre jüdischen Mitbürger über-
fiel, sie ausplünderte und die Synagogen zerstörte (so in Valladolid).
Die jahrelangen Wirren sollten erst i36g ein Ende nehmen. Die
Truppen des Heinrich belagerten Toledo. Trotz der in der belagerten
Hauptstadt herrschenden Hungersnot setzten sich die Juden gemein-
sam mit der christlichen Bevölkerung tapfer zur Wehr1). Doch galt
jetzt der Kampf einer verlorenen Sache. Im März desselben Jahres
trug Heinrich bei Montiel einen entscheidenden Sieg über seinen Tod-
feind davon. Als der unterlegene Pedro mit Heinrich zusammentraf,
rief dieser aus: „Da ist er ja, dieser Jude, der Hurensohn, der sich
König von Kastilien nennt!“ Auf die Forderung des Befehlshabers
der französischen Truppen hin wurde dann der unglückliche Pedro
enthauptet. Als Papst Urban V. davon Kenntnis erhielt, ließ er die
Bemerkung fallen: „Die Gläubigen können sich darüber nur freuen,
daß dieser Tyrann, der sich gegen die Kirche erhob, Juden und Sara-
zenen aber begünstigte, nun sein Ende gefunden hat“.
§ 35. Die Erfolge der klerikalen Reaktion
Der aus dem Bürgerkrieg als Sieger hervorgegangene Heinrich II.
(1369—J^79) zahlte den Juden ihre Treue Pedro gegenüber da-
mit heim, daß er ihre schon während der Wirren ruinierten Gemein-
den aufs neue brandschatzte. Die Eintreibung der Kontribution war
1) Der zeitgenössische Schriftsteller Samuel Zarza (Garca) berichtet: „Die
heilige Gemeinde von Toledo, die Krone Israels, verlor im Laufe von zwei Mo-
naten während der Belagerung der Stadt durch Don Heinrich mehr als zehn-
tausend Menschen, die an Hunger, Not und Kummer zugrunde gingen ... Von
Hunger geplagt, nagten die Belagerten am Pergamente der heiligen Bücher, kau-
ten Leder und Wolle. Viele zogen den Tod durch das Schwert dem Hungertode
vor und stürzten sich aus der Stadt in das feindliche Lager“ . . .
16*
243
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
namentlich in Toledo von unerhörten Gewalttaten begleitet: man be-
raubte die Armen ihrer letzten Habseligkeiten und scheute sich nicht,
die mittellosen Gemeindemitglieder ins Gefängnis zu werfen, zu fol-
tern, ja in die Sklaverei zu verkaufen. Der von der klerikalen Partei
und dem Adel schon längst gehegte Plan einer sozialen Degradierung
der Juden konnte jetzt mit viel größerem Erfolge als ehedem in die
Tat umgesetzt werden. Die in Toro zusammengetretenen Cortes
(1371) verlangten die Ergreifung folgender Maßnahmen gegen den
„bösen und frechen Stamm“: die Juden sollten keinerlei Ehrenämter
an der Seite des Königs oder der Granden bekleiden, zu der Steuer-
und Zollpacht nicht zugelassen werden, abgeschieden von den Chri-
sten leben, das von den Kirchenkonzilen festgesetzte Zeichen auf dem
Obergewande tragen, sich nicht in prunkvoller Tracht auf der Straße
zeigen, nicht auf Maultieren reiten und keine christlichen Namen
führen. Der König kam diesen Forderungen insofern entgegen, als
er den Juden in der Tat die Führung christlicher Namen untersagte
und das Zeichen auf dem Gewände für sie obligatorisch machte. Die
letzte Verordnung traf die an bürgerliche Freiheit gewöhnten kastili-
schen Juden besonders schwer und sie werden ihr wohl keine Folge
geleistet haben. Überdies fügte Heinrich II. den Juden auch einen
beträchtlichen materiellen Schaden zu, indem er die ihnen von Chri-
sten geschuldeten Summen um ein Drittel reduzierte.
Dies war aber auch die äußerste Grenze, bis zu der der König in
seinen antijüdischen Repressalien ging. Er war sich der wichtigen
Rolle, die die Juden im wirtschaftlichen Leben des Landes spielten,
viel zu sehr bewußt, um sie völliger Rechtlosigkeit und dem Ruin
preiszugeben. Konnte er doch selbst die Dienste der jüdischen Finanz-
männer nicht entbehren. Auf die von den Cortes eingelegte Verwah-
rung gegen die Einsetzung von Juden in Finanzverwaltungsämter
erwiderte der König, daß er hierbei nur in den Fußstapfen seines
seligen Vaters Alfons XI. sowie dessen Vorgänger wandle. So nahm
er denn keinen Anstand, zum Hauptsteuereinnehmer von Kastilien den
Juden Joseph Pichon aus Sevilla zu ernennen, während zugleich auch
noch ein anderer, aus derselben Stadt stammender Jude, Samuel
Ahravanel, bei Hofe großes Ansehen genoß.
Die breiten jüdischen Volksmassen vermochten jedoch aus die-
ser Bevorzugung Einzelner kaum großen Nutzen zu ziehen. Die jüdi-
schen Würdenträger in Spanien ermangelten schon lange jener Tu-
*44
§ 35. Die Erfolge der klerikalen Reaktion
genden, die ihren Vorgängern vom Schlage eines Chasdai ihn Schaprut
oder Samuel ha’Nagid zu so hohem Ruhme gereichten. Waren doch
die Würdenträger der neuesten Prägung vor allem darauf bedacht, in
Luxus zu schwelgen, glanzvoll aufzutreten und es überhaupt in jeder
Weise den kastilischen Granden gleichzutun. Sie beachteten kaum,
daß sie durch ihre Lebensweise nur Neid und Haß bei der christlichen
Bevölkerung erweckten, die sich sagen mußte: „Wie wissen doch die
Juden sich zu bereichern; bald werden sie alle miteinander Granden
werden!“ Der rasche wirtschaftliche Aufstieg einzelner Juden, der
nicht immer mit einwandfreien Mitteln erreicht zu werden pflegte,
wurde der gesamten Judenheit zur Last gelegt. Daß an der Hoch-
finanz jener Zeit in der Tat viel auszusetzen war, erfahren wir übri-
gens auch aus einer jüdischen Quelle, von dem Schriftsteller der fol-
genden Generation Salomo Alami, der in seiner i4i5 verfaßten „Be-
zichtigungsschrift“ („Iggereth ha’mussar“) folgendes zu erzählen
weiß: „Es war durchaus kein ehrliches Leben, das viele Repräsen-
tanten unserer Gesellschaft führten, jene Vornehmen, die sich an den
königlichen Höfen als Führer (der Judenheit) auf spielten. Die Kö-
nige erhoben sie zu hohen Ämtern, vertrauten ihnen die Schlüssel
ihrer Schatzkammern an, sie aber wurden durch den ihnen zuteil ge-
wordenen Reichtum hochnäsig und wollten sich an ihre einstige Ar-
mut und Erniedrigung nicht mehr erinnern. Sie ließen sich Paläste
erbauen, spannten vor ihre Wagen die herrlichsten Maultiere, ihre
Frauen und Töchter begannen sich gleich vornehmen Damen aufzu-
putzen und mit ihrem Schmuck zu protzen. Diese Leute waren voller
Verachtung für Wissenschaft, Arbeit und Handwerk und zogen ihnen
Müßiggang, Hochmut und gleisnerischen Prunk vor . . . Zugleich
waren sie von gegenseitiger Mißgunst erfüllt und verleumdeten ein-
ander vor den Königen und Großen, ohne zu merken, daß sie sich da-
durch selbst ins Verderben stürzten . . . Die kleinen Leute wurden
aber von ihnen ausgebeutet und geplündert. Sie trachteten allein da-
nach, die Steuerlasten von sich auf die Unbemittelten abzuwälzen.
Durch ihr ganzes Benehmen entwürdigten sie sich in den Augen ihrer
Feinde, die nur auf die Gelegenheit warteten, um sich ihrer zu ent-
ledigen und sie mit Schimpf und Schmach aus den Palästen der Kö-
nige und der Großen zu vertreiben“.
Diese unverblümte Schilderung eines Zeitgenossen wirft ein helles
Licht sowohl auf die Geschicke der jüdischen Hof würden träger frü-
245
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
herer Zeit als auch auf das tragische Las des unter Heinrich II. zum
Hauptsteuereinnehmer auf gerückten Juden Joseph Pichon. Während
aber jene infolge von Hofintrigen oder tatsächlich begangenen Amts-
verbrechen das königliche Vertrauen einbüßten und im Kerker ihr
Ende fanden, sollte Pichon von der jüdischen Gemeinschaft selbst
gerichtet werden. Die Unbeliebtheit des Pichon unter seinen Stam-
mesgenossen ging wohl auf die von den ihm unterstellten Steuerein-
nehmern, namentlich bei der Eintreibung der erwähnten Kriegskontri-
bution, verübten Gewalttaten zurück. Eines Tages hinterbrachten die
Feinde des Pichon dem König Heinrich, daß der Hauptsteuereinneh-
mer sich die Unterschlagung von Staatsgeldern zuschulden kommen
lasse. Der König befahl darauf, Pichon in Haft zu nehmen und ihm
eine schwere Geldstrafe aufzuerlegen, bereute aber dann seine Strenge
und setzte den jüdischen Finanzmann in sein früheres Amt wieder
ein. Der rachsüchtige Pichon beeilte sich nunmehr, die ganze kastili-
sche Judenheit beim König zu denunzieren. Als das Rabbinergericht
von Sevilla, dessen Gemeinde Pichon angehörte, davon Kunde erhielt,
verhängte es gegen ihn als einen „Malschin“ (Denunziant, Verräter)
auf Grund der autonomen jüdischen Gerichtsbarkeit die Todesstrafe.
Es geschah dies kurz vor dem Tode des königlichen Gönners des Pi-
chon, Heinrichs II. Das Urteil des rabbinischen Gerichts wurde daher
schon dem neuen König Juan I. und zwar gerade während der Krö-
nungsfeierlichkeiten zur Konfirmierung unterbreitet. Ohne der Sache
tiefer auf den Grund zu gehen, setzte der König seinen Namenszug
unter das Gerichtsurteil. Unmittelbar darauf erschienen im Hause
des Pichon in Sevilla in Begleitung der Bevollmächtigten des rabbini-
schen Gerichts einige Polizeiagenten, die das Urteil auf der Stelle voll-
streckten. Als dem König später die Einzelheiten des verübten Selbst-
justizaktes durch die Freunde des Pichon zu Ohren gebracht wurden,
gab er Befehl, den jüdischen Richter mit dem Tode zu bestrafen und
dem Polizeichef von Sevilla eine Hand abzuhauen.
Der Vorfall zog auch Folgen allgemeineren Charakters nach sich.
Der König Juan entzog den Rabbinern die peinliche Gerichtsbarkeit,
so daß sie fortan die Mitglieder ihrer Gemeinden weder zum Tode,
noch zur Leibesverstümmelung, noch auch zur Deportation verurtei-
len durften. Es entsprach dies dem von den Cortes zu Soria geäußer-
ten Wunsche (i38o). Die Cortes von Valladolid gingen noch weiter
und verlangten, daß den jüdischen Gemeinden auch die zivile Ge-
246
§ 35. Die Erfolge der klerikalen Reaktion
richtsbarkeit sowie überhaupt das Recht, Wahlrichter, „Alkalden“,
zu bestellen, entzogen werde, doch weigerte sich der König, an dieser
Grundfeste der jüdischen Autonomie zu rütteln. Ebenso widersetzte
er sich den Forderungen, die auf eine völlige Unterdrückung des
jüdischen Kreditgeschäftes und auf die Aufhebung des den jüdischen
Gläubigern den Christen gegenüber gewährleisteten Rechtsschutzes
hinausliefen. Hingegen sah sich der König genötigt, der Partei der
Klerikalen und der Adligen in einem anderen Punkte nachzugeben,
in dem sich sein Vater Heinrich als durchaus unnachgiebig erwiesen
hatte. Er versprach, fürderhin keine Juden mehr als Finanzagenten
oder Steuerpächter an seinem und des Infanten Hofe anzustellen
(i385). Seit dieser Zeit treten uns in der Tat jüdische Schatzmeister
und „Almojarifen“ am kastilischen Hofe immer seltener entgegen.
Darüber hinaus machte Juan auch der Geistlichkeit manche Kon-
zessionen: er untersagte den Juden, näheren Umgang mit Christen zu
pflegen, christliche Wärterinnen und Ammen zu halten, sogar die
ungläubigen Mauren zum jüdischen Glauben zu bekehren und schließ-
lich jenes Fluchgebet zu sprechen, das der Renegat Abner-Alfons sei-
nerzeit zum Gegenstand einer Denunziation gemacht hatte (oben,
§ 33).
Der Klerikalismus faßte eben in den höheren Kreisen der kasti-
lischen Gesellschaft immer festere Wurzeln. So gelang es denn den ka-
tholischen Priestern, die Erlaubnis zu erwirken, jüdische Gelehrte zu
öffentlichen Disputationen aufzufordern. Die Parteien waren frei-
lich bei solchen Wettkämpfen durchaus nicht gleich gestellt: wäh-
rend nämlich die Priester die Glaubenslehren des Judaismus nach
Belieben mißdeuten durften, mußten sich die Rabbiner in ihrer Kri-
tik der christlichen Dogmen größte Zurückhaltung auferlegen, da sie
stets den Zorn der Machthaber oder die Wutausbrüche der Menge zu
befürchten hatten. Bei diesen religiösen Diskussionen pflegte die
christliche Geistlichkeit gewöhnlich getaufte Juden als ihre Wort-
führer vorzuschieben, und so arteten die Disputationen, wie schon
früher in Frankreich und Aragonien, auch hier gar oft in ein öf-
fentliches Ketzergericht über das grundlos verleumdete Judentum aus.
Als ein solcher öffentlicher Ankläger des Judentums tat sich um jene
Zeit in Kastilien besonders der „neubekehrte“ Missionar Johann aus
Valladolid (Johannes Conversus) hervor. Er war es, der auf der im
Beisein des Erzbischofs von Toledo in Burgos veranstalteten Dispu-
247
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
tation voll Eifer den Angriff gegen das von ihm verratene Judentujn
führte; mit nicht geringerem Eifer trat er in Avila auf, wo die Dispu-
tation in der katholischen Kirche vor der gesamten jüdischen Ge-
meinde und vor vielen Christen und Muselmanen stattfand (1875).
Von jüdischer Seite trat dem Johannes Moses de Tordesillas entgegen,
der nicht nur ein großer Kenner der jüdischen, sondern auch der
christlichen Theologie war. Später gab Moses den Verlauf der Dis-
putation in einer Schrift wieder, die den Titel „Stütze des Glaubens4
(„Eser ha’emuna“) führte. Als er seine als Leitfaden für Disputan-
ten gedachte Schrift der Gemeinde von Toledo zuschickte, erteilte er
in einem Begleitschreiben, wohl auf Grund seiner eigenen Erfahrun-
gen, den Rat, bei religiösen Diskussionen scharfe Ausdrücke nach
Möglichkeit zu vermeiden, denn „die Christen — schrieb er — sind
die Herren der Macht und vermögen es, mit einem einzigen Faustschlag
die Wahrheit zum Schweigen zu bringen“. Um die gleiche Zeit dis-
putierte der Kardinal Pedro de Luna, der später als Benedikt XIII.
die päpstliche Tiara trug, mit dem jüdischen Theologen Schemtob
Schaprut über das Erlösungsdogma. Durch seine Erlebnisse in Tar-
ragona, dem Stammsitze des aragonischen Erzbischofs, wo häufig
Kirchenversammlungen stattfanden, angeregt, verfaßte Schemtob un-
ter dem Titel „Eben bochan“ (Der Prüfstein) eine umfangreiche
Apologie des Judaismus. „Viele unserer Glaubensgenossen — so sagt
er in der Vorrede zu, dieser Schrift — verlassen unsere Reihen und
verfolgen uns durch ihre polemischen Ausfälle, indem sie aus ver-
schiedenen Versen der Heiligen Schrift und der talmudischen Hag-
gada Beweise für die Wahrheit ihres (christlichen) Glaubens an-
führen. Diese Leute stellen uns Fallen, um uns in den Augen der Chri-
sten, unserer Herren, herabzuwürdigen. Andererseits suchen auch viele
Gelehrte unter den echten Christen, uns in unliebsame Disputatio-
nen zu verwickeln“. Die von Schemtob verfaßte Apologie (i38o)
sollte nun die jüdischen Disputanten vor den von den Gegnern ge-
legten Schlingen warnen und behüten.
So nistete sich in einer Bevölkerung, an deren allgemein-politi-
schem Leben sich die Juden noch vor kurzem als vollwertige Bürger
beteiligt hatten, nach und nach der Geist konfessioneller Feind-
schaft ein. Die Agitation der Dominikaner und der sonstigen Verfech-
ter des Klerikalismus wirkte zwar langsam, aber mit um so größerer
Sicherheit. Die klerikale Reaktion höhlte gleich einem Wurm die
a48
§ 36. Aragonien, Navarra, Portugal
Wurzeln der gesamten gesellschaftlichen Ordnung des Landes aus,
um dieses gleichsam in die längst entschwundene düstere Westgoten-
zeit zurückzuversetzen. Die Folgen dieses Umschwungs in Spanien
zeigen sich gegen Ende des XIV. Jahrhunderts in einer Reihe von
Katastrophen, die nur mit den Schrecken der Kreuzzüge in Mittel-
europa verglichen werden können (unten, § 37).
§ 36. Aragonien, Navarra, Portugal
Im Gegensatz zu Kastilien, wo die der jüdischen Hochfinanz ge-
genüber geübte Politik die ganze Judenheit in den Kampf der poli-
tischen Parteien und der Stände mithineinzog, pflegten die Könige Ara-
goniens im XIV. Jahrhundert den jüdischen Finanzmagnaten keine ver-
antwortungsvollen Posten anzuvertrauen. Vielmehr nahmen sich hier
die Landesherren den grundlegenden kirchlichen Kanon zur Richt-
schnur, demzufolge ein Jude nie zu einer Stellung befördert werden
sollte, die ihm Macht über Christen verlieh. So blieb in Aragonien
noch immer jenes System vorherrschend, das im XIII. Jahrhundert
von dem König Jakob I. und seinen Nachfolgern eingeführt wor-
den war (oben, §§ 10 u. i3). Die Könige standen in unmittelbarer
Verbindung mit den „Aljamas“ und erledigten ihre finanziellen Ge-
schäfte mit diesen gleichsam nach privatwirtschaftlichen Grund-
sätzen: sie ließen sich auf Rechnung verschiedener noch nicht fälli-
ger Abgaben Vorschüsse und Anleihen bewilligen, trieben regen Han-
del mit dem Regnadigungsrecht (der „Remission“), mit der Stun-
dung von Privatschulden sowie mit der Gewährung von allerlei Ausf-
nahmebegünstigungen an einzelne Personen und ganze Gemeinden.
Als sich einst der Rischof von Tarragona der Erhebung einer außer-
ordentlichen Kontribution bei den in seiner Diözese lebenden Juden
widersetzte, erinnerte ihn Jakob II. (Jaime, 1291 —1827), ganz
nach Art der deutschen Kaiser, daran, daß alle Juden „königliches
Eigentum“ (res propria camerae nostrae) seien. Dieser König trieb
das Bevormundungssystem so weit, daß er sich nicht selten in die
Gemeindewahlen, in die Geldstreitigkeiten, ja sogar in die Familien-
angelegenheiten „seiner Juden“ einmischte. Da mit dem Zuwachs der
jüdischen Bevölkerung auch die „jüdischen Einkünfte“ wachsen muß-
ten, so nahm Jakob II. die im Jahre i3o6 heimatlos gewordenen
französischen Exulanten gern in Aragonien auf. Schon im August
249
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
dieses Jahres gestattete er der Gemeinde von Barcelona, sechzig Ver-
bann tenfamilien Zuflucht zu gewähren und erstreckte später diese
Erlaubnis auch auf andere Städte. Als Herr der französischen Stadt
Montpellier teilte sich zwar Jakob II. mit dem französischen König
Philipp dem Schönen in den Gewinn, der von diesem beim Verkauf
der beschlagnahmten jüdischen Häuser erzielt worden war (1807),
doch wollte er in seinem aragonischen Stammlande selbst weder Will-
kürmaßnahmen der Behörden noch Volksexzesse dulden. Als während
des „Kreuzzuges“ der Pastorellen im Jahre i320, durch den die jü-
dischen Gemeinden Frankreichs so schwer in Mitleidenschaft gezogen
wurden (unten, § 39), die Banden der Fanatiker in das benachbarte
Aragonien einbrachen und dort die jüdischen Gemeinden in den
Städten Jaca und Montclus verheerten, so daß die Gefahr auch für
die anderen Gemeinden akut wurde, unterdrückte der Infant Alfons
auf königlichen Befehl mit raschem Zugriff die um sich greifende
Bewegung und trieb die französischen Mordbrenner aus dem Lande.
Viele vor den neuen Schrecken aus Frankreich geflüchtete Juden fan-
den ein Asyl in den Besitzungen der aragonischen Feudalherren. Viel
schwerer war es, der in eine Massenpsychose ausgearteten Volksbe-
wegung des Jahres i348 Herr zu werden, als nach Spanien zusam-
men mit der wütenden Pest, dem sogenannten „Schwarzen Tod“, aus
den anderen europäischen Ländern auch die Seuche des Judenhasses,
die Fabel von der Quellen- und Brunnenvergiftung durch die Ju-
den eindrang (unten, § 44)- Im Juni i348 hatte bereits in Bar-
celona ein Judengemetzel begonnen, das von den Stadtbehörden nur
mit größter Anstrengung unterdrückt werden konnte. Noch größeren
Schaden erlitten die anderen Gemeinden Kataloniens: Lerida, Ge~
rona, Tarragona, Cervera, wo Hunderte von Juden der Raserei der
Christen zum Opfer fielen und der jüdische Besitz völlig ausgeplün-
dert wurde. Die Katastrophe scheint auf ihren katalonischen Herd
beschränkt worden zu sein und die übrigen Provinzen nicht berührt
zu haben.
Den aragonischen Gebietern des XIV. Jahrhunderts standen zwar,
wie erwähnt, keine jüdischen Finanzagenten als „Staatsschatzmeister“
zur Seite, doch pflegten auch sie in weniger exponierte Ämter häufig
Juden einzusetzen. So wird in den königlichen Akten wiederholt jü-
discher Leibärzte, Dolmetscher sowie diplomatischer Zwischenträger
Erwähnung getan, die an den Höfen der maurischen Herren von
2 00
§ 36. Aragonien, Navarra, Portugal
Granada und Marokko verschiedene Aufträge auszuführen hatten.
Auch unter den reichen Kaufleuten oder den dienstfertigen Gemeinde-
häuptern erfreuten sich manche der königlichen Gunst. Indessen wa-
ren die aragonischen Herrscher zugleich eifrig darauf bedacht, keine
Mißstimmung bei der katholischen Geistlichkeit hervorzurufen. Die
Könige Alfons IV. und Pedro IV. (1827—i38o) hielten sich daher
formell an die an ti jüdischen Kirchenregeln. So mahnten sie in ihren
Erlassen immer wieder daran, daß die Juden verpflichtet seien, „um
sich an öffentlichen Orten kenntlich zu machen“, einen Überwurf
von besonderem Schnitt (capa) oder einen bunten Fleck auf dem
Obergewand zu tragen. Nur die Hofärzte, Dolmetscher und die diplo-
matischen Vertrauenspersonen wurden von der Stigmatisierung be-
freit; der König Sancho von Mallorca dispensierte überdies auch die
reisenden Großkaufleute vom Tragen des Abzeichens, da dies für sie
„angesichts der fast allgemeinen Feindseligkeit gegenüber den Ju-
den“ mit Belästigungen, ja mit Lebensgefahr verbunden war (i323).
Die aragonische „Inquisition zur Ausrottung der Irrlehren“ wachte
ihrerseits sorgsamst darüber, daß jüdische Konvertiten zu ihrem frü-
heren Glauben nicht zurückkehrten, und zwang die Könige, den Täuf-
lingen jeden Verkehr mit ihren früheren Glaubensgenossen streng-
stens zu untersagen. Die Inquisitionsrichter schleppten nicht selten
der „Verführung“ der Christen oder des Zusammenlebens mit Chri-
stinnen bezichtigte Juden vor ihr grausiges Tribunal und verurteilten
sie zum Tode und zur Vermögenseinziehung; doch pflegte der König,
allerdings gegen ein entsprechendes Lösegeld, die Verurteilten zu be-
gnadigen oder die über sie verhängte Strafe wenigstens zu mildern.
Die predigenden Brüder aus dem Dominikanerorden suchten nach
wie vor die jüdischen Stadtviertel auf, um dort, nicht selten sogar in
den Synagogen, ihre Missionspredigten zu halten, denen die Juden
auf königlichen Befehl beiwohnen mußten; nur wenn die Missionare
in den Kirchen auftraten, wo die jüdischen Zuhörer Beleidigungen
von seiten der Christen ausgesetzt waren, wurden sie von dieser Ver-
pflichtung entbunden. Die den Predigten beiwohnenden Juden waren
außerdem zur Beantwortung der von den Predigern an sie gerichteten
Fragen verpflichtet. Nicht selten traten in der Rolle von Missionaren
jüdische Renegaten auf, und in solchen Fällen mochten die Ant-
worten der Juden wohl kaum besonders ehrerbietig gewesen sein.
Gegen die Beleidiger der Neophyten wurden jedoch strenge Maßnah-
2 51
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
men ergriffen: es war ausdrücklich untersagt, die Neubekehrten mit
dem Schmähnamen „Überläufer“ (tornado) zu kennzeichnen. Gleich-
wie in Kastilien wächst jetzt der Klerikalismus auch in Aragonien
zu einer immer bedrohlicheren Macht an. Die von den Dominikanern
ausgestreute Saat sollte auch hier gegen Ende dieses Jahrhunderts
eine blutige Ernte zeitigen.
Diesem feindlichen Ansturm von außen setzte die aragonische Ju-
denheit ihre schon im XIII. Jahrhundert ins Leben gerufene Orga-
nisation der autonomen Gemeinden entgegen (oben, § n). Im Jahre
i354 wurde der Versuch gemacht, die Gemeinden in allen Teilen des
Königreichs, in den Provinzen Katalonien, Valencia, Aragonien und
auf den Balearen zu einem einheitlichen Verbände zusammenzu-
schließen. Die Ziele des zu gründenden Verbandes wurden auf einem
von den zwei ersten Provinzen beschickten Gemeindevertretertag in
folgender Weise umschrieben: durch den Zusammenschluß sollte den
Gemeinden die Möglichkeit gegeben werden, ihre Mitglieder vor den
sie bedrückenden weltlichen und kirchlichen Gesetzen sowie vor der
Willkür der Beamten und den Exzessen der Menge in Schutz zu neh-
men, ferner gegen das Erzübel des Denunziantentums anzukämpfen
und das innere Gemeindeleben überhaupt in geregelte Bahnen zu lei-
ten. Aus unbekannten Gründen blieb jedoch dieser Plan der natio-
nalen Kräftesammlung zum größten Nachteil für die aragonische Ju-
denheit, die unmittelbar vor schweren Heimsuchungen stand, unver-
wirklicht.
Unruhvolle Zeiten hatten auch die jüdischen Gemeinden des halb
spanischen, halb französischen Navarra durchzumachen. Seit der zwei-
ten Hälfte des XIII. Jahrhunderts von Herrschern aus einem fran-
zösischen Hause regiert, wurde Navarra von den der französischen
Metropole beschiedenen Erschütterungen nicht selten in Mitleiden-
schaft gezogen. Die jüdischen Gemeinden von Pamplona, Tudela,
Estella und anderen Städten stöhnten gleich den Schwestergemeinden
in Frankreich unter den von dem frommen Ludwig IX. und dem
habgierigen Philipp dem Schönen unternommenen Requisitionen. Des-
ungeachtet wuchs die Zahl der Juden in Navarra immer mehr an,
namentlich infolge der im Jahre i3o6 einsetzenden Zuwanderung
der französischen Exulanten. Von Norden zogen aber auch schwere,
verheerende Gewitter herauf. So brachen von Frankreich her im Jahre
i32i nach Navarra die rasenden Horden der Pastorellen ein, um die
2Ö2
§ 36. Aragonien, Navarra, Portugal
blühende Gemeinde von Tudela der Zerstörung preiszugeben. Im Jahre
i32 8 setzte in Navarra ein Interregnum ein, während dessen die von
den Franziskanern auf gepeitschten Volksleidenschaften sich mit gan-
zer Wucht gegen die Juden wandten. In der Stadt Estella umzingelte
die wütende Menge das jüdische Viertel; die darin eingeschlossenen
Juden leisteten verzweifelten Widerstand, doch eilten dem Stadtmob
Scharen von Bauern aus den benachbarten Dörfern zu Hilfe, und so
wurde das Juden viertel bald erstürmt, worauf alle jüdischen Häu-
ser eingeäschert und fast sämtliche Einwohner niedergemetzelt wur-
den. Auch in einigen anderen Städten kam es zu mehr oder weniger
blutigen Judenverfolgungen. Der berühmte Talmudgelehrte Mena-
chem ben Serach, der einer aus Frankreich nach Navarra übergesie-
delten Exulantenfamilie angehörte, berichtet folgendes über die von
ihm in Estella miterlebten Greuel: „Als der französische König, der
Gebieter von Navarra, gestorben war, erhoben sich die Einwohner
des Landes und beschlossen, alle Juden in diesem Königreiche aus-
zurotten. Sie machten in Estella und an anderen Orten etwa sechs-
tausend Juden nieder. Mein Vater, meine Mutter und vier jüngere
Brüder fielen als heilige Märtyrer für die Einheit des Namens Got-
tes — möge der Herr für ihr Blut Vergeltung üben. Mir allein ge-
lang es, aus dem Hause zu entkommen. Ich war arg zugerichtet und
mit Wunden bedeckt, denn fünfundzwanzig Bösewichte hatten mich
mißhandelt und gemartert, und ich lag nackt mitten unter den Lei-
chen von der Dämmerung bis um Mitternacht des 2 3. Adar (6. März).
Gegen Mitternacht kam dann ein Ritter, ein Freund unseres Hauses,
zog mich aus dem Leichenhaufen hervor, brachte mich in sein Haus
und gewährte mir Zuflucht. Als später in Navarra ein neuer König
auf den Thron kam, erhoben wir, die Kinder der Ermordeten, ein
Klagegeschrei und verlangten von ihm Sühne für das vergossene Blut
unserer Väter, doch blieb all unser Flehen vergeblich“. In Wirklich-
keit nahm die Sache den folgenden Verlauf: der neue König des un-
abhängig gewordenen Navarra (Philipp III., Graf d’Evreux) befahl
anfangs, die der Anstiftung zum Gemetzel schuldigen Mönche zu ver-
haften, und legte den Städten, in denen es zu Blutvergießen gekom-
men war, eine Geldbuße auf, begnadigte aber später alle Schuldigen
und erließ auch den Städten die Strafgelder, da er sich um der Juden
willen mit der christlichen Bevölkerung nicht entzweien wollte. Der
König nahm überdies keinen Anstand, das herrenlos gewordene Gut
253
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
der hingeschlachteten jüdischen Familien an sich zu reißen und die
am Leben gebliebenen Juden für die ihnen gewährte „Protektion“ mit
schweren Steuern zu belasten. So verfielen die Gemeinden von Na-
varra nach und nach in Armut und gegen Ende des XIV. Jahrhunderts
war die jüdische Bevölkerung des Landes stark zusammengeschmol-
zen.
Um die gleiche Zeit war im äußersten Westen der Pyrenäischen
Halbinsel, in Portugal, eine jüdische Kolonie erblüht, deren Verhält-
nisse an die besten Zeiten der kastilischen Judenheit erinnerten. Schon
gleich nach der Begründung des unabhängigen Portugal wurde dort
die jüdische Kolonisation von den Königen aus dem burgundischen
Hause, die die Vorzüge einer auf die Mitarbeit jüdischer Finanzmän-
ner sich stützenden Verwaltung wohl begriffen hatten, mit allen ihnen
zu Gebote stehenden Mitteln gefördert. Man verlieh den Juden die üb-
lichen „Privilegien“ und Selbstverwaltungsrechte, wofür sie ihrerseits
verschiedene Steuern entrichten und daneben als Steuerpächter und
Bankiers den Staatsschatz finanzieren mußten. Dies rief, wie über-
all, den Unwillen der beiden Antagonisten der königlichen Gewalt,
des Adels und der Geistlichkeit hervor, die aus ihrer Unzufriedenheit
über die mit dem Geiste des christlichen Staates angeblich unverein-
bare Erhöhung der Juden kein Hehl machten. So sahen sich denn die
portugiesischen Könige im Laufe des ganzen XIII. Jahrhunderts ge-
nötigt, zwischen staatswirtschaftlichem Interesse und ständischen For-^
derungen zu lavieren. Obwohl die römischen Päpste und die Landes-
bischöfe den Königen Sancho II. (1228—12 45), Alfons III. (1246
bis 1279) und Dionysius (1279—i32 5) immer wieder Vorhaltungen
darüber machten, daß sie den andersgläubigen Finanzagenten Macht
über die Christen verliehen, ihre jüdischen Untertanen nicht zum
Tragen des Judenzeichens zwängen und sich auch sonst über die Kir-
chenregeln hinwegsetzten, vermochten sie die Landesherren zu ihrem
Standpunkte nicht zu bekehren.
In dieser Periode hatten die portugiesischen Juden in der Tat
einen gewissen Einfluß auf die Staatsverwaltung gewonnen. In Por-
tugal fand nämlich ein eigenartiges Verwaltungssystem Anwendung,
das gleichsam eine Verbindung der in Kastilien und Aragonien üb-
lichen Systeme darstellte: der König pflegte denselben Finanzmann
sowohl zum Oberrabbiner (rabbi mor) als auch zum Staatsschatz-
meister zu ernennen. Als Vorsteher der jüdischen Gemeinden war
254
§ 36. Aragonien, Navarra, Portugal
dieser Beamte für den pünktlichen Eingang der auf ihnen lastenden
Steuern verantwortlich, während er zugleich als Schatzmeister die
Steuereintreibung und die Finanzverwaltung überhaupt in seiner Hand
hatte. Der königliche Rabbiner übte überdies die Kontrolle über die
jüdische Selbstverwaltung aus und es stand ihm das Recht zu, die
von den Gemeinden gewählten Ortsrabbiner und -Richter in ihren
Ämtern zu bestätigen. Zu Beginn des XIV. Jahrhunderts hatten be-
reits fast alle bedeutenderen Städte Portugals jüdische Gemeinden
aufzuweisen. Außer in der Hauptstadt Lissabon bestanden autonome
Gemeinden in den Städten Santarem, Oporto, Evora, Faro, Goimbra,
Alcazar, Braganza usf. (im ganzen an etwa vierzig Orten). Die Juden
siedelten fast überall in besonderen Vierteln, den sogenannten „Ju-
darias“.
Unter den portugiesischen Königen dieser Zeit trug allein Al-
fons IV. (13 2 5—1357) den Forderungen des Klerus ernstlicher
Rechnung. So schrieb er den Juden vor, in der Öffentlichkeit stets
mit einem an dem Obergewand oder an der Kopfbedeckung befestig-
ten gelben Abzeichen in Form eines sechseckigen Sternes zu erschei-
nen. Dabei wußte er jedoch die mit diesem „Ehrenabzeichen“ be-
dachten Untertanen so sehr zu schätzen, daß er den wohlhabenderen
unter ihnen die Ausreise aus dem Lande untersagte. Die auf ihn fol-
genden Könige nahmen von neuem die Politik auf, die in den kleri-
kalen Kreisen als „judenfreundlich“ geschmäht zu werden pflegte.
So ernannte Pedro I. (i3Ö7—1367), der in den Volkslegenden als
Ritter der Gerechtigkeit und als weiser Richter fortlebt, zu seinem
Leibarzt und zugleich zum Oberrabbiner von Portugal den Lissa-
boner Gelehrten Moses Navarro. Unter dem Nachfolger Pedros, Fer-
dinand I. (1367—1383), iwirkte als königlicher Schatzmeister der
gewandte Geschäftsmann Don Juda, der im Aufträge des Königs eine
durchaus nicht einwandfreie Finanzoperation in die Wege leitete:
er betrieb nämlich in ausgedehntestem Maße eine Münzverschlech-
terung, die zwar dem Staatsschätze hohen Gewinn einbrachte, im
Volke aber tiefste Empörung gegen den Hof mitsamt dem jüdischen
Schatzmeister wachrief. Hie und da kam es zu Überfällen auf jüdi-
sche Landesbewohner, die allerdings an den Machenschaften des
durchtriebenen Hofagenten nicht die geringste Schuld hatten. Bald
sollte indessen die Frage der jüdischen Hof würden träger zu einem
Problem der großen Politik auswachsen und sogar eine gewisse Rolle
255
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
in dem zwischen Portugal und Kastilien ausgebrochenen dynastischen
Streit spielen.
Als nämlich Ferdinand I. kinderlos verstarb und seine im Lande
überaus unbeliebte Witwe Leonora für eine Zeitlang die Regierung
übernahm, richteten die Vertreter der Stadt Lissabon an die Königin
eine Reihe von Forderungen, deren eine speziell die Juden betraf.
Es wurde verlangt, daß sie „nach Maßgabe des kanonischen und bür-
gerlichen Rechtes“ von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen wer-
den sollten. Die Regentin erwiderte darauf, daß sie den Wünschen
des Volkes zuvorgekommen sei und den Schatzmeister Juda sowie
einigo andere jüdische Steuer- und Zolleinnehmer bereits aus eige-
nem Antrieb abgesetzt habe. In Wirklichkeit hatte sich jedoch Leo-
nora von Juda nicht trennen wollen und behielt ihn nach wie vor als
Finanzagenten in ihren Diensten. Neben diesem stand ihr auch noch
ein anderer wohlhabender Jude aus dem Freundeskreise ihres ver-
storbenen Gemahls namens David Negro als Berater zur Seite. Die
wichtigste der damals zur Entscheidung stehenden Fragen war die
des Erbfolgerechtes. Zwei Kronprätendenten stritten sich um die
Macht: der eine war der illegitime Sohn des Königs Pedro, der Rit-
ter Juan de Avis, der andere der König von Kastilien Juan I.,
der die Tochter des Ferdinand, Beatrice, zur Frau hatte. Während
das Volk, das Portugal den Kastiliern nicht ausgeliefert wissen wollte,
auf seiten des ersten Kronanwärters stand, machten Leonora und ein
Teil des Hofadels mit ihrem Schwiegersohn Juan von Kastilien
gemeinsame Sache. Die Wut der Bevölkerung von Lissabon gegen
die das Land an die Fremden verratende Königin machte sich nun
eines Tages in einem Aufruhr gegen ihre jüdischen Ratgeber Luft
Die Menge schickte sich bereits an, die in der „Judaria“ der Haupt-
stadt wohnhaften reichen Juden auszuplündern, um dem Manne ihrer
Wahl, dem Ritter Juan, die erbeuteten Schätze zu Füßen legen zu
können, doch gelang es diesem, die Gewalttaten noch rechtzeitig zu
verhindern. Leonora und ihr Berater Juda flüchteten inzwischen aus
der Stadt, und so wurde Juan de Avis zum Reichsverweser ausge-
rufen. Nunmehr kam es zwischen diesem und Juan von Kastilien
zu einem regelrechten Kriege. Aber auch die nach Kastilien geflohene
Leonora sollte sich bald mit ihrem Schwiegersohn entzweien, und
auch bei diesem Zwist blieben die Juden nicht aus dem Spiele.
Juan I. entschloß sich nämlich, in Kastilien nach portugiesischem
a56
§ 37. Der „Heilige Krieg” vom Jahre 1391
Vorbild das mit fiskalischen Vollmachten ausgestattete Oberrabbiner-
amt einzuführen, und erhob zu dieser Würde auf Wunsch seiner
Gattin Beatrice den aus Portugal eingetroffenen David Negro, wäh-
rend Leonora auf dem hohen Posten keinen anderen als ihren Ver-
trauensmann Juda zu sehen wünschte. Bald wurde es bekannt, daß
Leonora in eine Verschwörung gegen den kastilischen König ver-
wickelt sei, woraufhin sie in ein Kloster gesteckt wurde. Auf diese
Weise wurde David Negro, der sich auch durch die Aufdeckung der
Verschwörung verdient gemacht hatte, seine Widersacher am kastili-
schen Hofe los. Mittlerweile nahm der Krieg einen für König
Juan ungünstigen Ausgang, und er sah sich genötigt, seine An-
sprüche auf die Krone von Portugal fallen zu lassen. Hierauf wurde
zum König von Portugal Juan de Avis ausgerufen, dessen men-
schenfreundliche Regierung nicht zuletzt den Juden zugutekam. So
spielten sich auch in Portugal ähnliche Ereignisse ab, wie wir sie be-
reits während der dynastischen Zwistigkeiten und des Bürgerkrieges
in Kastilien kennen gelernt haben.
§ 37. Der „Heilige Krieg6 vom Jahre 1391
Gegen Ende des XIV. Jahrhunderts war die klerikale Reaktion in
Spanien und namentlich in Kastilien schon so weit gediehen, daß
ihre Urheber nunmehr die Kraft in sich verspürten, zu entscheiden-
den Taten überzugehen. Die Judenhasser aus der Mitte der Geistlich-
keit und des Adels malten geflissentlich das Gespenst der „jüdischen
Gefahr“ an die Wand: das Anwachsen des jüdischen Besitzes und
das von der jüdischen Hochfinanz erlangte politische Ansehen be-
drohten — so behaupteten sie — die Grundlagen der christlichen
Staaten Spaniens, die sich nach schweren Kämpfen wohl von der
maurischen Fremdherrschaft, nicht aber von dem Einfluß der im
Lande zurückgebliebenen Mauren und Juden zu befreien vermocht
hätten. Zur Sicherung des national-christlichen Wesens des Staates
gelte es daher — so predigten sie — einen inneren „Heiligen Krieg**
zu proklamieren mit dem Losungswort: Säuberung des Landes von
den beiden andersgläubigen Bevölkerungselementen. Nun waren aber
die Mauren als Kriegsgegner nicht zu unterschätzen: hatten sie doch
als Rückendeckung das Reich von Granada hinter sich und darüber
hinaus Marokko mit seinen Berberstämmen, die sich selbst gut auf
17 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd, V
2Ö7
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
heilige Kriege verstanden. So schien es viel einfacher, den Krieg zu-
nächst den Juden zu erklären, und zwar in der Form eines Ulti-
matums: Taufe oder Tod! Wohl hatten die Kreuzfahrer in Mittel-
europa unter ähnlichen Verhältnissen einst mehr Juden hinzuschlach-
ten, als zur Taufe zu bewegen vermocht, doch schienen jetzt in Spa-
nien die Aussichten viel günstiger zu sein: die Juden waren hier we-
niger an ihre Religion gebunden, auch nicht in dem Maße von den
Christen abgesondert, überdies viel wohlhabender und daher den irdi-
schen Güterti mehr zugetan, so daß bei vielen von ihnen, wie man
annahm, die Furcht vor dem Tode einen genügend starken Beweg-
grund für die Taufe abgeben müßte. Es käme nur darauf an, konse-
quent vorzugehen, dann müßte es gelingen, sowohl die „jüdische
Gefahr“ zu bannen wie auch das Lager der Gläubigen durch neuen
Kräftezufluß zu stärken.
So sah in seinen Grundzügen der Kriegsplan der klerikalen Ver-
schwörer aus, die hundert Jahre vor der Einführung der allspanischen
Inquisition deren Grundidee eines einheitlichen, homogenen, christ-
lichen, von Juden, Mauren und Ketzern endgültig gesäuberten Spa-
nien vorwegnahmen. An der Spitze der kastilischen Verfechter dieser
Idee stand ein glühender Fanatiker, der Archidiakonus und Offizial
des Bistums von Sevilla Ferrand Martinez. Schon seit vielen Jahren,
seit der Teilnahme der Juden an dem kastilischen Bürgerkriege, be-
trieb Martinez in seinen Kirchenpredigten eine systematische Hetze
gegen das Judentum. Er schleuderte) unausgesetzt Brandfackeln ins
Volk: die Juden — so wetterte er — hätten in Spanien die Herrschaft
an sich gerissen, durch Steuereintreibung und Steuerpacht Berge von
Schätzen angehäuft, alle Christen vom König bis zum letzten Sklaven
zu ihren gefügigen Werkzeugen gemacht, sie streuten allerarten ihre
Irrlehren aus und würden bald die Kirchen in Synagogen umwandeln;
daher gelte es, diese Feinde Christi mit Stumpf und Stiel auszurotten
und es durchzusetzen, daß die Synagogen in Kirchen verwandelt wer-
den. Ganz unverblümt wurde so Gewalt und Terror gepredigt. Eines
Tages wies Martinez die ihm in einer Kirchenprozession folgende
Menge an, jeden Juden, der sich wählend des Umzugs auf der Straße
zeigen sollte, ohne Bedenken zu verprügeln. Gar oft redete er davon,
daß es nicht übel wäre, alle Synagogen von Sevilla dem Erdboden
gleichzumachen. Die Vertreter der jüdischen Ortsgemeinde beschwer-
ten sich zu wiederholten Malen beim König Heinrich II. und seinem
258
§ 37. Der „Heilige Krieg ‘ vom Jahre 1391
Nachfolger Juan I. über diese gefährliche Verhetzung des Volkes.
Die Könige versäumten denn auch nicht, Martinez die Aufpeitschung
der Volksleidenschaften bei Strafe zu verbieten, doch kehrte sich
der starrköpfige Fanatiker nicht im geringsten an die königlichen
Ermahnungen und berief sich darauf, daß er durch die Bezichtigung
der Ungläubigen nur seine christliche Pflicht erfülle. In derselben
Weise ließ er sich vor dem Gericht von Sevilla vernehmen, von dem
er auf die Beschwerde der jüdischen Gemeinde hin zur Verantwor-
tung gezogen wurde, wobei er keinen Anstand nahm, auch hier zu
wiederholen, daß er die Zerstörung der Synagogen für ein gottge-
fälliges Werk halte (i388). Der willensschwache König Juan I.
nahm in der ganzen Sache eine schwankende Haltung ein: einerseits
rühmte er den Eifer des kirchlichen Hetzers, andererseits untersagte
er jedoch, den Juden Gewalt anzutun; er wollte gleichsam sowohl
den Hunger des Wolfes stillen, als auch die Schafe unversehrt er-
halten. Mit viel größerer Entschlossenheit handelte der Erzbischof
Barroso: er enthob Martinez seines Amtes als Offizial und entzog ihm
das Recht der Kirchenpredigt (1889).
Bald sollten sich jedoch die Verhältnisse für den klerikalen Gift-
mischer günstiger gestalten. In ein und demselben Jahre starben Kö-
nig wie Erzbischof (i3go). Die zu Martinez haltende Priesterschaft
wählte ihn zum Stellvertreter des Erzbischofs. Zugleich übernahm
die im Namen des unmündigen Königs Heinrich III. auszuübende
Regentschaft die Königin-Mutter Leonora, der Martinez als ehemali-
ger Beichtvater nahestand. Nunmehr war für die Umtriebe des aber-
witzigen Fanatikers Tür und Tor geöffnet. Zuallererst versandte Mar-
tinez an alle geistlichen Würdenträger der Diözese von Sevilla ein
Rundschreiben mit der Anweisung, „die Synagogen, in denen die
Feinde Gottes und der Kirche dem Götzendienst huldigen, bis auf
den Grund zu zerstören“ und ihm die synagogalen Geräte als Sieges-
trophäen zukommen zu lassen. In einigen Städten gingen denn auch
die Priester daran, dem Willen ihrer Obrigkeit Genüge zu tun, wäh-
rend in Sevilla Martinez selbst die. Sache in die Hand nahm. Am
i5. März 1391 hielt er eine zündende Rede auf einem von einer un-
geheuren Menschenmenge überfluteten Platze. Er scheute sich nicht,
die Christen von Sevilla in unzweideutigster Weise zu einem Überfall
auf die Juden anzufeuern. Schon stürmte die Menge gegen das jüdi-
sche Viertel, doch gelang es den Stadtbehörden noch im letzten Augen-
17*
259
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
blick, den Gewalttätigkeiten Einhalt zu gebieten und die Menge zu
zerstreuen. Auf Befehl des Stadthauptmanns (Alguazil) wurden zwei
der Haupträdelsführer dingfest gemacht und öffentlich ausgepeitscht.
Dies versetzte jedoch das Volk in noch größere Erregung, und so
konnte sein Abgott Martinez das verbrecherische Work fortsetzen und
Kräfte für einen neuen Anschlag sammeln. Drei Monate später kam
es in der Tat zu einem neuen Überfall, der diesmal für die Armee der
Mordbrenner und der Täufer mit einem vollen Triumph endete. Eines
Morgens kamen die Christen von Sevilla, wohl auf Verabredung, von
allen Seiten zu der „Juderia“ gelaufen, steckten sie in Brand und
stürzten sich mordend und plündernd auf die Einwohner (6. Juni).
Etwa 4ooo Juden kamen ums Leben, viele wurden zu Gefangenen ge-
macht und den Arabern als Sklaven verkauft, während der Rest, um
dem Tode zu entrinnen, die Taufe über sich ergehen ließ. So wurde
die alte blühende Gemeinde, die nahezu 6000 Familien zählte, mit
einem Schlage vernichtet, wobei ihre Synagogen teils zerstört, teils
in Kirchen umgewandelt wurden. Unter den zum Katholizismus
Über getretenen befand sich auch der ehemalige Würdenträger am
Hofe Heinrichs II., Samuel Abravanel, der bei der Taufe den Namen
Johann de Sevilla annahm, später aber nach Portugal auswanderte
und zum Judentum zurückkehrte.
Das Blutbad von Sevilla gab das Zeichen zu Judenverfolgungen
im ganzen Lande. In Sevilla liefen alle Fäden der klerikalen Verschwö-
rung zusammen, von hier aus ergingen die Kriegsbefehle und die
taktischen Instruktionen. Die Tauflustigen schonen und die Starr-
köpfe niedermachen — so lautete das Grundgebot des „heiligen Krie-
ges“. Diese Taktik wurde denn auch überall befolgt, zugleich war es
aber dem Pöbel zum Lohn für seine Mühe gestattet, das Hab und
Gut der Juden gleichsam als Kriegsbeute an sich zu reißen1). Ähn-
liche Schreckensszenen wie in Sevilla spielten sich auch in den im
Bezirk dieser Stadt gelegenen Orten ab. Die Greueltaten, die in dem
zweiten geschichtlich bedeutsamen Zentrum des jüdischen Spanien,
in Cordova, verübt wurden, stellten die Verfolgungen, die die Juden
hier einst unter den Almohaden zu erdulden hatten, weit in den Schat-
Ü Der spanische Chronist jener Zeit, Ayala, selbst ein Augenzeuge dieser
Geschehnisse, gibt in seiner „Chronik der Regierung Heinrichs III.“ offen zu, daß
die Menge sich weniger aus religiösem Fanatismus als aus Raubgier zu ihren
Untaten hinreißen ließ.
§ 37. Der „Heilige Krieg“ vom Jahre 1391
ten: die „Juderia“ mit ihren prachtvollen altertümlichen Bauten und
ihren Warenlagern ging in den Flammen auf, 2000 Männer-, Frauen-
und Kinderleichen lagen haufenweise überall auf den Straßen, in
den Häusern und in den zerstörten Synagogen, und daneben wan-
delten gleich lebenden Leichnamen diejenigen, die, von Todesangst
getrieben, von dem Glauben ihrer Väter abgefallen waren. Zwei Wo-
chen nach dem Blutbad von Sevilla kam die Reihe an die Gemeinde
der Hauptstadt Toledo (am 17. Tammus). Hier waren es die Rab-
biner, die als erste „um der Heiligung des Namens willen“ in den
Tod gingen; unter anderen ließen beim Blutbad von Toledo auch die
Nachkommen des berühmten Talmudforschers Rosch ihr Leben. Nicht
gering war jedoch auch die Zahl der Kleinmütigen, die in die Taufe
einwilligten. Besonders viele solcher Fahnenflüchtigen wider Willen
gab es in Burgos. Das gleiche Los war den Juden in vielen anderen
Städten Kastiliens beschieden. Im ganzen verfielen etwa siebzig jü-
dische Gemeinden der Verheerung.
Aus Kastilien griff die antijüdische Bewegung auf Aragonien über,
wo eigens zum Zwecke der Verhetzung Emissäre aus dem Haupt-
quartier von Sevilla eingetroffen waren. Die Vorbeugungsmaßnahmen
der Regierung vermochten das Unheil nicht immer abzuwenden. In
Valencia brach der christliche Mob in die Juderia mit Binsenkreuzen
in den Händen ein und rief: „Bald kommt Martinez nach, um euch
alle zu taufen!“ (9. Juli). Die Juden setzten sich zur Wehr, dräng-
ten die eingebrochenen Raufbolde zu den Toren hinaus, wobei sie
einige von ihnen nieder schlugen. Nun erscholl der Schrei: „Die Ju-
den morden die Christen!“, worauf die christlichen Monopolisten
des Mordes die Sperre durchbrachen und von neuem in das jüdische
Viertel eindrangen, um es zu zerstören und alle, deren sie habhaft
werden konnten und die nicht in die Taufe einwilligten, auf der
Stelle niederzumachen. Hierauf stießen die Mordgesellen gegen die
„Moreria“, das Mauren viertel, vor, wurden aber durch die auf ge-
botenen Truppen zurückgeschlagen. Einen Monat später wurde von
dem gleichen Lose auch die Hauptstadt Kataloniens, Barcelona, er-
eilt. Hier fanden die Juden zunächst unter dem Schutze des Stadt-
hauptmanns und der Ritter in der Zitadelle Zuflucht, der rasend ge-
wordene Stadtpöbel erhob sich jedoch gegen die Behörden und um-
zingelte die Feste, die er mit dem Beistand der aus der Umgegend her-
beigeeilten Bauern bald erstürmte. Als jede Hoffnung auf Rettung
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
verloren war, machten viele Juden ihrem Leben selbst ein Ende, in-
dem sie sich erdolchten oder von dem Festungsturm herab in die Tiefe
stürzten; andere warfen sich voll Verzweiflung den Feinden entgegen
und fanden in dem ungleichen Kampfe den Tod; nur wenigen ge-
lang es, durch Flucht zu entkommen, der Rest schwor seinen ange-
stammten Glauben ab (am 8. August). Unter den Märtyrern des Glau-
bens fiel hier auch der einzige Sohn des Philosophen Ghasdai Cres-
cas, der in seiner Schilderung der Katastrophe kurz bemerkt: „Ich
selbst gab als Opfer ein makelloses Lamm, meinen einzigen Sohn
hin“. Außer Barcelona kamen in Katalonien auch die Gemeinden von
Gerona und Lerida zu Schaden, hingegen blieben im eigentlichen
Aragonien fast alle Gemeinden unversehrt, da die königlichen Be-
hörden und die Feudalherren hier ihr „jüdisches Eigentum“ mit viel
größerer Energie in Schutz nahmen.
Die blutige Welle wälzte sich auch an die Insel Mallorca heran. In
der Inselhauptstadt Palma wurden nicht nur die Juden in bestiali-
scher Weise ermordet, sondern auch die Häuser jener mitleidsvollen
Christen der Zerstörung preisgegeben, die den Verfolgten Zuflucht
zu gewähren wagten. Viele Juden schlossen sich in der Stadtburg ein,
um sich dann des Nachts mit Genehmigung des Gouverneurs ans
Ufer zu schleichen und nach Nordafrika einzuschiffen.
Die Flüchtlinge aus Kastilien fanden ein zeitweiliges Asyl in dem
benachbarten Portugal. Hier war die Bevölkerung noch nicht so weit
„aufgeklärt“, um der Religion der Liebe durch Blutvergießen die
Ehre zu geben. Überdies hatte der Oberrabbiner von Portugal, Moses
Navarro, der zugleich Leibarzt des Königs Juan war, diesem die
päpstliche Bulle vorgelegt, die es ausdrücklich untersagte, Juden Ge-
walt anzutun oder sie zur Taufe zu zwingen, worauf die Bulle über-
all im Lande zur öffentlichen Kenntnis gebracht wurde.
So wurden die spanischen Juden im Sommer des Jahres i3qi
von denselben harten Prüfungen heimgesucht, wie sie einst im Som-
mer des Jahres 1096 ihren Stammesbrüdern an den Ufern des Rheins
beschieden waren. Die durch die Haßpredigt des Martinez ins Leben
gerufene Bewegung stellte in der Tat einen wahren Kreuzzug gegen
die im Lande selbst ansässigen Andersgläubigen dar. Auch den spa-
nischen Juden blieb die Dornenkrone des Märtyrertums nicht er-
spart, doch waren sie für die schwere Prüfung viel weniger gerüstet
als ihre Brüder jenseits der Pyrenäen. Die deutschen Juden pflegten
262
§ 38. Rabbinismus und konservative Philosophie (Crescas)
bei ähnlichen Katastrophen viel mehr Opfermut an den Tag zu legen
und nur in Ausnahmefällen nahmen sie den Glauben der Peiniger
zum Scheine an, um ihn sofort nach dem Abzug der Feinde in aller
Form wieder abzuschwören; in Spanien gab es hingegen weit mehr
„Bekehrte“ (conversos) als solche, die ihr Leben opferfreudig für
ihre Religion hingaben: die Zahl der Abtrünnigen belief sich hier
schätzungsweise auf mehrere Zehntausende. Zwar gaben sich auch
hier viele zur Taufe und zum christlichen Lippenbekenntnis nur in
der Absicht her, nach dem Abebben der Sturmflut von neuem zum
Glauben ihrer Väter zurückzukehren, was manche denn auch in der
Tat zur Ausführung brachten, indem sie sich vor dem wachsamen
Auge der Kirchenspitzel so schnell wie möglich durch Flucht in
fremde Länder retteten. Die meisten unter den Konvertiten schätzten
jedoch viel zu sehr die ihnen vergönnte Atempause und trugen die
Maske des aufgezwungenen Glaubens geduldig zur Schau. Sie konn-
ten nicht voraussehen, was für ein fürchterliches Los sie sich und
ihren Kindern in Zukunft bereiteten. Von der katholischen Geist-
lichkeit aufs schärfste kontrolliert, mußten diese „Fronknechte“ des
Christentums („Anussim“) zum Scheine die Kirchenriten peinlichst
befolgen, während sie den Grundgeboten ihres angestammten Glau-
bens nur unter dem Deckmantel des Geheimnisses nachzukommen ver-
mochten. Diese Zwiespältigkeit sollte für sie zu einem nie versiegen-
den Quell unzähliger Leiden und Ängste werden, um die Tragödie
des „Marranentums“ und schließlich auch die Schrecken der Inqui-
sition heraufzubeschwören (unten, §§ 5off.).
§ 38. Der Rabbinismus und die konservative Philosophie (Crescas)
Im vorhergehenden XIII. Jahrhundert stand in Spanien das Ge-
biet der geistigen Kultur unter dem Zeichen des ebenso heiß be-
kämpften wie glühend verehrten Maimonides. Der hundertjährige
Kampf der Konservativen gegen das Freidenker tum, der mit dem be-
rühmten rabbinischen Anathema vom Jahre i3o5 endete, verlieh
indessen der konservativen Geistesrichtung eine unerschütterliche Vor-
machtstellung. So verläuft denn das XIV. Jahrhundert bereits unter
dem Zeichen geistiger Reaktion. Der Rabbinismus setzte es sich zur
Aufgabe, in dem Lande, wo alle Vorbedingungen für die Assimilation
gegeben waren: eine der gesamten Bevölkerung gemeinsame Um-
263
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
gangssprache1), weitgehende Annäherung zwischen Juden und Chri-
sten, namentlich innerhalb der oberen Gesellschaftsschicht, sowie
eine starke Anpassung an die Bräuche und Sitten des Landes, — die
national-religiöse Zucht mit um so größerer Kraft anzuspannen und
sie im* Volksleben unerschütterlich zu verankern.
Überaus bezeichnend ist es, daß schon zu Beginn dieses Jahr-
hunderts (i3o5) der Oberrabbinerposten in der kastilischen Haupt-
stadt dem Ascher ben Jechiel (Rosch) übertragen wurde, einem Aus-
wanderer aus Deutschland und einem typischen Vertreter des deut-
schen Rabbinismus, der als solcher ein ausgesprochener Gegner der
Philosophie und der weltlichen Wissenschaften war (oben, § 17).
In diesem Brennpunkt der Assimilation, wo die Synoden und Cortes
den Juden ausdrücklich untersagen mußten, spanische Namen zu füh-
ren (oben, § 33), begann nun der Fremdling aus dem Norden die
Gepflogenheiten des von der Außenwelt abgeschlossenen deutschen
Ghettos einzuführen. Die weitgehende autonome Gerichtsbarkeit der
Rabbiner gab ihnen Mittel in die Hand, die des Freidenkertums oder
freier Lebensführung überführten Gemeindemitglieder strengstens zu
bestrafen. Als einst der Hofwürdenträger Jehuda ibn Wakar aus Gor-
dova Rosch darüber befragte, wie man mit einem Manne zu verfah-
ren habe, der sich zu einer Gotteslästerung in arabischer Sprache hatte
hinreißen lassen, erwiderte der gestrenge Rabbiner, daß ihm die Zunge
ausgeschnitten werden müßte. Als in einem anderen Falle das rab-
binische Gericht eine des Zusammenlebens mit einem Christen be-
schuldigte Jüdin zur Verstümmelung des Gesichtes verurteilte und
derselbe Ibn Wakar von Rosch wissen wollte, ob der Urteilsspruch
gerecht sei, gab dieser zur Antwort: „Das Urteil ist gerecht: möge
sie (die Sünderin) ihre Anziehungskraft für die Liebhaber einbüßen!“
In diesem Falle war die Regierung selbst, von der die Sache an das
jüdische Gericht verwiesen worden war, an einer unnachsichtigen
Bestrafung unmittelbar interessiert, da das Zusammenleben einer Jü-
din mit einem Christen nicht nur dem jüdischen, sondern auch dem
christlichen, und zwar sowohl dem kanonischen wie dem gemeinen
Recht entgegen war.
Indessen wird dem Kampfe gegen die freien Sitten der von der
Assimilationssucht angesteckten oberen Gesellschaftsschicht wohl viel
!) Die Juden sprachen in dieser Zeitperiode vornehmlich spanisch, zum Teil
auch arabisch und bedienten sich ihrer nationalen Sprache nur in der Literatur.
264
§ 38. Rabbinismus und konservative Philosophie (Crescas)
weniger Erfolg beschieden gewesen sein als dem gegen das Frei-
denkertum der Gebildeten. Der Cherem des Jahres i3o5 verbannte
die weltliche Wissenschaft und die Philosophie endgültig aus der
Schule, in der nunmehr der Talmud uneingeschränkt herrschte. Der
großartige Versuch des Maimonides, die Fluten des „talmudischen
Meeres“ einzudämmen, um für die weltlichen Wissenschaften freien
Spielraum zu schaffen, war mißlungen. Rosch, seine Söhne und
seine zahlreichen Jünger spannten über ganz Spanien ein Netz von
Jeschiboth nach deutschem Vorbilde, in denen die allumfassende Syn-
these des Maimonides durch kleinliche scholastische Analyse ver-
drängt wurde. Zu den Untersuchungen und „Responsen“ der Ge-
setzeslehrer des vorhergehenden Jahrhunderts von der Art eines
Raschba gesellten sich nunmehr die halachischen Entscheidungen
des Rosch („Piske ha’Rosch“) und seiner Schule. Auf diese Weise
häufte sich eine so große Menge von neuen Gesetzesinterpretationen
und Rechtsentscheidungen maßgebender Rabbiner an, daß eine er-
neute Kodifikation des geltenden jüdischen Rechts in Ergänzung des
Kodex des Maimonides zur unabweisbaren Notwendigkeit wurde. So
kommt denn im XIV. Jahrhundert eine ganze Literatur der „Sammler
von Gesetzesformulierungen und Rechtsentscheidungen“, der soge-
nannten „Posskim“, zur Entfaltung. Das systematisch vollendetste
Werk dieser Literatur war der vom Sohne des Rosch, Jakob ben
Ascher (gest. um i34o), zusammengestellte Kodex „Turim“ („Rei-
hen“). Aus diesem Kodex wurden alle staats-, sakral- und agrarrecht-
lichen Gesetze, soweit sie das unabhängige Leben in Palästina voraus-
setzten und daher in dieser Zeit nur noch rein theoretisches Interesse
hatten, gänzlich ausgeschieden, statt dessen aber viele auf rabbinische
Entscheidungen und Volksbräuche sich gründende Vorschriften als
geltendes Recht aufgenommen. Der umfangreiche Kodex „Turim“ be-
steht aus vier Teilen. Der erste („Orach-chaim“) behandelt die den
Gottesdienst, den Sabbat sowie die Feier- und Fasttage betreffenden
Vorschriften; der zweite („Jore dea“) die Speisegesetze, die Vorschrif-
ten über das Viehschlachten und das häusliche Leben; der dritte
(„Eben eser“) das Familienrecht: Ehe, Ehescheidung u. dgl. regelnde
Gesetzesvorschriften, der vierte („Choschen mischpat“) endlich das
Zivil- und Strafrecht. Die die Riten betreffenden Gesetzespartien sind
somit im Kodex „Turim“ im Vergleich zum Kodex des Maimonides
mit viel größerer Ausführlichkeit dargestellt, während der dogma-
265
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
tische und ethische Teil überaus gekürzt erscheint. Der Verfasser
vermied es gleichsam geflissentlich, an jene Grundprinzipien und Dog-
men der Religion zu rühren, die noch vor kurzem von Orthodoxen
und Freidenkern so heftig umstritten worden waren. Der Kodex des
Jakob ben Ascher wurde von vielen Rabbinern als Leitfaden für die
Praxis aufgenommen und verdrängte nach und nach den Kodex des
Maimonides. In späterer Zeit wurde das System des „Turim“ die
Grundlage für das bis auf den heutigen Tag geltende rabbinische Ge-
setzbuch „Schulchan aruch“ sowie für unzählige Untersuchungen
deutsch-polnischer Rabbiner.
Andere „Posskim“ befaßten sich um diese Zeit (um die Mitte des
XIV. Jahrhunderts) mit der Kodifizierung einzelner Rechtspartien.
So verfaßte ein Schüler des Rosch, Jerucham ben Meschullam aus
der Provence, zwei Sammelwerke, in deren einem („Mescharim“) die
zivilrechtlichen, in dem anderen („Adam we’Chava“) die religiös-ritu-
ellen Gesetze des Judentums zur Darstellung gebracht werden. Ein
anderer Gelehrter, David Abudraham aus Sevilla, stellte alle auf Got-
tesdienst und synagogale Zeremonien überhaupt sich beziehenden Re-
geln zusammen. Den tieferen Sinn der religiösen Gesetzgebung ver-
suchte ein Gelehrter aus Toledo, Menachem ben Serach, zu erfassen,
derselbe, dessen Eltern und Brüder bei den Judenverfolgungen in
Navarra den Tod gefunden hatten (oben, § 36). In dem von ihm zu-
sammengestellten Kompendium der religiösen Riten („Zeda la’-
derech“) ist auch moralisch-dogmatischen Erörterungen ein gewisser
Platz eingeräumt, doch zeugen sie nur von dem allgemeinen Verfall
der spekulativen Theologie in jener Epoche.
Neben den „Posskim“ setzten auch die Kommentatoren ihr frü-
her begonnenes Werk weiter fort. Das zweite und dritte Viertel des
XIV. Jahrhunderts brachte auf diesem Gebiete eine ganze Phalanx
überragender Männer hervor. Ritba (Abkürzung von R. Jomtob ben
Abraham) aus Sevilla war, wie sein Meister Raschba, Verfasser von
zahlreichen Novellen („Chiduschim“) zu verschiedenen Talmudtrak-
taten. Schemtob Gaon aus Segovia verfaßte einen Kommentar zum
Kodex des Maimonides unter dem Titel: „Der feste Turm“ („Migdal
os“); der kriegerisch anmutende Titel geht darauf zurück, daß der
Verfasser in seinem Werke den Kodex des Maimonides vor den kriti-
schen Ausfällen seines Zeitgenossen Rabed (Band IV, § 49) in Schutz
nahm. Einen Kommentar zu diesem Kodex („Magid Mischne“) ver-
266
§ 38. Rabbinismus und konservative Philosophie (Crescas)
faßte auch Don Vidal oder Jomtob de Tolosa. Unter den Epigonen
des spanischen Rabbinismus verdient noch der Rabbiner und Predi-
ger von ßarcelona Nissim Gerondi (abgekürzt Ran) Erwähnung, Ver-
fasser eines Kommentars zum „Kleinen Talmud“ des Alfassi. Sein
Predigtenbuch läßt ihn als einen konservativ eingestellten Denker er-
scheinen, der sich ebenso vom philosophischen Rationalismus wie von
der theosophischen Kabbala fernzuhalten wußte.
Eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben spielte in der zweiten
Hälfte des XIV. Jahrhunderts der Rabbiner von Saragossa Isaak bar
Schescheth, der unter seinem literarischen Namen Ribosch bekannt
ist (gest. i4o8). Er hatte für seine Zeit die gleiche Redeutung wie sie
ein Jahrhundert früher Raschba zukam und galt als höchste Instanz
für die Entscheidung von Fragen des religiösen und öffentlichen Le-
bens. Viele seiner Sendschreiben oder Responsen („Teschuboth ha’-
Ribosch“) sind im Tone unwiderruflicher Machtsprüche gehalten, ins-
besondere in den Fällen, in denen es sich um Anzeichen religiösen
Freidenkertums handelte. Ribosch war nämlich ein entschiedener Geg-
ner aller rationalistischen Theologie; „Naturalistische Werke sind
— so schrieb er — aus dem Grunde zu verbannen, weil sie die Wur-
zeln unserer heiligen Thora gefährden: den Glauben an die Erschaf-
fung der Welt und an die auf alle Einzelindividuen sich erstreckende
göttliche Vorsehung. Suchen doch diese Bücher den Beweis für die
Ansicht zu erbringen, daß die Welt von Urewigkeit her existiere und
der Gottheit ebenso immanent sei wie das Licht der Sonne oder der
Schatten dem Baume“. Um diese Zeit fand sich in Spanien ein aufge-
klärter Rabbiner, Chaim Galipapa aus Huesca, der es wagte, die Weis-
sagungen des Jesaja und Daniel in geschichtlichem Geiste: im Zu-
sammenhang mit den Ereignissen ihrer Zeit auszulegen, statt sie, wie
üblich, als auf die ferne Zukunft sich beziehende messianische Pro-
phezeiungen aufzufassen; überdies trat er für eine Milderung der
übermäßigen Strenge der Speisegesetze und der die Sabbatheiligung
betreffenden Vorschriften ein. Als die von dem kühnen Neuerer ver-
tretenen Ansichten Ribosch zu Ohren gekommen waren, beeilte sich
der Glaubenseiferer von Saragossa, dem freidenkenden Rabbiner sei-
nen schärfsten Tadel auszusprechen. Die Vorherrschaft der konserva-
tiven Geistesrichtung hing nicht zuletzt mit den damaligen unheil-
vollen Zeitumständen zusammen. Der Ansturm der missionseifrigen
katholischen Geistlichkeit und die sich häufenden Fälle von Abtrün-
267
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
nigkeit machten die Ergreifung von energischen Vorbeugungsmaß-
nahmen zur dringenden Notwendigkeit. Der Fanatismus der Fahnen-
träger der Kirche rief in den Führern der Synagoge gleichsam einen
Fanatismus mit umgekehrtem Vorzeichen wach. Nach der Katastrophe
des Jahres i3gi kehrte Ribosch Spanien für immer den Rücken und
ließ sich in Algier nieder, wo sich inzwischen die alteingesessene jü-
dische Revölkerung durch die bedeutende Zuwanderung von spani-
schen Flüchtlingen vermehrt hatte. Raid darauf wurde er vom Sultan
von Algerien zum Oberrabbiner aller jüdischen Gemeinden im Lande
ernannt.
Der geistigen Reaktion sollte auch ein eigener Sachwalter auf
philosophischem Gebiete erstehen. Chasdai Crescas (um i34o bis
i4io), der in Rarcelona und später in Saragossa seinen Wohnsitz
hatte, war weniger ein berufsmäßiger, der religiösen Praxis leben-
der Rabbiner als der ideologische Verfechter des Rabbinismus. Sein
religionsphilosophisches System baute er auf Voraussetzungen auf,
die denen des Maimonides, der, wie Crescas sagte, „sich durch das
Studium der (griechischen) Philosophen auch zu ihren Gedanken-
gängen verleiten ließ“, direkt entgegengesetzt waren. Statt Vernunft
und Offenbarung zu versöhnen, ging Crescas vielmehr darauf aus,
ihre Gegensätzlichkeit und Unvereinbarkeit zu erhärten, woraus er
den weiteren Schluß zog, daß sich der begrenzte menschliche Ver-
stand vor der Offenbarung der Thora als einer Äußerung des gött-
lichen Vernunftwillens einfach zu beugen habe. In seiner theologi-
schen Abhandlung „Das göttliche Licht“ („Or Adonai“) sucht Chas-
dai Crescas das ganze großartige Lehrgebäude des Maimonides Schritt
für Schritt abzutragen, da in ihm, wie er meinte, zwei einander aus-
schließende Raustile, der griechische und der jüdische, nur künst-
lich miteinander verbunden seien. Er tritt der von den Scholastikern
verfochtenen Unfehlbarkeit des Aristoteles als des Vaters aller Meta-
physik mit Entschiedenheit entgegen und führt den Nachweis, daß
dessen Lehren von Gott, von der Entstehung der Welt, von der Vor-
sehung und der Unsterblichkeit in krassem Widerspruch zu den Leh-
ren des Judaismus stünden. Den Verfechtern des Dualismus von der
Art eines Albalag, die für die Theorie der zwiefachen Wahrheit (oben,
§ 16) eintraten, wirft Crescas Doppelzüngigkeit und Heuchelei vor.
Wer den Judaismus als göttliche Offenbarung wirklich anerkenne,
könne und müsse in ihm selbst die vernunftgemäße Regründung sei-
268
§ 38. Rabbinismus und konservative Philosophie (Crescas)
nes Glaubens entdecken und dürfe sie keineswegs anderswo zu fin-
den hoffen. Die in den Tiefen des Judaismus wurzelnde Philosophie
lehre im Gegensatz zu der aristotelisch-maimonidischen, daß die
höchste Vollkommenheit nicht im Denken oder in der Erkenntnis,
sondern in der tätigen Liebe zu Gott beschlossen liege, daß allein
die sittliche, nicht aber die intellektuelle Vervollkommnung den Men-
schen Gott, dem Urquell des Guten, näher bringe. Von den zwei
biblischen Geboten: „Erkenne deinen Gott4* und „Liebe Gott mit dei-
nem ganzen Herzen“ gibt Crescas, im Gegensatz zu der rationalisti-
schen Schule, dem zweiten den Vorzug. Ferner behauptet er, daß die
göttliche Vorsehung sich nicht nur auf die Gesamtheit, auf die Ge-
schicke ganzer Völker, sondern auch auf die der Einzelindividuen,
auf das Leben jedes einzelnen Menschenwesens erstrecke. Indessen
sei die Prädestination nicht grenzenlos: vorausbestimmt seien ledig-
lich das äußere Geschehen, nicht aber die inneren Willens- und Ge-
dankenregungen der Vernunftwesen, weshalb denn auch ein das Gute
anstrebender und das Böse von sich weisender Mensch für den von
ihm bekundeten guten Willen, unabhängig von dessen Wirkungen
nach außen, der Belohnung teilhaftig werden könne. An Stelle der
dreizehn maimonidischen Grunddogmen des Judaismus zählt Crescas
deren nur acht auf: das Dogma von der Erschaffung der Welt mit-
samt der Materie, das von der Unsterblichkeit der Seele, von der Ver-
geltung im Jenseits, von der Auferstehung der Toten, von der ewigen
Unabänderlichkeit der Thora, von der überragenden Bedeutung Moses'
im Vergleich zu allen anderen jüdischen Gesetzeslehrern und von dem
Kommen des Messias; in einer bizarr anmutenden Laune fügte Cres-
cas in sein Glaubensbekenntnis auch noch den folgenden mythischen
Punkt als achten ein: den von der Offenbarung des heiligen Geistes
durch die Vermittlung des vom Hohepriester einst benutzten Orakels
„Urim und Tumim“ (Band I, § i3). Sein philosophisches Werk
schrieb Crescas erst nach der Katastrophe vom Jahre i3gi zu Ende,
bei der, wie erwähnt, sein einziger Sohn umgekommen war. Um die-
selbe Zeit verfaßte er in spanischer Sprache einen polemischen Trak-
tat über die Dogmen des Christentums, in dem er Glaubenslehren wie
die der Erlösung von der Erbsünde, die Menschwerdung Gottes und
das Dreifaltigkeitsdogma bekämpfte. Das Buch scheint vor allem jene
Juden im Auge gehabt zu haben, die im Schreckensjahre i3gi zum
Scheine die Taufe angenommen hatten, dann aber Gefahr liefen,
26g
Das spanische Zentrum im XIV. Jahrhundert
sich nach und nach von den Dogmen der ihnen aufgenötigten Reli-
gion verleiten zu lassen. Der spanische Urtext der Schrift ist uns
zwar nicht erhalten geblieben, doch besitzen wir manche Bruchstücke
davon in hebräischer Übersetzung („Bittul ikkare ha’nozrim“).
Den Mittelweg zwischen Philosophie und Kabbala schlug ein
Enkel des Rosch, Meir Aldahi, ein, der Verfasser des Buches „Die
Pfade des Glaubens“ („Schebile emuna“, i36o). Das Werk stellt
eine kurzgefaßte Enzyklopädie dar, die alles für einen Theologen
Wissenswerte enthielt. Die Lehre von Gott und seinen Attributen wird
hier mit kabbalistischen Gedankengängen verbrämt, die Theorie der
Weltschöpfung durch aus der damaligen Astronomie und Physik her-
angezogene Lehrsätze und die von der Schöpfung des Menschen durch
solche aus der Anatomie, Physiologie und Hygiene bekräftigt; in der
Darstellung der Lehre von der Seele sind Betrachtungen über die
religiöse Ekstase eingeflochten; die GesetzesvorSchriften der Thora
werden hier, ganz im Geiste der talmudischen Haggada, sowohl in
ethischem Lichte als in dem sagenhafter Überlieferungen dargestellt;
im Zusammenhang mit den Dogmen der Unsterblichkeit der Seele
und des Lebens nach dem Tode wird die mystische Lehre von der
Seelenwanderung abgehandelt. Das Buch stellt überhaupt ein buntes
Gemisch von heterogensten Systemen entlehnten Gedankengängen dar.
Wiewohl ein Eklektiker, läßt der Verfasser dennoch die Superiorität
der Tradition uneingeschränkt gelten. Er erklärt sich für einen Geg-
ner „jener Philosophie, die sich gegen unsere altehrwürdigen Mei-
ster dreist zu Worte meldet“; er gesteht zwar, die profanen Bücher
studiert zu haben, hebt jedoch hervor, daß er sich nur kurze Zeit da-
mit abgegeben hätte, „wohl wissend, daß dies sündhaft sei“; auch
hätte er dies nur zu dem Zwecke getan, „um einem Epikoros (Frei-
denker) die Antwort nicht schuldig bleiben zu müssen“. Unter diesem
Aushängeschild der Frömmigkeit vermochte das Buch des Aldabi
große Volkstümlichkeit zu erlangen und wurde später vielfach nach-
gedruckt, was zum Teil auch auf seine allgemeinverständliche Dar-
stellungsweise zurückzuführen ist.
Alle sonstigen Literaturzweige waren im XIV. Jahrhundert völlig
verdorrt. Die längst entschlummerte Dichtkunst hatte in diesem Zeit-
raum in Spanien keinen einzigen bedeutenden Vertreter aufzuweisen.
Die spanischen Schriftsteller wissen nur den bereits erwähnten (oben,
§ 34) jüdischen Hof dichter Santob de Carrion zu nennen, der in ka-
270
§ 38. Rabbinismus und konservative Philosophie (Crescas)
stilischer Sprache dem König Pedro „Ratschläge und Belehrungen“
erteilte. Santob (Schemtob) stand schon dem Vater des Pedro, Al-
fons XI., nahe. Im Kreise der Höflinge erschien der freimütige jü-
dische Dichter gleichsam als Widerspiel zu den Finanzmännern, die
den jüdischen Namen durchaus nicht immer in Ehren hielten. Als
alterprobter Ratgeber nahm sich Santob die Freiheit, an den jugend-
lichen König, dessen Leben in Familienzerwürfnissen und Bürger-
krieg auf ging, gereimte Ermahnungen in Form von Sentenzen zu
richten. In seinen mit Bibelversen und talmudischen Sinnsprüchen
gewürzten Strophen tadelte Santob die unersättliche Habgier der Men-
schen und verherrlichte das Wissen als ein „durch Geld nicht zu er-
werbendes Kleinod“. Bezeichnend für ihn ist die folgende Strophe:
„Man schätze mich nicht gering! Welcher reiche Jude könnte mit
mir den Wettkampf auf nehmen und singen, was ich singe?“ Den dem
Hofe nahestehenden reichen Juden mochten die gerade auf sie ge-
münzten Moralpredigten ihres Stammesgenossen wohl kaum besonders
behagt haben. Dieser spanische Troubadour des XIV. Jahrhunderts
ist indessen eine ebenso seltene Ausnahmeerscheinung wie Süßkind
von Trimberg im Deutschland des vorhergehenden Jahrhunderts
(oben, § 26).
271
Zweites Kapitel
Die Zerstörung
des französischen Zentrums
( I 3 l 5 — I 3p4)
§ 39. Die Rückkehr der Exulanten. Der Zug der Pastorellen und
die Verleumdung durch die Aussätzigen
Nachdem Philipp der Schöne im Jahre i3o6 die Juden aus Frank-
reich ausgewiesen hatte (oben, § 5), ging er bei der Liquidation ihres
Besitzes in einer Weise vor, die die Landesbevölkerung den Auszug
der jüdischen Mitbürger bald aufs schwerste bereuen ließ. Der beute-
gierige König setzte allenthalben seine Vertrauensmänner ein, die das
beschlagnahmte jüdische Eigentum flüssig zu machen und die von
Christen bei Juden aufgenommenen Darlehen einzutreiben hatten.
Diese Realisierung der vom König gemachten Beute nahm eine Reihe
von Jahren in Anspruch und war mit den allergrößten Schwierig-
keiten verbunden. Viele Exulanten hatten nämlich vor ihrem Abzug
ihr bewegliches Gut Christen anvertraut, und so sahen sich die mit
der Beschlagnahme betrauten königlichen Agenten genötigt, bei den
der Hehlerei verdächtigen Personen Haussuchungen vorzunehmen, was
den Landeseinwohnern nicht wenig Unannehmlichkeiten bereitete.
Noch schwieriger gestaltete sich die Eintreibung der Schulden,
namentlich in den Fällen, wo die Schuldverschreibungen abhanden
gekommen waren. Die christlichen Schuldner pflegten sich in solchen
Fällen entweder überhaupt nicht zu melden oder zu versichern, daß
sie ihre Schulden bereits den jüdischen Kreditgebern zurückgezahlt
hätten, während die bestechlichen Beamten bei diesen Betrügereien
gegen einen entsprechenden Teil der jüdischen Beute gern ein Auge
zudrückten. Es kam so weit, daß der König einige jüdische Gläubiger
ins Land zurückberief, damit sie seine säumigen Schuldner nam-
272
§ 39. Die Rückkehr der Exulanten
haft machten, wobei er den Juden einen Teil des einzutreibenden Be-
trages als Lohn in Aussicht stellte; die Gläubiger erwiesen sich in-
dessen in Sachen ihrer eigenen Expropriierung als durchaus unzuver-
lässig und zogen es vor, mit ihren Schuldnern für beide Teile gleich
vorteilhafte Abmachungen zu treffen. Das Ergebnis war, daß die von
dem König auf jüdische Kosten ausgeplünderte Bevölkerung, die sich
überdies durch die Ausweisung der Juden und „Lombarden“ des bil-
ligen Kredits beraubt sah, immer lauter zu murren begann. Um diese
Zeit eben kam das französische Volkslied auf: „Blieben die Juden
im französischen Lande, so stünde den Christen eine Stütze zur Seite,
die sie nun entbehren müssen“. Aber auch dem königlichen Schatze
selbst, der die eingezogenen Kapitalien der Juden, Lombarden und
Tempelherren rasch verschwendet hatte, fehlte es bald an einem ge-
eigneten Ausbeutungsobjekt.
Unter solchen Umständen mußte der Plan auftauchen, die Juden
von neuem ins Land zu locken, eine Absicht, die denn auch zehn
Jahre nach ihrer Austreibung, im Jahre i3i5, von dem neuen König
Ludwig X. zur Ausführung gebracht wurde. Zu diesem Zwecke wur-
den Unterhandlungen mit jenen Exulanten eingeleitet, die noch in
manchen von Vasallen Frankreichs beherrschten Gebieten zurückge-
blieben waren oder sich in den benachbarten spanischen Provinzen
niedergelassen hatten. Da indessen die Juden eine Wiederholung der
verübten Gewalttaten befürchteten, so verlangten sie bestimmte Ga-
rantien, worauf das folgende Übereinkommen abgeschlossen wurde:
Die Juden durften sich von neuem überall in den königlichen und
lehensherrlichen Besitzungen ansiedeln und unbehindert Handel und
Gewerbe treiben; Darlehen gegen Wucherzinsen sowie gegen Schuld-
verschreibungen sollten untersagt bleiben, hingegen sollten Darlehen
gegen Pfandsicherheit als zulässig gelten, wobei jedoch der bean-
spruchte Zins wöchentlich zwei Deniers vom Livre (43 Prozent Jah-
reszinsen) nicht übersteigen durfte. Zugleich wurde den Juden das
Recht zugesichert, bei ihren alten Schuldnern ein Drittel der an den
König noch nicht zurückgezahlten Beträge einzuziehen mit der Be-
dingung, daß zwei Drittel davon an den königlichen Schatz abgeführt
werden sollten. Bezüglich der noch unversehrt gebliebenen Synagogen
und Friedhöfe wurde den Juden ein Rückkaufsrecht zuerkannt und
auch die beschlagnahmten Bücher mit Ausnahme des Talmud sollten
ihnen zurückerstattet werden. Die Juden verpflichteten sich ihrer-
18 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
278
Zerstörung des französischen Zentrums
seits, auf ihren Gewändern ein rundförmiges Abzeichen van vorge-
schriebener Größe zu tragen und sich aller religiösen Auseinander-
setzungen mit christlichen Laien zu enthalten. Die Gültigkeitsdauer
des Vertrages wurde auf zwölf Jahre festgesetzt, nach deren Ablauf
es dem König freistand, die Juden aus Frankreich wieder auszuwei-
sen, jedoch unter Einhaltung einer einjährigen Kündigungsfrist. In
seinem Dekret über die Zurückberufung der Juden (vom 28. Juli)
hebt der König ausdrücklich hervor, daß sein seliger Vater sie aus
Frankreich nur auf Einflüsterungen schlechter Ratgeber ausgewiesen
hätte, daß er, Ludwig, aber mit Zustimmung der Prälaten und Barone
es für gut befunden hätte, sie wieder ins Land zu rufen, da dies der
„Stimme des gesamten Volkes“ („commune clamour du peuple“) ent-
spräche.
Viele Ausgewiesene zögerten denn auch nicht, aus den französi-
schen Randgebieten, zum Teil auch aus dem Auslande, nach Frank-
reich zurückzukehren. Die an den Ruin gebrachten, ihres ganzen Ver-
mögens beraubten jüdischen Familien gingen nunmehr daran, durch
Rückkauf des enteigneten Besitzes und durch Realisierung der win-
zigen Überreste ihrer ehemaligen Geldforderungen ihren Wohlstand
wieder aufzubauen. Die zerstörten Gemeinden begannen sich von
neuem einzurichten, indem sie ihre alten Synagogen und ihren son-
stigen Besitz von den christlichen Eigentümern zurückerwarben. An
diesem Wiederherstellungswerke arbeiteten in den einzelnen Städten
besondere Kommissionen, an denen sich neben den Vertretern der
jüdischen Gemeinden auch königliche Beamte beteiligten. Doch war
es nicht mehr möglich, das einmal Zerstörte in vollem Umfange wie-
der aufzubauen. Die Zahl der Gemeindemitglieder war stark zurück-
gegangen, weil nur ein Teil der Verbannten sich zur Rückkehr ent-
schlossen hatte; die meisten darunter gehörten überdies der weniger
bemittelten Schicht an, da die Wohlhabenderen bereits in anderen
Ländern festen Fuß gefaßt hatten. Trotz dieser ungünstigen Verhält-
nisse hätte das jüdische Zentrum in Frankreich vielleicht dennoch
wiederhergestellt werden können, wenn den Heimgekehrten in der
Tat jene Sicherheit von Leben und Besitz zuteil geworden wäre, die
ihnen durch die Dekrete Ludwigs X. und seines Nachfolgers Phi-
lipp V. (1817) so feierlich gewährleistet worden war. Indessen ging
es über die Kraft der damaligen französischen Herrscher, für das
von ihnen verpfändete Wort einzustehen. Verfolgungen und Gewalt-
274
§ 39. Die Rückkehr der Exulanten
taten nahmen jetzt nicht mehr oben, in der Nähe des Thrones, ihren
Ursprung, sondern unten, in den Tiefen der Volksmassen. Die christ-
liche Bevölkerung Frankreichs stand in dieser Zeit im Banne rohe-
sten Aberglaubens und blödsinnigster Vorurteile, die nicht selten in
religiösen Irrwahn ausarteten. Der Glaube an die Wunderkraft der
Heiligenbilder einerseits und an die Macht der Schwarzkünstler an-
dererseits bildete den Kern der Religion des gemeinen Mannes, den
der Klerus mit Absicht in dunkelster Unwissenheit verharren ließ.
Auf dem Boden dieser verzerrten Weltauffassung mußte der Glaube
an die von den Juden angeblich betriebenen mysteriösen Blasphemien
und Übeltaten üppig ins Kraut schießen. So wurden denn die Juden
bald der Ermordung christlicher Kinder zwecks Verwendung ihres
Blutes beim Passahmahl, bald der Schändung der kirchlichen Sakra-
mente beschuldigt. Auf Grund solcher falscher Anschuldigungen wur-
den im Jahre 1817 in Ghinon zwei Juden dem Henker überliefert
Ähnliche Verleumdungen wurden auch an anderen Orten laut, und
gar bald entstand in Frankreich eine Massenbewegung, wie sie seit
der Zeit der Kreuzzüge nicht mehr in Erscheinung getreten war. Es
war dies jene Bauernbewegung, die in der Geschichte unter dem Na-
men „Zug der Pastorellen“ (pastoureaux) fortlebt.
Im Jahre 1820 verbreitete sich nämlich das Gerücht, daß der
König Philipp V. einen neuen Kreuzzug nach dem Morgenlande plane.
Das Volk geriet in Erregung. Ein jugendlicher Hirt wußte zu erzähl-
ten, daß er eine wunderbare Vision gehabt hätte: Tag für Tag sei
eine Taube zu ihm herabgeflogen, um sich bald auf sein Haupt, bald
auf die Schulter zu setzen; als er eines Tages die Taube zu ergreifen
versuchte, hätte sie sich in eine schöne Jungfrau verwandelt und ihn
aufgefordert, ein Kreuzfahrerheer aufzubieten und gegen die Ungläu-
bigen ins Feld zu ziehen, denn es seien ihm, so hätte sie geweissagt,
ruhmreiche Siege beschieden. Bald versammelten sich um ihn im
Flußgebiet der Garonne Haufen von Bauern und Hirten, denen sich
auf ihrem Zuge allerlei lichtscheues Gesindel anschloß. Im Südwesten
Frankreichs wandten sich die zuchtlosen Banden, von ihren Füh^
rern, zwei wegen ihres lasterhaften Wandels aus der Kirche aus-
gestoßenen Geistlichen, auf gehetzt, gegen die wehrlosen Juden. In der
Nähe von Toulouse schlossen sich etwa fünfhundert auf der Flucht
vor den Unmenschen begriffene Juden in einer Burg ein und wehrten
sich mit aller Kraft gegen die ungeheure Übermacht der sie belagern-
18*
275
Zerstörung des französischen Zentrums
den Feinde. Diesen gelang es jedoch, die Feste in Brand zu stecken
und in ihre Tore einzubrechen. Um der unabwendbaren Taufe zu ent-
rinnen, griffen die Juden zu einem alterprobten Mittel: sie schnitten
sich gegenseitig die Kehle durch; doch brachten sie es nicht übers
Herz, auch ihre Kinder mit sich in den Tod zu nehmen. Diese fielen
so den Siegern in die Hände und wurden der Taufe zugeführt. Die
Stadthauptleute machten zwar den Versuch, die Juden in Schutz zu
nehmen; indessen war es nicht leicht, den Mordgesellen, die dem
Volke als Helden des Glaubens galten, Einhalt zu gebieten. So fielen
ihnen denn die Juden in Toulouse, Bordeaux, Albi und an anderen
Orten zum Opfer. Erst nachdem die Volksunruhen zu einer Gefahr
auch für den Adel und die Geistlichkeit geworden waren, erging vom
Papste Johann XXII. aus Avignon der Befehl, den Banditen Zügel
anzulegen. Nunmehr rückte die christliche Bevölkerung überall von
den Hirten entschieden ab. Die gegen Narbonne vorrückenden Banden
wurden angehalten und zerstreut. Kleineren Haufen der Hirtenarmee
gelang es jedoch, nach den benachbarten Gebieten von Navarra und
Aragonien durchzubrechen, die sie, wie erwähnt, eine Zeitlang un-
sicher machten. Wenn der Bericht eines Chronisten aus späterer Zeit
(Ibn Verga) auf Wahrheit beruht, kamen in Frankreich und Nord-
spanien während der Schrecken des Hirtenzuges („Geserath haToim“)
etwa hundertundzwanzig jüdische Gemeinden zu Schaden.
Kaum hatten sich die französischen Juden von dieser Katastrophe
erholt, als sie schon von neuem Unheil heimgesucht wurden. In Frank-
reich gab es nämlich um jene Zeit viele Aussätzige, die wegen der An-
steckungsgefahr außerhalb der Städte angesiedelt zu werden pfleg-
ten, wo sie ein elendes, armseliges Dasein führen mußten. Von Rache-
gefühlen gegen die sie ausstoßende Menschheit getrieben, begannen
nun die Aussätzigen in Südfrankreich, wie die Volksmär behauptete,
das Wasser in den Brunnen und Flüssen zu vergiften, wodurch viele
Menschen ums Leben kamen (i32i). Als die des Verbrechens Ver-
dächtigen ergriffen wurden, wurde ihnen auf der Folterbank die
Aussage abgepreßt, daß der teuflische Plan der Brunnenvergiftung
ihnen von den Juden eingegeben worden sei. Das schlechte Gewissen
der christlichen Judenhasser, die sich noch vor kurzem für die Aus-
rottung der jüdischen Bevölkerung ereifert hatten, mochte es ihnen
als plausibel erscheinen lassen, daß sich die Opfer nun an ihren Pei-
nigern für den Hirtenzug zu rächen suchten. Der niedrigen Verleum-
276
§ 39. Die Rückkehr der Exulanten
düng schenkte zunächst sogar König Philipp V. Glauben. Man stellte
Nachforschungen an und bald wurden gefälschte Briefe vorgelegt,
die angeblich im Namen der maurischen Herren von Granada und
Tunis den Juden mitsamt einer beträchtlichen Geldsumme und Gift-
stoffen zugeschickt worden waren, welch letztere sie den Aussätzigen
„für den bewußten Zweck“ weiter geben sollten. Dies sollte den Be-
weis dafür erbringen, daß sich die Juden mit den Muselmanen gegen
die Christen verschworen hätten. Man behauptete, daß es gelungen
wäre, Aussätzige der Verwahrung eines garstigen Giftes (einer Mi-
schung von Blut, Urin, Kräutern und Hostienbrocken) zu überführen.
So wurden denn neben den Aussätzigen auch die Juden zur Folter-
bank und auf das Schafott geschleppt. Eine grausige Apotheose fand
die Verfolgung im Sommer des Jahres 1821 in der Stadt Chinon,
deren Gemeinde eben erst von dem Pastorellenzug heimgesucht wor-
den war: in einer Grube wurde ein Scheiterhaufen angezündet und
als er lichterloh brannte, wurden hundertundsechzig Juden in die
Flammen geworfen. Vereinzelte Hinrichtungen fanden auch an ande-
ren Orten, SO' auch in Paris statt. In Tours wurden die Juden bis zum
Abschluß der vom König angeordneten Untersuchung im Gefängnis
gehalten. Die Untersuchung vermochte jedoch nicht einmal die aber-
gläubischen Richter von der Stichhaltigkeit der gegen die Juden er-
hobenen Anschuldigung zu überzeugen, und die Hinrichtungen nah-
men bald ein Ende. Der König ließ sich indessen die Gelegenheit zu
einer Ausplünderung der Juden nicht entgehen und legte den fran-
zösischen Gemeinden die ungeheure Geldstrafe von 15o 000 Livres
auf. Damit war hinter die Katastrophe des Jahres i32i, die in den
jüdischen Annalen unter der Bezeichnung „Die Drangsal wegen der
Aussätzigen“ („Geserath ha’mezoraim“) bekannt ist, der Schlußpunkt
gesetzt.
Die Juden waren somit nach Frankreich gleichsam nur dazu zu-
rückgekehrt, um von dem Volke hingemordet und von der Regierung
ausgeplündert zu werden. Die im Jahre i3i5 gegebenen Zusicherun-
gen erwiesen sich als leerer Schall. Und doch wollten die Könige
trotz ihrer Ohnmacht gegenüber den Gewalttaten der Massen nicht
darauf verzichten, den jüdischen Besitz als ihr Privateigentum zu
betrachten. Karl IV., der Nachfolger Philipps V., ließ die von diesem
den jüdischen Gemeinden auf erlegte Kontribution so rücksichtslos
eintreiben, daß viele Juden es vorzogen, Frankreich von neuem zu
277
Zerstörung des französischen Zentrums
verlassen (1S22). An manchen Orten beeilten sich die Behörden noch
vor dem freiwilligen Abzug der jüdischen Einwohner deren Besitz
zu beschlagnahmen und sie mit geleerten Taschen aus dem Lande zu
treiben. In dem Zeitraum zwischen 1822 und i359 hatten denn auch
die Zentralgebiete Frankreichs fast gar keine jüdischen Gemeinden
aufzuweisen. Als im Jahre i348 die Feuersbrunst des „Schwarzen
Todes“ ausbrach, um das jüdische Deutschland in Schutt und Asche
zu legen, konnte sich das Feuer in Frankreich wegen Mangels an
Brennstoff nicht ausbreiten, und so wurden nur wenige jüdische Sied-
lungen in der Provence durch die Flammen versengt.
§ 40. Der vorübergehende Aufenthalt der Juden in Frankreich und
ihre endgültige Vertreibung
Zu ihrem eigenen Unheil vermochten die ausgewanderten Juden
die Hoffnung auf eine Wiederkehr nach Frankreich noch immer
nicht aufzugeben und auch die Könige vermißten nur ungern ihre
„handeltreibenden Fronknechte“. Der endlose Krieg mit England
verschlang enorme Geldsummen, bei deren Beschaffung sich die Ju-
den besonders nützlich hätten erweisen können. In einer überaus pre-
kären Lage sah sich die königliche Familie namentlich nach der
Niederlage bei Poitiers und der Gefangennahme des Königs Johann II.
(i356): der Staatsschatz war leer, die Stadt*- und Landbevölkerung
war in Aufruhr geraten („Jacquerie“) und Frankreich schien am
Rande des Verderbens zu stehen. Da beschloß der jugendliche Dau-
phin, der nachmalige König Karl V., der das Land als Stellvertreter
seines Vaters regierte, die Juden zurückzuberufen, und trat in dies-
bezügliche Unterhandlungen mit ihrem Vertreter in Paris, dem Fi-
nanzmann Manecier de Vesoul. Im Jahre i36o tat der Regent in
einem besonderen Erlasse kund, daß er mit Zustimmung des Klerus,
des Adels und der Bürgerschaften den Juden gestatte, sich in Frank-
reich in Stadt und Land für die Dauer von zwanzig Jahren von neuem
anzusiedeln, Grundstücke und Häuser zu erwerben, Handel zu trei-
ben und sich mit Kreditgeschäften zu befassen. Bei der Einreise
sollte jedes Familienhaupt eine bestimmte Geldsumme erlegen und
überdies alljährlich für jedes Familienmitglied eine gewisse Extra-
steuer entrichten. Dafür wurden den Juden neben den erwähnten
noch folgende Vorrechte verliehen: es wurde ihnen ausdrücklich der
278
§ 40. Die endgültige Vertreibung aus Frankreich
Schutz gegen die Willkür der königlichen Beamten und Pachter ge-
währleistet, ihre inneren Rechtsstreitigkeiten durften vor einem Kol-
legium aus zwei Rabbinern und vier Gemeindemitgliedern ausgetra-
gen werden, wobei allerdings die von den jüdischen Richtern auf-
erlegten Geldstrafen wie auch die eingezogenen Vermögen der Ver-
urteilten dem königlichen Schatze zufallen sollten; außerdem wurde
es strengstens untersagt, sich an dem beweglichen Gut der Juden, an
ihren Getreidescheunen, Weinkellern, Viehherden sowie an ihren hei-
ligen Büchern zu vergreifen; schließlich gestattete man den Juden,
bei der Betreibung des ihnen freigegebenen Kreditgeschäftes das Geld
gegen Pfandsicherheit und bei großem Pdsiko auch gegen ent-
sprechend hohe Zinsen auszuleihen. Ein Prinz aus dem königlichen
Hause, Graf d’Etampes, wurde zum Generalvormund und Beschützer
der Juden (gardien general des juifs) ernannt, während Manecier de
Vesoul zum Hauptsteuereinnehmer (receveur general) eingesetzt
wurde, der für den Eingang aller auf den französischen Juden lasten-
den Steuern verantwortlich war.
Diese Privilegien (zum Teil eher „privilegia odiosa“, so z. B. das
Piecht, hohe Zinsen zu beanspruchen, wodurch die Staatseinkünfte
erhöht werden sollten) vermochten jetzt nur wohlhabende Leute nach
Frankreich zu locken. Auch diesmal wurden indessen die verbrieften
Garantien nicht immer gehalten. So schrieb man den Juden auf die
Umtriebe des Klerus hin von neuem vor, ein rotes rundförmiges Ab-
zeichen (rouelle) von der Größe des königlichen Siegels auf dem
Gewände zu tragen. Jüdische Ärzte durften ihren Beruf erst nach
Ablegung einer Prüfung vor einer christlichen Aufsichtsbehörde aus-
üben, und auch die solchermaßen eingeschränkte Erlaubnis wurde
später rückgängig gemacht.
Die Vertreter der französischen Judenheit, die Karl V. die an-
sehnlichen Beträge für die Aufenthaltsgenehmigung zu überbringen
pflegten, erfreuten sich der besonderen königlichen Gunst. Es waren
dies der bereits erwähnte Manecier de Vesoul in Nordfrankreich und
Denis Quinon im Süden, im Languedoc. Zum Zeichen seines hohen
Wohlwollens befreite der König seine Hauptsteuereinnehmer sowie
den Oberrabbiner Mattathias Provenci, den Rektor der Pariser Tal-
mudschule, vom Tragen des „Judenrädchens“. Auf die Vorstellungen
des Quinon hin entband Karl außerdem die Juden des Languedoc von
der Verpflichtung, dem Gottesdienst und den Predigten der Missio-
279
Zerstörung des französischen Zentrums
nare in den Kirchen beizuwohnen, da dies für sie, wie es im könig-
lichen Befehle hieß, „mit der Gefahr einer Körperverletzung ver-
bunden war“ (um ihre „Seele“ scheint wohl den unfreiwilligen Zu-
hörern nicht im geringsten bange gewesen zu sein). Die „verhaßten
Privilegien“ blieben indessen nicht ohne Wirkung: die vom Kredit-
geschäft lebenden Juden, die an den Staatsschatz ungeheure, zuweilen
ihre Leistungsfähigkeit übersteigende Steuern zu entrichten hatten,
bedrückten ihrerseits ihre eigenen Schuldner, indem sie ihnen hohe
Zinsen abforderten. Von neuem wurden Klagen gegen den jüdischen
Wucher laut. In Paris gingen solche Anschuldigungen in erster Linie
von den heruntergekommenen Verschwendern unter den Edelleuten
aus, die bei den Juden stark verschuldet waren und gern ihre lästigen
Gläubiger los werden wollten. Schon war der König bereit, den mit
den Juden geschlossenen Vertrag zu kündigen, nahm aber dann von
seinem Vorhaben Abstand und begnügte sich mit einem entsprechen-
den Lösegeld (i368).
Im Jahre i38o war die zwanzigjährige Frist, für die den Juden
der Aufenthalt in Frankreich gewährt worden war, abgelaufen.
Der gerade in diesem Jahre zur Regierung gelangte neue König
Karl VI. verlängerte das Aufenthaltsrecht seiner jüdischen Untertanen
und bestätigte auch, allerdings gegen einen angemessenen Steuer-
hetrag, ihre „Privilegien“. Die „jüdische Beute“ reichte indessen
nicht aus, den Bedarf des Fiskus voll zu decken, und so hatte unter
dem Steuerdruck auch die christliche Bevölkerung schwer zu leiden.
Die Vergünstigungen, die man von dem neuen König erhoffte, blie-
ben aus, und bald kam es in Paris zu offenem Aufruhr. Die Bürger-
schaft verlangte die Herabsetzung der Steuersätze, während eine
Gruppe von Edelleuten, die sich der Menge angeschlossen hatte, über-
dies noch die Ausweisung ihrer jüdischen Gläubiger forderte. Nach
Ausplünderung des Staatsschatzes drang das Volk in das jüdische
Viertel ein, bemächtigte sich der Habe seiner Einwohner, zerriß die
bei den Geschäftsleuten Vorgefundenen Schuldverschreibungen und
nahm die in ihren Häusern verwahrten Pfänder weg; hierbei wurden
auch nicht wenige Juden niedergemacht und eine große Zahl von jü-
dischen Kindern gewaltsam der Taufe zugeführt. Nach der Unter-
drückung des Aufruhrs befahl der König dem Pariser Stadthaupt-
mann (prevot), den Ausgeplünderten ihren Besitz zurückzuerstatten
und den Eltern ihre entführten Kinder zurückzugeben, doch leisteten
280
§ 40. Die endgültige Vertreibung aus Frankreich
diesem Befehl, wie der französische Chronist berichtet, nur die we-
nigsten Folge. Zwei Jahre später verursachte der übermäßige Steuer-
druck eine neue Rebellion, die der „Maillotins“, und auch diesmal
ließ die aufrührerische Menge in Paris und in anderen Städten ihre
Wut nicht nur an den Beamten und Steuereinnehmern, sondern auch
an den Juden aus. Viele Juden verließen hierauf Paris, andere wil-
ligten, um ihr Leben zu retten, in die Taufe ein.
Seitdem war die Agitation gegen die Juden in stetem Wachsen be-
griffen. Die gesamte Judenheit wurde für die Sünden einzelner aus
ihrer Mitte hervor gegangener Wucherer verantwortlich gemacht. Das
Volk wollte zwischen diesen und den beamteten königlichen Steuerein-
nehmern keinen Unterschied machen, da auch die jüdischen Ausbeu-
ter letzten Endes zugunsten des Staatsschatzes „wirkten“. Kam es auf
Betreiben jüdischer Gläubiger zur Verhaftung säumiger christlicher
Schuldner, so stieg die Entrüstung der Bevölkerung vollends über alle
Maßen. Die Gläubiger selbst mußten aber dem König ihren völligen
Ruin klagen. So erklärten die Vertreter der Pariser Gemeinde, daß sie
ohne Unterstützung von seiten ihrer Stammesgenossen im Languedoc
die geforderten Steuern nicht aufzubringen vermocht hätten (1887).
Mittlerweile fuhr die Geistlichkeit fort, das Volk gegen die „Ungläubi-
gen“ aufzuhetzen, und machte sich hierbei namentlich den folgenden
Vorfall zunutze. Während der Judenverfolgungen hatte ein reicher
Jude namens Denis Machaut die Taufe angenommen, war aber dann,
von Reue erfüllt, aus Paris geflohen, um zu seinem angestammten
Glauben zurückkehren zu können. Es verbreitete sich nun das Gerücht,
daß die jüdischen Einwohner von Paris Machaut zur Flucht verholfen
hätten, worauf sieben der Beihilfe beschuldigte Vertreter der Pariser
Gemeinde zum Flammentode verurteilt wurden. Das grausame Todes-
urteil, das von einem aus Beamten und Priestern zusammengesetzten
Tribunal gefällt worden war, wurde vom Parlament dahin abgeändert,
daß die Verurteilten an drei aufeinanderfolgenden Sabbattagen auf
drei verschiedenen Pariser Plätzen öffentlich ausgepeitscht und bis
zur Rückkehr des „Apostaten“ Machaut in Gewahrsam gehalten wer-
den sollten (April i3g4). Durch diesen Vorfall hatte sich die Lage
noch mehr verschärft.
Ein halbes Jahr später erließ denn auch Karl VI. ein Dekret über
die Vertreibung der letzten Überreste der jüdischen Bevölkerung aus
allen königlichen Landen Frankreichs (17. September i3g4). Der
281
Zerstörung des französischen Zentrums
König — so heißt es in diesem Dekret — hätte von vertrauenswürdi-
gen Männern erfahren, daß viele seiner Untertanen die Juden schwe-
rer Vergehen gegen den heiligen Glauben sowie des Mißbrauchs der
ihnen verliehenen Privilegien beschuldigten, weshalb er denn beschlos-
sen hätte, ihnen fürderhin den Aufenthalt in allen nördlichen wie
südlichen Iironlanden Frankreichs strikt zu untersagen. Zur Regelung
ihrer Geschäfte, zur Eintreibung der Schulden und der Liquidation
ihres Besitzes wurde den Juden eine sechswöchentliche Frist einge-
räumt. Gegen Ende des Jahres i3g4 verließen Tausende von jüdi-
schen Familien von neuem jenes Land, wo sie durch die Habgier der
Herrscher, den Fanatismus der Geistlichkeit und den rohen Aber-
glauben der Massen in den schmachvollen Zustand sozialer Sklaverei
versetzt worden waren und ständig um ihr nacktes Leben zittern muß-
ten. Manche Städte sowie einzelne Großgrundbesitzer hätten zwar die
Juden gern bei sich behalten, doch waren sie genötigt, dem könig-
lichen Befehl zu gehorchen. Unter der Wucht dieses vernichtenden
Schlages verschwanden die Gemeinden in Nordfrankreich und im Lan-
guedoc von der Erdoberfläche. Von Paris bis nach Narbonne war alles,
was von einer langen Reihe von Generationen in mühsamer Kultur-
arbeit geschaffen worden war, spurlos weggewischt. Von dem jüdi-
schen Frankreich blieben nur noch klägliche Überreste erhalten; aber
auch diese sollten bald dem Verderben anheimfallen.
§ Ul. Die letzten Überreste der französischen Judenheit (XV. Jahr-
hundert)
Von der Ausweisung des Jahres i3g4 blieben nur drei von den
französischen Königen unabhängige Provinzen unberührt. Es waren
dies die autonome Provinz Dauphine, ein großer Teil der Provence
und der päpstliche Bezirk Avignon. In die hier unversehrt ge-
bliebenen Gemeinden siedelte nun ein beträchtlicher Teil der Ver-
bannten aus dem königlichen Frankreich über, während der Rest in
fremden Ländern: in Savoyen, Italien, Deutschland und dem soeben,
im Jahre iSgi, von einer schweren Katastrophe heimgesuchten Spa-
nien Zuflucht suchte. Dem Teil der Judenheit Frankreichs, der sich
in den autonomen französischen Ländern niedergelassen hatte, sollte
eine hundertjährige Schonfrist zuteil werden, bis zur Ausdehnung
der Gewalt der „allerchristlichsten“ Könige auch auf diese Provinzen.
282
§ Ul. Die letzten Überreste der französischen Judenheit
Die Geschichte dieser Splitter des zerstörten Zentrums bildet gleich-
sam den Epilog zu der von der französischen Judenheit erlebten Tra-
gödie.
Den jüdischen Gemeinden in der Dauphine, in den Städten Gre-
noble, Nyon, Vienne und manchen anderen strömten im Laufe des gan-
zen XIV. Jahrhunderts seit der Vertreibung im Jahre i3o6 unausge-
setzt Auswanderer aus den Kronländern zu. Die den Ankömmlingen
Zuflucht gewährenden Landesherren, die Dauphins, waren bestrebt,
aus der erwiesenen Wohltat möglichst viel Kapital zu schlagen. Sie
belasteten die Juden mit schweren Steuern und machten sich ihre Fi-
nanztüchtigkeit zunutze, ohne ihnen indessen in Augenblicken der Ge-
fahr ausreichenden Schutz zu gewähren. So ging es hier zur Zeit des
„Schwarzen Todes“ (i348) nicht ohne Mißhandlung von der Verbrei-
tung der Pest verdächtigen Juden ab. Je mehr Ausgewiesene aus Frank-
reich in der Dauphine eine Zufluchtsstätte suchten, desto höher stieg
jedoch der Preis für die gewährte Gastfreundschaft. Jedes Zugeständ-
nis, jedes „Privileg“ mußte teuer bezahlt werden. Im Jahre i388 er-
klärte der Dauphin Humbert II. alle den Juden bis dahin eingeräum-
ten Vorrechte für ungültig, um so für die Verleihung neuer Frei-
briefe einen neuen Tribut fordern zu können. Außer der Erhebung
der ordentlichen und außerordentlichen Abgaben griff man nicht sel-
ten zu Brandschatzungen und zur Vermögenseinziehung. Man ahmte
hierbei in allen Einzelheiten die damalige französische Mode nach und
verzichtete nur auf deren für den Staatsschatz so nachteiligen Aus-
wuchs — auf die Ausweisung. So verfügte die Regierung im Jahre
i/ji3 dem Klerus zu Gefallen, daß die Juden in den Städten auf be-
sonderen Märkten Handel treiben, nur ihre eigenen öffentlichen Brun-
nen und Backöfen benützen und mit den Christen überhaupt nicht
verkehren sollten. Bald nach der Angliederung der Dauphine an die
Kronländer Frankreichs (i456) machte sich das Bestreben bemerk-
bar, die Juden auch aus diesen Provinzen zu verdrängen. Der Dauphin
Ludwig, der spätere König Ludwig XL, suchte alle möglichen Vor-
wände, um ihnen auf den Leib zu rücken. In Vorahnung der heran-
nahenden Vertreibung begannen nun die Juden dieses Land, das den
ewigen Wanderern für eine kurze Zeit Obdach gewährt hatte, frei-
willig zu verlassen.
Viel schwerer fiel es den in der Provence ansässigen Juden, sich
von ihrer alten Heimat, von Städten wie Arles und Marseille zu tren-
283
Zerstörung des französischen Zentrums
nen, in denen sich ihre Vorfahren schon vor der Bekehrung der Gal-
lier zum Christentum angesiedelt hatten. In dieser kulturell am höch-
sten stehenden Provinz Frankreichs, die im XIV. Jahrhundert an das
unabhängige gräfliche Haus von Anjou gefallen war, waren die Ju-
den mit dem in den Städten blühenden Handel und der Industrie un-
löslich verbunden. In der Hauptstadt des Küstengebietes, in Marseille,
wurden sie offiziell als „Vollbürger“ (cives Massiliae) anerkannt, und
ihre wirtschaftliche Tätigkeit unterschied sich hier nur wenig von der
der Christen. Sie beschäftigten sich mit Handwerk und Handel und
gingen auch freien Berufen, namentlich dem ärztlichen nach, wäh-
rend ihnen auf dem Gebiete des Kreditgeschäftes als mächtige Bivalen
die Christen gegenüberstanden, denen dieser von der Kirche verpönte
Erwerbszweig hier, im Brennpunkt des Welthandels, wo der Kredit
eine Hauptstütze des geschäftlichen Verkehrs war, anscheinend von
Rechts wegen freigegeben war1). Der Vorstand der jüdischen Ge-
meinde von Marseille war dem christlichen Magistrat als autonome
Institution durchaus ebenbürtig. Zwar machten die Herrscher aus
dem Hause Anjou mehrmals den Versuch, die provenzalischen Juden
dem überall in den christlichen Staaten üblichen Regime zu unter-
stellen: sie nötigten ihnen das Judenzeichen auf, untersagten ihnen,
an christlichen Feiertagen Arbeit zu verrichten, und legten ihnen so-
gar in bezug auf die Handelsschiffahrt allerlei Beschränkungen auf,
doch vermochten sich all diese Unterdrückungsmaßnahmen in der
freien Atmosphäre eines Industriezentrums wie Marseille nicht ein-
zubürgern. Die jüdische Gemeinde wehrte sich hier im Laufe des
ganzen XIV. Jahrhunderts erfolgreich gegen jeden Anschlag auf ihre
altverbrieften Privilegien und wurde dabei von den Munizipalbehör-
den, die die städtischen Freiheiten auch ihrerseits gegen die Grafen
und Herzoge zu schützen hatten, aufs wirksamste unterstützt. So
konnte denn die Provence den Verbannten aus dem königlichen Frank-
reich eine Zeitlang ein sicheres Asyl gewähren. Der immer mehr an-
schwellende Strom der Ankömmlinge aus dem Norden und besonders
aus dem benachbarten Languedoc wurde jedoch den autochthonen
provenzalischen Gemeinden allmählich zum Verhängnis. Nach der
Ausweisung vom Jahre i3g4 wurde das Verhalten der Landesbevöl-
1) Aus den aus jener Zeit stammenden Archivakten ist zu ersehen, daß in
Marseille Christen den Juden gar häufig gegen überaus hohe Zinsen Geld zu
leihen pflegten.
284
§ 41. Die letzten Überreste der französischen Judenheit
kerung gegen die Juden immer unfreundlicher. Der Kampf ums Da-
sein spitzte sich immer mehr zu, der Wettbewerb auf dem Gebiete des
Handels verschärfte sich und die Mißbräuche im Kreditgeschäft tra-
ten immer häufiger zutage. Es kommt nunmehr zu einer Vertauschung
der Rollen: während die Munizipalbehörden jetzt den Juden, die der
christlichen Kaufmannschaft den Rang abliefen, feindlich gegenüber-
treten, sind es die Grafen oder die „Könige aus dem Hause Anjou“,
die sie als ihre tributpflichtigen Untertanen in Schutz zu nehmen
pflegen. So verläuft hier das XV. Jahrhundert im Zeichen äußerst
gespannter Beziehungen, die durch die Einmischung der Geistlich-
keit, wie schon so oft, eine noch größere Verschärfung erfahren. Die
Juden werden zum Anhören der in den Kirchen gehaltenen Missions-
predigten gezwungen, und es kommt immer häufiger zu gewaltsamer
Taufe jüdischer Kinder. Die von den Grafen von Anjou zum Schutze
der berechtigten Interessen der jüdischen Bevölkerung eigens einge-
setzten Beamten, die sogenannten „conservateurs“, sahen sich häufig
außerstande, ihre Schutzbefohlenen vor den Massenausschreitungen
zu bewahren. Im Jahre i436 wurde die jüdische Gemeinde von Aix
(das hebräische „Aigs“) von christlichen Glaubenseiferern aus dem
Grunde überfallen, weil eines ihrer Mitglieder, Astruc de Leon, an-
geblich „die heilige Jungfrau geschmäht“ hatte. Noch ehe Astruc
nach dem Gerichtsurteil auf dem Blutgerüst sein Ende gefunden hatte,
übte das Volk an den Juden durch Selbstjustiz blutige Rache, indem
es einige von ihnen umbrachte, andere unter Androhung des Todes
zur Taufe zwang und sich überdies an jüdischem Hab und Gut ver-
griff. Zu ähnlichen Hetzen kam es auch in Arles und in anderen
Städten.
Gegen Ende des XV. Jahrhunderts war in dem politischen Ge-
schick der Provence eine einschneidende Änderung eingetreten: im
Jahre i48i trat der Herrscher aus dem Hause Anjou das Land an den
französischen König Ludwig XI. ab, und die Feinde des Judentums
nahmen die Gelegenheit wahr, um den Anbruch der neuen Zeit durch
eine Reihe von Judenhetzen zu feiern. Im Jahre i484 verstanden es
geschickte Aufwiegler, die Wut der infolge der Mißernte in Auf-
ruhr geratenen Land- und Bürgersleute auf ihre jüdischen Mitbürger
zu lenken. Banden von erwerbslosen Schnittern brachen mordend,
plündernd und die Einwohner zur Taufe zwingend in die jüdischen
Viertel von Arles, Tarascon und Aix ein. In Marseille, das von Hun-
285
Zerstörung des französischen Zentrums
ger und Pest besonders schwer heimgesucht war, nahm an der Ver-
folgung auch die den Juden feindlich gesinnte Bürgerschaft regsten
Anteil (i485), um bald darauf, sich auf den in der Judenhetze zum
Ausdruck gekommenen „Volks willen“ berufend, an den König
Karl VIII. einen Vertreter mit der Bitte zu senden, die Stadt von den
sie angeblich durch ihre Kreditoperationen knechtenden Juden gründ-
lich „zu säubern“. Hierbei wurde der König darauf verwiesen, daß
er mit der Angliederung der Provence an die französische Krone die
„lobenswerte“ Ausweisungspolitik seiner Vorgänger auch auf das neu
erworbene Gebiet erstrecken müßte. Karl konnte sich indessen nicht
entschließen, die Juden aus der Provence zu vertreiben, und suchte
die Bittsteller dadurch zufriedenzustellen, daß er die Annullierung
aller jener Geldschulden anordnete, bei denen die Zinsen in gesetz-
widriger Weise in den geschuldeten Betrag miteinkalkuliert waren.
Für viele jüdische Gläubiger bedeutete diese Verordnung den völligen
Ruin. All dies löste unter den Juden eine starke Emigrationsbewegung
aus. Desungeachtet vermochten sich die jüdischen Gemeinden der Pro-
vence noch einige Jahre zu halten. Als sich im Jahre 1492 in der
gesamten Weltdiaspora die erschütternde Kunde von der Vertreibung
der Juden aus Spanien verbreitete, nahm auch die Gemeinde von
Marseille wärmsten Anteil an dem traurigen Los der spanischen Brü-
der und es gelang ihr eines Tages, hundertundachtzig von Seeräubern
gefangengenommene und nach dem Marseiller Hafen verschleppte
Exulanten von der Sklaverei loszukaufen. Gar bald sollte jedoch die
jüdische Provence selbst von ihrem Schicksal ereilt werden. Das „lo-
benswerte Beispiel seiner Vorgänger“ und der Eifer solcher Nachbarn
wie Ferdinands des Katholischen und Isabellas von Kastilien bewogen
schließlich auch den französischen König zu energischem Handeln.
Im Jahre 1496 erließ Karl VIII. einen Befehl über die Vertreibung
der Juden aus Arles und Tarascon, worauf gleichlautende Befehle be-
züglich der Gemeinden von Marseille und der anderen provenzalischen
Städte folgten. Nicht einmal die Überreste der uralten Gemeinde von
Perpignan, das erst vor kurzem von Aragonien an Frankreich abge-
treten worden war, sollten verschont bleiben.
So wurden die Juden hundert Jahre nach ihrer Vertreibung aus
den französischen Stammlanden auch aus den mit Frankreich wieder-
vereinigten Provinzen ausgewiesen. Die unter Ludwig XI. und
Karl VIII. vollzogene Vereinigung und Zusammenfassung Frankreichs
286
§ 41. Die letzten Überreste der französischen Judenheit
brachte für die französische Judenheit die Auflösung, die Zerstörung
ihres in tausendjähriger Arbeit in diesem Lande errichteten Kultur-
zentrums mit sich. Spärliche Überreste des zerstörten Zentrums haben
sich nur noch in einer winzigen Ecke des französischen Landbereiches
erhalten: auf dem von dem Könige der Kirche dem Könige von Frank-
reich vorenthaltenen Territorium, in dem päpstlichen Machtbereiche
von Avignon und Carpentras. Dieser Bezirk unterstand der Gewalt der
römischen Päpste seit der Zeit, da sie hier ihr „babylonisches Exil“
abzubüßen begannen (i3og—1876). Neben den aus Rom fortgezo-
genen Päpsten und Kardinälen fanden in dieser kirchlichen Enklave
auch die jüdischen Verbannten aus dem königlichen Frankreich Zu-
flucht, so daß im XIV. Jahrhundert in der Stadt Avignon und ihrem
Umkreis regstes Leben herrschte. Die Päpste, die schon in Rom den
Juden häufig Duldsamkeit entgegengebracht hatten, scheuten sich
nicht, auch an ihrem Hofe zu Avignon jüdische Finanzagenten und
Ärzte anzustellen. Das jüdische Viertel lag an den Rhöneufern in
nächster Nachbarschaft des päpstlichen Palastes; die Gemeinde von
Avignon bildete gleichsam eine kleine Stadtrepublik und wurde von
einem Ältestenrat verwaltet; daneben bestanden autonome Gemeinden
auch noch in den gleichfalls zum päpstlichen Herrschaftsbereich ge-
hörenden französischen Ortschaften Carpentras und Cavaillon. In-
dessen sollte im XV. Jahrhundert auch hier, wie in der Provence über-
haupt, eine Wendung zum Schlimmeren eintreten. Nachdem die Päpste
nach Rom zurückgekehrt waren und Avignon auf die katholische
Welt keine Anziehungskraft mehr ausübte, geriet es in Armut und
Verfall; gleichzeitig wurde jedoch diese verarmte Gegend, besonders
nach der Vertreibung der Juden aus Frankreich im Jahre i3g4, von
jüdischen Einwanderern geradezu überflutet. In Avignon und Carpen-
tras, wo die Behörden jede Ausdehnung des jüdischen Wohngebietes
rücksichtslos verweigerten, waren die jüdischen Viertel in erschrec-
kendstem Maße übervölkert. Man sah sich genötigt, über den alten
Häusern neue Stockwerke aufzuführen und bald ragten in Avignon
vielstöckige Häuser, die die engen Gäßchen des Judenviertels in dunkle
Brunnenschächte verwandelten. Die Zustände wurden vollends unhalt-
bar, als gegen Ende des XV. Jahrhunderts neue Scharen von Einwan-
derern aus dem benachbarten Arles und Marseille und aus dem ent-
fernteren Spanien hinzukamen. In diesem beklagenswerten Zustande
sollten die armseligen Überreste der französischen Judenheit, gleich-
287
Zerstörung des französischen Zentrums
sam als Symbol des Niedergangs des ehemals so bedeutungsvollen na-
tionalen Zentrums, über die Schwelle der „neuen Zeit“ treten. Das
durch die Schicksalsschläge des XIV. und XV. Jahrhunderts der Zer-
störung anheimgefallene jüdische Frankreich sollte erst am Vorabend
der neuesten Geschichte, während der großen französischen Revolu-
tion, als Brenn- und Mittelpunkt der ersten bürgerlichen Emanzipation
zu neuem Leben erstehen, doch sollte die französische Judenheit auch
nach dieser einschneidenden Wendung nie mehr zur Trägerin der
national-kulturellen Hegemonie werden.
§ 42. Der Untergang der jüdischen Kultur in Frankreich
Das alte jüdische Zentrum in Frankreich siechte langsam dahin.
Die jüdische Kultur lag hier im XIV. Jahrhundert schwer dar-
nieder. Zwar kam es in dieser Periode hin und wieder zu einem Auf-
schwung im inneren Gemeindeleben und zu einer neuen Anspannung
der geistigen Schaffensenergie, doch verkündete dieses jähe Aufflak-
kern nur das baldige unabwendbare Erlöschen der einst so helles
Licht ausstrahlenden Leuchte.
Eine solche vorübergehende Neubelebung des dem Untergang ge-
weihten Organismus machte sich auf dem Gebiete der Gemeindeauto-
nomie namentlich nach der Restauration vom Jahre i36o bemerkbar,
als die französischen Könige die Juden um jeden Preis in ihr Land
zu locken bestrebt waren und die Erweiterung der jüdischen Selbst-
verwaltung ihnen als ein besonders geeignetes Lockmittel erschien.
Den Gemeinden wurde uneingeschränkte innere Freiheit zugesichert
und den Rabbinern weitestgehende richterliche Gewalt eingeräumt.
Mit dem Beistand der schon erwähnten Generalsteuereinnehmer Ma-
necier de Vesoul und Denis Quinon gelang es denn auch Mattathias
Provenci (um i36o—i38o) als dem offiziell anerkannten Rabbiner
Frankreichs, die Gemeinden des Nordens und des Südens zu einem
festgefügten nationalen Verband zusammenzuschließen. Wohl auf die
Dauerhaftigkeit der neuen Restauration bauend, ging der in Paris an-
sässig gewordene Rabbiner Mattathias auch an die Errichtung einer
Heimstätte für die Talmudwissenschaft in Frankreich. So erstand in
Paris ein Lehrhaus zur Ausbildung von Rabbinern, die Mattathias
dann den einzelnen Gemeinden als Lehrer und Richter zuwies. Nach
seinem Ableben wurde die Würde des Oberrabbiners seinem Sohne
388
§ 42. Der Untergang der jüdischen Kultur in Frankreich
Jochanan (i38o—1390) übertragen, der, ohne sich um die Anzeichen
des herannahenden Unheils zu kümmern, das von seinem Vater einge-
leitete Organisationswerk kraftvoll weiterführte. Um diese Zeit glaub-
ten die französischen Juden sich sogar den Luxus innerer Zwietracht
leisten zu dürfen. Einer der Jünger des verstorbenen Mattathias, Jesaja
ben Abba-Mari aus Savoyen, machte nämlich Jochanan das Recht
auf das Oberrabbineramt streitig. Mit einem ihm von dem weit und
breit bekannten deutschen Rabbiner Meir Halevi aus Wien verliehe-
nen Diplom ausgerüstet, erklärte er, daß nur ihm allein das Recht
zustehe, Rabbiner und Richter in den einzelnen Gemeinden zu ernen-
nen. Jeder der Rivalen stützte sich auf seine Partei, und der eben ins
Leben gerufene Gemeindeverband drohte wegen des Zwiespaltes in
Scherben zu gehen. Um die Gefahr zu bannen, entschloß sich Rabbi
Jochanan, den Schiedsspruch zweier hochangesehener spanischer Rab-
biner, der „großen Männer von Katalonien“, Isaak ben Schescheth
und Chasdai Crescas, anzurufen. Angesichts der hohen Verdienste sei-
nes Vaters und seiner persönlichen Vorzüge wegen entschieden nun
die spanischen Richter den Streit zugunsten des Jochanan. Zugleich
erklärten sie grundsätzlich, daß der Rabbiner aus Deutschland kein
Recht gehabt habe, sich in die Angelegenheiten der französischen Ge-
meinden einzumischen. Die an diesem Streite und an seiner Schlich-
tung Reteiligten konnten nicht voraussehen, daß sie unmittelbar vor
zwei Katastrophen standen: vor den schweren Verfolgungen des Jah-
res 1391 in Spanien und zugleich vor der endgültigen Zertrümme-
rung des französischen Zentrums, um dessen Restauration gerade sie
so sehr besorgt waren.
Auf dem Gebiete des literarischen Schaffens sollte der jüdische
Geist in Frankreich noch viel früher, schon in der ersten Hälfte des
XIV. Jahrhunderts, zum letzten Male seine Strahlen leuchten lassen.
Um diese Zeit wurde hier nämlich ein später Widerhall der Epoche
des Rationalismus vernehmbar, der inzwischen, im Jahre i3o5, in
Acht und Bann getan worden war (oben, § 17). Gleichsam dem ge-
harnischten Cherem der Rabbiner zum Trotz, erstanden in Südfrank-
reich fast gleichzeitig drei Männer, die von Jugend auf das „Gift“
der Wissenschaft und Philosophie auf sich hatten wirken lassen, um
später als Vorkämpfer eines extremen Maimonismus hervorzutreten.
Es waren dies: Levi ben Gerson aus dem im Bezirk von Avignon ge-
19 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
289
Zerstörung des französischen Zentrums
legenen Bagnols, Joseph Kaspi aus Argentiere und Moses aus Nar-
bonne, genannt Narboni.
Der hervorragendste Vertreter dieser Epoche des Niedergangs, Levi
ben Gerson, unter seinem literarischen Namen Ralbag oder Gerso-
nides bekannt (1288—i345), war den besten Köpfen der Renais-
sanceepoche durchaus ebenbürtig. Ein Arzt von vielseitiger Bildung,
beschäftigte sich Ralbag neben biblischen Untersuchungen mit Ma-
thematik und Astronomie, schrieb eine Kritik des ptolemäischen Sy-
stems und erfand ein Instrument für astronomische Beobachtungen.
Sein Hauptinteresse galt aber der Philosophie des Aristoteles, Mai-
monides und Averroes. Bald in dem päpstlichen Avignon, bald in
Orange, Perpignan oder in den unter spanischer Herrschaft stehen-
den französischen Gebieten seinem ärztlichen Beruf nachgehend, hatte
Ralbag unter den Verfolgungen der französischen Könige, dem Pa-
storellenzug und den sonstigen Drangsalen jener Zeit nicht unmittel-
bar zu leiden, doch klagte er, daß der Gedanke an das Mißgeschick
seiner Brüder ihm keine Ruhe lasse. Die reifste Frucht seiner Stu-
dien war der Traktat „Milchamoth Adonai“ („Kriege Gottes“), der
sechs Hauptproblemen der Religionsphilosophie gewidmet ist: dein
der Ewigkeit der Materie, der Natur der Himmelssphären, des We-
sens der Seele, der Prophetie, der Allwissenheit Gottes und der Prä-
destination. In manchen Punkten geht Ralbag noch weiter als Mai-
monides und kommt der Auffassung des Aristoteles und Averroes
überaus nahe. So weist er das Dogma von der Erschaffung der Welt
ex nihilo ohne Bedenken zurück, nimmt vielmehr die Existenz einer
von Ewigkeit her bestehenden, dem Nichts gleichsam nur verwandten,
ätherischen Materie an, aus der zu einem bestimmten Zeitpunkt die
Welt erschaffen worden sei. Auch die Prophetie als die Grundlage der
Offenbarung erscheint in dem System des Ralbag nicht als eine über-
natürliche Tatsache, sondern nur als die höchste Erscheinungsform
der Intuition oder als das Ergebnis einer Vereinigung des mensch-
lichen Geistes mit der „tätigen Weltvernunft“, der alle großen Gei-
ster durchaus teilhaftig werden können. Die Vorsehung, meint fer-
ner Ptalbag, kümmere sich zwar mehr um die Gattungen als um die
Einzelindividuen, doch seien die höher stehenden Individuen, die Elite
der Menschheit, gleichsam Verkörperungen der Gattungen und wür-
den daher von der göttlichen Vorsehung einer besonderen Fürsorge
gewürdigt (die maimonidische Idee des geistigen Aristokratismus),,
290
§ 42. Der Untergang der jüdischen Kultur in Frankreich
Die biblischen Wunder sucht der Philosoph durch geistreiche Text-
deutung der Vernunft näher zu bringen. Die Erzählung von dem
„Stillstand der Sonne“ zu Gibeon muß seiner Ansicht nach in über-
tragenem Sinne verstanden werden: die Schlacht hätte sich zugunsten
der Israeliten just im Augenblick des Unterganges der Sonne ent-
schieden, die so gleichsam den Ausgang des Kampfes „abgewartet“
hätte. Das Ringen Jakobs mit dem Engel sei nur ein Traum gewesen;
daß Jakob aber nach diesem Ringkampf „an seiner Hüfte hinkte“,
sei durch das erschütternde Traumerlebnis zu erklären.
Ob solchen Freidenkertums wurde Ralbag von den konservativen
Schriftstellern scharf getadelt; voll Ironie pflegten sie zu sagen, daß
der Verfasser der „Kriege Gottes“ nicht für, sondern gegen Gott
streite. Mehr Verständnis brachten die Orthodoxen einem anderen
Werke des Ralbag entgegen: seinem Kommentar zum Pentateuch,
zu den ersten Propheten und zu einigen Hagiographen. Die unter
dem Titel „Thoalioth“ („Nutzanwendungen“) zusammengefaßten mo-
ralphilosophischen Partien dieses Kommentars erlangten sogar große
Volkstümlichkeit, während das Buch „Kriege Gottes“ lange Zeit ge-
ächtet war und sich der Wertschätzung nur weniger Auserlesener
erfreute. — Die astronomischen Untersuchungen des Ralbag wurden
ins Lateinische übersetzt und so den christlichen Gelehrten zugäng-
lich gemacht, bei denen der jüdische Denker unter dem Namen „Leon
aus Bagnols“ oder „magister Leo Hebraeus“ bekannt wurde. Spuren
des Einflusses des Ralbag treten auch in Spinozas „Theologisch-poli-
tischem Traktat“ deutlich zutage.
Der Zeitgenosse des Ralbag, der provenzalische Denker Joseph
Kaspi aus Argentiere (um 1280—i34o;der Zuname „Kaspi“ besagt
hebräisch „aus Silber“ und spielt auf die Abstammung aus Argentiere
an) unternahm weite Reisen durch Spanien und Nordafrika, wobei
er auch Ägypten, den Schauplatz der Wirksamkeit des Maimonides,
besuchte. Ein begeisterter Verehrer des „Führers“, bedauerte es Kaspi
aufs lebhafteste, daß es ihm nicht vergönnt war, zur Zeit des „Voll-
kommenen“ zu leben, wie er Maimonides zu nennen pflegte. Er ver-
faßte zwei parallele Kommentare zum „Führer“, in deren einem nur
die Gedankengänge des Verfassers selbst erläutert werden, während in
dem anderen die schwierigeren und umstrittenen Punkte seines Sy-
stems zur Erörterung gelangen („Amude kessef“, „Maskioth kessef“).
In seinen Kommentaren schreckt der Verfasser vor den kühnsten
19*
291
Zerstörung des französischen Zentrums
rationalistischen Schlußfolgerungen nicht zurück, weshalb auch er
als zügelloser Freidenker verschrien wurde. In seinem „Buche der
Moral“ („Sefer ha’mussar“), das in Form eines Vermächtnisses an
seinen Sohn gehalten ist, äußert sich Kaspi dahin, daß „die Wahr-
heit weder schüchtern noch verschämt sein dürfe“, eine Regel, an
der er selbst in seinen Schriften unentwegt festhielt. So nahm er
keinen Anstand, sich in folgender Weise zu äußern: „Gott oder Moses
in Seinem Geiste haben es in der Thora auf gezeichnet“; „Es steht
geschrieben: ,Ich werde einen Engel vor dir hersenden' — unter dem
Engel ist hier die tätige Vernunft zu verstehen“. Die individuelle
Vernunft des Menschen ist, nach Kaspi, ein Teil der universalen gött-
lichen Vernunft, und so ist Gott selbst in der menschlichen Seele
wirksam.
Der jüngste der drei Epigonen des Rationalismus, Moses Narboni
(um i3oo—i3Ö2), lebte in Perpignan, der Zufluchtsstätte der fran-
zösischen Exulanten, sowie in verschiedenen Städten Aragoniens. Hier,
in der Stadt Gervera, wurde er von der Katastrophe des „Schwarzen
Todes“ unmittelbar betroffen: der rasende Pöbel brach in sein Haus
ein, beraubte ihn seiner ganzen Habe und seiner ihm so teuren Bü-
cher, ihm selbst gelang es jedoch, sich mitsamt anderen Gemeinde-
mitgliedern durch die Flucht zu retten (i348). Dieses traurige Ereignis
lenkte indessen Narboni von seinen philosophischen Studien nicht ab,
deren Ergebnisse er in der damals so beliebten Form eines Kommen-
tars zum maimonidischen „Führer“ darlegte. In seinem Werke setzte
sich Narboni zum Ziele, die religionsphilosophischen Systeme des jü-
dischen und des arabischen Aristoteles, Maimonides und Averroes,
zu einer Einheit zu verbinden. Die Theologie müsse sich, so meint
er, ebenso auf der Naturkunde aufbauen wie die Metaphysik auf der
Physik; daher beginne auch die Thora mit einem „System der Welt-
schöpfung, das eben die Wissenschaft von der Natur“ darstelle. Die
Bibel habe einen zwiefachen Sinn, einen für die unaufgeklärte Menge
und einen anderen für die auserwählten Geister: die materialisierten
Symbole sowie die Erzählungen von den Wundertaten seien für das
gemeine Volk bestimmt, die darin beschlossenen abstrakten Ideen aber
für die Philosophen. Außerdem verfaßte Narboni noch eine Reihe
anderer Kommentare: zur „Logik“ des Maimonides und zu manchen
philosophischen Werken des Averroes, Avicenna und Al-Ghazali. Er
war der letzte Vertreter des Rationalismus in Südfrankreich und Spa-
292
§ 42. Der Untergang der jüdischen Kultur in Frankreich
nien. Nach ihm geht die Religionsphilosophie endgültig den Weg der
Orthodoxie, jenen Weg, der ihr gegen Ende des XIV. Jahrhunderts
von Chasdai Crescas geebnet worden war (oben, § 38).
Im Gegensatz zu Südfrankreich brachte die Urheimat des Rabbi-
nismus, Nordfrankreich, in dem Jahrhundert der Zerstörung des ehe-
maligen Hegemoniezentrums auf dem Gebiete der Literatur nichts
Nennenswertes hervor. An seine Stelle tritt nunmehr Deutschland,
wo die Talmudwissenschaft ganz ohne Rivalen dasteht, wo ihr weder
die weltlichen Wissenschaften, noch die Philosophie, noch auch sonst
irgendeine freie Regung des geistigen Schaffens den Rang streitig
machen.
Drittes Kapitel
Die Jahrhunderte der Bedrängnis in
Deutschland (XIV.—XV. Jahrhundert)
§ 43. Bedrückung und Volksexzesse: Ludwig der Bayer und die
„Judenschläger“
Zu seiner höchsten Entfaltung gelangte das mittelalterliche Regime
in Deutschland erst im Laufe des XIY. und XV. Jahrhunderts. In
bezug auf die Juden bürgerte sich hier ein System ein, das gleich-
sam ein Zusammenwirken des Druckes von oben und des Massen-
ansturms von unten darstellte. Die lange Übung brachte es mit sich,
daß die Herrscher in der systematischen Ausbeutung ihrer „Kammer-
knechte“, die Volksmassen aber in den periodisch wiederkehrenden
Exzessen eine immer größere Virtuosität an den Tag legten. Der um
die Juden gezogene magische Kreis schließt sich: die Unsicherheit
von Leben und Besitz zwingt sie, bei den Königen Schutz zu suchen,
dieser Schutz kommt ihnen indessen allzu teuer zu stehen und treibt
sie infolge ihrer aufs äußerste eingeschränkten Gewerbefreiheit in
die Sackgasse des Geldhandels, was wiederum den wirtschaftlichen
Judenhaß der christlichen Massen steigert, der im Verein mit der
von dem Klerus geschürten religiösen Feindseligkeit schließlich zu
Massenausschreitungen führt, die die Juden hinwiederum ihren kö-
niglichen Beschützern in die Arme treiben. So wird der Jude zwischen
den Spitzen der Gesellschaft und ihren Tiefen hin und her geschleu-
dert, von jenen geknechtet, in diesen zermalmt. Trost wird ihm nur
in seiner inneren Welt, in den Mauern seines Viertels, in seiner Ge-
meinde, in der er sich denn auch gegen die feindliche Umwelt aufs
sorgsamste absperrt. Dies führt indessen nur dazu, daß sich die Feind-
schaft gegen den sich Absperrenden durch Argwohn noch mehr ver-
schärft: er führe, heißt es überall, Unlauteres im Schilde, suche sich
294
§ 43. Ludwig der Bayer und die „Judenschläger“
im geheimen am Christentum zu rächen, bringe christliche Kinder
um, schände die kirchlichen Sakramente, verbreite Seuchen im Lande
— und so gab es für die in Aberglauben und Fanatismus auf gewach-
sene Menge nur zu viel der Anlässe für immer neue Ausschreitungen.
Typisch für das Verhalten der damaligen deutschen Herrscher den
Juden gegenüber war die Art, in der Ludwig der Bayer (i3i4 bis
1847) mit ihnen verfuhr. Dieser Kaiser behandelte seine jüdischen
„Kammerknechte“ als eine leblose Ware und pflegte ganze jüdische
Gemeinden den Feudalfürsten und den Städten zu verkaufen oder
bei ihnen zu verpfänden, indem er ihnen für eine bestimmte Dauer
das Recht einräumte, über die Juden frei zu verfügen und sie mit
Steuern nach Belieben zu belasten. Die aus dieser Zeit stammenden
amtlichen Urkunden sind überreich an solchen Kauf- und Pachtver-
trägen. Gleich den Königen Aragoniens (§§ 10, i3, 36) pflegte auch
der deutsche Kaiser seine Schulden durch Anweisungen auf die Steuer-
einkünfte aus der einen oder anderen jüdischen Gemeinde zu decken
und sich gegen Verpfändung dieser Einkünfte Darlehen bewilligen
zu lassen. In Deutschland waren jedoch solche Geschäfte viel
komplizierter als in Aragonien, da dem Kaiser hier eine Unmenge von
weltlichen und geistlichen Feudalherren sowie städtischen Magistraten
gegenüberstanden, mit denen ihn verwickelte finanzielle Beziehungen
verbanden, bei deren Regelung das „jüdische Regal“ damals stets
eine Hauptrolle spielte. In diesen geschäftlichen Abmachungen tre-
ten uns die jüdischen Gemeinden Bayerns (Nürnberg, Augsburg,
Würzburg, Regensburg), der Rheingegend (Worms, Speyer) und des
Elsaß (Colmar, Straßburg u. a.) stets als Objekt des Handels, der
Verpfändung und der Konzession entgegen, wobei der Kaiser seine
Ware kurzweg: „meine Kammerknechte“ nennt. In den aus solchen
Anlässen an die jüdischen Gemeinden selbst gerichteten Erlassen (so
an die von Frankfurt a. M.) gebraucht Ludwig ihnen gegenüber die
liebenswürdige Anrede: „Meine lieben Kammerknechte“. An vielen
Orten hatten die Juden an mehrere Instanzen zugleich Tribut zu ent-
richten. So waren z. B. die Juden von Straßburg gleichzeitig dreien
Schutzherren tributpflichtig: als sie sich in Straßburg niedergelassen
hatten, bedang sich der Kaiser für die ihnen zuteil gewordene Zu-
sicherung seiner besonderen „Protektion“ eine alljährlich zu entrich-
tende Steuer von sechzig Silbermark aus (i33o), worauf sie der
Stadtmagistrat gegen eine an die Stadt abzuführende Abgabe auch
2q5
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
noch unter seinen hohen Schutz nahm, was sie indessen weder von
der Jahresabgabe zugunsten des Kaisers noch von der Sonderbesteue-
rung zugunsten des Ortsbischofs befreite. Der Kaiser machte sich je-
doch über diese vielfache Besteuerung nicht die geringsten Sorgen,
da er überhaupt auf jüdische Kosten überaus freigebig war. Als der
Burggraf Johann von Nürnberg sich einst weigerte, verschiedenen
von den Juden, die ihm vom Kaiser zum Lohn für erwiesene Dienste
zur Verfügung gestellt worden waren, die Schulden zu bezahlen,
wurde diese Enteignung von Ludwig aus dem Grunde voll gebilligt,
weil die Juden dem Kaiser, wie er erklärte, sowie jedem, dem er sie
überweise, „mit Leib und Gut angehörten“, weshalb denn auch ihr
jeweiliger Besitzer mit ihnen „handeln und schaffen darf, was ihm
gutdünkt“ (i343).
Neben den mannigfachen auf den Gemeinden als solchen lasten-
den Abgaben hatten die Juden laut einem kaiserlichen Befehl vom
Jahre i342 auch noch eine individuelle Kopfsteuer, den sogenannten
„güldenen Opferpfennig“ zu entrichten. Im ganzen deutschen Reiche
mußten dieser Verordnung zufolge alle über zwölf Jahre alten Ju-
den beiderlei Geschlechts, die mehr als zwanzig Gulden ihr eigen
nannten, alljährlich einen Gulden an den Reichsschatz abführen. Diese
für wohlhabendere Leute durchaus tragbare Steuer lastete um so
schwerer auf den unbemittelten Familien. In der Bekanntmachung
über die Einführung der neuen Steuer wies Ludwig darauf hin, daß
sie mit Zustimmung der jüdischen Gemeinden beschlossen worden
sei, die er dafür von nun ab um so besser beschirmen wolle. Die Ge-
meinden bedurften in der Tat dringend des kaiserlichen Schutzes
gegen die sich immer mehr häufenden Exzesse und mußten daher
wohl oder übel ihre „Zustimmung“ zu der neuen Belastung erteilen,
die sie sich übrigens auch ohnedies hätten gefallen lassen müssen.
Einige Jahre vor der Festsetzung des „Opferpfennigs“ erhob sich
nämlich in Deutschland eine mächtige, an die Verfolgungen durch
Rindfleisch (oben, § 2 3) gemahnende judenfeindliche Bewegung. Im
Trüben fischende Hetzer begannen in Franken die Bauern zu einem
Kreuzzug gegen die Juden aufzuwiegeln. Der Land- und Stadtmob
schloß sich hierauf zu Banden zusammen, die sich ganz unverblümt
„Judenschläger“ nannten. Im Jahre i336 kam es zu Überfällen auf
die Juden in Mergentheim, Rothenburg und in der Umgegend von
Nürnberg. Im folgenden Jahre waren von der gleichen Gefahr die
296
§ 43. Ludwig der Bayer und die „Judenschläger ‘
große Gemeinde in Frankfurt am Main und diejenigen in den be-
nachbarten Orten bedroht, doch gab Kaiser Ludwig den Ortsbehör-
den und namentlich dem Frankfurter Magistrat den strikten Befehl,
keinerlei Exzesse zu dulden. Bald darauf bildete sich ein gefährlicher
Herd der judenfeindlichen Bewegung im Elsaß. Ein Schankwirt, ein
gewisser Zimberlin, versammelte hier eine Bande von Judenschlägern
um sich, die sich nach der von ihnen am Arm getragenen Lederbinde
Armleder nannten, während ihr Häuptling „König der Armleder“
tituliert wurde. Die mit Lanzen, Äxten und Heugabeln ausgerüsteten
Mordgesellen durchstreiften in Haufen das ganze elsässische Land, um
im Zeichen des Kreuzes, mit dem Schlachtruf der Rache für den
Gekreuzigten im Munde, zwei lange Jahre hindurch gegen die wehr-
lose jüdische Bevölkerung zu wüten (1837—1338). Von neuem wa-
ren Zwangstaufen und Selbstmorde von Juden, die sich nicht „ent-
heiligen“ lassen wollten, an der Tagesordnung1). Viele Juden flüch-
teten in die befestigte Stadt Colmar, wo die Bürger sich bereit er-
klärten, sie zu schützen. Die zügellosen Armleder umzingelten jedoch
die Stadt und verheerten die Umgegend, bis schließlich das Gerücht
von dem Herannahen kaiserlicher Truppen sie zum Rückzug zwang.
Dank der Einmischung der Elsässer Feudalherren und Ritter, die die
Befürchtung hegten, daß die Bauernbewegung sich auch gegen die
Gutsherren wenden könnte, wurden die Räuberbanden bald darauf
zerstreut und aufgerieben. Eine der Quellen will wissen, daß der
„König der Armleder“ gefangen genommen und auf Befehl des Kai-
sers Ludwig hingerichtet worden wäre; anderen Nachrichten zufolge
soll er jedoch, nachdem er das Versprechen gegeben, die Juden zehn
Jahre lang unbehelligt zu lassen, begnadigt worden sein.
Wie in den Zeiten des Rindfleisch wurden die Ausschreitungen
auch jetzt nicht selten durch die unsinnige Fabel von der angeblichen
Hostienschändung hervorgerufen. So verbreiteten böswillige Men-
schen im bayrischen Deggendorf einst das Gerücht, daß die Ju-
den eine aus der Kirche geraubte Hostie mit Pfriemen durch-
stochen und mit Dornen zerfetzt hätten, bis sich das bekannte Wun-
der eingestellt hätte und aus der Brotoblate Blut geflossen sei. Die
1) Von den zerstörten Elsässer Gemeinden werden in den Akten namentlich
die von Rufach, Ensisheim und Mülhausen erwähnt. Im Stadtarchiv von Rufach
hat sich die folgende Notiz erhalten: „Im Jahre i338 nach Christi Geburt wur-
den hier am Tage der Bekehrung des heiligen Paulus die Juden niedergemacht“,
oder wie es im lateinischen Zusatz lakonisch heißt: „fuit interfectio Judaeorum“.
297
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
abergläubischen deutschen Kleinbürger vermochte diese Fabel zu einer
wahren „Heldentat“ zu begeistern. An einem festgesetzten Tage über-
fielen sie auf ein von der Sturmglocke gegebenes Zeichen hin die
jüdischen Einwohner von Deggendorf, machten sie nieder, plünder-
ten ihre Habe und äscherten ihre Häuser ein (3o. September 1337).
Mit dem erbeuteten Gelde wurde in der Stadt zum Andenken an das
geschehene Wunder eine Kirche erbaut. In dieser Kirche wurden die
Überreste der angeblich durchstochenen Hostie als heilige Reliquie
auf bewahrt, und die Brotkrümel lockten jahrhundertelang unzählige
Wallfahrer herbei. An einer der Kirchensäulen wurde eine Inschrift
angebracht, die sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Sie lau-
tet: „Anno i337, den nächsten Tag nach Michaelis Tagen, do wur-
den die Juden erschlagen, die Stadt sie anzunden, do war Gottes
Leichnam funden. Das sahn Frau und Mann. Do hub man das Gottes-
haus zu bauen an“.
Das Gemetzel beschränkte sich indessen nicht auf diesen einen
Ort. Gemordet und geplündert wurden die Juden auch in anderen
Städten Bayerns sowie in Österreich und Böhmen. Das Volk erzählte
sich allerorten Geschichten von auf gefundenen „wundertätigen Ho-
stien“ (hostia mirifica), die angeblich von den Juden „mit Wunden
bedeckt“ worden seien. Der rohe Aberglaube war ein fruchtbarer
Boden für blutige Wahnideen, die die religiösen Gefühle zu gehor-
samen Werkzeugen der brutalsten Instinkte machten. Auch in Öster-
reich tauchten wunderwirkende Hostien auf, zu denen große Men-
gen von Wallfahrern strömten, die jeden Augenblick bereit waren,
ihren religiösen Eifer durch eine Judenschlächterei zu bezeugen. Der
österreichische Herzog Albrecht II., der der unsinnigen Mär keinen
Glauben schenkte, wandte sich an den Papst Benedikt XII. mit der
Bitte, über die mit Judenhetzen verbundene neue Form der Gottes-
verehrung seine apostolische Meinung zu äußern. Der Papst befahl
hierauf dem Bischof der Diözese von Passau, wo diese „Wunder“
geschehen waren, der Sache auf den Grund zu gehen und, falls die
Juden sich als unschuldig erweisen sollten, künftighin die Erhebung
solcher Anklagen nicht mehr zu dulden. Allein auch das Wort des
Hauptes der Kirche erwies sich als machtlos gegenüber dem dunklen
Aberglauben der Menge, der nach wie vor aufs sorgsamste gepflegt
wurde, weil er vielen Gewinn einbrachte: die Ortsbehörden strichen
nämlich von den terrorisierten Juden für den ihnen versprochenen
298
§ US. Ludwig der Bayer und die „Judenschläger“
„Schutz“ wie auch von den Mordbrennern für die diesen verliehene
Amnestie reichen Tribut ein, während die Geistlichkeit sich an den
Gaben der zu den heiligen Stätten strömenden Wallfahrer bereicherte.
Für die Duldung antijüdischer Ausschreitungen, die als eine Schä-
digung des Reichseigentums betrachtet zu werden pflegten, waren die
städtischen Behörden von Gesetzes wegen unmittelbar dem Kaiser ver-
antwortlich, und so legte man den Städten, in denen es zu solchen Ex-
zessen gekommen war, gewöhnlich Geldbußen zugunsten des kaiser-
lichen Schatzes auf. Durch solche Strafgelder vermochten sich somit
die Bürger nachträglich gleichsam das Recht zu erkaufen, bei den
Überfällen nicht nur untätig beiseite zu stehen, sondern auch selbst
mit Hand anzulegen. Gegen eine angemessene Entschädigung konnte
die Bürgerschaft bei Kaiser und Fürsten stets volle Straffreiheit er-
wirken. In besonders freigebiger Weise wurden solche Amnestieerlasse
von Ludwig dem Bayer den an den Greueltaten der Armleder mit-
schuldigen Elsässer Städten gewährt. Nachdem die Bürger von Mül-
hausen ihm tausend Livres zu Füßen gelegt hatten, schloß er mit
ihnen den folgenden Vertrag: „Wir verkünden hiermit — heißt es
in dem kaiserlichen Erlaß —, daß der Stadtrat und die Bürger von
Mülhausen zu folgendem gütlichen Übereinkommen mit uns gelangt
sind: für den Verzicht auf alle unsere Ansprüche, die wir gegen sie
wegen der Ermordung der Juden von Mülhausen oder der diesen zu-
gefügten Verluste und Schäden geltend machen könnten, stellen sie
uns tausend Pfund in alter Baseler Münze zur Verfügung. Um in-
dessen den bezeichneten Bürgern die Aufbringung des von ihnen zu
leistenden Betrages zu ermöglichen, überlassen wir ihnen das ganze
Hab und Gut der in der Stadt ermordeten Juden: Haus, Hof, Pfän-
der und sonstiges Gut . . . Nach erfolgter Auszahlung der tausend
Pfund sollen alle Mülhausener Bürger und Stadtbewohner von allen
den ermordeten Juden gegenüber eingegangenen Verpflichtungen ent-
bunden sein“. So gering war das Blutgeld für hingemordete Juden!
In ähnlicher Weise verschacherte der Kaiser die Absolution auch an
andere schuldbeladene Städte. Der österreichische Herzog Albrecht II.
war der einzige Herrscher dieser Zeit, der den Juden mehr Menschen-
freundlichkeit entgegenbrachte. Als die wahnwitzige Fabel von der
Hostienschändung Volksunruhen auslöste, suchte er durch die bereits
erwähnte Appellation an den Papst die Geister zu beschwichtigen. Von
jeder Voreingenommenheit durchaus frei, gab er in dem Schreiben
299
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
an den Papst in unverhohlener Weise seinem begründeten Verdacht
Ausdruck, daß die Priester, um das Volk durch Wunder zu verblüffen
und es zugleich gegen die Juden aufzustacheln, die Hostie in betrüge-
rischer Weise selbst mit Blut besudelten. Dank diesem Herrscher ge-
lang es in Österreich, der aus dem benachbarten Bayern, dem
Hauptschauplatz der Untaten der Judenschläger, einbrechenden Ver-
folgungsseuche mit fester Hand Einhalt zu gebieten.
§ 44. Der Schwarze Tod (13U8—13U9)
Die geistige Infektionskrankheit des Judenhasses erreichte ihren
Höhepunkt im Jahre i348, als sich in Europa eine der grauenvollsten
physischen Epidemien verbreitete: die aus dem Orient verschleppte
Pest, die im Volke „das große Sterben“ oder „der Schwarze Tod“ ge-
nannt wurde. Die Seuche richtete überall grenzenlose Verheerungen
an: Millionen von Menschen fielen ihr zum Opfer, ganze Städte und
Provinzen starben aus. In der kurzen Zeitspanne von zwei bis drei
Jahren hatte nach manchen Schätzungen „der Schwarze Tod“ den
dritten Teil der gesamten europäischen Bevölkerung hingerafft. Die
Menschen waren wie von Sinnen. Die unaufgeklärte Menge, die dem
Unglück fassungslos gegenüberstand, fing die unsinnigsten Gerüchte
über dessen Ursachen mit wilder Gier auf; der Aberglaube steigerte
sich zur Glaubenswut und trieb das Volk auf den Weg des Ver-
brechens. In diesem kritischen Augenblick wurde das ungeheuerliche
Gerücht in Umlauf gesetzt, daß die Volksseuche durch die Juden her-
aufbeschworen sei, die zwecks Ausrottung der Christenheit das Brun-
nen- und Quellwasser vergiftet hätten. Der Funke fiel in ein Pulver-
faß, und es kam zur Explosion: die Volkswut wandte sich mit
ihrer ganzen Wucht gegen die Juden. Die böswillige Verleum-
dung, unter der die Juden schon einmal in Frankreich zu leiden hat-
ten (oben, § 39), wurde trotz ihrer offensichtlichen Absurdität, da
doch die Juden das von ihnen angeblich vergiftete Wasser selbst
tranken und auch von der Pest in keiner Weise verschont blieben,
von den christlichen Volksmassen für bare Münze genommen. Der
Verdacht gegen die „Giftmischer“ fand an manchen Orten eine Stütze
darin, daß die Sterblichkeit unter den Juden verhältnismäßig gerin-
ger war als unter den Christen, was wohl auf ihre mäßigere Lebens-
weise, auf ihre Nüchternheit und vor allem auf die sorgfältigere Kran-
3oo
§ UU. Der Schwarze Tod (1348—1349)
kenpflege zurückzuführen war. Die Geister, die sich eben erst von
Ammenmärchen über zu Tode gemarterte Säuglinge und bluttriefende
Hostien hatten betören lassen, waren indessen nüchterner Über-
legung nicht mehr zugänglich, und so bemächtigte sich der christ-
lichen Völker eine immer weiter um sich greifende Massenpsychose.
Die unheilvolle Legende tauchte zuallererst in Südfrankreich und
in den benachbarten spanischen Gebieten auf, wo die Epidemie schon
im Frühling des Jahres i348 zum Ausbruch gekommen war. Hier
zog indessen die Verleumdung nur ganz vereinzelte Judenhetzen nach
sich (§§ 36 und 39). Es mag sein, daß in diesen Gegenden die Bulle
des in Avignon residierenden Papstes Clemens VI. beschwichtigend
wirkte, die ausdrücklich untersagte, die Juden auf Grund unkontrol-
lierbarer Gerüchte zu verfolgen (Juli i348). Mit um so größerem
Eifer bemühte man sich an anderen Orten, den grundlosen Verdacht
zu einer erwiesenen Tatsache zu stempeln, indem man zu dem alt-
erprobten Mittel der gerichtlichen Folterung griff. Zum ersten Male
gelang es auf diesem Wege den „Wahrheitsbeweis“ in Savoyen und
in der Schweiz zu erbringen, wo um jene Zeit bereits bedeutende jü-
dische Gemeinden bestanden (seit dem Jahre i3o6 wurden nämlich
diese Länder nicht selten von französischen Exulanten auf gesucht).
Der Herzog von Savoyen Amadeus ließ die Juden in Chambery, Chil-
lon und in anderen am Genfersee gelegenen Ortschaften verhaften
und so lange martern, bis einer von den Gefolterten, der Chirurg
Balavigny, vor Schmerz wahnsinnig geworden oder in dem Wunsche,
sein Ende zu beschleunigen, alles, was man aus ihm herauspressen
wollte, rückhaltlos gestand. Das Geständnis besagte, daß ein Ankömm-
ling aus Toledo, Jakob Pasquate mit Namen, zusammen mit dem Rab-
biner von Chambery und einem anderen Juden die Ausführung des
von der Judenheit zur Ausrottung der Christen geschmiedeten Pla-
nes übernommen hätte. Sie seien es gewesen, die überallhin an ihre
Stammesgenossen das Gift zur Verseuchung des Brunnenwassers ver-
sandt hätten. Das Gift wäre aus den wunderlichsten Stoffen gemischt
worden: aus getrockneten Schlangen-, Frösche- und Skorpionenkada-
vern, aus Hostienteig und aus Christenherzen. Diese auf der Folter-
bank erpreßten Geständnisse wurden trotz ihres ungeheuerlichsten
Widersinns als zureichendes Beweismaterial befunden — und überall
in Savoyen stiegen die Rauchsäulen von den Scheiterhaufen, auf de-
nen die Juden in Massen verbrannt wurden, gen Himmel empor (Sep-
3oi
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
tember i348). Von hier aus drang die Verleumdungsseuche, der nach
dem Norden hin sich ausbreitenden Pest auf den Fersen folgend, in
die Schweiz ein. Im Kanton Aargau und in Bern tauchte die Mär von
festgenommenen Giftmischern auf, worauf die Mitglieder des Ber-
ner Stadtrates den Stadträten von Basel, Freiburg und Straßburg die
Nachricht zukommen ließen, daß die Juden überall „Gift ausstreu-
ten“. Bald wurden in Zürich einige der „schuldigen“ Juden ver-
brannt, während der Rest aus der Stadt vertrieben wurde. Auch in
Konstanz, Schaffhausen, Überlingen und in anderen um den Boden-
see herum gelegenen Städten wurden die Juden scharenweise ver-
brannt, gehenkt, gerädert. In Konstanz fand sich ein Jude, der aus
Verzweiflung in die Taufe einwilligte, dann aber, von Reue geplagt,
sein Haus in Brand steckte, um mit dem Rufe: „Sehet, ich sterbe als
Jude!“ mitsamt seiner Familie in den Flammen umzukommen. Im
September ließ der Papst erneut an die Christenheit eine Bulle er-
gehen, in der er die Grundlosigkeit der gegen die Juden erhobenen
Anklage betonte und darauf hinwies, daß die angeblichen Urheber
der Volksseuche ihr ja selbst zum Opfer fielen und daß anderer-
seits die Pest auch dort wüte, wo es keine Juden gebe. Die so ein-
leuchtenden Beweisgründe des Hauptes der katholischen Welt muß-
ten indessen ihre Wirkung auf die Menge, die von der Geisteskrank-
heit der „Judäophobie“ im Sinne der „Judenscheu“ befallen war,
gänzlich verfehlen. Kam doch diese Krankheit überall mit derselben
elementaren Gewalt zum Durchbruch wie etwa die Hydrophobie, die
Wasserscheu, bei Menschen, die von einem tollwütigen Hunde ge-
bissen worden sind.
Besonders grauenvoll waren die Folgen, die der „Schwarze Tod“
für die Judenheit Deutschlands nach sich zog, wo er gegen Ende des
Jahres i348 seinen unheimlichen Einzug hielt, um dann ein ganzes
Jahr lang unaufhörlich zu wüten. Die christlichen Volksmassen teil-
ten hier einfältiger- oder geheuchelterweise den Glauben, daß die
Juden im gesamten Rhein- und Donaugebiet alles Wasser mit ihrem
Gift verseucht hätten. Das Volk kehrte sich weder an die päpstlichen
Bullen noch an die Ermahnungen des neuen Kaisers Karl IV. (1347
bis 1378), der für die dem Staatsschatz durch die Judenverfolgungen
zugefügten Verluste die Städte haftbar zu machen drohte. Ganz
Deutschland stand eben im Banne des religiösen Wahnsinns. Durch
die Städte zogen Scharen von in Raserei geratenen Fanatikern, den
3o2
§ 44. Der Schwarze Tod (13U8—13U9)
sogenannten „Flagellanten“ oder Geißlern, die laut zur Besänftigung
des göttlichen Zornes durch Bußetaten aufriefen, mitten in der Straße
ihren durch Nägel und Dornen zerfetzten Leib entblößten und sich
vor aller Augen geißeln ließen. Hand in Hand mit der Selbstquälerei
der Bußfertigen ging, von demselben Grausamkeitsaffekt entfacht,
eine bestialische Marterung der Juden. Nur wenige Nüchterne unter
den Christen sollten sich der Massenpsychose gegenüber als immun
erweisen. Zu diesen wenigen gehörten die Stadträte von Basel, Frei-
burg, Straßburg und Köln, die die den Juden zur Last gelegte Schuld
zu bezweifeln wagten. Der Rat von Köln schrieb an den von Straß-
burg, daß er die Pest als eine „Geißel Gottes“ (plaga Dei) betrachte
und die Juden vor allen Ausschreitungen, die zu einem allgemeinen
Unglück für Stadt und Land werden könnten, kraftvoll schützen
wolle.
Besonders brennend wurde die Frage von der jüdischen Schuld
im Elsaß, das erst vor kurzem von der Armlederbewegung heimge-
sucht worden war. In Straßburg entbrannte darob ein erbitterter
Kampf der Parteien. Während nämlich der Bürgermeister Konrad
von Winterthur und zwei andere Mitglieder des Stadtrates, der Richter
Sturm und der Zunftälteste Schwarber, die Juden in Schutz nahmen,
stand die Mehrzahl der Bevölkerung, namentlich die Handwerker-
zünfte, ganz im Banne des Judenhasses. Unter der Maske des religiö-
sen Fanatismus traten hierbei in unzweideutigster Weise die aller-
gemeinsten Motive hervor. Die einen wollten die Juden durch Aus-
rottung oder Vertreibung zu dem Zwecke los werden, um sich von
ihren Verpflichtungen gegenüber den jüdischen Gläubigern zu be-
freien und wieder zu ihren Pfändern zu kommen, andere trachteten
danach, Häuser und Besitz der Juden für billiges Geld, wenn nicht
gar kostenlos an sich zu reißen. Da die „jüdische Frage“ in dieser
Form auch an vielen anderen Orten einen heftigen Parteikampf aus-
löste, so beschlossen die Stadtväter von Straßburg, im elsässischen
Benfeld eine Versammlung der Abgeordneten der an dieser Frage
interessierten Städte sowie der Vertreter des Adels und der Geistlich-
keit einzuberufen (im Januar i349). Bei dieser Beratung plädierten
die erwähnten Stadthäupter von Straßburg mit aller Wärme für die
Unschuld der Juden und forderten für die grundlos Verfolgten Schutz-
maßnahmen, doch wurden sie von ihren Gegnern überstimmt: mit
großer Stimmenmehrheit wurde der Beschluß gefaßt, die Juden für
3o3
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
vogelfrei zu erklären und sie aus den elsässischen und rheinländi-
schen Städten zu vertreiben. Die Judenhasser aus Straßburg beeilten
sich darauf, von dem gefaßten Beschluß auch diejenigen Orte in Kennt-
nis zu setzen, die auf dem Delegiertentag nicht vertreten gewesen wa-
ren. In Straßburg selbst enthoben sie die drei menschenfreundlichen
Mitglieder des Magistrats gewaltsam ihres Amtes und ersetzten sie
durch zuverlässige Vertrauensmänner. Das Los der jüdischen Ge-
meinde war nunmehr besiegelt. Alle Juden, 2000 an der Zahl, wur-
den auf den jüdischen Friedhof getrieben und in einem Holzschup-
pen zusammengepfercht, an den von allen Seiten Feuer gelegt wurde.
Die meisten fanden in den Flammen den Tod; nur wenige, die sich
in ihrer Todesangst zur Taufe bereit erklärten, wurden aus dem bren-
nenden Scheiterhaufen herausgeholt (am T4- Februar). Der Besitz
der Hingerichteten wurde unter den Bürgern verteilt, die eben um
dieser Beute willen den „Judenbrand“ veranstaltet hatten. Ein deut-
scher Chronist jener Zeit bezeugt: „Darin gerade (in dem Wunsche,
sich an jüdischem Besitz zu bereichern) bestand die Vergiftung, wel-
che die Juden tötete“, und ein anderer Chronist fügt noch hinzu:
„Willst du wissen, was den Juden das Verderben brachte? Es war
die Habgier der Christen“. Der neuerwählte Stadtrat traf die Ver-
fügung, daß den Juden für die Dauer von hundert Jahren der Aufent-
halt in Straßburg verwehrt bleiben sollte.
Dem Beispiele Straßburgs folgten auch die anderen elsässischen
Städte. In Colmar hat sich bis auf den heutigen Tag das sogenannte
„Judenloch“ erhalten, wo die Juden zur Zeit des „Schwarzen Todes“
verbrannt worden sind. In Schlettstadt wurden die jüdischen Ein-
wohner zum Teil nieder gemacht, zum Teil vertrieben. In Benfeld ließ
man sie in den Flammen sterben oder ertränkte sie im Sumpfe. In
Mülhausen wurden alle Juden, soweit sie sich nicht durch Flucht
gerettet hatten, hingeschlachtet. In Oberehnheim preßte man fünf
Juden vor der Hinrichtung das Geständnis ab, daß sie eine Reihe von
Brunnen vergiftet hätten, worüber der Stadtrat dann dem in Straß-
burg eingesetzten „Rate der vierzig Wahlmänner für Judensachen“,
d. i. dem Ausschuß für die Liquidation des jüdischen Besitzes, speziell
Bericht erstattete. In allen genannten Städten wurden die Synagogen
als städtisches Eigentum erklärt, der Besitz der Umgekommenen und
Vertriebenen wurde von den Behörden und den beutegierigen Stadt-
3o4
§ 44. Der Schwarze Tod (13U8—13U9)
bewohnern ausgeplündert, während alle Schuldverpflichtungen gegen-
über den Juden für null und nichtig erklärt wurden.
Bald kam die Reihe an die ältesten deutschen Gemeinden, an die
der Rheinlande. In den Städten, wo sich einst die Greuel der Kreuz-
züge abgespielt hatten, sollte nun von neuem das Klagegeschrei der
jüdischen Opfer ertönen. Die Gemeinde von Speyer wurde gleich zu
Beginn der Verfolgung (im Januar i349) aufs schwerste heimge-
sucht. In Worms beschloß der Stadtrat, unter Berufung auf die der
Bürgerschaft uneingeschränkte Gewalt über die jüdische Gemeinde
verleihende Urkunde des Kaisers, die Juden den Flammen preiszu-
geben; die Gerichteten warteten indessen die Vollstreckung des grau-
samen Urteils nicht erst ab: sie zündeten selbst ihre Häuser an und
kamen in den Flammen um (am i. März). Der Überfall auf die große
Gemeinde von Mainz stand mit dem tollen Treiben der Flagellanten
in Zusammenhang, die durch ihre Raserei das ganze Volk angesteckt
hatten. Ein Teil der Gemeinde entschloß sich hier indessen, den Fein-
den bewaffneten Widerstand zu leisten, und der jüdische Selbstschutz
machte etwa zweihundert Mordbrenner nieder. Dies versetzte die An-
greifer nur in noch größere Wut. Keine Rettung mehr erhoffend,
brachten die Juden sich auch hier selbst als „Brandopfer“ dar: sie
legten Feuer an ihre Häuser und starben in den Flammen. Aus Feuer
und Rauch stiegen zum Himmel die Klagehymnen der Märtyrer em-
por. Die Zahl der in Mainz Umgekommenen wird auf 6000 geschätzt
(24. August). Am selben Tage wurde auch die alte Kölner Gemeinde
von ihrem Schicksal ereilt. Der Magistrat von Köln suchte zwar die
wütende Menge, wie er sich vorgenommen hatte, von den Ausschrei-
tungen zurückzuhalten, doch war er außerstande, den entfesselten
Leidenschaften Einhalt zu gebieten. Gegen Abend wurde das jüdi-
sche Viertel erstürmt, und die ganze Nacht und den darauffolgen-
den Tag über hielt die blutige Orgie der Sieger an; die Todesschreie
der Märtyrer vermischten sich mit dem wilden Gejohle der Mörder,
Plünderer und Brandstifter. Nur wenigen gelang es, den Unmenschen
zu entrinnen.
In demselben Sommer verfielen auch die großen Gemeinden von
Erfurt und Frankfurt am Main der Zerstörung. In Frankfurt hatte
der Kaiser Karl IV. kurz vor der Verfolgung mit dem Stadtrat einen
Vertrag abgeschlossen, demzufolge seine „Kammerknechte“, d. h. die
ganze jüdische Gemeinde, mitsamt allen von ihr bezogenen Einkünf-
20 Dabnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
3o5
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
ten der Stadt so lange zur Verfügung stehen sollten, bis er das von
der Stadt erhaltene Darlehen von iÖ200 Hellerpfunden zurück-
gezahlt haben würde. In diesem Vertrage sicherte der Kaiser dem
Stadtrat im Falle einer Verfolgung und Ausplünderung der Juden im
voraus Straffreiheit zu. Einen Monat später (24. Juli i349), als
Scharen von Flagellanten in Frankfurt einzogen, ging denn auch der
Pöbel ungesäumt an sein blutiges Werk. Die Bürgerschaft versuchte
allerdings, die jüdischen Einwohner als städtisches Hab und Gut zu ver-
teidigen, doch hatten die in Verzweiflung geratenen Juden ihr Viertel
bereits in Brand gesteckt und kamen massenhaft in den Flammen um.
In den Städten Bayerns wüteten die Rächer für den „Schwarzen
Tod“ sogar noch im Herbst dieses verhängnisvollen Jahres. Nürnberg
wurde von dem gleichen Los betroffen wie Frankfurt: auch hier gab
Kaiser Karl IV. die große jüdische Gemeinde in die Gewalt des Stadt-
rates, indem er diesen zugleich von jeder Verantwortung für das
Schicksal der Juden befreite. Als der Patrizierrat von den Hand-
werkerzünften und dem Stadtmob gestürzt wurde, verfuhr man hier
mit den wehrlosen Juden ganz in derselben Weise wie in den anderen
deutschen Städten. Von den großen bayerischen Gemeinden scheint
nur die von Regensburg unversehrt geblieben zu sein, da dieser der
Stadtrat ausnahmsweise tatkräftigen Beistand leistete. Im östlichen
Deutschland kamen die Gemeinden von Breslau, Königsberg und eini-
gen anderen Städten der Mark Brandenburg zu Schaden. Banden von
Judenschlägern tauchten auch in Österreich auf, doch hatten hier
nur wenige Gemeinden unter den Verfolgungen zu leiden, so die von
Krems und manchen anderen Orten. Auch die Juden in Wien litten
mehr unter der Pest als unter der Hetze. Herzog Albrecht II. tat eben
voll seine Pflicht: er befahl, die gefährlichsten Mordgesellen hinzu-
richten, und legte den Städten, in denen es zu Judenhetzen gekommen
war, Geldstrafen auf, weshalb ihn denn auch die Judenhasser als
einen „Beschützer der Juden“ (fautor Judaeorum) verächtlich zu ma-
chen suchten.
Die Furcht vor einem ähnlichen Schmähnamen mochte wohl Kai-
ser Karl IV. dazu bewogen haben, seine Kammerknechte in seinen
eigenen Besitzungen ganz ihrem Schicksal zu überlassen. Auch lag
ihm gewiß daran, dieses unversicherte Eigentum in den Jahren der
großen Feuersbrunst um jeden Preis los zu werden. (Außer der be-
reits erwähnten Verschacherung der Juden an die Stadträte vonFrank-
3o6
§ 44. Der Schwarze Tod (1348—1349)
furt und Nürnberg sei noch auf das mit Worms eingegangene Ge-
schäft hingewiesen, an dessen Bürgerschaft der Kaiser noch lange vor
Ausbruch der Verfolgungen „die Juden und Judischheit mit ihrem
Leib und Gut und mit allen Nutzen und Rechten“ abgetreten hatte.)
Als aber die dem Verderben geweihten Gemeinden von ihrem Schick-
sal ereilt worden waren und eine reiche Erbschaft hinterließen, ver-
säumte der Kaiser nicht, seine Ansprüche als Haupterbe geltend zu
machen. Die Stadtbehörden, die meist an den Verfolgungen Schuld
trugen und daher oft der Amnestie bedürftig waren, sahen sich ge-
nötigt, den Forderungen des Kaisers oder der Feudalherren, die sich
für den Verlust des „lebenden Inventars“ der jüdischen Gemeinden
entschädigen wollten, wenn auch nur widerwillig, Genüge zu tun. Bei
der Teilung der Erbmasse kam es nämlich zwischen den Interessenten
nicht selten zu Streitigkeiten, die erst nach langem Feilschen zu einem
Übereinkommen führten: das Geld und das Kostbarste vom beweg-
lichen Gut fiel meist dem Kaiser, Bischof oder Grafen zu, während
die Häuser, Synagogen und das Friedhofsareal von den Magistraten
geerbt wurde. Auf die Forderung der Geistlichkeit hin wurden die
Synagogen an manchen Orten niedergelegt und an ihrer Stelle Kir-
chen erbaut (in Nürnberg und auch sonst). Der Kaiser bedachte so-
wohl die Stadträte wie auch die an den Verfolgungen beteiligten Pri-
vatpersonen in freigebigster Weise mit Gnadenerlassen, befreite die
Christen von ihren Schuldverpflichtungen den Juden gegenüber und
verschenkte jüdisches Gut mit verschwenderischer Hand an seine
treuen Fürsten und Ritter. Aus derselben Beute wurden auch die Bür-
ger für ihre bei der Selbstverbrennung der Juden niedergebrannten
Häuser entschädigt.
Bei der Liquidation des jüdischen Besitzes in Straßburg kam es
zu dem folgenden, der Komik nicht entbehrenden Vorfall. Unter dem
synagogalen Gerät fand man nämlich einen Gegenstand, der die glück-
lichen Erben stutzig machte: es war dies ein „Schofar“, das Widder-
horn, das man am Rosch-ha’schana-Fest zu blasen pflegt. Die Bür-
ger, denen die Bestimmung dieses Instrumentes unbekannt war, glaub-
ten, daß es ein Signalhorn zum Verrat der Stadt an den Feind sei.
Zum ewigen Andenken an die neu entdeckte jüdische Tücke ließ nun
der Magistrat zwei Bronzeposaunen in der Form des auf gefundenen
„Schofars“ anfertigen und befahl, daß sie täglich um acht Uhr
abends und um Mitternacht geblasen werden sollten, um den Ein-
307
20*
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
wohnern den jüdischen Verrat stets frisch in Erinnerung zu erhalten
und die durchreisenden Juden zum unverzüglichen Verlassen der Stadt
aufzufordern. Diese Posaunenklänge, die Signale des Judenhasses,
sollten in Straßburg vier Jahrhunderte lang Tag für Tag ertönen, bis
sie schließlich von der großen französischen Revolution zum Ver-
stummen gebracht wurden.
Die Schreckenszeit des „Schwarzen Todes“ demoralisierte die Seele
und erschlug das Gewissen der Völker. Die physische Pest raffte
die Menschen hinweg, der geistigen fiel die Menschlichkeit zum
Opfer. Die Juden waren die einzige Bevölkerungsgruppe, die von der
geistigen Seuche und der mit ihr verbundenen Vertierung unberührt
geblieben war. Ein klaffender Abgrund trennte diejenigen, die im
Zeichen des Kreuzes die Juden niedermetzelten, verbrannten und er-
tränkten, um dann mitten unter ihren Leichen um die Beute zu feil-
schen, von jenen Tausenden von Märtyrern, die mit Psalmengesang
in den Tod gingen und sich nicht selten selbst ihrem Gotte als
„Brandopfer“ darbrachten. Hunderte von Menschen sprangen, in Ge-
bet- und Totengewänder gehüllt, in die Flammen; die Mütter zogen
ihre Kinder mit sich auf den Scheiterhaufen, um sie vor der Zwangs-
taufe zu bewahren. Die Zahl der zum Scheine zum Christentum Über-
getretenen war nur gering, und hierin kam am krassesten der große
Unterschied zwischen den deutschen und den spanischen Juden zum
Ausdruck, die im Jahre i3gi der Verlockung der Scheintaufe nicht
zu widerstehen vermochten. In synagogalen Klageliedern, in den an-
läßlich der Greuel der Jahre 108 und 109 des sechsten Jahrtausends
verfaßten „Selichoth“ und „Kinnoth“ erklingt gleichsam aus dem
Jenseits die Anklage der Märtyrer gegen ihre herzlosen Peiniger:
„Wir haben wohl gesündigt schwer!
Zu den Brunnen läuft ein boshaft Heer,
Legen uns einen Hinterhalt,
Um dann zu überfallen mit Gewalt.
,Gift‘, sie schreien, ,ist im Wasser,
Das habt ihr, Ungläubige, Hasser,
Hineingeworfen, uns zu verderben.
Bleibt ihr Juden, müßt ihr sterben!'
Sie selber legten in die Geräte
Uns, was nicht sie, was uns nur töte“*-).
1) Die hier angeführte, von L. Zunz (Die synagogale Poesie des Mittelalters,
Frankfurt 1920, S. 4i) stammende freie Übersetzung der „Selicha“ stellt eine
ziemlich treue Wiedergabe des Sinnes und der Stimmung des hebräischen Ori-
ginals dar.
3o8
§ 45. Verarmung der deutschen Gemeinden im XIV. Jahrhundert
Wie gewaltig mußte die geistige Macht einer Nation sein, die allen
Fährnissen einer Zeit, da sich die Elemente mit der nicht minder
grausamen und blinden Menschheit gegen sie verschworen hatten,
kraftvoll die Stirn zu bieten vermochte! Dem Tode und aller Ver-
gänglichkeit trotzend, ging sie, dieser Phönix unter den Nationen, de-
ren Wahrzeichen der brennende und doch nie verbrennende biblische
Dornbusch ist, auch aus den Flammen der neuen Scheiterhaufen mit
unverminderter Lebenskraft hervor.
§ 45. Verarmung und Rechtlosigkeit (zweite Hälfte des XIV. Jahr-
hunderts)
Etwa dreihundert jüdische Gemeinden wurden während der durch
den „Schwarzen Tod“ verursachten Volksexzesse endgültig vernichtet,
ihre Mitglieder zum Teil nieder gemetzelt, zum Teil vertrieben. Aber
auch die christlichen Landeseinwohner hatten unter den Folgen die-
ser verhängnisvollen Zeit aufs schwerste zu leiden. Während der drei
Jahre hindurch wütenden Epidemie büßte Deutschland einen be-
deutenden Teil seiner Bevölkerung ein. Die Städte wurden menschen-
leer und verfielen der Verarmung. Ein besonders trauriges Bild boten
jene Städte, wo an Stelle der jüdischen Viertel nunmehr öde Brand-
stätten zu sehen waren und in denen das wirtschaftliche Leben völlig
Stillstand. Die mit dem Verschwinden der Juden entstandene Lücke
war nicht leicht auszufüllen. Die Reichs- und Stadtbehörden waren
einer unerschöpflichen Quelle des Einkommens verlustig gegangen, die
kreditbedürftige Bevölkerung aber dienstfertiger und geduldiger Geld-
geber, die man damals mangels öffentlicher Kreditinstitutionen schwer
entbehren konnte. Dies war der Grund, warum sich die Reichsregie-
rung und die Magistrate der meisten Städte gleich nach dem Erlöschen
der Seuche zur Wiederherstellung der früheren Ordnung entschlossen.
So gewährte man denn den Juden von neuem Einlaß in die Städte, wo
sie erst vor kurzem ausgerottet und aus denen sie „für alle Zeit“ ver-
trieben worden waren. Feudalfürsten, Bischöfe und Munizipalbehör-
den bewarben sich mit allem Eifer um das Privileg, „Juden zu be-
sitzen“ (Judaeos habere), und Karl IV. erklärte sich bereit, ihnen die-
ses kaiserliche Regal gnädig abzutreten. Die Kurfürsten ließen sich
das Recht zusichern, gleich dem Kaiser über Juden als Handelshörige
verfügen zu dürfen. Das Privileg wurde in die von Karl IV. verkün-
Sog
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
dete neue deutsche Reichsverfassung, die sogenannte „Goldene Bulle“
(i356), die die sieben Kurfürsten mit dem Recht der Kaiserwahl aus-
stattete, als besondere Klausel aufgenommen. In demselben Artikel
der „Goldenen Bulle“, der den Kurfürsten das Recht der Ausbeutung
der in ihrem Herrschaftsbereiche befindlichen Erz- und Salzgruben
zusichert, heißt es nämlich wörtlich: „Desgleichen steht ihnen das
Recht zu, Juden zu besitzen und die Zollabgaben zu erhöhen“. Die
Juden wurden somit in einem Atem mit Eisenerz und Zöllen genannt
und diesen nebengeordnet; für die Machthaber bedeuteten sie auch
in der Tat nur einen gewinnbringenden Einkommenposten, gleichsam
eine Erzgrube, die es in geschickter Weise auszubeuten galt. Das
gleiche Recht, „Juden zu besitzen“, wurde durch entsprechende Ver-
einbarungen zwischen den Magistraten, dem Kaiser und den Feudal-
herren auch einer Reihe von Städten verliehen.
Indessen war diese Wiederherstellung der jüdischen Gemeinden in
Deutschland von einer vollständigen Restauration sehr weit entfernt.
Der ihnen im Jahre i349 versetzte Schlag war nicht mehr gutzu-
machen. Große Massen von Flüchtlingen und Verbannten, die mittler-
weile in Österreich, Böhmen und den benachbarten polnischen Ge-
bieten festen Fuß gefaßt hatten, dachten nicht mehr daran, die ver-
lassenen Trümmerstätten wieder aufzusuchen. Auch bedeuteten die
Bedingungen, die den ins Land zurückkehrenden Juden von der Bür-
gerschaft gestellt zu werden pflegten, eine erhebliche Verschlechte-
rung ihrer früheren Lage: sie durften nunmehr in den ihnen zuge-
wiesenen Stadtteilen Wohnhäuser nur als Mieter beziehen, nicht aber
käuflich erwerben; sie mußten auf alle Ansprüche hinsichtlich des
während der Katastrophe enteigneten jüdischen Besitzes und der
annullierten Schuldverpflichtungen ausdrücklich Verzicht leisten; sie
hatten ferner neben den dem Kaiser, den Grafen und Bischöfen zu
entrichtenden Abgaben auch noch eine besondere Steuer an die Stadt
zu zahlen, mußten sich bei ihren Kreditgeschäften mit mäßigem
Zinsgewinn begnügen, sich hierbei die Aufsicht der Stadtbehörden ge-
fallen lassen und durften außerdem ohne spezielle Genehmigung nicht
aus einer Stadt in eine andere übersiedeln. Dabei wurden solche Ver-
träge der Magistrate mit den jüdischen Gemeinden häufig nur für
eine streng begrenzte Frist abgeschlossen. In den Verträgen wurde
zuweilen darauf hingewiesen, daß den Juden das Wohnrecht ledig-
lich „zu Nutz und Frommen“ der Stadt bewilligt werde. Dies wa-
3io
§ 45. Verarmung der deutschen Gemeinden im XIV. Jahrhundert
ren die Bedingungen, unter denen zwischen i35o und 1870 kleine
Gruppen von Juden nach Augsburg, Nürnberg, Frankfurt, Köln,
Straßburg und anderen Städten zurückkehrten.
So verwandelten sich die Juden aus bodenständigen Landesbewoh-
nern in nur geduldete Zuwanderer, die für ihr Wohnrecht bestimmte
Gebühren zu entrichten hatten. Das Recht, die Luft einer deutschen
Stadt zu atmen, nach den Gesetzen seiner Religion zu leben sowie
sich in einigen wenigen Erwerbszweigen zu betätigen, mußte der Jude
mit klingender Münze erkaufen. Solange er Geld hatte, wurde er, ob-
zwar verachtet, dennoch geduldet; hatte er aber sein Vermögen ein-
gebüßt, so wurde ihm sogar das Recht auf das nackte Dasein ab-
erkannt. Was Wunder also, daß der Jude, schon aus reinem Selbst-
erhaltungstrieb, möglichst viel Geld anzuhäufen suchte? Der durch
allerlei Beschränkungen eingeengte Kleinhandel vermochte ihm je-
doch kaum ein dürftiges Auskommen zu sichern; andererseits war
ihm der Zutritt zum Handwerk und zum Großhandel durch die ge-
schlossenen christlichen Zünfte, Kaufmannsverbände und Gilden ver-
baut1). So blieb den Juden nur ein gewinnbringender Beruf übrig, der
ihnen aus dem Grunde überlassen wurde, weil er bei den Christen
häufig als verächtlich galt: der Geldhandel, der in jener Zeit des
teuren Kredits unvermeidlich die Form des Wuchers annehmen
mußte. Die ganze damalige Lebensordnung schloß den Juden in die
Sphäre kleinlicher Geldinteressen ein und fesselte ihn an den Beruf
des Kreditgebers, der von dem Geldbedürftigen umschmeichelt wird,
um später, wenn die Stunde der Rückzahlung schlägt, von dem säu-
migen Schuldner mit Verwünschungen überhäuft zu werden. Das
Geld, das den Juden ein Rettungsmittel zu sein schien, gereichte
ihnen so nur zum Verderben, indem es in gleicher Weise die Hab-
gier der Volksmassen wie die der Regierung reizte. In den zeitgenös,-
sischen Annalen treten uns denn auch nicht wenig Notizen von der
!) Die jüdischen Handwerker durften nach deutschem Rechte ausschließlich
in jüdischen Vierteln und nur für ihre Stammesgenossen arbeiten, so daß sie
den Christen ihre Erzeugnisse nur ausnahmsweise, unter Umgehung des Gesetzes,
liefern konnten. An ganz wenigen Orten besaßen die Juden Mühlen und Wein-
berge und trieben Weinhandel; in den meisten Fällen jedoch waren sie auf den
Kleinhandel mit Kleidungsstücken, Gewürzen und Geflügel angewiesen, während
die wohlhabenderen unter ihnen sich mit dem Kreditgeschäfte befaßten. Im Statut
des Münchener Magistrats vom Jahre i/joo heißt es ausdrücklich: „Die Juden
dürfen sich mit nichts anderem als mit Ausleihen von Geld gegen Zinsen be-
fassen, denn dies ist ihr Geschäft“.
3i i
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
Art der folgenden entgegen: „Im Jahre i384 nahmen die Burg-
grafen von Nürnberg die Juden gefangen und sperrten die Wohl-
habenden in die Reichsburg, während sie die Besitzlosen in den Rats-
keller steckten. Erst nach Entrichtung eines Lösegeldes wurden die
Juden wieder auf freien Fuß gesetzt“. In Augsburg mußten sich
die Juden aus der „Gefangenschaft“ mit 22 000 Gulden loskaufen.
Durch solche Gewalttaten gelang es zuweilen den bei den Juden ver-
schuldeten Adeligen und Bürgern, ihre Gläubiger zur Verzichtleistung
auf ihre Schuldforderungen zu zwingen.
Gar häufig wurden die jüdischen Gläubiger auch auf „gesetz-
lichem“ Wege ausgeraubt, nämlich kraft eines besonderen kaiserlichen
Befehls, der den Schuldnern die Zinsen und manchmal sogar die Rück-
zahlung des Kapitals erließ. Zu solchen drastischen Maßnahmen pflegte
mit besonderer Vorliebe der Nachfolger Karls IV., Kaiser Wenzel
(1878—i4oo), zu greifen, der, dem Worte eines Geschichtsschreibers
zufolge, sicherlich ein Raubritter geworden wäre, wenn er nicht die
Kaiserkrone getragen hätte. Im Jahre i385 verlangte Wenzel von
dem Verbände der rheinländischen und schwäbischen Städte, daß die
Magistrate den zehnten Teil der bei den Juden eingetriebenen Abgaben
an den Reichsschatz abführten, was indessen von dem Verbände ver-
weigert wurde. Der aus diesem Anlaß entstandene Konflikt wurde
durch ein besonderes Übereinkommen beigelegt, das auf einer in Ulm
einberufenen Versammlung der Delegierten von 38 Städten (Augs-
burg, Basel, Nürnberg, Ulm, Konstanz, Rothenburg u. a.) mit den
Vertretern des Kaisers getroffen wurde. Nach diesem Übereinkom-
men wurden alle bei Juden verschuldeten Christen ohne Unterschied
des Standes — Fürsten, Grafen, Ritter, Bürger, Knechte, Bauern,
Priester — von der Entrichtung der Zinsen für die im letzten Jahre
aufgenommenen Anleihen sowie von der Rückzahlung eines Viertels
der früher geliehenen Summen von Rechts wegen befreit; darüber
hinaus hatten die Magistrate das Recht, den Schuldnern nach eige-
nem Gutdünken auch noch andere Vergünstigungen zu gewähren,
während sie die Juden zwecks Sicherstellung der von ihnen zu bezie-
henden Einkünfte an ihre Wohnorte fesseln und ihnen die Über-
siedlung in andere Städte untersagen durften; hierbei verpflichteten
sich die Magistrate, die eigenmächtig Auswandernden zwecks Wie-
deransiedlung der Flüchtlinge in der von ihnen verlassenen Stadt
einander auszuliefern. Für die Verleihung dieses Privilegs hatten die
3l2
§ 45. Verarmung der deutschen Gemeinden im XIV. Jahrhundert
Städte an den kaiserlichen Schatz den einmaligen Beitrag von 4o ooo
Gulden zu entrichten. Im Jahre i3go griff Wenzel zu einer noch viel
einschneidenderen Enteignung der Juden. Von dem bayerischen Her-
zog, den Bischöfen und den Magistraten einiger bayerischer Städte
(Nürnberg, Rothenburg u. a.) bestochen, erklärte er nämlich, daß
angesichts des von den Juden in diesen Städten getriebenen Wuchers
die christlichen Schuldner von ihren Verpflichtungen gegenüber den
jüdischen Gläubigern gänzlich frei seien und daß sie statt dessen einen
bestimmten Teil der geschuldeten Summe an den Kaiser oder an die
Magistrate zu entrichten hätten. Der Herrscher eines großen Reiches
gestattete so in aller Form, einen Teil der Bevölkerung zu berauben,
um sich dann zusammen mit dem anderen Teil an der Beute zu be-
reichern. Die Juden handelten mit Geld, die Herrscher aber mit den
Juden, und dieser Kreislauf des Handels kam einzig und allein den
von ihren Verpflichtungen immer wieder befreiten Schuldnern und
den sich mit ihnen in die Beute teilenden Machthabern zugute. Die-
jenigen aber, die im Besitze des verhaßten Privilegs des Zinsdarlehens
waren, jagten nur einem Schatten nach. Die Juden Deutschlands waren
zu völliger wirtschaftlicher Verkümmerung verdammt.
Nicht weniger gewissenhaft sorgte der hohe „Vormund der Ju-
den*' auch für den Schutz seiner Kammerknechte vor Massenaus-
schreitungen und sonstigen Raubüberfällen. In Prag, der böhmischen
Residenz Wenzels, kam es während der Osterzeit i38g zu folgendem
Vorfall. In einer Straße bewarfen jüdische Kinder in übermütigem
Spiele einander mit Sand, als gerade ein katholischer Priester des We-
ges kam. Eine Handvoll Sand traf zufällig das von diesem getragene
Sakramenthäuschen. Der Priester lief nun auf den Marktplatz und
rief laut, daß die Juden seine geistliche Würde entweiht und ihm das
Sakrament aus der Hand geschlagen hätten. Das von allen Seiten her-
beieilende Volk rüstete sich mit Äxten, Knüppeln und ähnlichen Waf-
fen aus, umstellte die jüdischen Häuser und verlangte, daß sich die
Juden auf der Stelle taufen ließen. Die Prager Juden waren aber
unbeugsam und mußten ihre Treue mit ihrem Blut büßen. Im
Laufe dieses Tages und der darauf folgenden Nacht wurden mehrere
Hunderte von ihnen in grausamster Weise niedergemetzelt; viele nah-
men sich, dem Beispiel ihres Rabbiners folgend, selbst das Leben.
Die Synagoge wurde eingeäschert, die Thorarollen sowie die heiligen
Bücher wurden zerfetzt und zerstampft und auch der Friedhof blieb
3i3
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
nicht verschont. Von ähnlichen Verfolgungen wurden auch die Ge-
meinden der Nachbarstädte heimgesucht. Die Juden flehten den da-
mals in der Stadt weilenden Wenzel um Hilfe an, doch antwortete
ihnen der Kaiser mit größter Kaltblütigkeit, daß sie selbst an allem
die Schuld trügen, da sie sich in Mißachtung der Kirchenregeln am
christlichen Osterfest auf der Straße gezeigt hätten. War er doch
vor allem darauf bedacht, einen bedeutenden Teil des Eigentums der
Ermordeten für sich mit Beschlag zu belegen. Das Andenken der Mär-
tyrer ist von dem Prager Rabbiner Abigdor Karo in einer synagoga-
len Elegie1) verewigt worden.
Sonst durchaus kein eifriger Sohn der Kirche, spielte sich Kaiser
Wenzel in jüdischen Angelegenheiten als ein streng christlicher Herr-
scher auf. Als ihm im Jahre i386 zu Ohren gekommen war, daß die
Juden in Straßburg die ihnen zugedachte Sondertracht nicht anleg-
ten und daß manche von ihnen in ihrer Kleidung sogar eine gewisse
Putzsucht erkennen ließen, erachtete er dies als eine „Beleidigung für
die Christen und ihre Religion“ und beeilte sich, an den Straßburger
Stadtrat ein Schreiben zu richten, in dem er diesen aufforderte, die
„kaiserlichen Kammerknechte“ zum Tragen des „Judenhutes“ und
der besonderen Fußbekleidung, wie sie ehedem bei ihnen üblich ge-
wesen seien, strengstens anzuhalten, damit „der Jude unter den Chri-
sten leicht erkennbar sei”. Der Stadtrat nahm diesen Befehl zum
Anlaß, die den Juden für die Aufenthaltsgenehmigung auferlegten
alljährlichen Steuern bedeutend zu erhöhen. Bald begannen indessen
die Straßburger Bürger die Frage in Erwägung zu ziehen, ob es nicht
ratsamer wäre, die im Jahre i36g in geringer Zahl und nur für eine
bestimmte Zeit auf genommenen Juden wieder aus der Stadt zu ver-
treiben. Im Jahre x388 beschloß denn auch der Magistrat, die Hand-
voll Juden, die sich auf den Trümmern der ehemaligen Gemeinde
in Straßburg niedergelassen hatten, restlos und unwiderruflich aus-
zuweisen. Die Vertriebenen fanden ein Asyl in den anderen elsässi-
schen Gemeinden, von denen seit dieser Zeit die von Schlettstadt und
Colmar eine immer größere Bedeutung gewinnen. In Straßburg durf-
ten sich aber die Juden nur vorübergehend zu geschäftlichen Zwek-
ken gegen eine besondere Gebühr aufhalten. Eine teilweise Restau-
D „Eth kol ha’telaa“ in der „Mincha“-Liturgie des Jom-Kippur (nach böh-
mischem Ritus).
3i4
§ 45. Verarmung der deutschen Gemeinden im XIV. Jahrhundert
ration der jüdischen Gemeinde von Straßburg erfolgte erst gegen
Ende des XYII. Jahrhunderts, nach der Angliederung des Elsaß an
Frankreich.
Aus den zerstörten rheinländischen Städten zogen viele Juden an
die Donauufer, nach Wien und anderen Städten Österreichs, wo die
jüdische Bevölkerung unter den Schrecken des „Schwarzen Todes“
nur wenig gelitten hatte. Aber auch hier verschlimmerte sich die
Lage der Juden in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts zu-
sehends. Nach der Verkündigung der „Goldenen Bulle“, die, wie er-
wähnt, neben dem Kaiser auch den Kurfürsten das Recht des „Ju-
denbesitzes“ einräumte, erwirkte der österreichische Herzog Ru-
dolf IV. dieses Vorrecht auch für sich und seine Brüder, die Herzoge
von Kärnten und Steiermark. Bei der Ausbeutung des ihnen be-
willigten jüdischen Regals nahmen sich die Herzoge die kaiserlichen
Gepflogenheiten zum Vorbild: sie fesselten die Juden an ihre jeweili-
gen Wohnorte, indem sie ihnen das Übersiedeln in fremde Besitz-
tümer untersagten. Gleich Wenzel pflegten auch sie in Übereinkunft
mit den Magistraten und nicht ohne Nutzen für ihren eigenen Schatz
die Schuldverpflichtungen der christlichen Bürgerschaft den jüdi-
schen Gläubigern gegenüber durch besondere Erlasse („Tödtbriefe“)
zu annullieren. Das Vermögen der eigenmächtig auswandernden Ju-
den wurde zugunsten des Staatsschatzes eingezogen; hinterließ aber
ein solcher Emigrant keinen Besitz, so haftete für ihn die gesamte
Gemeinde. In Fällen besonderer Geldnot griffen die Herzoge zu den
alten, in Frankreich und England erprobten Mitteln: sie ließen an-
gesehene Gemeindemitglieder verhaften, um auf diese Weise die be-
nötigte Summe als Lösegeld zu erpressen (in den Jahren 1870—77
in Wien und anderen Städten). Durch die Entrichtung aller Steuern
und etwaiger Kontributionen konnten sich die Juden nur das eine
Recht erkaufen, die ihnen auf genötigte Funktion auszuüben, näm-
lich: unter Kontrolle der Behörden dem Kreditbedürfnis der Be-
völkerung Genüge zu tun. In Wien wurden alle von den Juden
mit den christlichen Handwerkern eingegangenen Kreditgeschäfte in
ein besonderes, im Stadtarchiv aufbewahrtes „Judenbuch“ eingetra-
gen. Wie aus den Eintragungen (1889—1^20) zu ersehen ist, wur-
den meistens nur geringe Summen, ein bis drei Pfennigpfund, aus-
geliehen und auch die geforderten Zinsen überstiegen nicht die für
jene Zeit als normal geltende Höhe (durchschnittlich drei Pfennig
3i5
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
vom Pfund wöchentlich, d. s. 65 Prozent jährlich). Dieser verhältnis-
mäßig noch immer hohe Prozentsatz ist darauf zurückzuführen, daß
ein bedeutender Teil des Zinsgewinns dazu verwendet werden mußte,
die Gier der Behörden zu stillen, die überdies das Risiko des Gläubi-
gers durch die Gepflogenheit, den Schuldnern „Tödtbriefe“ zu ver-
leihen, in nicht geringem Maße erhöhten. Im Warenhandel wurden
den Juden auf Antrieb der christlichen Kaufleute immer neue Ein-
schränkungen auf erlegt; so verbot ihnen der Herzog von Steiermark
auf die Bitte der Bürgerschaft hin, mit Brot und Wein zu handeln.
Dagegen gewährten die Herzoge ihren jüdischen Untertanen in deren
innerem Gemeindeleben gern allerlei Freiheiten, und so erfreuten sich
die jüdischen Gemeinden Österreichs um jene Zeit einer weitgehenden
Selbstverwaltung.
Die jüdische Bevölkerung der österreichischen Länder erfuhr da-
mals einen bedeutenden Zuwachs durch die Zuwanderung aus dem
benachbarten Ungarn. Auch an den dortigen Juden, die sich seit dem
XIII. Jahrhundert dank der „Freiheits-Charte“ Belas IV. zu einer
hohen sozialen Stellung emporgeschwungen hatten, waren die Jahre
des „Schwarzen Todes“ nicht spurlos vorübergegangen. Im Jahre x349
wurden sie nach verschiedenen infolge der Seuche ausgebrochenen
Volksunruhen aus einigen ungarischen Provinzen vertrieben oder ver-
ließen ihre Wohnorte aus eigenem Antrieb. Zwar wurden sie bald
darauf von dem glaubensschwärmerischen König LudAvig von Anjou,
der sie zum Christentum zu bekehren hoffte, nach Ungarn zurück-
berufen, als er sich jedoch in seinen Hoffnungen getäuscht sah, zö-
gerte er nicht, sie von neuem zu verbannen (i36o). Die Auswanderer
fanden in den nahegelegenen Ortschaften Österreichs, der Walachei
und Polens Zuflucht, kehrten aber später nach und nach in ihre Hei-
mat zurück. Die jüdische Bevölkerung Ungarns konzentrierte sich
hauptsächlich in Preßburg und in dessen Umgegend. Unter den Kö-
nigen Ludwig und Sigismund wurden die jüdischen Gemeinden einem
königlichen Beamten mit dem Titel eines „Judenrichters“ unterstellt,
der offiziell die Juden zu beschützen hatte, in Wirklichkeit jedoch
nur die Interessen des Fiskus wahrnahm, indem er die jüdische Be-
völkerung, sei es auf gesetzlichem oder auf gesetzwidrigem Wege,
zugunsten des königlichen Schatzes ausbeutete. Solche Gepflogen-
heiten lagen eben, wie es scheint, im Zuge der auf den „SchAvarzen
3x6
§ 46. Die Hussitenbewegung und die klerikale Reaktion
Tod“ folgenden Zeit: die Herrscher waren überzeugt, daß die Juden
einzig und allein von ihrer Gnade lebten und hielten sich daher für
berechtigt, ihrerseits auf Kosten der Juden zu leben.
§ 46. Die Hussitenbewegung und die klerikale Reaktion
(1400—1450)
Zu Beginn des XY. Jahrhunderts sahen sich die jüdischen Gemein-
den der deutschen Reichsstädte endgültig einer Doppelherrschaft
unterworfen: es wurde jetzt nämlich zur Regel, daß der Kaiser die
ihm über seine Kammerknechte zustehende Gewalt sowie die von die-
sen bezogenen Einkünfte mit den Stadträten, den Regierungen des
Bürgertums, teilte, das sich um jene Zeit zu einer bedeutenden poli-
tischen Macht entfaltet hatte. Der Wenzel auf dem deutschen Throne
folgende Ruprecht von der Pfalz (i4oo—i4io) verwarf zwar das
von seinem Vorgänger bevorzugte System der Enteignung der Ju-
den durch Annullierung der ihnen gegenüber eingegangenen Schuld-
verpflichtungen, zog aber die Steuerschraube nach wie vor mit aller
Schärfe an. Er erhob bei den Reichsstädten die Hälfte aller ihnen von
den jüdischen Gemeinden für erwiesenen „Schutz“ gezahlten Steuern
und forderte überdies den Juden als Reichskopfsteuer den festge-
setzten „güldenen Opferpfennig“ ab. Zur Eintreibung dieser Abgaben
wurden besondere Kommissare oder Einnehmer eingesetzt, unter de-
nen auch Juden oft vertreten waren. Ruprecht versuchte sogar, die
Juden zu fiskalischen Zwecken einem besonderen „Hochmeister“ oder
staatlichen Rabbiner zu unterstellen, der zugleich die inneren Ge-
meindeangelegenheiten überwachen sollte, doch weigerten sich die
Gemeinden aufs entschiedenste, dem ihnen aufgezwungenen Ober-
rabbiner zu gehorchen (unten, § 48).
Eine unruhige Zeit brach für die Juden von neuem unter dem Kai-
ser Sigismund an, dessen Regierung (i4n—i437) vom Kampfe
gegen die Reformationsbewegung der Hussiten, von den langwierigen
„Hussitenkriegen“, ausgefüllt war. Die in Böhmen zum Durchbruch
gekommene Reformationsströmung zog für die Juden dieselben Fol-
gen nach sich, wie die gleichgeartete Albigenserbewegung in Frank-
reich zu Beginn des XIII. Jahrhunderts. Die eine wie die andere
„Ketzerei“, wie dieser kühne Kampf gegen die tiefwurzelnde Ver-
derbnis der Kirche in der offiziellen Kirchensprache hieß, löste eine
3r7
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
starke klerikale Reaktion aus, die auch auf das Los der Judenheit
nicht ohne Rückwirkung bleiben konnte. Zwar wies die hussitische
Häresie, im Gegensatz zu den Lehren der Albigenser, in denen die
Einwirkung des jüdischen Rationalismus mehr oder weniger klar zu-
tage trat, keinerlei Anzeichen eines direkten jüdischen Einflusses auf,
was auch kaum möglich gewesen wäre, da die deutschen Juden jener
Zeit viel zu abgeschlossen von ihrer Umwelt lebten und die tschechi-
schen Anhänger des Hus, deren Aufstand überdies auch einen aus-
gesprochen nationalen Charakter trug, mit dem jüdischen Monismus
nur wenig Berührungspunkte hatten; desungeachtet trug der neu er-
wachte katholische Fanatismus sowie die ganze Atmosphäre des Re-
ligionskrieges, des inneren Kreuzzuges, zu einer merklichen Verschär-
fung des Judenhasses bei. Die Truppen des Kaisers Sigismund, die
durch die Rheinprovinzen nach Böhmen in den „heiligen Krieg“ zogen,
überfielen an manchen Orten die Juden oder drohten, auf dem Rück-
wege, nach der Vernichtung der Ketzer, auch mit jenen kurzen Prozeß
zu machen. Voll Entsetzen bereiteten sich die Juden auf ein neues
Martyrium vor. Der Mainzer Rabbiner Jakob Mölln (Maharil) forderte
die Gemeinden durch besondere Boten auf, ein allnationales Fasten
zu veranstalten und überall in den Synagogen um Abwendung des Un-
heils zu beten. Zwischen Rosch-ha’schana und Jom-Kippur des Jah-
res 1421 flehten denn auch die Juden in vielen deutschen Städten
mit besonderer Inbrunst und Zerknirschung um die Erhaltung ihres
schwer bedrohten Lebens. Die Gebete sollten diesmal nicht unerhört
bleiben: in dem Treffen mit den Truppen des tschechischen National-
helden £izka erlitt das kaiserliche Söldnerheer eine schwere Nieder-
lage (1422). Der Anführer der Hussiten rächte den in Konstanz ver-
brannten Hus und die geschlagenen Truppen des Sigismund mußten
auf ihrem Rückzuge, zerlumpt und hungrig, nun in den Häusern der
Juden Zuflucht suchen, die sie noch vor kurzem selbst mit dem Tode
bedroht hatten.
Die Hussitenkriege zogen sich indessen noch über zwei Jahrzehnte
hin und kamen den Juden überaus teuer zu stehen. Schon im Jahre
i4i5 mußten die jüdischen Gemeinden auf die Forderung des Kai-
sers Sigismund hin die Kosten des Konstanzer Konzils decken, das
Johann Hus zum Flammentode verurteilt hatte, und auch später wa-
ren sie vielfach gezwungen, dem Reichsschatz Geldmittel für die
Kriegsführung zur Verfügung zu stellen. Während die Christen um
3i8
§ 46. Die Hussitenbewegung und die klerikale Reaktion
der Einheit der Kirche willen ins Feld ziehen mußten, trieb man bei
den Juden für den gleichen Zweck eine hohe Kriegssteuer in Form
des „dritten Pfennigs“, d. h. eines Drittels ihres gesamten Vermögens
ein. Besondere Kommissare bereisten die Städte zwecks Eintreibung
dieses ungeheuerlichen Tributs und zogen von Haus zu Haus, um das
jeweilige Vermögen und die Lebensmittelvorräte einzuschätzen. Zu-
gleich hielten auch die Stadträte mit ihren Ansprüchen gegenüber den
Juden nicht zurück. In den bedeutendsten Reichsstädten waren die
Stadträte die tatsächlichen Herren der jüdischen Gemeinden, mit de-
ren Mitgliedern sie nach Gutdünken verfahren und die sie jeden Au-
genblick vertreiben konnten, da die nach der Katastrophe des
„Schwarzen Todes“ an die alten Trümmer Stätten zurückgekehrten
Juden, wie erwähnt, nur als zeitweilige, von der Bürgerschaft bloß
geduldete Stadtbewohner galten. Kamen die Bürger zur Überzeugung,
daß die Juden ihnen keinen Vorteil mehr brächten oder sie gar schä-
digten, so wies sie der Stadtrat kurzerhand aus. So wurden im Jahre
i42 4 die jüdischen Einwohner von Köln ohne jede weitere Begrün-
dung, allein „zum Ruhme Gottes und der heiligen Jungfrau“ aus der
Stadt vertrieben, während ihre Synagoge in eine christliche Kapelle
umgewandelt wurde. Der Kölner Erzbischof, dem der Judenschutz
nicht wenig Gewinn einbrachte, gewährte indessen den Verbannten in
anderen in seiner Diözese gelegenen Orten (Deutz, Neuß, Bonn usf.)
bereitwilligst Zuflucht. In derselben Weise wiesen die Stadtbehörden
im Jahre i438 alle Juden aus Mainz aus und beschlagnahmten zu-
gleich die Synagoge und den jüdischen Friedhof. Der Kaiser war an-
scheinend nicht mehr in der Lage, sich für seine Kammerknechte ein-
zusetzen, da sie jetzt, soweit ihr Wohnrecht in Frage kam, ganz auf
das freie Ermessen der autonomen Stadtbehörden angewiesen waren.
Am schwersten wurden von der klerikalen Reaktion die Juden
Österreichs getroffen, in dessen unmittelbarer Nähe sich die Hussiten-
kämpfe abgespielt hatten. Wien war ganz von einer judenfeindlichen
Stimmung beherrscht. Es wurde das Gerücht in Umlauf gesetzt, daß
die Juden die Hussiten mit Geld und Waffen versorgten. Die Frage
der Beziehungen der Juden zu den aufrührerischen Ketzern wurde
sogar vor der theologischen Fakultät der Wiener Universität zur Er-
örterung gebracht. Die rauflustigen Studenten unternahmen Über-
fälle auf das jüdische Viertel, wo sie nach Herzenslust tobten und
sich an jüdischem Hab und Gut vergriffen. Auch der österreichische
319
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
Herzog Albrecht V. (der nachmalige deutsche Kaiser) hatte für die
Toleranzpolitik seiner Vorgänger nichts mehr übrig. Er teilte sogar den
dunklen Aberglauben seiner Epoche in bezug auf „jüdische Ver-
brechen“, wie etwa den Ritualmord oder die Hostienschändung. Diese
Haltung des Herzogs nützte die judenfeindliche Partei in Österreich
dazu aus^ um ihn zu entscheidenden Maßnahmen zu bewegen. Im
Frühling des Jahres i[\20 hinterbrachte man ihm, daß eine in der
Stadt Enns während der Ostertage von der Meßnersfrau geraubte
Hostie zwecks Schändung des heiligen Symbols des Leibes Christi
von dem reichen Juden Israel angekauft worden sei. Zu einer Zeit,
da wegen der Streitfrage von der „Kommunion in beiderlei Gestalt“
(sub utraque) blutige Schlachten geschlagen wurden, kam diesem
Symbol auch eine gewisse politische Bedeutung zu. Der Herzog zögerte
denn auch nicht, den der Gotteslästerung verdächtigen Israel, seine
Gattin und noch viele andere Juden mitsamt der Meßnersfrau verhaf-
ten zu lassen. Alle wurden nach Wien gebracht und der Tortur unter-
zogen, doch vermochte man nur der Meßnersfrau ein Geständnis ab-
zuzwingen; alle anderen Angeklagten leugneten dagegen aufs ent-
schiedenste, mit der Sache etwas zu tun gehabt zu haben. Albrecht
schienen indessen weitere „Indizien“ überflüssig zu sein. Am 2 3. Mai
14^o befahl er, alle in seinen österreichischen Besitztümern leben-
den Juden zu verhaften und ihr Vermögen einzuziehen. Die einfache-
ren Leute wurden unverzüglich aus dem Lande vertrieben, während
man die angeseheneren Gemeindemitglieder noch lange in den Ge-
fängnissen schmachten ließ. Viele jüdische Kinder wurden ihren El-
tern weggenommen, getauft und den Klöstern zur Erziehung über-
geben. Auch manche Erwachsene nahmen zum Scheine die Taufe an,
um jedoch später, der Verstellung überführt, dem Flammentode preis-
gegeben zu werden. Nicht wenige legten selbst Hand an sich, so auf
das Zureden des Rabbiners Jona Kohen, wie eine allerdings nur un-
genügend verbürgte Überlieferung wissen will, die Juden, die in der
Wiener Synagoge eingesperrt worden waren.
Der von religiösem Eifer besessene Herzog Albrecht, der Hunderte
von kriegsgefangenen Hussiten den Flammentod sterben ließ, be-
schloß auch bei der einmal begonnenen Judenausrottung ganze Ar-
beit zu verrichten. Am 12. März il\2i wurden auf seinen Befehl
etwa zweihundert jüdische Männer und Frauen, die wegen der an-
geblichen Hostienschändung in Enns festgenommen worden waren
820
§ 46. Die Hussitenbeivegung und die klerikale Reaktion
und sich geweigert hatten, ihre Schuld durch die Taufe zu büßen,
auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Zugleich ließ Albrecht aus seinen
österreichischen Besitzungen alle dort noch verbliebenen Juden aus-
weisen. Häuser und Grundbesitz der Verbannten (in Wien, Krems,
Enns, Tulln usw.) fielen dem Herzog zu und wurden von ihm zu Geld
gemacht, das er zur Führung des Krieges gegen die Hussiten auch
dringend benötigte. Der Gewinn aus seinem „gottgefälligen“ Werke
fand so für einen nicht minder gottgefälligen Krieg Verwendung.
Durch diese Heldentaten erwarb sich Albrecht hohen Ruhm in der
ganzen katholischen Welt, und ein zeitgenössischer Chronist konnte
denn auch den Kampf dieses Herrschers mit Türken, Taboriten (Hus-
siten) und Juden in dem einen kurzen Epitaph verewigen:
Turcis occuri, circumdare Tabor adivi,
Jussi Judaeos ante cremare meos 1).
Die Juden verblieben in Österreich nur noch auf den Besitzungen der
Feudalherren und sonstigen Großgrundbesitzer, während ihnen im
herzoglichen Herrschaftsbereich das Wohnrecht nur in den selten-
sten Fällen als besondere Gnade zuteil wurde. Erst dreißig Jahre spä-
ter, unter dem Herzog und nachmaligen Kaiser Friedrich III., wurde
den Juden der Aufenthalt in den österreichischen Ländern von neuem
gestattet.
Sechzehn Jahre nach der Wiener Katastrophe, als der deutsche
Kaiser Sigismund gestorben war, fiel Herzog Albrecht mitsamt der
böhmischen und ungarischen für eine kurze Zeit (i437—i43()) auch
die Krone Deutschlands zu. Der deutschen Gemeinden bemächtigte
sich große Unruhe. Man befürchtete, daß der „Bösewicht“ (wie Al-
brecht in den jüdischen Annalen genannt wurde), der die Juden aus
Österreich vertrieben hatte, sein Experiment auch im Kaiserreich
wiederholen würde. Indessen vermochte er während seiner kurzen
Piegierungszeit in Deutschland in dieser Richtung nur ein einziges
gottgefälliges Werk zu vollbringen. Als die Stadtbehörden von Augs-
burg Albrecht um die Erlaubnis angingen, die Juden aus der Stadt
auszuweisen und dem R.eichsschatz als Entschädigung die Summe von
goo Gulden in Aussicht stellten, ging der Kaiser auf den Vorschlag
bereitwillig ein und gebot den Juden, bis zum Beginn des Jahres
1) „Die Türken hab’ ich bekriegt und Tabor umzingelt, meine Juden aber
ließ ich vorher verbrennen“.
21 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
32 I
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
i44o ihre Häuser zu verkaufen und Augsburg zu verlassen. Er selbst
sollte ihren Auszug nicht mehr erleben; die schwäbischen Bürger
säumten indessen nicht, die Juden zur festgesetzten Frist aus der
Stadt zu vertreiben. Die Grabtafeln vom jüdischen Friedhof verwen-
deten sie zur Ausbesserung der Stadtmauern, die nun den Verbannten
den Zutritt zu jener Stätte verwehren sollten, wo die Gebeine ihrer
Vorfahren ruhten.
Nach Beendigung der Hussitenkriege suchte die katholische Geist-
lichkeit ihrer stark erschütterten Autorität zu neuem Ansehen zu ver-
helfen. Ein Teil der von dem Baseler Konzil (i43i— i44g) zu die-
sem Zwecke beschlossenen Maßnahmen richtete sich auch gegen die
Juden oder, genauer gesagt, gegen den Judaismus. Die alten kanoni-
schen Verbote wurden durch neue vermehrt. Unter anderem traf das
Konzil die Bestimmung, daß in den theologischen Schulen zwecks
Ausbildung von Predigern für die Judenmission die hebräische und
chaldäische Sprache als Lehrfach eingeführt werden sollten. Seitdem
wurde die katholische Missionspropaganda unter den Einwohnern der
Judenviertel auch in Deutschland eifrig betrieben, doch bedienten
sich hier die Missionare weniger der Predigten und sonstiger Über-
redungskünste, die ihre Wirkung auf die Juden stets völlig verfehlten,,
als vielmehr der Drohungen und Verfolgungen, denen kurz vorher in
Spanien ein so durchgreifender Erfolg beschieden war. Das spanische
System der Zwangstaufe unter Anwendung terroristischer Methoden
war indessen in Deutschland von vornherein zum Mißerfolg verurteilt:
wenn auch der Leib der deutschen Judenheit durch den in der zweiten
Hälfte des XV. Jahrhunderts wütenden Terror schwer verstümmelt
wurde, so blieben die jüdischen Seelen dennoch standhaft und ließen
sich um keinen Preis der Kirche in die Arme treiben.
§ 47. Der Ruin und der Niedergang der deutschen Gemeinden in der
zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts
Die Früchte der in den vorhergehenden Jahrhunderten in
Deutschland herrschenden Willkür gelangten im XV. Jahrhundert
zur endgültigen Reife. Der zu Macht und Ansehen aufgestie-
gene Bürger stand stellte hier nicht eine fortschrittliche Kraft wie
etwa in Italien dar, sondern eine reaktionäre soziale Gruppe, in der
sich wirtschaftliche Habgier mit religiöser Unduldsamkeit paarte. Je
32 2
§ 47. Der Niedergang der deutschen Gemeinden (1450—1500)
weitere Kreise die Gewerbe- und Handelstätigkeit des Bürgertums
zog, desto mehr machte sich hier die Konkurrenz der Juden fühlbar,
die als eine blutsfremde und andersgläubige Bevölkerungsschicht der
patriarchalischen Einheitlichkeit der christlichen Stadt, der Stadt der
geschlossenen Gilden und Zünfte, in denen die beruflichen Interessen
mit den kirchlichen eng verbunden waren, auf das empfindlichste Ab-
bruch taten. Die Herrschaftsgewalt über die Juden, die seit der Zeit
des „Schwarzen Todes“ in immer steigendem Maße den Stadträten
zufiel, gab diesen stets die Möglichkeit, ihre lästigen Konkurrenten,
wenn nicht mit Hilfe des Kaisers, so mit der des Pöbels loszuwerden.
Faßte eine Stadt den Beschluß, die Juden auszuweisen, so ging sie
zunächst den Kaiser als den obersten Herrn und Vormund der Juden
um Sanktionierung dieser Maßnahme an; verweigerte dieser aber
aus fiskalischen Motiven seine Sanktion, so stachelte der Magistrat den
stets zu Gewalttaten und Plünderung bereiten Pöbel gegen die kaiser-
lichen Kammerknechte auf oder bediente sich der häufig auftauchen-
den falschen religiösen Anschuldigungen, um auf diesem Umwege sei-
nen Beschluß dennoch durchzusetzen. Im letzteren Falle konnte sich
die Bürgerschaft getrost auf die Mitwirkung des katholischen Klerus
verlassen, dessen Verderbnis in dieser der Reformation unmittelbar
vorangehenden Epoche ohne Grenzen war. Die Bischöfe, die aus dem
in hoher Blüte stehenden Ablaßhandel reichlichen Gewinn erzielten,
waren jetzt auf den jüdischen Tribut weniger angewiesen und konn-
ten daher zusammen mit den Mönchen der verschiedenen Orden ihrem
Eifer bei der Bekämpfung der „Feinde Christi“ freien Lauf lassen.
Es blieb somit nur eine Macht, die an der Beschützung der Juden
noch ein Interesse hatte: die weltliche Macht des Kaisers und an eini-
gen Orten auch die seiner Vasallen, doch hing auch hierbei alles von
der persönlichen Neigung und Stimmung der jeweiligen Träger die-
ser Gewalt ab. Ein Kaiser oder Herzog, der den Einflüsterungen des
Klerus willig sein Ohr lieh oder sich auf die Unterstützung des Bür-
gertums angewiesen sah, wirkte in judenfeindlichem Geiste, während
die unabhängigeren oder weichherzigeren Herrscher, namentlich aber
solche, die auf die Einkünfte von den Juden nicht gut verzichten,
konnten, ihrer Pflicht als Vormünder der Judenheit mehr oder weni-
ger gewissenhaft nachkamen. Von dieser letzten Art war eben Kaiser
Friedrich III. (i44o—von dem die deutschen Chronisten,
allerdings nicht ohne Übertreibung, in tadelnder Weise berichten,
2i*
3^3
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
daß er „wegen seines den Juden bekundeten Wohlwollens im Volke
eher als König der Judäer als der Römer galt“ (vulgo dicabatur rex
Judaeorum potius quam Romanorum propter familiaritatem quam
ad Judaeos habere videbatur).
Indessen war das Interesse, das Friedrich III. den Juden entgegen-
brachte, vor allem finanzieller Natur. Unausgesetzt in Kriege gegen
innere und äußere Feinde verwickelt, litt er fortwährend unter schwer-
ster Geldnot und erklärte in seinen Dekreten ganz offen, daß es die
Juden seien, die seinen Geldbedarf zu decken hätten. Neben den regu-
lären Steuern (der Hälfte der städtischen Judensteuer und dem „gül-
denen Opferpfennig“) forderte er von den Juden viel häufiger als
seine Vorgänger auch außerordentliche Steuern. Zweimal, zu Aachen
und zu Rom, gekrönt (i44s und i452), ließ er bei seinen jüdischen
Untertanen Jahre hindurch in der Form eines „dritten Pfennigs“ die
sogenannte „Ehrung“ oder die Krönungssteuer ein treiben, wobei er
keinen Anstand nahm, bei Zahlungsverzug zur Einziehung des Ge-
meindebesitzes zu greifen. Einer der Vasallen Friedrichs III., der
Markgraf von Brandenburg, erklärte denn auch in einem vom Jahre
1462 stammenden Erlaß klipp und klar: „Jedem römischen König
oder Kaiser (dem deutschen) steht das Recht zu, das gesamte Hab und
Gut der in seinem Reiche lebenden Juden an sich zu nehmen . ., .
Der ganzen Judenheit des deutschen Reiches ist die Freiheit nur unter
der Bedingung gewährt worden, daß sie den dritten Teil ihres Be-
sitzes als Entgelt für Leben und restlichen Besitz dem Kaiser zur Ver-
fügung stellen werde“. Der letzte Kaiser des mittelalterlichen Deutsch-
lands machte von seinem angeblichen Rechte auch in der Tat den wei-
testgehenden Gebrauch, freilich nur insofern, als er hierbei von den
ihm die Herrschaft über die Juden streitig machenden autonomen
Städten nicht behindert wurde. Andererseits hatten ihm allerdings
seine Kammerknechte einen durchaus wirksamen Schutz gegen den
Ansturm der verschiedenen sie hart bedrängenden Stände zu ver-
danken.
Als österreichischer Herzog entschloß sich Friedrich III., die Will-
kürmaßnahme seines Vorgängers Albrecht, der die Juden aus Nieder-
österreich vertrieben hatte, wieder rückgängig zu machen. Da jedoch
die Ausweisung durch ein angebliches Sakrileg veranlaßt worden war,
so glaubte er, für die Durchführung seines Vorhabens vorher die
Sanktion des Papstes Nikolaus V. einholen zu müssen. Der Papst, dem
324
§ 47. Der Niedergang der deutschen Gemeinden (1U50—1500)
der Kaiser wichtige Dienste erwiesen hatte, wagte diesem nicht zu
widersprechen, unterdrückte seine judenfeindlichen Gefühle und
erließ unverzüglich eine in äußerst liberalem Tone gehaltene Bulle
(i45i). In dieser Bulle wurde den kirchlichen Behörden kund-
getan, daß es ihnen untersagt sei, über diejenigen Herrscher Öster-
reichs, der Steiermark und anderer Provinzen, die den Juden in
ihrem Herrschaftsbereich das Wohnrecht gewähren sollten, den Kir-
chenbann oder das Interdikt zu verhängen. Der apostolische Stuhl,
so erklärte der Papst, sei von dem Wunsche beseelt, daß man „die
Juden menschlich behandle, um auf diese Weise ihren Starrsinn zu
besänftigen, sie zur Erkenntnis ihrer Verirrungen zu bewegen, ihre
Seele durch die höchste Gnade zu erleuchten und sie zum Lichte
Christi zu bekehren“. Nachdem sich Friedrich der päpstlichen Sank-
tion versichert hatte, verlieh er allen in den österreichischen Provin-
zen gebietenden Fürsten das Privileg, Juden in ihrem Herrschaftsbe-
reiche von neuem anzusiedeln. Dem widersetzten sich jedoch die
Stände: Bürgertum wie Adel bestürmten den Kaiser mit inständigen
Bitten, die Juden nach wie vor fern zu halten. Der jeder Übereiltheit
abholde Friedrich ließ sich darauf in einen langen Briefwechsel mit
ihnen ein, in dem er auf seine Pflicht hinwies, dem von ihm bevor-
mundeten Stamm überall im Reiche Zuflucht zu gewähren. So ge-
lang es dem Kaiser nur nach und nach, den Widerstand der Stände
zu brechen und die Juden erneut in jenen Teilen Österreichs anzusie-
deln, aus denen sie im Jahre 1421 fast restlos vertrieben worden
waren.
In denselben Jahren hatte der Kaiser auch noch sonstige Aus-
brüche des Judenhasses in den verschiedenen Gegenden seines Rei-
ches zu bekämpfen. Derselbe Papst Nikolaus V., der in der erwähnten
Bulle zur „menschlichen Behandlung“ der Juden um ihrer Bekehrung
zum „Lichte Christi“ willen in so sanften Ausdrücken aufrief, ver-
traute nämlich dieses Aufklärungswerk obskuren und böswilligen
Mönchen an, die das Volk zu grauenvollen Untaten aufhetzten. In den
Jahren der auf die Hussitenbewegung folgenden klerikalen Reaktion
trieben sich überall in Deutschland Franziskaner- und Dominikaner-
mönche herum, die in ihren Predigten neben den Häretikern auch die
Juden anschuldigten. Der eifrigste unter ihnen war der Franziskaner
Johannes Capistranus, ein zügelloser Glaubensschwärmer, der sich
schon früher in Italien bei der Verfolgung der Ketzer als Inquisitor
325
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
hervorgetan hatte. Im Jahre i45o wurde er vom Papste nach Deutsch-
land und in die benachbarten slawischen Länder mit dem Auftrag
entsandt, den durch das Hussitentum ins Wanken geratenen römisch-
katholischen Glauben wieder aufzurichten. Dieser düstere Asket, der
in seinen Strafreden die Verderbtheit der christlichen Gesellschaft
und der Geistlichkeit geißelte (über die Lasterhaftigkeit der geistli-
chen Würdenträger pflegte er freilich in den Kirchen nur hinter ver-
schlossenen Türen zu sprechen), ließ zugleich keine Gelegenheit un-
genützt, um in seinen an die breitesten Volksmassen gerichteten Pre-
digten auch das Judentum anzuschwärzen und zu verleumden. Er
drohte den die Juden begünstigenden Herrschern mit dem furcht-
baren „Zorn Gottes“ und rühmte sich, daß es ihm an manchen Or-
ten gelungen sei, „die teuflischen Privilegien“ der jüdischen Gemein-
den zunichte zu machen. Gapistranus begnügte sich jedoch nicht mit
seinem auf die Herrscher ausgeübten Einfluß, sondern ging auch dar-
auf aus, durch Inszenierung von Ritualmordprozessen und sonstigen
blutigen inquisitorischen Spielen die Hölle selbst, die entfesselten
Volksleidenschaften, gegen die Juden in Bewegung zu setzen. Der
Boden für derartige Experimente war durch seine zündenden Reden
bereits gründlich vorbereitet. Das geblendete Volk erblickte in dem
sich wild gebärdenden Mönche einen Heiligen und Wundertäter und
schwur auf jedes seiner Worte. Schon allein das Gerücht von dem
Nahen dieses tollen Fanatikers, dem die Christen den Ehrentitel „Ju-
dengeißel“ beigelegt hatten, ließ die Juden vor Entsetzen erbeben.
Im Jahre i453 wurden denn auch die Juden Schlesiens, nament-
lich die Gemeinde von Breslau, von dieser Geißel aufs schmerzlichste
getroffen. Die Predigten des rasenden Mönches lockten in Breslau
so große Massen von Zuhörern herbei, daß die Kirche sie nicht mehr
fassen konnte, so daß die Versammlungen unter freiem Himmel ab-
gehalten werden mußten. Die Breslauer Judenhasser schlossen enge
Freundschaft mit Gapistranus und begannen mit ihm geheimnisvolle
Unterhandlungen. Bald entschlossen sich die Verschwörer auch zur
Tat. An einem Frühlingstage wurden ganz plötzlich viele Mitglieder
der Breslauer Gemeinde in Haft genommen, worauf man sie wegen
eines schweren Ritual Verbrechens in Anklagezustand versetzte. In einer
im Breslauer Bezirk gelegenen Ortschaft war nämlich aus der Kirche
die Monstranz mit der Hostie entwendet worden und es gelang bald,
einen dort aus Breslau eingetroffenen Magistratsdiener mitsamt sei-
826
§ 47. Der Niedergang der deutschen Gemeinden (1U50—1500)
ner Frau des Sakrilegs zu überführen. Auf der Folterbank wälzte die
Frau die ganze Schuld auf die Breslauer Juden ab, die sie angeblich
durch Bestechung zur Entwendung der Hostie verleitet hätten; ferner
sagte sie aus, daß sie das heilige Sakrament dem reichen Juden Meier
ausgeliefert hätte und daß es darauf von den Gemeindemitgliedern
durchbohrt, in Stücke geschnitten und an die anderen schlesischen
Gemeinden versandt worden wäre. Der Ortsbischof betraute nun mit
den Nachforschungen über die vermeintliche Kirchenschändung den
Glaubenseiferer Capistranus, und der bewährte Inquisitor nahm die
Sache, für die er selbst vorgearbeitet hatte, mit Freuden in seine
Hand. Mit Hilfe der aus Wien entsandten Kommissare (Breslau ge-
hörte damals zum österreichischen Schlesien) gelang es Capistranus,
einen nach allen Regeln der Inquisitionskunst eingefädelten Prozeß in
die Wege zu leiten. Einem der angeklagten Juden, der durch die Tor-
tur um seinen Verstand gebracht worden war, wurde das folgende
Geständnis abgepreßt: „Ich, Jakob, redete einem Christen zu, daß er
mir den christlichen Gott herbeischaffe, wofür ich ihm auf Wunsch
und Anraten der jüdischen Ältesten Geld angeboten habe. Der Christ
suchte hierauf den Juden Meier in seinem Hause auf, der mir nun
zusammen mit seinem Diener das Gewünschte in einer Kiste mit-
brachte. Nunmehr beförderte ich die Kiste zu Abraham aus Oppeln,
der sie seinerseits in Begleitung von zehn Juden nach der Synagoge
brachte. Die Kiste enthielt zehn weiße, rundförmige Figürchen, deren
jedes kleiner als ein Groschen war. In der Synagoge legte man zwei
Stück davon auf einen mit einem seidenen Tuch bedeckten Tisch und
schlug so heftig auf diese ein, daß aus ihnen Blut zu fließen begann.
Als die Juden dessen gewahr wurden, ergriff sie ein derartiger Schrek-
ken, daß manche von ihnen auf der Stelle das Augenlicht verloren.
Darauf beschloß man, zwei Stück an die Juden von Schweidnitz zu
schicken. Ich fragte Israel, ob er im Besitze des ,Talus* (taluj?), d. i.
des gekreuzigten Christus sei, was er bejahte, indem er noch hinzu-
fügte, daß er ihn auch in die anderen Städte zur Verhöhnung senden
wolle“ . . . Auf Grund dieser sinnlosen Faseleien, die von zwei ge-
tauften Juden aufgezeichnet, vielleicht auch diktiert worden waren,
glaubte nun das Inquisitionsgericht des Capistranus sein Urteil fäl-
len zu können. Am 4- Juli i453 wurden in Breslau einundvierzig Ju-
den auf dem Scheiterhaufen verbrannt, nachdem sich der Rabbiner
schon am Vorabend im Gefängnis erhängt hatte. Bald wurden sieb-
327
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
zehn Juden (zehn Männer und sieben Frauen) auch in Schweidnitz
verbrannt, während in Liegnitz die Verhafteten der eines Nachts im
Gefängnis ausgebrochenen Feuersbrunst zum Opfer fielen. Die am
Leben gebliebenen Häftlinge von Breslau, dreihundertachtzehn an der
Zahl, wurden für immer aus der Stadt vertrieben, wobei ihnen alle
Kinder unter sieben Jahren weggenommen und gewaltsam getauft
wurden.
So wurde das Wiener Experiment vom Jahre i/px in Breslau er-
neut mit durchgreifendem Erfolg zur Ausführung gebracht. Das si-
cher wirkende Mittel war entdeckt: um die Juden zur Räumung ir-
gendeiner Stadt oder Provinz zu zwingen, brauchte man nur gegen
die jüdische Gemeinde die Anklage wegen eines Ritualverbrechens zu
erheben, die angeblichen Gotteslästerer einem regelrechten Inquisitions-
prozeß zu unterziehen, sie hinzurichten — und schon war das Aus-
weisungsdekret perfekt. Wie auf ein verabredetes Zeichen tauchen
denn auch in verschiedenen Gegenden Deutschlands, Österreichs und
Italiens fast gleichzeitig „durch Zufall“ entdeckte Leichen christlicher
Kinder und Überreste aus den Kirchen entwendeter Hostien auf, die
ganze katholische Welt ist von Entsetzen über die erdichteten Ver-
brechen ergriffen, deren wirkliche Opfer aber allein die Juden wa-
ren. In derselben Zeit, als der italienische Inquisitor Capistranus den
Haß gegen die Juden in Deutschland zu hellen Flammen entfachte,
war sein Landsmann und Ordensbruder Bernhardin de Feltre mit der
Vorbereitung eines Angriffs auf das Judentum in der italienischen
Stadt Trient beschäftigt, die um jene Zeit unter der Gewalt eines
österreichischen Herzogs stand. Der auf das Betreiben des Mönchs
eingeleitete, sich über drei Jahre hinziehende Trientiner Prozeß (1475
bis 1478), von dem weiter unten (§ 59) noch die Rede sein wird,
wurde zu einer europäischen „cause celebre“ und gab den Judenhas-
sern eine furchtbare Waffe zur gleichzeitigen Bekämpfung sowohl
der jüdischen Religion wie des jüdischen Volkes in die Hand. Der
Prozeß rief vor allem einen Widerhall in Deutschland hervor, wo
die jüdischen Gemeinden schon längst zu einem Streitobjekt der ver-
schiedenen miteinander rivalisierenden Mächte: des Kaisers, der Feu-
dalherren, der Munizipal- und Kirchenbehörden geworden waren. Be-
sonders heftige Formen nahm dieser Streit in der Reichsstadt Regens-
bürg an, dessen große jüdische Gemeinde von den Stürmen des vor-
hergehenden Jahrhunderts noch verschont geblieben war. Die Ritual-
328
§ 47. Der Niedergang der deutschen Gemeinden (1U50—1500)
mordlüge schien hier nun das geeignete Mittel zu sein, um den Kno-
ten der „jüdischen Frage“ kurzerhand zu zerhauen.
Unmittelbar der Herrschaft des Stadtrates unterstellt, bildete
nämlich die jüdische Gemeinde von Regensburg zugleich den Gegen-
stand eines langwierigen Streites zwischen Kaiser Friedrich III. und
dem bayerischen Herzog Ludwig. Als Obervormund der Judenheit
glaubte der Kaiser der Gemeinde eine außerordentliche Steuer auf-
erlegen zu dürfen, was jedoch von dem Herzog als rechtswidrig aus
dem Grunde beanstandet wurde, weil die Regensburger Juden seiner-
zeit von Kaiser Ludwig dem Bayer dem bayerischen Herzog zur Si-
cherstellung einer bei diesem aufgenommenen Anleihe verpfändet wor-
den waren. Hierbei lag dem Herzog weniger an der Wahrnehmung
seiner fiskalischen Interessen als an der Geltendmachung seines Rech-
tes, über die Regensburger Gemeinde nach Belieben zu verfügen.
Von blindem Judenhaß getrieben und im Banne des Capistranus ste-
hend, wollte er um jeden Preis die restlose Vertreibung der Juden
aus seinem Herrschaftsbereiche durchsetzen. An manchen Orten
Bayerns brachte er auch sein Vorhaben zur Ausführung (i45o), in
Regensburg stieß er jedoch auf den Widerstand der Reichsgewalt und
mußte sich damit begnügen, den dortigen Juden das kanonische Ab-
zeichen aufzunötigen (i45a). Zwanzig Jahre später sollte der Kampf
erneut, diesmal auf religiösem Hintergründe, entbrennen. Dem auf
die Terrorisierung der jüdischen Gemeinde ausgehenden Herzog Lud-
wig und dem gleichgesinnten Regensburger Bischof Heinrich erstan-
den unerwartete Helfer in der Gestalt zweier jüdischer Konvertiten.
Einer von ihnen, Peter Schwarz, ein Mitglied des Dominikanerordens,
verlegte sich darauf, unter den Juden in ihrer Umgangssprache eine
Missionspropaganda zu entfalten, wobei der Bischof die Juden zum
Anhören der ihnen verhaßten Predigten förmlich zwang. Ein viel
gefährlicherer Schädling war der andere Renegat, Hans Vajol, der
sich dem rohen Aberglauben seiner neuen Glaubensgenossen zuliebe
zu beweisen erbötig machte, daß die Juden bei ihren religiösen Bräu-
chen das Blut christlicher Kinder verwendeten. Der Beweis lief auf
eine Verleumdung des „Judenmeisters“, des Regensburger Rabbiners
und Gelehrten Israel Bruna hinaus, den Vajol beschuldigte, bei ihm
einen siebenjährigen christlichen Knaben zu Ritualmordzwecken ge-
kauft zu haben. Der Renegat hatte gut gezielt: die Regensburger Chri-
sten gerieten in Erregung und es fehlte nur wenig, daß der Rabbiner
329
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
mitsamt seiner Gemeinde der Wut der Menge zum Opfer fielen. Um
den „Judenmeister“ vor dem sicheren Verderben zu bewahren, ließ
ihn der Stadtrat in Schutzhaft nehmen (i474)« Kaiser Friedrich III.
forderte hierauf, daß der Häftling, als sein Kammerknecht, auf freien
Fuß gesetzt werde; als ihm jedoch der Bescheid des Magistrats zu-
teil wurde, daß dies ohne Gefahr für das Leben des Rabbiners nicht
geschehen könnte, drang er darauf, daß die Entscheidung der gan-
zen Sache bis zu seinem persönlichen Eintreffen in Regensburg auf-
geschoben werde. Inzwischen waren die nach dem Verbleib der Kin-
derleiche sowie nach dem der Eltern des angeblich Ermordeten an-
gestellten Nachforschungen völlig ergebnislos verlaufen. Der einem
strengen Verhör unterzogene Angeber Vajol mußte schließlich ge-
stehen, daß er den Rabbiner grundlos verleumdet hätte. So beschloß
denn das Gericht, ohne die Ankunft des Kaisers abzuwarten, den
schuldlosen Rabbiner wieder zu enthaften, den Verleumder aber auf
dem Scheiterhaufen zu verbrennen.
Die antijüdische Agitation fand jedoch gar bald neue Nahrung.
Der Prozeß von Trient, der ganz Deutschland in Atem hielt, versetzte
auch in Regensburg die Gemüter von neuem in Wallung. Es fand
sich wiederum ein käuflicher Täufling, der die Aussage machte, daß
einige Jahre früher die Juden auch in Regensburg christliche Kin-
der zu Tode gemartert hätten. Der gerade damals aus Rom heimge-
kehrte Bischof Heinrich, der in der päpstlichen Residenz in die Trien-
tiner Akten Einsicht genommen hatte, faßte nun den Plan, auch in
seiner Diözese nach dem bewährten Vorbild einen Prozeß zu inszenie-
ren. Er verstand es, sich den Beistand der Mehrheit des Stadtrates
zu sichern, dem ja im Falle der Verurteilung der jüdischen Gemeinde
und ihrer Vertreibung aus Regensburg eine recht ansehnliche Beute
winkte, da das ganze jüdische Viertel dann der Stadt unentgeltlich
zufallen mußte. Man begann damit, daß man sechs Juden in Haft
nahm. Die Tortur, der man die Verhafteten unterzog, war so grauen-
voll, daß die Unglücklichen alle ihnen angedichteten Verbrechen ge-
standen und überdies nach dem Diktat der Henkersknechte die Na-
men von Mittätern angaben. Es konnte nicht ausbleiben, daß auch
die Gebeine der „Märtyrer“ zutage gefördert wurden, wiewohl sogar
vernünftig denkende Christen sich der Annahme nicht verschließen
konnten, daß die Leichenüberreste von den Urhebern des Prozesses
selbst an dem betreffenden Orte verscharrt worden waren. Nachdem so
33o
§ 47. Der Niedergang der deutschen Gemeinden (1U50—1500)
die ganze Gemeinde scheinbar bloßgestellt war, befahl der Stadtrat
alle Ausgänge des jüdischen Viertels zu verrammeln und das ganze
Hab und Gut der Juden mit Beschlag zu belegen (1476). Einige Ju-
den, denen es gelungen war, aus der Stadt zu entkommen, beeilten
sich indessen, vor dem Kaiser über die unerhörten Übergriffe der
Ortsbehörden Klage zu führen, worauf ein kaiserlicher Erlaß den
Stadtrat zur unverzüglichen Befreiung der Verhafteten aufforderte.
Der Rat erwiderte jedoch, daß die Jurisdiktion über die Juden in sol-
chen Angelegenheiten der Stadt, dem bayerischen Herzog und dem
Klerus zustehe. Friedrich bestand aber energisch auf seiner Forde-
rung, um so seine Rechtsstellung als Obervormund der Juden in de-
monstrativer Weise zu betonen. Andererseits hatte der Kaiser für die
Ritualmordmärchen überhaupt wenig übrig und erblickte in solchen
Prozessen nichts als heimtückische Ränke der Judenhasser. Herzog
Ludwig und der Regensburger Bischof waren schon bereit, der kaiser-
lichen Forderung Genüge zu tun, doch sollte sich der Stadtrat als
äußerst unnachgiebig erweisen. Er faßte sogar den Beschluß, einige
der Verhafteten den Henkern auszuliefern. Als der Kaiser dies er-
fuhr, tat er die widerspenstige Stadt in Reichsacht und stellte ihr
noch schärfere Strafen in Aussicht. Durch diese Maßnahmen schließ-
lich zur Nachgiebigkeit veranlaßt, begannen die Stadtväter ihre Po-
sition Schritt für Schritt zu räumen: zunächst ließen sie die über
das jüdische Viertel verhängte Sperre wieder aufheben, behielten aber
nach wie vor siebzehn Angeklagte in Haft. Mittlerweile schickten sie
Abordnungen an Kaiser und Herzog, suchten auch den Papst zu be-
einflussen und fingen gierig allerlei Gerüchte über an anderen Or-
ten vorgekommene „Ritualverbrechen“ auf, um den Machthabern die
Verruchtheit der Juden vor Augen führen zu können. Aber auch die
Juden blieben nicht müßig: sie überreichten dem päpstlichen Legaten
eine Denkschrift über die Grundlosigkeit des Blutaberglaubens, die
ja von jeher durch päpstliche Bullen bezeugt worden sei; zugleich
richteten sie auch an Friedrich eine Eingabe, in der sie den Beweis
führten, daß ihre Vorfahren seit unvordenklichen Zeiten, noch vor
Christi Geburt, in Regensburg ihren Wohnsitz gehabt hätten und
folglich an seiner Kreuzigung keine Schuld tragen könnten. Im Jahre
1478 befahl schließlich der Kaiser dem Stadtrat, die Verhafteten bin-
nen drei Wochen endgültig freizulassen, an den Reichsschatz die
Summe von 8000 Gulden zu entrichten und überdies die Gewähr da-
33i
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
für zu übernehmen, daß auch die jüdische Gemeinde ihrerseits an
das Reich den Betrag von ioooo Gulden zahlen würde. Durch ge-
wandte Unterhandlungen gelang es jedoch dem Stadtrat, beim Kai-
ser zu erwirken, daß das gesamte Strafgeld der jüdischen Gemeinde
auf erlegt wurde. Nunmehr war es die schwer geschädigte jüdische
Gemeinde, die sich weigerte, auch noch jenen Teil der Geldbuße auf-
zubringen, den die Urheber all ihrer Leiden zu erlegen hatten. So zog
sich die Sache noch zwei Jahre lang hin, in deren Verlauf die Ver-
hafteten nach wie vor im Gefängnis schmachten mußten, bis sie
endlich im Jahre 148o unter der Bedingung freigegeben wurden, daß
sie nicht auf Rache sinnen und nicht mit ihrem Hab und Gut an
einen anderen Wohnort ziehen würden. Die Gemeinde aber sah sich
gezwungen, den ihr ursprünglich auferlegten Teil der Geldbuße trotz
allen Widerstrebens für die Schuld derjenigen zu entrichten, die sie
Jahre hindurch geschmäht und gepeinigt hatten.
So vermochten sich denn die Juden in Regensburg trotz aller ge-
gen sie geschmiedeten Ränke dennoch zu behaupten. Obwohl ihnen
der Kaiser bald neue Privilegien verlieh (i48i), war ihre Lage nichts
weniger als beneidenswert. Der Stadtrat setzte ihnen, soweit seine
Macht reichte, hart zu und gab noch immer die Hoffnung nicht auf,
sie aus der Stadt zu verbannen und sich der reichen Erbschaft, des
jüdischen Viertels, zu bemächtigen. Die wenigen Gerechten unter den
Ratsmitgliedern, die sich für die Juden einzusetzen pflegten, wurden
bei der Bürgerschaft als „Judenkönige“ verächtlich gemacht. Die
von den Mönchen verhetzte Bevölkerung brachte den Juden immer
größere Feindseligkeit entgegen: die Bäcker weigerten sich, ihnen
Brot zu verkaufen, die Müller, ihr Korn zu mahlen, und alle und je-
der beriefen sich hierbei auf das priesterliche Verbot. Der Stadtrat
untersagte ihnen seinerseits, vor vier Uhr nachmittags auf dem Markte
Lebensmittel einzukaufen, damit die Christen Zeit genug hätten, ihren
Bedarf zu decken. Der Kampf dauerte noch einige Jahrzehnte und
die Judenhasser konnten ihren Triumph erst am Vorabend der Re-
formation feiern: die Vertreibung der Juden aus Regensburg sollte
erst im Jahre iöig zur Tatsache werden.
Der Ausgang des Mittelalters ist überhaupt durch Ausweisungen
der Juden aus einer ganzen Reihe von deutschen Städten gekennzeich-
net. In diese Zeit eben fällt die endgültige Zerstörung der jüdischen
Gemeinden in den zwei Bischofssitzen Mainz und Magdeburg. Aus
33a
§ 48. Das innere Leben und der Rabbinismus
Mainz wurden die Juden von dem Erzbischof Adolf von Nassau im
Jahre 1462 ausgewiesen, dann für eine Zeit zurückberufen, um im
Jahre i473 endgültig aus der Stadt verbannt zu werden. Nach der
Ausweisung wurde die jüdische Synagoge in eine katholische; Kapelle
umgewandelt. Im Jahre i493 wurde die jüdische Gemeinde (i4oo
Personen) auch aus der Vorstadt Magdeburgs, dem sogenannten „Ju-
dendorf“, vom dortigen Erzbischof ausgewiesen, wobei er allerdings
den Magdeburger Stadtrat dazu zwang, die Verbannten für ihre Häu-
ser und ihr sonstiges zurückgelassenes Eigentum zu entschädigen; die
Juden mußten ihrerseits eine schriftliche Erklärung darüber abgeben,
daß der Rat ihnen den Wert ihres Eigentums „ehrlich ersetzt“ hätte
und daß sie hierfür „dem gnädigen Herrn von Magdeburg ehrerbie-
tigst Dank sagen“. Noch häufiger pflegten die Juden mit Zustimmung
der Feudalfürsten oder des Kaisers von den Stadträten ausgewiesen
zu werden. Friedrich III. war allerdings nur wenig geneigt, seine Zu-
stimmung zu solchen Maßnahmen zu erteilen, mit dem Regierungs-
antritt seines Nachfolgers Maximilian (seit i4q3) erlangten indessen
die Stadträte vom Kaiser eine viel weitergehende Verfügungsgewalt
über die jüdischen Gemeinden. Der schon in der Zeit des „Schwarzen
Todes“ einsetzende Prozeß der Vertreibung der Juden aus den deut-
schen Städten sollte somit im Laufe des ganzen XV. Jahrhunderts
nicht zum Stillstand kommen, so daß beim Anbruch der sogenannten
„Neuzeit“ die Zahl der jüdischen Gemeinden in Deutschland stark
zusammengeschmolzen war.
§ 48. Das innere Gemeindeleben und die rabbinische Literatur
Was mochte nun die deutschen Juden in dieser schreckensvollen,
zwei Jahrhunderte lang währenden Geschichtsperiode, als die gesamte
Umwelt einen erbarmungslosen Vernichtungskrieg gegen sie führte,
dennoch aufrechterhalten haben? Was gab ihnen die Kraft, Feuer
und Schwert, den Verfolgungen, der Rechtlosigkeit und allen ande-
ren dem Paria beschiedenen Qualen so hartnäckig zu trotzen? In
welchen Formen kam die Kraft des nationalen Selbsterhaltungstriebes
zum Ausdruck, jene Kraft, die die sich zusehends lichtenden Reihen
der deutschen Judenheit vor der sozialen Verwilderung bewahrte und
sie als eine organisierte Kultureinheit zu erhalten vermochte? Zwei
Formen sind es, in denen diese Kraft vor allem zutage trat: in der
333
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
weiteren Ausgestaltung der Gemeindeautonomie und in der nicht
nachlassenden Anspannung des geistigen Schaffensdranges.
Ein Paria außerhalb seines Viertels, war der Jude innerhalb des
Ghetto ein Vollbürger, der Bürger seines eigenen geistigen Reiches.
Noch mehr als früher schloß sich das Judenstädtchen gegen die es
umgebende christliche Stadt ab, immer enger preßten sich die ein-
geschüchterten Schafe aneinander, aus deren Mitte die Wölfe sich
immer wieder ihre Beute holten. Die Machthaber waren unablässig
mit der Schur beschäftigt, das Volk zog seinen Opfern voll Wut die
Haut ab und zerbrach ihnen die Knochen, und so mußten die treuen
Hirten stets auf dem Posten sein, um, soweit es in ihrer Kraft
stand, das Unheil abzuwenden, nach der entstandenen Verwirrung die
Ordnung wiederherzustellen und in den aufgelösten Reihen die Zucht
aufrechtzuerhalten. Diese Aufgabe fiel überall der durch ihren Rat
vertretenen jüdischen Gemeinde zu, die uns in den damaligen offi-
ziellen Urkunden unter der Bezeichnung „Judenschaft“ oder „Jü-
dischheit“ entgegen tritt. In dieser Zeit der systematischen Ausbeutung
der Juden durch Kaiser, Herzoge, Bischöfe und Bürgerschaft wurde
die jüdische Gemeindeselbstverwaltung wider Willen in immer stei-
gendem Maße in den Interessenkampf der verschiedenen Gewalten
und Stände mithineingezogen, da jede dieser Mächte die Organe der
„Judenschaften“ zu einem ihrem eigenen Nutzen dienenden Werk-
zeug zu machen trachtete. Als Vermittler zwischen den jeweiligen
Machthabern und den jüdischen Gemeinden traten in der Regel die
Vorsteher des Gemeinderates, die sogenannten „Judenmeister“ auf.
Dieser Titel1), der in früherer Zeit dem „Parnas“, dem gewählten
Haupte des Gemeinderates, gegeben zu werden pflegte, wird im XV.
Jahrhundert nicht selten auch dem Rabbiner beigelegt, wohl aus dem
Grunde, weil zuweilen auch er in dem Gemeinderat den Vorsitz führte
(so wird z. B. der in die Regensburger Affäre verwickelte Rabbi Israel
Bruna in den deutschen Akten stets „Judenmeister“ genannt). Es be-
durfte übermenschlicher Anstrengungen, um die Organe der jüdi-
1) Im XIII. Jahrhundert hießen „Judenmeister“ auch jene Mitglieder des
Stadtrates, die mit der Bevormundung der jüdischen Ortsgemeinde und mit der
Eintreibung der ihr auf erlegten städtischen Steuern betraut waren. In Köln pflegte
der Stadtrat zu diesem Zwecke alljährlich zwei seiner Mitglieder als „Judenmeister,
zu ernennen (S. Weyden, Geschichte der Juden in Köln, S. 169 ff.). Ein Gegen-
stück zu den christlichen Judenmeistern waren die christlichen Judenrichter, denen
die Kontrolle des jüdischen Gemeindegerichts oblag.
334
§ 48. Das innere Leben und der Rabbinismus
sehen Selbstverwaltung nicht ausschließlich zum Spielball fremder
Interessen werden zu lassen und sie trotz der Ungunst der Verhält-
nisse als nationale Schutzwehr erhalten zu können. Die Führer der
Judenheit verstanden es aber, sogar die zufällig entstehenden Ge-
meindeverbände, die von den Herrschern zu fiskalischen Zwecken
ins Leben gerufen wurden, dem jüdischen Interesse dienstbar zu ma-
chen. Die Kaiser, die oft die Gesamtheit der jüdischen Gemeinden
einer bestimmten Provinz mit einer außerordentlichen Steuer belaste-
ten, forderten nämlich zuweilen, daß diese Steuer auf einem speziel-
len Gemeindevertreter tag bestätigt und unter die einzelnen Gemeinden
verteilt werde; die zu fiskalischen Zwecken einberufenen Versamm-
lungen wurden nun von den Gemeindevertretern zur Erörterung der
Fragen des inneren Gemeindelebens, zur Ausarbeitung eines einheit-
lichen Selbstverwaltungsreglements wie überhaupt zur Zentralisierung
der Selbstverwaltung ausgenützt. Solche „Judentage“ wurden im XIV.
und XV. Jahrhundert namentlich in den Rheinlanden (Mainz i38i,
Bingen i457 usw.) und in Bayern (Nürnberg i438, Regensburg
1471 und sonst) abgehalten. Dies führte zur Bildung von die Ge-
meinden eines ganzen Bezirks umfassenden Verbänden von der Art
des ehemaligen rheinländischen Verbandes Speyer-Worms-Mainz
(oben, § 2 5), die indessen wohl kaum über ein ständiges Zentral-
organ verfügt haben mochten. Ein ähnlicher Gemeindeverband be-
stand bis zur Wiener Katastrophe vom Jahre 1^21 auch in Öster-
reich, wo die Gemeinden von Wien, Wiener-Neustadt und Krems
zusammen mit manchen anderen kleineren Gemeinden gleichsam
einen einzigen Verwaltungsbezirk bildeten.
Im Mittelpunkt der Selbstverwaltung stand das geistliche und ge-
richtliche Organ der Gemeinde, das Rabbinat, wobei, wie eben er-
wähnt, die Rabbiner den christlichen Behörden gegenüber nicht sel-
ten zugleich mit den weltlichen „Parnassim“ als „Judenmeister“ auf-
traten. Es wird vermutet, daß eben in dieser Zeit zuerst die Institu-
tion der „Semicha“ oder der Rabbinerordination eingeführt worden
ist: jeder Rabbinatskandidat hatte vor einem Rabbinerkollegium oder
bei einem einzelnen maßgebenden Gelehrten eine Prüfung abzulegen,
worauf ihm ein zur Bekleidung des Rabbineramtes berechtigendes
Diplom ausgestellt wurde. Der berühmte Wiener Rabbiner Meir
Halevi (um 1870) führte überdies den Titel „Morenu“ („unser Mei-
ster“) ein, der den durch Gelehrsamkeit, Frömmigkeit und sittliche
335
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
Vorzüge sich auszeichnenden Talmudisten verliehen zu werden pflegte.
Auf Grund der den Bewerbern um das Rabbineramt ausgestellten
Diplome trafen dann die Gemeinden ihre Wahl. Auf das Recht, ihre
geistigen Führer frei zu wählen, legten die Gemeinden den größten
Wert und traten jedem Versuch einer Einmischung oder Beeinflus-
sung von außen energisch entgegen. Einen solchen Anschlag auf die
festeste Grundlage der jüdischen Autonomie galt es namentlich zu Be-
ginn des XV. Jahrhunderts abzuwehren, als der Kaiser Ruprecht nach
französischem und spanischem Vorbild auch in Deutschland das
Amt von Oberrabbinern einzuführen beschloß, die unter der Maske
geistlicher Würdenträger als kaiserliche Oberfiskale fungieren soll-
ten. Im Jahre 1407 ernannte Ruprecht, wie schon flüchtig erwähnt,
einen gewissen Rabbi Israel zum „Hochmeister“ über alle Rabbiner
und jüdischen Gemeinden Deutschlands und verlieh ihm das Recht,
uneingeschränkt zu schalten und zu walten, die Widerspenstigen, „wie
es das jüdische Gesetz gebietet“, zu bestrafen und in Acht zu tun
sowie für den kaiserlichen Schatz den „güldenen Opferpfennig“ und
die sonstigen Steuern einzutreiben. Seine Verordnung begründete
Ruprecht damit, daß viele ihres Amtes unwürdige Rabbiner ihre Ge-
walt mißbrauchten und zum Nachteil für den Reichsschatz über ein-
zelne Juden zu Erpressungszwecken den Bannfluch verhängten. In-
dessen zweifelte niemand daran, daß die vom Kaiser dekretierte Ver-
bindung des Oberrabbiner- und Steuereinnehmeramtes in einer Per-
son dem Rabbinat nicht zum Nutzen, sondern zum größten Schaden
gereichen würde. So legten denn die jüdischen Gemeinden gegen die
vom Kaiser verfügte Neuerung energische Verwahrung ein. Als erste
trat mit ihrem Protest die Gemeinde von Nürnberg hervor, worauf
auch die anderen Gemeinden mit ihren gewählten Rabbinern an der
Spitze dem von oben ernannten „Hochmeister“ den Gehorsam ver-
weigerten; hie und da stellte man denjenigen, die sich dem verhäng-
ten Boykott nicht anschließen wollten, sogar den Cherem in Aus-
sicht. Vergebens versuchte der Kaiser durch einen neuen Erlaß den
Cherem im voraus für ungültig zu erklären, vergebens drohte1 er den
Rabbinern ob ihres ungeziemenden Verhaltens dem „Hochmeister“
gegenüber schwere Strafen an — die Gemeinden blieben unbeugsam
und Ruprecht mußte seinen Plan fallen lassen. Zu dem gleichen Miß-
erfolg führte ein ähnlicher Versuch seines Nachfolgers, des Kaisers
Sigismund, der durch die von ihm betriebene Ausbeutung der jüdi-
336
§ 48. Das innere Leben und der Rabbinismus
sehen Gemeinden berüchtigt war. Der von Sigismund zur Eintreibung
der auf den Juden lastenden Steuern entsandte Reichssteuereinneh-
mer ernannte den Kölner Gelehrten Anselm (Amschel ha’Levi) zum
Oberrabbiner der deutschen Gemeinden mit dem offenbaren Zwecke,
ihn als Hilfsfiskal zu mißbrauchen (i435). Der Rabbiner soll in-
dessen den ihm angetragenen „hohen Posten“ aus eigenem Antrieb
ausgeschlagen haben, wohl aus dem Grunde, weil er sich nicht der
Übertretung der alten rabbinischen Verordnung schuldig machen
wollte, derzufolge die Juden von den christlichen Behörden keinerlei
Ämter in der Gemeindeselbstverwaltung annehmen durften. Während
die Gemeinden so den ihnen aufgezwungenen Regierungsrabbinern
den Gehorsam mit aller Entschlossenheit verweigerten, hingen sie mit
um so größerer Treue an den von ihnen selbst erwählten geistigen
Führern, von denen viele sich durch Gelehrsamkeit, heiligen Lebens-
wandel und zuweilen auch durch heldenhafte Selbstaufopferung blei-
benden Ruhm schufen.
Gelehrte Talmudforscher, gottesfürchtige und zum größten Teil
sittlich hochstehende Männer, vermochten sich jedoch die deutschen
Rabbiner von der sie schon in der vorhergehenden Epoche charakteri-
sierenden Enge des geistigen Blickfeldes in keiner Weise frei zu
machen. Der Mangel an umfassender theologischer Bildung kommt
in der rabbinischen Literatur dieser Zeit immer wieder zum Vor-
schein. Ihr Hauptinteresse galt nunmehr nicht einmal der theoreti-
schen Talmudwissenschaft, sondern einzig und allein rabbinischen Be-
ruf sf ragen: den praktischen Fragen des synagogalen Kultes und der
rituellen Lebensführung. Die größte Aufmerksamkeit wurde der Er-
örterung jener unzähligen religiösen „Bräuche“ („Minhagim“) zuge-
wendet, die sich in den einzelnen Gemeinden neu eingebürgert hatten
und denen die konservativ gesinnten Rabbiner gern Gesetzeskraft ver-
liehen. Einen besonders ungünstigen Einfluß auf das geistige Schaf-
fen der deutschen Juden übten die schweren Katastrophen des XIV.
Jahrhunderts aus. Die im Schrifttum dieser Zeit hervortretenden Män-
ner sind ganz in den sich zusehends verengernden Kreis des Rabbinis-
mus gebannt; so R. Susslin aus Frankfurt, der Verfasser des halachi-
sehen Sammelwerkes „Aguda“; R. Samuel Schlettstadt in Straßburg,
der eine gekürzte Wiedergabe des Kompendiums „Mardochai“ ver-
faßte; R. Abraham Klausner, der Verfasser einer Sammlung reli-
giöser Bräuche unter dem Titel „Minhagim“ sowie sein Lehrer, der
22 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
bereits erwähnte Wiener Rabbiner Meir Halevi. Nach den durch den
„Schwarzen Tod“ in Deutschland verursachten Verheerungen ver-
schob sich das geistige Zentrum nach Österreich, dessen Judenheit
von der Katastrophe weniger in Mitleidenschaft gezogen war. So wird
Wien zur Metropole des deutschen Rabbinismus; hier wie in dem be-
nachbarten Neustadt entstehen Talmudschulen, in denen nunmehr die
R.abbiner für ganz Deutschland ausgebildet werden. In der ersten
Hälfte des XV. Jahrhunderts macht sich im engen Bezirk des Rabbi-
nismus ein etwas regeres Leben bemerkbar. Die hervorragenden Rab-
biner Jakob Mölln oder Maharil in Mainz und Worms (gest. 1427)
und sein Schüler Jakob Weil in Nürnberg und Erfurt (gest. i456)
standen mit ihren Berufsgenossen in anderen Gemeinden in lebhaftem
schriftlichen Gedankenaustausch über verschiedene Fragen der reli-
giösen Praxis; ihre später gesammelten und herausgegebenen „Re-
sponsen“ galten zu ihren Lebzeiten als Entscheidungen der höchsten
geistlichen Instanz. Durch die von Maharil unternommene Zusam-
menstellung der landesüblichen Riten und Bräuche („Sefer minha-
gim“) wurde das gottesdienstliche Zeremoniell in den aschkenasischen
Gemeinden festgelegt, das sich von dem bei den Sephardim üblichen
nicht unerheblich unterschied. Auch Jakob Weil befaßte sich mit der
Kodifikation mancher Partien des sakralen und bürgerlichen Rechts
und war überdies der Verfasser eines für die Schächter bestimmten
Handbuches der „Schechita“ (der rituellen Viehschlachtung). Auf
diese Weise erlangten viele der nur ortsüblichen Bräuche die Kraft
von allgemeingültigen Vorschriften, wodurch die Bürde des Gesetzes
noch schwerer wurde.
Die im Jahre x42i erfolgte Verbannung der Juden aus den her-
zoglichen Besitzungen Österreichs zwang die Gelehrten, ihre akade-
mische Wirksamkeit nach den Randgebieten des österreichischen Her-
zogtums (nach Steiermark u. a.) sowie in die benachbarten Gegenden
Deutschlands zu verlegen; nachdem jedoch einige Jahrzehnte später
die Ausweisung rückgängig gemacht worden war, erstanden auch die
jüdischen geistigen Zentren in Österreich zu neuem Leben. In dieser
Zeit standen an der Spitze der deutsch-österreichischen Rabbiner:
R. Israel Isserlein (gest. um i46o), der das Rabbineramt zuerst im
steiermärkischen Marburg und sodann in Wiener Neustadt beklei-
dete ; der schon erwähnte Israel Bruna, der während der Ritualmord-
hetze in Regensburg in so schwerer Gefahr schwebte (1476), und
338
§ 48. Das innere Leben und der Rabbinismus
R. Moses Menz (oder Minz), der in Bamberg und eine Zeitlang
auch im polnischen Posen als Rabbiner wirkte. Diese Männer
beschränkten sich nicht auf den engen Kreis ihrer Seelsorgerpflich-
ten und auf nur fachwissenschaftliche Gelehrtenarbeit (Isserlein war
der Verfasser der bekannten Sammlung rabbinischer Entscheidungen
„Terumath ha’deschen“ und auch Bruna und Menz hinterließen be-
deutsame ,,Teschuboth“-Sammlungen), sondern trugen überdies Sorge
für den Ausbau der Gemeindeorganisation, für die Hebung des sitt-
lichen Niveaus der Führer der Gemeinde und für die Beilegung von
Parteizwistigkeiten und Reibereien im Volke. Unter anderem grenzte
Moses Menz die Kompetenz der Rabbiner und die der Ältesten oder
„Parnassim“ streng von einander ab und stellte den Grundsatz auf,
daß diese ohne vorher eingeholte Genehmigung der Rabbiner keinerlei
Verfügungen in religiösen Angelegenheiten treffen dürften. Die „Par-
nassim“, die Vorsteher der Gemeinderäte, machten sich nämlich nicht
selten des Mißbrauchs ihrer Amtsgewalt schuldig, ohne sich um die
Kompetenz der neben ihnen wirkenden geistlichen Gemeindehäupter
sonderlich zu kümmern; allerdings standen auch manche in den Ge-
meinderäten den Vorsitz führende Rabbiner nicht immer auf der
Höhe ihrer Aufgabe. Die Amtstätigkeit brachte übrigens den einen
wie den anderen nur wenig Freude. Das Los der Gemeindehäupter,
die von der kaiserlichen und den anderen Gewalten durch die maß-
losen Steuerforderungen fortwährend terrorisiert wurden, war schon
an und für sich nicht beneidenswert, kam es aber zu Beschuldigungen
wegen angeblicher Ritualverbrechen, so waren sie die ersten, die man
ins Gefängnis warf, der Tortur preisgab und zuweilen wegen der gan-
zen Gemeinde zur Last gelegter Freveltaten auch das Blutgerüst be-
steigen ließ.
Alle Zweige der Literatur, die nicht unmittelbar im Dienste des
Rabbinismus standen, welkten dahin. Sogar auf dem Gebiete des
chronikartigen Martyrologiums und der synagogalen Poesie blieb
diese Epoche des noch nie dagewesenen Märtyrertums hinter der Zeit
der Kreuzzüge weit zurück. Das Massenmartyrium war jetzt gleich-
sam zu einer Alltagserscheinung geworden. Man brachte nicht mehr
die Kraft auf, die Leidensgeschichte aufzuzeichnen und die Märtyrer
in Trauergesängen zu verherrlichen. Man begnügte sich damit, ihre
Namen in die synagogalen „Memorbücher“ einzutragen, um sie auf
Grund dieser Register in das jüdische Requiem, das „ Jiskor“, mitein-
22*
339
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
schließen zu können. So mußte denn ein jüdischer Chronist aus späte-
rer Zeit (der Verfasser des „Emek ha’bacha“) seinem Berichte über
die Schrecken des „Schwarzen Todes“ die fragmentarischen Nach-
richten christlicher Annalisten der Vorzeit zugrundelegen. Gleich
der Chronographie war auch die synagogale Poesie verstummt, als
ob die Tränen der Gemarterten versiegt wären. Die wenigen „Kinnoth“
der fast gänzlich unbekannt gebliebenen Verfasser, in denen der Un-
tergang vieler Hunderte von Gemeinden betrauert wurde, standen an
Kraft des in ihnen zum Ausdruck gebrachten nationalen Protestes
den gleichgearteten Erzeugnissen der vorhergehenden Epoche bedeu-
tend nach und fanden nicht einmal in die Liturgie Aufnahme. Nur
das anläßlich der Prager Tragödie vom Jahre 1889 von Abigdor
Kara verfaßte Klagelied (oben, § 45) reicht mehr oder weniger an
die älteren Vorbilder heran. Die Wiener Katastrophe des Jahres 1^21
bildet den Gegenstand einer in jüdisch-deutscher Mundart abgefaßten
phantastischen Chronik („Wiener Gesera“), die zwar reich an er-
schütternden Schilderungen des Martyriums ist, jedoch der geschicht-
lichen Perspektive völlig ermangelt.
Recht unergiebig ist auch die Ausbeute an der uns aus dieser Zeit
überlieferten volkstümlichen Moral- oder „Mussar4‘-Literatur. Die im
XV. Jahrhundert entstandenen Bücher: „Sefer chassidim katan“ und
das „Sittenbuch“ (dieses in der jüdisch-deutschen Umgangssprache
abgefaßt) stellen nichts als eine Nachahmung des klassischen „Buches
der Frommen“ (Band IV, § 4o) dar. Hier wie dort die Anpreisung
der Demut und der Enthaltsamkeit, strenger Frömmigkeit und recht-
schaffenen Lebenswandels, des religiösen Fatalismus und der nur
passiven Resistenz. Bemerkenswert ist es, daß in diesen didaktischen
Werken, deren Verfasser in engster Berührung mit dem Volke stan-
den, gar oft Klagen darüber laut werden, daß in den Elementar-
schulen und den Jeschiboth aller Nachdruck auf den talmudischen
„Pilpul“ gelegt, während das Studium der Bibel, der Haggada, des
Midrasch und sonstiger erbaulicher Schriften völlig vernachlässigt
werde. Das Volk scheint eben in der den Herzensbedürfnissen und den
sittlichen Antrieben nicht genügend Rechnung tragenden rabbinischen
Wissenschaft nur wenig Befriedigung gefunden zu haben.
Völlig einsam steht unter den engherzigen Talmudisten jener Zeit
der Prager Rabbiner Jomtob-Lipmann Mülhausen, der Verfasser des
Buches „Nizzachon“ („Der Sieg“, verfaßt um i4io). Sein Bestreben
34o
§ 48. Das innere Leben und der Rabbinismus
ging darauf, das Interesse für die in Vergessenheit geratenen dog-
matischen und apologetischen Probleme von neuem zu erwecken. Er
wollte seine Zeitgenossen darin unterweisen, wie sie den von Christen
gegen die Lehren des Judaismus erhobenen Einwänden begegnen und
die Grundwahrheiten ihres Glaubens wirksam verteidigen könnten.
Hierbei konnte der Verfasser auch seine eigenen Erfahrungen ver-
werten, da er, wie er in dem Schlußkapitel seines Buches berichtet,
selbst einmal in die Lage kam, mit christlichen Geistlichen disputie-
ren zu müssen. Im Jahre 1899 tauchte nämlich in Prag ein heim-
tückischer Täufling namens Peter (Pessach) auf, der den Kirchen-
behörden hinterbrachte, daß die Juden in ihren Gebeten die Christen
schmähten und ihre Religion als Götzendienst verhöhnten. Hierauf
wurde Lipmann als das Oberhaupt der Prager Gemeinde mitsamt
einigen jüdischen Notabein verhaftet und wegen des dem Judentum
zur Last gelegten Verbrechens einem Verhör unterzogen. Es galt, die
Aussagen so zu formulieren, daß sich die kirchlichen Richter in ihren
religiösen Gefühlen nicht getroffen fühlen sollten, daß vielmehr „der
Groll der Andersgläubigen beschwichtigt“ werde. So entschloß sich
denn der Rabbiner, bei der Konfrontation mit dem Denunzianten den
die beiden Religionen entzweienden Hauptstreitpunkt ganz außer
Spiel zu lassen und sich nur auf eine formelle Widerlegung der er-
hobenen Anklage zu beschränken. Dieser Aufgabe entledigte sich der
jüdische Gelehrte mit meisterlichem Geschick. Der erste Punkt der
Anklage lautete, daß die Juden in dem Gebet „Alenu“ (Band III,
§28) um die „Vertilgung der Götzen“ beteten und Gott dafür prie-
sen, daß er sie „unter den Völkern aller Länder, die sich vor einem
Gespenst und einem Nichts bücken, auserlesen“ hätte. In diesem Satz
sollte nun, wie es in der Anzeige des Täuflings hieß, eine versteckte
Anspielung auf Jesus verborgen sein, da dessen hebräischer Name
„Jeschu“ in hebräischen Schriftzeichen, die zugleich Zahlenzeichen
sind, denselben Zahlenwert ergebe, wie das für „und Nichts“ stehende
hebräische Wort „wa’rik“; hieraus wurde aber weiter gefolgert, daß
auch mit den im Gebete erwähnten „Götzen“ nichts anderes als das
Kreuz und die christlichen Heiligenbilder gemeint seien. Der Prager
Rabbiner erwiderte indessen dem Pessach alias Peter: „Du wirst wohl
selbst zugeben, daß alle von euch verehrten hölzernen und steinernen
Bildsäulen nichts als Sinnbilder sind und der Wesenhaftigkeit an und
für sich entbehren. Übertreibe ich aber, wenn ich sage, daß Weiber*
341
Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert
Kinder und die schlichten Leute auf dem flachen Lande sie durch-
aus nicht als Sinnbilder betrachten, vielmehr daran glauben, daß
ihnen eine göttliche Natur zukomme?“ Der Täufling mußte dies be-
jahen. Hierauf der Rabbiner: „Darum sagen wir ja auch, daß wir
uns von den ,Völkern aller Länder*, will sagen: von den einfältigen
Landleuten, die da glauben, diese bildlichen Darstellungen seien selbst
Götter, durchaus unterscheiden“. Durch diese gewandte Parade war
der erste Hieb abgewehrt. Noch überzeugender machte Lipmann den
Vorwurf wegen der versteckten Anspielung auf Jesus durch den Hin-
weis zunichte, daß der christliche Heiland auf hebräisch nicht „Jeschu“,
sondern „Joschua“ (Josua) heiße, was die ganze Zahlenkombination
des Anklägers über den Haufen werfe. Nicht minder geschickt parierte
er jenen Punkt der Anklage, demzufolge die Juden in dem „Schmona-
essre‘*-Gebet mit den Worten: „Und den Abtrünnigen1) sei keine
Hoffnung** einen Fluch gegen die Konvertiten ausstießen. „Haben
es doch die Christen selbst bestimmt — so argumentierte der Sach-
walter des Judentums —, daß ein die Taufe annehmender Jude zu
seiner Religion nicht mehr zurückkehren dürfe, folglich besteht auch
bei seinen Angehörigen und Freunden keine Hoffnung mehr, ihn
jemals wieder als Juden zu sehen. Nur dies soll das Gebet zum Aus*
druck bringen**. Auf Grund des Neujahrsgebetes, in dem Gott ange-
fleht wird, die „Willkürherrschaft („memscheleth sadon“) auf Er-
den zu bannen**, erdreistete sich der Täufling, die Juden sogar des
Hochverrates zu beschuldigen, da sie mit diesen Worten, wie er be-
hauptete, die Herrscher der christlichen Staaten treffen wollten. Auch
in diesem Punkte war jedoch der Prager Rabbiner um die Antwort
nicht verlegen: mit den inkriminierten Worten — so sagte er — seien
nicht die rechtmäßigen Könige, sondern allein jene Usurpatoren ge-
meint, die den gesetzlichen Herrschern die Gewalt streitig machten.
Dank seiner großen Umsicht gelang es dem Rabbiner, den durch
die Denunziation des Pessach-Peter angezettelten Verfolgungen glück-
lich zu entgehen, doch lief die Sache, wie er berichtet, für viele Mit-
glieder seiner Gemeinde durchaus nicht so glimpflich ab: drei von
den verhafteten Juden wurden im Jahre i4oo auf dem Scheiterhaufen
!) Statt des uns geläufigen „La’malschinim“ steht im „Nizzachön“ das Wort
„La’meschumadim“: anscheinend war dies damals die übliche Form, in der der
bekannte Verwünschungsspruch gegen die „Minäer“ gesprochen zu werden pflegte
(Band III, S io).
342
§ 48. Das innere Leben und der Rabbinismus
verbrannt. Dieser in seinen Einzelheiten nicht aufgeklärte Zwischen-
fall scheint irgendwie mit den damals so häufigen Anklagen wegen
Blasphemie in Zusammenhang gestanden zu haben. Unter solchen
Umständen mußte sich R. Lipmann-Jomtob auch in seiner schriftli-
chen Apologie „Nizzachon“, in der er die Grundlosigkeit der evangeli-
schen Überlieferungen und mancher bei den Christen beliebter Aus-
legungen der alttestamentlichen Prophezeiungen zu erhärten suchte,
die allergrößte Zurückhaltung auferlegen. Desungeachtet schien den
christlichen Theologen die Kritik des R. Lipmann so gefährlich zu
sein, daß der Brandenburger Bischof Bodecker es noch ein halbes
Jahrhundert später für geboten hielt, „den neuen Blasphemien“, die
der Rabbiner „den alten beigefügt“ hätte, in einer besonderen Schrift
entgegenzutreten1). Auch die deutschen Theologen der späteren Zeit
polemisierten häufig gegen den Verfasser des Buches, das schon
allein durch seinen Titel: „Der Sieg“ die Gegner in Harnisch brachte. i)
i) In der bischöflichen Apologie heißt der Verfasser des „Nizzachon“ R.
Libman aus Krakau. Angesichts der völligen Ungewißheit, die über die näheren
Lehensverhältnisse des R. Lipmann besteht, ist schwer zu entscheiden, ob wir
es hierbei mit einem Irrtum zu tun haben oder ob der Autor des „Nizzachon“
zu der polnischen Hauptstadt, die mit dem tschechischen Prag regsten Verkehr
unterhielt, in der Tat in unmittelbarer Beziehung stand.
343
Viertes Kapitel
Das letzte Jahrhundert des jüdischen
Zentrums in Spanien
§ 49. Die Kirchenherrschaft und der Missionsterror (Paul von
Burgos und Vicente Ferrer)
Die Schlußakkorde der düsteren Symphonie des Mittelalters ertön-
ten in Spanien. Das Land, das während der wildesten mittelalterli-
chen Orgien verhältnismäßig ruhig geblieben war, schien gegen de-
ren Ende seine Enthaltsamkeit gleichsam zu bereuen und beeilte sich,
das Versäumte nachzuholen, indem es die anderen Länder an Grau-
samkeit gegen die Juden noch zu übertreffen suchte. In Spanien war
jetzt mit einem Male der getaufte Heide der Westgotenzeit wieder
erstanden, der keinen Ungetauften in seiner Nähe dulden wollte. Der
unter dem Einfluß der arabisch-jüdischen Kultur für einige Jahr-
hunderte zurückgedrängte Geist des alten Westgotentums trat, als der
ihm verwandte, die Grundlagen des normalen Zusammenlebens un-
terwühlende Klerikalismus in Spanien endgültig die Oberhand ge-
wonnen hatte, erneut in den Vordergrund. In diesem Lande mit sei-
ner aus Christen, Juden und Mauren bunt zusammengewürfelten Be-
völkerung waren drei Religionen, drei Rassen und drei Kulturen in
engste Berührung miteinander gekommen. Einige Jahrhunderte hin-
durch bestanden sie, sich gegenseitig befruchtend, nebeneinander
und ließen die spanische Kultur auf dem dunklen Hintergründe des
Mittelalters als einen in allen Farben spielenden Lichtpunkt erglän-
zen. Diese freie kulturelle Wechselwirkung war indessen durchaus
nicht nach dem Sinne des Klerikalismus, der unverwandt das Ziel ver-
folgte, alle andersgläubigen und fremdstämmigen Elemente um der
Idee der kirchlich-staatlichen Einheit willen mit Stumpf und Stiel
auszurotten. Ein Glaube, ein Staat und eine vom Geiste der herrschen-
344
§ 49. Der Missionsterror (Vicente Ferrer)
den Kirche getragene Kultur — dies war das Losungswort derjenigen,
die sich seit dem XV. Jahrhundert die Vereinheitlichung des christ-
lichen Spanien zum Ziele gesetzt hatten. Die Realisierung dieses Ideals
setzte aber entweder die Ausrottung der fremdartigen Elemente, der
Juden und Mauren, oder aber deren gewaltsame Verschmelzung mit
der christlichen Bevölkerung voraus. In anderen Ländern, in denen
man die Hoffnung auf die Bekehrung der Juden schnell aufgegeben
hatte, wurden sie bedrückt, niedergemetzelt oder von Haus und Hof
vertrieben; in Spanien wollte man indessen von dieser Hoffnung um
keinen Preis lassen, zugleich aber auch keine Zeit verlieren: so ni-
stete sich in den Geistern der spanischen Klerikalen immer tiefer
die Idee der gewaltsamen Massentaufe ein, vor deren Kühnheit sogar
die eifrigsten Päpste zurückschreckten, so daß sich die Übereifrigen
„katholischer als der Papst selbst“ erwiesen. In dem von ihnen ver-
fochtenen Prinzip der Verbreitung des Glaubens durch die Macht
des Schwertes waren gleichsam die Uranfänge des Islam zu neuem
Leben erstanden. „Tod oder Taufe!“ — in diesem Zeichen glaub-
ten sie ihres Sieges sicher zu sein. Während den französisch-
deutschen Kreuzfahrern am Ausgang des XI. Jahrhunderts ein
ähnlicher Versuch mißlungen war, hatten die spanischen „Kreuz-
ritter“ gegen Ende des XIV. Jahrhunderts, dem Aufruf des Marti-
nez folgend, einen teilweisen Sieg erfochten, der sie auch zu weiteren
Angriffen ermuntern mußte. Hatte man Zehntausende von Juden
niederzumachen und ebensoviele der Taufe zuzuführen vermocht,
so mußte, meinten sie, das unentwegte Festhalten an dieser Taktik
schließlich zu einer endgültigen Lösung der „jüdischen Frage“ füh-
ren. Dies ist eben der Weg, den das XV. Jahrhundert beschreitet: die
eine Hälfte der jüdischen Bevölkerung wird gewaltsam der Kirche
in die Arme getrieben, während der andere, von Schwert und Kreuz
verschont gebliebene Teil aus dem Lande verbannt wird. So gelangt
das im Jahre 1891 eingeleitete Werk hundert Jahre später, im Jahre
1492, zu seinem Abschluß.
Nach dem „heiligen Kriege“ (oben, § 37) trat zunächst eine kurze
Ruhepause ein. Durch die Wunden, die dem handelstüchtigsten, den
Verkehr mit den europäischen und afrikanischen Märkten aufrecht-
erhaltenden Bevölkerungsteil geschlagen worden waren, wurden viele
spanische Städte völlig ruiniert. Die jüdischen Gemeinden hatten die
Mehrzahl ihrer Mitglieder eingebüßt und verfielen der Verarmung.
345
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
Viele übersiedelten nach Portugal, nach dem maurischen Granada,
sowie jenseits Gibraltars, nach Afrika. Zusammengeschmolzen war
auch der königliche Schatz, der des größten Teils seiner Einkünfte
aus den jüdischen Sondersteuern verlustig gegangen war, da sie nun-
mehr weder von den Täuflingen, noch von den im Lande verbliebe-
nen und an den Ruin gebrachten jüdischen Familien entrichtet wur-
den. Angesichts dieser Notlage entschloß sich der kastilische König
Heinrich III. im Jahre i3g5, die Wiederherstellung der zerstörten
„Juderien“ schleunigst in Angriff zu nehmen. Er stellte für alle
Wühlereien gegen die Juden schwerste Strafen in Aussicht und ließ
sogar den Urheber des Gemetzels von Sevilla, Martinez, in Kerker-
haft nehmen. Bald sah sich indessen der König genötigt, den fana-
tischen Priester, der im Volke als „Heiliger“ galt, wieder auf freien
Fuß zu setzen. Ebenso machtlos stand der König dem Adel gegenüber:
er mußte sich den Forderungen der Cortes von Valladolid fügen,
wonach den Christen, d. h. den heruntergekommenen Edelleuten, die
Hälfte der den jüdischen Gläubigern geschuldeten Beträge erlassen,
das Recht der Juden, als Zeugen gegen Christen vor Gericht aufzu-
treten, bedeutend eingeschränkt und den Juden überdies das Tragen
des Sonderzeichens zur Pflicht gemacht werden sollte (i4o5). Der
Politik des Königs, die auf die Heilung der dem Staate durch die Ka-
tastrophe des Jahres 1391 zugefügten Wunden ausging, war somit
von vornherein nur ein enger Spielraum gelassen. Unter den von
ihm getroffenen Maßnahmen verdient besondere Erwähnung die Er-
nennung seines Leibarztes Meir Alguadez zum Großrabbiner der ka-
stilischen Gemeinden und dessen Betrauung mit dem Wiederaufbau
der Juderien und mit der Regelung des Steuerwesens. Alguadez scheint
denn auch während der kurzen Regierung Heinrichs III. für die Re-
stauration der Gemeinden nicht wenig geleistet zu haben. Durch den
vorzeitigen Tod des kränklichen Königs (i4o6) wurde indessen das
Aufbauwerk jäh unterbrochen: von neuem brach eine Zeit drückender
Unruhe an.
Infolge der Minderjährigkeit des neuen Königs Juan II. wurde
das Land eine Zeitlang durch eine Regentschaft verwaltet, an deren
Spitze die der klerikalen Partei mit ganzer Seele ergebene Königin-
Mutter Catalina stand. An dem Regentschaftsrat beteiligte sich unter
anderen der Bischof Paul von Burgos, der zum Vormund und Er-
zieher des jugendlichen Königs bestellt war. Dieser Bischof war kein
346
§ 49. Der Missionsterror (Vicente Ferrer)
anderer als der ehemalige Rabbiner Salomo Halevi aus Burgos, der
während der Katastrophe des Jahres i3()i die Taufe genommen hatte.
Von maßlosem Ehrgeiz getrieben, beschloß der Konvertit, sein Ju-
dentum teuer zu verkaufen und die Würde eines Rabbiners der Ver-
folgten mit dem Bischofsstab der Verfolger zu vertauschen. Zu die-
sem Zwecke redete er seinen neuen Glaubensgenossen ein, daß er zum
Christentum nicht aus Todesangst, sondern noch vor der Katastrophe
unter dem Eindruck einer wunderbaren Vision übergetreten sei: es
sei ihm nämlich im Traume die Mutter Gottes erschienen, um ihn
auf den Weg der Wahrheit zu weisen, auf den er schon vorher durch
das Studium des Thomas von Aquino vorbereitet gewesen sei. Nach-
dem er bei der Taufe den Namen Paulus de Santa Maria angenom-
men hatte, begab er sich nach Paris, um an der dortigen Universität
Theologie zu studieren; später kam er nach der päpstlichen Residenz
Avignon und trat dort mit dem spanischen Kardinal Pedro de Luna
in nähere Beziehungen, der im Jahre i3g4 von den Gegnern des
rechtmäßigen römischen Papstes Bonifazius IX. unter dem Namen
Benedikt XIII. zum Gegenpapst ausgerufen wurde. Dieser Kardinal,
der der Bekehrung der Juden stets den größten Wert beigemessen
und schon ehedem religiöse Disputationen mit jüdischen Gelehrten
geführt hatte (oben, § 35), fand in dem neubekehrten Paulus ein
geeignetes Werkzeug zur Durchführung seiner Pläne.
Es galt, die vor kurzem gemachte „Akquisition“: die Tausende
von Juden, die in dem Schreckensjahr getauft worden waren, an die
Kirche zu fesseln und die Missionserfolge auch weiterhin nicht zum
Stillstand kommen zu lassen. Zu diesem Zwecke war es geboten, den
ehemaligen Rabbiner, der sich bereit erklärte, Wissen und Erfah-
rung in den Dienst der Kirche zu stellen, durch Verleihung einer ho-
hen geistlichen Würde mit besonderen Machtbefugnissen auszustat-
ten. Gleich dem gleichnamigen Apostel der Vorzeit ging Paulus ohne
Zögern an die Bloßstellung des von ihm abgeschworenen Glaubens
und stieg auf der hierarchischen Stufenleiter rasch empor. Von der
Würde eines Archidiakonus und Kanonikus in Sevilla avancierte er
bald zu der des Bischofs von Cartagena, um schließlich Erzbischof
von Burgos zu werden. Der dem Hofe nahestehende Renegat geriet
noch bei Lebzeiten des Königs Heinrich III. in einen Konflikt mit
dem Hofarzt Meir Alguadez, mit dem ihn vor der Taufe enge Freund-
schaft verbunden hatte. (Es hat sich sogar ein in rabbinischem Stil
34?
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
gehaltenes, anläßlich des Purimschmauses von dem ehemaligen Sa-
lomo Halevi an Alguadez gerichtetes humoristisches Schreiben erhal-
ten.) Der als Arzt bei Hofe wirkende offizielle Vertreter des Juden-
tums mußte dem abtrünnigen Rabbiner, der sich auf die Rolle eines
neuen Haman vorbereitete, ein Dorn im Auge sein. So sann denn
der Renegat unausgesetzt darauf, den beim König ein- und ausgehen-
den Mardochai aus dem Wege zu räumen, was ihm nach dem Tode
Heinrichs III., als er Mitglied des Regentschaftsrates geworden war,
endlich gelingen sollte. Um i4io wurde nämlich in Segovia, wo sich
zeitweilig die Regentin Catalina aufhielt, gegen einige der Hostien-
schändung bezichtigte Juden ein Prozeß inszeniert, in den auch Meir
Alguadez verwickelt wurde. Allen Verhafteten preßte man auf der
Folterbank ein Geständnis ab, wobei Alguadez überdies noch ein an-
deres angebliches Verbrechen gestehen mußte: er hätte durch seine
ärztliche Behandlung den Tod des kranken Heinrich III. beschleunigt.
Auf Grund dieser durch die Tortur erzwungenen Selbstanklage wurde
Alguadez einem qualvollen Tode preisgegeben. Zwar sind die Einzel-
heiten dieses Vorfalls in geschichtliches Dunkel gehüllt, doch unter-
liegt es keinem Zweifel, daß der Staatsrabbiner auf Betreiben des
Paulus von Burgos auf die eine oder andere Weise beseitigt wor-
den ist.
Nachdem die Juden ihres treuen Beschützers beraubt worden wa-
ren, hatte die judenfeindliche klerikale Hofpartei mit dem Bischof
von Burgos an der Spitze ein leichtes Spiel. Der von Catalina ge-
führte Regentschaftsrat glaubte nichts Eiligeres zu tun zu haben, als
Maßnahmen zur Absonderung der Juden von den Christen zu er-
greifen. Durch diese Maßnahmen sollte einerseits der schädliche Ein-
fluß der rechtgläubigen Juden auf ihre getauften Stammesgenossen
unterbunden, andererseits aber durch Entmündigung der „Starr-
köpfe“ ein krasser sozialer Gegensatz zwischen den Gläubigen und
Ungläubigen geschaffen werden. In Verfolg dieser Aufgabe erging
im Jahre i4i2 eine „Ordonnanz der Donna Catalina“, die alle kasti-
lischen Juden zu einer entrechteten Pariakaste herabwürdigte. Die
Juden durften nunmehr in den Städten nur noch in den „Juderien“
wohnen, in die alle in anderen Stadtteilen Ansässigen binnen einer
Woche übersiedeln mußten. Das Judenviertel durfte von Christinnen
weder bei Nacht noch bei Tage betreten werden. Den Christen bei-
derlei Geschlechts wurde es untersagt, mit Juden freundschaftlich zu
348
§ 49. Der Missionsterror (Vicente Ferrer)
verkehren, sie zu besuchen, mit ihnen gemeinsame Tafel zu halten
und die gleichen Badehäuser aufzusuchen, außerdem im Haushalt so-
wie in den landwirtschaftlichen und industriellen Betrieben der Ju-
den Dienste zu verrichten, ja sogar sie mit der in Spanien üblichen An-
rede „Don“ zu ehren. Außerdem war es den Juden verboten, Waffen
bei sich zu tragen, sich den Bart rasieren und das Haar schneiden zu
lassen sowie andere Kleidung als das vorschriftsmäßige lange Gewand
aus grobem Stoff anzulegen. Neben diesen die allgemeine Lebens-
führung betreffenden Vorschriften waren in den vierundzwanzig
Punkten der „Ordonnanz“ Grundsätze aufgestellt, die jede wirt-
schaftliche Betätigung der Juden ertöten mußten. Es war ihnen ver-
boten, mit Brot, Wein und Fleisch zu handeln, sich mit einem Hand-
werk zu befassen oder freien Berufen, insbesondere dem ärztlichen,
nachzugehen. Auch von allen öffentlichen Ämtern und Würden soll-
ten sie gänzlich ausgeschlossen bleiben. Zugleich wurde ihnen die ge-
richtliche Autonomie entzogen, indem man sie in straf- und sogar in
zivilrechtlichen Sachen den allgemeinen Gerichtsinstanzen unterstellte.
Mit der freien Gerichtsbarkeit büßten die Gemeinden auch das Selbst-
besteuerungsrecht ein. Auf die Übertretung dieser Regeln standen
Geldstrafen von 3oo bis 2000 Maravedi und in einigen Fällen auch
noch die Prügelstrafe. In der Voraussicht, daß die Juden unter solchen
Umständen Kastilien zum Nachteil für den Staatsschatz massenweise
verlassen würden, stellten die Urheber des Ediktes die Auswanderung
unter strengstes Verbot und drohten den eigenwilligen Emigranten
die Vermögenseinziehung und sogar die Sklaverei an; den Feudal-
herren, die es wagen sollten, solchen Flüchtlingen ein Asyl zu ge-
währen, stellte das Gesetz eine Strafe von iöo ooo Maravedi in Aus-
sicht. All diese meistens undurchführbaren drakonischen Gesetze
(ähnliche Repressivmaßnahmen wurden auch gegen die Mauren ver-
fügt) gingen eigentlich nur darauf aus, die in ihrem Glauben ver-
harrenden Juden zu demütigen, zü verfemen und zu terrorisieren.
Den an verhältnismäßig weitgehende bürgerliche Freiheiten gewöhn-
ten kastilischen Juden sollte durch diese Androhung des Parialoses
drastisch vor Augen geführt werden, daß allein die Taufe ihnen das
Sklaven joch ersparen könnte.
Neben den heimtückischen Verführungskünsten wurden aber auch
wilde Gewalttaten nicht verschmäht: während man die Juden einer-
seits durch Lockmittel für die Kirche zu gewinnen suchte, wurden
349
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
sie andererseits durch Androhung von Plünderung und Tod zum
Taufbecken gezerrt. In Spanien tauchte nämlich um diese Zeit (il\i2
bis i4i3) eine neue „Judengeißel“, ein zweiter Martinez namens
Vicenle Fer rer auf. Der düstere Dominikaner durchzog, von Flagel-
lanten und ähnlichen Fanatikern umgeben, Kastilien und Aragonien,
um überall den „heiligen Haß“ gegen die Andersgläubigen, die Ju-
den und Mauren, zu predigen. Seine Hauptmission erblickte er in der
Bekehrung der Juden durch Androhung von Gewaltmaßnahmen. Es
wurde behauptet, daß eben dieser Ferrer seinerzeit Paul von Burgos
zum Übertritt bewogen hätte. Jedenfalls fanden sich der Benegat von
Burgos und der dominikanische Eiferer bei der Ausrottung des Ju-
dentums als treue Verbündete zusammen. Dieses würdige Paar war
es, unter dessen Einwirkung die erwähnte „Ordonnanz“ entstand und
zugleich jene spezifische Missionspropaganda eingeleitet wurde, in
der an Stelle der Überredung die Methode der Einschüchterung ge-
treten war. An der Spitze eines Haufens von Mönchen zog nun Ferrer
von Stadt zu Stadt mit dem Kreuz in der einen und der Thora in der
anderen Hand, drang in die Synagogen ein und verlangte überall mit
donnernder Stimme, daß die Juden sich von der Thora lossagen und
zum Kreuz bekennen sollten. Mit besonderer Wut wetterte er gegen
die Opfer der Gewalttaten des Jahres i3gi, gegen jene Konvertiten,
die sich, sei es offen oder insgeheim, nach wie vor zum Judentum be-
kannten. Die leidenschaftlichen Reden dieses rasenden Fanatikers
wirkten zündend auf die christlichen Massen, die nur auf ein Zeichen
warteten, um sich auf die „störrischen“ Feinde Christi zu stürzen.
Der Juden, die das Gemetzel von Sevilla und die anderen darauffol-
genden Hetzen noch frisch im Gedächtnis hatten, bemächtigte sich
Angst und Schrecken. Viele Gemeinden Kastiliens sahen sich von den
feindlichen Mächten gleichsam belagert. In Valladolid, Salamanca,
Segovia, Avila, Burgos und anderen Städten ließen sich die in Ver-
zweiflung geratenen Juden massenweise taufen, während die von der
Kirche abgefallenen „Neuchristen“ Reue zur Schau trugen und feier-
lich gelobten, gute Katholiken werden zu wollen. In Toledo vertrieb
der mit dem Kreuz in eine Synagoge eingebrochene Ferrer die dort
zur Andacht versammelte Gemeinde, um das jüdische Gebethaus auf
der Stelle der „unbefleckten Maria“ (Santa Maria la blanca) als
Kirche zu weihen. Aus Kastilien wandte er sich nach Aragonien, wo
er durch Anwendung des gleichen Terrors eine Menge von Juden in
35o
§ 50. Die Disputation zu Tortosa
Saragossa, Tortosa, Valencia und anderen Städten zu Gefangenen der
Kirche machte. Etwa 20 000 Juden waren es, die sich in diesen
Schreckensjahren gezwungen sahen, ihrer Religion die Treue aufzu-
sagen. Die einen suchten sich auf diese Weise vor Gewalttaten und
Lebensgefahr zu schützen, die anderen vor den menschenunwürdigen
Verhältnissen, zu denen sie die „Ordonnanz“ vom Jahre i[\.i2 ver-
dammte.
Für diejenigen, die ihrer alten Überzeugung treu geblieben waren,
machte die „Ordonnanz“ in der Tat das Leben in Kastilien völlig un-
erträglich, so daß eine Massenemigration trotz der angedrohten Stra-
fen auf keine Weise hätte verhindert werden können, wenn die Ur-
heber des grausamen Gesetzes nicht sehr bald selbst eingesehen hät-
ten, welche unliebsamen Folgen seine Durchführung nach sich ziehen
mußte. So beschlossen sie denn, die angeordneten Maßnahmen zu mil-
dern, um so mehr als ihr Hauptziel, die Einschüchterung der Klein-
mütigen um der Vermehrung der Gemeinde Christi willen, bereits
erreicht war. Schon im Jahre i4i4 machte der Regentschaftsrat
einige der wirtschaftlichen Repressivmaßnahmen wieder rückgängig:
den Juden wurde von neuem gestattet, auf den Märkten Handel zu
treiben sowie die Dienste christlicher Tagelöhner für landwirtschaft-
liche Arbeiten in Anspruch zu nehmen, und auch ihre Freizügigkeit
wurde unter gewissen Beschränkungen wiederhergestellt. Die auf die
Kleidung bezüglichen Vorschriften wurden dahin geändert, daß man
nunmehr den Juden gestattete, Gewänder auch aus feinerem Stoff
zu tragen, doch durfte der Stoffpreis eine bestimmte Höhe nicht
übersteigen. Abgeändert wurden auch die der Komik nicht entbehren-
den Vorschriften über Bart und Kopfhaar, und zwar in dem Sinne,
daß das Haar wohl geschnitten, der Bart aber nicht, wie bei den Spa-
niern üblich, rasiert, sondern nur zugestutzt werden durfte. Das Le-
ben selbst setzte in der Praxis auch die übrigen demütigenden Vor-
schriften der „Ordonnanz“ ganz oder teilweise außer Kraft.
§ 50. Die Disputation zu Tortosa
Um die Juden der Kirche in die Arme treiben zu können, ließ
man kein Mittel unerprobt. Der zum Bischof aufgestiegene Renegat
Paul von Burgos verlegte sich auf die Einschüchterung durch An-
drohung von Demütigungen und Rechtlosigkeit; der besessene Mönch
35i
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
Vicente Ferrer terrorisierte die Juden durch wütende Hetzreden; der
dritte Hauptbeteiligte an dem antijüdischen Feldzuge, der spanische
Gegenpapst Benedikt XIII., griff aber zu einer anderen, des Reizes der
Neuheit freilich ebenfalls schon längst entbehrenden Taktik: zum Ver-
such, den Judaismus in einer öffentlichen Disputation mit den Rab-
binern zu diskreditieren, um sodann von den „Besiegten“ die Kapitu-
lation, d. h. den Übertritt zum Christentum fordern zu können. Bene-
dikt XIII., einer der drei um jene Zeit miteinander rivalisierenden
Päpste, war außerhalb Spaniens nirgends anerkannt. Das Konzil von
Pisa enthob ihn seiner Würde und verhängte über ihn den Bannfluch
(1409). Um nun seine schwer geschädigte Autorität wiederherzustel-
len, mußte sich Benedikt um jeden Preis die Gunst der Rechtgläubi-
gen zu erwerben suchen und die christliche Welt durch eine Groß-
tat in Staunen versetzen: was hätte aber mehr den Namen einer
Heldentat verdient als die Bekehrung der Juden, die stets der
sehnlichste Wunsch der mittelalterlichen Kirche war? Der Beschluß,
die Rabbiner zu einer öffentlichen Disputation herauszufordern,
wurde von Benedikt nachgewiesenermaßen unter dem Einfluß eines
rührigen jüdischen Renegaten gefaßt, der sein Leibarzt war und zu
dem Freundeskreis des Paul von Burgos gehörte. Es war dies Josua
aus Lorca, ein Talmudgelehrter, der aus theologischer Überzeugung
zum Christentum über getreten war. Nach der Taufe nahm er den
Namen Geronimo de Santa-Fe („Hieronymus des heiligen Glaubens“)
an und setzte sich zum Ziele, nach dem Beispiel des gleichnamigen
Kirchenvaters den Ungläubigen durch Texte aus der Heiligen Schrift
die Wahrheit der christlichen Lehre zu beweisen. Sein eigener Glaube
an Christus war ein nur auf Textdeutungen fußender Bücherglaube,
und so hielt er es für möglich, auch andere jüdische Theologen von
den ihm einleuchtenden Gedankengängen zu überzeugen. Sein Be-
streben, die ehemaligen Glaubensgenossen geistig zu erleuchten, hin-
derte ihn indessen nicht daran, ein Bündnis mit ihren schlimmsten
Feinden einzugehen. Um dieselbe Zeit, als Vicente Ferrer die Ge-
meinden Kastiliens terrorisierte, rüstete sich Josua aus Lorca zusam-
men mit dem Gegenpapst zu einem Eroberungszug gegen die jüdi-
schen Gemeinden Aragoniens. Sie nahmen sich vor, eine ähnliche
Disputation in Szene zu setzen, wie sie im XIII. Jahrhundert in Paris
und in Barcelona stattgefunden hatten, als getaufte Juden berühmte
Rabbiner der Verkennung der angeblich von der Messianität Christi
35a
§ 50. Die Disputation zu Tortosa
zeugenden biblischen Prophezeiungen und talmudischen Aussprüche
„überführten“. Es wurde ein heimtückischer Angriffsplan ausge-
heckt: die durch den Missionsterror eingeschüchterten jüdischen
Wortführer sollten durch Fragen, die sie, ohne die Gefahr einer Ju-
denhetze heraufzubeschwören, nicht freimütig beantworten konnten,
in Verlegenheit gebracht werden, damit ihre Verwirrung und Un-
sicherheit als Niederlage des Judentums hingestellt werden könnte;
um aber den Sieg der Kirche in noch überzeugenderer Weise vor Au-
gen zu führen, beschloß man außerdem, in diesen öffentlichen Ver-
sammlungen zugleich die Taufe an jenen Unglücklichen vorzuneh-
men, die in dieser Zeit der kirchlichen Schreckensherrschaft so häufig
in der Kapitulation vor der Kirche die einzige Rettung erblickten.
Gegen Ende des Jahres 1^12 ließ Benedikt mit Zustimmung des
aragonischen Königs an alle jüdischen Gemeinden Aragoniens den
strikten Befehl ergehen, maßgebende Rabbiner und Gelehrte zwecks
Teilnahme an einer religiösen Disputation nach Tortosa zu entsenden.
Die Gemeinden mußten sich wohl oder übel fügen, obschon ihnen
die wahre Absicht des Gegenpapstes und seiner Genossen nicht ver-
borgen blieb. So fanden sich denn in Tortosa etwa zwanzig Abgeord-
nete ein, von denen sich bei der Disputation namentlich die folgen-
den hervortaten: das Haupt der Gemeinde von Saragossa, der „Nassi“
Vidal Benveniste (auch „Rabbi Ferrer“ genannt), der Übersetzer phi-
losophischer Bücher aus dem Arabischen Serachia Iialevi, gleichfalls
aus Saragossa, der berühmte Verfasser des Werkes über die Dogmen
(„Ikkarim“) Joseph Albo aus Daroca und Astruc Halevi aus Alcaniz1).
Die Disputation begann im Februar des Jahres i4i3, um sich mit
Unterbrechungen bis zum November des folgenden Jahres hinzuziehen,
wobei sie nicht weniger als neunundsechzig Sitzungen in Anspruch
nahm. Die Disputation verlief in den feierlichsten Formen. Den Vor-
sitz führte in der Regel Papst Benedikt in eigener Person, den ein
großes Gefolge von geistlichen und weltlichen Würdenträgern um-
1) Dieser Zusammenstellung der Namen der jüdischen Wortführer liegen die
mit zwei jüdischen Berichten: in „Wikkuach Tortosa“ und in „Schebet Jehuda“
(Nr. 4o) kollationierten lateinischen Sitzungsprotokolle zugrunde. Der im amt-
lichen lateinischen Protokoll vielfach erwähnte Disputant „Rabbi Ferrer“ ist wohl,
wie Graetz (Band VIII, Note 3) richtig vermutet, mit dem genannten Vidal Ben-
veniste identisch. Auch in der weiteren Schilderung der Disputation waren wir
bemüht, die Wahrheit durch Konfrontierung der sich widersprechenden Berichte
nach Möglichkeit herauszuschälen, was nunmehr durch die ausführliche /Vrbeit
von Ad. Poznanski bedeutend erleichtert ist (s. Bibliographie).
:23 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
353
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
gab; die „Anklage“ oder die Überführung des Judentums übernahm
Geronimo de Santa-Fe, während die jüdischen Vertreter in die Defen-
sive gedrängt waren, da sie durch eine öffentliche Kritik der christ-
lichen Glaubenslehren gegen sich selbst und ihre Stammesgenossen
das schlimmste Unheil heraufbeschworen hätten. In dieser ungleichen
Stellung der Parteien bestand eben für die Sachwalter des Juden-
tums die Hauptschwierigkeit der Diskussion. Die Rabbiner wagten
nicht, ihren Opponenten sogar mit jener verhältnismäßigen Offen-
heit entgegenzutreten, mit der einst Ramban in ßarcelona dem Pau-
lus Christiani begegnet war: damals war der Kirchenterror noch nicht
an der Tagesordnung, während jetzt die rasenden Banden des Mön-
ches Ferrer bereits aus Kastilien nach Aragonien vorgedrungen waren,
worüber bei den Delegierten während der Disputation immer wieder
beunruhigende Nachrichten einliefen.
Das Mißverhältnis in der Stellung der beiden Parteien zueinander
kam in Tortosa schon gleich am ersten Tage in krassester Weise
zum Ausdruck. Den Tag der Eröffnung des Disputation (7. Februar
i4i3) schildert einer der jüdischen Delegierten in folgender Weise:
„Als wir in das Haus des Papstes eintraten, erblickten wir einen gro-
ßen, mit farbigen Stoffen geschmückten Hof: dies war der Ort der
Disputation. Es standen dort siebzig Sessel für die Kardinäle, Bi-
schöfe und Erzbischöfe, die in goldgestickte Gewänder gekleidet wa-
ren; von sonstigen vornehmen Römern (geistlichen Würdenträgern),
Bürgern und Vertretern der Obrigkeit waren hier etwa tausend Män-
ner anwesend. Unser bemächtigte sich eine große Bangigkeit . . .
Nun nahm der Papst das Wort: ,Wisset, jüdische Gelehrte, daß ich
nicht zu dem Zwecke hier erschienen bin und euch hierher befohlen
habe, um darüber zu disputieren, welche von den beiden Religionen
die wahre sei, da ich nicht im geringsten daran zweifle, daß es die
meinige ist, während eure Thora wohl einmal wahr gewesen, dann
aber aufgehoben worden ist. Wir wollen hier nur die Argumente des
Geronimo einer Erörterung unterziehen, der bereit ist, auf Grund des
Talmud eurer alten Meister, die weiser waren als ihr, den Beweis zu
erbringen, daß der Messias bereits erschienen sei; ihr aber sollt euch
eurerseits allein zu dieser Frage äußern4“. — Hierauf begann Gero-
nimo seine Rede mit den Worten des Propheten Jesaja (1, 18—20):
„So kommt denn und laßt uns miteinander rechten, spricht der Herr
. . . Wollt ihr gehorchen, so sollt ihr des Landes Gut genießen. Wei-
354
§ 50. Die Disputation zu Tortosa
gert ihr euch aber und seid ungehorsam, so sollt ihr vom Schwert
gefressen werden“. Vidal Benveniste (Ferrer) drückte in seiner in
tadellosem Latein gehaltenen Antwortrede sein Befremden darüber
aus, daß die eine der Parteien noch vor Eröffnung der Debatten mit
Drohungen beginne, worauf der Papst mit beißender Ironie erwiderte:
„Ihr habt recht, indessen muß diese schlechte Gewohnheit euch nicht
allzusehr wundern: ist er doch (Geronimo) einer von den euren“.
Nach Beendigung der einleitenden Reden wandten sich die Vertreter
der jüdischen Abordnung an den Papst mit der Bitte, sie von der Be-
teiligung an der Disputation, bei der die Parteien an den für sie mit
den heiligsten Überlieferungen verbundenen Fragen nur ihren logi-
schen Scharfsinn erproben würden, gnädigst dispensieren zu wollen.
Die Bitte wurde, wie nicht anders zu erwarten war, abschlägig be-
schieden, und so trat man in der nächsten Sitzung in die Verhand-
lung über die Sache selbst ein.
Geronimo eröffnete die Debatten mit der Anführung mancher
aus den endlosen Schätzen der frei dichtenden Haggada heraus-
gesuchten Zitate. Unter anderem führte er die bekannte Stelle an
(Sanhedrin, 97a): „Sechstausend Jahre besteht die Welt: die ersten
zweitausend sind das Zeitalter des Chaos (oder des Götzendienstes),
die folgenden zweitausend das der Thora und die letzten zweitausend
das Zeitalter des Messias“. Hieraus erhelle — so folgerte er —, daß
der Messias schon längst erschienen sei, denn das sechste Jahrtausend
der Welt sei bereits angebrochen. Vidal Benveniste erwiderte hierauf,
daß der Feststellung des Anbruchs der messianischen Zeit eine Ver-
ständigung über den wahren Beruf und die Kennzeichen des Messias
voran gehen müsse, denn der Streit gehe ja eben darum, ob der Hei-
land der Christen der wahre Erlöser sei. Der den Vorsitz führende
Papst weigerte sich indessen, die Reihenfolge der zu erörternden Fra-
gen zu ändern. Nunmehr wies Benveniste darauf hin, daß Jesus auch
nach der Behauptung der Christen noch vor Ablauf des vierten Jahr-
tausends erschienen sei und daß Geronimo andererseits bei der An-
führung der talmudischen Stelle die Schlußbemerkung weggelassen
habe, in der es ausdrücklich heißt, daß das messianische Zeitalter
schon längst angebrochen sei, der Messias selbst aber noch immer auf
sich warten lasse. Geronimo begegnete dem jedoch mit der Behaup-
tung, die Schlußbemerkung sei nichts als ein aus späterer Zeit stam-
mender Zusatz zu dem uralten Texte, in dem die Zeitangaben, wie er
23*
355
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
zur Entkräftung des ersten Arguments noch hinzufügte, nur mit an-
nähernder Genauigkeit gemacht seien. Demgegenüber machten Ben-
veniste und Albo ihrerseits geltend, daß der Talmud sich ja gänzlich
darüber ausschweige, ob der Messias schon am Anfang oder erst am
Ende des letzten zweitausendjährigen Zeitabschnitts erscheinen müßte;
zugleich sprachen sie ihre Verwunderung darüber aus, wie man über-
haupt den Christus nicht anerkennenden Talmudisten eine ihrer
Grundüberzeugung zuwiderlaufende Äußerung in den Mund legen
könne. Der in die Enge getriebene Geronimo mußte das von ihm ins
Treffen geführte Zitat fallen lassen und rückte in der nächsten Sit-
zung mit einer anderen Version der haggadischen Weissagung her-
aus, die die Ankunft des Messias in das fünfundachtzigste „Jubi-
läum“ seit der Weltschöpfung verlegt. Von neuem entbrannte ein
Streit, in dessen Verlauf der Abgeordnete von Saragossa R. Mattathias
seinem Gegner spöttisch den Vorschlag machte, aus demselben Tal-
mudtext auch noch den Spruch mitanzuführen: „Es mögen verrecken,
die da die Endzeit der Welt berechnen wollen“. Der ob dieser Dreistig-
keit erboste Papst rief aus: „Törichtes Volk, wie töricht sind doch
eure Talmudisten ! Geziemt es sich denn, gegen den Propheten Daniel,
der Berechnungen über die Endfrist auf stellte, Verwünschungen aus-
zustoßen?“ Der Abgeordnete von Gerona Todros ibn Jachia versetzte
indessen schlagfertig: „Wenn die Talmudisten wirklich so töricht
sind, wie es dem päpstlichen Herrn erscheint, warum sucht man denn
bei ihnen Beweise dafür, daß der Messias bereits gekommen sei? Seit
wann ist es Brauch, sich auf Toren zu berufen!“ Und auch Joseph
Albo rief zornentbrannt aus: „Sogar wenn ihr mir beweisen solltet,
daß der Messias bereits erschienen sei, würde ich dennoch an mei-
nem Judentum festhalten“. Der Führer der jüdischen Delegierten
Vidal Benveniste sprach auf der Stelle sein Bedauern über die
schroffe Ausdrucksweise seiner Mitstreiter aus, und nach Aufhebung
der Sitzung kam es zwischen den jüdischen Delegierten zu lebhaften
Auseinandersetzungen: die allzu kühnen Disputanten, die sich trotz
der getroffenen Verabredung keine Zurückhaltung auferlegt hatten,
mußten sich wegen ihres Disziplinbruches nicht wenig Vorwürfe ge-
fallen lassen. Den Delegierten war es nämlich nicht entgangen, daß
die Debatten unter der Kontrolle des Sitzungsleiters zu Protokoll auf-
genommen wurden, und so entstand die Befürchtung, daß man ihnen
auf Grund ihrer Meinungsäußerungen später den Prozeß machen
356
§ 50. Die Disputation zu Tortosa
würde. Sie faßten daher den Entschluß, der Beantwortung verfäng-
licher Fragen soweit wie möglich auszuweichen und für alle Fälle
bei der Erörterung der einzelnen Punkte nur je einen Redner spre-
chen zu lassen.
Bald wurde in den Mittelpunkt der Diskussion die von altersher
umstrittene Frage über die in der Bibel enthaltenen, angeblich auf
Christus bezüglichen messianischen Prophezeiungen gerückt. Damit
war der gefährlichste Streitpunkt: die Frage von dem eigentlichen
Wesen des Messias an die Reihe gekommen. Die Juden bestritten zwar
nicht, daß der Messias schon längst geboren sein könnte, meinten
aber, daß er sich jedenfalls der Welt noch nicht offenbart habe, und
daß er, solange die Stunde der Erlösung für Israel noch nicht geschla-
gen hat, entweder gleich dem Chanoch oder Elias im Himmel verharre
oder aber unerkannt das irdische Jammertal durchwandere. Damit
stellten sie sowohl die göttliche Natur des Messias als auch seinen
Beruf, das Menschengeschlecht vpn der Erbsünde zu erlösen, aufs
unzweideutigste in Abrede, was auf heftigsten Widerspruch von seiten
des Papstes, des Geronimo und ihrer Genossen stieß. Hin und wieder
reichten die Juden ihre Thesen in schriftlicher Form ein, worauf
Geronimo sich zur Abfassung von Gegenthesen veranlaßt sah, die er
dann in einer ganzen Reihe von Sitzungen mit Ungestüm verfocht.
Die jüdischen Delegierten bekundeten in ihren Meinungsäußerungen
v fast durchweg volle Einmütigkeit und nur in einem einzigen Punkte
gingen ihre Ansichten auseinander. Als nämlich Geronimo in einer der
Sitzungen den Talmud zu schmähen begann und zur Zielscheibe sei-
ner Angriffe manche phantastische Legenden aus der Haggada wählte,
überreichte Astruc Halevi der Gegenpartei eine schriftliche Erklärung
des Inhalts, daß er den Legenden keinerlei religiöse Bedeutung bei-
messe; wiewohl seine Erklärung von den meisten Delegierten gutge-
heißen worden war1), traten ihm Joseph Albo und Rabbi Ferrer
(Vidal Benveniste) dennoch in scharfer Form entgegen, indem sie den
haggadischen Teil des Talmud als dem halachischen ebenbürtig er-
klärten und nur das eine Zugaben, daß viele von den in der Haggada
enthaltenen Aussprüchen und Legenden in übertragenem Sinne ver-
standen werden müßten. Es war dies die Fortsetzung jenes alten
1) Das amtliche, von den Mönchen geführte Protokoll der Disputation macht
aus dieser Deklaration eine durch die christliche Überredungskunst erzwungen©
Preisgabe der „Garstigkeiten des Talmud“.
357
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
Streites über die Verbindlichkeit der Haggada als Quelle der Dog-
matik, der Rationalisten und Konservative von jeher entzweite.
Nachdem sich Benedikt von der Fruchtlosigkeit des von ihm in-
szenierten Wortgefechtes überzeugt hatte, versuchte er, der jüdischen
Delegation durch die in Reserve gehaltenen schlagenderen Mittel bei-
zukommen. Man begann Scharen von durch die Mönche terrorisierten
Juden aus verschiedenen Städten nach Tortosa zu befördern und
zwang sie, im Sitzungssaal vor den versammelten jüdischen Volks-
f (ihrem die Formel der Lossagung vom Judentum zu sprechen. Da-
durch sollte den Abgeordneten vor Augen geführt werden, daß viele
Gemeinden von der Kirche bereits erobert seien und daß die Syna-
goge hart vor dem Sturze stehe. Indessen verfehlten auch diese effekt-
vollen Vorführungen gänzlich ihr Ziel, wiewohl sie den Delegierten
unsägliche moralische Qualen bereiteten. Das Interesse für die Dis-
putation ebbte inzwischen merklich ab. Benedikt mußte immer
häufiger Tortosa verlassen, um .sich bei seinen Parteigängern in
eigener Sache Rat zu holen: um diese Zeit wurden nämlich Vorbe-
reitungen zu der großen Kirchenversammlung getroffen, auf der die
Entscheidung über die drei miteinander rivalisierenden Päpste, von
denen Benedikt die geringsten Aussichten auf Anerkennung hatte,
endgültig fallen sollte. Während seiner Abwesenheit führte in den
Disputationssitzungen statt seiner der General des Dominikanerordens
oder ein anderer geistlicher Würdenträger den Vorsitz. Zweimal
wurde die Diskussion für einige Monate unterbrochen, so daß sich
die Veranstaltung bis in den Herbst des Jahres i4i4 hinzog, wobei
die letzten Sitzungen nicht mehr in Tortosa, sondern in dem nahe-
gelegenen St. Mattheo abgehalten wurden. Es wurde immer klarer,
daß die Disputation ein Versuch mit untauglichen Mitteln sei. Wie-
wohl die Partei des Benedikt das Gerücht in Umlauf setzte, daß
manche von den Delegierten sich während der Disputation von der
Wahrheit des Christentums überzeugt hätten, war in Wirklichkeit
kein einziger von ihnen zurückgewichen: die lügenhaften Meldungen
beruhten auf einer absichtlichen Verwechslung der willenlosen Opfer
des Missionsterrors mit der tapferen Schar der jüdischen Wortführer.
Jedenfalls war die Hoffnung Benedikts, daß er auf dem bevorstehen-
den Konstanzer Konzil sich seines Triumphes über die maßgebenden
Vertreter des Judentums werde rühmen können, endgültig vereitelt.
Der enttäuschte Papst machte seinem Zorn in einer gegen das Juden-
358
§ 50. Die Disputation zu Tortosa
tum erlassenen grausamen Bulle Luft (Mai i4i5). Er gab darin den
Befehl, alle zutage geförderten Exemplare des „gotteslästerlichen
Talmud“ sowie sonstige gegen das Christentum gerichtete polemische
Schriften zu vernichten; den Juden in jeder Stadt nur ein einziges
bescheidenes Bethaus zu belassen; sie in jeder Weise von den Chri-
sten abzusondern; den Christen zu untersagen, den Juden auch nur
den geringsten Dienst zu erweisen, etwa an Sabbattagen in ihrer Be-
hausung das Licht anzuzünden und auszulöschen oder Feuer zu ma-
chen, und endlich die Juden mindestens dreimal im Jahre zum An-
hören antijüdischer Missionspredigten zu zwingen.
Die Bulle Benedikts XIII. büßte indessen ihre Kraft bald ein, da
ihr Urheber noch in demselben Jahre sogar in seinem Vaterlande Ara-
gonien nicht mehr als Papst anerkannt wurde. Das Konstanzer Konzil
stellte fest, daß den „Benedikt XIII. genannten Pedro de Luna“ die
Hauptschuld an der Kirchenspaltung treffe und faßte den Beschluß,
daß „er, ein verdorrter Zweig am Baume der katholischen Kirche,
abgehauen werden müsse“ (i4i5). Nach diesem Urteilsspruch rück-
ten von dem aller Ämter und Würden enthobenen ehemaligen Papst
auch seine nächsten Mitstreiter, der Bischof Paul von Burgos und Vi-
cente Ferrer ab. Ferrer brandmarkte nunmehr seinen früheren Gön-
ner als einen „zuchtlosen und scheinheiligen Papst“. Übrigens wurde
auch Ferrer selbst mitsamt seiner Flagellantenbande von der Kon-
stanzer Kirchenversammlung statt der erhofften Anerkennung ein
sehr wenig schmeichelhaftes Leumundszeugnis zuteil. Zusammen mit
ihm verschwand von der Oberfläche auch der andere Günstling des
Benedikt, Josua aus Lorca oder Geronimo de Santa-Fe, der sich seit-
dem nur noch auf dem Gebiete der literarischen Polemik versuchte.
Er verfaßte zwei Schriften: „Gegen den Afterglauben der Juden“
(Contra Judaeorum perfidiam) und „Gegen den Talmud“, die die
von ihm bei der Disputation in Tortosa gegen das Judentum vorge-
brachten Argumente verewigen sollten. Die in der ersten dieser Schrif-
ten enthaltene Apologie des Christentums ist überreich an Wunder-
lichkeiten, die nicht selten auch als höchst unflätig erscheinen (so
der aus Jeheskel 44, 2 abgeleitete Beweis für die unbefleckte Emp-
pfängnis). Im jüdischen Schrifttum lebt dieser Renegat unter dem
Beinamen „Megadef“ (Gotteslästerer) fort, der zugleich als Abbrevia-
tur seines christlichen Namens: Maestro Geronimo de Santa-Fe ge-
deutet wurde. Mit literarischen Waffen bekämpfte das Judentum ge-
359
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
gen Ende seines Lebens auch der andere Renegat, der früher, im
Vollbesitze seiner Macht, das von ihm verratene Volk mit dem
Schwerte der Staatsgewalt bekriegte. Der nach der Aufhebung der
Regentschaft in Kastilien seiner Macht endgültig beraubte greise Pau-
lus von Burgos fand nämlich die Muße, ein Buch unter dem Titel:
„Gespräch zwischen Paulus und Saulus gegen die Judäer“ oder „Die
Prüfung der Schrift“ (Scrutinium Scripturarum) zu schreiben, in
dem es unter anderem heißt, daß alle den spanischen Juden seit der
Zeit des berüchtigten Martinez beschiedene Bedrängnis als eine wohl-
verdiente Strafe für die Kreuzigung Christi zu betrachten sei. Paulus
selbst hat jedenfalls nichts unterlassen, um, in den Fußstapfen des
Martinez wandelnd, die Leiden seiner ehemaligen Glaubensgenossen
nach Kräften zu verschärfen.
§ 51. Die zeitweilige Restauration (1U15—lh5U)
Nach dem überstandenen Ungemach war den jüdischen Gemein-
den Spaniens von neuem eine kurze Atempause vergönnt. Der auf
dem Konstanzer Konzil neugewählte Papst Martin V. untersagte, vor
allem mit Rücksicht auf die spanischen Verhältnisse, jede gewaltsame
Bekehrung von Juden (i4i8), um sodann auf die Vorstellungen einer
jüdischen Abordnung hin speziell für Spanien eine Bulle zu erlassen,
durch die alle auf die Absonderung der Juden von den Christen ab-
zielenden Verfügungen Benedikts XIII. außer Kraft gesetzt wurden.
Die Bulle vom Jahre i[\2i gestattete den Christen ausdrücklich, die
Dienste jüdischer Finanzmänner und Handelsagenten in Anspruch zu
nehmen, sich von jüdischen Ärzten behandeln zu lassen, wie über-
haupt jedweden geschäftlichen Verkehr mit den Juden zu pflegen.
Einen viel nachhaltigeren Eindruck als die päpstlichen Bullen übten
jedoch auf die spanischen Herrscher die schweren wirtschaftlichen
Folgen aus, die der langjährige kirchliche Terror und die Massen-
auswanderungen der Juden nach sich gezogen hatten. So entschloß
sich denn die aragonische Reichsverweserin, die Königin Maria, Maß-
nahmen zur Eindämmung der Emigration zu ergreifen und den im
Lande verbleibenden Juden allerlei Vergünstigungen in Aussicht zu
stellen.
Besonders kraß trat dieser Umschwung in Kastilien zutage, das
noch vor kurzem der Herd der klerikalen Seuche für das ganze spa-
36o
§ 51, Die zeitweilige Restauration (1U15—1U5U)
nische Land gewesen war (oben, § 4g). Nachdem die glaubenseifrige
Königin Catalina gestorben war, wurde der von ihr zusammen mit
dem Renegaten von Burgos geleitete Regentschaftsrat aufgelöst. Die
Regierung übernahm formell König Juan II. (i4i8—1454), wäh-
rend die tatsächliche Gewalt in den Händen seines ersten Ministers,
des liberalen Alvaro de Luna lag. Die neue Regierung war sich dar-
über im klaren, daß die Verarmung vieler Städte, der Verfall jener
Industriezweige, die ehedem von den Juden und Mauren gepflegt
worden waren, die Zerrüttung der früher durch die Findigkeit der
jüdischen Steuerpächter und Bankiers im Gleichgewicht erhaltenen
Staatsfinanzen — daß dies alles nur auf das Konto des kirchlichen
Terrors zu setzen war. Die kastilischen Staatsmänner beschlossen da-
her, den inneren Frieden im Lande so schnell wie möglich wieder-
herzustellen. Die Juden wurden von neuem in ihre alten Rechte ein-
gesetzt und den kapitalkräftigeren und unternehmungslustigeren un-
ter ihnen wurde die Pacht der Staatseinkünfte übertragen; zugleich
ermöglichte es die Regierung den jüdischen Gemeinden, ihre Selbst-
verwaltung auszubauen und auf eine sichere Basis zu stellen. Das un-
ter Heinrich III. und Meir Alguadez begonnene und durch die zer-
störende Macht des Klerikalismus so jäh unterbrochene Restaurations-
werk wurde jetzt mit aller Energie von neuem auf genommen.
Als Hauptförderer dieses Aufbauwerkes tat sich der am kastili-
schen Hofe hoch angesehene jüdische Führer Abraham Benveniste
hervor, der als offizieller Vermittler zwischen den jüdischen Gemein-
den und der Regierung den Titel „Hofrabbiner“ (rabi de la corte)
führte. Die Aufgabe, die Benveniste zu bewältigen hatte, war nicht
leicht: es galt, die durch die unzähligen Judenhetzen und durch die
Massentaufen in völligen Verfall geratene Gemeindeverfassung von
Grund auf wieder aufzubauen. An manchen Orten machte sich so-
gar ein Mangel an Andachtsstätten fühlbar, da während der Schrek-
kensherrschaft viele Synagogen in Kirchen umgewandelt worden wa-
ren. Die soziale Zucht war zerrüttet, die Familienbande waren ge-
lockert, die Grundfesten des religiös-sittlichen Lebens erschüttert;
überall machte sich Willkür und Zügellosigkeit breit. Während die
Wohlhabenderen dem Vergnügen nach jagten, in Luxus schwelgten
und die Mißgunst der Christen erregten, kämpfte die große Masse
des Volkes verzweifelt ums Dasein und verharrte in tiefster Unwissen-
heit. Die Schulen standen leer, die Jugend war verwahrlost und de-
36i
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
moralisiert, immer kühner trieben Denunzianten und sonstige dunkle
Ehrenmänner ihr Unwesen. Die schweren Mißstände bewogen Abra-
ham Benveniste, mit königlicher Genehmigung in Valladolid eine
Rabbiner- und Ältestenkonferenz einzuberufen (i432). Die Versamm-
lung arbeitete ein umfassendes Statut („Tecana“ oder „Eskama“ in
der jüdisch-spanischen Umgangssprache) aus, das zum Grundgesetz
der jüdischen Gemeinden Kastiliens werden sollte. Dem Statut lagen,
wie es scheint, aus älterer Zeit stammende Statuten der einzelnen Ge-
meinden zugrunde, doch wurden sie jetzt, den Zeitforderungen ent-
sprechend, durch neue Vorschriften ergänzt und zu einer einheit-
lichen Verfassung der gesamten „Kahale“1) von Kastilien zusammen-
gefaßt. Der Gesetzgeber richtete hierbei sein Hauptaugenmerk auf
die Bekämpfung jener inneren Miß stände, die unter der allgemeinen
Zerrüttung immer weiter um sich griffen. So wurden jenen Reichen,
die sich zum Schaden der ärmeren Gemeindemitglieder mit Hilfe von
allerlei Machenschaften oder unter dem Schutze der christlichen Be-
hörden der Entrichtung der Staats- und Gemeindesteuern zu ent-
ziehen pflegten, die strengsten Strafen in Aussicht gestellt. Zugleich
sollten nach den neuen Bestimmungen auch die Denunzianten schärfer
bestraft werden, jene „Malschinim“ oder Erpresser, die schon in den
früheren Jahrhunderten von den Gemeinden als ein Erzübel bekämpft
worden waren und nun, angesichts der Zuspitzung der Beziehungen
zwischen Juden und Christen, eine besonders schwere Gefahr be-
deuteten. Dem rabbinischen Kahalgericht wurde das Recht einge-
räumt, diese Schädlinge zu Geldstrafen, Kerkerhaft, aber auch zu
Prügelstrafen zu verurteilen; der zum dritten Mal der Angeberei Über-
führte konnte von dem Oberrichter, dem „Hofrabbiner“, auch zum
Tode verurteilt werden, nur bedurfte der Urteilsspruch in diesem Falle
der königlichen Sanktion. Zur Aufrechterhaltung von Zucht und Sitte
sowie zur Vermeidung unliebsamer Reibungen mit der umgebenden
Landesbevölkerung untersagte das Statut der Frauenwelt, allzu eifrig
der Putzsucht zu huldigen: „Mögen unsere Männer und Frauen nie
vergessen, daß sie im Galuth schmachten und nicht auf eigenem
Grund und Boden stehen“. Die durch die Ordonnanz vom Jahre 1/U2
1) Um diese Zeit bürgert sich als Bezeichnung für die jüdische Gemeinde
statt des alten arabisch-spanischen Ausdrucks „Aljama“ immer mehr das he-
bräische Wort „Kahal“ ein, das uns denn auch in dem in spanischer Sprache,
jedoch in hebräischen Schriftzeichen abgefaßten Statut von Valladolid bereits als
terminus technicus entgegentritt.
362
§ 51. Die zeitweilige Restauration (1Ü15—1U5U)
eingeführte Kleiderordnung scheint eben der Prunksucht der Frauen
nur wenig Abbruch getan zu haben. Das Schule und Bildung be-
treffende Kapitel machte es jeder fünfzehn Familien zählenden Ge-
meinde zur Pflicht, einen Lehrer für den Elementarunterricht anzu-
stellen, während eine vierzig Familien vereinigende Gemeinde auch
noch eine höhere Talmudschule unterhalten mußte und die großen
Gemeinden sogar für die Errichtung von Hochschulen („Jeschiboth“)
Sorge zu tragen hatten. In ausführlichster Weise sind ferner in dem
Statut Rechte und Pflichten der Rabbiner, der „Dajanim“ und sonsti-
ger von den Gemeinden zu wählender Mitglieder der Kahalverwal-
tung geregelt. Die Konferenz von Valladolid erklärte das von ihr gut-
geheißene Statut für alle kastilischen Gemeinden auf die Dauer von
zehn Jahren für verbindlich, so daß es erst nach Ablauf der festge-
setzten Frist von einer neuen Konferenz einer Revision unterzogen
werden durfte.
Die Restauration der jüdischen Gemeinden und der in dem Ver-
halten der Regierung den Juden gegenüber eingetretene Umschwung
erfüllte die klerikale Partei mit größtem Unbehagen. Die Söhne des
Renegaten Paul von Burgos, von denen Alfons de Cartagena auch
den väterlichen Bischofssitz in Burgos geerbt hatte, träumten von der
Wiederkehr der Zeiten, da die predigenden Mönche die Juden zu Tau-
senden der Kirche in die Arme zu treiben vermocht hatten. Ein schwe-
res Ärgernis war für sie die im Jahre i435 vom Papste Eugen IV.
erlassene Bulle, die es den Missionaren untersagte, die christlichen
Massen gegen die Juden aufzuhetzen. Bald bot sich Alfons auf dem
großen Baseler Konzil, zu dem er aus Kastilien abgeordnet worden
war, die Gelegenheit, die „jüdische Frage“ erneut aufs Tapet zu
bringen, und es gelang ihm, Papst Eugen IV. die Überzeugung bei-
zubringen, daß der im Wachsen begriffene Einfluß der spanischen
Juden für das Land eine große Gefahr bedeute. Hierauf veröffent-
lichte der Papst mit Zustimmung des Konzils eine Bulle (i442),
durch die er die von Martin V. und von ihm selbst gewährten Er-
leichterungen widerrief, der Geistlichkeit die weitestgehenden Voll-
machten für die Entfaltung der Missionstätigkeit verlieh und ihr zu-
gleich anempfahl, die Befolgung aller kirchlichen Kanons streng-
stens zu überwachen. Da die wiedereingeführten Repressivmaßnah-
men, die vor allem jeden Verkehr zwischen Christen und Anders-
gläubigen unterbinden sollten, sich auch auf die Mauren erstreckten,
363
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
mußten sie in Kastilien heftigste Erregung hervorrufen. Der neue
Vorstoß der Kirche drohte in dem nach der Krise mit Müh und Not
in Gang gebrachten wirtschaftlichen Leben, in dem Juden und Mauren
die treibenden Kräfte waren, wieder einmal größte Verwirrung zu
stiften.
Dies alles geschah während der Zeit, als der Kanzler von Kasti-
lien, Alvaro de Luna, auf Betreiben der Klerikalen zeitweilig seines
Amtes enthoben war. Die bald in der Verwaltung eingetretenen Miß-
stände nötigten jedoch den König Juan, den tatkräftigen Kanzler
erneut mit der Leitung der Staatsgeschäfte zu betrauen. Die reaktio-
nären Anschläge waren vereitelt. Den jüdischen Gemeinden gelang
es, wohl unter Mitwirkung des Abraham Benveniste, die Veröffent-
lichung eines königlichen Erlasses zu erwirken (erging im April i443
in Arevalo), in dem die päpstliche Bulle eine Interpretation erfuhr,
die sie praktisch wirkungslos machte. Das Dekret verkündete näm-
lich, daß die Bulle Juden und Mauren durchaus nicht für vogelfrei
erklärt und ihnen auch nicht untersagt hätte, im Handel und Ge-
werbe die Mitarbeit von Christen in Anspruch zu nehmen (das De-
kret stellt ein ganzes Register der den Andersgläubigen zugänglichen
Gewerbearten auf: das Schneider- und Schusterhandwerk, die We-
berei, Töpferei, Tischlerei usw.), da diese Berufsarten nicht unter
den Begriff eines mit Machtbefugnissen gegenüber christlichen Be-
diensteten ausgestatteten öffentlichen Amtes fielen. Um jedoch durch
die den Andersgläubigen eingeräumten wirtschaftlichen Freiheiten die
Kirche nicht allzusehr zu reizen, machte ihr der König in demselben
Dekret manche die Lebensführung ihrer „Feinde“ betreffende Zu-
geständnisse. Er schrieb vor, daß die Juden in den Städten nach wie
vor in besonderen Vierteln leben sollten und daß ihr Wohnrecht
dort, wo es solche Viertel noch nicht gebe, auf besondere Straßen
beschränkt werde; auch das Gesetz über die jüdische Sondertracht
oder das Judenzeichen sollte in Kraft bleiben; ebenso sollte das Ver-
bot, wonach Christen sich nicht von andersgläubigen Ärzten behan-
deln lassen durften, bestehen bleiben, allerdings nur soweit sie nicht
ausschließlich auf die Dienste dieser Ärzte angewiesen waren und
soweit die Arzneien nicht von Glaubensgenossen zubereitet wurden.
Den die Juden durch Rechtsbeschränkungen hart bedrängenden Stadt-
räten rief Juan II. in Erinnerung, daß die Andersgläubigen unter kö-
nigliche Vormundschaft gestellt seien und daß auf die Verletzung
364
§ 52. Die Bewegung gegen die Marranen
der ihnen zugesicherten Unantastbarkeit von Leben und Besitz strenge
Strafen stünden.
So stemmte sich die auf den Aufbau des Landes bedachte staats-
männische Besonnenheit mit aller Kraft gegen die zerstörenden Mächte
des kirchlichen Fanatismus; doch sollte der gesunde Menschenver-
stand in dem von entfesselten Leidenschaften beherrschten politischen
Kampf schließlich den Kürzeren ziehen. Der Judenhaß, von dem die
christlichen Massen Spaniens in dieser Epoche beseelt waren, richtete
sich übrigens weniger gegen die rechtgläubige Judenheit als vielmehr
gegen jene unzähligen „Neuchristen“ jüdischer Herkunft, die von dem
Klerus selbst der Kirche zugeführt worden waren. Die Angst vor
dem außerhalb der Kirche stehenden äußeren Feind erfuhr eine
schwere Komplikation durch die Befürchtung, daß die Überläufer
aus dem feindlichen Lager in das Innere der kirchlichen Festung
nur zu dem Zwecke eingedrungen seien, um sie von innen her um
so sicherer in die Luft sprengen zu können.
§ 52. Die Bewegung gegen die Marranen
Seit der Zeit des klerikalen Terrors, der Tausende und Abertau-
sende von kastilischen und aragonischen Juden zu Gefangenen der
Kirche machte, hielt die „Konvertiten“ (Gonversos)- oder „Neuchri-
sten“-Frage die christliche Welt fortwährend in Spannung. Gründe
zum Alarmschlagen gab es übergenug. Einerseits war es klar, daß
die überwiegende Mehrheit der Neubekehrten zwar die christliche
Taufe, nicht aber die christliche Religion angenommen hatte. Die
Fronknechte der Kirche, die „Anussim“, blieben im tiefsten Grunde
ihres Herzens treue Anhänger ihres nationalen Glaubens und hiel-
ten insgeheim an seinen Gesetzen mit der den Verfolgten eigenen
Leidenschaftlichkeit unentwegt fest. Sie vermieden es, ihre Kinder
taufen zu lassen, und wenn sie sich dazu gezwungen sahen, beeilten
sie sich, das Kind nach der Taufe von dem „Weihwasser“ wieder
reinzuwaschen; wiewohl sie um des äußeren Scheines willen die Kirche
besuchten, pflegten sie zugleich im geheimen ihre Andacht in der
Synagoge zu verrichten, den Sabbat und die Feiertage zu heiligen
und die Speisegesetze nebst den anderen jüdischen Bräuchen streng-
stens zu beobachten. Dies konnte den Christen unmöglich verborgen
bleiben, und so beschloß die katholische Geistlichkeit schon im Jahre
365
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
i[[2Q auf dem Konzil zu Tortosa, gegen solche „Judaisierende“ ener-
gische Maßnahmen zu ergreifen. Allein neben den „geheimen Juden“,
die ihre unfreiwillige Abtrünnigkeit mit den größten Seelenqualen
erkauften, gab es andererseits nicht wenig Konvertiten, die aus ihrer
neuen Lage den größtmöglichen Vorteil zu ziehen suchten. Im Ge-
nüsse des Vollbürgerrechtes, häuften sie durch ihre Handelstätigkeit
große Reichtümer an, erwarben herrschaftliche Besitzungen, bekleide-
ten hohe Ämter in der Zivilverwaltung, in der Armee und sogar in
der Kirche und verschwägerten sich häufig mit den vornehmsten spa-
nischen Familien. Dieser Gruppe eben entstammten solche geschwo-
rene Feinde des Judentums wie Geronimo de Santa-Fe oder Paul
von Burgos und seine Abkömmlinge. Indessen bildeten sie auch un-
ter den Strebern nur eine seltene Ausnahmeerscheinung, während
in der Regel auch hier die Verbindung mit den verlassenen Stam-
mesbrüdern Generationen hindurch in der einen oder anderen Weise
aufrechterhalten wurde, um so mehr als viele dieser assimilierten
Konvertiten noch immer Verwandte unter den Juden zählten und
auch ihre Sympathien für das Judentum noch nicht gänzlich er-
loschen waren. So war es nur natürlich, daß in der spanischen Ge-
sellschaft, in der der Einfluß dieser fremdartigen Elemente in ste-
tem Wachsen begriffen war, ein unterschiedslos gegen alle Konver-
titen gerichtetes, mit Angst vermischtes Mißtrauen immer weiter um
sich zu greifen begann. Geheimer Sympathien für das Judentum
wurden sogar diejenigen verdächtigt, bei denen jede Spur solcher
Gefühle schon längst verwischt war. Man witterte überall ein Ränke-
spiel der „inneren Feinde der Kirche“. Den „Neuchristen“ oder „Gon-
versos“ legte man nunmehr den Beinamen Marranen (maranos oder
marranos) zu, was auf spanisch so viel wie „Verdammte“ oder
„Schweine“ hieß. Es kam der Augenblick, da man die sich offen
zu ihrer Religion bekennenden Juden in Ruhe ließ, um mit desto
größerem Eifer mit den viel „schädlicher“ scheinenden geheimen Ju-
den ins Gericht zu gehen.
Die Bewegung gegen die Marranen verriet zunächst eher einen
sozialen und wirtschaftlichen als einen religiösen Charakter. Sie kam
zuerst in der Hauptstadt Kastiliens, Toledo, im März i449 zum Aus-
bruch. Die Ereignisse verliefen folgendermaßen. Der Kanzler Alvaro
de Luna forderte von der Stadt für Landesverteidigungszwecke die
Summe von einer Million Maravedi, stieß aber auf den Widerstand
366
§ 52. Die Bewegung gegen die Marranen
des Stadtrates. Hierauf erhielten die Steuereinnehmer, die sich haupt-
sächlich aus „Neuchristen' ‘ rekrutierten, den Befehl, den Wehrbeitrag
zwangsweise einzutreiben. Kaum gingen sie jedoch an die Ausführung
des Befehls, als auch schon das Haus des reichen Steuerpächters Al-
fonso de Gota von den herbeigeeilten Bürgern umzingelt und in Brand
gesteckt wurde, worauf die wütende Menge auch die Häuser der an-
deren Marranen zu zerstören begann. Trotz verzweifelter Gegen-
wehr wurden die Überfallenen überwältigt und ihre Führer ermordet,
wonach deren Leichen von dem blutberauschten Mob durch die Stra-
ßen geschleift und schließlich an den Füßen auf gehängt wurden.
Bei der ganzen Sache hatte zweifellos das Stadthaupt (alcalde ma-
yor) Sarmiento die Hand mit im Spiele. Er benützte die „Volksdemon-
stration" als Vorwand, um alle städtischen Ämter von den Marranen
zu säubern. Die von ihm einberufene Versammlung der Edelleute und
der Munizipalbeamten faßte den Beschluß, daß fortan kein „Neu-
christ" irgendein öffentliches Amt bekleiden dürfe. Auf Grund die-
ses Beschlusses wurden denn auch dreizehn Marranen, die in To-
ledo als Richter, Notare und Magistratsmitglieder tätig waren, kur-
zerhand abgesetzt. Von den in Toledo getroffenen Maßnahmen
wurden die anderen Städte verständigt und bald setzte auch dort
eine Agitation gegen die Neuchristen ein, die gleichfalls eher durch
soziale als durch religiöse Interessen bestimmt war. Die Marranen
beschwerten sich hierauf beim Papst, und Nikolaus V. erließ eine
Bulle, in der er seine Unzufriedenheit über die Handlungsweise
der Behörden von Toledo zum Ausdruck brachte und die Forderung
aussprach, daß die Neuchristen im Staats- und Kommunaldienst die
gleichen Rechte wie die Altchristen genießen sollten (i449)• Als je-
doch die kastilische Regierung zwei Jahre später dem Papste dar-
über Bericht erstattete, daß die Zahl der Scheinchristen immer grö-
ßer werde, bevollmächtigte Nikolaus V. die spanischen Bischöfe, be-
sondere Inquisitoren einzusetzen, die alle diejenigen, „welche sich
mit den Lippen zum Christentum bekennen, in Wirklichkeit aber an
den Bräuchen der Juden festhalten", ausfindig machen sollten, um
sie ohne Rücksicht auf Amt und Würde festzunehmen, einem Ver-
hör zu unterziehen und durch das Inquisitionstribunal aburteilen zu
lassen (i45i).
Ungeachtet all dieser Verfolgungen und Repressalien drangen die
Marranen immer tiefer in die höchsten Kreise der christlichen Ge-
367
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
Seilschaft ein. Weitgehenden politischen Einfluß erlangten sie na-
mentlich unter dem kastilischen König Heinrich IY. (i454—i474)>
unter dem der Nachkomme eines getauften Juden, Diego Davila, die
Verwaltung der Reichsfinanzen in seiner Hand hatte und als „Haupt-
schatzmeister“ (contador mayor) die Staatszölle und -steuern an seine
Verwandten aus den Reihen der Neuchristen und sogar der Juden zu
verpachten pflegte. Von neuem tauchten bei Hofe, gleichsam den
päpstlichen Bullen zum Trotz, jüdische Ärzte auf. Der Hofarzt Jakob
Nunez wurde von Heinrich IV. zum „Hofrabbiner“ (rabi de la corte)
ernannt und mit der Repartierung der Steuerlasten unter die einzel-
nen Gemeinden sowie mit der Verteilung der eingesammelten Be-
träge unter die Infanten und die eine Staatsrente beziehenden Wür-
denträger betraut. Den kastilischen Prinzen und den hohen Beam-
ten, die so aus der den Juden gegenüber auf finanziellem Gebiete
waltenden Toleranz unmittelbaren Nutzen zogen, machte zwar der
Liberalismus der Regierung nur wenig Sorge, doch erregte er um so
größeren Anstoß bei den anderen Vertretern des adeligen Standes.
Dies der Grund, weshalb die Entscheidungen der verschiedenen um
jene Zeit zusammen tretenden Cortes einander so scharf widerspre-
chen: während im Jahre 1462 die Cortes von Toledo den König
darum angingen, alle den Handel und das Kreditgeschäft der Juden
zum Nachteil des Staatsschatzes und der kreditbedürftigen Bevölke-
rung hemmenden Einschränkungen fallen zu lassen, forderten die-
selben Cortes drei Jahre später, als in ihnen die judenfeindliche Partei
die Oberhand gewonnen hatte, daß der grausamen Ordonnanz vom
Jahre i4i2 erneut Gesetzeskraft verliehen werde. Im Jahre i46g
wiesen die Cortes darauf hin, daß das vom König den Juden gegen-
über bekundete Wohlwollen die Bischöfe dazu verleite, sogar kirch-
liche Ländereien Ungläubigen, Juden und Mauren, in Pacht zu geben.
Zwischen diesen verschiedenartigen Einflüssen schwankte nun der Kö-
nig unausgesetzt hin und her.
Einer der böswilligsten Hetzer jener Zeit war der Beichtvater des
Königs, Alfonso de Espina, General des Franziskanerordens und Rek-
tor der Universität von Salamanca. In seinen Kirchenpredigten rief
de Espina in einem Atem zum Kampfe gegen Ketzer, Mauren und
Juden auf. Die letzteren boten ihm Stoff zu zwiefacher Anklage, da
er sie in ihren beiden Erscheinungsformen: als sich offen zu ihrer
Religion bekennende und als geheime Juden (judios publicos, judios
368
§ 52. Die Bewegung gegen die Marranen
ocultos) in gleicher Weise verdammte. Einen umfangreichen Anklage-
akt gegen die Juden der beiden Kategorien enthält seine Schrift „Die
Verteidigung des Glaubens gegen Juden, Sarazenen und sonstige
Feinde der christlichen Religion“ („Fortalicium Fidei“, um i46o).
Das Buch stellt eine plumpe Fälschung der jüdischen Geschichte so-
wie der Lehren des Judaismus dar. Alle unsinnigen mittelalterlichen
Anschuldigungen: die der Ermordung christlicher Kinder, der Ho-
stienschändung, der Brunnen Vergiftung werden hier als überzeugende
Indizien hingestellt, auf Grund derer über das jüdische Volk der Stab
gebrochen werden müsse. Da der Franziskaner keine Hoffnung mehr
hegt, aus den erwachsenen Juden gute Christen zu machen, rät er,
ihnen ihre unmündigen Kinder wegzunehmen, um wenigstens diese
zu treuen Söhnen der Kirche heranzuziehen. Als Waffe gegen die
judaisierenden Marranen weiß er aber nur das Inquisitionstribunal
und den Scheiterhaufen zu empfehlen. De Espina beschränkte sich
indessen nicht allein auf mündliche und schriftliche Agitation, son-
dern versuchte mit Hilfe der Mönche wegen angeblich von Juden
begangener Ritualverbrechen aufsehenerregende Prozesse zu inszenie-
ren, die das sicherste Mittel boten, die Massen zu Exzessen um des
Ruhmes der Kirche willen aufzustacheln. Hie und da gelang es ihm
denn auch, solche Verleumdungen in Umlauf zu setzen und die christ-
lichen Seelen in Wallung zu bringen. Manche der Befolgung jüdi-
scher Bräuche überführte Marranen wurden vor das bischöfliche Ge-
richt zitiert und zur Verbrennung auf dem Scheiterhaufen verurteilt.
Die wegen der Neuchristen entbrannten Leidenschaften riefen
schließlich in der spanischen Gesellschaft eine Spaltung hervor. Wäh-
rend die Anhänger der konservativen Partei sich von den Neuchristen
in jeder Weise abzusondern suchten, ihnen den Zutritt zu ihren Fa-
milien verwehrten und sich ihrer Einsetzung in öffentliche Ämter
widersetzten, war die liberale Partei, die eine bedeutende Zahl von
Neuchristen unter ihren eigenen Mitgliedern zählte, eifrig bestrebt,
die Grenzlinie zwischen den echten Spaniern und den assimilierten
Nachkommen der getauften Juden endgültig zu verwischen. Der
Parteikampf führte gegen Ende der Regierung Heinrichs IV. sogar
zu blutigen Zusammenstößen. Im Juli des Jahres 1467 kam es in
Toledo zu einer grausamen Hetze. Die Altchristen stritten hier mit
den Neuchristen um die Vormachtstellung im Magistrat, an dessen
Spitze ein Gönner der Marranen, der Alcalde Alvaro Gomez stand.
24 Dabnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
369
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
Die Parteien gerieten zuerst in der Kathedrale aneinander, worauf
die Feindseligkeiten auch auf die Stadt Übergriffen. Der Alcalde und
der Führer der Neuchristen Ferdinando de la Torre besetzten alle in
die Innenstadt führenden Brücken und Tore und ließen die Sturm-
glocke läuten, um ihre Anhänger zur Selbstwehr zu versammeln; die
Altchristen alarmierten ihrerseits die Einwohner der Vorstädte, denen
es gelang, das von ihren Widersachern bewohnte reiche Stadtviertel
in Brand zu stecken, wobei mehr als tausend Häuser ein Raub der
Flammen wurden. Etwa hundertdreißig Marranen kamen im Hand-
gemenge um und auch ihr Anführer de la Torre fand am Galgen
den Tod.
Sechs Jahre später wiederholten sich die Ausschreitungen in
Cordova. Die vom Ortsbischof protegierten Klerikalen hatten hier
eine Brüderschaft unter dem Namen „Christliche Liebe“ gegründet,
von der dem Statute gemäß die Marranen ohne Rücksicht auf Rang
und Würde ausgeschlossen waren. Dies veranlaßte nun die Marranen,
als die Brüderschaft einmal (im März 147 3) eine feierliche Kirchen-
prozession veranstaltete, ihre Häuser demonstrativ zu verschließen und
völlig ungeschmückt zu lassen, was die Menge in heftige Erregung
versetzte. Plötzlich verbreitete sich das Gerücht, ein Mädchen hätte
aus einem Marranenhause, an dem die Prozession vorbeizog, Spülwasser
zum Fenster hinausgegossen, wobei das Bild der Mutter Gottes be-
sudelt worden sei. Daraufhin rannte die in Raserei geratene Menge
unter Anführung eines Schmiedes mit brennenden Fackeln zu den
Häusern der Marranen, um mordend und plündernd unter ihren Be-
wohnern zu wüten. Der Stadthauptmann Alfonso de Aguilar, dessen
Frau einer Marranenfamilie entstammte, sowie sein Bruder, der spä-
ter von der spanischen Armee als der „große Kapitän“ verherrlichte
Gonsalvo de Cordova ließen jedoch gegen die Mordgesellen einen
Trupp Soldaten vorrücken. Als der Stadthauptmann die Menge auf-
forderte, die Gewalttaten unverzüglich einzustellen, wurde er von dem
die Menge anführenden Schmied mit den unflätigsten Schimpfreden
überhäuft, worauf ihn Aguilar mit seinem Schwerte niederschlug.
Dies goß indessen nur Öl ins Feuer. Mit lauten Rufen nach Rache
stürzte sich die durch neuen Zulauf verstärkte Menge auf die Marra-
nen und ihre Verteidiger, überrannte die kleine Soldatenschar und
setzte ihr Vernichtungswerk mit noch größerer Grausamkeit fort:
Erwachsene wie Kinder wurden in bestialischer Weise niedergemetzelt,
370
§ 52. Die Bewegung gegen die Marranen
Frauen und Mädchen geschändet. Vielen Marranenfamilien gelang
es nur dadurch dem Verderben zu entrinnen, daß sie in die benach-
barten Ortschaften flüchteten.
Nach Toledo und Cordova kam die Reihe an einige andere kasti-
lische Städte (Carmona, Jaen u. a.). Besonders grauenvoll waren die
Exzesse in Segovia. Der Überfall auf Marranen und Juden wurde hier
von langer Hand vorbereitet. Schon im Jahre 1471 setzten die
Fanatiker das Gerücht in Umlauf, daß die jüdische Gemeinde in
Sepulveda, in der Nähe von Segovia, unter Anleitung ihres Rabbiners
einen Ritualmord verübt hätte, indem sie einen christlichen Knaben
ans Kreuz schlug. An der Sache nahm unter anderen der Ortsbischof
Johann Davila, der Sohn des oben erwähnten neuchristlichen Staats-
schatzmeisters, eifrigsten Anteil, wohl um durch die Verfolgung der
Juden aller Welt seine christliche Rechtgläubigkeit vor Augen zu
führen. Acht Mitglieder der Gemeinde von Sepulveda wurden hierauf
nach Segovia gebracht, gefoltert und hingerichtet, und auch in Sepul-
veda selbst fielen einige Juden der Volksjustiz zum Opfer. Indessen
blieben alle Bemühungen dieses dem Marranentum entstammenden
Bischofs, durch solche Gewaltmittel zwischen Neuchristen und Juden
einen scharfen Trennungsstrich zu ziehen, völlig erfolglos, und nach
der Hetze in Cordova ereignete sich eine ähnliche Katastrophe auch
in Segovia. Nur die zufällige Anwesenheit des Königs Heinrich be-
wahrte hier die Marranen vor restloser Ausrottung (1474)-
Die aus Cordova vertriebenen Neuchristen beschlossen nun, an
einem Orte Zuflucht zu suchen, wo sie ganz unter sich sein könnten
und vor den Gewalttaten der Fanatiker gesichert wären. Zu diesem
Zwecke wandte sich der Vertreter der Verbannten, Pedro de Herrera,
an den Statthalter der Provinz von Sevilla, den Herzog Medina-
Sidonia, mit dem Vorschlag, die von diesem kurz vorher den Mauren
entrissene Festung Gibraltar den Marranen zu überlassen. Die Marra-
nen erboten sich ihrerseits, den militärischen Schutz der Festung zu
übernehmen und dem Statthalter angemessene Steuern zu entrichten.
Der Herzog willigte ein und der Vertrag sollte in Sevilla unterzeichnet
werden. Mittlerweile begannen aber die Gegner der Marranen Alarm
zu schlagen: die Neuchristen könnten, so sagten sie, in Gibraltar mit
den afrikanischen Mauren in Verbindung treten und ihnen die Fe-
stung, den Schlüssel zum spanischen Lande, in die Hände spielen.
Durch Überredung und Drohungen gelang es schließlich den Fana-
24*
371
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
tikern, den Statthalter von seinem Vorhaben abzubringen. Der Ver-
trag kam nicht zustande, und so war es den Marranen nicht vergönnt,
auf Gibraltar ein autonomes Asyl zu begründen.
§ 53. Portugal als Zufluchtsstätte der spanischen Juden
Die Kolonie des jüdischen Spanien, Portugal, war hinter ihrer
Metropole um ein ganzes Jahrhundert zurückgeblieben. Obwohl gute
Katholiken und leidenschaftliche Glaubensschwärmer, hatten sich
indessen die Portugiesen die neuesten Kunstgriffe des spanischen Kle-
rikalismus noch nicht zu eigen gemacht: „Helden“ vom Schlage eines
Martinez oder Ferrer waren auf portugiesischem Boden noch nicht
erstanden. Es blieb hier nach wie vor jene Toleranzpolitik den Juden
gegenüber in Kraft, die vor der Krise des Jahres i3gi auch in Spa-
nien vorherrschend gewesen war. Das Wohnrecht der jüdischen Be-
völkerung war hier zwar auf die abgeschlossenen „Judarias“ be-
schränkt, doch wurde sie in ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit in keiner
Weise behindert, und viele reiche Juden standen als königliche Fi-
nanzagenten oder Steuerpächter sogar dem Hofe nahe, was ihnen
nicht selten zu politischem Einfluß verhalf. So konnte denn Portu-
gal den in Spanien verfolgten Juden und Marranen eine sichere Zu-
fluchtstätte bieten.
Im Schreckensjahr i3gi ließen sich hier, wie erwähnt, viele
Flüchtlinge aus Kastilien nieder, wobei die dort gewaltsam Getauften
sich in Portugal von neuem zu ihrer angestammten Religion beken-
nen durften. Wohl stand auf den Abfall vom katholischen Glau-
ben nach portugiesischem Gesetz eine schwere Strafe, doch verstand
es der Großrabbiner von Portugal Moses Navarro (oben, § 36), der
zugleich als Leibarzt des Königs Juan I. wirkte, das Unheil abzu-
wenden. Er legte nämlich dem König zwei päpstliche Bullen vor, wo-
nach die gewaltsame Taufe der Juden untersagt war. Auf Grund die-
ser Bullen erließ der König ein Dekret, demzufolge die kastilischen
Flüchtlinge an ihrer Religion ungehindert festhalten durften (1392).
Zwanzig Jahre später untersagte Juan I. der „Judengeißel“ Vicente
Ferrer, der auch die Portugiesen durch seine zündenden Predigten
aufzuwühlen gedachte, die Einreise in das von ihm regierte Land. Als
indessen der Missionsterror neue Scharen von „Anussim“ nach Por-
tugal trieb, die sich hier von der ihnen aufgezwungenen Religion in
372
§ 53. Portugal als Zufluchtsstätte der spanischen Juden
aller Form lossagten, befahl der König, die der Abtrünnigkeit Über-
führten den Gerichten zu übergeben (i4i4). Dies hatte aber nur zur
Folge, daß die Ankömmlinge ihre Vergangenheit aufs sorgsamste
verschwiegen, so daß die Opfer des Gewissenszwanges sich auch nach
der ergangenen Verfügung in Portugal ziemlich sicher fühlten. Als
katholischer Herrscher sah sich freilich Juan I. von Amts wegen
verpflichtet, die freiwillige Taufe der Juden nach Möglichkeit zu
fördern: so verhieß er den Neubekehrten allerlei Vorrechte, wie z. B.
Befreiung vom Militärdienst und von der Verpflichtung, Pferde für
die Armee zu stellen (1422); das gleiche Vorrecht genoß später auch
jeder Christ, der eine Jüdin bekehrt und geehelicht hatte. Auf Ver-
anlassung der Geistlichkeit betonte der König außerdem wiederholt
in seinen Dekreten, daß das Abzeichen für die Juden obligatorisch
sei und daß sie von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen bleiben
müßten; zugleich untersagte er den Infanten, Bischöfen, Grafen und
Rittern, Juden als Haushofmeister oder Schreiber in ihren Diensten
zu halten. Wie wenig ernst aber der König solche Vorschriften nahm,
ist daraus zu ersehen, daß gegen Ende seiner Regierung ihm selbst
vom Klerus wegen Ernennung jüdischer Hofärzte und Steuerpächter
und deren Befreiung vom Tragen des „Judenzeichens“ die allerbitter-
sten Vorwürfe gemacht wurden (1427).
Mehr trug den Wünschen des Klerus sein Nachfolger, der König
Duarte (i433—1438) Rechnung, obwohl auch er sich in einem
Punkte einen schweren Verstoß gegen die Kirchenkanons zuschulden
kommen ließ: er stand nämlich in ärztlicher Behandlung bei dem
jüdischen Arzt Gedalja ibn Jachja, der zugleich sein Hofastrologe
war. Während der Vorbereitungen zu der Krönungsfeier hatte dieser
Astrolog — so berichtet ein Chronist — dem König geraten, die Voll-
ziehung der Zeremonie aufzuschieben, da die Konstellation ungünstig
sei; der König wies jedoch den Ratschlag des Astrologen mit der Be-
gründung zurück, daß er mehr auf Gott als auf die Sterne vertraue.
Und doch sollte sich die Weissagung bewahrheiten: die Regierung
des Duarte war kurz und wenig glückbringend. Der König, der sich
von den Sternen verlassen sah, beschloß, durch Bedrückung der An-
dersgläubigen wenigstens die Gunst Gottes für sich zu gewinnen, und
erließ eine Reihe von Dekreten, die auf die Absonderung der Juden
von den Christen abzielten und den jüdischen wirtschaftlichen Inter-
essen nicht wenig Abbruch taten. So wurde die Handelsfreiheit der
373
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
Juden dermaßen eingeschränkt, daß die Gemeinde von Lissabon sich
gezwungen sah, dagegen nachdrücklichst Verwahrung einzulegen.
Den Repressalien wurde indessen bald durch den Thronwechsel ein
Ziel gesetzt. Nach einer zehnjährigen Regentschaft ergriff die Zügel
der Regierung der Sohn des Duarte, Alfons V. (1447—I48i), dem die
Juden nicht ohne Grund ein gutes Andenken bewahrt haben. Zwar ist
uns ein den Namen dieses Königs tragendes, alle die Juden betreffen-
den Rechtsbeschränkungen zusammenfassendes Gesetzbuch (Ordena-
goens do rey Alfonso V.) überliefert, doch ließ sich der König von
diesen von seinen Vorgängern erlassenen und von den Juristen unter
ihm zusammengestellten Gesetzen in der Praxis in keiner Weise leiten.
So durften die Juden unter Alfons V. in den Städten auch außerhalb
der „Judarien“ wohnen, sich ohne Abzeichen auf der Straße zeigen
und sogar prunkvolle Gewänder tragen, ferner öffentliche Ämter in
der Finanzverwaltung bekleiden und ungehindert Handel treiben, so
daß den „Ordonnanzen“ nur eine Scheingeltung zukam. Dies erregte
allerdings den Unwillen des Klerus und der christlichen Kaufleute,
und bald kam es auch in Lissabon zu den im benachbarten Spanien
üblich gewordenen Ausschreitungen (i449)« Die Urheber der Hetze
stachelten zunächst eine Schar rauflustiger Scholaren auf, die die Ju-
den auf dem Stadtmarkte überfielen. Darauf ließ der Stadthaupt-
mann (corregedor) die jugendlichen Unruhestifter festnehmen und
öffentlich der Prügelstrafe unterziehen. Die dadurch aufgereizte
Menge wandte sich nun gegen das jüdische Viertel, überwand den
bewaffneten Widerstand seiner Einwohner und begann ihr Vernich-
tungswerk. Der Staatssekretär beeilte sich, den um jene Zeit in Evora
weilenden König von den Vorgängen in der Hauptstadt zu benach-
richtigen und bat ihn, zur Beschwichtigung des Volkes schleunigst
nach Lissabon zurückzukehren. Als Alfons wiedergekommen war, wa-
ren die Unruhen dank den Maßnahmen der Ortsbehörden bereits er-
loschen, doch rief der vom König erlassene Befehl, die Urheber der
Hetze exemplarisch zu bestrafen, neue Erregung hervor. Es kam nun-
mehr zu einem Aufruhr gegen den König, der nur mit militärischen
Machtmitteln unterdrückt werden konnte.
Die Landtage oder „Cortes“, in denen die Konservativen über die
Mehrheit verfügten, unterbreiteten Alfons V. immer wieder ihre Ent-
schließungen, in denen strenge Maßnahmen gegen die Juden gefor-
dert wurden. So beschwerten sich die Cortes von Santarem (i45i),
874
§ 53. Portugal als Zufluchtsstätte der spanischen Juden
daß die Juden seidene Gewänder trügen; die Lissaboner Ständever-
sammlung erachtete es als unziemend, daß die Juden an Sonntagen
auf Mauleseln ritten und hierbei die Dienste christlicher Treiber in
Anspruch nähmen (i455); die Cortes von Coimbra faßten den Be-
schluß, daß den Juden die Pacht kirchlicher Ländereien entzogen,
daß ihnen kein Land zur Errichtung von Synagogen verkauft wer-
den dürfe und daß das rabbinische Gericht für die Schlichtung von
Vermögensstreitigkeiten zwischen Juden und Christen, auch wenn ein
Christ selbst das jüdische Gericht anrufen sollte, als unzuständig gel-
ten sollte (i473). Alfons V. trug indessen diesen von ständischem
und religiösem Haß inspirierten Entscheidungen nur wenig Rech-
nung. Die allgemeinen Staatsinteressen gingen ihm über die Sonder-
bestrebungen der einzelnen Stände und er zog daher begabte Männer
aus den gebildeten jüdischen Kreisen gern zum Staatsdienst heran.
Besonders nahe stand dem Hofe die angesehene Familie Ibn Jach ja,
deren Mitglieder sich noch Jahrhunderte hindurch auf verschiede-
nen Gebieten rühmlichst hervortaten. Mit einem Vertreter dieses Hau-
ses, dem „weisen Juden“ Joseph ibn Jachja, pflegte sich Alfons oft
über religiöse und wissenschaftliche Fragen zu unterhalten. Bei einer
dieser Unterredungen soll der König dem Joseph vorgeworfen haben,
daß er seine Glaubensgenossen nicht vom Hang zur Bereicherung und
insbesondere von der Prunksucht abzubringen versuche, die die Miß-
gunst der Christen erwecke und sie glauben mache, daß die Juden
von leicht gewonnener „Beute“ lebten. „Übrigens — fügte der König
hinzu — weiß ich wohl, daß ich von dir nichts zu erwarten habe,
denn nur das Grab oder eine neue Hetze vermag euch eines bessern
zu belehren; erst dann werdet ihr wohl über eure Taten Reue emp-
finden“. Dieser von einem zeitgenössischen jüdischen Chronisten fest-
gehaltene Vorwurf1) kennzeichnet treffend die unter den wohlhaben-
den Klassen herrschenden Laster, die auch von den jüdischen Schrift-
stellern dieser Epoche häufig gegeißelt werden.
Eine einflußreiche Stellung am Hofe Alfons’ V. nahm auch einer
der hervorragendsten Repräsentanten des sephardischen Judentums,
Don Isaak Abravanel (i437—i5o8) ein, dessen Name mit den ver-
hängnisvollen Ereignissen jener Zeit aufs engste verflochten ist. Die
1) „Schebet Jehuda“, Nr. 65, wenn man nämlich annehmen will, daß der
in dieser Chronik wiedergegebene Bericht tatsächlich den Notizen des Jehnda ibn
Verga entnommen ist.
375
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
Geschicke des Hauses Abravanel versinnbildlichen gleichsam die Ge-
schichte eines ganzen Jahrhunderts, das mit dem Gemetzel von Se-
villa im Jahre 1891 begann und mit der Verbannung des Jahres 1492
seinen Abschluß fand. Die Heimatstadt der Familie Abravanel war
Sevilla. Dort mußte der Großvater des Isaak, der Würdenträger und
Mäzen Samuel Abravanel, während des Gemetzels vom Tode bedroht,
zum Christentum übertreten und den Namen Juan de Sevilla anneh-
men (oben, § 37), worauf er nach Lissabon flüchtete und zum Juden-
tum zurückkehrte. Der Sohn des Samuel, Juda Abravanel, wurde Fi-
nanzagent am portugiesischen Hofe und hinterließ sein Amt seinem
Sohne Isaak, dessen übrigens viel höhere Aufgaben als die eines Hof-
finanziers harrten. Mit tiefem Wissen auf dem Gebiete der Theologie,
Philosophie und der Naturwissenschaften ausgerüstet, gab sich Isaak
Abravanel schon in seiner Jugend dem literarischen Schaffen hin,
das indessen erst gegen Ende seines Lebens zu voller Entfaltung ge-
langen sollte; zwischen dem Beginn und dem Abschluß seines geisti-
gen Lebenswerkes lag aber eine Zeitspanne, während der er im Kreise
der höchsten Lissaboner Gesellschaft das Leben eines Weltmannes
führen mußte. Unter Alfons V. zum Staatsschatzmeister ernannt, trat
nämlich Abravanel in nahe Beziehungen zu vielen Hofwürdenträgern
und schloß besonders enge Freundschaft mit dem Herzog de Bra-
ganza, einem Mitgliede des königlichen Hauses. Nach dem in seinem
Leben später erfolgten Schicksalswechsel schilderte Abravanel diese
Jahre (i465—i48i) in folgenden Wendungen: „Sorglos lebte ich
in meinem von den Vorfahren mit Schätzen angefüllten Hause in der
ruhmreichen Stadt Lissabon, der Mutter aller portugiesischen Städte.
Gott segnete mich mit Reichtum, Ehre und mit allen Freuden des
menschlichen Daseins. Mein Haus war eine Sammelstätte der Weisen,
wo man sich über Bücher und Schriftsteller, über feinen Geschmack,
über das Wissen und über die Furcht Gottes zu unterhalten pflegte.
Ich wirkte erfolgreich am Hofe des Königs Don Alfons, eines gerech-
ten Herrschers, unter dem die Juden frei und ungefährdet leben
durften“. Die glückliche Zeit sollte indessen für Don Isaak mit dem
Tode Alfons’ V. ein jähes Ende nehmen. Der neue König Juan II.
(i48i — i495), ein grausamer Despot, bezichtigte den Herzog de
Braganza verräterischer Beziehungen zu den kastilischen Herrschern
und ließ ihn hinrichten; das gleiche Los drohte allen seinen gleich
ihm des Verrats verdächtigten Verwandten und Freunden. Sie such-
376
§ 54. Der Untergang der geistigen Kultur in Spanien
ten daher Rettung in der Flucht, und unter den Flüchtlingen befand
sich auch Isaak Abravanel, der von seinen Verehrern gerade in dem
Augenblick vor der drohenden Gefahr gewarnt wurde, als er im Be-
griffe war, sich auf Aufforderung des Königs hin nach dessen Resi-
denz zu begeben. Trotz der Verfolgung durch die vom König ausge-
sandten Häscher gelang es Abravanel, die portugiesische Grenze zu
überschreiten und nach Kastilien zu entkommen. Seine Flucht schien
den vom König gegen ihn gehegten Verdacht endgültig zu bestätigen,
weshalb denn auch Juan II. sein ganzes Vermögen kurzerhand kon-
fiszierte. Im Jahre i483 ließ sich Abravanel in Toledo nieder und
hier sollte es ihm beschieden sein, den Schlußakt der Tragödie der
spanischen Judenheit persönlich mitzuerleben.
§ 54. Der Untergang der geistigen Kultur in Spanien
Die sturmbewegte Zeit der Verfolgungen des Judaismus mußte
der jüdischen Literatur in Spanien unausbleiblich ihren Stempel auf-
drücken. Als hervorstechendster Zug des Schrifttums dieser Epoche
erscheint die geistige Selbstwehr. Die scharfe Abgrenzung des Judais-
mus als einer religiösen und philosophischen Weltanschauung von
allen sonstigen Lehren und die Betonung seiner Erhabenheit über
alle seine Rivalen — dies war das alleinige Ziel, für das sich die jü-
dischen Denker angesichts des dem jüdischen „Unglauben“ von der
umgebenden Welt angesagten Vernichtungskrieges mit ganzer Seele
zu begeistern vermochten. In der Epoche gewaltsamer Taufen, als
die wankelmütigen Geister Gefahr liefen, sich durch die christliche
Dogmatik betören zu lassen und so aus unfreiwilligen Christen zu
Christen aus Überzeugung zu werden, mußte die Bekämpfung der
verfänglichen Dogmen als die wichtigste aller literarischen Aufgaben
erscheinen. So ist denn die Literatur der ersten Hälfte des XV. Jahr-
hunderts vor allem der religiösen Apologie und Polemik gewidmet.
In einem Lande, wo die religiösen Disputationen stets an der Tages-
ordnung waren und wo von dem Ausgang der über zwei Jahre sich!
hinziehenden Disputation zu Tortosa das Schicksal des gesamten Vol-
kes abzuhängen schien, war das polemische Schrifttum zu einem or-
ganischen Bestandteil des Lebens selbst geworden. Man schrieb, wie
es nur natürlich war, mit viel größerem Freimut als man zu reden
pflegte. Die unverblümte Kritik des Christentums, für die in den
3.77
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
mündlichen Diskussionen mit den kirchlichen Terroristen kein Raum
war, fand um so weiteren Spielraum in der schriftlichen Polemik.
Hierbei traten als Verfasser der antichristlichen Werke nicht selten
Männer auf, die selbst unter den Schrecken des Gewissenszwanges
aufs schwerste gelitten hatten.
Ein solches Opfer der Religionsnot war z. B. der Philosoph und
Grammatiker Isaak ben Moses Halevi, der mehr unter seinem spani-
schen Namen Profiat Duran oder unter seinem literarischen Pseudo-
nym Efodi bekannt ist. Die Katastrophe des Jahres 1891 ereilte ihn
in Katalonien, wo er zugleich mit seinem Freunde David Bonet Buen-
Giorno zum Scheine die Taufe annahm. Die Freunde gelobten ein-
ander, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zusammen nach Palä-
stina zu ziehen, um dort „zu ihrem Volke zurückzukehren“. Profiat
Duran begab sich denn auch bald nach einer der südfranzösischen
Küstenstädte und wartete dort auf seinen Freund, um die Reise fort-
zusetzen. Nach langem vergeblichem Harren erhielt er indessen ein
Schreiben, in dem ihm Bonet mitteilte, er hätte sich unter dem Ein-
fluß des Apostaten Paul von Burgos zum Festhalten am katholischen
Glauben entschlossen, und seinen Freund zugleich zu überreden
suchte, seinem Beispiel zu folgen. Hierauf richtete der entrüstete
Duran an den Verräter ein Antwortschreiben voll verschleierten Hoh-
nes, in dem jeder Satz mit den Worten anfing: „Al tehi ka’abotecha“
(„Sei nicht wie deine Väter“). „Sei nicht — so schrieb er mit beißen-
der Ironie — wie deine Väter, die da an die einfache Einheit Gottes
glaubten, ihn des Attributes der Vielheit beraubten und das Wort
,Höre, Israel, Gott ist einzig* im buchstäblichen Sinne auslegten. Nein,
glaube lieber, daß Gott zugleich einzig und dreifältig, daß drei gleich
eins und eins gleich drei ist — eine Wahrheit, die für die Lippen un-
aussprechlich, dem Ohre unfaßbar ist . . . Sei nicht wie deine Väter,
die da meinten, daß das göttliche Wesen unveränderlich sei und die
ihm alle materiellen Eigenschaften absprachen, indem sie in ihrer
spekulativen Überschwenglichkeit Gott als absolute und reine Ver-
nunft auffaßten. Beraube ihn also nicht seiner Materialität und Kör-
perlichkeit, glaube vielmehr daran, daß er in einer seiner Personen
(des Gottsohnes) Fleisch geworden sei und sein Blut für die Erlösung
des Menschengeschlechts vergossen habe. Er hat Todesqualen gelit-
ten, um dich von Schmerz und Leiden zu befreien, denn einen ande-
ren Weg zu deiner R.ettung wußte seine Weisheit nicht zu finden.
878
§ 54. Der Untergang der geistigen Kultur in Spanien
Glaube nur daran, daß er im Mutterleibe einer Jungfrau Fleisch ge-
worden, wie dies schon fünfhundert Jahre früher dem kleingläubi-
gen König Ahas verheißen worden sei“ (Jes. 7, i4). Weiter sucht
der Brief Schreiber seinen ehemaligen Freund davon zu überzeugen,
daß im Kirchenbrot der Leib Christi zugegen sei, und lehrt ihn, wun-
dertätige Reliquien zu fabrizieren: „Gehe ins Tal, sammle dort
menschliche Gebeine, und sie werden dir allerlei Wunder offenbaren“.
Das Schreiben schließt mit dem „Segen“: „Der Messias Jesus, den du
erwählt, möge dir gnädig beistehen; er und kein anderer gebe dir
Frieden und Glück!“ Das Sendschreiben des Profiat Duran wurde
in vielen Abschriften verbreitet und führte die katholischen Zensoren,
denen sein verschleierter Spott zunächst entgangen war, zu der irri-
gen Annahme, daß der Verfasser jenen jüdischen Neophyten zuzu-
zählen sei, die damals ihre Glaubensgenossen nicht selten zur Befol-
gung ihres Beispiels zu überreden suchten. Als die getäuschten Mis-
sionseiferer schließlich ihren Irrtum eingesehen hatten, befahlen sie,
alle Abschriften des „gotteslästerlichen“ Sendschreibens schleunigst
zu vernichten. Einer in ernsterer Form gehaltenen antichristlichen
Polemik befleißigte sich Profiat Duran in einer anderen Schrift:
„Bloßstellung der Andersgläubigen“ (Kelimath ha’goim), die er auf
Anregung des Philosophen Chasdai Crescas verfaßte. Er führte darin
den geschichtlichen Beweis, daß Christus sich nie als Gott ausgegeben
habe und erst die späteren Kirchenlehrer ihn zu vergotten begonnen
hätten. Seinen Grundauffassungen nach der Rationalistenschule ver-
wandt, verfaßte Duran auch einen vortrefflichen Kommentar zu der
Bibel des jüdischen Rationalismus, zum „Führer“ des Maimonides.
Überdies schrieb er noch ein Werk über Grammatik („Maasse Efod“)
und über das Kalenderwesen („Choscheb ha’efod“) sowie einen chro-
nographischen Bericht über die Verfolgung der Juden in verschiede-
nen Ländern, doch ist uns dieser letztere zum großen Schaden für die
Historiographie nicht erhalten geblieben.
Neben Profiat Duran stellte sich in den Dienst der wichtigsten
Zeitaufgabe, der Widerlegung des Christentums, noch eine Schar
anderer kampfesfroher Schriftsteller, die wohl als die Publizisten die-
ser Epoche bezeichnet werden können. Es entstand eine Reihe von
Werken mit kriegerisch anmutenden Titeln, wie etwa: „Bogen und
Schutzwehr“, „Schild und Speer“ u. dgl., d. h.: Abwehr und Angriff,
Apologie und Polemik. Der Verfasser einer dieser Schriften war der
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
hochangesehene Rabbiner Simon ben Zemach Dur an, der in der jüdi-
schen Literatur mehr unter der Abbreviatur Raschbaz bekannt ist
(gest. i444). Auch er war ein Opfer der Katastrophe des Jahres
1891 und mußte seinen Wohnsitz, die verheerte Stadt Palma auf der
Insel Mallorca, fluchtartig verlassen. Er fand ein Asyl in Algier, wo
er nach dem Ableben seines Lehrers Isaak bar Schescheth (oben, § 38)
zum Oberrabbiner aller jüdischen Gemeinden im Lande wurde. In
der von ihm verfaßten umfangreichen theologischen Abhandlung
„Magen abboth“ ist ein ganzes Kapitel (mit der Überschrift „Ke-
scheth u’magen“) der Kritik der Evangelien und der Apostelbriefe
gewidmet. Gleich Profiat Duran betont auch Raschbaz den Wider-
spruch zwischen der Lehre Jesu, der „die Thora zu erfüllen gekom-
men“ sei, und der Doktrin des Apostels Paulus, die auf die Außer-
kraftsetzung des Gesetzes ausging. Einen ausgesprochen historischen
Sinn verrät er in der Remerkung, Johannes der Täufer sei „bis zur
Besessenheit fromm“ (Chassid schote) gewesen und hätte das essäi-
sche Einsiedlertum auf die Spitze getrieben. Auch in der Bergpredigt
sieht Raschbaz nichts als eine übertriebene Frömmigkeit, das Bestre-
ben, auch auf dem Gebiete der Moral „um die Thora einen Zaun auf-
zurichten“. In aller Ruhe und ohne jede Voreingenommenheit führt
der Verfasser die evangelische Legende ad absurdum und weist Schritt
für Schritt nach, wie die biblischen Aussprüche im Neuen Testament
mißdeutet werden; seine Polemik gilt in erster Linie dem Schöpfer
der lateinischen Bibel, dem Hl. Hieronymus.
Gegen die verleumderischen Schriften der Renegaten von der Art
eines Paulus von Burgos oder eines Geronimo de Santa-Fe trat, mit
„Schild und Speer“ („Magen we’romach“) ausgerüstet, der Arzt
Chaim ibn Mussa aus Salamanca auf den Plan (gest. um i46o). Er
disputierte nicht selten auch mündlich mit christlichen Theologen
und war in der polemischen Fechtkunst ein überlegener Meister.
„Eines Tages — erzählt er — geriet ich in eine Kontroverse mit einem
gelehrten Christen im Hause eines Würdenträgers, bei dem ich (als
Arzt) angestellt war. Der Gelehrte sprach zu dem Würdenträger:
,Ist es dir bekannt, mein Herr, daß die Juden nur ein einziges theo-
logisches Buch, den Führer der Irrenden, besitzen, während wir
Christen an theologischen Büchern so reich sind, daß ein ganzer
Palast sie kaum zu fassen vermag?4 Ich bewahrte zunächst Schwei-
gen, als mich aber der Hausherr aufforderte, meine Meinung zu
38o
§ 54. Der Untergang der geistigen Kultur in Spanien
sagen, sprach ich also: ,Was würden auch die Juden mit einer sol-
chen Menge von Büchern anfangen, da doch die dreizehn einleuch-
tenden Dogmen unserer Religion auf einem einzigen Blatt Platz ge-
nug finden. Euch dagegen würden alle Bücher der Welt nicht genü-
gen, um der Welt solche Dogmen einzuhämmern, wie etwa, daß
Gott zur Erlösung des Menschengeschlechts von der Adamsünde nichts
Besseres eingefallen sei, als sich selbst (in der Person Jesu) sterben
zu lassen, oder daß er im Mutterleibe eines Weibes Fleisch gewor-
den, Schmach und Pein und schließlich den Tod erlitten habe, wäh-
rend doch die Menschen nach wie vor in Sünde sterben und der
Hölle verfallen*. Mein Herr war durch das Vernommene aufs höchste
verwirrt und bat uns, in seiner Gegenwart die Diskussion nicht wei-
ter fortzusetzen, um seinen Geist nicht der Zweifelsucht auszuliefern.
Ihm zuliebe hielten wir denn auch in unserem Streite inne , . .“
So tief vermochten damals diese dogmatischen Streitfragen die Gei-
ster aufzuwühlen, Fragen, um derentwillen die Opfer der Religions-
not körperlich und geistig hingemordet wurden. Es kamen viele Er-
zählungen über tatsächlich stattgefundene oder erdichtete religiöse
Disputationen in Umlauf, in denen die Juden als gewandte und
schlagfertige Wortkämpfer hervortraten. Eine ganze Reihe solcher
Erzählungen hat sich in der aus späterer Zeit stammenden Chronik
des Ibn Verga („Schebet Jehuda“) erhalten. Unter anderem ist uns
aus dieser Zeit ein Sinnspruch überliefert, der den jüdischen Stand-
punkt in bezug auf das Marranentum in treffender Weise kennzeich-
net: „In dreierlei Fällen ist das Wasser unnützerweise vergeudet:
das Wasser bei einer Judentaufe, das Flußwasser im Meere und das
Wasser im Wein“.
Eine Zeit, da der Streit um die religiösen Dogmen sowohl bei den
Verfolgern wie bei den Verfolgten die heftigsten Leidenschaften ent-
fesselte, war für die Selbstkritik, für die freie Erforschung der eige-
nen Glaubenslehren nichts weniger als günstig. Der eben erwähnte
Chaim ibn Mussa weiß über den folgenden charakteristischen Vor-
fall zu berichten. Ein „philosophierender“ Prediger gebrauchte einst
in der Synagoge bei der Erörterung des Problems der göttlichen Ein-
heit den Konditionalsatz: „Würde Gott nicht einzig sein, so müßte
man folgern . . .“. Kaum hatte er jedoch die Worte gesprochen,
als einer der Zuhörer voll Empörung ausrief: „Während der Kata-
strophe von Sevilla wurde ich mißhandelt, mit Wunden bedeckt und
38i
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
für tot liegen gelassen, und dies alles litt ich nur um der Wahrheit;
,Höre, Israel, Gott ist einzig* willen, du aber erdreistest dich zu phi-
losophieren: ,Würde Gott nicht einzig sein, so müßte dies und jenes
daraus folgen!* . . . Hierauf verließ der in seinen heiligsten Ge-
fühlen verletzte Zuhörer die Synagoge und die Mehrheit der Ge-
meinde folgte seinem Beispiel. Wie hätten auch die durch die fürch-
terlichsten Leiden geheiligten Grundlagen des Judaismus in der Syna-
goge frei erörtert werden können, in die jeden Augenblick die fana-
tisierten Banden irgendeines Martinez oder Ferrer mit dem Rufe
„Taufe oder Tod!“ einbrechen konnten. Unter solchen Umständen
war nur die eine Philosophie am Platze, diejenige, die den Glauben
durch geschichtliche und gefühlsmäßige, nicht aber durch rationali-
stische Begründung zu befestigen suchte. Solcherart war denn auch
das religionsphilosophische System, dessen Urheber Joseph Albo (um
i38o—i44o) war, der schon erwähnte Teilnehmer an der Disputa-
tion von Tortosa und ein Augenzeuge der von Vicente Ferrer in
Aragonien herbeigeführten Schreckenszeit. Ein Jünger des konser-
vativen Denkers Chasdai Grescas, gibt Albo in seinem Buche über
die Grunddogmen des Judaismus („Ikkarim“) in schematisierter Form
die Grundgedanken seines Meisters wieder. Das Hauptbestreben des
Albo ist national-apologetischer Art: er will nicht nur den Vorrang
der Offenbarung vor der rationalistischen Forschungsweise vor Au-
gen führen, sondern auch die Überlegenheit der jüdischen Dogmatik
im Vergleich zu der anderer Religionen. Ohne die christliche Dog-
menlehre direkt anzugreifen, trifft er sie indirekt dadurch, daß er
in genauester Weise die Wurzeln und Abzweigungen des Judaismus
beschreibt. Nach der Ansicht des Albo entstammt nämlich jede Reli-
gion den drei folgenden „primären Wurzeln“ („Ikkarim**): dem
Glauben an das Dasein Gottes, der Offenbarung, d. i. dem Glauben
an den göttlichen Ursprung der Urgebote und dem Glauben an die
Vergeltung im Jenseits. Indessen sei nicht jede Religion, die diese
drei allen Glaubenslehren gemeinsamen Wahrheiten anerkennt, schon
durch diese Anerkennung allein auch die wahre. Wahr sei vielmehr jene
Religion, die außer den „primären Wurzeln“ auch die „sekundären“
(„Scharaschim“) sowie die ihnen entstammenden „Zweige“ („Ana-
fim“) gelten läßt. So zeige z. B. eine der primären Wurzeln das Da-
sein Gottes an, nicht aber, in welcher Weise dieses Dasein aufzufas-
sen sei; dies folge allein aus den sekundären Wurzeln: aus der Lehre
382
§ 54. Der Untergang der geistigen Kultur in Spanien
von der absoluten Einzigkeit Gottes, von seiner Unkörperlichkeit und
Überzeitlichkeit (wodurch das Trinitätsdogma, das der Fleischwer-
dung Gottes u. dgl. m. hinfällig werden). Auch die zweite gemein-
same Wurzel aller Religion, das Offenbarungsdogma, gelange zur
vollwertigen Bestimmung erst in der Anerkennung Moses’ und der
biblischen Propheten als der einzig berufenen Vermittler zwischen
Gott und Menschheit. So stellen auch alle praktischen Gesetze und
Gebote des Judaismus nichts als die diesen drei Wurzeln unmittel-
bar entsprossenen Zweige dar. Das letzte Ziel der Religion sei aber
weniger die Gotteserkenntnis als vielmehr das gottgefällige Werk.
Durch die Befolgung der religiösen Gesetze werde den Gläubigen eine
in ihrer Anschaulichkeit viel wirksamere Erziehung zuteil als durch
alle hochfliegenden Spekulationen der Philosophen. Die streng kon-
servative Einstellung Albos hinderte ihn indessen nicht daran, den
überaus kühnen Gedanken auszusprechen, daß der Glaube an das
Erscheinen des Messias nicht als Grunddogma des Judaismus, son-
dern ausschließlich als eine national-geschichtliche Überlieferung zu
bewerten sei. Durch diese Feststellung suchte er, wie es scheint, die
Position jener kirchlichen Theologen zu untergraben, die bei der Dis-
putation von Tortosa die messianische Frage zum Angelpunkt des
ganzen Religionsstreites machten: im Gegensatz zu der von ihnen
vertretenen mystischen Auffassung betonte er mit besonderem Nach-
druck den politischen Inhalt der jüdischen messianischen Idee. Die
jüdischen Theologen der späteren Zeit (so Abravanel), denen der ver-
borgene Beweggrund des Albo entgangen war, machten ihm daher
ungerechterweise den Vorwurf, daß er dem den Geist des Volkes
im „Galuth“ aufrecht erhaltenden messianischen Dogma viel zu we-
nig Ehrerbietung entgegengebracht hätte.
Bemerkenswert ist es, daß trotz der über der jüdischen Kultur in
Spanien allmählich heraufziehenden Abenddämmerung der Kampf
für und gegen das System des Maimonides, das theologische Funda-
ment des Judaismus, noch immer nicht ganz erloschen war und daß
hie und da die Funken der alten Leidenschaften unter der Asche
noch weiterglommen. Drei ein und derselben Familie entstammende
und drei aufeinanderfolgende Generationen repräsentierende Schrift-
steller waren es, die im Laufe des XV. Jahrhunderts in bezug auf den
Maimonismus wie den Rationalismus überhaupt weit auseinanderlie-
gende Standpunkte vertraten. Schemtob ibn Schemtob (gest. um
383
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
i4'4°), der in seinen Jugendjahren die Katastrophe vom Jahre i3gi
miterlebt hatte, vertritt den extrem konservativen Standpunkt: als Kab-
balist verdammt er jede freie philosophische Forschung in Grund
und Boden, überhäuft Ibn Esra, Maimonides und Ralbag mit den
bittersten Vorwürfen und schiebt den „Philosophen“ sogar die Schuld
an den Massentaufen jener verhängnisvollen Zeit zu. „Schon immer
war es so — heißt es in seinem Buche „Die Glaubenslehren“ („Emu-
noth“) —, daß gerade diejenigen, die sich mit der Erforschung ihres
Glaubens abgaben, ihm auch als erste die Treue brachen. Es unter-
liegt gar keinem Zweifel, daß unsere Gemeinden während des über
uns jetzt hereingebrochenen Unheils aus dem Grunde abtrünnig ge-
worden sind, weil die Sophisten und Klügler zuvörderst die Pflöcke
unseres Gezelts gelockert und die es umgebende Umfriedung zerstört
hatten: erst in ihren Fußstapfen wandelte dann das gemeine Volk“.
Ganz anderen Sinnes war der Sohn dieses Kabbalisten Joseph ben
Schemtob (um i4oo—i46o), der Verfasser der Abhandlung „Die
Herrlichkeit Gottes“ („Kebod Elohim“) und mancher anderen Schrif-
ten. Ihm schien die Versöhnung von Philosophie und Glauben nicht
unmöglich zu sein, wiewohl er deren völlige Verschmelzung, wie sie
Maimonides anstrebte, für unerreichbar hielt. Die auf dem Wege
der philosophischen Spekulation zu erlangende lichtvolle Religiosität
stellte er höher als die von der Vernunft nicht durchleuchtete Fröm-
migkeit, die, wie er meinte, den Menschen leicht auf die Irrwege des
Aberglaubens hinleiten könne; doch müsse die Vernunft, soweit sie
mit der Tradition nicht in Einklang zu bringen sei, dieser den Vor-
rang abtreten, da das höchste Kriterium der Wahrheit einzig und al-
lein die Thora sei. In diesem Punkte kommt Joseph ben Schemtob
der Schule des Crescas und des Albo überaus nahe. Hingegen ist sein
Sohn Schemtob ben Joseph (gest. 1489) eher den konsequenten
Maimonisten zuzurechnen. Er schrieb philosophische Kommentare zu
den Werken des Aristoteles und des Averroes, als sein Hauptwerk ist
jedoch der umfangreiche Kommentar zum „Führer“ des Maimonides
zu betrachten. In diesem Werke ist er bestrebt, die Gedankengänge
seines Meisters so auszulegen, als ob zwischen ihnen und der Tradi-
tion keinerlei Widersprüche beständen, und scheut sich nicht, in den
Punkten, in denen ihm das System des Maimonides einem allzu ex-
tremen Aristotelismus zu frönen scheint, dieses im eigenen Sinne zu
berichtigen.
§ 54. Der Untergang der geistigen Kultur in Spanien
Diese versöhnlichere Stimmung während der kurzen Zeitspanne
der Restauration tritt gegen Ende des XV. Jahrhunderts, am Vorabend
der Inquisition und der endgültigen Vertreibung, als sich die Lage
der spanischen Juden jäh verschlimmert hatte, ganz in den Hinter-
grund, um kriegerischen Tendenzen Platz zu machen. Der Rabbiner
und Prediger Isaak Arama, der das ganze Unheil dieser Zeit in Ara-
gonien miterlebte (er starb in der Verbannung in Neapel im Jahre
i4g4), hatte in seinem Werke „Chasuth kascha“ („Unheilverheißen-
der Anblick“) für das philosophische Freidenkertum nur noch Worte
der schärfsten Kritik übrig. Der Verfasser vergleicht Religion und
Philosophie mit der Stammutter Sara und ihrer Magd Hagar: zu-
%iächst hätte die Religion die Philosophie zu Hilfe gerufen, um sich
„aus ihr auf bauen“ zu können, als aber dann die fruchtbare Philo-
sophie übermütig geworden sei und ihre Herrin gering zu achten ber
gönnen habe, sei sie fortgeschickt worden. Der Parabel liegt anschei-
nend die mittelalterliche These zugrunde, wonach die Philosophie die
Magd der Theologie sei. Arama verschmäht es in der Tat nicht, in sei-
nen zahlreichen Predigten über Thoratexte (gesammelt in dem volks-
tümlich gewordenen Buch „Akedath Xzchak“) für den Beweis biblischer
Wahrheiten die philosophische Methode zu Hilfe zu nehmen, nimmt
aber zugleich an jeder, auch der leisesten Kritik der religiösen Über-
lieferungen schwersten Anstoß.
Die Reihe der konservativen Denker beschließt der letzte Schrift-
steller und Staatsmann des jüdischen Spanien, Don Isaak Abravanel,
dem es bestimmt war, an der Spitze der Exulanten aus dem Lande zu
ziehen. Mit besonderem Eifer setzte sich Abravanel für die geschicht-
lichen Grundlagen des Judaismus ein. Schon in seinen Jugendjahren
flocht er „Den Alten einen Kranz“, wie seine dem Problem des
besonderen Berufes des jüdischen Volkes gewidmete Abhandlung
(„Atereth sekenim“) betitelt ist. Solange er jedoch in den Diensten
des portugiesischen Hofes stand, hatte er für die Literatur nur wenig
Muße. Erst nach seiner Übersiedlung nach Kastilien vermochte er sein
groß angelegtes Hauptwerk, den umfangreichsten aller Bibelkommen-
tare in Angriff zu nehmen (i483—84), der aber erst viele Jahre
später, schon in der Verbannung, zu Ende geführt werden sollte1).
Zugleich schrieb er einen Kommentar zum „Führer“ des Maimonides,
1) S. Band VI dieser „Geschichte“, Kap. 2.
.25 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
385
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
wobei sich indessen seine Auslegung nicht selten zu einer Polemik
gegen den interpretierten Verfasser zuspitzte. Den Widerspruch des
Isaak Abravanel erregte namentlich die maimonidische Lehre von
der Prophetie als einer „Vereinigung von tätiger Vernunft und
Einbildungskraft“, eine Lehre, die nach der Ansicht des Kom-
mentators der biblischen Offenbarung die Heiligkeit entzog. Die
Grundauffassung des Abravanel, die ihn der orthodoxen Einstel-
lung der Schule des Ramban und Crescas nahebringt, geht vielmehr
dahin, daß der Philosoph ebenso weit hinter dem Propheten zurück-
bleibe wie das menschliche Denken hinter der göttlichen Offenbarung.
Während sich Abravanel Maimonides gegenüber noch einige Zurück-
haltung auf erlegte, scheute er sich nicht, den extremen Vertretern
des Rationalismus wie etwa Ralbag, Narboni und Albalag mit aller
Schärfe entgegenzutreten, sie der Ungläubigkeit zu zeihen und sogar
als „Verführer“ zu brandmarken.
Mit dem Anschwellen der antirationalistischen Strömung begann
sich von neuem auch der Geist der Kabbala zu regen, die nach der
ihr zu Beginn des XIV. Jahrhunderts durch den „Sohar“ zuteil ge-
wordenen Konsolidierung für lange Zeit vom literarischen Schauplatz
verschwunden war. Bald nach den Schrecken des Jahres i3gi trat
der obenerwähnte Kabbalist Ibn Schemtob hervor, der in seinem
Werke „Glaubenslehren“ der „griechischen Weisheit“ des Maimoni-
des „die von Generation zu Generation tradierte und die einzige Ret-
tung für Israel bildende wahre Lehre der Kabbala“ entgegensetzte.
Von einer anderen Seite ging an das gleiche Problem der rätselhafte
Zeitgenosse des Schemtob, der Kabbalist Moses Botarel heran. In
seinem Kommentar zu dem alten „Buche der Schöpfung“ (Band III,
§ 71) sprach er den paradoxen Gedanken aus, daß „die Philosophie
mit der Kabbala ebenso eng zusammenhängt wie die Flamme mit der
Kohle“ und warnte zugleich „die der Philosophie Unkundigen den
Pardes (den mystischen Garten) zu betreten“. Dieser Kabbalabeflis-
sene vermochte eben, wie es scheint, Philosophie und Theosophie
nicht auseinanderzuhalten. Hat er doch Maimonides so gründlich miß-
verstanden, daß er diesem ausgesprochenen Feinde aller Mystik die
Gepflogenheit zuschrieb, „den Traum zu befragen“, d. h. durch mysti-
sche Zauberformeln prophetische Traumgesichte oder Offenbarungen
heraufzubeschwören. Unter dem Alpdruck der um die Wende des
XIV. Jahrhunderts sich abspielenden Ereignisse verwischten sich für
§ 55. Ferdinand und Isabella. Die Inquisition
ihn alle Grenzen zwischen Mystik und Mystifikation und er war nahe
daran, den einst von Abraham Abulafia (oben, § 18) beschrittenen Weg
einzuschlagen, indem er sich in irgendein messianisches Abenteuer in
Kastilien mithineinziehen ließ. Sein Ende ist in Dunkel gehüllt.
Aus der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts scheinen auch
jene zwei „Geheimschriften“ oder kabbalistischen Apokryphen: „Sefer
ha’kana“ und „Ha’pelia“ zu stammen, deren Verfasser sich unter
den Namen der Geisteshelden der Vorzeit verbirgt. Seine mystischen
Träumereien gab er für unmittelbar von dem Propheten Elias emp-
fangene Offenbarungen aus und weissagte allen Ernstes, daß der
Messias noch im Jahre i4qo erscheinen werde, zwei Jahre also vor
dem endgültigen Zusammenbruch der spanischen Judenheit. Bezeich-
nend ist es, daß der anonyme Mystiker zur Zielscheibe seiner Polemik
nicht die Philosophen, sondern die Talmudgelehrten wählte, denen er
zum Vorwurf machte, daß sie ausschließlich die „geoffenbarte
Thora“ mit ihren unzähligen Gesetzesbestimmungen und die Aus-
legungen dieser Gesetze studierten, ohne sich um die „Geheimnisse
der Thora“ auch nur im geringsten zu kümmern. Die Befolgung der
Bräuche ohne Eindringen in ihren verborgenen symbolischen Sinn
sei, so meinte er, völlig wertlos, den Schlüssel zu dieser Symbolik
gebe aber allein die Kabbala. In den beiden Apokryphen tritt uns eine
so hemmungslose Kritik des Talmud und des Rabbinismus entgegen,
daß sich unwillkürlich der Zweifel regt, ob in einer aus dem XV.
Jahrhundert stammenden Schrift solche Wendungen überhaupt ge-
braucht werden konnten. Sollten sie aber dennoch echt sein, so wäre
daraus zu schließen, daß sich in den Kreisen der Mystiker schon da-
mals jene Opposition gegen den Rabbinismus und alle trockene Bü-
cherweisheit geltend zu machen begann, die später in den mystischen
Strömungen der folgenden Jahrhunderte, namentlich im Chassidis-
mus, zu voller Reife gelangten1).
§ 55. Ferdinand und Isabella. Die Inquisition
Eine neue Ära brach für Spanien mit der Vereinigung Aragoniens
und Kastiliens zu einem Reiche an, die eine Folge der Vermählung
des aragonischen Thronfolgers, späteren Königs Ferdinand des Ka-
t) Die Bücher „Ha’kana“ und „Ha’pelia“ sind zum erstenmal gegen Ende
des XVIII. Jahrhunderts, und zwar in chassidischen Druckereien, gedruckt wor-
den (Koretz u. Porjetzk, 1784)*
25*
887
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
tholischen, mit der nach dem Tode ihres Bruders Heinrich IV. zur
Thronerbin von Kastilien gewordenen Isabella war (i474)- Seitdem
verfällt Spanien für lange Zeit der Gewaltherrschaft jenes zwischen
Klerikalismus und Absolutismus geschlossenen Bündnisses, welches das
Land der drei Religionen für alle Andersgläubigen und Andersdenken-
den zu einer wahren Hölle auf Erden machte. Ohne sich mit der poli-
tischen Einheit allein zu begnügen, strebte die Regierung auch eine
religiöse Einheit an, eine gewaltsame Verschmelzung aller im König-
reiche vertretenen Stämme im Schmelztiegel der katholischen Kirche,
und zögerte nicht, die sich gegen diese Nivellierung sträubenden Ele-
mente der Vernichtung preiszugeben. j
Das eheliche Bündnis zwischen der jugendlichen, glaubensschwär-
merischen kastilischen Königin und dem aragonischen Prinzen, des-
sen grausames Wesen erst nach und nach in Erscheinung trat, hatte
zunächst weder bei den Juden noch bei den Marranen irgendwelche
Befürchtungen hervorgerufen. Beide Bevölkerungsgruppen brachten
vielmehr diesem dynastischen Bunde ihre ungeteilten Sympathien ent-
gegen und rechneten darauf, daß sich ihre Lage in dem vereinigten
Reiche erheblich bessern würde. Die Hoffnungen der Marranen
knüpften sich vornehmlich daran, daß Ferdinand schon in Saragossa
mit einigen wohlhabenden Marranenfamilien freundschaftlichen Ver-
kehr pflegte. Aber auch Isabella war von Jugend auf von neuchrist-
lichen Würdenträgern umgeben und kam auch mit Juden in nähere
Berührung. Der dem Hofe Heinrichs IV. nahestehende Abraham
Senior aus Segovia, der königliche Steuerpächter und nachmalige
offizielle Rabbiner, beteiligte sich, wohl als Finanzfachmann, sogar
an den der Vermählung Isabellas vorangehenden dynastischen Unter-
handlungen. Wie fern mochte den Verfolgten damals der Gedanke
gelegen haben, daß das junge königliche Ehepaar eine so verhäng-
nisvolle Rolle in ihrem Schicksal spielen würde.
Um so schwerer war die Enttäuschung, als die neuen Herrscher
gar bald an die Lösung der „jüdischen Frage“ schritten, die sich um
jene Zeit aus zwei besonderen Komplexen zusammensetzte: aus dem
Problem der trotz des hundertjährigen Kirchenterrors noch immer
nicht niedergerungenen Juden und dem der insgeheim an der Religion
ihrer Ahnen festhaltenden „judaisierenden“ Marranen. Im Vorder-
gründe des Interesses stand indessen zunächst nur die Frage der ge-
heimen Juden. Hundert Jahre nach den gewaltsamen Massentaufen
388
§ 55. Ferdinand und Isabella. Die Inquisition
mußten endlich Mittel und Wege gefunden werden, um der Kirche
den Besitz der Nachkommen der einst von ihr gemachten Gefange-
nen endgültig zu sichern. Das alte* nur unter einer schwächlichen
Staatsgewalt mögliche System der Straßenexzesse war jetzt, da der
absoluten Herrschergewalt im vereinigten Königreiche alle Mittel zur
„legalen“ Bekämpfung der Abtrünnigen zur Verfügung standen, nicht
mehr am Platze. Zur Anwendung dieser Mittel bedurfte es nur noch
der päpstlichen Sanktion. Nun hatten die spanischen Dominikaner
schon längst in Rom darum angesucht, daß in Kastilien eine beson-
dere Inquisition in Form eines außerordentlichen kirchlichen Tribu-
nals zur Überführung und Bestrafung der insgeheim am Judentum
festhaltenden Neuchristen eingeführt werde. Papst Sixtus IV. wollte
jedoch seinen Segen nur einer Inquisition erteilen, die der römischen
Kurie in der Person ihres kastilischen Legaten unterstellt sein würde.
Dafür waren wiederum Isabella und Ferdinand nicht zu haben, die
die Befürchtung hegten, daß die von Rom bestellten Inquisitoren die
Schätze der verurteilten Marranen, die das königliche Ehepaar als ihr
rechtmäßiges Erbe betrachtete, zugunsten der Kirche einziehen würden.
Während die Verhandlungen noch schwebten, glaubte die spa-
nische Geistlichkeit keine Zeit verlieren zu dürfen und bereitete sich
eifrig auf die blutige Ernte vor. Der Erzbischof von Sevilla, Mendoza,
beauftragte die Priester, die Zahl der Judaisierenden in seiner Diö-
zese festzustellen. Die mit dieser Aufgabe betraute kirchliche Kom-
mission überreichte dem König und der Königin eine Denkschrift,
in der es hieß, daß Sevilla wie Andalusien überhaupt voll von judai-
sierenden Neuchristen sei, unter denen es nicht wenige überaus hoch-
gestellte Persönlichkeiten gebe, weshalb die Einführung der Inquisi-
tion nicht länger auf geschoben werden dürfe. Das Gutachten der
Kommission wurde von dem Erzbischof von Sevilla sowie von dem
Beichtvater der Königin, Thomas Torquemada, dem Prior des Domi-
nikanerklosters des „Heiligen Kreuzes“ zu Segovia, nachdrücklichst
unterstützt. Nunmehr wandten sich König und Königin an Sixtus IV.
mit der inständigen Bitte, die Veröffentlichung einer Bulle über die
Einführung der „nationalen“ Inquisition in Kastilien nicht länger
hinauszuzögern und sich damit abzufinden, daß die Mitglieder des
Inquisitionstribunals von dem König selbst ernannt und die Reich-
tümer der Verurteilten zugunsten des königlichen Schatzes eingezogen
werden sollten. Der Papst gab nach und im November 1478 erging
389
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
die lang ersehnte Bulle. Indessen sollten noch zwei weitere Jahre
vergehen, bis das Tribunal an sein grausiges Werk gehen konnte. Die
einflußreichen Marranen setzten nämlich alle Hebel in Bewegung,
um den Verfolgungsplan nicht zur Tat werden zu lassen, und auch die
Landesherrscher selbst zögerten eine Zeitlang, Maßnahmen zu ver-
fügen, denen viele mit dem Hofe, dem kastilischen Adel sowie mit
allen Zweigen der Staatsverwaltung und des Wirtschaftslebens aufs
engste verbundene Familien unweigerlich zum Opfer fallen muß-
ten. Der verhängnisvolle Schritt wurde erst gegen Ende des Jahres
i48o getan, als in Sevilla, der Hochburg der Marranenketzerei, das
erste Inquisitionstribunal ins Leben gerufen worden war. Das Gericht
setzte sich aus zwei dominikanischen Theologen, Morillo und San-
Martin, einem gelehrten Abte sowie einem königlichen Fiskal und
zwei anderen Beamten zusammen, welche die erwartete Beute, das
konfiszierte Vermögen der Verurteilten, in Empfang zu nehmen
hatten.
Zugleich mit der gegen die Marranen eingeleiteten Säuberungs-
aktion glaubte die Regierung Maßnahmen ergreifen zu müssen, durch
die die Marranen in den von der Ketzerei am meisten verseuchten Ge-
genden von den Juden isoliert werden sollten. Die Königin Isabella
versuchte denn auch, die gesamte jüdische Bevölkerung aus den anda-
lusischen Bezirken Sevilla und Gordova zu vertreiben (i48o—82),
doch schlug dieser Versuch aus verschiedenen Gründen fehl, und nur
ein Teil der im Lande ansässigen Juden siedelte in den maurischen
Herrschaftsbereich, nach Malaga und Granada über. In den anderen
Städten Kastiliens und Aragoniens achtete man scharf darauf, daß
die Juden ausschließlich in ihren Vierteln, fern von den von Marra-
nen bewohnten Straßen, ihren Wohnsitz haben sollten (ein diesbezüg-
licher königlicher Erlaß erging in Toledo schon im Jahre i48o).
Mittlerweile war das Räderwerk der Inquisition in Gang gekommen.
Die des Hanges zum Judentum verdächtigten Marranen wurden hau-
fenweise in den Kerker geworfen. Allen Christen war es bei strengen
Strafen zur Pflicht gemacht, die ihnen persönlich bekannten Ketzer
der Inquisition anzuzeigen. Eine der Öffentlichkeit bekannt gegebene,
aus siebenunddreißig Punkten bestehende Instruktion zählte peinlichst
alle Kennzeichen der Ketzerei auf. Die rechtgläubigen Bürger hatten
nicht nur solche Marranen namhaft zu machen, die bei der Befolgung
einer der jüdischen Hauptriten ertappt worden waren, sondern auch
390
§ 55. Ferdinand und lsabella. Die Inquisition
diejenigen, die sich solche Bagatellen zuschulden kommen ließen,
wie etwa das Tragen festlicher Kleidung am Sabbat und an anderen
jüdischen Feiertagen, die Bevorzugung gewisser Fleisch- und Wein-
sorten, die Erteilung des Elternsegens am Vorabend des Jom-Kippur,
das Vorlesen der Psalmen unter Weglassung der Formel: „Ehre dem
Vater und dem Sohne!“ u. dgl. mehr. Wer der Denunziant auch sein
mochte, ob ein Bekannter, ein Nachbar oder ein Dienstbote des De-
nunzierten, allen wurde ohne weiteres Glauben geschenkt. Unter sol-
chen Umständen nahm die Bespitzelung die ungeheuerlichsten Di-
mensionen an. Haussuchungen und Verhaftungen nahmen kein Ende.
Eine an den Rand der Verzweiflung getriebene Marranengruppe in
Sevilla beschloß zu Abschreckungsmaßnahmen zu greifen und bei der
nächsten Haussuchung oder Verhaftung den Inquisitoren das Hand-
werk zu legen. An der Spitze der Verschwörung stand der reiche
Marrane Diego de Susan; die Verschwörer verschafften sich Waffen
und sollten nach verabredetem Zeichen zu dem von den Inquisitoren
gefährdeten Hause eilen. Das Komplott wurde indessen durch den
Leichtsinn der Tochter des Susan, die das Geheimnis ihrem Geliebten,
einem Spanier, anvertraute, verraten, worauf die Verschwörer fest-
genommen und in die Verließe des Inquisitionstribunals eingesperrt
wurden, wo ihrer Tortur und Scheiterhaufen harrten. Nunmehr be-
gannen die Marranen Sevilla in Scharen zu verlassen, um an weniger
gefährdeten Orten ein Asyl zu suchen; die Behörden erließen jedoch
den Befehl, die Flüchtlinge allerorten festzunehmen und nach Sevilla
zurückzuschaffen: entzogen ihnen doch die Flüchtlinge nicht allein
ihre durch das Feuer zu läuternde, sündenbeladene Seele, sondern
auch ihre schweren Geldbörsen, die es zugunsten des königlichen
Schatzes zu leeren galt.
Sevilla, das schon einmal das Hauptquartier des „Heiligen Krie-
ges“ war, wurde nun auch zur Metropole der Inquisition. In den.
unterirdischen Gängen der Klosterfeste von Sevilla wurden Hunderte
von Gefangenen der grausamsten Tortur preisgegeben. Man forderte
von ihnen, daß sie nicht nur ihre eigenen Sünden gestehen, sondern
auch ihre judaisierenden Verwandten und Freunde verraten. Die Über-
führten wurden vom Tribunal zur Verbrennung auf dem Scheiter-
haufen verurteilt. Im Weichbild der Stadt wurde ein besonderer
Richtplatz, das sogenannte „Quemadero“, angelegt, auf dem sich das
391
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
Schafott mitsamt dem Scheiterhaufen erhob1). Am 6. Februar i48i
fand in Sevilla unter feierlichen Kirchenzeremonien das erste „Auto-
dafe“ („actus fidei“, „Glaubensgericht“) statt: sechs Marranen, dar-
unter auch Frauen, fanden auf dem Scheiterhaufen den Tod. Einige
Tage später wurde die zweite Gruppe von Marranen, unter denen sich
auch das Haupt der Verschwörer gegen die Inquisitoren, Diego de
Susan, befand, den Henkersknechten überliefert, worauf die Hinrich-
tungen immer häufiger wurden. Bis zum November desselben Jahres,
d. i. im Zeitraum von nur zehn Monaten, brachte es die Inquisition
fertig, in Sevilla allein etwa dreihundert Marranen zu verbrennen;
außerdem wurden viele zu lebenslänglicher Kerkerhaft oder zum Tra-
gen des Bußhemdes (sanbenito) verurteilt. Der; eingezogene Besitz der
Hingerichteten, die zum größten Teil zu der wohlhabenden Schicht
gehörten, brachte dem geldgierigen Ferdinand nicht wenig Gewinn
ein, und so hatte der König an der weiteren Vermehrung der Mär-
tyrer ein höchst persönliches Interesse.
Nachdem die Flammen der ersten Autodafes erloschen waren,
banden die kirchlichen Henker für eine Zeit die Maske der „Barm-
herzigkeit“ vor. Die Inquisitoren taten kund, daß den Marranen, die
vor dem Tribunal aus eigenem Antrieb ihre Sünden bekennen und
sich „mit der Kirche versöhnen“ wollten, eine „Gnadenfrist“ einge-
räumt werde. Den Reumütigen wurde in Aussicht gestellt, daß ihnen
nach formeller Preisgabe ihrer religiösen Verirrungen um des Trium-
phes der Kirche willen und nach Verzichtleistung auf einen Teil ihres
Besitzes zugunsten des Reichsschatzes volle Absolution erteilt werden
würde. Viele Marranen erschienen denn auch in ihrer Vertrauensselig-
keit zur festgesetzten Frist vor dem Tribunal und gestanden, daß sie
insgeheim an den Bräuchen des Judentums festgehalten hätten. Die
Inquisitoren begnügten sich jedoch nicht damit und verlangten, daß
sie alle ihre Angehörigen und Freunde, die sich gleich ihnen versün-
digt hätten, namhaft machen sollten. Diejenigen, die den ihnen zu-
gemuteten schnöden Verrat von sich wiesen, gingen des Anspruchs
auf die verheißene „Gnade“ verlustig und mußten das Los der übri-
gen Gefangenen der Inquisition teilen.
!) Das „Quemadero“ war an seinen vier Enden mit Standbildern der Pro-
pheten geschmückt, die von dem reichen Bürger Messa gestiftet worden waren.
Später soll, wie berichtet wird, der Stifter selbst auf dem von ihm geschmück-
ten Quemadero den Flammentod gefunden haben, da auch er als judaisierender
Marrane entlarvt wurde.
392
§ 55. Ferdinand und Isabella. Die Inquisition
Als die vom Tribunal in Sevilla verübten Greueltaten im Lande be-
kannt wurden, ging durch ganz Spanien ein Schrei des Entsetzens.
Sein Widerhall wurde sogar in der päpstlichen Residenz vernehm-
bar. Die aus Spanien nach Rom geflüchteten Marranen versicherten
sich dort des Beistandes einiger Kardinale, die den Papst dazu bewo-
gen, die spanischen Untaten ausdrücklich zu verurteilen. In seinem
an Ferdinand und Isabella gerichteten Sendschreiben (vom Januar
1482) tadelte Sixtus IV. die Verfahrensweise des Tribunals von Se-
villa, das die Denunzierten ohne Überprüfung der Stichhaltigkeit der
Denunziationen den Martern und dem Tode preisgebe. Er drohte, falls
diese Mißstände nicht schleunigst abgestellt würden, die königlichen
Inquisitoren durch von ihm selbst ernannte Richter zu ersetzen. Drei
Monate später erging gegen die spanische Inquisition, die Ferdinand
bereits in seinem Stammlande Aragonien einzuführen begann, eine
in noch viel schärferem Tone gehaltene Bulle. Der Papst wies darauf
hin, daß die gegen die Marranen ergriffenen Maßnahmen oft „nicht
von Glaubenseifer und von Sorge um das Seelenheil, sondern von Ge-
winnsucht“ (non zelo fidei et salutis animarum sed lucri cupiditate)
eingegeben und daß die Angeschuldigten aller Rechtsgarantien be-
raubt würden; er verlangte daher, daß dem Gerichtshof Vertrauens-
männer des Ortsbischofs beigegeben werden sollten und daß den An-
geklagten das Recht zugestanden werde, sich vor dem Tribunal zu ver-
teidigen und gegen seine Urteilssprüche bei der römischen Kurie Be-
rufung einzulegen. Ferdinand erblickte jedoch in diesen Protestkund-
gebungen nichts als einen Anschlag auf seine Souveränität und die
Beanspruchung eines Teiles der bei den verurteilten Marranen einge-
zogenen Schätze. So wies denn der König die Forderungen des Pap-
stes in schroffster Weise zurück: er erklärte, sich einer durch die
„Zauberkünste“ der Ketzer (eine Anspielung auf die Bestechung der
Kurie durch die Marranen) inspirierten Bulle nicht fügen zu wollen.
Auch diesmal mußte der Papst zurückweichen. Die spanische Inqui-
sition behielt nach wie vor ihren „nationalen“, d. h. blut- und beute-
gierigen Charakter bei, und Sixtus IV. sah sich genötigt, seine Zu-
stimmung zur Errichtung neuer Inquisitionstribunale in Kastilien (in
Cordova, Jaen, Ciudad-Real, später auch in Toledo) sowie in Ara-
gonien (in Saragossa und sonst) zu erteilen. Sogar seine Forderung,
daß den Verurteilten das Recht eingeräumt werde, in Rom Berufung
einzulegen, mußte er fallen lassen und sich damit begnügen, daß der
393
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
vom König abhängige Erzbischof von Sevilla den Inquisitionstribuna-
len als Berufungsrichter übergeordnet wurde. Nachdem sich das Kö-
nigspaar so in seiner Handlungsfreiheit nicht mehr behindert sah,
ging es daran, die Wirkungssphäre der Inquisition noch weiter aus-
zudehnen. Es wurde ein „höchster Inquisitionsrat“ (Suprema) und das
Amt eines General- oder Großinquisitors ins Leben gerufen, in das
der erwähnte Thomas Torquemada eingesetzt wurde (September
i483), dessen Name mit den grauenvollsten Untaten der spanischen
„geistlichen Gerichte“ für immer verknüpft ist.
Nunmehr loderten die Flammen der Scheiterhaufen in ganz Spa-
nien auf. Von dem eisernen Willen des finsteren Mönches gelenkt,
verzehrte der Inquisitionsmoloch um der Erretjtung der sündigen See-
len willen unzählige Hekatomben von Menschenopfern. Die von Tor-
quemada ausgearbeitete Anweisung für die Inquisitoren führte die
folgende Ordnung ein (i484): Vor der Eröffnung der Session des
Inquisitionstribunals sollte jedesmal in der betreffenden Stadt eine
„Gnadenfrist“ von 3o oder 4o Tagen verkündet werden, damit die
Abtrünnigen Zeit hätten, aus freien Stücken Reue zu bekunden. Der
seine Büßfertigkeit durch den Verrat seiner Gesinnungsgenossen be-
kräftigende Sünder durfte nach Abbüßung der ihm auferlegten
Strafe: nach öffentlicher Demütigung, nach Durchschreitung der
Straßen im Bußgewande, dem „Sanbenito“, oder nach verbüßter Ker-
kerstrafe als „mit der Kirche ausgesöhnt“ (reconciliados) gelten;
überdies mußte er einen Teil seines Vermögens für den Unterhalt der
Inquisitionsbeamten oder zur Bestreitung der Kosten des gegen die
Mauren von Granada geführten „heiligen Krieges“ hergeben. Er-
stattete der Reumütige seine Selbstanzeige erst nach Ablauf der „Gna-
denfrist“, so verfiel sein ganzes Vermögen der Konfiskation und er
selbst lebenslänglicher Kerkerhaft. Den „Unversöhnlichen“, d. h. den
auf Grund einer Denunziation Festgenommenen, sollte das Geständ-
nis durch mehrfach wiederholtes, hochnotpeinliches, von Tortur be-
gleitetes Verhör abgezwungen werden. Durch ein auf der Folterbank
abgelegtes und dann noch einmal bestätigtes Geständnis galt die An-
klage als hinreichend begründet; sollte aber der Angeklagte nach der
Tortur sein Geständnis widerrufen, so mußte er erneut einer ver-
schärften Tortur unterzogen werden. Bei einem solchen Verfahren
vermochten wohl die allerwenigsten der Verurteilung zu entrinnen,
da die Gemarterten, um der Wiederholung der Tortur zu entgehen
394
§ 55. Ferdinand und Isabella. Die Inquisition
und den erlösenden Tod zu beschleunigen, sich fast durchweg jedes
ihnen zur Last gelegten Verbrechens bezichtigten. Als einzige Hinrich,-
tungsart war die Verbrennung zugelassen („Hinrichtung ohne Blut-
vergießen“, wie der milde Ausdruck der Inquisitoren lautete). Die
Verurteilten wurden an einen aus dem Scheiterhaufen ragenden Pfahl
angebunden und verbrannten bei lebendigem Leibe; doch wurden den-
jenigen, die noch im letzten Augenblick Reue bekundeten, ihre Qua-
len dadurch erleichtert, daß man sie zunächst erdrosselte und erst
dann verbrannte. An den ins Ausland geflüchteten Marranen wurde
die Hinrichtung „in effigie“, d. h. dadurch vollzogen, daß man ihre
Bildnisse verbrannte. Nach dem von Torquemada ausgearbeiteten Sta-
tut durfte aber die Inquisition auch über bereits verstorbene und erst
nach dem Tode der Abtrünnigkeit überführte Sünder ihr Urteil fäl-
len; in solchen Fällen pflegte man die Gebeine der schon Bestatteten
auszugraben und in Rauch aufgehen zu lassen, während ihr nachge-
lassenes Vermögen den Erben restlos entzogen wurde. Die verwaisten
Kinder der Hingerichteten wurden den Henkern ihrer Väter, den In-
quisitoren, zur Erziehung übergeben.
Dem Beispiel Kastiliens folgte auch Aragonien. Das Inquisitions-
tribunal von Saragossa, an dessen Spitze der Kanonikus Pedro Arbuez
stand, ließ im Jahre i484 ein Autodafe auf das andere folgen. Dem
König Ferdinand zu Gefallen unterließ man es hier sogar, den frei-
willig Bußetuenden eine Gnadenfrist einzuräumen: wurden doch die
„mit der Kirche Versöhnten“ nur mit einer Geldbuße, nicht aber mit
der Einziehung des gesamten Vermögens bestraft, wodurch dem Kö-
nig direkter Schaden entstand. So suchte denn Arbuez den Flammen
der Scheiterhaufen unausgesetzt neue Nahrung zuzuführen. Seine
Schergen bespitzelten die Marranen in ihren Häusern und schafften
durch Bestechung Denunzianten und sonstige Belastungszeugen her-
bei. Auf die erste beste Angabe hin wurden ganze Marranenfamilien
in Haft genommen und in den Kerker geworfen; das geheime Er-
mittlungsverfahren unter Anwendung der Folterung und die geheime
Gerichtsverhandlung waren nur obligate Vorstufen zu dem unver-
meidlichen Scheiterhaufen.
Der Terror der Inquisition zeitigte indessen in Saragossa einen
Gegenterror von seiten der Marranen. Die Verschwörer faßten den
Plan, den wütenden Inquisitor Arbuez seine Untaten büßen zu lassen,
um dadurch allen seinen Berufsgenossen mitsamt allen Lockspitzeln
395
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
einen heilsamen Schrecken einzujagen. Die Verschwörung fand so-
gar die Zustimmung von mit den Marranen vielfach verschwägerten
Spitzen der christlichen Gesellschaft und zum Teil auch ihre wert-
volle Unterstützung. Das erste Attentat auf Arbuez mißlang zwar und
bewog ihn nur, verschiedene Sicherheitsvorkehrungen zu treffen: er
ging nie ohne Panzer unter dem Gewände und ohne eisernen Helm
unter der Kopfbedeckung aus. Der Bösewicht sollte jedoch seinem
Schicksal nicht entrinnen: als er eines Tages in früher Morgenstunde
zur Andachtsverrichtung die menschenleere Kirche betrat, wurde er
gerade in dem Augenblick, als er vor dem Altar niederkniete, von drei
Verschwörern überrascht und erdolcht (i485). Diese Tat hatte in-
dessen nur das eine zur Folge, daß die Inquisition in Aragonien noch
stärker als ehedem zu wüten begann, während der Henker im Priester-
gewande als heiliger Märtyrer kanonisiert wurde. Die in die Nachbar-
länder geflüchteten Verschwörer wurden zum Teil ausfindig gemacht
und in grausamster Weise hingerichtet, zum Teil in contumaciam
verurteilt, durch Vermögensentziehung bestraft und „im Bildnis“ ver-
brannt. Mehrere Jahre hindurch war Saragossa der Schauplatz einer
langen Reihe von Autodafes, in deren Flammen neben den judaisie-
renden Marranen immer wieder der Beihilfe bei der Ermordung des
Arbuez Beschuldigte umkamen. Der Zahl ihrer Opfer nach blieb die
Inquisition von Saragossa kaum weit hinter der von Sevilla zurück.
Weniger „fruchtbar“ war das im Jahre i488 in einem anderen jü-
dischen Zentrum, in Barcelona, errichtete Tribunal. Es begnügte sich
damit, im Laufe von sechs Jahren (bis 1492) nur etwa fünfzig Men-
schen den Flammentod sterben zu lassen, etwa hundert zu lebens-
länglichem Kerker zu verurteilen und vermochte alles in allem nur
dreihundert Ketzer „mit der Kirche zu versöhnen“.
Um so besser gedieh das Versöhnungswerk in der Hauptstadt Kar
stiliens, in Toledo, wo sich die Inquisitoren weniger mit der Marte-
rung des Leibes als mit der der Seele abgaben. Nachdem hier Auf-
stands- und Fluchtversuche der Marranen mißglückt waren, beschlos-
sen sie, von der ihnen eingeräumten „Gnadenfrist“ Gebrauch zu ma-
chen. Durch die Straßen von Toledo zogen Prozessionen bußfertiger
Marranen, die so auch in der Hauptstadt einem geistigen Autodafe
zum Opfer fielen. Der erste feierliche Umzug fand am 12. Februar
i486 statt. Es beteiligten sich an ihm nicht weniger als siebenhundert-
fünfzig Bußfertige. Barfuß, halbnackt, entblößten Hauptes schritten
396
§ 56. Die Vertreibung der Juden aus Spanien (1492)
sie einher, mit ausgelöschten Kerzen in den Händen. Eine Menge Volks
strömte herbei, um dem Schauspiel zuzusehen und die Prozessions-
teilnehmer konnten sich vor Scham der Tränen nicht erwehren. Aber
auch nachdem sie Buße getan und in die Kirche wieder aufgenommen
worden waren, mußten sie eigens für sie angeordnete Fasten halten.
Überdies schränkte man ihre bürgerlichen Rechte stark ein; sie durf-
ten keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden, keine Handelsunter-
nehmungen betreiben, nicht als Zeugen vor Gericht auftreten, keine
prunkvollen Kleider und keinen Schmuck anlegen, nicht auf Pfer-
den reiten u. dgl. m. Zum zweiten Autodafe, das am 2. April des-
selben Jahres stattfand, erschienen etwa neunhundert Bußfertige, die
unter den gleichen Bedingungen der Kirche zugeführt wurden. Das
dritte Autodafe (am 16. August) war bereits von Menschenopfern be-
gleitet: es wurden zwanzig Männer und fünf Frauen, zumeist aus
den höchsten gesellschaftlichen Kreisen, auf dem Scheiterhaufen ver-
brannt. Im darauffolgenden Jahre stieg die Zahl der durch die öffent-
lichen „Glaubensakte“ „mit der Kirche Versöhnten“ bis auf zwei-
tausend; viele von ihnen mußten zum Zeichen der Reue bis an ihr
Lebensende das „Sanbenito“ tragen. Es kam hier nicht selten vor,
daß man wegen Marranenketzerei sogar Priester und Mönche den
Flammentod sterben ließ: so tief war bereits die „jüdische Seuche“
in das Innere der Kirche gedrungen. Es fehlte auch nicht an Bei-
spielen übermenschlichen Heldenmutes; so rief eine von den Flam-
men schon umfangene Frau noch im letzten Augenblick aus, daß
sie glücklich sei, in der mosaischen Religion zu sterben, und mit dem
Wort „Adonai“ auf den Lippen hauchte sie ihr Leben aus.
§ 56. Die Vertreibung der Juden aus Spanien (1492)
Trotz des Ungestüms, mit dem die Inquisition die Marranen den
Flammen preisgab oder sie zur „Aussöhnung“ mit der Kirche zwang,
blieben im Lande noch immer viele unversöhnt und unversöhnlich.
Je länger die Inquisition wütete, desto klarer wurde es, daß die Mar-
ranenfrage aufs engste mit der jüdischen verbunden sei. Um die
schlechten Neuchristen zu guten Katholiken machen zu können, galt
es, sie von ihren Stammesgenossen im Lande völlig zu isolieren, und
wenn dies sich als undurchführbar erweisen sollte, die Jucjn für
immer des Landes zu verweisen. Das System der Absonderung betrieb
397
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
Torquemada mit größter Rücksichtslosigkeit; man trennte die näch-
sten Verwandten voneinander, verschärfte die Bespitzelung und suchte
sogar die Rabbiner in den Dienst der Spionage zu stellen, indem man
sie verpflichtete, jeden mit der Synagoge in Verbindung stehenden
Marranen bei der Inquisition anzuzeigen. Indessen blieben all diese
Maßnahmen fruchtlos: als die Inquisitoren mit ihrem niederträch-
tigen Ansinnen an den Rabbiner von Sevilla, Jehuda ihn Verga, her-
antraten, floh dieser nach Portugal, und viele andere waren bereit,
seinem Beispiel zu folgen. So stand denn nur noch ein einziges wirk-
sames Mittel zur Verfügung: die Vertreibung der Juden aus Spanien.
Ein tastender Versuch in dieser Richtung wurde bereits zu Beginn
der Regierung Isabellas in Kastilien unternommen, als ein Teil der
jüdischen Bevölkerung aus den Bezirken von Cordova und Sevilla ver-
trieben wurde (§ 55). Doch mußte dieser Plan damals bald wieder auf-
gegeben werden: in jenen schweren Jahren, als es galt, das Werk der
Vereinigung Spaniens durch die Eroberung des Reiches von Granada,
des letzten Überrestes der arabischen Gewalt auf der Halbinsel,
zu krönen, konnte man nämlich die Juden als Steuerzahler und
Finanzagenten noch nicht gut entbehren. Darauf ist auch jene ab-
sonderlich anmutende Tatsache zurückzuführen, daß man die Juden
in den ersten Jahrzehnten der Inquisitionsherrschaft in Ruhe ließ
und sie sogar nach wie vor zur Mitarbeit an der Staatsverwaltung her-
anzog. Während der obenerwähnte Abraham Senior mit der Rege-
lung der finanziellen Beziehungen des Hofes zu den jüdischen Ge-
meinden, denen zur Bestreitung der Kosten des gegen die Mauren ge-
führten Krieges außerordentliche Steuern auferlegt waren, betraut
war, wurde Isaak Abravanel, dem politischen Flüchtling aus Portu-
gal (§ 53), von dem spanischen Königspaar die Verwaltung der ge-
samten Staatsfinanzen übertragen (i484). So konnte jene einzigartige
Lage entstehen, daß ein nationaler jüdischer Denker in den Dien-
sten desselben königlichen Hofes stand, an dem der Generalinquisitor
Torquemada als Beichtvater wirkte und an dem man sich mit dem
Plane der Ausrottung des Judentums trug. Die Geldnot zwang eben
die Herrscher, zeitweilig einen jüdischen Minister an ihrem Hofe zu
dulden und sogar die vom Papste Sixtus IV. aus diesem Anlaß ge-
machten Vorwürfe über sich ergehen zu lassen. Der von Ferdinand
gegen die Mauren von Granada geführte Krieg erheischte die An-
spannung aller finanziellen Kräfte des Landes, und die Ironie des
398
§ 56. Die Vertreibung der Juden aus Spanien (lä92)
Schicksals wollte es, daß Isaak Abravanel sein Finanzgenie in den
Dienst eines Unternehmens stellen sollte, dessen erfolgreicher Aus-
gang für die spanische Judenheit schließlich zum Verhängnis wurde.
Der letzte Krieg mit den Mauren zog sich über zehn Jahre hin.
Das vereinigte Heer Kastiliens und Aragoniens versetzte dem einzigen
noch übriggebliebenen muselmanischen Stützpunkt im Süden der
Halbinsel, dem winzigen Reiche von Granada, einen wuchtigen Schlag
nach dem anderen. Im Jahre 1487 fiel Malaga und gegen Ende des
Jahres 1491 ergab sich den Christen auch die Hauptstadt Granada.
In Malaga wurden einige Hundert jüdischer Einwohner von den Spa-
niern gefangen genommen und gleich den Mauren zu Sklaven ge-
macht; die jüdischen Gemeinden Spaniens kauften jedoch ihre Stam-
mesgenossen für eine bedeutende Geldsumme los und ermöglichten
ihnen die Übersiedlung nach Tunis und Marokko. Nur zwölf von den
Gefangenen, die man als flüchtige Marranen wiedererkannt hatte,
gerieten in die Klauen der Inquisition und wurden hingerichtet. Bei
der Übergabe von Granada bedang der letzte Emir Boabdil auch für
die Juden das Recht aus, gleich den Muselmanen in der Stadt verblei-
ben zu dürfen, während die Marranen, um nicht dem Inquisitions-
gericht zu verfallen, das Land binnen Monatsfrist verlassen mußten.
In diesem Augenblick war indessen nicht nur das Los dieser einzelnen
Gemeinde, sondern auch das der gesamten spanischen Judenheit be-
reits entschieden. Es geschah, was als Ergebnis eines ganzen Jahr-
hunderts von Verfolgungen und Hetzen, von Kirchenterror und
Zwangstaufen mit schicksalhafter Notwendigkeit geschehen mußte:
ebenso wie später die Mauren, so mußten schon jetzt die Juden der
religiösen Einheit Spaniens zum Opfer fallen. Als Ferdinand und Isa-
bella am 2. Januar 1492 in Granada feierlichen Einzug hielten, be-
mächtigte sich der christlichen Massen grenzenloser Enthusiasmus.
Der Traum von Generationen wurde nun zur Wirklichkeit: nach
einem acht Jahrhunderte währenden Kampfe waren die letzten Stütz-
punkte der Muselmanen auf der Pyrenäischen Halbinsel endgültig
vernichtet. Der einheitliche christliche Staat stand fest und uner-
schütterlich da, und es galt nunmehr, auch den anderen sehnlichen
Traum zu verwirklichen: im Lande der drei Religionen die Allein-
herrschaft der christlichen Kirche zu begründen. Hierbei sollten die
Vertreter der ältesten Religion dem spanischen Nationalideal, dem
399
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
nach acht Jahrhunderten zu neuem Leben erstandenen Ideal der alten
Westgoten, als erste hingeopfert werden.
Noch vor Beendigung des Krieges mit Granada, als der Fall von
Malaga bereits den nahen Sieg verkündete, begann das Königspaar
zusammen mit Torquemada zum letzten entscheidenden Schlage ge-
gen das Judentum zu rüsten. Um die öffentliche Meinung auf den
grausamen Akt entsprechend vorzubereiten, mußte irgendeine außer-
ordentliche Verleumdung ausgeheckt, ein so grauenerregender Ritual-
mordprozeß in Szene gesetzt werden, daß dadurch das vom Staate
gegen die Juden geplante Verbrechen als gerechte Vergeltung erscheinen
sollte. Für das gewaltige Inquisitionsungetüm war das freilich eine
leichte Sache. Im Sommer des Jahres 1^90 wurde ein auf Reisen
begriffener Marrane namens Benito Garcia festgenommen und bei
der Durchsuchung seines Gepäcks fand man in seinem Reisesack eine
Hostie. Garcia wurde darauf so lange gefoltert, bis er alle ihm völlig
grundlos zur Last gelegten Verbrechen eingestand und überdies auf
Grund eines ihm vom Untersuchungsrichter unterschobenen Registers
seine angeblichen Mittäter, sechs Juden und fünf Marranen nannte,
die gleichfalls verhaftet und gefoltert wurden. Durch die Tortur ge-
lang es den Inquisitoren, das folgende Bild des von ihrer eigenen
höllischen Phantasie erdichteten Tatbestandes erstehen zu lassen. Die
Angeklagten hätten sich, so hieß es, eines Nachts in einer Höhle zu-
sammengefunden, dort einen christlichen Knaben aus der Stadt La-
Guardia ans Kreuz geschlagen, sein Blut abgezapft und ihm das Herz
aus dem Leibe gerissen, um dann die Leiche irgendwo zu verscharren.
Einige Tage später hätten sie sich von neuem in der Höhle versam-
melt und mit dem Herzen des gekreuzigten Kindes sowie mit der bei
Garcia Vorgefundenen Hostie allerhand „Zauberkünste“ getrieben, in
der Absicht, dadurch die Inquisitoren zu verderben und den katholi-
schen Glauben dem Satan preiszugeben. Dies alles wäre mit Vorwissen
der jüdischen Gemeinden geschehen und müßte, so lautete die An-
klage, einer allnationalen Verschwörung gleichgestellt werden. Zwar
fehlte es an jeglichem greifbaren Beweis, und es gab niemanden, der
die Leiche des angeblich ermordeten Kindes auch nur gesehen hätte,
doch verstand sich die Inquisition meisterhaft auf die Kunst, durch
falsche Zeugenaussagen und durch Folterungen jeden Indizienbeweis
als schlüssig erscheinen zu lassen.
Erst in der letzten Gerichtssitzung widerrief der Hauptange-
4oo
§ 56. Die Vertreibung der Juden aus Spanien (1U92)
klagte Benito Garcia die ihm abgepreßten Aussagen und legte mit
voller Unerschrockenheit das folgende erschütternde Sündenbekennt-
nis einer verirrten Marranenseele ab: „Ich bin als Jude geboren und
habe mich vor vierzig Jahren taufen lassen; vor kurzem kam aber
ein Licht über mich: das Christentum erschien mir als eine große
Komödie des Heidentums, und ich wandte mich in meinem Herzen
von neuem dem Judentum zu. Ich war Augenzeuge der grauenvollen
Autodafes der Inquisition, die mein Herz mit Mitleid für die Opfer
und mit Haß gegen die Henker erfüllten. Das Christentum wurde
mir aufs tiefste verhaßt. Es ist richtig, daß ein getaufter Jude ein
Antichrist ist, noch schlimmere Antichristen sind indessen die Inquisi-
toren, der Große Antichrist aber ist der Großinquisitor Thomas Tor-
quemada. Mich insgeheim zum Judentum bekennend, besuche ich
die Kirche nur im äußersten Notfälle, halte keine christlichen Feier-
tage, genieße Fleisch an den Fasttagen und gehe nur des äußeren
Scheines wegen zur Beichte. Wenn ich den Leib Christi (corpus
Christi) sehe, so speie ich ihn an, denn die von den Christen ange-
betete Hostie ist nichts als ein Gemisch von Mehl und Wasser. Mit
um so größerem Eifer befolge ich die jüdischen Gesetze: ich pflege
am Sabbat der Ruhe, esse und trinke nur nach jüdischem Ritus
(„koscher“), halte sogar im Kerker die jüdischen Fasttage und
spreche die jüdischen Gebete. Die mir jetzt beschiedenen Qualen
nehme ich demütig auf mich: habe ich sie doch voll verdient. Sie
sind eine Strafe für den Kummer, den ich einst meinem Vater durch
meinen Übertritt zum Christentum bereitete, sowie dafür, daß ich
meine Kinder zur Kirche führte. Ich habe jetzt nur den einen
Wunsch: daß meine beiden Söhne dieser verfluchten Religion ent-
sagen und Juden werden. Sollte es mir vergönnt sein, aus dem Ker-
ker herauszukommen, so werde ich mich nach Judäa begeben und
auch andere überreden, das gleiche zu tun“. Dieser Schrei einer ge-
marterten Seele machte freilich auf die Inquisitoren nicht den ge-
ringsten Eindruck. Aus dem Bekenntnis des Benito Garcia folgerten
sie nur das eine, daß Juden wie Marranen das Christentum verachte-
ten und daß ihnen daher die Verübung des Verbrechens, dessen sie
angeklagt waren, durchaus zuzutrauen sei. In diesem Lichte wurde
denn auch die ganze Sache in Wort und Schrift, sowohl von der Kir-
chenkanzel herab wie in Büchern, der christlichen Öffentlichkeit
plausibel gemacht. Als hierauf die Inquisitionsjustiz ihren Triumph
26 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
4oi
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
feierte und in Avila die jüdischen Märtyrer in den Flammen der
Scheiterhaufen verbrannten, schickte sich die erregte christliche Be-
völkerung an, der gesamten jüdischen Gemeinde den Garaus zu ma-
chen, so daß diese sich genötigt sah, den König um Schutz anzu-
flehen (1491)- Dies geschah zwei Monate vor der Bezwingung Gra-
nadas.
Nunmehr waren die Geister auf den längst in Aussicht genomme-
nen Akt der Judenvertreibung gründlichst vorbereitet. Wie sollte man
auch dulden, während auf den stolzen Zinnen der maurischen Al-
hambra in Granada das siegreiche Banner des Kreuzes wehte, daß
sich im Lande nach wie vor die unverbesserlichen „Christushasser“
herumtrieben! Es war nun an der Zeit, Gott für den bescherten Sieg
Dank zu bekunden und den Triumph des christlichen Spanien durch
eine fromme Tat zu besiegeln. So Unterzeichneten denn Ferdinand und
Isabella in dem niedergerungenen Granada schon drei Monate nach
dessen Eroberung das folgende „Generaledikt über die Ausweisung
der Juden aus Aragonien und Kastilien“1):
„In unseren Königreichen gibt es nicht wenig judaisierende, von unserem hei-
ligen katholischen Glauben abweichende böse Christen, eine Tatsache, die vor
allem in dem Verkehr der Juden mit den Christen ihren Grund hat. In dem
Bestreben, diesem Übel zu steuern, verfügten wir zusammen mit den im Jahre
i48o in Toledo zusammengetretenen Cortes, die Juden allenthalben abzusondern
und ihnen abgegrenzte Wohnstätten zuzuweisen. Auch haben wir dafür gesorgt, daß
in unseren Königreichen die Inquisition eingeführt werde, die nun schon zwölf
Jahre in Tätigkeit ist und viele Schuldige der gerechten Strafe zugeführt hat.
Nach dem uns von den Inquisitoren erstatteten Bericht unterliegt es keinem
Zweifel, daß der Verkehr der Christen mit den sie zu ihrem verdammten Glau-
ben verleitenden Juden den allergrößten Schaden stiftet. Die Juden geben sich
alle Mühe, sie und ihre Kinder (die Marranenfamilien) dadurch zu verführen,
daß sie ihnen jüdische Gebetbücher in die Hand drücken, sie über die Fasttage
belehren, ihnen zu Ostern ungesäuertes Brot (Mazzoth) beschaffen, sie anweisen,
welche Speisen genossen werden dürfen und welche nicht und sie überhaupt
dazu überreden, das Gesetz Moses’ zu befolgen. All dies hat die Unterwühlung
und Erniedrigung unseres heiligen katholischen Glaubens zur unausbleiblichen
Folge. So sind wir denn zu der Überzeugung gelangt, daß das wirksamste Mittel
zur Abstellung all dieser Mißstände die völlige Unterbindung jedes Verkehrs zwi-
schen Juden und Christen ist, die allein durch ihre (der Juden) Vertreibung aus
unseren Königreichen erreicht werden könnte; indessen beschränkten wir uns zu-
nächst nur darauf, sie aus den Städten Andalusiens auszuweisen, wo der von
ihnen angerichtete Schaden besonders groß war. Allein weder diese Maßnahmen,
noch die gerechte Justiz, die an den sich gegen unseren heiligen Glauben schwer
versündigenden Juden geübt wurde, waren imstande, dem gefährlichen Übel ab-
!) Das langatmige Edikt ist hier mit manchen Abkürzungen wiedergegebem
402
§ 56. Die Vertreibung der Juden aus Spanien (1U92)
zuhelfen ... Wir haben daher den Beschluß gefaßt, alle Juden beiderlei Ge-
schlechts für immer aus den Grenzen unseres Reiches zu weisen. So verfügen
wir hiermit, daß alle in unserem Herrschaftsbereiche lebenden Juden ohne Un-
terschied des Geschlechts und des Alters nicht später als Ende Juli dieses Jahres
unsere königlichen Besitztümer und Seigneurien mitsamt ihren Söhnen und Töch-
tern und ihrem jüdischen Hausgesinde verlassen und daß sie es nicht wagen sollen,
das Land zwecks Ansiedlung, auf der Durchreise oder sonst zu irgendeinem Zwecke
je wieder zu betreten. Sollten sie aber ungeachtet dieses Befehls in unserem Macht-
bereiche erwischt werden, so werden sie unter Ausschaltung des Gerichtsweges
mit dem Tode und der Vermögenseinziehung bestraft werden. Wir befehlen dem-
gemäß, daß sich von Ende Juli ab niemand in unserem Reiche bei Strafe der
Vermögenseinziehung zugunsten des königlichen Schatzes erdreisten solle, offen
oder insgeheim einem Juden oder einer Jüdin Zuflucht zu gewähren. Damit es
aber den Juden möglich sei, während der ihnen eingeräumten Frist ihre Ge-
schäfte abzuwickeln und über ihr Vermögen zu verfügen, gewährleisten wir ihnen
unseren königlichen Schutz sowie die Sicherheit von Leben und Besitz, so daß
sie bis Ende Juli hier ruhig leben und ihr bewegliches wie unbewegliches Gut
nach Belieben veräußern, tauschen oder verschenken dürfen. Wir gestatten ihnen
überdies, ihren Besitz mit Ausnahme von Gold, Silber, gemünztem Geld und
anderen unter das allgemeine Ausfuhrverbot fallenden Gegenständen auf dem
Wasser- oder Landwege aus unseren Königreichen auszuführen“.
Durch dieses Edikt war mit einem Schlage das Los von Hundert-
tausenden und damit zugleich das eines großen geschichtlichen Zen-
trums der gesamten Nation besiegelt. Wie sehr auch die Juden auf
diesen Akt vorbereitet sein mochten, so versetzte sie seine Verkündung
dennoch in tiefste Bestürzung. Zusammen mit Abraham Senior eilte
Isaak Abravanel in den königlichen Palast und flehte das Herrscher-
paar an, den verhängnisvollen Erlaß rückgängig zu machen. In der
richtigen Erkenntnis, daß der König sich in dieser Frage in erster
Linie von materiellen Interessen leiten lasse, boten ihm die jüdischen
Vertreter für die Widerrufung des Ediktes viel Geld an (man nennt
den Betrag von 3o ooo Golddukaten). Durch das verlockende Angebot
umgestimmt, war Ferdinand schon bereit, den jüdischen Bitten Gehör
zu schenken. In diesem Augenblick soll jedoch, wie berichtet wird, der
Großinquisitor Torquemada mit einem Kruzifix in der Hand in den
Palast gestürzt sein und dem königlichen Ehepaar die folgenden
Worte zugerufen haben: „Judas Ischariot hat Christqs für dreißig
Silberlinge verraten, und ihr wollet ihn nun für dreißigtausend preis-
geben. Hier ist er, nehmet und verschachert ihn!“ Mit diesen Worten
legte Torquemada das Kruzifix hin und verließ eilenden Schrittes
den Palast. Der Auftritt soll namentlich auf die Königin einen nieder-
schmetternden Eindruck gemacht haben: die jüdischen Abgeordneten
wurden abgewiesen. Ende April verkündeten Herolde im ganzen
26*
4o3
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
Lande, daß den Juden zur Abwicklung ihrer Geschäfte drei Monate
gegeben seien, nach deren Ablauf si6 Spanien verlassen müßten; je-
der Jude, der nach dieser Frist im Lande angetroffen werden soEte,
würde dem Tode oder — der Taufe verfallen.
Der tragische Augenblick war gekommen. Hunderttausende muß-
ten plötzlich auf einen Machtspruch von oben das Land verlassen, in
dem ihre Vorfahren schon zur Zeit der römischen Herrschaft, noch
vor der Entstehung des Christentums ansässig gewesen waren, in dem
sie im Laufe einer langen Reihe von Jahrhunderten sowohl unter ara-
bischer wie unter christlicher Herrschaft in emsiger Arbeit den mate-
riellen Wohlstand und die geistige Kultur des Landes aufgebaut hat-
ten und auch ein eigenes nationales Zentrum hatten erstehen lassen,
das seiner geschichtlichen Bedeutsamkeit nach gleich hinter den
Hegemoniezentren Palästina und Babylonien rangierte. Die Trennung
vom Heimatlande war aber auch mit völliger Verarmung verbunden.
Die den Exulanten für die Liquidation ihres Besitzes eingeräumte
Frist war so kurz bemessen, daß an eine günstige Abwicklung gar
nicht zu denken war. Der unbewegliche Besitz mußte für ein Nichts
hergegeben werden. Ein gut eingerichtetes Haus wurde gegen einen
Esel eingetauscht, der ertragreichste Weinberg gegen ein paar Meter
Tuch, und trotzdem konnte die Mehrzahl der Häuser nicht verkauft
werden. Di-e Veräußerung hatte übrigens auch wenig Zweck, da ge-
münztes Geld nicht ausgeführt werden durfte und Geldanweisungen
jenseits der Grenze so gut wie wertlos waren. Wohlhabende Famüien
sahen sich von völligem Ruin bedroht und zu einem Bettlerdasein ver-
urteilt. Die verzweifelte Lage der vor der Verbannung stehenden Ju-
den schien den Dominikanermönchen der geeignetste Zeitpunkt für
die Entfaltung ihrer Missionspropaganda zu sein. Sie redeten den Un-
glücklichen zu, zum katholischen Glauben überzutreten, um so dem
Elend und der Obdachlosigkeit zu entgehen. Indessen war die Zahl
derjenigen, die sich durch die Verlockungen der Mönche verleiten
ließen, überaus gering. Zu diesen wenigen gehörte allerdings auch der
Hofrabbiner und Fiskal Abraham Senior mitsamt seiner Familie, was
in den Hofkreisen mit größtem Jubel begrüßt wurde: König und Kö-
nigin standen bei der Taufe in eigener Person Gevatter.
Der Auszug setzte ein. Der älteste der Rabbiner, Isaak Aboab aus
Toledo, begab sich zusammen mit noch dreißig anderen Vertretern
der kastilischen Gemeinden nach Portugal, um dort Gastfreundschaft
4o4
§ 56. Die Vertreibung der Juden aus Spanien (1U92)
für die Exulanten zu erbitten. Einzelne Auswanderergruppen zogen in
die Fremde, ohne erst den Ablauf der um zwei Tage, bis zum 2. Au>-
gust verlängerten Gnadenfrist abzuwarten. Die Hauptmasse der Aus-
gewiesenen blieb jedoch bis zum letzten Augenblick im Lande. Ein
merkwürdiger Zufall wollte es, daß diese Tage in die erste Dekade des
Monats Ab, in die nationale Trauerwoche fielen. Etwa 200 ooo1) Ju-
den rissen sich für immer von ihrer Heimat los. Die letzten drei
Tage vor dem Auszug umlagerten die Exulanten zu Tausenden die ge-
heiligten Gräber ihrer Väter, sie mit Strömen von Tränen benetzend.
Sogar die teilnahmsvolleren unter den Christen vermochten nicht
ohne tiefste Gemütsbewegung diese Abschiedsszenen mitanzusehen.
Viele der Ausziehenden nahmen die Grabtafeln zum Andenken mit
sich oder übergaben sie insgeheim ihren Brüdern, den Marranen, zur
Aufbewahrung, die sie schweren Herzens in dem Lande der Inquisi-
tion zurücklassen mußten.
Die Verbannten zerstreuten sich in alle Winde. Die Hälfte brach
nach dem nahegelegenen Portugal auf, eine kleinere Gruppe begab sich
nach Navarra, während sich der Rest in Nordafrika, in Italien und der
Türkei ansiedelte. Eine von den Auswanderergruppen, an deren Spitze
Isaak Abravanel stand, ließ sich in Neapel nieder. Auf ihren weiten
Wanderungen hatten die Heimatlosen unzählige Leiden zu überstehen;
Hunger, Krankheit und Tod waren ihre unzertrennlichen Reisege-
fährten.
So war denn Spanien seine Juden, Hunderttausende von arbeits-
frohen und kulturell hochstehenden Bürgern, losgeworden. Später
rückte die Inquisition auch den Mauren zu Leibe, indem sie sie vor
die Wahl zwischen Taufe und Ausweisung stellte. (Eine große Zahl
von auf diese Weise zur Taufe gezwungenen Mauren, der sogenannten
„Moriscos“, hielt aber insgeheim nach wie vor am Islam fest und
geriet so in die gleiche Lage wie die Marranen.) Zwar gelang es Spa-
nien auf diesem Wege, die konfessionelle Einheit im Lande her-
zustellen, doch war damit zugleich die abschüssige Bahn des wirt-
f) In der Schätzung der Zahl der Verbannten gehen die Chronisten und
Geschichtsschreiber sehr weit auseinander; am nächsten scheint der Wirklichkeit
die auf Grund komplizierter Berechnungen von Isidore Loeb ermittelte und im
Text angegebene Zahl zu kommen. Diese Zahl ist kaum als zu niedrig veranschlagt
zu betrachten, wenn man in Erwägung zieht, daß in Spanien eine fast gleiche
Zahl von Marranen zurückgeblieben war, von denen viele erst später den Wan-
derstab ergriffen.
4o5
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
schaftlichen und kulturellen Verfalls beschritten. Durch die Vertrei-
bung der Juden ging es seines gewerbetreibenden Mittelstandes ver-
lustig, der für die Erschließung der natürlichen Hilfsquellen des Lan-
des soviel geleistet hatte. Der jüdische Unternehmungsgeist lebte
allerdings in den im Lande zurückgebliebenen Marranen weiter fort,
die denn auch im folgenden Jahrhundert mit den neuen spanischen
Kolonien in dem von Kolumbus entdeckten Amerika einen weit aus-
gedehnten Handelsverkehr anbahnten; dadurch gelang es, den wirt-
schaftlichen Niedergang des Mutterlandes für eine Zeit aufzuhalten.
Als jedoch im XVI. Jahrhundert die Flucht der Marranen aus dem
Lande der Inquisition zu einer Massenauswanderung anschwoll, wurde
der durch die Vertreibung der Juden untergrabene Wohlstand Spa-
niens endgültig vernichtet. Das „große“ Reich ging unaufhaltsam
dem Ruin entgegen. Rürgersinn und Kultur erstickten im Rauche der
Scheiterhaufen. Das an das Schauspiel der menschenfressenden Auto-
dafes gewöhnte Volk verfiel der Verwilderung: die Sitten wurden im-
mer roher; der gesunde Same der Religion wurde von Aberglaube
und Fanatismus überwuchert. Das blühende Land der arabisch-jüdi-
schen Renaissance verwandelte sich in eine tote Einöde der Mönche.
§ 57. Die Vertreibung aus Portugal (1U98)
Etwa die Hälfte aller spanischen Verbannten suchte, wie erwähnt,
das nahegelegene Portugal auf. Sie hegten die Hoffnung, in diesem;
Lande, das schon einstmals den Opfern der Katastrophe vom Jahre
1891 Zuflucht gewährt hatte, wenigstens für eine Zeitlang eine
Ruhestätte zu finden1). Als die von dem Rabbiner Isaak Aboab
geführte Deputation der kastilischen Gemeinden bei König Juan II.
um die Einreisegenehmigung für die Verbannten nachsuchte,
gab der portugiesische Herrscher, allerdings nicht aus Menschen-
freundlichkeit, sondern ausschließlich im Interesse des Fiskus, der
Bitte statt. Nach Beratung mit den Granden erklärte er sich bereit,
den Einlaßbegehrenden für die Frist von höchstens acht Monaten den i)
i) Drei Jahre vor der Vertreibung der Juden aus Spanien und zehn Jahre
vor ihrer Ausweisung aus Portugal glaubte die große jüdische Gemeinde von
Lissabon noch so wenig gefährdet zu sein, daß sie sich den Luxus einer eigenen
Druckerei leistete, einer der ersten nach der Erfindung der Buchdruckerkunst.
Von 1^89 bis 1492 sind hier einige umfangreiche Werke (eine Bibel mit Kom-
mentaren und manche andere Bücher) im Drucke erschienen.
4o6
§ 57. Die Vertreibung aus Portugal (1U98)
Aufenthalt in Portugal unter der Bedingung zu gestatten, daß sie für
die Einreiseerlaubnis eine angemessene Gebühr entrichteten (von 8 bis
ioo Goldcruzado, je nach dem Vermögensstand der einzelnen Ein-
wanderer). Die Befristung der Aufenthaltsbewilligung lag übrigens
auch im Interesse der im Lande bereits bestehenden jüdischen Ge-
meinden, die allen Grund zu der Befürchtung hatten, daß die über-
mäßige Zuwanderung aus Spanien die portugiesischen Juden in ihrer
Bewegungsfreiheit einengen und die von der christlichen Umwelt
gegen sie gehegte Feindseligkeit noch verschärfen würde. Eine län-
gere Aufenthaltsdauer wurde nur den nach dem höchsten Steuersatz
veranlagten, kapitalkräftigsten Exulanten sowie den dem Staate un-
entbehrlichen Handwerkern, namentlich den Waffenschmieden, be-
willigt. Zugleich verpflichtete sich der König, den Heimatlosen für
einen mäßigen Entgelt Schiffe zur Fortsetzung ihrer Beise zur Ver-
fügung zu stellen. Dies waren die Bedingungen, unter denen etwa
iooooo Verbannte die portugiesische Grenze überschritten. Indessen
sollte ihnen auch diese kurze Atempause bald vergällt werden.
Der portugiesische König, dessen Gastfreundschaft die Heimat-
losen mit Geld erkaufen mußten, war im Grunde seines Wesens nicht
viel besser als Ferdinand der Katholische. Obwohl er es nicht ver-
schmähte, die Dienste jüdischer Astronomen und Geographen für
die von ihm ausgerüsteten Expeditionen in Anspruch zu nehmen, die
schließlich zur Entdeckung des neuen Seeweges nach Indien führten
(Vasco da Gama), brachte er den Juden dennoch nichts als Feind-
seligkeit entgegen. Auf die Forderung des Papstes Innocenz VIII.
hin setzte er sogar eine besondere Inquisitionskommission in seinem
Reiche ein, die die aus Spanien geflüchteten Marranen ausfindig ma-
chen sollte. Dem von klerikalem Geiste erfüllten König Juan waren
aber nicht nur die zugereisten, sondern auch die alteingesessenen Ju-
den zur Last. Bald bot sich ihm eine Gelegenheit, die einen wie die
anderen zu vertreiben. Zu Beginn des Jahres i4g3 brach nämlich
unter den notleidenden Auswanderern eine Epidemie aus, die Tau-
sende von Opfern verschlang (unter anderen wurde auch Isaak Aboab
von der Seuche hinweggerafft), und die Portugiesen gaben nun laut
ihrem Unwillen darüber Ausdruck, daß die Regierung die „von Gott
Verdammten“ ins Land gelassen hätte. Die Behörden bestanden dar-
auf, daß die Exulanten zur festgesetzten Frist Portugal unbedingt
verließen und stellten ihnen auf Befehl des Königs auch Schiffe für
407
' '' • '
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
die Weiterreise zur Verfügung. Bald schifften sich in Lissabon und
Oporto die ersten Gruppen der Emigranten ein. Unterwegs hatten sie
die furchtbarsten Leiden zu ertragen. Aus Furcht vor Einschleppung
der Epidemie verwehrte man ihnen, in den nahegelegenen Häfen ans
Land zu gehen, so daß die Unglücklichen monatelang auf dem Meere
herumirren mußten, der Willkür der Schiffsherren und Kapitäne
ausgeliefert, die sie wie Sklaven behandelten, ihnen ihre letzte Habe
und zuweilen sogar ihre Weiber und Töchter Wegnahmen. Als eines
dieser umherirrenden Schiffe einst bei Malaga an die den Juden ver-
botene spanische Küste verschlagen wurde, schickte der Ortsbischof
tagein, tagaus katholische Priester an Bord, um den von Land zu
Land Gehetzten das Evangelium zu predigen. Nachdem sich jedoch
der Bischof von der Fruchtlosigkeit der Überredungsversuche über-
zeugt hatte, machte er dem Kapitän den Vorschlag, seinen Fahrgästen
jegliche Nahrung zu entziehen, um sie durch Aushungerung nach-
giebiger zu machen. Fünf Tage lang waren die Unglücklichen den
Hungerqualen ausgesetzt, und die ganze Zeit saßen ihnen die Pfaffen
mit den Mahnworten auf dem Nacken: „Wer am Leben bleiben will,
möge sich taufen lassen“. Etwa hundert von den Gemarterten gaben
sich schließlich besiegt und traten zum Christentum über, doch fan-
den sich nicht weniger als fünfzig Heldenmütige, die der von der
Kirche dargebotenen „geistigen Nahrung“ ohne Zaudern den Hunger-
tod vorzogen. Der von christlicher Liebe erfüllte Bischof begnügte
sich mit dieser Hekatombe und ließ den Rest der noch am Leben ge-
bliebenen Juden weiterziehen; erst in Afrika gewannen sie wieder
festen Boden unter den Füßen und ließen sich schließlich in Fez
nieder1).
Nicht viel beneidenswerter war das Los derjenigen, die in Erman-
gelung des Reisegeldes oder aus anderen Gründen über die festge-
setzte Frist hinaus in Portugal verblieben. Alle, die nicht in der Lage
waren, die hohe Kopfsteuer zu entrichten, wurden kurzerhand zu
Leibeigenen des Königs erklärt. Die portugiesischen Granden säum-
ten nicht, die lebende Beute unter sich zu verteilen, und ein jeder
suchte sich die ihm besonders zusagenden jüdischen Männer und
U Diese Episode ist uns von einem der spanischen Exulanten, von dem Kab-
balisten Jehuda Chajat, überliefert, der selbst unter den Schiffspassagieren war
und dessen Gattin an Bord den Hungerqualen erlag (s. Vorrede zum Buche des
Chajat „Minchath Jehuda“).
4o8
§ 57. Die Vertreibung aus Portugal (1U98)
Frauen aus. Zugleich erging der Befehl, den Gefangenen ihre min-“
derjährigen Kinder wegzunehmen und diese nach der neuentdeckten
öden Sankt-Thomas-Insel zu verschicken, damit sie dort im christ-
lichen Glauben auferzogen werden sollten. Als die Abschiedsstunde
schlug, ergriffen viele Mütter ihre Kinder und stürzten sich mit ihnen
in die Fluten. Viele von den unglückseligen Kindern fielen auf der
fernen Insel, die sonst nur für die Deportation von Verbrechern be-
stimmt war, dem ungesunden Klima und der dort wütenden Schlan-
genplage zum Opfer.
Der Tod des Königs Juan und die Thronbesteigung seines Nach-
folgers Manuel (Ende des Jahres i4ü5) ließen die Juden eine Besse-
rung ihrer Lage erhoffen. König Manuel gab in der Tat den der
Sklaverei preisgegebenen spanischen Exulanten ihre Freiheit wieder
und sicherte ihnen seinen Schutz zu. Eine gewisse Rolle mochte hier-
bei die Fürsprache seines Hofastrologen, des bekannten Mathemati-
kers Abraham Zacuto (des Verfassers der Chronik „Jochassin“) ge-
spielt haben, der aus Spanien gebürtig war und seinen Wohnsitz spä-
ter in Lissabon aufgeschlagen hatte. Indessen trat in dem Verhalten
des portugiesischen Königs gegen die Juden infolge einer mit der
Politik aufs engste verbundenen Familienangelegenheit bald eine
schroffe Änderung ein. Manuel warb nämlich um die älteste spani-
sche Infantin, die Tochter Ferdinands und Isabellas, in der Hoff-
nung, nach dem Ableben des Königspaares die spanische Krone zu
erben. Ferdinand und Isabella willigten zwar in die Ehe ein, stell-
ten aber unter anderem die Bedingung, daß Portugal ebenso wie das
ihm verbündete Spanien von den Juden gesäubert werden sollte. Auch
die Braut selbst (Isabella die Jüngere) erklärte, daß sie nur unter
dieser Bedingung den Boden Portugals betreten werde. Der portu-
giesische König legte hierauf die Angelegenheit dem Staatsrate vor,
in dem es aus diesem Anlaß zu einer Meinungsverschiedenheit kam:
während ein Teil der Granden der Ansicht war, daß eine restlose Aus-
weisung der Juden Portugal an den Ruin bringen und nur den be-
nachbarten muselmanischen Reichen Afrikas, wohin sich die Aus-
gewiesenen wenden würden, zum Nutzen gereichen würde, vertraten
die anderen die Meinung, daß durch die Vertreibung der Juden der
christliche Glaube an Reinheit gewinnen würde, und beriefen sich
hierbei auf das Beispiel Englands, Frankreichs und Spaniens. Der
König stimmte der letzten Ansicht bei: wie hätte er auch um der Ju-
4og
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
den willen seine dynastischen Pläne fallen lassen sollen. So wurde
denn der Ehevertrag zwischen Manjuel und der spanischen Infantin
unterzeichnet und damit zugleich das Los der portugiesischen Juden
endgültig besiegelt. Am 2 5. Dezember 1496 erging ein Edikt, in dem
allen Juden, sowohl den im Lande ansässigen wie auch den aus Spa-
nien zugewanderten, unter Androhung der Vermögenseinziehung und
der Todesstrafe befohlen wurde, binnen zehn Monaten, bis Ende Ok-
tober 1497, Portugal zu verlassen. Das Edikt rückte gleich dem-
jenigen Ferdinands des Katholischen ausschließlich das religiöse Motiv
der Vertreibung in den Vordergrund: „Die Juden — heißt es darin
— beharren bei ihrem Haß gegen den heiligen katholischen Glau-
ben, begehen Verbrechen gegen die Religion und bringen die Christen
von dem Wege der Wahrheit ab“.
Nicht ohne besondere Absicht hatte König Manuel den Ausgewie-
senen eine so lange Frist für den Abzug eingeräumt: er hoffte näm-
lich, daß es ihm während dieser Zeit gelingen würde, die in eine
höchst prekäre Lage versetzten Juden zur Taufe zu bewegen und so
diese betriebsame und nützliche Bevölkerungsschicht dem Staate zu
erhalten. Als er sich jedoch in seiner Hoffnung auf einen freiwilli-
gen Übertritt der Juden zum Christentum getäuscht sah, verfiel er
auf den grauenvollen Gedanken, gleich seinem Vorgänger wenigstens
die Kinder der Emigranten gewaltsam taufen zu lassen. Vergeblich
suchten viele Mitglieder des Staatsrates und insbesondere der Bischof
Coutinho, der in der Schar der schwarzen Kleriker gleichsam der
weiße Rabe war, den König von der Gewalttat zurückzuhalten; den
ehrlich Warnenden standen nicht wenige Hofschranzen gegenüber
(darunter, wie erzählt wird, auch der getaufte Leibarzt Antonio, der
früher den Namen Levi ben Schemtob getragen hatte), die dem Kö-
nig durch ihre Schmeicheleien den Rücken stärkten. So befahl er
denn, daß allen jüdischen Eltern ihre Kinder beiderlei Geschlechts
im Alter von vier bis zwanzig Jahren entrissen und in den Ostertagen
getauft werden sollten (1497). Als die Juden in Lissabon, Evora und
anderen Orten davon Kenntnis erhielten, rüsteten sie sich schleunigst
zur Abreise, um noch vor Ostern Portugal verlassen zu können; der
König kam ihnen jedoch zuvor, und das geplante Verbrechen wurde
schon am 19. März zur Ausführung gebracht. Es spielten sich herz-
zerreißende Szenen ab. Man riß die Kinder aus den Armen ihrer El-
tern und schleppte sie zum Taufbecken. „Ich sah — so erzählt der
4io
§ 57. Die Vertreibung aus Portugal (1U98)
Bischof Coutinho —, wie viele an den Haaren zum Taufbecken ge-
zerrt wurden, wie ein vom Kummer überwältigter Vater, neben sei-
nem Sohne einherschreitend, laut seiner Entrüstung Ausdruck gab
und Gott als Zeugen anrief, daß sein Kind zusammen mit ihm im
Glauben Moses’ sterben wolle. Und noch mancher anderen unsagbaren
Gewalttaten mußte ich Zeuge sein“. Viele Eltern gaben ihren Kin-
dern und sich selbst den Tod, indem sie sich zusammen mit ihnen
ins Meer stürzten; es gab aber auch solche, die, um ihre getauften
Kinder nicht schutzlos den Feinden auszuliefern, selbst zum Christen-
tum übertraten.
Verfolgungen von seiten der Inquisition befürchtend, beeilten
sich diese neuen „Anussim“, eine Deputation nach Rom an den
Papst Alexander VI. zu entsenden, um diesen zu bewegen, den por-
tugiesischen König und die im Lande tätigen Inquisitoren von Re-
pressalien gegen die Neubekehrten zurückzuhalten. Die päpstliche
Kurie, die wohl durch reiche Gaben günstig gestimmt worden war,
zögerte nicht, der Bitte stattzugeben. Hierauf erklärte sich König
Manuel, der die Juden, unter welcher Maske es auch sei, im Lande
behalten wollte, zu weitgehenden Zugeständnissen bereit. Durch das
Dekret vom 3o. Mai i497 ta^ er kund, daß die Neuchristen zwanzig
Jahre lang von der Inquisitionskontrolle unbehelligt bleiben sollten,
daß sie binnen dieser Zeit wegen geheimer Befolgung jüdischer Bräu-
che nicht gerichtlich verfolgt werden dürften und daß auch nach Ab-
lauf dieser Frist die der Ketzerei Überführten jedenfalls nicht wie in
Spanien mit der Einziehung des gesamten Vermögens zugunsten des
Staatsschatzes bestraft werden würden. Den neuen Gefangenen der
Kirche war somit die Möglichkeit gegeben, sich im Laufe der näch-
sten Jahre, wenn auch nur insgeheim, zum Judentum zu bekennen.
Durch diese den Neubekehrten gewährten Vorrechte hoffte der Kö-
nig unter den sich zur Ausreise rüstenden jüdischen Massen für die
Kirche einen reichen Fang machen zu können.
Im Herbst i497 £Pn£ ^en ™ Judentum verbliebenen Emi-
granten eingeräumte Gnadenfrist zu Ende. Im Hafen von Lissabon
sammelten sich etwa zwanzigtausend Juden an, um das ihnen zur Falle
gewordene zeitweilige Asyl schleunigst zu verlassen. Indessen wurden
sie hier so lange zurückgehalten, bis auch der letzte Termin (Ok-
tober) verstrichen war, worauf man ihnen erklärte, daß sie wegen
Überschreitung der ihnen bewilligten Aufenthaltsfrist der Ver-
4n
Der Zusammenbruch des jüdischen Zentrums in Spanien
fügungsgewalt des Königs verfallen seien, der mit ihnen nunmehr
nach Belieben verfahren dürfe. Die, Auswanderer wurden sodann in
einem großen Palast untergebracht, wo sie alltäglich von Missiona-
ren auf gesucht wurden, die sie zur Taufe zu überreden suchten; die
Widerspenstigen glaubte man durch Nahrungsentziehung zähmen zu
können. Als alle diese Gewaltmittel ohne Erfolg blieben, erging der
Befehl, die Ungehorsamen zur Kirche zu schleifen, was von den Sol-
daten auch in rohester Weise zur Ausführung gebracht wurde. Viele
von den Unglücklichen, die man an Stricken oder an den Haaren
durch die Straßen zerrte, rissen sich aus den Händen ihrer Peiniger
los, um sich in die Brunnen oder von den Dächern der Häuser zu
stürzen; andere schmähten in ostentativer Weise Christus und die
kirchlichen Sakramente, um so die Rohlinge in Wut zu versetzen und
von ihnen auf der Stelle den Todesstoß zu empfangen. Den Soldaten
war indessen eingeschärft worden, den Gotteslästerungen der Juden
keine Beachtung zu schenken, „und so überzeugten sich die Dulder
— wie der jüdische Chronist berichtet — daß ihnen sogar der Weg
zum Tode versperrt sei“. Unter solchen Umständen nahmen sehr viele
zum Scheine die Taufe an; darunter waren auch Männer, denen es
später gelang, in fremde Länder zu entkommen und sich sogar als
Rabbiner einen Namen zu machen. Das Dekret vom 3o. Mai, das die
Neubekehrten vor der Überwachung durch die Inquisition sicher-
stellte, machte es nun auch der neuen „Anussim“-Gruppe möglich,
sich bis zum Anbruch einer besseren Zeit in der einen oder anderen
Weise über Wasser zu halten.
Mittlerweile begann die Hochflut der katholischen Raserei in Por-
tugal allmählich zu verebben. Nachdem sich der König Manuel von
der Unmöglichkeit, alle Emigranten der Taufe zuzuführen, endgültig
überzeugt hatte, ließ er sie ziehen. Die Auswanderung zog sich über
das ganze nächste Jahr hin (1498). So gelangte die in Spanien ge-
löste „Judenfrage“ nunmehr auch in Portugal zur Lösung; zugleich
wurde hier aber durch die gewaltsame Taufe vieler Tausende von Ju-
den eine neue „Marranenfrage“ akut, mit deren Lösung sich die In-
quisitoren im Dunkel der Verließe und beim grellen Scheine der Auto-
dafes noch zwei volle Jahrhunderte unausgesetzt beschäftigen soll-
ten .. .
Die Not der Verbannten nahm jedoch auch jenseits der portugie-
sischen Grenzen noch lange kein Ende. Den vielen Tausenden von
4l2
§ 57. Die Vertreibung aus Portugal (1U98)
Heimatlosen war es nicht leicht, ein Asyl zu finden. Monatelang irrten
sie auf dem Meere zwischen den Häfen Spaniens, Portugals, Afrikas,
Italiens und der Türkei umher. Nicht wenige von ihnen gingen unter-
wegs an Hunger, Krankheiten und Entbehrungen zugrunde; einige
Schiffe wurden von Piraten gekapert, die die Pieisenden als ihre Ge-
fangenen in die Sklaverei verkauften. Auch wenn es den Emigranten
einmal zu landen gelang, waren sie unter dem neuen Himmelsstrich
nicht immer für die Dauer geborgen: gar oft wurden sie durch neue
Bedrängnis wieder aufgescheucht und mußten sich erneut auf die
Suche nach einem Asyl begeben. In dieser Weise erging es ihnen in
einigen Hafenstädten Italiens sowie in Tunis und Algier. Eine sichere
Zufluchtsstätte fanden hingegen die Exulanten in der Türkei, die kurz
vorher auf den Trümmern von Byzanz ihre Macht begründet hatte.
In demselben Jahre 1498 mußten die spanischen Exulanten auch
ihr zeitweiliges Asyl in Navarra verlassen. Nach diesem kleinen König-
reich hatten sich nämlich im Jahre 1492 die Ausgewiesenen aus dem
benachbarten Aragonien, vornehmlich aus Saragossa gewandt. Der
König von Navarra gewährte den Auswanderern bereitwillig seine Pro-
tektion, und nur die Magistrate von Tudela und Tafallo ließen die Ju-
den in die von ihnen verwalteten Städte nicht ein. Als der spanische
König Ferdinand aber bald darauf Navarra seinem Reiche angliederte,
verlangte er, daß die wenigen in diese Provinz eingedrungenen Ver-
bannten unverzüglich des Landes verwiesen werden sollten. Der König
von Navarra mußte sich fügen, und die Juden sahen sich wieder
einmal vor die Wahl zwischen Auswanderung und Taufe gestellt.
In ihrer Verzweiflung willigten viele in die Taufe ein und legten so
den Grundstein zu der Marranenkolonie von Navarra (Tudela hatte
noch im XVI. Jahrhundert viele Neuchristen aufzuweisen). Der Rest
ergriff von neuem den Wanderstab und zog der Ungewißheit ent-
gegen.
413
Fünftes Kapitel
Italien zur Zeit der Frührenaissance
§ 58. Die römische Gemeinde
Seit dem XIV. Jahrhundert wird Italien für die gehetzte Diaspora
zu einem Lande der Immigration. Alle in dieser Zeit hereinbrechen-
den Katastrophen treiben den italienischen Küsten Scharen von Hei-
matlosen zu. Die in den Jahren i3o6 und 1894 aus Frankreich Ver-
triebenen, die nach den Schrecken des „Schwarzen Todes“ aus
Deutschland Geflüchteten, die im Jahre 1421 für eine Zeitlang aus
Österreich Ausgewiesenen und schließlich die spanischen Exulanten
vom Jahre 1492-—sie alle wurden auf dem einen oder dem anderen
Wege, bald in größeren, bald in kleineren Gruppen nach Italien ver-
schlagen. Nicht immer war hier freilich den Wanderern ein ungetrüb-
tes Dasein beschieden; indessen erfreute sich dieser alte Zufluchtsort
der westlichen Diaspora, in dem gegen Ausgang des Mittelalters der
Geist der Antike zu neuem Leben erwachte, nach wie vor jener eigen-
artigen, von den Kirchencaesaren aufrechterhaltenen „pax romana“,.
die die Juden wenn auch nicht vor alltäglicher Bedrückung, so doch
wenigstens vor größeren Katastrophen bewahrte. Das päpstliche Rom
hielt an seiner „Duldsamkeit“ der im Trastevere gelegenen alten jüdi-
schen Kolonie gegenüber unentwegt fest und nahm den in die „ewige
Stadt“ verschlagenen Splitter der ewigen Nation vor den Ausschrei-
tungen der Menge getreulich in Schutz. Heikler war die Lage der Ju-
den in den Stadtrepubliken und in den kleinen Fürstentümern Ober-
und Mittelitaliens, wo sie nur in dem Maße geduldet wurden, als dies
den wirtschaftlichen Interessen der jeweiligen Machthaber entsprach.
Was aber die südlichen Königreiche Neapel und Sizilien anbelangt,
so blieben die großen jüdischen Gemeinden hier nur so lange unbe-
helligt, bis die Vertreibung aus Spanien auch die Ausweisung der Ju-
4i4
§ 58. Die römische Gemeinde
den aus den Ferdinand dem Katholischen Untertanen italienischen
Ländern nach sich zog.
Am unsichersten war die Lage der jüdischen Gemeinde in Rom
in dem Zeitabschnitt, als die Päpste in das „babylonische Exil“ nach
Avignon gezogen waren (i3o8—1878). Aber auch im ganzen übri-
gen Italien waren die Zustände um diese Zeit nichts weniger als ge-
ordnet und sicher. Es war dies jene Epoche der Frührenaissance, in
der sich Freiheit und Tyrannei, Demokratie und Oligarchie, republi-
kanische Zucht und anarchische Zügellosigkeit miteinander paarten,
eine Epoche, in der den Volkstribunen käufliche Condottieri gegen-
überstanden, in der neben Dante und Petrarca ein Cola di Rienzi und
Malatesta wirkten. Nach Verlegung der päpstlichen Residenz nach
Avignon wurde Rom eine lange Zeit zum Schauplatz erbitterter
Kämpfe um die Macht, an denen sich Ghibellinen und Welfen, Partei-
gänger des deutschen Kaisers und die des Papstes, die Partei des.
neapolitanischen Königs Robert von Anjou, die aristokratischen Ge-
schlechter Colonna und Orsini sowie die Vorkämpfer der bürgerlichen
Demokratie beteiligten. Verworrenen Nachrichten jüdischer Chro-
niken zufolge soll im Jahre i32i, als die Juden in Frankreich unter
der „Verleumdung durch die Aussätzigen“ zu leiden hatten, auch die
römische Gemeinde in schwerer Gefahr geschwebt haben1). Die Viel-
herrschaft in Rom spürte die dortige jüdische Gemeinde vor allem
darin, daß sie an mehrere, zuweilen nur nominelle Gewalten Tribut
entrichten mußte. Als sich der deutsche Kaiser Ludwig der Bayer in
Rom krönen ließ und der Stadt aus diesem Anlaß eine außerordent-
liche Abgabe in der Höhe von 3o 000 Goldgulden auf erlegte, mußten
die Juden neben der Rürgerschaft und dem Klerus nicht weniger als
den dritten Teil dieser Summe auf bringen. Wenig erfreulich war für
die römischen Juden auch die vorübergehende, auf demokratischer
Grundlage errichtete Regierung des Volkstribuns Cola di Rienzi
(i347—i354). Wohl begrüßte die Bevölkerung seinen über die
1) Eine dunkle, in den Chroniken „Schebet Jehuda“ (Nr. i4) und „Emek
ha’bacha“ (mit Berufung auf Samuel Usque) wiedergegebene Nachricht weiß da-
von zu erzählen, daß die Schwester irgendeines Papstes, von Judenhaß beseelt,
ihren Bruder dazu zu überreden suchte, alle Juden aus seinem Herrschaftsbereiche
zu vertreiben. Die Gefahr soll nur dadurch abgewendet worden sein, daß es den
Abgeordneten der römischen Gemeinde mit dem Beistand des Königs von Neapel
Robert gelungen sei, den Papst mitsamt seiner Schwester in Avignon durch in-
ständige Bitten und reiche Gaben zur Gnade zu bewegen.
4i5
Italien zur Zeit der Frührenaissance
Aristokratie errungenen Sieg und die von ihm verkündete republika-
nische Freiheit mit hellem Jubel, doch sollte sie sich bald davon über-
zeugen, daß die schönen Reden über die auferstandene Größe des
alten Rom die wirtschaftliche Zerrüttung und das Elend der Volks-
massen keineswegs zu beseitigen vermochten. So wurde denn der
Volkstribun schließlich von dem allen Demagogen beschiedenen Lose
ereilt: dieselbe Menge, die ihn auf den Gipfel der Macht erhoben
hatte, stürzte ihn von dieser Höhe bald in den tiefsten Abgrund her-
ab. Der Revolutionsheld, der Sohn einer armen römischen Wasser-
trägerin, die in der Nähe der Synagoge ihren Wohnsitz hatte, scheint
unter den Juden nicht wenige Anhänger gehabt zu haben. So soll bei
einer von der dem Tribun feindlichen Partei angezettelten Erhebung
ein ihm ergebener Jude den ganzen Tag hindurch die Sturmglocke
geläutet haben, um das Volk zur Verteidigung seines Günstlings auf-
zurufen. Dies hinderte jedoch den aus Rom geflüchteten und dann
als Diktator in die Stadt zurückgekehrten Rienzi nicht, durch die von
ihm verfügten Requisitionen in erster Linie die Juden zu brand-
schatzen. Als das Volk von Rom Rienzi schließlich ermordete und
auf Befehl des Patrizierhauses Colonna seine Leiche auf dem Schei-
terhaufen verbrannte, wurden die Juden gezwungen, das Feuer zu
schüren. Indessen fehlt uns jede Nachricht darüber, daß die italieni-
schen Juden in diesen Jahren, als ihre Brüder in Deutschland wegen
der angeblichen Schuld am „Schwarzen Tode“ so schwer zu leiden
hatten (i348—49), in Italien, das von der Seuche gleichfalls heim-
gesucht wurde, irgendwelchen besonderen Verfolgungen ausgesetzt
gewesen wären.
Nachdem die Päpste aus ihrer „Gefangenschaft“ in Avignon nach
der römischen Residenz zurückgekehrt waren, kehrten in die Stadt
nach und nach wieder geordnetere Zustände ein, doch sollten noch
etwa fünfzig Jahre vergehen, bis Ruhe und Ordnung endgültig ge-
sichert waren. Die Kirche hatte nämlich vorerst selbst unter dem
„großen Schisma“ (1878—1417) zu leiden, da jedem der römi-
schen Päpste ein Gegenpapst in Avignon und zuweilen sogar zwei Ri-
valen zugleich in Frankreich oder Spanien gegenüberstanden. In die-
ser ganzen Zeitspanne pflegten die römischen Päpste der jüdischen
Gemeinde, die durch bei der Kurie hochangesehene Ärzte vertreten
war, in der Regel weitgehende Protektion zu gewähren. Den bekann-
ten Kanons und Bullen zum Trotz nahmen die römischen Christen
4i6
§ 58. Die römische Gemeinde
und auch die Päpste selbst die Dienste der überaus volkstümlichen jü-
dischen Ärzte anstandslos in Anspruch. Im Jahre 1876 bewilligte der
römische Senat den im Trastevere, im Judenviertel, wohnhaften Ärz-
ten Manuel und dessen Sohne Angelo mitsamt ihren Familien völlige
Steuerfreiheit und zwar aus dem Grunde, weil sie als „große Mei-
ster ihrer Kunst den römischen Bürgern ständig wichtige Dienste lei-
sten und damit der Stadt den allergrößten Nutzen bringen“. Später-
hin verbriefte der Senat den beiden Ärzten auch das römische Voll-
bürgerrecht. Diese Ehrenrechte wurden vom Papste Bonifazius IX.
(i384—i4o4) ausdrücklich bestätigt, der überdies Angelo in einem
besonderen Diplom zum „Hausarzt (familiaris) am römischen aposto-
lischen Stuhle“ ernannte und ihn von allen für die Juden festgesetz-
ten Rechtsbeschränkungen befreite. Dadurch hatte der Papst, dem
noch ein anderer Jude, Salomo aus Perugia, als Leibarzt zur Seite
stand, zugleich auch sich selbst von dem Joche jener Kanons befreit,
denen sich die von ihm Betreuten an anderen Orten so demütig füg-
ten. Sein Nachfolger Innocenz VII. (i4o4—i4o6) bestätigte gleich-
falls das von dem römischen Senat dem berühmten „Arzte, Physiker
und Doktor der Medizin“ Elias Sabbato und noch zwei anderen jüdi-
schen Ärzten verliehene Bürgerrecht. Dieses Privileg verbürgte den
Ärzten nicht nur völlige Steuerfreiheit, es befreite sie auch von der
vorschriftsmäßigen jüdischen Sondertracht und verlieh ihnen das
Recht, zum Zeichen ihrer bürgerlichen Gleichberechtigung einen De-
gen an der Seite zu tragen. So spielten denn hier die bevorrechteten
Ärzte in dem Verkehr zwischen der jüdischen Gemeinde und der
Kurie dieselbe Rolle, die in den anderen Ländern den Finanzmännern
und Steuerpächtern zuzufallen pflegte. Desungeachtet hielt man in
der Residenz des Oberhauptes der Kirche nach wie vor an jenen aus
alter Zeit stammenden Zeremonien, darunter auch an der feierlichen
Huldigung für jeden der neuen Päpste fest, die den Triumph der
Kirche über die Synagoge versinnbildlichen sollten (Band IV, § 5i).
Als die Vertreter der römischen Gemeinde Innocenz VII. bei seiner
Krönung eine Thorarolle überreichten, vernahmen sie die folgenden
Worte: „Euer Gesetz ist zwar gut, doch wird es von euch mißver-
standen, denn das Alte ist vorbei und zu Kraft besteht nur noch das
Neue“. Hierauf wandte sich der Papst von den Abgeordneten ab und
gab ihnen, zum Zeichen seiner Mißachtung für das Alte Testament,
417
21 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
Italien zur Zeit der Frührenaissance
dio Rolle über die linke Achsel hinweg zurück. Anders benahm sich
sein Nachfolger Gregor XII. (i4o6—i4i6): als die jüdischen Ab-
geordneten ihm mit einer reich geschmückten Thorarolle in den Hän-
den ihre Huldigung darbrachten, fand der Papst so viel Gefallen an
dem Goldschmuck der Rolle, daß er sie sich als Geschenk ausbat. Die
goldene Hülle der Bibel scheint eben für das Oberhaupt der Kirche
ihren Wert bei weitem nicht in dem Maße eingebüßt zu haben, wie
der Inhalt des „veralteten“ Buches. Übrigens stellten solche Gaben
nur einen Teil jenes Tributes dar, den die jüdische Gemeinde jedem
neuen Papste für die Bestätigung ihrer „Privilegien“ darzubringen
pflegte.
Unter Gregor XII. nahm das kirchliche Schisma ungeheuerliche
Dimensionen an: drei Päpste machten gleichzeitig ihre Ansprüche auf
die höchste Kirchengewalt geltend, darunter der in der Geschichte der
spanischen Juden eine so traurige Rolle spielende Benedikt XIII. Das
Schisma fand schließlich dadurch ein Ende, daß das Konstanzer Kon-
zil alle drei Tiaraprätendenten für abgesetzt erklärte und die Schlüs-
selgewalt Martin Y. übertrug (1417). Es zeigte sich alsbald, daß die
Zügel der Regierung nunmehr einem Manne anvertraut waren, der
in der Tat dazu berufen war, die Einheit der Kirche wiederherzu-
stellen. Um die gleiche Zeit machte sich unter den italienischen Ju-
den das Bestreben bemerkbar, unter der Führung der römischen Ge-
meinde alle Gemeinden Mittel- und Oberitaliens zu einer Einheit zu-
sammenzuschließen. Im Jahre i4i6 trat in Bologna eine Rabbiner-
und Gemeindeältestenkonferenz zusammen, die aus Rom, Padua, Fer-
rara, Bologna und aus anderen Städten der Provinz Romagna sowie
aus der Provinz Toskana beschickt war. Die Konferenz faßte den
formellen Beschluß, daß bei der Verteidigung der jüdischen Rechte
vor der päpstlichen Kurie die römische Gemeinde die Führung in-
nehaben, daß jedoch die Aufbringung der dazu nötigen Mittel nicht
dieser allein, sondern allen italienischen Gemeinden zur Last fallen
sollte. Zwei Jahre später (Mai i4i8) traten die Gemeindevertreter
in der Stadt Forli (Romagna) erneut zu einer Beratung zusammen.
Ein Teil der hierbei gefaßten Beschlüsse bezog sich auf die Regelung
der inneren Gemeindeangelegenheiten, auf die Gemeindewahlen und
die Sittenzensur (so wurden außereheliche Beziehungen, Glücksspiele
und prunkvolles Auftreten unter Verbot gestellt), das Hauptinteresse
der Versammlung galt jedoch der Wahl einer die Gesamtheit der
4i8
§ 58. Die römische Gemeinde
italienischen Gemeinden vertretenden Abordnung, die bei dem neu-
erwählten Papste Martin V. die Bestätigung der altverbrieften Vor-
rechte sowie die Gewährung neuer Freiheiten erwirken sollte. Zur
Deckung der damit verbundenen „bewußten“ Unkosten hatte jede
Gemeinde entsprechend der Zahl der ihr angehörenden Familien einen
besonderen Beitrag zur Verfügung zu stellen. Der Mission, mit der
die Abordnung betraut worden war, kam eine überaus wichtige Be-
deutung nicht allein für die italienischen Juden, sondern auch für
ihre Stammesgenossen in den anderen Ländern, namentlich in Spa-
nien zu, wo die Nachwehen des von den Mitstreitern des abgesetzten
Gegenpapstes Benedikt XIII. ausgeübten Bekehrungsterrors (§§ 49
bis 5o) noch lange nicht überwunden waren. Aber auch in Italien
selbst begann sich um jene Zeit eine von den Dominikanern betrie-
bene Missionspropaganda zu regen, die für die jüdische Bevölkerung
die schwersten Gefahren in sich barg. In dieser Hinsicht waren die
Bemühungen der jüdischen Abordnung von Erfolg gekrönt.
Schon vor seinem Einzug in Rom erließ Martin V. eine Bulle (Ja-
nuar i4i9), in der er jede Anwendung von Gewalt in Sachen des
Glaubens strikt untersagte. Nach dem neuen Erlasse durften die Ju-
den in den Synagogen nicht belästigt, zur Taufe nicht gezwungen,
bei der Feier ihrer Feste nicht gestört, sowie zum Begehen der christ-
lichen Feiertage in keiner Weise genötigt werden; auch durften ihnen
keine neuen Abzeichen außer den bereits von früher her üblichen auf-
genötigt werden, wobei den reisenden Kaufleuten, soweit es ihrem
Geschäfte zum Schaden gereichte, auch das alte „Judenzeichen“ nach
Möglichkeit erlassen werden sollte. Im Jahre 1429 beschwerten sich
die italienischen Juden beim Papste über die predigenden Mönche,
die das christliche Volk dazu aufforderten, mit den Juden keinerlei
Beziehungen zu unterhalten, ihnen keine Dienste zu leisten und auch
die Dienste der Juden nicht in Anspruch zu nehmen, wodurch im-
mer wieder Konflikte und Gewalttaten heraufbeschworen würden.
Der Papst versäumte zwar nicht, durch eine neue Bulle die Verhet-
zung zu untersagen, konnte jedoch hierbei die folgende obligate Be-
merkung nicht unterdrücken: „Ungeachtet dessen, daß die in den
verschiedenen Weltteilen als Zeugnis von Jesus Christus von der hei-
ligen Kirche geduldeten Juden es vorziehen, bei ihrer Hartnäckigkeit
und Verblendung zu beharren und es ablehnen, in die Worte der
Propheten und in die Geheimnisse der Heiligen Schrift einzudrin-
27*
419
Italien zur Zeit der Frührenaissance
gen sowie des heilspendenden christlichen Glaubens teilhaftig zu wer-
den, vermögen wir uns in unserer christlichen Barmherzigkeit ihrem
Notschrei nicht zu verschließen . . .“ Diese „christliche Barmherzig-
keit“ der Päpste kam freilich den Juden teuer zu stehen: jede von
der römischen Kurie erlassene Schutzbulle mußten sie mit klingen-
der Münze bezahlen. Bei alledem war Martin V. als Beschützer der
Juden überaus unzuverlässig. So, erließ er im Jahre 1422 zum Schutze
der deutschen und böhmischen Juden eine die Hetzpropaganda der
Mönche untersagende Bulle, um sie auf die Vorstellungen der den
„apostolischen Stuhl“ gegen die Hussiten verteidigenden Geistlichkeit
hin schon ein Jahr später zu widerrufen.
Auch die den Juden gegenüber geübte Politik der Nachfolger
Martins V. stand unter dem Drucke der Zeitereignisse. Der wegen der
inneren Wirren zumeist außerhalb Roms sich aufhaltende Papst
Eugen IV. (i43i— i447) wandelte zunächst in den Fußstapfen sei-
nes Vorgängers und veröffentlichte zum Schutze der Juden einen
gegen die Hetzprediger gerichteten Erlaß, dem er aber dann im Jahre
i442 unter dem Einfluß der auf dem Baseler Konzil das große Wort
führenden spanischen Kleriker jene judenfeindliche Bulle folgen ließ,
die in Spanien so schwere Beunruhigung hervorrief (oben, § 5i).
Er machte den Versuch, die Bestimmungen dieser Bulle auch auf die
italienischen Juden zu erstrecken und so der ihm unterstellten Herde
das zu verbieten, wozu er sich selbst volle Freiheit nahm, wie z. B.
die Inanspruchnahme jüdischer Ärzte (kurz vorher ernannte Eugen IV.
den bereits erwähnten Elias Sabbato zu seinem Leibarzte). Den Ju-
den drohte die Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung ihrer Han-
dels- und Gewerbefreiheit, ja sogar ihres geistigen Lebens, da der
päpstliche Hof sich mit dem Plane trug, den Unterricht in den jüdi-
schen Schulen ausschließlich auf den Pentateuch zu beschränken. Die
Gefahr wurde indessen durch das alterprobte Mittel abgewendet: die
in Tivoli und Ravenna zusammengekommenen Vertreter der italieni-
schen Gemeinden brachten eine hohe Geldsumme auf, durch die sie
die grollenden Götter des Vatikans leicht umzustimmen vermochten.
Die päpstliche Kurie schloß mit der jüdischen Gemeinde von Rom
einen schriftlichen Vertrag (x443), in dem den Juden gegen eine
alljährlich in der Höhe von n3o Gulden zu entrichtende Toleranz-
steuer alle altverbrieften Rechte aufs neue verbürgt wurden. Die rö-
mische Gemeinde bevollmächtigte hierauf den berühmten Arzt und
420
§ 58. Die römische Gemeinde
Dichter Moses da Rieti, eine Rundreise durch verschiedene italienische
Städte zu unternehmen, um auch die anderen Gemeinden zur Betei-
ligung an der Aufbringung der für die römischen Juden allein un-
tragbaren Steuer zu veranlassen.
Der Nachfolger Eugens IV. war jener Papst Nikolaus V. (i447 bis
i455), mit dessen Segen der Fanatiker Capistranus die Reise nach
Deutschland antrat, um dort seine wütende judenfeindliche Agita-
tion zu entfalten (§ 47)- Der sich durch seinen eisernen Willen aus-
zeichnende Franziskaner übte auf Nikolaus V., einen weltfremden
Theologen und gutmütigen Menschen, einen starken Einfluß aus,
und so zeigte der Papst in seinem Verhalten gegen die Juden eine
überaus schwankende Haltung. Während er sich in manchen seiner
Bullen von ausgesprochen liberalen Grundsätzen leiten ließ, drang
er in anderen auf strenge Befolgung der alten Kanons und gestattete
den Angehörigen der verschiedenen Mönchsorden, die Juden durch
ihr „Predigen“ zu terrorisieren. Der Papst war freilich standhaft
genug, um einen der wahnwitzigsten Vorschläge des Capistranus, der
darauf hinauslief, ein Riesenschiff erbauen zu lassen und alle rö-
mischen Juden auf diesem nach einem überseeischen Lande zu be-
fördern, rundweg abzulehnen. Spuren der sich kreuzenden Einflüsse,
der mannigfachen Bittgesuche und der Bestechlichkeit der römischen
Kurie treten uns übrigens in der gesamten Wirksamkeit der Päpste
jener Zeit entgegen. Durch seine zur Sanktionierung der Beschlüsse
der Kirchenkonzile erlassenen gestrengen Bullen entledigte sich
der „heilige“ Vater zumeist nur einer formellen Pflicht, und so
nahm er keinen Anstand, den jüdischen Gemeinden, namentlich
denen Italiens, auf ihre Bittgesuche hin allerhand Freibriefe zu
verleihen. Besonders bezeichnend ist eine solche Doppelpolitik für
den Papst Sixtus IV. Einerseits erteilt er Ferdinand und Isabella die
Sanktion zur Einführung der Inquisition gegen die spanischen Mar-
ranen, andererseits leiht er den von den Marranen gegen diese „hei-
lige Institution“ geführten Klagen bereitwilligst sein Ohr und legt
gegen die grausame Inquisitionswillkür nachdrückliche Verwahrung
ein (oben, § 55). Die vor der spanischen Schreckensherrschaft nach
Rom geflohenen Marranen fanden hier zwar die ersehnte Zuflucht,
doch bildeten sie für die jüdische Gemeinde, für die die Nachbar-
schaft der „.illegalen“ Brüder zum Verhängnis werden konnte, einen
ständigen Anlaß zu schwerster Beunruhigung. Der auf Sixtus IV.
42 r
Italien zur Zeit der Frührenaissance
folgende Innocenz VIII. (i484—1492) unterließ es denn auch nicht,
gegen die „geheimen Juden“ spezielle Maßnahmen zu ergreifen: zwei
Kardinale erhielten den Auftrag, auf die Marranen ein wachsames
Auge zu haben, und im Jahre i485 wurden acht von ihnen in Rom
von der römischen Inquisition verhaftet und in den Kerker geworfen.
§ 59. Die Gemeinden Oberitaliens. Simon Tridentinus
Das in der Metropole der Christenheit in den Beziehungen zu den
Juden mit Notwendigkeit in den Vordergrund gerückte religiöse Mo-
tiv bildete in den Handelsstädten Oberitaliens, wo die materiellen
Interessen der jüdischen und der christlichen Bevölkerung hart auf-
einander stießen, nur den erwünschten Deckmantel zur Verschleie-
rung von Motiven rein wirtschaftlicher Natur. In dem in eine Viel-
heit von Stadtrepubliken und selbständigen Herzogtümern zersplitter-
ten Italien fehlte es an einem einheitlichen Reglement für die jü-
dische Bevölkerung, und so richtete sich das ihr gegenüber bekundete
Verhalten nach der jeweiligen Schärfe des Wettbewerbes, in dem sie
auf dem Gebiete des hochentwickelten italienischen Waren- und Geld-
handels mit ihren christlichen Nachbarn lag.
Von den zwei miteinander rivalisierenden, zu Brennpunkten des
Welthandels gewordenen italienischen Republiken stand den Juden
nur die von Venedig offen; hingegen blieb Genua ihnen gänzlich ver-
schlossen, und die Rücksichtslosigkeit der Behörden ging dort so weit,
daß sie im Jahre i4p3, als ein Schiff mit spanischen Exulanten im
Hafen von Genua vor den Winterstürmen Zuflucht suchte, den Ob-
dachlosen die Landung aufs entschiedenste verwehrten. Die schon
zur Zeit der Kreuzzüge zur Königin der Meere gewordene Republik
von Venedig erweiterte im XIII. Jahrhundert ihren Herrschaftsbe-
reich durch den Erwerb eines Teiles des byzantinischen Territoriums,
der Insel Kreta oder Candia sowie einiger anderer Inseln im ägäi-
schen Meere, wodurch sie auf dem Balkan, dem Mittelpunkt des Le-
vantehandels, festen Fuß zu fassen vermochte. Nach einem hundert-
jährigen Kampfe mit der Rivalin, der Republik von Genua, gelang es
Venedig, auch in Italien selbst wertvolle Erwerbungen zu machen. Seit
dem Beginn des XV. Jahrhunderts gehörten zum Besitzstand der Repu-
blik : Padua, Verona, Brescia und manche andere oberitalienische Städte,
die bedeutende jüdische Gemeinden auf wiesen. In der ersten Zeit be-
422
§ 59. Die Gemeinden Oberitaliens. Simon Tridentinus
faßten sich die Juden in Venedig nicht nur mit dem Kreditgeschäft,
sondern auch mit dem Warenhandel und namentlich mit dem Waren-
export. Für die ihnen eingeräumte Handelsfreiheit mußten sie nach
einem im Jahre 1290 vom Senat erlassenen Dekret einen Spezialzoll
in Höhe von 5 Prozent des Wertes aller von ihnen ein- und ausge-
führten Waren entrichten. Je zahlreicher jedoch die jüdische Bevöl-
kerung im Herrschaftsbereiche der venezianischen Republik wurde,
desto mehr bemächtigte sich der christlichen Kaufleute die Angst vor
der jüdischen Konkurrenz und sie suchten mit allen Mitteln, die Ju-
den ausschließlich auf den Geldhandel zu beschränken. Das Ausleihen
von Geld gegen Zinsen galt in Italien im großen Ganzen keineswegs
als ein verwerfliches Handwerk: jede größere Handelsstadt hatte Kre-
ditkassen oder „Banken“ aufzuweisen, deren Inhaber durchweg Chri-
sten waren, die unter dem Namen „Lombarden“ auch in den anderen
europäischen Ländern von jeher das Kreditgeschäft betrieben. In-
dessen war das Bedürfnis nach Handels- und Privatkredit um diese
Zeit so groß, daß auch den jüdischen „Banken“ noch ein weites Be-
tätigungsfeld offen stand. Des kanonischen Zinsverbotes eingedenk,
scheute sich ein gewisser Teil des christlichen Kleinbürgertums, in
aller Offenheit mit Geld Handel zu treiben oder die Dienste
christlicher Wucherer in Anspruch zu nehmen, und zog es daher vor,
solche Geschäfte mit Juden abzuschließen; zuweilen waren infolge-
dessen die jüdischen Kreditkassen nichts als ein Aushängeschild für
von christlichen Kapitalisten betriebene Bankgeschäfte. Die Regie-
rung der Gesamtrepublik sowie die Magistrate der einzelnen Städte
griffen in diese Bankoperationen regelnd ein und setzten vor allem
die Höchstgrenze des zulässigen Zinsfußes fest; der Zinssatz war in
der Regel bei Darlehen gegen Pfandsicherheit niedriger als bei gegen
Wechsel bewilligtem Kredit. Die Juden durften übrigens ihr Geld
zumeist nur gegen Unterpfand ausleihen.
Die von den Juden in der venezianischen Republik entfaltete
finanzielle Wirksamkeit stand indessen in schreiendem Mißverhältnis
zu ihrer menschenunwürdigen Rechtslage. Die von Krämergeist er-
füllte Republik betrachtete nämlich den konkurrenzfähigen fremden
Handelsstand stets mit scheelen Augen und ließ daher die Juden in
dem Zustand von gleichsam auf der Durchreise begriffenen Koloni-
sten verharren, die man nur so lange duldet, als man sie auszunützen
vermag. Die vom Senat von Venedig mit den jüdischen Gemeinden
Italien zur Zeit der Frührenaissance
oder Kolonien getroffenen Vereinbarungen (condotta) über das den
Juden eingeräumte Wohnrecht und ihre Gewerbefreiheit waren größ-
tenteils kurz befristet und hatten eine Gültigkeitsdauer von höchstens
zehn Jahren; nach Ablauf der festgesetzten Frist wurden freilich die
Verträge in der Regel, sei es unter den gleichen oder unter abgeänder-
ten Bedingungen, wieder erneuert. Bei der im Jahre i385 erfolgten
Erneuerung der „Condotta“ wurde der jüdischen Kolonie von Vene-
dig außer den üblichen Steuerlasten eine Sonderabgabe in der Höhe
von 4ooo Dukaten auf erlegt; zugleich wurden die jüdischen Kredit-
geschäfte der besonderen Aufsicht der Konsuln unterstellt. Zehn Jahre
später weigerte sich der Senat, den Vertrag weiter laufen zu lassen,
und begründete dies damit, daß die Juden die für die Kreditgeschäfte
festgesetzten Regeln mißachteten und durch Veräußerung der Pfän-
der säumiger Schuldner ihren Wärenharidel über das zulässige Maß
hinaus ausdehnten. Die jüdische Kolonie mußte hierauf wieder in die
benachbarte Ortschaft Mestre ziehen, wo sie schon früher einmal
untergebracht gewesen war, doch wurde es einzelnen Juden im Inter-
esse der Bevölkerung Venedigs gestattet, sich zu Geschäfts zwecken
zwei Wochen lang in der Stadt aufzuhalten. Im Laufe der Zeit büß-
ten diese Einschränkungen allmählich ihre Gültigkeit ein, und viele
Juden ließen sich von neuem in Venedig nieder, wobei sich der Senat
nur damit begnügte, ihnen den Erwerb unbeweglichen Besitzes zu
verbieten. Es gab auch noch andere Mittel, den jüdischen Wettbewerb
zu bekämpfen: man nötigte den Juden besondere Abzeichen auf, zu-
nächst einen rundförmigen gelben Fleck an der Brust, später einen
gelben Hut und dann wieder einen roten Hut. So waren die Stadt-
bewohner vor jeder Verwechslung des Fremdlings mit dem Mitbürger
auf sichere Weise geschützt. Sich die Autorität der Kirchen Vorschrif-
ten zunutze machend, untersagte der Senat den Juden überdies jeden
näheren Umgang mit Christen, namentlich mit Frauen, und schloß
sie von allen öffentlichen Ämtern und freien Berufen aus, mit Aus-
nahme des ärztlichen, der ihnen selbst in Rom zugänglich war: der
Ehrgeiz der guten Katholiken von Venedig ging eben nicht so weit,
daß sie den Papst selbst an Frömmigkeit hätten überbieten wollen.
Größerer Freiheit erfreuten sich die Juden auf den der Republik
von Venedig angegliederten griechischen Inseln, auf Kreta oder
Candia, Euböa und Korfu. Die alten Gemeinden in den Städten
Candia, Retimo und Kanea auf Kreta blieben nach wie vor im Be-
424
§ 59. Die Gemeinden Oberitaliens. Simon Tridentinus
sitze ihrer ehemaligen Autonomie; der Senat von Venedig gab nur
darauf acht, daß sie sich nicht über die Grenzen der von ihnen be-
wohnten Viertel weiter ausdehnten. Viele Juden betätigten sich hier
im Exportgeschäft und befaßten sich vor allem mit der Ausfuhr von
Zucker nach Österreich. Wohl ließen sich oft Klagen darüber ver-
nehmen, daß die Juden den größten Teil der Handelsunternehmun-
gen an sich gerissen hätten, doch sah man ihnen um der von ihnen
dem Reiche eingebrachten finanziellen Vorteile willen diesen Wett-
bewerb mit den einheimischen Griechen gern nach. Der venezianische
Senat brachte nicht selten die zur Deckung der Staats- und nament-
lich der Kriegsausgaben bestimmten Zwangsanleihen bei den jüdi-
schen Gemeinden von Candia unter. Die zahlreiche jüdische Bevölke-
rung von Candia und Negroponte (Euböa) stand in lebhaftem Ver-
kehr mit der Gemeinde von Rom und zählte in dieser Zeit einige be-
deutende Schriftsteller (unten, § 61).
Im italienischen Binnenlande brachte der Aufstieg Venedigs den
Juden wenig Erfreuliches. Die der Handelsrepublik benachbarte Uni-
versitätsstadt Padua beherbergte um die Mitte des XIV. Jahrhunderts
eine ansehnliche jüdische Gemeinde. Unter dem tatkräftigen Schutze
der Herrscher aus dem Hause Carrara vermochte sich die Gemeinde
rasch zu entfalten. Viele jüdische Familien aus Rom und anderen
Städten siedelten nach Padua über und bald standen hier Handel,
Industrie und Kreditgeschäft in hoher Blüte. Als aber dann die Stadt
in die Gewalt der venezianischen Republik geriet (i4o5), wurde
die Lage der Juden von Padua ebenso unsicher wie in Venedig selbst.
Mit einem Schlage wurden die Juden aus bodenständigen Stadtbewoh-
nern zu Fremdlingen, die nur auf Grund einer besonderen „Con-
dotta“ die Gastfreundschaft genießen durften. Bei jeder Wieder-
erneuerung des Vertrages wurden an die Juden von dem ihnen das
Wohnrecht „hochherzig“ gewährenden Senat der Republik immer
höhere Forderungen gestellt: man legte ihnen mit jedem Mal drücken-
der werdende Steuern auf, engte ihre Handelsfreiheit ein, beschränkte
ihr Recht, Immobilien zu erwerben u. dgl. m. Trotz der getroffenen
Vereinbarungen kam es häufig zu Konflikten, insbesondere aus An-
laß des von den Juden betriebenen Kreditgeschäftes: die Stadtbehör-
den machten es den Juden zum Vorwurf, daß sie die gesetzlich fest-
gelegte Höchstgrenze des Zinsfußes überschritten und sich für be-
rechtigt hielten, die bei ihnen verpfändeten Immobilien, deren Erwerb
42 5
Italien zur Zeit der Frührenaissance
und Besitz ihnen untersagt war, im Verzugsfalle veräußern zu dür-
fen. Die Juden pflegten jedoch ihre ‘ Position keineswegs kampflos zu
räumen. Als der Magistrat von Padua einst an den venezianischen Se-
nat mit dem Ersuchen herantrat, gegen die „Übertreter des Gesetzes“
Repressivmaßnahmen zu ergreifen, und der Senat sich bereit zeigte,
dem zu entsprechen, gaben die Juden die Erklärung ab, daß sie unter
solchen Umständen ihren Geschäften nicht nachzugehen vermöchten,
und schlossen kurzerhand ihre Kreditkassen (i4i5). Ihre entschie-
dene Haltung bewog sogar einen Teil der christlichen Bevölkerung,
sich für sie einzusetzen, so auch die Universitätsverwaltung, die in
aller Form erklärte, daß die aus allen Ecken und Enden Europas
nach Padua herbeiströmenden Studenten die Handels- und Kredit-
dienste der Juden in keiner Weise entbehren könnten. So mußte denn
der Magistrat nachgeben, was ihn jedoch nicht daran hinderte, später,
bei der Wiedererneuerung der „Condotten“, neue Konflikte herauf-
zubeschwören. In der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts sollte sich
die Lage der Juden von Padua unter Einwirkung der von den predi-
genden Mönchen, dem Schrecken aller italienischen Gemeinden, ent-
falteten judenfeindlichen Agitation noch erheblich ungünstiger ge-
stalten.
Viel freundlicher als die Republik der Kaufleute behandelten die
Juden die in den verschiedenen Städten Oberitaliens regierenden her-
zoglichen Häuser. In Ferrara waren es die Herzoge aus dem Hause
d’Este, unter deren Schutze die jüdische Gemeinde in der zweiten
Hälfte des XV. Jahrhunderts zu hoher Blüte gelangen konnte; die
Machthaber waren hier stets darauf bedacht, unternehmungslustige
Geschäftsleute in ihren Herrschaftsbereich zu ziehen und wußten auch
persönlich die Dienste jüdischer Finanzmänner voll zu schätzen. Im
Jahre i448 erhielt der Herzog Leone d’Este von Papst Nikolaus V.
die Sanktion zu einem mit den Juden geschlossenen Vertrage, demzu-
folge sie in Ferrara und seiner Umgebung sich niederlassen, Syna-
gogen erbauen und das Bankgeschäft betreiben durften; als Grund
hierfür wurde die Erwägung geltend gemacht, daß „die Einwohner
jener Gebiete großen Schaden an ihrem Vermögen erleiden würden,
falls es ihnen nicht mehr erlaubt sein sollte, von den Juden Geld zu
leihen“. Gleichzeitig untersagte der Papst den predigenden Mönchen
und „Inquisitoren“, auf eine jüdische Beschwerde hin, das Volk ge-
gen die Juden aufzustacheln und den von den Christen mit ihnen ge-
426
§ 59. Die Gemeinden Oberitaliens. Simon Tridentinus
pflegten geschäftlichen Verkehr irgendwie zu beeinträchtigen. Im
Jahre i473 erging ein Erlaß des Herzogs Ercole I., in dem er seine
hohe Wertschätzung der von den jüdischen Banken trotz der be-
engenden kanonischen Vorschriften entfalteten Wirksamkeit zum Aus-
druck brachte und den jüdischen Bankinhabern vorbehaltlos seinen
Schutz zusicherte. Die sich in Ferrara nur wenig bemerkbar machende
christliche Konkurrenz ließ einen um so weiteren Spielraum für den
Unternehmungsgeist der Juden, die sich hier nicht nur im Bankge-
werbe, sondern auch auf dem Gebiete des Handels und der Industrie
mit bestem Erfolge betätigten. Dieselbe Exulantengruppe aus Spanien,
die von den die jüdische Konkurrenz befürchtenden Judenhassern Ge-
nuas im Jahre i493 so brutal abgewiesen worden war, fand in Fer-
rara überaus freundliche Aufnahme und genoß auf Verfügung des
Herzogs Ercole uneingeschränkte Gewerbefreiheit, von der nicht ein-
mal der Apothekerberuf ausgenommen wurde. Ebenso friedlich leb-
ten die Juden im Herzogtum Parma, unter der Protektion der ersten
Herrscher aus dem Hause Sforza. Eine der vom Magistrat von Parma
bei der Übergabe der Stadt an den Herzog Francesco Sforza (i449)
gestellten Bedingungen betraf die Unantastbarkeit der Rechte und
Freiheiten der jüdischen Einwohnerschaft. Diese Bestimmung des Ka-
pitulationsvertrages fand, ebenso wie der drei Jahre früher mit den
Juden von Ferrara abgeschlossene Vertrag, die volle Zustimmung des
Papstes Nikolaus V. (i45i). Der Nachfolger des Francesco, Galeazzo
Sforza, schaffte das Judenzeichen ab (i466) und trat energisch ge-
gen die judenfeindliche Propaganda der Ordensbrüder auf.
Bezeichnend für den italienischen Krämergeist der Renaissancezeit
ist die Stellung, die die Juden in Florenz innehatten, der Stadt der
wohlhabenden, in Zünften zusammengeschlossenen christlichen Bank-
und Kaufherren. Die von dem Bankierverbande festgesetzten Zins-
sätze waren hier so hoch, daß der kreditbedürftige kleine Mann sich
in seiner Geldnot nicht zu helfen wußte, und so entschloß man sich
in Florenz, zwecks Organisierung eines billigen Kleinkredites die Ju-
den in die Stadt zu rufen. Im Jahre i43o erließ die Signoria der Re-
publik von Florenz ein Dekret, demzufolge es den Juden freistand,
sich in der Stadt niederzulassen und das Kreditgeschäft unter der Be-
dingung zu betreiben, daß der Zinsgewinn 20 Prozent jährlich nicht
übersteige. Das Dekret erklärte unumwunden: „Wir wollen die Juden
zu dem Zwecke in unsere Stadt einführen (Judaeos in civitatem in-
427
Italien zur Zeit der Frührenaissance
troducere), auf daß die unbemittelten Leute von Florenz nicht durch
die Last der ihnen von den (Zunft-) .Wucherern aufgebürdeten Zinsen
erdrückt werden“. Zugleich glaubte aber die Signoria dem Wettbe-
werb der Juden im Handel einen Riegel vorschieben zu müssen und
schränkte sie daher in bezug auf Wohnrecht und Gewerbefreiheit
stark ein. Wie in der venezianischen Republik durften sich die Juden
auch hier nur auf Grund von „Condotten“ für eine bestimmte, zu-
meist zehnjährige Frist in der Stadt niederlassen, damit dem Magistrat
stets die Möglichkeit offen bliebe, ihnen bei der Erneuerung des Ver-
trages noch drückendere Bedingungen aufzubürden oder, falls man
ihrer Dienste nicht länger bedürfen sollte, sie ganz aus der Stadt z!u
weisen. In der prekären Lage der jüdischen Gemeinde von Florenz
trat eine Wendung zum Besseren erst mit dem Aufstieg der liberalen
Signori aus dem Hause Medici ein, der ruhmreichen Förderer der
italienischen Renaissance, die seit dem Ausgang des XV. Jahrhunderts
auch zu Gönnern der Juden geworden waren. Die junge Gemeinde von
Florenz bildete eigentlich nur eine Abzweigung des alten jüdischen
Zentrums von Pisa, der ehemaligen Küstenhauptstadt von Toskana,
der nunmehr die Hegemonie durch Venedig entrissen worden war.
Eine führende Stellung in der Pisaner Gemeinde nahm die Bankier-
familie da Pisa ein, der hochherzige Stifter und Mäzene entstammten
(Jechiel da Pisa u. a.). Neben den Bankherren und sonstigen Unter-
nehmern genossen in diesen Zentren der italienischen Renaissance
viele Juden auch als Vertreter freier Berufe, namentlich als Ärzte,
hohes Ansehen. Die Ärzte waren meist Zöglinge der medizinischen
Hochschulen von Padua und Salerno, wo sie nicht selten auch unter
Anleitung jüdischer Professoren studierten, und viele von ihnen er-
langten als überragende Meister der Heilkunst in der jüdischen wie
in der christlichen Welt größten Ruhm.
Eine unruhigere Zeit brach für die italienischen Juden in der
zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts an. Die für dieses Jahrhundert
bezeichnende Epidemie, die judenfeindliche Agitation der predigen-
den Mönche, hatte in Italien ein spezifisches Lokalkolorit. Durch die
Fortschritte des italienischen „Humanismus“ und durch die Wieder-
geburt der antiken Kultur aufs schwerste beunruhigt, gaben sich hier
die Kleriker alle Mühe, das Volk gegen die Un- und Andersgläubigen
aufzustacheln, um so den Weg für die Reaktion zu bahnen. Schon in
den ersten Jahrzehnten des XV. Jahrhunderts tauchten überall in
428
§ 59. Die Gemeinden Oberitaliens. Simon Tridentinus
Italien dem Dominikaner- und Franziskanerorden angehörende Wan-
derprediger auf, in denen sich nach spanischem Vorbild Missions-
eifer mit Hetzsucht vereinigte. Auf die Beschwerden der jüdischen Ge-
meinden von Venezien, der Lombardei und Toskana hin versuchte
zwar Papst Martin V. der verbrecherischen Agitation durch seine Bul-
len (aus den Jahren ifaiQ—1429) Einhalt zu gebieten, doch ließen
sich die Fanatiker dadurch in ihren Wühlereien nicht stören. Einer
der eifrigsten unter ihnen war der später kanonisierte Franziskaner
Bernhardin da Siena (gest. i444)> der in seinen Predigten vierzig
Jahre lang unablässig gegen das Judentum wetterte. Die Beweis-
gründe, mit denen dieser Demagog die Volksmassen zu beeinflussen
suchte, erinnern lebhaft an die Gedankengänge der neuzeitlichen Anti-
semiten in der „christlich-sozialen“ Partei. Die Anhäufung vonReich-
tümern in den Händen Weniger sei, meinte er, schon an und für sich
überaus schädlich, um wieviel gefährlicher also, wenn sich die Schätze
in jüdischen Händen ansammelten; „denn in diesem Falle wirkt der
dem unsauberen Kanal zugeführte Reichtum, sonst die natürliche
Wärme des Staatsorganismus, auf diesen nicht erwärmend und er-
frischend, sondern gleich einem Gifte, durch das er ganz mit Schwä-
ren bedeckt wird“. Die sich bereichernden Juden gingen, so behaup-
tete er weiter, in heimtückischer Weise auf die Unterjochung der
christlichen Welt aus und schreckten in ihrer verbrecherischen Ge-
sinnung nicht einmal vor der physischen Ausrottung der Christen zu-
rück: „Nachdem sich die Juden von der Zwecklosigkeit ihrer An-
schläge auf das geistige Gut der Christen überzeugt haben, vergreifen
sie sich nunmehr an ihren materiellen Gütern und ruinieren das Land
durch Wucher. Aber nicht genug damit, daß sie den Christen ihren
Besitz wegnehmen, berauben sie sie durch ihre von den Gesetzen un-
serer Religion untersagte ärztliche Behandlung auch ihrer Gesund-
heit und ihres irdischen Lebens“. Wenn die Bereicherung der christ-
lichen Wucherer wenigstens nicht als widernatürlich zu betrachten sei,
so sei hingegen die Bereicherung der Juden schon aus dem Grunde
allem Rechte zuwider, weil „ein Sklave nicht Eigentum besitzen
kann“. Hieraus ergab sich unmittelbar, daß der gesamte Besitz der
Juden von Rechts wegen ihren Herren, den Christen, gehöre, und daß
die Judenhetze nichts als der gesetzmäßige Weg zur Enteignung die-
ses Besitzes zugunsten seiner legitimen Eigentümer sei. Damit aber
die „Knechtung“ der Juden aller Welt stets gegenwärtig bleibe, sei es
429
Italien zur Zeit der Frührenaissance
vonnöten, alle einschlägigen kanonischen Vorschriften, namentlich die
über das jüdische Sonderzeichen strengstens zu befolgen. Um so grö-
ßer war die Betrübnis des Bernhardin, daß diese letzte, ihm so wich-
tig erscheinende Regel in Padua, Verona und manchen anderen Städ-
ten unbeachtet blieb.
Im Gegensatz zu den Predigten des Bernhardin von Siena war
denjenigen seines Ordensbruders Bernhardin da Feltre (gest. i494)
ein großer praktischer Erfolg beschieden. Der zweite Bernhardin ver-
stand es noch viel besser als der erste, für seine judenfeindlichen Ziele
den „christlichen Sozialismus“ als Deckmantel zu gebrauchen.
In einer Zeit, da die Kaufleute von Venedig und anderen Städten ihre
Krämerinteressen durch religiösen Eifer zu bemänteln suchten, hatte
ein Mönch allen Grund, seinen religiösen Fanatismus durch Motive
wirtschaftlicher Art zu verschleiern. So ging denn Bernhardin da
Feltre in seinen Agitationsreden mit Ungestüm gegen die jüdischen
Kapitalisten los, denen er alle Schuld an dem Elend der christlichen
Volksmassen in die Schuhe schob: „Wie sollte ich — so rief der
hetzerische Bettelbruder aus —, der ich von Almosen lebe und mich
vom Brote der Armut ernähre, beim Anblick der am Marke der arm-
seligen Christen zehrenden Juden gleich einem stummen Hunde das
Bellen unterlassen! Erschallt denn dieses Gebell nicht um des Na-
mens Christi willen?“ Und der Wachthund der Kirche „bellte“ nun
allerorten, wo bedeutendere jüdische Gemeinden bestanden, aus Leibes-
kräften los, wirkte aufreizend auf die Träger der Macht und peitschte
die Leidenschaften des Pöbels gegen einzelne Juden oder ganze
Gruppen auf. Unter dem Einfluß der zündenden Reden des Fana-
tikers entschlossen sich die Magistrate von Ravenna und einigen an-
deren der Republik von Venedig ein verleibten Städten, die jüdische
Einwohnerschaft zu vertreiben, und warteten nur auf eine diesbezüg-
liche Sanktion des Senates. Wiewohl dieser für solche Gewaltmaß-
nahmen nicht leicht zu haben war, gelang es den Fanatikern dennoch,
die Juden in einer Reihe von Orten (Brescia, Vicenza, Bergamo und
Treviso) in den Jahren 1463—i473 aus der Stadt zu vertreiben. In
Florenz schlug jedoch die Signoria einen ganz entgegengesetzten Weg
ein: statt die Juden auszuweisen, ließ sie den Hetzer selbst, dessen
Agitation hier beinahe zu einem Judenmassaker geführt hätte, hinaus-
befördern (i488). In dem von Bemhardin und seinen Mitstreitern
aufgestellten Programm gab es jedoch einen Punkt, dessen Durch-
43o
§ 59. Die Gemeinden Oberitaliens. Simon Tridentinus
führung auch den den Juden Wohlgesinnten ratsam erscheinen
mußte; es war dies der Vorschlag, zwecks Zurückdrängung der jüdi-
schen Geldgeber überall öffentliche Kreditkassen oder Lombarde
(Monte di Pieta) ins Leben zu rufen, die gegen Unterpfand billigen
Kredit gewähren sollten. An vielen Orten gelang es auch in der Tat
gar bald, solche Lombardinstitute in Funktion treten zu lassen. Für
die hetzenden Mönche war dies alles indessen nur ein Anlaß zur Ent-
fesselung des religiösen Hasses gegen die Juden, um dadurch nach
spanischem Vorbild entweder ihre restlose Vertreibung aus dem Lande
oder ihre gewaltsame Taufe zu erzwingen. Im Dienste dieses hehren
Zieles begnügte sich der Cerberus der Kirche, Bernhardin da Feltre,
nicht allein damit, sein überlautes Gebell im ganzen Lande ertönen
zu lassen, sondern gab den von ihm verfolgten Juden auch seine
scharfen Zähne in empfindlichster Weise zu spüren. Zwar gelang es
ihm nicht, in Italien antijüdische Straßenexzesse hervorzurufen, doch
vermochte er sich dadurch schadlos zu halten, daß er einen unge-
heuerlichen Ritualmordprozeß inszenierte, von dessen Widerhall die
ganze Welt erfüllt werden sollte.
In der jenseits der Grenze der venezianischen Republik gelegenen
Stadt Trient bestand unter der Obhut der einen Teil von Tirol be-
herrschenden niederösterreichischen Herzoge eine fest zusammenhal-
tende und ein friedliches Dasein führende jüdische Gemeinde. Von
dem auch bei der nicht jüdischen Bevölkerung hochangesehenen Arzte
Tobias würdig vertreten, lebte sie in ungetrübtem Einvernehmen mit
ihrer christlichen Umwelt. Friede und Eintracht sollten jedoch ein
jähes Ende nehmen, als Bemhardin da Feltre in der stillen Stadt ein-
getroffen war. Zum Prior des Franziskanerklosters von Trient ernannt,
begann der Fanatiker ohne Säumen eine Agitation gegen die jüdische
Ortsgemeinde. Nach einer seiner Predigten vor dem Osterfest wurde
der Mönch darauf verwiesen, daß er ohne zureichenden Grund alle
Juden ausnahmslos in Grund und Boden verdamme, da es unter ihnen
gar viele ehrenwerte Männer gebe, wie z. B. den allgemein beliebten
Arzt Tobias. Der Prediger erwiderte indessen voll Zorn: „Wenn ihr
nur wüßtet, wieviel Böses euch diese guten Menschen zufügen: kaum
wird das Osterfest des Herrn um sein, als sie euch schon den Beweis
ihrer Güte in die Hand geben werden“. Der Mann, der dies ge-
sprochen, unterließ nichts, um seine Prophezeiung auch voll in Er-
füllung gehen zu lassen.
43i
Italien zur Zeit der Frührenaissance
Am 23. März i475, am Gründonnerstag und zugleich am ersten
Tage des jüdischen Passah verschwand in Trient ein christlicher
Knabe mit Namen Simon, der dreijährige Sohn eines Gerbers. Der
Ortsbischof Hinderbach, ein Gesinnungsgenosse des Bernhardin, ver-
säumte nicht zu erklären, daß dies „das Werk der Feinde der christ-
lichen Religion“ sei, worauf der Podesta (Stadthauptmann) alle jüdi-
schen Häuser durchsuchen ließ. Die Durchsuchung verlief jedoch er-
gebnislos und erst drei Tage später wurde die Kinderleiche durch
„Zufall“ in einem an dem Hofe des Juden Samuel vorbeifließenden
Bache entdeckt. Wiewohl der Hausbesitzer selbst sowie der Gemeinde-
vertreter Tobias den grausigen Fund den Behörden unverzüglich an-
gezeigt hatten, wurden sie zusammen mit noch fünf anderen jüdi-
schen Notabein wegen angeblichen Mordverdachtes verhaftet. Als man
die Häftlinge an die Leiche führte, geschah ein „Wunder“: ganz wie
es der Yolksaberglaube von der Konfrontation des Mörders mit sei-
nem Opfer erwartete, begannen die Wunden plötzlich zu bluten. Dies
genügte, um die Angeklagten einem Inquisitionsverhör zu unterziehen.
Die Verhafteten brachten einstimmig ihre Überzeugung zum Aus-
druck, daß die Leiche Samuel von einem christlichen Nachbarn, der
ihm wegen eines verlorenen Prozesses Rache geschworen hatte, zu-
geworfen worden sei. Diese durchaus einleuchtende Erklärung stellte
jedoch die Inquisitionsrichter nicht zufrieden; der in Haft genom-
mene Nachbar des Samuel wurde nach einem oberflächlichen Verhör
wieder entlassen, während man die Juden der Tortur unterzog. Fünf-
zehn lange Tage hatten Samuel und die anderen Verhafteten die
schrecklichsten Qualen zu erdulden: man spannte sie auf das Folter-
gerüst, zermalmte ihnen die Knochen, brannte sie mit glühendem
Eisen, und sobald sie in Ohnmacht fielen, brachte man die Gefolter-
ten wieder zum Bewußtsein, um sie von neuem den Martern preis-
zugeben. In der Furcht, daß die Henkersknechte ihm auf diese Weise
schließlich ein Geständnis abzwingen würden, gab der Hauptange-
klagte Samuel vor den Richtern die Erklärung ab, daß, wenn er das
Verbrechen auf der Folterbank eingestehen sollte, dies „nichts als
Lüge“ sein würde. Nichtsdestoweniger scheuten sich die Richter nicht,
das von dem völlig entkräfteten Märtyrer abgelegte Geständnis, in dem
er den ihm suggerierten, ganz offenkundigen Unsinn wiederholte, er
hätte zusammen mit noch acht anderen Juden den Mord „zwecks
Schändung Christi“ begangen, als lückenlosen und unumstößlichen
432
§ 59. Die Gemeinden Oberitaliens. Simon Tridentinus
Beweis anzusehen. In derselben Weise wurde die Schuld des Arztes
Tobias sowie der übrigen, zusammen mit ihm und auch später ver-
hafteten Gemeindemitglieder „erwiesen“. Im Juni wurden sechs von
ihnen bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen verbrannt; zwei
von den Angeklagten ließen sich durch die Verheißung einer weniger
qualvollen Hinrichtungsart zur Taufe bewegen und wurden zur Ent-
hauptung „begnadigt“, während der achtzigjährige Greis Moses im
Kerker tot aufgefunden und als Leiche verbrannt wurde. Das Ver-
mögen der Angeklagten wurde eingezogen.
Mittlerweile unterließen es die Mönche nicht, aus der Geschichte
des angeblichen Märtyrers ein gewinnbringendes Geschäft zu machen:
sie ließen die Leiche des Simon einbalsamieren und sprachen das
dreijährige Kind heilig. Man setzte Gerüchte über die von den Ge-
beinen des Simon gewirkten Wunder in Umlauf, und die Glaubens-
seligen strömten in Scharen nach Trient zur Anbetung der heilspen-
denden Reliquie herbei. Über der Judenheit Italiens zogen sich
schwere Wolken zusammen. Der Doge von Venedig, Mocenigo, wies
die Behörden von Padua und Friaul an, Maßnahmen zum Schutze der
Juden zu ergreifen, die wegen der ihrem Leben und Besitz drohenden
Gefahren sich nicht vom Platze zu rühren wagten. In seinem Dekret
betonte der Doge, daß die ganze Ritualmordaffäre durch die Agitation
der „Prediger“ angezettelt worden sei, und sprach seine feste Über-
zeugung aus, daß die Lügenhaftigkeit der Anschuldigung bald klar
zutage treten würde. Der Papst Sixtus IV. ließ seinerseits, wohl auf
die Beschwerden der römischen Juden hin, an den Bischof von Trient
Hinderbach den Befehl ergehen, das noch immer schwebende Ermitt-
lungsverfahren einzustellen, und beauftragte einen anderen Bischof
als Sonderkommissar mit der allseitigen Aufklärung der ganzen An-
gelegenheit. Im Oktober i^5 wandte sich der Papst an alle italieni-
schen Herrscher mit einer Enzyklika, in der er sie aufforderte, ange-
sichts der durch Predigten, Schilderungen und bildliche Darstellungen
verbreiteten Mär von den an der Leiche des angeblichen „heiligen
Märtyrers“ sich ereignenden Wundern die Juden vor den ihnen
dadurch drohenden Gefahren tatkräftig in Schutz zu nehmen.
Inzwischen wurde durch die von dem päpstlichen Kommissar neu ein-
geleitete Untersuchung festgestellt, daß die Leiche des Simon bös-
willigerweise zu dem jüdischen Hofbesitzer geschleppt worden war,
daß die von der Leiche gewirkten Wunder keineswegs erwiesen, daß
$8 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
433
Italien zur Zeit der Frührenaissance
die Aussagen der Angeklagten ihnen durch die Tortur abgezwungen
und daß es gerade die wohlhabendsten’ Juden gewesen waren, die zwecks
Einziehung ihres Vermögens unter Anklage gestellt worden seien.
Hierauf verlangte der Kommissar, daß der Bischof Hinderbach und
der Podesta von Trient das gerichtliche Verfahren gegen die noch im
Kerker schmachtenden und ihrer Hinrichtung entgegensehenden Ju-
den unverzüglich niederschlügen. Hinderbach begegnete jedoch dieser
Forderung mit einem Rundschreiben, in dem er sich und die In-
quisitoren zu rechtfertigen suchte und Andeutungen über die Be-
stechlichkeit (corrupta inquisitio) des sich für die Juden einsetzen-
den päpstlichen Bevollmächtigten machte. So setzten denn die Henker
ungeachtet der von dem Kommissar erhobenen Proteste ihr blutiges
Werk weiter fort und gaben noch vier Juden dem Tode preis (De-
zember i475 bis Januar 1476).
Nach Rom zurückgekehrt, erstattete der bischöfliche Kommissar
dem Papste ausführlichen Bericht über das aller Gerechtigkeit hohn-
sprechende Verfahren von Trient, ferner darüber, daß das Gericht
die Ermittlungen gegen die tatsächlich des Verbrechens schuldigen
Christen eingestellt hätte, um die Untersuchung nur aus Haß gegen
die Juden und zwecks Einziehung ihres Vermögens zugunsten des Bi-
schofs gegen völlig Schuldlose zu lenken. Die Kurie sah sich nun-
mehr vor zwei einander widersprechende Untersuchungsergebnisse ge-
stellt, und so mußte zur endgültigen Entscheidung der Frage eine
neue Revision angeordnet werden, mit der Sixtus IV. eine aus sechs
Kardinälen bestehende Kommission betraute (April 1476). Indessen
sollte in der von den gehässigen Eiferern der Kirche so arg verwirr-
ten Sache die Wahrheit nicht mehr zu ihrem Rechte kommen. Die
Kommission wählte nämlich zu ihrem Berichterstatter gerade einen
vertrauten Freund des Bernhardin da Feltre, wodurch der Ausgang
der Revision im voraus entschieden war. Das verbrecherische Trei-
ben der Urheber des Prozesses kam nicht ans Tageslicht. Nach ge-
raumer Zeit erklärte Sixtus IV., daß das Gerichtsverfahren in der
Sache von Trient formell einwandfrei durchgeführt worden sei (pro-
cessum ipsum recte factum), untersagte jedoch zugleich, die Juden
weiter zu behelligen und die ihnen eingeräumten Rechte zu schmä-
lern. Trotzdem wurden die Juden aus dem zu einem Wallfahrtsort
für die abergläubischen Christen gewordenen Trient restlos ausge-
wiesen. Die an dem „heiligen“ Särglein der Zeichen und Wimder
434
§ 60. Süditalien. Die Vertreibung aus Sizilien
harrenden Pilger brachten den Mönchen immensen Gewinn ein. Trotz-
dem war Sixtus IV. nicht dazu zu bewegen, Simon als heiligen Mär-
tyrer zu kanonisieren, und es vergingen volle hundert Jahre, bis man
in Rom dem Volksaberglauben Genüge tat: erst Gregor XIII. gab
seine Zustimmung dazu, daß „Simon Tridentinus“ als ein zur „Schän-
dung Christi“ hingemordeter Märtyrer verehrt werde.
So zeigten sich am heiteren Himmel der italienischen Renaissance
plötzlich die düsteren Schatten der Nachzüglerin des Mittelalters, der
Inquisition, die zugleich Vorboten der hundert Jahre später die Re-
naissanceepoche ablösenden Periode der katholischen Reaktion waren.
§ 60. Süditalien. Die Vertreibung aus Sizilien
Ein von dem übrigen Italien abgesondertes Dasein führte der sich
in seiner politischen und wirtschaftlichen Verfassung von dem Nor-
den stark unterscheidende italienische Süden. Süditalien war in jener
Epoche zwischen zwei Dynastien auf geteilt: einer französischen und
einer spanischen. Während das Königreich Neapel unter der Gewalt
der Herrscher aus dem Hause Anjou stand, die zugleich die Grafen
der Provence waren, wurde Sizilien von den Königen Aragoniens re-
giert (oben, § 36). Über die Geschicke der neapolitanischen Juden
im XIV. und XV. Jahrhundert haben sich nur sehr spärliche Nach-
richten erhalten. Die ersten Könige aus dem Hause Anjou machten
zwar den Versuch, die Gepflogenheiten der „allerchristlichsten“ fran-
zösischen Herrscher auch nach dem italienischen Süden zu verpflan-
zen, doch vermochte die kirchliche Politik auf diesem Boden kaum
je Wurzel zu fassen. Der König Robert von Anjou (i3o9—1343),
ein Förderer der Aufklärung, der in Neapel die Zeiten des Kaisers
Friedrich II. neu erstehen ließ, wandte sich von dieser Politik bald
ab. Gleich Friedrich umgab er sich mit Gelehrten und Dichtern, un-
ter denen auch aus Rom und der Provence stammende jüdische
Schriftsteller vertreten waren (unten, § 6i). Die gegen Ende des
XIV. Jahrhunderts erfolgte Ausweisung der Juden aus dem größten
Teil der Provence trieb wohl viele von den Emigranten nach dem
Königreich Neapel, indessen ist uns über die Rückwirkung dieser
Zuwanderung auf das innere Leben der dortigen jüdischen Gemein-
den nichts bekannt. Der Schwerpunkt der süditalienischen Judenheit
lag übrigens um jene Zeit nicht hier, sondern in Sizilien, wo sich da-
28*
435
Italien zur Zeit der Frührenaissance
mals große Massen von Juden angesammelt hatten, die mit allen Hä-
fen des Mittelmeeres und namentlich mit der afrikanischen Küste
in lebhaftestem Handelsverkehr standen. Sowohl ihrer Zahl wie auch
ihrer wirtschaftlichen Bedeutung nach nahmen die Juden unter der
buntscheckigen christlich-muselmanischen Inselbevölkerung, die sich
aus Griechen, Italienern, Spaniern und Mauren zusammensetzte, eine
hervorragende Stellung ein. Die öffentlich-rechtlichen Verhältnisse der
jüdischen Gemeinden in den Städten des aragonischen Sizilien: in Pa-
lermo, Messina, Catania, Syrakus, Marsala usw., kamen denen der
Gemeinden des spanischen Mutterlandes, etwa Saragossa oder Bar-
celona, überaus nahe, wiewohl sie auch manche in der politischen
Vergangenheit Siziliens wurzelnde Eigenheiten aufzuweisen hatten.
Im jüdischen Sizilien des XIV. und XV. Jahrhunderts tritt uns
nämlich eine Kombination zweier verschiedener Systeme entgegen:
des hier seinerzeit vom deutschen Kaiser Friedrich II. von Hohen-
staufen (oben, § 28) eingeführten Systems der Kammerknechtschaft
und des aragonischen Systems Jakobs I. und seiner Nachfolger, die
die jüdischen Gemeinden gleichsam in königliche Finanzämter ver-
wandelten (oben, § 10). Einerseits wird hier in der amtlichen Sprache,
wie die aus beiden Jahrhunderten stammenden Urkunden bezeugen,
nach wie vor die altüberkommene reichsdeutsche Wendung „Knechte
der königlichen Kammer“ (servi regiae camerae) beibehalten, an-
dererseits stehen die aragonischen Könige oder Vizekönige mit den
jüdischen Gemeinden in lebhaftem Briefwechsel über Steuerwesen,
Vorschüsse, Rückstände und Anleihen. Die Beziehungen zwischen der
obersten Staatsgewalt und der Juderiheit sind von dem patriarchali-
schen Verhältnis bestimmt, wie es etwa zwischen einem Vormund
und den von ihm Bevormundeten besteht. Im Jahre i3io erließ frei-
lich der aragonische König Friedrich III. für die Juden Siziliens ein
Statut, in dem die kirchlichen Kanons volle Berücksichtigung fan-
den: es wurde ihnen verboten, christliche Sklaven zu besitzen, mit
Christen von Haus zu Haus zu verkehren, öffentliche Ämter zu be-
kleiden sowie Christen ärztlich zu behandeln. Durch das gleiche Ge-
setz wurden ähnliche Rechtsbeschränkungen für die „Sarazenen“, die
sizilianischen Mauren, festgesetzt, denen zugleich auch noch das Tra-
gen eines Abzeichens an der Brust in der Art des Judenzeichens zur
Pflicht gemacht wurde. Die zum Christentum Übertretenden durf-
ten nicht durch den Schmähnamen „Hundsrenegaten“ (canes rene-
436
§ 60. Süditalien. Die Vertreibung aus Sizilien
gatos) verächtlich gemacht werden, wie es hauptsächlich bei den Ju-
den ihren Abtrünnigen gegenüber Brauch gewesen sein soll, wobei
auf die Übertretung all dieser Verbote schwere Strafen standen. In-
dessen werden diese Vorschriften wohl kaum jemals angewendet wor-
den sein, da sonst der König selbst als erster der Strafe hätte ver-
fallen müssen: ließ er sich doch, nicht anders als der Papst in Rom,
gern von jüdischen Ärzten behandeln. Auch in der zweiten Hälfte des
XIV. Jahrhunderts nahmen die Könige keinen Anstand, jüdischen
Ärzten die Genehmigung zur Ausübung ihres Berufes „in ganz Si-
zilien (per totam Siciliam) zu erteilen. Die Gebieter Siziliens sahen
sich überhaupt nur zu oft in der Lage, zwischen den Forderungen der
Kirche und den Interessen des Staates geschickt lavieren zu müssen.
Soweit das Ansehen der herrschenden Kirche in Frage kam, muß-
ten allerdings der Geistlichkeit gewisse Zugeständnisse gemacht wer-
den: so wurde es den Juden untersagt, die Synagogen in auffälliger
Weise zu schmücken und ihre Kuppeln höher als die der Kirchen ra-
gen zu lassen, ferner waren sie verpflichtet, den Missionspredigten
beizuwohnen, wobei sie nicht selten Beleidigungen von seiten der from-
men Kirchenbesucher ausgesetzt waren. Gleichzeitig unterließen es
jedoch die Könige sowie ihre Statthalter auf der Insel, die Vizekö-
nige, nicht, die Juden im Falle drohender Massenausschreitungen
kraftvoll in Schutz zu nehmen. Solche Ausschreitungen waren meist
in der Karwoche an der Tagesordnung, wenn die kirchlichen Vor-
führungen der Passionsgeschichte die Leidenschaften der katholi-
schen Menge bis zum Weißglühen zu erhitzen pflegten. Im Frühjahr
i339 kam es in der Inselhauptstadt Palermo zu Massenüberfällen
auf die jüdischen Häuser, worauf König Pedro II. ein Dekret über
die rücksichtslose Unterdrückung aller künftigen Exzesse solcher Art
ergehen ließ.
Besonders scharf hatte die königliche Gewalt die Aufrechterhal-
tung von Ruhe und Ordnung nach den Ereignissen des Jahres i3qi
zu überwachen, als der Kirchenterror vom Festlande, von Spanien
her, auch auf Sizilien Übergriff. Schon im Jahre 1392 kam es in
dem Flecken Monte San-Giuliano zu einer von gewaltsamen Taufen
begleiteten Judenhetze, wobei sich auch die anderen Städte von der
Propaganda des Terrors aufs schwerste bedroht sahen. Auf die von
den jüdischen Gemeinden von Palermo und anderen Orten erhobenen
Beschwerden hin erließ der Statthalter von Sizilien, Martin, eine Reihe
Italien zur Zeit der Frührenaissance
von den Schutz der jüdischen Bevölkerung bezweckenden Verordnun-
gen, die die Unzulässigkeit der Zwangstaufen aufs eindringlichste ein-
schärften, doch brachte er nicht den Mut auf, den bereits Getauften
die Rückkehr zum Judentum zu gestatten. Als der Bischof einer der
Diözesen gegen die vom Christentum wieder abgefallenen Konvertiten
den Arm der weltlichen Gewalt (brachium saeculare) anrief, glaubte
Martin seinen Beistand nicht vorenthalten zu können. Einerseits dem
Drucke von seiten der katholischen Geistlichkeit ausgesetzt, anderer-
seits von der Anziehungskraft des für jede Vergünstigung gezahlten
jüdischen Geldes beeinflußt, fielen eben die Entschlüsse der Regie-
rung, wie dies aus den von ihr erlassenen Dekreten zu ersehen ist,
bald nach der einen, bald nach der anderen Seite. So machte z. B.
König Alfons V. im Jahre i4s8 den sizilianischen Juden zur Pflicht,
die Missionspredigten des Mönches Matteo von Girgenti anzuhören,
um schon zwei Jahre später, als die Juden durch ihre Abordnung den
König darum angingen, ihnen diese Komödie, die nicht selten in eine
Tragödie ausklang, zu erlassen, seinen Befehl, allerdings nicht ohne
Entgelt, wieder rückgängig zu machen. Die aragonischen Gebieter
hätten ohne die bei den Juden erhobenen hohen Steuern, wie die
„Gabella“ (die bei Familienzuwachs, Eheschließung sowie bei Ab-
schluß von Handelsgeschäften gezahlten Abgaben), die „Gesia“
(Kopfsteuer) u. dgl. m., ihre Herrschaft über die Insel auch wohl
kaum aufrechterhalten können. Darum ist es nur zu verständlich, daß
Alfons die Juden Siziliens mit aller Kraft an die Insel fesseln und
trotz ihrer großen Zahl auf keinen einzigen von ihnen verzichten
wollte: als im Jahre x455 eine Gruppe von Juden aus Palermo, Mes-
sina und Catania Anstalten traf, nach Jerusalem auszuwandern, wurde
sie angehalten und wegen des Versuches, dem Staate Geld zu ent-
ziehen, d. h. die königlichen Einkünfte zu verringern, streng zur
Verantwortung gezogen.
Ungeachtet all dieser mittelalterlichen Gepflogenheiten war die
Lage der sizilianischen Juden unvergleichlich besser als die ihrer Brü-
der in den anderen Ländern Westeuropas. Sie waren in ihrer wirt-
schaftlichen Tätigkeit nach wie vor nicht auf einzelne festumrissene
Erwerbszweige, geschweige denn ausschließlich auf den Geldhandel
beschränkt, sondern übten hier die verschiedensten Handwerke aus,
betätigten sich in der Landwirtschaft, namentlich im Gartenbau und
in der Seidenzucht, befaßten sich mit der Ein- und Ausfuhr von Wa-
438
§ 60. Süditalien. Die Vertreibung aus Sizilien
ren und traten auch im Binnenhandel nicht selten als Großkauf-
leute auf. An manchen Orten (so in Syrakus) waren es die jüdischen
Gemeinden selbst, die ihren Mitgliedern das Ausleihen von Geld gegen
Zinsen ausdrücklich untersagten. Die Insel beherbergte nicht weni-
ger als dreißig jüdische Gemeinden (nach anderen Angaben sogar
zweiundfünfzig), und die Gesamtzahl der hier lebenden Juden belief
sich gegen Ende des XV. Jahrhunderts auf etwa hunderttausend. Die
sich selbst verwaltenden Gemeinden (Universita, Judeca, Kahal) besaßen
ein allen gemeinsames Statut, das wohl auf einem Gemeindevertreter-
tag ausgearbeitet worden ist. In Palermo, Messina, Syrakus und in
anderen bedeutenderen Städten war der jüdische Gemeinderat dem
Stadtrate ebenbürtig und ihre gegenseitigen Beziehungen pflegten
durch besondere Vereinbarungen geregelt zu werden. Der Gemeinde-
rat setzte sich aus folgenden Amtspersonen zusammen: den „Häup-
tern“ oder Vorstandsmitgliedern (proti, das hebräische „Roschim“),
den „Erwählten“ (electi, „Berurim“), den Ältesten (majoranti), Re-
visoren und Steuereinnehmern. Dem Rate stand ein Gerichtskollegium
zur Seite, das sich aus Rabbinern und „Dajanim“ zusammensetzte.
Zu Beginn des XV. Jahrhunderts riefen die aragonischen Herrscher
in Palermo auch noch das Amt eines Hauptdajan oder offiziellen
Rabbiners ins Leben, der als Vermittler zwischen Gemeinden und Re-
gierung fungieren sollte; die Juden erblickten jedoch in dieser Neue-
rung eine Schmälerung ihrer Autonomie, und nach langen Bemühun-
gen gelang es ihnen, ebenso wie um die gleiche Zeit in Deutschland
(oben, § 48), sich das offizielle Rabbinat vom Halse zu schaffen.
In den sechziger Jahren des XV. Jahrhunderts trat das Bestreben zu-
tage, die Gemeinden zu einem Verband mit einem ständigen Zentral-
organ in der Form eines „jüdischen Parlaments“ zusammenzuschlie-
ßen sowie eine Hochschule für die jüdische Jugend nach dem Vor-
bild der damaligen christlichen Universitäten zu gründen. Der eine
wie der andere Plan fand bei der Regierung vollen Anklang, doch
werden sie wohl kaum zur Ausführung gekommen sein, da gar bald
die verhängnisvolle Regierungszeit Ferdinands des Katholischen an-
brach. Unter Ferdinand war das jüdische Parlament nur ein einziges
Mal, im Jahre 1489, zusammengetreten, als die Regierung große
Geldmittel für den Krieg gegen Granada benötigte. Die Abgeordneten,
je zwei aus jeder Gemeinde, versammelten sich in Palermo, be-
sprachen sich über die laufenden Angelegenheiten und überreichten
439
Italien zur Zeit der Frührenaissance
dem Vizekönig zusammen mit einer ansehnlichen Spende für „das
Unternehmen gegen Granada“ die von ihnen angenommenen Ent-
schließungen. Der König erteilte den Parlamentsbeschlüssen sein
Placet, bestätigte die Vorrechte der jüdischen Gemeinden und ge-
lobte, sie vor den damals auf Sizilien sich häufenden Überfällen des
Pöbels in Schutz nehmen zu wollen. Es war dies im Januar 1490,
und schon zwei Jahre später sollte es der König selbst sein, der auf
die gesamte jüdische Bevölkerung einen jähen Überfall unternahm.
Das verhängnisvolle Dekret vom März 1492 über die Vertreibung
der Juden aus Spanien und „seinen Besitzungen“ erstreckte sich näm-
lich auch auf Sizilien. Während jedoch in Spanien die jüdische wie
die christliche Welt durch die vorhergehende Bewegung gegen die
Marranen und durch das Wüten der Inquisition auf diesen Akt we-
nigstens vorbereitet war, schlug das Ausweisungsedikt in Sizilien
gleich einem Blitze aus heiterem Himmel ein. Es bedeutete für das
Land keine Kleinigkeit, sich einer so wichtigen wirtschaftlichen Kraft,
wie es die hunderttausendköpfige jüdische Bevölkerung war, plötz-
lich beraubt zu sehen. Die christlichen Inselbewohner waren aufs
schwerste beunruhigt. So wandte sich denn eine Abordnung der höch-
sten Staatsbeamten Siziliens an den Vizekönig mit der Bitte, Ferdi-
nand zur Aufhebung des Ediktes zu bewegen und, falls sich dies un-
möglich erweisen sollte, wenigstens den Aufschub der Ausweisung
zu erwirken (20. Juni). „Wir erachten es als unsere Pflicht — so
hieß es in der von ihnen überreichten Petition1) —, dem König um
des Staatswohles willen unverhohlen die Wahrheit zu sagen. Wenn
die Ansicht, daß das Weilen der Juden in der Mitte der Christen den
katholischen Glauben gefährde, zuträfe, so würden wir selbst als
erste beim König nicht nur die Ausweisung der Juden, sondern so-
gar deren Verbrennung bei lebendigem Leibe anregen. Diese Behaup-
tung entspricht jedoch nicht der Wahrheit. Weit davon entfernt, die
Christen zu ihrem Glauben verführen zu wollen, sind es vielmehr die
Juden, die zuweilen zu unserem Glauben übertreten. Daneben wären
auch die dem Staate durch die Vertreibung entstehenden unermeß-
lichen Verluste in Erwägung zu ziehen. Würde doch auf diese Weise
!) Der Inhalt des weitläufigen, die soziale Stellung der Juden in Sizilien
hell beleuchtenden Dokumentes ist hier mit bedeutenden Kürzungen wiederge-
geben. Das Schriftstück ist in extenso bei Lagumina, Godice etc. III, S. 45— 51,
zu finden (s. Bibliographie).
44o
§ 60. Süditalien. Die Verlreibung aus Sizilien
außer den von den Juden an den Staatsschatz entrichteten Steuern
und Gebühren auch die von ihnen für ihren Unterhalt verbrauchte
Summe, etwa eine Million Florin, dem Lande entzogen werden. Über-*
dies müßten die von den Juden in ihren Handelsgeschäften mit Chri-
sten eingegangenen Verpflichtungen uneingelöst bleiben. Und noch
andere Übel würden die unausbleibliche Folge der angeordneten Maß-
nahme sein: fast alle Handwerker in unserem Lande sind Juden;
sollten sie nun alle zur festgesetzten Frist (binnen drei Monaten)
Sizilien verlassen, so würden die Christen vieler Arbeitskräfte ver-
lustig gehen, die Metallgeschirr, Eisengeräte, so namentlich Hufeisen,
Ackerbaugeräte und alles für den Schiffbau Unentbehrliche produ-
zieren. Es würde uns nicht so bald gelingen, sie durch Christen zu
ersetzen; die wenigen aber, die aufzutreiben wären, würden einen un-
vergleichlich höheren Arbeitslohn verlangen. So würde denn die
Durchführung des ergangenen Befehls den Mangel an den allernot-
wendigsten Bedarfsartikeln zur Folge haben. Besonders schwer würde
sich aber das Fehlen der jüdischen Bevölkerung in jener Notlage be-
merkbar machen, die im Falle eines Überfalles von seiten der Türken
eintreten müßte. Obschon die Juden im Kriegshandwerk nicht aus-
gebildet sind, verstehen sie sich doch sehr wohl auf die für den Krieg
unentbehrlichen Hilfsarbeiten: auf Straßen- und Wegebau, Schanz-
arbeiten und Befestigung der Mauern. Schließlich ist nicht außer
acht zu lassen, daß die Zahl der reichen Juden nur gering ist und
daß es unter ihnen nicht einmal viel Leute mit leidlichem Auskom-
men gibt, daß vielmehr die große Masse völlig unbemittelt ist und
daher im Falle einer forcierten Ausweisung unweigerlich dem Hun-
gertode preisgegeben wäre“.
Ein ähnliches Protestschreiben wurde dem Vizekönig von der Stadt
Palermo überreicht (n. Juli). Es hieß darin, daß die „glückliche
Stadt Palermo“ völlig ruiniert werden würde, falls die mit der christ-
lichen Bevölkerung auf dem Gebiete des Handels und des Kredit-
geschäftes in engster Verbindung stehenden Juden die Stadt binnen
drei Monaten, wie vorgeschrieben, verlassen müßten. Alle Warnungen
blieben indessen ungehört. Die Vertreibung der Juden aus allen spa-
nischen Besitzungen galt Ferdinand und Isabella nach der Eroberung
von Granada als die Erfüllung eines heiligen Gelübdes, und so konnte
von der Aufhebung des Ediktes keine Rede sein. Der katholische
Gott wollte nach der Meinung des Königspaares auf das Dankopfer,
44i
Italien zur Zeit der Frührenaissance
auf die Opferung von zweihunderttausend spanischen und hundert-
tausend sizilianischen Juden, nicht .verzichten. Die einzige zugestan-
dene Erleichterung war die Verlängerung der Gnadenfrist bis zum
Dezember 1492. Gegen Ausgang des Jahres verließen alle Juden mit
Ausnahme der zum Christentum Übergetretenen die Insel; es war
ihnen gestattet, nur das Allernotwendigste mit sich auf den Weg zu
nehmen, während ihr sonstiger Besitz dem Reichsschatz zufiel. Die
Vertriebenen begaben sich zunächst nach Neapel, Apulien und Ka-
labrien. Als aber diese Gebiete bald darauf von dem vereinigten spa-
nisch-französischen Heere überflutet wurden und im Jahre i5o5
auch Neapel den Spaniern in die Hände fiel, sahen sich die Auswan-
derer genötigt, sich von dem süditalienischen Boden endgültig loszu-
reißen. Ein Teil von ihnen zog nach dem Norden, andere wieder
wandten sich nach der Balkanhalbinsel, nach dem neuerblühten Tür-
kenreiche. Sie begründeten in Konstantinopel, Saloniki, Adrianopel,
Patras, Larissa und anderen Städten mit vorwiegend griechischer Be-
völkerung, die sie schon aus ihrer Heimat gut kannten, bedeutende,
festgefügte Gemeinden. So brachte auch Italien dem an der Grenz-
scheide der Neuzeit wütenden Moloch ein ansehnliches Opfer dar: das
ihm zu Ehren zerstörte uralte sizilianische Diasporazentrum sollte
bis ins XIX. Jahrhundert hinein in Schutt und Asche liegen.
§ 61. Das jüdische Schrifttum in der Epoche der italienischen
Renaissance
Zugleich mit den ersten Anfängen der italienischen literarischen
Renaissance erlebte in der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts auch
das jüdische Schrifttum in Italien eine Zeit der Wiedergeburt. Diese
Wiedergeburt war das Ergebnis einer zwiefachen Beeinflussung, die
zum Teil vom italienischen Lande selbst, zum Teil von der Provence
ausging. Einerseits stand nämlich das geistige Leben der italienischen
Judenheit unter der Einwirkung neu zuströmender literarischer
Schaffenskräfte aus der französischen Provence, von wo aus seit der
im Jahre i3o6 erfolgten Vertreibung eine ununterbrochene Auswan-
dererbewegung nach Italien im Gange war; andererseits machte sich
aber auch der frische Luftzug des Zeitalters eines Dante, Petrarca
und Boccacio, der atmosphärische Druck der freien Gedankenströ-
mungen bemerkbar, denen sogar die Mauern der Judenviertel kein
442
§ 61. Das jüdische Schrifttum
unüberwindliches Hindernis zu bieten vermochten. So hielt denn die
spanische und provenzalische Glanzperiode im jüdischen Italien ihren
Einzug, um dort einen kurzen Nachsommer zu erleben. Zwar sollte die
den Damm des streng konservativen rabbinischen Schrifttums durch-
brechende Flut des dichterischen und philosophischen Freidenker-
tums zu keinem mächtigeren Strome anschwellen, doch brachte sie
die kühnen Regungen des gefesselten Gedankens kraft- und klang-
voll zum Ausdruck.
Als literarischer Bannerträger dieser Geistesrichtung tritt uns der
Dichter Immanuel Romi (Immanuel ben Salomo ha’Zifroni, um 1270
bis i335) entgegen, den man als „mittelalterlichen Heine“ zu be-
zeichnen pflegt. Er war einer der gebildetsten Männer des damaligen
Rom. Neben der hebräischen und arabischen beherrschte er souverän
auch noch die lateinische und die neuitalienische Literatur, wobei sein
Hauptinteresse der Philosophie und der Dichtkunst galt. In der
Region der Philosophie stand Immanuel unter dem Einfluß der „kö-
niglichen Gedanken“ des Maimonides, in dessen rationalistischem
Geiste er Kommentare zu den Büchern der Bibel schrieb. Auf dem
Gebiete der Dichtkunst eiferte er aber den aus der klassischen Epoche
des Halevi und Alcharisi stammenden spanisch-provenzalischen Vor-
bildern nach, wobei er die der damaligen italienischen Literatur ent-
lehnte Sonettform an wendete. Von seinen moralphilosophischen Bibel-
kommentaren ist uns allerdings nur weniges erhalten geblieben (so
sein Kommentar zu den „Sprüchen Salomonis“), dagegen haben
die Verse des Immanuel, ganz eigenartige Schöpfungen in der
hebräischen Poesie, die Jahrhunderte überdauert. Der Dichter ver-
faßte sie in seinen jungen Jahren, als er noch sorglos und in voller
Unabhängigkeit in Rom lebte, sammelte und bearbeitete aber seine
Gedichte schon in vorgerücktem Alter, als er in Armut verfallen und
auf die Freigebigkeit seiner Gönner angewiesen war. Seinen Lebens-
abend brachte nämlich Immanuel im Hause eines reichen jüdischen
Mäzens in Fermo zu, wo er die Früchte seines dichterischen Schaffens
in einer an den „Tachkemoni“ des Alcharisi (Band IV, § 45) er-
innernden Sammlung („Machberoth“) zusammenfaßte, in der ge-
reimte Prosa und Gedichte in bunter Folge aneinander gereiht sind.
Den hervorstechendsten Zug im Schaffen des Immanuel bildet
das Zusammenspiel von Lyrik und Humor. Im Gegensatz zu dem
Sänger der „himmlischen Laura“, Petrarca, dem die Liebe Religion
443
Italien zur Zeit der Frührenaissance
war, oder zu Dante, der mit seiner Beatrice einen Madonnenkultus
trieb, bedeutete die Liebe Immanuel .nichts als eine alltägliche Tragi-
komödie. In seiner Jugend ließ er sich sogar zu poetischen Scherzen
von der Art des folgenden hinreißen: „Dem Paradiese zog’ ich die
Hölle vor, denn wo die Tugend gebietet, steht ihr die Langeweile als
treue Gefährtin zur Seite. Lieber ist mir die Hölle mit der liebreizen-
den Sünderinnen Schar. Mit ihnen geteilt, wird die Hölle zum Eden,
ohne sie der Eden zur brennenden Hölle“. Später erblickte er aller-
dings selbst in seinem dichterischen Paradiese nur eine Ausgeburt der
Hölle. In der Lyrik des Immanuel wird ganz wie bei Heine das Lied
der Liebe und Leidenschaft immer wieder von bitterstem Sarkas-
mus, von Verhöhnung der eigenen, eben zum Ausdruck gebrachten
Überschwenglichkeit abgelöst. Seine hervorragende Begabung hielt
Immanuel nicht vor Vergeudung seiner Schaffenskraft zurück. Gleich
der Mehrzahl der damaligen Dichter, schrieb auch er vieles nur zur
Unterhaltung und Erheiterung seiner Gönner. Die Sammlung „Mach-
beroth“ ist aus den heterogensten Elementen auf gebaut: auf von echt
lyrischem Geiste getragene Sonette folgen leicht hingeworfene Szenen
aus dem Alltag, auf leichtsinnige Plaudereien tiefernste Belehrung,
auf gewagte Anekdoten im Geschmack eines Boccacio wehmütige Ele-
gien und erbauliche Meditationen. Die Gedichte sind durch eine pro-
saische Rahmenerzählung verbunden, in der Dichtung und Wahrheit
unmerklich ineinander fließen. Die Sammlung schließt mit dem Ge-
dicht „Hölle und Paradies“ („Ha’tofeth weha’eden“), das seinem
Stoffe nach an Dantes „Göttliche Komödie“ erinnert, unter deren
Einfluß es auch entstanden zu sein scheint. In dieser Dichtung kommt
der Satiriker Immanuel voll zur Geltung. Neben den ungläubigen
griechischen und arabischen Philosophen versetzt er in seine Hölle die
verknöcherten, das weltliche Wissen verachtenden Talmudisten, die
Scheinheiligen, Geizhälse, Kurpfuscher und die Plagiatoren unter den
Schriftstellern. Zum Unterschiede jedoch von Dante, der allen Nicht-
katholiken den Eintritt in das Paradies verwehrt, räumt Immanuel
den sittlich hochstehenden und die Einzigkeit Gottes anerkennenden
Andersgläubigen ohne Bedenken Plätze im Eden ein.
Der jüdische Dichter soll nach den Mutmaßungen mancher Ge-
schichtsschreiber mit dem großen Florentiner auch persönlich be-
kannt gewesen sein; es steht jedenfalls fest, daß sie in der Person des
italienischen Rechtsgelehrten Bosone da Gubbio einen gemeinsamen
444
§ 61. Das jüdische Schrifttum
Freund besaßen. Als nach dem Tode der beiden Dichter einer ihrer
Gegner sich dahin äußerte, daß sie wegen ihres Freidenkertums
sicherlich in der Hölle schmachteten, erwiderte ihm Bosone, wenn
Dante wie „Manoello“ das Fegefeuer auch nicht erspart geblieben sein
mochte, sei ihnen nach der Läuterung das Paradies dennoch sicher.
Von den drei in italienischer Sprache erhalten gebliebenen Sonet-
ten des Immanuel sind zwei besonders für seinen politischen Indiffe-
rentismus bezeichnend, der ihn von dem mitten im Strudel der poli-
tischen Leidenschaften stehenden Dante so kraß unterscheidet:
„Nichts liebe ich — heißt es da — und verachte auch nichts. In Rom
bin ich bald den Golonna, bald den Orsini (zwei miteinander um die
Macht kämpfende Patriziergeschlechter) Freund und gebe bald jenen,
bald diesen den Vorzug. Ich juble den Erfolgen der Welfen zu, kom-
men sie aber zu Falle, so ergreife ich für die Ghibellinen Partei“. Im
dritten dieser Sonette trägt der Dichter auch religiösen Indifferentis-
mus zur Schau und spricht mit aller Leichtfertigkeit aus, daß er,
wenn neben Moses und Aaron Petrus und Paulus und Mohammed mit
der Predigt ihrer Lehren vor ihm erscheinen würden, ratlos wäre,
wem er folgen sollte, „welches der Weg der Heiligkeit und welches
der der sündhaften Welt“ sei. Es war dies allerdings nichts als dich-
terischer Übermut: in Wirklichkeit blieb Immanuel stets dem tra-
ditionellen Judaismus treu, wie dies aus seinen Bibelkommentaren,
ja aus vielen Stellen seiner dichterischen Schriften ersichtlich ist. Daß
er auch in seinem alltäglichen Wandel keineswegs jener Wüstling
und Lebemann war, als welchen man sich den Verfasser der „Mach-
beroth“ wohl vorstellen könnte, beweisen die zahlreichen didaktischen
Gedichte, die in diesem Buche neben frivoler Erotik Platz finden.
Sind doch hier sogar tiefempfundene, im Stile der Psalmen gehaltene
synagogale Lieder eingestreut. Trotzdem war Immanuel bei der stren-
gen Orthodoxie ob seiner „Unkeuschheit“ so sehr verrufen, daß auch
die rabbinische Nachwelt für seine Schriften nichts als Tadel übrig
hatte.
In viel schärferer Ausprägung tritt uns die soziale Satire in den
Prosawerken des provenzalischen Schriftstellers Kalonymos ben Ka-
lonymos (1286—i34o) entgegen. Aus Arles gebürtig und durch die
Verfolgungen des Jahres i3o6 zu einem unsteten Wanderleben ver-
urteilt, traf der hochgebildete Kalonymos in Avignon mit dem
Freunde der Wissenschaften Robert von Anjou, dem König von
445
Italien zur Zeit der Frührenaissance
Neapel, zusammen, dessen besondere Gunst er gewann. Auf Anregung
des königlichen Mäzens begab er sich in einer wissenschaftlichen Mis-
sion nach Rom, um dort bald zum Mittelpunkt der gebildeten Welt
zu werden. Man schätzte Kalonymos namentlich als Kenner des ara-
bischen wissenschaftlichen und philosophischen Schrifttums und als
Übersetzer vieler Werke dieser Literatur ins Hebräische. Er übertrug
nämlich etwa dreißig Schriften aus dem Arabischen, darunter die des
Averroes, Alfarabi, Galen und Euklid. Außerdem übersetzte er ins
Lateinische das Werk des Averroes „Umsturz des Umsturzes“ (De-
structio destructionis), das eine Entgegnung auf das berühmte Buch
des Al-Ghazali „Umsturz der Philosophen“ darstellte. Kalonymos be-
schränkte sich indessen nicht allein auf Übersetzungen, sondern be-
währte sich auch als ein selbständiger Schriftsteller von ausgesproche-
ner Eigenart. Eine reife Frucht seiner vielseitigen Lebenserfahrung
war die Sittensatire „Der Prüfstein“ („Eben bochan“), in dem der
Verfasser bald in ernsterem, bald in humorvollem Tone die Laster,
die Abgeschmacktheiten und die Modetorheiten seiner Zeitgenossen
geißelt. Besonders schlecht kommen dabei die reichen Heuchler weg,
die ihre anrüchigen Taten durch Scheinheiligkeit zu verschleiern su-
chen, sowie die „mit ihrem Wissen Schacher treibenden“ Rabbiner.
Hin und wieder bedenkt er mit seiner ätzenden Ironie auch den rab-
binischen Judaismus selbst. Er bedauert es, nicht als Mädchen geboren
zu sein, weil er dann der Befolgung vieler talmudischer Ge-
bote und Vorschriften enthoben wäre und sich auch nicht über die
rabbinische Scheinweisheit den Kopf zerbrechen müßte. Ein anderes
humoristisches Werk des Kalonymos, sein kleiner „Traktat über den
Purim“ („Massecheth Purim“), parodiert in geistreicher Weise den
Talmud. Mit scheinbarem akademischen Ernst, hinter dem sich unter-
drücktes Lachen verbirgt, wird hier die Frage erwogen, wie man sich
am „Hamanfeste“ einen regelrechten Rausch antrinken solle. Die
Grundvoraussetzungen für die Lösung dieser Frage werden in der
Form von Mischnalehrsätzen dargelegt, während ihre Erörterung
im verschnörkelten Stile der Gemarakasuistik gehalten ist und um
so komischer wirken muß, je ulkiger das behandelte Problem ist.
Diese auf den ersten Blick harmlos scheinende Parodie stellte mit
großem Geschick die Schattenseiten des Talmudismus bloß, und so
hatten die gestrengen Rabbiner der späteren Zeit ihre guten Gründe,
den Verfasser für seinen Faschingsscherz scharf zu tadeln.
446
§ 61. Das jüdische Schrifttum
Ein Zeitgenosse des Immanuel und Kalonymos war der sich durch
seine gediegene Kenntnis der Philosophie auszeichnende Jehuda
(Leon) Romano. Mit der christlichen Scholastik aufs beste vertraut,
unterzog er sich der Aufgabe, die Werke des Thomas von Aquino, des
Albertus Magnus und anderer Kirchengrößen aus dem Lateinischen
ins Hebräische zu übertragen. In einem der von ihm übersetzten
Werke (,,Liber de causis“) heißt es, daß die Übersetzung im Aufträge
des Königs Robert gemacht worden sei. Außerdem war Jehuda Ro-
mano der Verfasser eines Kommentars zum „Ruche der Erkenntnis“
des Maimonides. Von den jüdischen Schriftstellern, die sich der Gunst
des hochherzigen Königs von Neapel erfreuten, verdient noch Sehe-
maria Ikreti („von Kreta“) Erwähnung, der aus dem damals unter
der Herrschaft von Venedig stehenden Negroponte gebürtig war. Sein
umfangreicher Bibelkommentar beginnt mit einer Widmung an den
König Robert, „der gleich dem König Salomo nicht nur mit der
Krone der Macht, sondern auch mit der der Weisheit gekrönt ist“
(i328). In seinem Kommentar sucht der Verfasser die Heilige Schrift
vor der philosophischen Kritik in Schutz zu nehmen, zugleich aber
den Bibeltext nach streng grammatischer und logischer Methode aus^
zulegen. Ganz im Banne seines tief und breit angelegten Werkes, lebte«
sich Schemaria in den Gedanken ein, daß er vom Himmel selbst dazu
berufen sei, durch seine Thora-Interpretation die Rabbaniten und Ka-
räer miteinander zu versöhnen und so den alten Zwiespalt im Judais-
mus aus der Welt zu schaffen. In Negroponte mochte er die klein-«
asiatischen und byzantinischen Karäer aus nächster Nähe kennen ge-
lernt und den Abfall dieses alten Zweiges des Judentums besonders
bedauert haben. Schon in vorgerücktem Alter unternahm Schemaria^
im Dienste seiner Friedensmission eine Reise nach Spanien, wurde«
dort jedoch nur ausgelacht und an manchen Orten sogar verfolgt, da
man aus seinen Reden die Anmaßung des prophetischen, ja des mes-
sianischen Berufes herauszuhören glaubte (i352—1358).
Der jüdischen literarischen Renaissance in Italien war nur eine
kurze Lebensdauer beschieden. Unter der Einwirkung der überhand-
nehmenden klerikalen Agitation wenden sich die Geister im XV. Jahr-
hundert immer mehr der religiösen Apologetik zu. Es entstanden Bü-
cher, die als Leitfaden für jüdische Disputanten bei der Verteidigung
der Dogmen des Judaismus dienen sollten, die jedoch zum größten
Teil im Staube der italienischen Archive ruhen. Nur selten wagt sich
447;
Italien zur Zeit der Frührenaissance
©ine originellere literarische Begabung hervor. Der einzige Dichter
dieses Jahrhunderts, der in Perugia als Rabbiner und Arzt wirkende
Moses da Rieti (gest. um i46o), bediente sich der von ihm meister-
lich beherrschten gebundenen Rede nur zur Darlegung religionsphilo-
sophischer Ideen und literaturgeschichtlicher Tatsachen. Seine Dich-
tung „Das kleine Heiligtum“ („Mikdasch meat“) ist nach italieni-
schem Vorbild in Terzinen abgefaßt und erinnert auch ihrem Aufbau
nach in mancherlei Hinsicht an Dantes „Göttliche Komödie“. Das
Poem stellt einen Bericht über in den himmlischen Hallen erlebte
Visionen dar. Bei der Aufzählung der Namen der ihm dort begegnen-
den hervorragendsten Schriftsteller schließt Moses da Rieti die Frei-
denker Albalag, Ralbag (Gersonides) und Moses Narboni aus dem
Grunde aus, weil ihm, wie er ausdrücklich erklärt, die philosophi-
schen Lehren dieser „Weisen“ verkehrt erscheinen. Ausgeschlossen
bleibt auch sein Vorgänger Immanuel Romi und zwar „wegen seines
Stiles und der in seinem Liebesbuche vorkommenden Wendungen“.
Ebenso wie im Spanien dieser Zeit hat jetzt auch in Italien die kon-
servative Richtung Oberwasser. Religiöse Apologetik vertrug sich eben
schlecht mit freiem Denken. Hatte doch Moses da Rieti selbst eine
Disputation gegen „einen bekannten Bruder (Mönch), einen Juden-
feind“ zu bestehen, „der in seinen Predigten zu Rom das Lager Got-
tes schmähte und es zi^ zerstören drohte“. Es war dies wohl einer der
Genossen des Bernhardin da Siena oder des Bernhardin da Feltre, die
in ihrer Person den Predigerberuf so harmonisch mit dem von Volks-
verhetzern zu vereinigen wußten.
In der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts wird in Italien die
verödete Stätte des freien literarischen Schaffens vom rabbinischen
Schrifttum strenger deutscher Observanz ausgefüllt. Durch die Emigra-
tion aus Deutschland und Österreich, deren jüdische Bevölkerung da-
mals von Massenausweisungen heimgesucht war, erwuchsen in Italien
Geistesströmungen, die den seinerzeit durch die provenzalischen Ein-
wanderer ausgelösten direkt entgegengesetzt waren. Unter den Neu-
ankömmlingen aus Deutschland gab es nämlich viele hervorragende
Talmudisten, die keine Mühe scheuten, um die rabbinische Scholastik
ihres Heimatlandes auch unter dem neuen Himmelsstrich heimisch zu
machen. Einer von ihnen, R. Jehuda Menz (oder Minz), übernahm das
Rabbineramt und das Rektorat der Talmudakademie in Padua (i46o
bis i5o8), aus der viele Talmudgelehrte hervorgingen, die die jüdi-
448
§ 61. Das jüdische Schrifttum
sehe Schule in Italien „germanisieren“ sollten. Gleichzeitig mit Menz
wirkte hier der hochangesehene Rabbiner Joseph Kolon (oder wie
sein literarischer Name lautet: Maharih, gest. um 1490), der zwar
aus Savoyen gebürtig war, seine Studien jedoch auf den österreichi-
schen Talmudschulen gemacht hatte. Zum Rabbiner von Mantua ge-
worden, erlangte er allmählich die Stellung des faktischen Groß-
rabbiners von Italien. Seine die Fragen des Ritus, des Zivil- und na-
mentlich des Eherechts betreffenden „Entscheidungen“ („Teschu-
both“) galten für alle ihn um Rechtsbelehrung angehenden Gemein-
den als durchaus verbindlich. Strenge Hüter der Rechtgläubigkeit,
vermochten sich die beiden Rabbiner Menz und Kolon mit der sich
unter den fortschrittlicheren Vertretern der italienischen Judenheit
noch immer regenden Gedankenfreiheit in keiner Weise abzufinden.
In Padua und Mantua stießen sie jedoch auf zwei Denker, die die
höchsten Stufen der Bildung ihres Zeitalters erstiegen hatten und der
aus dem deutschen Ghetto kommenden geistigen Engherzigkeit mit
Entschiedenheit in den Weg traten.
Der Vorkämpfer der Gedankenfreiheit in Padua war Elias Del-
medigo (um 146o— 1497), der an der dortigen Universität Vorlesungen
über Philosophie hielt. Der aus Candia auf Kreta gebürtige jüdische
Denker verfügte über weitreichende allgemeine Bildung, die er nach
der Übersiedlung in die Universitätsstadt Padua noch erheblich verb-
riefte. Er verfaßte hier und in Venedig in lateinischer Sprache meta-
physische, im Geiste des Aristoteles gehaltene Schriften („De primo
motore“, „De creatione mundi“ u. a.) und übersetzte zugleich ins La-
teinische Werke der arabischen und jüdischen Philosophen, die er so
den wissensdurstigen Christen zugänglich machte. Als es einst in der
Universität von Padua zu einem heftigen Streite über gewisse philo-
sophische Probleme kam, der Professoren und Studenten in zwei sich
befehdende Lager spaltete, wurde der junge jüdische Gelehrte in
einer Sitzung des vom venezianischen Senat zur Schlichtung des Strei-
tes eingesetzten Kollegiums als Sachverständiger gehört. Hierauf
wurde Elias Delmedigo die venia legendi für Philosophie erteilt und
seitdem trat er nicht selten mit öffentlichen Vorlesungen in Padua,
Florenz und Venedig hervor. Zu seinen Schülern gehörte unter an-
deren der berühmte Humanist Pico de Mirandola, der ein besonders
lebhaftes Interesse der jüngst entstandenen Kabbala entgegenbrachte,
in der er eine Bestätigung der christlichen Dogmatik finden zu kön-
29 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
Italien zur Zeit der Frührenaissance
nen glaubte. In der jüdischen Literatur hat Delmedigo seinen Namen
durch einen kurz gefaßten, im Jahre* 1491 niedergeschriebenen Trak-
tat verewigt, der den Titel „Bechinath ha’dath“ („Prüfung des Glau-
bens“) trägt und die philosophischen Grundlagen des Judaismus zum
Gegenstände hat. Der allen radikalen Tendenzen abholde Verfasser
bemüht sich in dieser Abhandlung zu beweisen, daß das Gebiet der
ein unabhängiges Reich bildenden und von ihren eigenen Gesetzen
regierten Religion durch die Ergebnisse der philosophischen Speku-
lation in keiner Weise berührt werde. Der Judaismus sei vor allen
Dingen die Religion der Tat und nicht allein die des Glaubens oder
der Kontemplation. In diesem Bereiche müsse für uns allein die die
Bibelvorschriften auslegende talmudische Halacha maßgebend sein
und bleiben. Hingegen sei für uns die mit ihren Legenden und ein^
ander widersprechenden Ansichten in die Region des Glaubens und
der Dogmatik vorstoßende Haggada nicht mehr als jedes andere Werk
des menschlichen Geistes verbindlich, weshalb denn der haggadischen
Exegetik, soweit sie dem unmittelbaren Sinngehalt der Thora und der
Propheten widerspricht, nicht die geringste Bedeutung beizumessen
sei. Umsoweniger könne der mystischen Kabbala und dem von ihr
heiliggesprochenen Buche „Sohar“ Bedeutung zukommen, dieser ver-
meintlichen Offenbarung des Rabbi Simon ben Jochai, von der der
Talmud nichts zu berichten wisse. Die kabbalistische Lehre von den
„Sefiroth“ als mit göttlicher Kraft ausgestatteten Potenzen stehe in
krassem Widerspruch zu dem schlichten Dogma der Einzigkeit Got-
tes. Während die Kabbalisten die Gottheit materialisierten, ließen die
Rationalisten die biblischen Vorstellungen von Gott zu abstrakten
Schemen verblassen, und so müßte man beide Extreme verwerfen.
Delmedigo selbst zieht den von Maimonides gewiesenen Mittelweg vor,
ist aber noch viel gemäßigter als sein Meister, indem er z. B. bei der
Erforschung der den Geboten der Religion zugrunde liegenden Mo-
tive („taame ha’mizwoth“) größte Behutsamkeit anempfiehlt, damit
die bei der Ergründung der letzten Ziele und Absichten der einen
oder anderen Gesetzesvorschrift entstehenden Meinungsverschieden-
heiten nicht zu einem Zwiespalt in Israel führen. Trotz seiner Be-
hutsamkeit blieb dem Philosophen ein Zustammenstoß mit dem Rab-
biner von Padua, Jehuda Menz, dem schon die Ansicht von der Unver-
bindlichkeit der haggadischen Interpretationen als durchaus ketzerisch
erschien, nicht erspart. Für den konservativen Rabbiner und den Leh-
45o
§ 61. Das jüdische Schrifttum
rer der Philosophie an der christlichen Universität war der Raum in
derselben Gemeinde viel zu eng, und so mußte Delmedigo aus Padua
in seine Heimatstadt Candia zurückkehren, wo er bald, noch in blü-
hendem Alter, vom Tode ereilt wurde.
Ähnlich war das Los seines Zeitgenossen Jehuda ben Jechiel, eines
Arztes und Rabbiners in Mantua, der unter dem Namen Messer Leon
(um i44o—1490) bekannter ist. In seiner Begeisterung für den
italienischen Humanismus suchte Leon Stil und Geist der antiken
Rhetorik auch in die hebräische Literatur zu verpflanzen. Außer
einem in Anlehnung an Quintilianus und Cicero verfaßten Werke
über die Redekunst („Nofeth zufim“) schrieb er noch einen Leit-
faden der Logik und der Grammatik. Nachdem der Rabbiner Joseph
Kolon in Mantua eingetroffen war, entbrannte zwischen diesem und
Leon ein heftiger Streit, der weniger auf ihre Rivalität im Berufe als
vielmehr auf die Verschiedenheit ihrer Geistesrichtung zurückging.
Der Widerstreit der beiden Rabbiner rief in der Gemeinde einen so
scharfen Parteikampf hervor, daß der Herzog von Mantua sich ge^
nötigt sah, zur Beruhigung der aufgeregten Gemüter die zwei Rivalen
aus der Stadt zu weisen (i475). Joseph Kolon fand hierauf in Pavia
eine neue Wirkungsstätte, und auch die von Messer Leon inaugurierte
Geistesströmung sollte nicht versiegen. Der italienische Humanismus
machte inzwischen, namentlich auf dem Gebiete der Philologie,
rasche Fortschritte und zog zu Beginn des XVI. Jahrhunderts auch
viele jüdische Gelehrte in seinen Bannkreis.
Zum Aufschwung des geistigen Lebens dieser Zeit trug nicht we-
nig die um die Mitte des XV. Jahrhunderts erfundene Buchdrucker-
kunst bei. Unter den Juden waren es die Italiens, die sich als erste
die große Erfindung zunutze machten. Schon in den siebziger und
achtziger Jahren des XV. Jahrhunderts wurden in Mantua, Ferrara,
Bologna und Neapel hebräische Bücher gedruckt. Seit dem Beginn
des XVI. Jahrhunderts werden die italienischen Buchdruckereien zu
den Vorratskammern, aus denen die gesamte Judenheit mit geistiger
Nahrung versorgt wird.
29*
45 I
Sechstes Kapitel
Das östliche Europa und der jüdische
Orient
§ 62. Der Aufschwung der Kolonien in Polen
unter Kasimir, dem Großen
In den letzten zwei Jahrhunderten des Mittelalters bildete Polen
das Hauptziel der jüdischen Auswanderung aus Deutschland. Die vom
Westen nach dem Osten hin verlaufende Bewegung war nach wie vor
durch zweierlei Ursachen bestimmt: einerseits wurden die Juden
durch den in die polnischen Städte sich ergießenden Strom deutscher
Ansiedler mitgerissen, andererseits wurden sie aber auch durch
speziell jüdisches Ungemach dorthin getrieben: durch die Verfolgun-
gen der „Judenschläger“, der Armleder und durch die im Zusam-
menhang mit dem „Schwarzen Tod“ angezettelten Hetzen im XIV.
Jahrhundert, sowie durch die systematische Ausweisung ganzer jüdi-
scher Gemeinden aus verschiedenen deutschen und österreichischen
Städten im nächstfolgenden Jahrhundert. Das die freiwilligen wie
die unfreiwilligen Auswanderer bereitwillig aufnehmende Polen war
um jene Zeit politisch erstarkt und stand im Begriffe, in ein höheres
Stadium seiner wirtschaftlichen Entwicklung einzutreten. König
Wladislaw Lokietek (i3o6—i333), dem es gelungen war, das Sy-
stem der Teilfürstentümer fast gänzlich zu beseitigen, machte den
Weg für die staatliche Einheit Polens frei, während sein friedlieben-
der Sohn Kasimir der Große (i333—1370) unablässig bemüht war,
in dem vereinigten Reiche das bürgerliche und wirtschaftliche Leben
in geordnetere Bahnen zu lenken. In der Förderung der Kolonisation
durch die Zuwanderer aus Deutschland erblickte Kasimir ein siche-
res Mittel zur Belebung von Handel und Industrie im Lande. Die
Interessen aller Stände, die der leibeigenen Bauern miteingeschlos-
452
§ 62. Polen unter Kasimir dem Großen
sen, gingen dem König gleich nahe. Man nannte ihn den „König der
Knechte“ und es kam das geflügelte Wort in Umlauf, daß er „ein höl-
zernes Polen geerbt und ein steinernes hinterlassen“ hätte, da unter
ihm überall in den polnischen Städten steinerne Bauten errichtet wur-
den. In der Periode des staatlichen Aufbaus und des Städtebaus
konnte nun Kasimir unmöglich auf den Unternehmungsgeist und
die Kapitalkraft der Juden verzichten. Diese wirtschaftspolitischen
Erwägungen bewogen ihn, schon im zweiten Jahre seiner Regierung
(i334) den von Boleslaw von Kalisch den Juden der Provinz Groß-
polen verliehenen Freibrief (oben, § 3o) erneut zu bestätigen und
seine Wirkung auf ganz Polen auszudehnen. Später ergänzte Kasimir
den Freibrief des Boleslaw durch neue Gesetzesbestimmungen, die
zusammen mit den von früher her bestehenden die für die polni-
schen Juden geltende Verfassung bildeten. Gleich den auf Grund
ihres eigenen, des „deutschen (Magdeburger) Rechts“ verwalteten
Bürgerkorporationen der christlichen Ansiedler aus Deutschland such-
ten sich auch die jüdischen Gemeinden durch Privilegien eine auto-
nome Verwaltung zu sichern. Während die Gemeinden in allgemein-
bürgerlichen Angelegenheiten den königlichen Woiwoden unterstan-
den, wurden sie, soweit ihr inneres Leben in Betracht kam, von Män-
nern ihrer eigenen Wahl verwaltet. Von besonderer Wichtigkeit war
für die Juden die Unabhängigkeit von der Jurisdiktion der Stadt-
magistrate und der christlichen Körperschaften, da die jüdische Be-
völkerung sonst ihren Handelskonkurrenten oder der ihr feindlich
gesinnten katholischen Geistlichkeit auf Gnade oder Ungnade ausge-
liefert gewesen wäre. Auf den Zusammenschluß der Juden zu einem
sich auf sicherer Rechtsgrundlage auf bauenden Stande gingen eben
alle die polnische Judenheit betreffenden Gesetzgebungsakte Kasimirs
sowie seiner Nachfolger aus.
Im Gegensatz zu den deutschen Urkunden, in denen die Juden als
„Knechte der königlichen Kammer“ oder als Leibeigene der Krone
bezeichnet zu werden pflegten, heißt es in den einleitenden Sätzen des
Erlasses des Königs Kasimir vom Jahre i364 ohne jede Überhebung,
daß der König „der Bitte der in allen Städten des polnischen Rei-
ches lebenden Juden“ aus dem Grunde stattgegeben habe, weil er
„den Nutzen seines Schatzes zu vermehren bestrebt“ sei (utilitates
camerae nostrae augere cupientes). Dieses Grundgesetz gewährleistete
den Juden in ganz Polen Niederlassüngsrecht und Freizügigkeit, un-
453
Osteuropa und der jüdische Orient
eingeschränkte Handelsfreiheit, das Recht, Waren ein- und auszufüh-
ren sowie gegen Verpfändung von beweglichem und unbeweglichem
Gut Geld auf Zinsen auszuleihen. Das Gesetz wiederholt fast wörtlich
die im Freibrief des Boleslaw enthaltenen und von Kasimir schon einmal
bestätigten Bestimmungen über Unantastbarkeit von Leben und Be-
sitz der Juden. Ebenso sind in das neue Gesetz die in bezug auf die
Gleichberechtigung von Juden und Christen im gerichtlichen Verfah-
ren festgesetzten Bestimmungen sowie die sonstigen den Juden ein-
geräumten Rechtsgarantien aus dem alten Statut mitübernommen. Für
zwischen Juden und Christen entstehende Rechtsstreitigkeiten waren
nicht die städtischen, sondern die königlichen Richter zuständig: der
Woiwode oder sein Stellvertreter und als höchste Instanz der König
selbst. Hingegen sollte bei Schlichtung inner jüdischer Streitigkeiten, so-
weit nicht das jüdische autonome Gericht angerufen wurde, nach wie
vor der „Judex Judaeorum“, ein Stellvertreter des Woiwoden, als Rich-
ter erster Instanz Recht sprechen, und zwar an der Stätte, „wo die Ju-
den sonst ihre Rechtsstreitigkeiten auszutragen pflegen“. Auf diese
Weise sollte das königliche Gericht bei der Rechtsprechung in zwi-
schen Juden und Christen schwebenden Streitsachen mit der rein jüdi-
schen Gerichtsbarkeit in ständiger Fühlung bleiben, wohl um neben
dem Gewohnheitsrecht des Landes auch das jüdische Recht berück-
sichtigen zu können. — Wiewohl dieses im Jahre i364 von Kasimir
dem Vertreter der Judenheit Großpolens, Falk aus Kalisch, ausgehän-
digte Privileg für das gesamte Reich Gültigkeit haben sollte, fand es
der König für geboten, drei Jahre später (1867) in Krakau die Ju-
den Kleinpolens, anscheinend auf deren besonderes Ansuchen hin, mit
einem ähnlichen Freibrief zu bedenken. In dem neuen Erlaß kam so-
wohl das Prinzip der Vollwertigkeit der Juden (auf die Verwundung
eines Juden stand dieselbe Strafe wie auf die eines „Edelmannes“,
eines sogenannten Schlachzizen) wie auch das Selbstverwaltungsprin-
zip (der königliche Richter durfte in Streitsachen unter Juden ohne
Mitwirkung jüdischer Beisitzer kein Urteil fällen) mit noch größerer
Bestimmtheit zum Ausdruck.
Alle diese Rechte und Freiheiten wurden von Kasimir mit Zustim-
mung der im königlichen Rate vertretenen höchsten Spitzen des Adels
verliehen. Hingegen erregten die von liberalem Geiste getragenen Ju-
denstatute bei manchen Vertretern des Kleinadels, der sogenannten
Schlachta, nicht geringen Anstoß. Auf dem im Jahre i347 *n Wiß-
454
§ 62. Polen unter Kasimir dem Großen
litz zusammengetretenen Landtag gelang es denn auch der Schlachta
von Kleinpolen, eine Beschränkung des jüdischen Kreditgeschäftes
in dem Sinne durchzusetzen, daß die Juden fortan nur geringe Geld-
beträge und zwar ausschließlich gegen Faustpfand, nicht aber gegen
Wechsel oder gegen Verpfändung von Immobilien ausleihen durften,
„denn die Juden — so lautet die gehässige Begründung in dem Adels-
statut — gehen in ihrer Tücke darauf aus, den Glauben zu zerstören
und die Beichtümer und den Besitz der Christen an sich zu reißen“.
Durch diese Bestimmungen sollten die Interessen jener Angehörigen
der Schlachta geschützt werden, deren Güter bei jüdischen Gläubigern
verpfändet waren und im Verzugsfalle diesen letzteren verfallen muß-
ten. Zugleich hatte hierbei auch die Geistlichkeit die Hand mit
im Spiele, die schon im XIII. Jahrhundert gegen das Statut des Bo-
leslaw von Kalisch ihre geheiligten Kirchenkanons ins Treffen ge-
führt hatte (oben, § 3o).
Im Schreckensjahr des „Schwarzen Todes“ scheinen auch die pol-
nischen Juden in schwerer Gefahr geschwebt zu haben, da zugleich
mit der Pest aus Deutschland die niederträchtige Verleumdung von
der durch die Juden verursachten Brunnenvergiftung nach Polen ge-
drungen war. In einer polnischen Chronik hat sich eine lakonische
Nachricht erhalten, wonach im Jahre i349 »die Juden in ganz
Deutschland und fast überall in Polen ausgerottet worden sind: die
einen fielen durch das Schwert, die anderen wurden auf dem Schei-
terhaufen verbrannt“. Ähnliches weiß beiläufig auch eine italienische
Chronik zu berichten. Ein dumpfer Widerhall des über einige pol-
nische Gemeinden hereingebrochenen Unheils dringt überdies aus
manchen synagogalen Elegien zu uns. Es mag wohl sein, daß es in
den an Deutschland grenzenden Gegenden Polens, insbesondere in
Schlesien, im Zusammenhang mit der böswilligen Verleumdung, in
der Tat zu Judenhetzen gekommen war, doch ist wohl kaum anzuneh-
men, daß die gesamte polnische Judenheit darunter zu leiden gehabt
hat1). Hatte sich doch gerade in den letzten Jahrzehnten der Regie-
rung Kasimirs des Großen die Lage der Juden in Polen besonders
!) Die italienische Chronik des Villani (Muratori, Scriptores rerum italianarum,
sub an. i348) spricht ausdrücklich von dem „an das Reich grenzenden Land-
gebiet“ und hat somit wohl Schlesien (das Gebiet von Breslau) im Auge, das noch
kurz vorher zu dem Herrschaftsbereich Polens gehörte. In der synagogalen Ele-
gie des Akiba Frankfurt werden bei der Aufzählung der heimgesuchten Städte
neben anderen auch „Kalisch, Krakau und Glogau“ erwähnt (Landshut, Amudö
Osteuropa und der jüdische Orient
gefestigt, so daß es sogar zum Ziele der aus Deutschland flüchtenden
Juden geworden war.
Um diese Zeit wiesen bereits die wichtigsten Städte in den drei
Reichsprovinzen: die Reichshauptstadt Krakau und Sandomir (in
Kleinpolen), Posen und Kalisch (in Großpolen) und Lemberg (in
Rotrußland) lebenskräftige Keime zukunftsreicher jüdischer Gemein-
den auf. Die „Judengasse“ (oder das Juden viertel, „vicus Judaeorum“)
von Krakau wird in den Urkunden zuerst unter dem Jahre i3o4,
die dortige Synagoge aber sogar erst i356 erwähnt, was freilich die
Möglichkeit nicht ausschließt, daß sie schon viel früher bestanden
haben. Das jüdische Viertel war noch kein gegen die Außenwelt ab-
geschlossener Stadtteil und mitten unter den jüdischen Wohnhäusern
standen nicht selten die Häuser der Christen, vornehmlich der Deut-
schen. Schon um jene Zeit tauchten in Krakau reiche Juden auf, die
den Immobilienmarkt und das Kreditgeschäft beherrschten. Einer von
ihnen, Lewko, wurde der Privatbankier Kasimirs des Großen, der ihm
auch die Verwaltung der Salzgruben von Bochnia und Wieliczka so-
wie der Münze von Krakau übertrug. Die einflußreiche Stellung und
der Reichtum des Lewko erregten die Mißgunst der Krakauer Bürger-
schaft und der Volksmund wollte wissen, daß er im Besitze eines
Zauberringes sei, durch den er den König in seinen Bann gezwungen
habe. Ebenso wie in Krakau, kam das jüdische Kreditgeschäft auch
in Posen in Schwung. Hier war es vor allem der Kleinadel, der bei
den Juden unter Verpfändung von Ländereien Anleihen machte. Die
Konzentration des Landbesitzes der heruntergekommenen Edelleute
in den Händen ihrer jüdischen Gläubiger verursachte nicht wenig
böses Blut und zog später traurige Folgen nach sich. In der zweiten
Hälfte des XIV. Jahrhunderts tritt den Gemeinden von Krakau und
Posen die von Lemberg ebenbürtig zur Seite. Die Juden waren in die-
ser zusammen mit ganz Rotrußland im Jahre i34o Polen einverleib-
ten Stadt schon unter den russisch-galizischen Fürsten ansässig. Im
Jahre x356 ordnete Kasimir der Große an, daß alle hier vertretenen
Bevölkerungsgruppen: Deutsche, Armenier, Juden und Tataren in der
ha’aboda, Beilage II). Überdies wird Krakau unter den zu Schaden gekomme-
nen Gemeinden im „Memorbuch“ der Nürnberger Gemeinde genannt. Die im
Texte angeführte Stelle aus der „Chronik von Oliva“ (Monumenta Poloniae Hi-,
storica VI, 347) le^nt sich in ihrer Ausdrucksweise an die den deutschen städti-
schen Chroniken in ihren Berichten über die Zeit des Schwarzen Todes ge-
läufigen Wendungen an.
456
§ 62. Polen unter Kasimir dem Großen
kommunalen Selbstverwaltung die gleichen Rechte genießen und daß
eine jede von ihnen „ihrer eigenen Gerichtsbarkeit unterstehen“ solle.
Das Verhalten Kasimirs des Großen gegen die Juden entsprach
somit seiner Politik gegenüber den Fremdstämmigen überhaupt,
welche er im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes
nicht entbehren zu können glaubte. Desungeachtet wollten die Wider-
sacher der Juden in diesen von staatsmännischer Klugheit eingegebe-
nen Maßnahmen nichts als die Frucht königlicher Launen und per-
sönlicher Vorliebe sehen. Der polnische Chronist Dlugosz stellt es
nämlich so dar, als ginge das von dem König den Juden bekundete
Wohlwollen ausschließlich darauf zurück, daß er ganz unter den
Einfluß seiner Favoritin Esterka, der schönen Tochter eines schlich-
ten jüdischen Schneidermeisters, geraten sei. Der König soll ihr ein
Schloß in der Nähe von Krakau zur Verfügung gestellt und mit ihr
vier Kinder gezeugt haben, wobei die Töchter von der Mutter als Jü-
dinnen erzogen, die Söhne aber, Pelka und Niemerz, im Christentum
aufgewachsen und zu Stammhäuptern mehrerer vornehmer polnischer
Familien geworden seien. Nach dem Tode Kasimirs soll Esterka den
von seinem Nachfolger Ludwig von Ungarn angezettelten Judenver-
folgungen zum Opfer gefallen sein. Diese Geschichte vom Glück und
Ende der königlichen Geliebten stellt indessen eine geschichtlich un-
verbürgte Episode dar, in der Wahrheit und Dichtung zu einem un-
entwirrbaren Knäuel verschlungen sind.
In Dunkel gehüllt bleiben die Geschicke der polnischen Juden
während der Regierung des dem Hause Anjou entstammenden Lud-
wig von Ungarn (1870—i382), die den Zeitraum zwischen der
Herrschaft der beiden polnischen Dynastien, der Piasten und der
Jagellonen ausfüllt. Der aus der Fremde gekommene König, der das
von seinem Vorgänger Auf gebaute wieder der Zerstörung preisgab,
soll auch die Juden, gleich den schlimmsten Herrschern des katho-
lischen Westens, härtester Bedrängnis ausgesetzt haben. Er soll dar-
auf ausgegangen sein, sie zum Christentum zu bekehren, und, wie
ein Chronist aus späterer Zeit berichtet, die Widerspenstigen sogar
des Landes verwiesen haben. Indessen fehlt für diese Behauptung je-
der greifbare Beweis. Aus den Akten ist vielmehr zu ersehen, daß
der König in finanzieller Abhängigkeit von seinem jüdischen Bankier
und Steuerpächter, dem schon unter Kasimir emporgekommenen
Lewko, stand, ein Umstand, der den König wohl davor zurückgehal-
457
Osteuropa und der jüdische Orient
ten haben mochte, es sich mit den Juden endgültig zu verderben. Die
polnischen Kleriker mochten versucht .haben, mit Beistand des Prin-
zen von Anjou die westlichen Gepflogenheiten auch in ihrem Heimat-
lande heimisch zu machen, werden aber dabei kaum große Erfolge
gehabt haben. Die Zeit für solche Experimente war noch nicht ge-
kommen: setzten sie doch einen viel weitergehenden Einfluß der
Geistlichkeit auf die Staatsgeschäfte voraus, wie er erst später, in
der folgenden Epoche, zur Geltung kommen sollte.
§ 63. Polen und Litauen unter Jagello und Witold
An der Grenzscheide des XIV. und XV. Jahrhunderts wurden Polen
und Litauen infolge der Vermählung des litauischen Fürsten Jagello
mit der polnischen Thronerbin Jadwiga durch Personalunion zu einem
einheitlichen großen Reiche verbunden (i386). Der litauische Fürst
erkaufte das Recht auf die polnische Krone, die fast ein halbes Jahr-
hundert lang sein Haupt schmücken sollte (i386—i434), mit sei-
nem persönlichen Übertritt zum Katholizismus und mit der Taufe
der gesamten heidnischen Bevölkerung seines Landes. Der königliche
Neophyt, dem die Kirche zur höchsten politischen Macht verholfen
hatte und den sie wegen der Bekehrung des letzten heidnischen Stam-
mes in Europa mit einem Glorienschein umgab, konnte nicht umhin,
sich ihren Dienern mit Leib und Seele zu verschreiben. So stand denn
die polnische Innenpolitik in der Regierungszeit Wladislaw Jagellos
ganz unter dem Einfluß der katholischen Geistlichkeit. Trotz seiner
finanziellen Abhängigkeit von den jüdischen Steuerpächtern und Ban-
kiers scheint Jagello nicht willens gewesen zu sein, das liberale Juden-
statut, das Privileg Kasimirs des Großen, erneut zu bestätigen1). Zwar
ging er nicht soweit, den Juden seinen Schutz gegen die ihnen drohen-
den Gewalttaten zu verweigern, doch begründete er dabei sein Ver-
halten in einer Weise, die über seine wahren Gefühle keinen Zwei-
fel ließ: „Wiewohl wir es einsehen, daß die von den Juden eingenom-
mene Stellung bei Vielen Haßgefühle erregt, erachten wir es dennoch
als unsere Pflicht, denjenigen, die von der göttlichen Gerechtigkeit
!) Der dem Hofe des Jagello und seiner Nachfolger nahestehende Krakauer
Bischof Oiesnicki schrieb an Kasimir IV. den Jagellonen: „Euer Vater seligen
Angedenkens weigerte sich sein Leben lang, ungeachtet der Vorstellungen und
der Bestechungsversuche von seiten vieler Juden, den Privilegien (Kasimirs des
Großen) seine Sanktion zu erteilen, was ich selbst als Zeuge bestätigen kann“.
458
§ 63. Polen und Litauen unter Jagello und Witold
geduldet werden, auch unsererseits Duldsamkeit entgegenzubringen;
denn wollten wir ihnen unsere Protektion vorenthalten, so würden
die Juden, von den Christen bedroht, nicht einmal ihres Lebens sicher
sein und müßten wegen aller Art Bedrängnis, wegen Beleidigungen,
Verleumdungen und Beschimpfungen schließlich aus unserem Reiche
fortziehen“. Diese Worte wurden zu einer Zeit laut, als die böswilli-
gen „Verleumdungen“ an manchen Orten bereits schweres Unheil ge-
stiftet hatten. Der Triumphzug des Klerikalismus durch Polen nahm
seinen Ausgang in der germanisierten Stadt Posen.
Die Beziehungen zwischen den Juden und der Bürgerschaft hatten
sich hier gegen Ende des XIV. Jahrhunderts bedrohlich zugespitzt,
und so konnte das aus Deutschland kommende Märchen von der
Hostienschändung in Posen eine blutige Ernte zeitigen. Im Jahre
1399 wurden nämlich die Posener Juden beschuldigt, bei einer armen
Christin drei in der Kirche geraubte Hostien gekauft, durchstochen
und in eine Grube geworfen zu haben. Die geschändeten Hostien sol-
len hierauf in Gestalt dreier Schmetterlinge einem Hirten ihr Leid
geklagt haben, und als sie dann aus der Grube hervor gezogen ‘wurden,
begannen sie unverzüglich die gewohnten „Wunder“ zu wirken. Dies
veranlaßte den Posener Bischof, gegen den Rabbiner und dreizehn
Älteste der jüdischen Gemeinde ein Gerichtsverfahren einzuleiten,
welches damit endete, daß die der Tortur unterzogenen Angeklagten
schließlich zusammen mit der mitbeschuldigten Christin an Pfähle ge-
bunden und auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Einige Jahre
später verkündete der König Wladislaw Jagello in feierlichster Weise,
daß „an dem Orte, wo der Leib Gottes aufgefunden wurde, zum
Ruhme der göttlichen Allmacht und zu Ehren des allerheiligsten Lei-
bes unseres Herrn Jesu Christi der Grundstein zu einer Kirche samt
einem Kloster gelegt worden“ sei (i4o6). Die heilige Stätte wurde
so zu einem bevorzugten Wallfahrtsort, und das doppelte Ziel des
„frommen Betruges“ ward erreicht: die Posener Bürgerschaft hatte
an ihren Handelskonkurrenten Rache genommen, die Klosterbrüder
verhalfen aber dem Dogma vom Leibe des Herrn zu neuem Ruhme
und sicherten sich auf lange Zeit hinaus ein reichliches Einkommen.
Konnten sie doch nicht darüber im Zweifel sein, daß die Anbetung
des „Leibes Gottes“ bei dem aus dem Heidentum hervorgegangenen
christlichen König ganz besonderen Anklang finden mußte.
Als es indessen die Judenfeinde bald darauf zu Straßenexzessen
459
Osteuropa und der jüdische Orient
mitten in der Hauptstadt Krakau kommen ließen, sah sich der König
genötigt, den Verfolgten seinen Schutz zu gewähren. Der Wohlstand
der Krakauer Juden war nämlich ihren Widersachern schon längst
ein Dorn im Auge. Viele der Bürgersleute waren bei ihren jüdischen
Gläubigern stark verschuldet, und die säumigen Schuldner sannen
darauf, die Herausgabe ihrer Faustpfänder und die Vernichtung der
Schuldverschreibungen durch ein in Deutschland schon längst er-
probtes Mittel, die Judenhetze, zu erzwingen. Zunächst mußte aber
der Boden dazu gründlich vorbereitet werden. So sprengte man denn
das Gerücht aus, daß die Juden Falschmünzerei trieben, und es ge-
lang bald, einen Juden mit einer falschen Münze zu erwischen, wor-
auf man dem „Schuldigen“ einen Kranz aus solchen Geldmünzen
um den Kopf band und ihn auf dem Scheiterhaufen sterben ließ
(i4o6). Ein Jahr später tat der Priester Budek von der Kirchenkanzel
herab die folgende Neuigkeit kund: „Die Krakauer Juden haben in
der vergangenen Nacht ein christliches Kind ermordet, um dessen
Blut zu schänden; überdies haben sie nach einem Priester, der mit
einem Kruzifix in der Hand auf dem Wege zu einem Kranken war,
mit Steinen geworfen“. Sobald die Andächtigen dies vernommen hat-
ten, stürzten sie, ohne Zeit zu verlieren, zur Judengasse und begannen
die jüdischen Häuser zu plündern. Die königlichen Behörden mit
dem Starosta (dem Gouverneur) und dem Kastellan an der Spitze
eilten jedoch den Juden zu Hilfe und unterdrückten die Volksunruhen
mit bewaffneter Macht. Einige Stunden später ertönte aber auf dem
Rathausturm die Sturmglocke, und die Stadtbevölkerung glaubte
durch dieses Alarmsignal vom Magistrat zu einem neuen Überfall auf-
gefordert worden zu sein. Nunmehr rannte das Volk in hellen Scha-
ren zum Schauplatz der eben beigelegten Tumulte, um sich an den
Juden durch Mord und Plünderung zu rächen. Einige der Verfolgten
schlossen sich in der Kirche der Hl. Anna ein, mußten sich jedoch
bald ergeben, da die Menge die Kirche in Brand zu stecken drohte.
Es gab auch solche, die, vom Tode bedroht, die Taufe annahmen.
„In den Häusern der Juden fand man — wie der polnische Annalist
Dlugosz berichtet — reiche Schätze und Haufen von Kostbarkeiten, an
denen sich viele von den plündernden Christen bereicherten. Nach der
Unterdrückung der Unruhen fand man auf ihren (der Christen) Hö-
fen nicht wenig Wertgegenstände, die im Sande und in den Müll-
gruben versteckt waren“. Der über die schweren Ausschreitungen in
46o
§ 63. Polen und Litauen unter Jagello und Witold
seiner Hauptstadt empörte König stellte die Mitglieder des Magistrats
streng zur Rede und verlangte von ihnen, daß sie die Schuldigen aus-
findig machen und das geplünderte Hab und Gut wieder herbei-
schaffen sollten. Es stellte sich heraus, daß die Haupträdelsführer
dem Handwerkerstande angehörten. Die zur Verantwortung gezogenen
Zunftältesten, die meist deutsche Namen trugen (Lenz, Neukirch
u. dgl. m.) wandten sich an den Stadtrat mit der Bitte, nur die Haupt-
anstifter der Strafe zuzuführen, doch überantwortete der Magistrat
auf ausdrückliches Verlangen des Königs alle Mitschuldigen ohne
Ausnahme den Gerichtsbehörden. Der Prozeß zog sich in die Länge
und sein Ausgang ist unbekannt.
Nicht ohne deutschen Einfluß breitete sich in Polen auch jene
antijüdische Agitation aus, die namentlich zur Zeit der Hussitenbe-
wegung deutlich in Erscheinung trat. An den Sitzungen des zur Be-
kämpfung der Hussiten in Konstanz einberufenen Konzils nahm näm-
lich auch eine polnische Delegation teil, deren Führung in den Hän-
den des Erzbischofs Nikolaus Tromba lag. Nach seiner Rückkehr in
die Heimat leitete dieser Erzbischof die Arbeiten des Kirchenkonzils
von Kalisch, das gleichfalls anläßlich der Hussitenbewegung zusam-
mengetreten war (1420). Das Konzil von Kalisch bestätigte feier-
lichst alle Kanons, die von dem Breslauer und Ofener Konzil (oben,
§ 3o) als Gegengewicht gegen die den Juden von den Königen ver-
liehenen „liberalen“ Charten auf gestellt worden waren, und fügte
ihnen noch manche neue Forderungen hinzu, wie etwa die, daß die
jüdischen Immobilienbesitzer zugunsten der Kirchen jener Sprengel,
in denen sie „an Stelle von Christen ihren Wohnsitz aufgeschlagen
haben“, eine Sondersteuer entrichten sollten, und zwar in der vom
Bischof zu bestimmenden Höhe des von ihnen „der Christenheit zuge-
fügten Schadens“. Zugleich richtete die Geistlichkeit an den König
die Forderung, daß er Maßnahmen gegen den jüdischen „Wucher“
ergreifen solle. Neben der Geistlichkeit bestürmte den König mit
ihren Wünschen auch die Schlachta, die die ihren jüdischen Gläubi-
gern verpfändeten Ländereien ohne Rückzahlung der geschuldeten
Summen zurückerhalten wollte. Dem doppelten Drucke nachgebend,
entschloß sich Wladislaw Jagello auf dem Ständesejm zu Warta
(i423), die Bestimmungen des Wißlitzer Landtags vom Jahre i347
wieder zu erneuern, wonach die Juden nur gegen Faustpfänder, nicht
.aber gegen Schuldverschreibungen oder gegen Verpfändung von Im-
461
Osteuropa und der jüdische Orient
mobilien Geld ausleihen durften. Hierbei wurde auch die gehässige
Begründung des Wißlitzer Landtags.in einer noch schärferen Form
mitübernommen.
Zu derselben Zeit, da in Polen die katholische Reaktion merk-
liche Fortschritte machte, blieb das mit ihm durch die gemeinsame
Dynastie verbundene, sich jedoch der Autonomie erfreuende Litauen
von diesen verderblichen Einflüssen unberührt. In dem erst vor kur-
zem in die Gemeinschaft der christlichen Völker Europas eingetrete-
nen Lande herrschte die patriarchalische Lebensordnung, die in Po-
len bereits ihrer Auflösung entgegenging, noch unerschüttert. Noch
vermochte die mittelalterliche Kultur die Urwaldbewohner an den
Ufern des Njemen und der Wilija nicht in ihren Bannkreis zu zie-
hen, und so konnten sich die Juden hier ohne Furcht vor Verfolgung
und Bedrückung niederlassen. Wann die ersten jüdischen Siedlun-
gen in Litauen entstanden sind, ist schwer mit Sicherheit zu bestim-
men; fest steht nur, daß gegen Ende des XIV. Jahrhunderts bereits
alle bedeutenderen Städte des litauischen Fürstentums sowie des mit
ihm verbundenen Wolhynien: Brest, Grodno, Troki, Luzk und Wla-
dimir jüdische Kolonien aufwiesen. Um die gleiche Zeit mochte auch
die jüdische Kolonie in dem von den Tataren an Litauen abgetretenen
alten Kiew zu neuem Leben erstanden sein. Der erste, der diese Ge-
meinden in aller Form legitimierte, war der Großfürst Witold oder
Witowt (i388—i43o), der Litauen bald aus eigener Machtvollkom-
menheit, bald im Namen seines Vetters, des polnischen Königs Ja-
gello regierte. Im Jahre i388 verlieh Witold den Juden von Brest und
anderen litauischen Städten einen sich in den wesentlichsten Punk-
ten an die Statute Boleslaws von Kalisch und Kasimirs des Großen
anlehnenden Freibrief, auf den ein Jahr später ein besonderes Pri-
vileg für die Juden von Grodno folgte. Diese Gesetzgebungsakte zeu-
gen davon, daß der litauische Fürst in seiner staatsmännischen Be-
sorgtheit um das friedliche Dasein der Juden inmitten der Christen
sowie um die innere Organisation der jüdischen Gemeinden einem
Kasimir dem Großen durchaus nicht nachstand. Während jedoch die
erste dieser Urkunden nur die allgemein gehaltenen Formulierungen
der polnischen Privilegien wiederholt („nach Lemberger Vorbild“),
gewährt uns der von der üblichen Form abweichende, den Juden von
Grodno ausgestellte Freibrief einen Einblick in die konkreten Le-
bensverhältnisse der litauischen Juden. Aus dieser Urkunde ist zu
462
§ 64. Polen und Litauen unter den Jagellonen
ersehen, daß die Juden in Grodno auf bestimmten Straßen eigene
Häuser und „Plätze“ (Grundstücke), ein „Gotteshaus“ (Synagoge)
und eine „Sammelstätte“ (Friedhof) besaßen. Gegen Entrichtung
einer Sondersteuer an den Fürsten durften sie in ihren Häusern gei-
stige Getränke „ausschenken“ und konnten gleich allen anderen Bür-
gersleuten auf den Straßen sowie in ihren Markt-„Buden“ (Läden)
Waren feilbieten. Daneben betätigten sie sich auch als Handwerker
und durften gegen Zahlung einer bestimmten Grundsteuer liegende
„Gründe“, Äcker und Wiesen besitzen. Somit treten uns die Juden
in der Urkunde vom Jahre i38g als Warenhändler, Schankwirte,
Handwerker und Grundbesitzer, jedoch nicht als Kreditgeber entge-
gen, woraus zu entnehmen ist, daß in dem damaligen patriarchali-
schen Litauen für das jüdische Kreditgeschäft noch wenig Raum
war. Von Fremdstämmigen waren im Lande neben den Juden die
Russen und die Tataren vertreten, während die Deutschen mit ihren
bürgerlichen Institutionen noch nicht nach Litauen vorgedrungen wa-
ren. Um diese Zeit tauchten hier auch die aus der tatarischen Krim
zugewanderten Karäer auf. Nach der karäischen Überlieferung sollen
sie aus der Krim nach Troki und Luzk auf eine besondere Auffor-
derung des Großfürsten Witold übergesiedelt sein, der sie mit wei-
testgehenden Vorrechten ausgestattet haben soll.
Die Lage der Juden im Großfürstentum Litauen war somit viel
günstiger als im eigentlichen Polen. Die aus Deutschland nach
Polen ziehenden jüdischen Auswanderer wandten sich zum Teil
nach Litauen, um dort festen Wohnsitz zu nehmen. Neben der fer-
nen Krim bildete Litauen für die von West nach Ost verlaufende
jüdische Emigrationsbewegung das am weitesten vorgeschobene Wan-
derungsziel, da das moskowitische Rußland den Juden fast gänzlich
verschlossen blieb.
§ 64. Der Widerstreit der klerikalen und liberalen Politik
unter den Jagellonen
Der politische Einfluß, zu dem die Geistlichkeit unter Wladislaw
Jagello in den polnischen Stammlanden gelangt war, drohte nach
dessen Tode, als infolge der Minderjährigkeit des Thronerben die
Regierung in den Händen eines Regentschaftsrates mit dem Krakauer
Bischof an der Spitze lag (i434—i444), schwerstes Unheil herauf -
463
Osteuropa und der jüdische Orient
zubeschwören. Das Haupt der Regentschaft, der Bischof und spä-
tere Kardinal Zbigniew Oiesnicki, war nämlich einer der führenden
Geister der gesamteuropäischen klerikalen Bewegung und erblickte
seine Aufgabe darin, ihr in Polen zum größtmöglichen Triumph zu
verhelfen. Die Hoffnungen der Klerikalen sollten indessen zuschanden
werden, als die Regierung Polens der Großfürst von Litauen, Ka-
simir der Jagellone (1447—1492), übernahm, der ein ausgespro-
chener Freund des italienischen Humanismus war und die Befreiung
seines Reiches von dem Drucke der weltlichen und kirchlichen Ma-
gnaten anstrebte. Sein wohlwollendes Verhalten gegenüber den Ju-
den bekundete er schon als Großfürst von Litauen. Er ließ hier in
weitherzigster Weise die liberale Judenverfassung des Witold zur Gel-
tung kommen, setzte sich stets für die Rechte und die Autonomie
der Juden wie der Karäer ein (so wurde den Karäern von Troki im;
Jahre i44i das „Magdeburger Stadtrecht“ oder die Freiheit der
Selbstverwaltung gewährleistet) und nahm überdies zur Erhöhung der
Staatseinkünfte gern die Dienste unternehmungslustiger jüdischer Fi-
nanzmänner und Zollpächter in Anspruch. Zum König Polens gewor-
den, beschloß Kasimir, der judenfeindlichen Geistlichkeit, die seinen
Vater Jagello einst dazu verleitet hatte, den Juden die Bestätigung
ihrer Vorrechte vorzuenthalten, kraftvoll entgegenzutreten. Indessen
sollten noch einige Jahre vergehen, bis es ihm gelang, den ihm von
der Partei des Krakauer Bischofs Oiesnicki geleisteten Widerstand zu
brechen. Im Jahre i453 erging endlich auf Ansuchen der jüdischen
Gemeinden Groß- und Kleinpolens hin ein die Privilegien der Juden
bestätigender Erlaß, in dem der König in demonstrativer Weise kund-
tat: „Es ist unser Wunsch, daß die Juden, die wir im eigenen Inter-
esse sowie in dem des Staates unter besonderen Schutz nehmen,
sich während unserer glücklichen Regierung wohl und sicher füh-
len“. Der Freibrief Kasimirs des Jagellonen, der alle den Juden ehe-
dem verbürgten Rechte und Freiheiten (Niederlassungsrecht und Han-
delsfreiheit, Gemeindeautonomie und autonome Gerichtsbarkeit, Un-
antastbarkeit von Leben und Besitz, Schutz vor verleumderischen An-
schuldigungen und vor Überfällen) aufs neue bestätigte, schien gleich-
sam ein herausfordernder Protest gegen die kanonischen Beschrän-
kungen, die erst kurz vorher für Polen auf dem Konzil von Kalisch
und für die gesamte katholische Christenheit auf der großen Baseler
Kirchen Versammlung erneuert worden waren.
464
§ 6U. Polen und Litauen unter den Jagellonen
Der königliche Liberalismus versetzte die katholische Geistlichkeit
in größte Erregung. Der Führer der klerikalen Opposition, Oiesnicki,
dem damals in Rom der Kardinalshut verliehen worden war, setzte
alle Hebel in Bewegung, um den Widerruf des für die Juden so gün-
stigen Statutes zu erwirken. Um diese Zeit entfaltete gerade in dem
benachbarten Breslau eine ungestüme judenfeindliche Agitation der
päpstliche Legat Capistranus, der dort für die Opfer der Ritualmord-
lüge das Feuer der Inquisition schürte (oben, § 47)- Einer der Mit-
streiter des Oiesnicki, der Krakauer Kanonikus und Geschichts-
Schreiber Polens, Jan Dlugosz, beeilte sich nun, Capistranus, die „Ju-
dengeißel“, aufzusuchen, um ihn zu bestimmen, zwecks Beeinflussung
des judenfreundlichen Königs schleunigst nach Krakau zu kommen.
Der eifrige Legat traf bald in der polnischen Hauptstadt ein, vom
Hofe und Klerus feierlichst empfangen. Ohne viel Zeit zu verlieren,
wandte sich Capistranus an die auf dem Kirchplatz versammelte
Riesenmenge mit einer zornsprühenden Rede, in der er seiner Empö-
rung darüber Ausdruck gab, daß in der Hauptstadt des katholischen
Polen die Juden so zahlreich geworden und zu so einflußreichen Stel-
lungen gelangt seien. Daneben gab sich der Fanatiker alle Mühe,
den König durch Zureden und Drohungen dazu zu bewegen, die den
Juden eingeräumten Privilegien wieder außer Kraft zu setzen. Da
seine Überredungskunst diesmal ihr Ziel verfehlte, sandte er nach
Rom an den Papst Nikolaus V. ein von der Abschrift des den Juden
verliehenen Freibriefes begleitetes Schreiben, in dem er sich über
den für die Feinde der Kirche hartnäckig ein tretenden König leb-
haft beklagte. Zugleich mit Capistranus wetterte auch Oiesnicki gegen
den König. Im Mai i454 wandte er sich an Kasimir mit einem
Brief, in dem er dem König in schroffster Form den Vorwurf machte,
daß er den „fälschlicherweise Namen und Titel des Landesherrn Ka-
simir des Großen führenden“ jüdischen Privilegien „zur Schädigung
und Schmähung des Glaubens“ seine Bestätigung habe zuteil werden
lassen. Dadurch, daß Oiesnicki die Echtheit des alten, aus dem XIV.
Jahrhundert datierenden Dokumentes in Zweifel zog, glaubte er dem
König suggerieren zu können, daß die Juden ihm eine gefälschte Ur-
kunde zur Bestätigung untergeschoben hätten (kurz vorher wurde
nämlich die Urschrift des Freibriefes Kasimirs des Großen bei einer
Feuersbrunst in Posen ein Raub der Flammen, so daß die jüdischen
Abgeordneten die Urkunde dem König nur in einer Abschrift vorzu-
30 Duhnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
465
Osteuropa und der jüdische Orient
legen vermochten). Unter den beanstandeten Privilegien — schrieb
ferner der Kardinal — seien Artikel.anzutreffen, „die der christli-
chen Religion zuwider sind“ und die, „wie dies schon der hochwürdige
Pater Johannes Capistranus auseinandergesetzt hat“, den Namen des
Königs mit Schimpf und Schmach bedecken würden. Der Brief des
Oiesnicki klingt in eine von Drohungen begleitete flehentliche Bitte
aus: „Glaube nicht, daß es dir in Sachen der christlichen Religion
frei steht, nach Gutdünken zu verfahren. Keiner ist so groß und
mächtig, daß man sich ihm nicht widersetzen dürfte, wenn der Glaube
auf dem Spiele steht. So flehe ich denn deine königliche Hoheit an,
die obenerwähnten Privilegien und Freiheiten zu widerrufen. Zeige,
daß du ein katholischer Herrscher bist und halte alles fern, was dei-
nem Namen zur Unehre gereichen und zu noch viel verhängnisvolle-
ren Anfechtungen führen könnte“. Kasimir kehrte sich indessen we-
der an die Bitten noch kümmerte er sich um die Drohungen. Erst
durch eine plötzlich hereingebrochene Katastrophe sah er sich dazu
veranlaßt, ein rein formelles Zugeständnis zu machen. Polen lag näm-
lich um jene Zeit im Kriege mit dem Deutschen Orden. Die erste Nie-
derlage des polnischen Heeres in diesem Kriege (September i454)
gab der Geistlichkeit Anlaß, dem Volke einzureden, daß Gott das
Land wegen der vom König den Kircheninteressen gegenüber be-
kundeten Indolenz heimsuche. Die Schlachta forderte ihrerseits die
Bestätigung ihrer ständischen Vorrechte und drohte widrigenfalls den
Kriegsschauplatz zu verlassen. Unter anderem verlangte sie die Er-
neuerung des im Jahre 1420 in Warta angenommenen Statutes, das
die Rechte der jüdischen Geldgeber auf Grundbesitz einschränkte. Der
König sah sich nun genötigt, der mit dem Klerus verbundenen
Schlachtapartei nachzugeben. Im November i454 wurde das Statut
von Nieszawa veröffentlicht, in dem ein Punkt enthalten war, wonach
alle den Juden früher eingeräumten Privilegien, soweit sie „dem gött-
lichen Rechte und den Landesstatuten“, d. h. den Kirchenkanons und
dem Statut von Warta widersprachen, für ungültig erklärt wurden.
Dieser Artikel der dem König vom Adel und dem Klerus aufgedräng-
ten Verfassung wurde ihm vom Kardinal Oiesnicki unmittelbar in
die Feder diktiert1). Auf diesen geht zweifellos auch der Zusatz zu-
U In der in den Kodex von Laski (i5o6) übernommenen Rezension des
Geschichtsschreibers Dlugosz ist die Einleitung zu diesem Artikel mit Stilblüten
judenfeindlicher Beredsamkeit geschmückt: „Da die Ungläubigen sich keiner grö-
466
§ 64. Polen und Litauen unter den Jagellonen
rück, der die Juden dazu verpflichtete, „eine Kleidung zu tragen,
durch die sie von den Christen unterschieden werden könnten“.
Indessen sollte der Triumph des Klerikalismus nur von kurzer
Dauer sein. Durch das ihm abgezwungene Zugeständnis konnte sich
der König in keiner Weise gebunden fühlen. Die den Anforderungen
des Lebens ins Gesicht schlagenden Gesetze blieben toter Buchstabe.
Gerade um jene Zeit hatte die jüdische Bevölkerung Polens und Li-
tauens infolge der Masseneinwanderung aus Deutschland stark zuge-
nommen. Das wirtschaftliche Leben kam durch die Zufuhr frischer
Kräfte immer mehr in Schwung. Die Juden entfalteten in ihrer neuen
Heimat eine lebhafte Tätigkeit, namentlich auf dem Gebiete der Zoll-
und Gutspacht. Viele aus dieser Zeit stammende Urkunden zeugen
von der Bereitwilligkeit, mit der Kasimir der Jagellone seinen jüdi-
schen Untertanen in den litauischen Stammlanden besiedelte wie un-
besiedelte Güter in Pacht gab, indem er ihnen zugleich das Recht
überließ, mit den landwirtschaftlichen Erzeugnissen: Getreide, Korn-
branntwein und Milchprodukten freien Handel zu treiben. Wohl-
habendere Leute nahmen die an der polnisch-litauischen und an den
anderen Binnengrenzen erhobenen Zölle in Pacht. Diese Pächter
(„Zöllner“) brachten dem königlichen Schatze ungeheuren Gewinn
ein und versahen ungeachtet der kanonischen Verbote faktisch die
Obliegenheiten von Finanzbeamten. Die Großunternehmer unter den
Zollpächtern hatten eine privilegierte Stellung inne, genossen volle
Steuerfreiheit und standen unter der unmittelbaren Protektion des
Königs. So entstand allmählich eine Lage, die an die besten Zeiten
des jüdischen Spanien erinnerte.
Dies alles versetzte die Klerikalen in helle Wut und verschärfte
den wirtschaftlichen Neid der Bürger und der Landwirte. So wur-
den denn unter Kasimir dem Jagellonen organisierte und im Zusam-
menhang mit den außerordentlichen Zeitereignissen stehende Über-
fälle auf die jüdische Landesbevölkerung eine immer häufigere Er-
scheinung. Im Jahre i464 wurden in Polen auf einen vom Papst
Pius II. ergangenen Aufruf hin Scharen von Freiwilligen für den
ßeren Prärogative erfreuen dürfen als die Diener des Herrn Christus, und Knechte
nicht besser als die Söhne gestellt sein können“ . . . Indessen ist dies zweifel-
los eine spätere Einschaltung in den Text, der ursprünglich mit den Worten
begann: „Für die Juden soll nach wie vor die Satzung von Warta in Geltung
bleiben“ („Judaei serventur juxta Statuta Vartensia". S. „Jus Polonicum“, ed.
Bandtkie, p. 289 ss.).
30*
467
Osteuropa und der jüdische Orient
Kreuzzug gegen die kurz vorher in Konstantinopel eingezogenen Tür-
ken angeworben. Zügellose Banden von Mönchen, Studenten, ver-
lumpten Schlachzizen und sonstigen Taugenichtsen eröffneten den
„heiligen Krieg“ nach altem Brauch bereits unterwegs, in ihrer eige-
nen Heimat Auf dem Zuge der Kreuzfahrer durch Rotrußland waren
es die griechisch-orthodoxen Ruthenen und die Juden, die ihrer Raub-
gier zum Opfer fielen. Als die Banden Lemberg umzingelten und die
Auslieferung seiner jüdischen Einwohner verlangten, wurden sie von
den Stadtbehörden abgewiesen und mußten sich mit einem Lösegeld
zufrieden geben. Hingegen wurden sie von der Bürgerschaft von
Krakau, als sie vor den Toren dieser Stadt erschienen waren, an-
standslos eingelassen und konnten die jüdischen Häuser und Waren-
lager nach Herzenslust plündern, wobei sie auch etwa dreißig Kra-
kauer Juden niedermachten. Die jüdische Gemeinde versäumte nicht,
sich über die Handlungsweise des Magistrats beim König zu beschwe-
ren, worauf Kasimir den Stadtbehörden wegen Begünstigung der
Raubmörder eine Geldbuße von dreitausend Zloty auferlegte. Da-
neben mußten die Bürger zehntausend Zloty als Kaution dafür hin-
terlegen, daß sich solche Gewalttaten in Zukunft nicht mehr wieder-
holen würden. Im selben Jahre kam es zu einer blutigen Judenver-
folgung auch in Posen. Die Judenhasser nahmen hier die Feuers-
brunst, die das Dominikanerkloster vernichtete, zum Anlaß, um die
Juden der Brandstiftung zu bezichtigen und so die Volksmenge ge-
gen sie aufzuhetzen; bei den Exzessen wurden einige Juden erschlagen
und viele jüdische Kinder gewaltsam getauft. Auch hier mußte der
Magistrat, der das Blutvergießen geschehen ließ, sein Verhalten mit
einer Geldstrafe zugunsten des Königs büßen, während die unmittel-
baren Täter gerichtlich zur Verantwortung gezogen wurden. Die
Hauptanstifter dieser Ausschreitungen waren die in Posen ansässigen
deutschen Bürger. Ihre Mißgunst galt ganz besonders dem weit ver-
zweigten Handelsverkehr, den die Posener und Krakauer Juden mit
Danzig (Gdansk) und den damals unter polnischer Schutzherrschaft
stehenden ostpreußischen Städten unterhielten. Nicht minder rege wa-
ren die Handelsbeziehungen, die um jene Zeit die Juden von Lem-
berg, von Wolhynien und Litauen mit ihren Stammesgenossen in der
Krim und der Türkei verbanden. Da die Judenhetzen sich im Kampfe
gegen den jüdischen Wettbewerb als eine zweischneidige Waffe er-
wiesen, gingen die Magistrate der Großstädte seit dem XV. Jahr-
468
§ 6U. Polen und Litauen unter den Jagellonen
hundert daran, die Handelsfreiheit ihrer jüdischen Mitbürger durch
allerlei Beschränkungen einzuengen. So wurde ihnen in Krakau, Lem-
berg und Posen der Einzelhandel auf den Märkten bald ganz unter-
sagt, bald wurde er auf die Wochenmarkttage und auf bestimmte
Warenartikel beschränkt. In Krakau setzten die deutschen Bürger der
jüdischen Gemeinde so hart zu, daß ihre Vertreter sich schließlich
„mit gutem Willen und ohne allen Zwang“ schriftlich verpflichten
mußten, in offenen Läden keine Waren feilzubieten und den Handel
lediglich in ihren Häusern oder höchstens zweimal wöchentlich auf
den Märkten zu betreiben (i485). Es ist ohne weiteres klar, daß
solche „gutwillige“ Vereinbarungen kaum mit besonderer Peinlich-
keit eingehalten wurden1).
Nach dem Tode Kasimirs des Jagellonen fiel das polnische Erbe
seinem Sohne Jan-Albrecht (1492—i5oi) zu, während Litauen von
dessen Bruder Alexander dem Jagellonen (1492—i5o6) regiert
wurde. Die neuen Herrscher waren keineswegs von freundschaftlichen
Gefühlen für die Juden erfüllt: sie waren beide Zöglinge des Ge-
schichtsschreibers Jan Dlugosz, der sie mit dem ihn kennzeichnenden
Judenhaß infizierte. Im Jahre 1496 bestätigte Jan-Albrecht in Petri-
kau den Klerikalen zuliebe das obenerwähnte Statut von Nieszawa,
welches die Rechtsverhältnisse der Juden der Kontrolle der Kirche
unterstellte. Schon früher war der König den Wünschen der Kra-
kauer Bürgerschaft entgegengekommen, die die Juden längst los-
werden wollte. Im Jahre i494 fielen in Krakau viele Baulichkeiten
einer Feuersbrunst zum Opfer, und wiederum waren es die Juden,
die die Zeche zu zahlen hatten. Man überfiel die jüdischen Häuser,
plünderte die Warenlager aus und verprügelte jeden, der Widerstand
zu leisten wagte. Die Sache kam vor den König, und Jan-Albrecht
faßte nun den „weisen“ Beschluß, zur Vermeidung künftiger Konflikte
die beiden feindlichen Lager dadurch voneinander zu trennen, daß er
die Juden aus Krakau vertrieb und ihnen als Wohnort die Vorstadt
1) Vor kurzem wurden im Warschauer Archiv Akten zutage gefördert, die
davon zeugen, daß die Juden im XV. Jahrhundert auch in Warschau, der Haupt-
stadt Masowiens, ansässig waren. In den Urkunden wird unter dem Jahre i43o
ausdrücklich eine „Judengasse“ erwähnt; daneben ist aus dieser Zeit eine Syna-
goge und ein jüdischer Friedhof bezeugt, die Wahrzeichen einer bodenständigen
Gemeinde. Im Jahre 1454 kam es zu einem Überfall der Bürger auf die Ju-
den, der wohl auf die Verschärfung des Handelswetthewerbs zurückzuführen ist,
und im Jahre i483 verfügte der Fürst von Masowien die restlose Vertreibung der
Juden aus Warschau. S. Bibliographie.
469
Osteuropa und der jüdische Orient
Kasimierz (Kasimir) anwies. Sn entstand vor den Toren der Reichs-
hauptstadt ein abgeschlossenes jüdisches Städtchen, das Jahrhunderte
hindurch, bis in das XIX. Jahrhundert hinein, ein streng abgeschiede-
nes Dasein führte und mit der „Außenwelt“ nur durch wirtschaft-
liche Beziehungen verbunden war.
Im Gegensatz zu seinem Bruder zeigte sich der Großfürst von
Litauen, Alexander, den Juden gegenüber zunächst durchaus ent-
gegenkommend. Im Jahre 1492 bestätigte er auf die Bitten der Ka-
räer von Troki hin den ihnen von Kasimir dem Jagellonen verliehe-
nen Freibrief, dem er sogar manche neue Vergünstigungen hinzu-
fügte. Den litauischen Juden wurden nach wie vor verschiedene groß-
fürstliche Regale, insbesondere die Grenzzölle, bereitwillig in Pacht
gegeben. Alexander löste die von seinem Vater jüdischen Finanziers
gegenüber eingegangenen Verpflichtungen pünktlich ein und nahm
keinen Anstand, auch selbst bei ihnen Anleihen aufzunehmen. Um so
überraschender mußte angesichts eines solchen auf beiderseitigem
Nutzen sich gründenden Verhältnisses das im Jahre i495 vom Groß-
fürsten erlassene Dekret wirken, das die Juden zum baldigsten Aus-
zug aus dem gesamten litauischen Herrschaftsbereiche aufforderte. Es
bleibt unklar, ob die grausame Maßnahme durch den Einfluß der
klerikalen Partei oder aber dadurch hervorgerufen wurde, daß der
Fürst nebst den Magnaten, die bei den Juden stark verschuldet wa-
ren, ihre lästigen Gläubiger loswerden und sich vielleicht gar, gleich
den französischen Königen der Vorzeit, an jüdischem Besitz be-
reichern wollten. Auch mochte hierbei das drei Jahre früher von
Spanien gegebene Beispiel sowie die ständigen Ausweisungen aus ver-
schiedenen Städten des benachbarten Deutschland nicht ohne Ein-
wirkung geblieben sein. Wie dem auch sein mag, Tatsache ist, daß
Fürst Alexander den gesamten unbeweglichen Besitz der aus den Be-
zirken von Grodno, Brest, Luzk und Troki ausgewiesenen Juden kur-
zerhand einziehen ließ und mit einem Teil der Beute ihre christ-
lichen Nachbarn beschenkte. Die Mehrzahl der Vertriebenen ließ sich
mit Genehmigung des Königs Jan-Albrecht in den benachbarten pol-
nischen Städten nieder, während der Rest, namentlich die in Wol-
hynien und in Kiew Beheimateten nach der Krim zogen, mit dessen
Handelszentrum Kaffa sie schon von früher her Beziehungen unter-
hielten. Kaum waren jedoch einige Jahre vergangen, als Alexander
zusammen mit der ihm von seinem Bruder hinterlassenen polnischen
470
§ 65. Rußland unter der Tatarenherrschaft
Krone (i5oi) auch die erst vor kurzem aus Litauen vertriebenen Ju-
den wieder übernehmen mußte. Es hatte wenig Sinn, sie in den über-
völkerten Städten Polens zurückzuhalten, während ihrer die spärlich
besiedelten Landschaften Litauens harrten. So gestattete denn Alexan-
der, nachdem er mit seinen Ratgebern Rücksprache genommen hatte,
im Jahre i5o3 den litauischen Juden, in ihre früheren Wohnstätten
zurückzukehren, wobei ihnen auch ihr gesamter Altbesitz an Häusern,
Landgütern, Synagogen und Friedhöfen zurückerstattet wurde.
Zu Reginn des XVI. Jahrhunderts tritt uns die polnische und li-
tauische Judenheit bereits als eine bedeutende wirtschaftliche und
soziale Macht entgegen, der die Staatsgewalt wohl oder übel Rech-
nung tragen muß; nachdem sie in ihrer Kultur vier Jahrhunderte
lang ganz von dem jüdischen Zentrum in Deutschland abhängig war,
schwingt sie sich nunmehr auch in dieser Beziehung zu einer immer
größer werdenden Selbständigkeit empor1).
§ 65. Die Krim und Rußland unter der Tatarenherrschaft
Seit dem XIII. Jahrhundert, als ganz Rußland für lange Zeit der
Tatarenherrschaft verfallen war, war in einer winzigen Ecke des
südrussischen Schwarzmeergebietes, auf jener Krim-Halbinsel, wo
schon in den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära die jüdisch-
hellenistischen Kolonien geblüht, wo später die in Byzanz verfolgten
Juden ein Asyl gefunden hatten und wo dann das halb jüdische Cha-
sarenreich festen Fuß zu fassen vermochte, für das kulturelle Leben
eine Zeit neuer Entfaltung und Blüte angebrochen. Seit dieser Zeit
ragte die Krimküste des Schwarzen Meeres am Rande des tatarisier-
ten Osteuropa gleichsam als eine von der Natur selbst begünstigte
Kulturoase hervor. In denselben Jahren, da Venedig sich die Herr-
schaft über die kleinasiatische Küste und den Archipel sicherte, setzte
sich seine Rivalin, die Republik von Genua, an der Küste der Krim
fest, um hier ihre Handelskolonien weiter auszudehnen (oben, § 3i). i)
i) Das wenige, was uns über das innere Leben der jüdischen Gemeinden
im Polen des ausgehenden XV. Jahrhunderts überliefert ist, ist unzertrennlich
mit der Geschichte der „Neuzeit“ verbunden und kommt im folgenden Bande
dieser „Geschichte“ zur Behandlung. Daß gegen Ende des XV. Jahrhunderts die
Gemeinden bereits Gelehrte und Schriftsteller unter ihren Mitgliedern zählten,
beweist das Beispiel des aus Kiew stammenden und nach der Krim übergesiedel-
ten R. Moses ha’Gola (unten, $ 65).
471
Osteuropa und der jüdische Orient
Das von den Genuesen bei den Tatarenchanen erworbene Theodossia
oder Kaffa wurde von den tüchtigen italienischen Unternehmern zu
einem erstklassigen Handelshafen ausgebaut. Durch diese Küstenstadt
führte der große Handelsweg, der Italien über Konstantinopel mit
dem Kaukasus und weiter mit Mittelasien verband. Während des zwei-
hundertjährigen Bestehens der genuesischen Kolonie in Kaffa (1260
bis i475) weist diese Stadt und die Umgegend, die nach alter Ge-
wohnheit noch immer ^Chasarien“ genannt wird, eine bunte, aus
Italienern, Griechen, Juden und Armeniern sich zusammensetzende
Bevölkerung auf. Dem Zeugnis eines Reisenden (Schiitenberger) zu-
folge lebten in Kaffa zu Beginn des XV. Jahrhunderts Juden „zweier-
lei Art“ (Rabbaniten und Karäer), die zwei verschiedene Synagogen
besaßen und etwa 4ooo Häuser ihr eigen nannten1). Sie stammten
wohl vorwiegend aus Byzanz, zum Teil aber auch aus anderen Län-
dern. Die Krimer Kolonie unterstand der Gewalt eines von der „Ver-
waltungsstelle für Chasarien“ (Officium Gasariae) in Genua ernann-
ten Konsuls. Die Regierung der Republik von Genua, die ihre Stamm-
lande den Juden gänzlich verschlossen hatte, wies ihre Konsuln in
Kaffa wiederholt an, der vielstämmigen kolonialen Bevölkerung ge-
genüber Toleranz walten zu lassen. Im Jahre i449 wurde in Genua
für Kaffa ein Statut erlassen, demzufolge dem katholischen Orts-
bischof, über dessen Übergriffe sich Griechen, Juden und Armenier
in gleicher Weise beklagt hatten, jede Einmischung in die Angelegen-
heiten der Andersgläubigen untersagt wurde. Zugleich wurde es dem
Konsul und dem Stadtrat von Kaffa zur Pflicht gemacht, den Besitz
der Andersgläubigen vor allen Anschlägen in Schutz zu nehmen. Es
war dies bereits die Zeit des Niederganges der italienischen Kolonie
in der Krim. Die vor den Toren Konstantinopels stehenden Türken
sperrten die Dardanellen für die genuesische Schiffahrt, was den
1) Die auf die Synagogen bezügliche Nachricht findet eine Bestätigung in
der aus späterer Zeit stammenden Mitteilung des Krimer Gelehrten David Lechno
(1725), wonach die aus Sulchat (Altkrim) nach Kaffa gekommenen Juden dort,
schon im Jahre i3o8 eine Synagoge erbaut hatten. Zu erwähnen ist noch, daß
die in der Staatsbibliothek zu Petersburg aufbewahrte Sammlung des Karäers
Firkowitsch unter anderem ein Manuskript des karäischen Gelehrten aus Sulchat
Abraham Kirimi enthält, das, im Jahre i358 abgefaßt, in unzweideutiger Weise
jüdisch-italienische Einflüsse verrät: die einen in rationalistischem Geiste abge-
faßten Bibelkommentar darstellende Schrift („Sefath Emeth“) beruft sich aus-
drücklich auf den italienischen Schriftsteller Schemaria Ikreti, der die Aus-
söhnung der Rabbaniten mit den Karäern anstrebte (oben, $ 61).
472
§ 65. Rußland unter der Tatarenherrschaft
Verkehr der Metropole mit ihren Kolonien überaus erschwerte. Nach
der Einnahme Konstantinopels kam es in Kaffa zu einem Regierungs-
wechsel: die Republik von Genua übereignete ihre Schwarzmeerkolo-
nien an eine von der Genuesischen St. Georgsbank geleitete Handels-
gesellschaft (1454). Kaffa unterstand nunmehr der Herrschaft der
von den Bankdirektoren eingesetzten Beamten, die in die Kolonialver-
waltung wieder geordnetere Zustände einführten und auch den ehe-
dem unter den Konsuln bedrückten Juden ihren Schutz angedeihen
ließen. Indessen sollte auch der neuen Gewalt keine lange Dauer be^-
schieden sein. Im Jahre 1^5 wurde Kaffa von dem türkischen Sul-
tan Mohammed II. besetzt, der kurz darauf auch die ganze Krim
unter seine Botmäßigkeit zwang. Die Halbinsel wurde zu einer Pro-
vinz der Türkei, deren Herrscher die Regierung in der Krim ihren
Vasallen, den in Bachtschisarai residierenden Tatarenchanen aus dem
Gireigeschlechte, übertrugen.
Diese politische Umwälzung gereichte den jüdischen Gemeinden
in der Krim nur zum Nutzen, indem sie sie mit dem in der zweiten
Hälfte des XV. Jahrhunderts in raschem Aufstieg begriffenen Kon-
stantinopeler Zentrum (unten, § 66) in engste Berührung brachte.
Zugleich erfuhren auch die von früher her zwischen den Juden von
Kaffa und ihren Stammesbrüdern in Polen, Litauen, im galizischen
Rußland und in Kiew bestehenden Beziehungen eine merkliche Be-
lebung. Ein wichtiges Bindeglied in diesem Verkehr bildeten jene
Auswanderer aus der Krim, die sich unter dem Großfürsten Witold
in Litauen niedergelassen hatten. Durch die in Kiew, Lemberg und
Kaffa wohnhaften Juden wurde der Güteraustausch zwischen diesen
drei Handelszentren dauernd in Schwung erhalten. Gleichzeitig mach-
ten sich sowohl in den Gemeinden der Rabbaniten wie in denen der
Karäer auch Anzeichen neuerwachenden geistigen Lebens bemerkbar.
Neben den aus Konstantinopel nach Kaffa gekommenen karäischen
Gelehrten wurde dorthin auch der hervorragende rabbanitische
Schriftsteller Moses haGola („Der Wanderer“) aus Kiew verschlagen.
In seiner Jugend hatte er zu Studienzwecken Konstantinopel auf ge-
sucht, wo er mit einigen Talmudforschern und karäischen Gelehrten
freundschaftlichen Umgang pflegte. Nach Kiew zurückgekehrt, sollte
er dort im Jahre 1482 eine Tatareninvasion miterleben. Unter den
von den Tataren nach der Krim verschleppten Kiewer Einwohnern
befanden sich auch die Kinder des Moses. Der untröstliche Vater trat
Osteuropa und der jüdische Orient
nun eine Reise durch die Städte Litauens an, um das nötige Lösegeld
aufzubringen. Als dann im Jahre i495 die Juden aus Litauen und
somit auch aus Kiew ausgewiesen wurden, suchte der umherirrende
Gelehrte gleich vielen anderen in der Krim Zuflucht. Die von ihm
in den ersten zwei Jahrzehnten des XVI. Jahrhunderts in Kaffa ent-
faltete literarische Wirksamkeit1) zeugt von dem Aufschwung des
geistigen Lebens, den die jüdischen Gemeinden in der Krim den Zu-
wanderern aus Litauen zu verdanken hatten. Die aus den verschieden-
sten Ländern herbeigeströmten Emigranten bildeten innerhalb der
Gemeinden von Kaffa, Sulchat und anderen Krimer Siedlungspunk-
ten geschlossene Landsmannschaften; während die aus dem ehemali-
gen Byzanz stammenden Gemeindemitglieder die Andacht nach „ru-
mänischem“ oder griechischem Ritus verrichteten, hielten sich die
Auswanderer aus dem polnisch-litauischen Reiche an die „aschkena-
sitische“ oder deutsche Liturgie. Demgegenüber suchte Moses ha’Gola
dem gottesdienstlichen Zeremoniell in der neuen Heimat eine ein-
heitliche Form zu sichern. Was die Karäer anlangt, so führten ihre
Gemeinden ein völlig abgesondertes Dasein und ihre Beziehungen zu
den Rabbaniten waren, wie dies aus der unausgesetzten literarischen
Fehde zwischen Moses ha’Gola und den karäischen Gelehrten zu er-
sehen ist, überaus gespannt.
Manche der Krimer Juden standen in den unmittelbaren Diensten
der Chane, die sie nicht nur mit finanziellen, sondern auch mit di-
plomatischen Aufträgen zu betrauen pflegten. Als ein solcher di-
plomatischer Zwischenträger, der sich in erster Linie bei dem vom
Chanat mit Moskau gepflogenen Unterhandlungen hervortat, ist na-
mentlich der von dem Chan Mengli-Girei begünstigte und in Kaffa
beheimatete Jude Chosa Kokos bekannt. Großes Vertrauen wurde
Kokos auch von dem Großfürsten von Moskau Iwan III. entgegen-
gebracht, der den jüdischen Diplomaten anläßlich der Unterzeich-
nung des von diesem vermittelten Schutz- und Trutzbündnisses gegen
den gemeinsamen Feind, den Chan der Goldenen Horde, näher ken-
nen gelernt hatte (147 4). Auf die Bitten des Großfürsten hin ge-
währte Kokos den in der Krim eintreffenden moskowitischen Ge-
sandtschaften seine Unterstützung, suchte das Einvernehmen zwi-
schen Mengli-Girei und dem Großfürsten aufrechtzuerhalten sowie
für Moskau günstige „Ukase“ zu erwirken. Daneben nahm derGroß-
*) S. Band VI dieser „Geschichte“.
474
§ 65. Rußland unter der Tatarenherrschaft
fürst von Moskau die Dienste seines jüdischen Vertrauensmannes auch
in rein persönlichen Angelegenheiten (so z. B. beim Abschluß von
Einkaufsgeschäften u. dgl. m.) in Anspruch, wofür er ihn in frei-
gebigster Weise belohnte. Iwan III. versäumte nie, dem Juden von
Kaffa durch seine Gesandten „Grüße“ und freundliche „Episteln“
zukommen zu lassen; zunächst pflegte Kokos diese Schreiben durch
Briefe zu beantworten, die „in jüdischer Schrift“ (wohl in tatari-
scher oder russischer Sprache, jedoch in hebräischer Schrift) ab-
gefaßt waren, der Fürst bat ihn aber, „russische oder mohammeda-
nische Schriftzeichen“ zu verwenden. Diese diplomatischen Beziehun-
gen bestanden bis zum Jahre i486. In den darauf folgenden Jahren
stand der moskowitische Großfürst in geschäftlichem Briefwechsel
mit einem anderen am Hofe des Krimer Chans wirkenden Manne,
mit dem „Fürsten von Taman“, Sacharia, dem er sogar eine Stellung
an seinem Hofe in Moskau antrug. Die Zugehörigkeit dieses Sacharia
zum Judentum steht jedoch, ungeachtet dessen, daß er in den Mos-
kauer Kanzleien als „Hebräer-“ oder „Judensohn“ galt, keineswegs
fest, da der damalige Herr von Taman, ein Katholik aus Genua,
gleichfalls Sacharia (Guisolfi) hieß.
Wiewohl der Landbereich des moskowitischen Rußland zur Zeit
der Tatarenherrschaft allen Ausländern überhaupt schwer zugäng-
lich und namentlich den Juden völlig verschlossen war, mochten ein-
zelne jüdische Kaufleute aus Polen, Litauen oder der Krim dennoch
auf ihren Handelsreisen bis dorthin vorgedrungen sein. Das Hervor-
treten von Juden in dem abgelegenen Moskowien ist zuerst in
Akten aus der Regierungszeit desselben Iwan III. bezeugt, den
wir bereits bei der Anknüpfung von Beziehungen zu der Krim
kennen gelernt haben und der überhaupt den Anschluß seines Rei-
ches an die internationale Staatenfamilie in jeder Weise zu fördern
suchte. Um diese Zeit eben tauchen in Moskowien vereinzelte jüdi-
sche Auswanderer aus Litauen, dem Gebiet von Kiew und zuweilen
sogar aus Westeuropa auf. Mit dem Namen eines dieser Kiewer Juden
ist ein bedeutsames Ereignis in der russischen Geschichte verbun-
den. Im Jahre 1470 kam, wie russische Annalisten berichten, aus
Kiew nach dem damals um seine Unabhängigkeit von Moskau rin-
genden Nowgorod zusammen mit dem litauischen Gesandten der jü-
dische Gelehrte Sacharia, dem bald noch einige Juden aus Litauen
folgten. Infolge der damals in Nowgorod herrschenden religiösen Gä-
475
Osteuropa und der jüdische Orient
rung vermochte Sacharia mit einigen griechisch-orthodoxen Geist-
lichen Fühlung zu nehmen und sie für die jüdische „Irrlehre“ zu
gewinnen. Es entstand eine Sekte von „Judaisierenden“. Die Häup-
ter der Nowgoroder Sektierer, die Priester Denis und Alexius, tra-
fen im Jahre i48o in Moskau ein, um hier viele russische Männer
dem orthodoxen Christentum abspenstig zu machen, wobei sich
manche von den Neubekehrten sogar der Beschneidung unterzogen.
Die „Irrlehre“ kam vor allem in der rationalistischen Denkweise ihrer
Anhänger zum Ausdruck: die Sektierer ließen Christus nicht als Gott
gelten, wiesen das Dreifaltigkeitsdogma zurück, zerschlugen und ver-
brannten die Heiligenbilder, deren Anbetung sie dem Götzendienst
gleichsetzten. Die Ketzerei drang auch in die höchsten Kreise ein:
neben dem großfürstlichen Oberschriftführer Theodor Kurizin soll
ihr, wie manche glauben, selbst der Moskauer Metropolit Sossima ge-
huldigt haben. Im Jahre 1487 eröffnete der Erzbischof von Now-
gorod, der glühende Kircheneiferer Gennadios, einen Feldzug gegen
die Sektierer. Durch das Beispiel des sein Land mit den Gewaltmit-
teln der Inquisition „säubernden hispanischen Königs“ angefeuert,
schreckte Gennadios auch in seiner Eparchie vor keiner Greueltat
zurück, um die Irrlehre der Judaisierenden mit Stumpf und Stiel
auszurotten. In Moskau stieß der Kamf auf viel größere Schwierig-
keiten, doch vermochten Gennadios, der Superior Joseph Wolozki
und andere Eiferer der Orthodoxie der Bewegung schließlich auch
hier Herr zu werden. In Ausführung des Beschlusses der Kirchen-
versammlung vom Jahre i5o4 und auf Befehl des Großfürsten
Iwan III. wurden die Führer der Abtrünnigen verbrannt, während der
Rest in Gefängnissen und Klöstern eingekerkert wurde.
Fast gleichzeitig mit Sacharia wirkte in Moskowien noch ein an-
derer Jude, dessen Leben ein tragisches Ende nehmen sollte. Es war
dies der aus Venedig nach Moskau gekommene jüdische Gelehrte
Messer Leon, der am Hofe Iwan III. als Leibarzt angestellt war. Zu
Beginn des Jahres 1490 befiel den ältesten Sohn des Großfürsten
ein gefährliches Siechtum und seine Behandlung wurde in die Hände
des jüdischen Arztes gelegt. Als der Großfürst eines Tages Messer
Leon über die Aussicht auf Genesung seines Sohnes befragte, gab
dieser die unvorsichtige Antwort: „Ich werde den Kranken unbedingt
auf die Beine bringen, sonst magst du mich dem Henker überantwor-
ten!“ Der Fürstensohn sollte jedoch seiner Krankheit erliegen. Nach-
476
§ 66. Das neue Zentrum in der Türkei
dem die vierzigtägige Trauer um war, mußte der jüdische Gelehrte
sein Selbstvertrauen mit dem Tode büßen. Auf Befehl des Großfür-
sten wurde Messer Leon auf dem Moskauer Richtplatz vor dem ver-
sammelten Volke geköpft.
Dem Volke von Moskau galten sowohl der gelehrte Theologe Sa-
charia wie der Arzt Leon als abgefeimte Schwarz- und Zauberkünst-
ler. Das Schisma der Judaisierenden flößte der Menge eine aber-
gläubische Furcht vor den Juden ein, welche ihr nur vom Hörensagen
bekannt waren. Angesichts solcher Vorurteile und der herrschenden
rohen Sitten konnten die Juden im moskowitischen Reiche unmög-
lich auf Gastfreundschaft rechnen. Noch in viel späterer Zeit wurde
ihnen die Einreise nach Moskowien aus dem Grunde verwehrt, „weil
sie einstmals unsere Landsleute vom Christentum abgebracht haben“.
§ 66. Das neue Zentrum in der Türkei
Zu der Zeit, da in den christlichen Ländern die alten Heimstätten
der Diaspora, eine nach der anderen, der Zerstörung anheimfielen,
erstand für die gehetzte Nation in dem muselmanischen Reiche, das
gegen Ausgang des Mittelalters auf den Trümmern des in sich zu-
sammengestürzten Byzanz errichtet worden war, eine neue, sichere
Zufluchtsstätte. Das Ende des griechischen Kaiserreiches kam durch-
aus nicht überraschend. Das Haus der Paläologen, das nach dem
Zwischenspiel des lateinischen Kaisertums (§ 3i) das griechische
Byzanz wiederhergestellt hatte, vermochte den fortschreitenden Auf-
lösungsprozeß nicht mehr aufzuhalten. Das von den zwei italienischen
Handelsrepubliken Venedig und Genua wirtschaftlich abhängige und
durch die auf der Balkanhalbinsel selbst zwischen Griechen und Sla-
wen wütenden Kämpfe zerfleischte Byzanz vermochte den von Osten
her vordringenden Osmanen nicht standzuhalten. Nachdem es im
XIII. Jahrhundert den Archipel an Venedig abgetreten hatte, mußte
es seit dem XIV. Jahrhundert eine Provinz nach der anderen den
Türken überlassen. Schon zur Zeit des Sultans Orchan (i32Ö—i36o)
unterwarfen die türkischen Eroberer den größten Teil von Klein-
asien der Gewalt ihrer Waffen. Der angestammte Judenhaß der grie-
chischen Herrscher veranlaßte die Juden, den neuen Eroberern mit
Freundschaft zu begegnen, und auch die Türken betrachteten die jü-
dische Landesbevölkerung als ihre natürlichen Verbündeten. Unter Sul-
477
Osteuropa und der jüdische Orient
tan Murad I. (i36o—i38g) vermochten die Türken auch in Europa
festen Fuß zu fassen. Die Einnahme von Adrianopel und der Sieg
über die Serben bei Kossowo lieferten ihnen den größten Teil der
Balkanhalbinsel aus, und für den europäischen Teil der Türkei bür-
gerte sich seitdem der Name Rumelien ein. Für die hier ansässige
jüdische Bevölkerung erstand in der Gemeinde von Adrianopel und
in deren Talmudschule ein neuer geistiger Mittelpunkt. Die ehemalige
Umgangssprache der Juden Rumeliens, die griechische, wird jetzt von
der türkischen immer mehr in den Hintergrund gedrängt.
Die Annäherung an die Türkei brachte es mit sich, daß sich einige
Juden von einer um jene Zeit entstandenen eigenartigen religiös-poli-
tischen Bewegung der Muselmanen mitreißen ließen: von der Er-
hebung der Derwische gegen den Sultan Mohammed I. (i4i8). Der
türkische Theologe und Kadi (Richter) Bedreddin warb nämlich da-
mals in Kleinasien und Rumelien für eine schismatische Lehre, in
der mohammedanische und christliche Glaubenselemente mit kommu-
nistischen Ideen verwoben waren. Die zur Sekte des Bedreddin ge-
stoßenen Derwische suchten der neuen Lehre nach muselmanischem
Herkommen durch die Macht des Schwertes Geltung zu verschaffen
und wiegelten die Bevölkerung gegen die bestehende Staatsgewalt auf.
Zu den Führern der Bewegung gehörte auch ein zum Islam übergetre-
tener Jude Torlak Kemal, der eine Schar von dreitausend Derwischen
befehligte und überall auf den Straßen und in den Moscheen mit
glühendem Eifer den Kommunismus predigte: „Ich werde über dein
Haus, deine Kleider und Waffen verfügen, du aber über die meini-
gen; nur das Weib des anderen soll unangetastet bleiben“. Die An-
führer der aufrührerischen „Kommunisten“, Bedreddin, Torlak Ke-
mal und andere, wurden indessen bald ergriffen und auf Befehl
des Sultans gehenkt. Revolutionär gesinnte Juden von dem Schlage
eines Kemal waren allerdings unter der loyalen jüdischen Bevölke-
rung nur eine seltene Ausnahme. Im allgemeinen pflegten die Juden
die Macht der Sultane nach Kräften zu unterstützen. So konnte unter
Murad II. (1^21— i45i) der jüdische Arzt Isaak Pascha am Adria-
nopeler Hofe zu großem Einfluß gelangen; als Leibarzt genoß er
mitsamt seinen Angehörigen völlige Steuerfreiheit. Abgesehen von sol-
chen Einzelfällen mußten aber die Juden gleich allen Andersgläu-
bigen kraft des bekannten Korangebotes (vgl. Band III, § 55)
den vorschriftsmäßigen Sondertribut entrichten. Bei der Veranlagung
478
§ 66. Das neue Zentrum in der Türkei
zu dieser Kopfsteuer, dem „Charadsch44, wurden die Besteuerten je
nach ihren Yermögensverhältnissen in drei Gruppen eingeteilt; soweit
die Steuerpflichtigen gänzlich unbemittelt waren, wurden sie zum
Heeresdienst eingezogen und einer besonderen, aus Nichtmuselmanen
bestehenden Truppe (gharibah) zugewiesen.
Im Jahre i453 fiel endlich auch die Hauptstadt von Byzanz.
Nachdem der Sultan Mohammed II. (i45i— i48i) Konstantinopel
erobert und seine Macht über die ganze Balkanhalbinsel ausgedehnt
hatte, gewährleistete er den Juden wie den Christen in vollem Maße
die den Andersgläubigen in einem muselmanischen Reiche gebühren-
den Rechte. Ein jüdischer Chronist, der dem damals zu einer füh-
renden Stellung gelangten Geschlechte Kapsali entstammte, schildert
die näheren Umstände dieses Ereignisses in folgenden Sätzen: „Der
Sultan Mohammed ließ in seinem ganzen Reiche den Ruf ergehen:
,Vernehmet, ihr Nachkommen der Judäer, die ihr in meinem Lande
lebet! Möge ein jeder von euch (der es wünscht) nach Konstantinopel
kommen und möge hier dem Reste eures Volkes eine Zufluchtsstätte
beschieden sein!4 Und es strömten hierauf aus allen Himmelsrich-
tungen große Scharen von Juden herbei, und der Sultan wies ihnen
in Konstantinopel Wohnstätten an und sie faßten dort festen Fuß...
Auch gestattete er ihnen, Bet- und Lehrhäuser zu errichten, und stellte
in dem königlichen Diwan (Kronrat) drei Sessel auf: den einen für
den Mufti der Ismaeliter, den anderen für den griechischen Patrik
(Patriarchen), den dritten aber für den jüdischen Rabbiner, damit
jedes der drei Völker von seinem eigenen Führer geleitet werde. Zum
Haupte der Juden wurde der schon als Rabbiner wirkende Moses
Kapsali eingesetzt. Sein Sessel stand in dem königlichen Diwan neben
dem des Mufti und er erfreute sich der besonderen Gunst des Sul-
tans4 4. Die Berufung eines jüdischen Repräsentanten in die höchste
Staatsinstitution kennzeichnet am treffendsten die neue Lage der
Dinge im Ottomanenreiche. Zehn Jahrhunderte früher erging in dem
christlichen Konstantinopel das Dekret über die Abschaffung des jü-
dischen Patriarchats in Palästina und in dem Kodex, der den Namen
des Urhebers dieses Dekrets, Theodosius’ II., trug, wurden alle die
jüdischen Bürgerrechte in einschneidender Weise schmälernden Be-
schränkungen für alle Zeiten verewigt. Nun ward eine rückläufige
Bewegung eingeleitet. Wie einstmals die Araber in Spanien, so gaben
jetzt ihre Glaubensgenossen in der Türkei den geknechteten Juden
479
Osteuropa und der jüdische Orient
die Freiheit wieder zurück. Den jüdischen Gemeinden von Konstanti-
nopel und anderen türkischen Städten strömten denn auch bald große
Scharen von Auswanderern aus den Ländern des Westens zu, wo um
jene Zeit die Juden fast überall den schlimmsten Verfolgungen aus-
gesetzt waren.
Die Flüchtlinge aus dem christlichen Europa, die inzwischen in
Adrianopel und Konstantinopel seßhaft geworden waren, versäumten
nicht, ihre Landsleute auf die neue Zufluchtsstätte aufmerksam zu
machen. Einer der Auswanderer aus Deutschland, R. Isaak Zarfali,
wandte sich an seine Stammesgenossen in Deutschland und Öster-
reich sogär mit einem besonderen Aufruf, in dem er sie zur Über-
siedlung in das türkische Herrschaftsgebiet aufforderte (um 1470
bis i48o). Das Sendschreiben ging auf die Anregung zweier aus
Deutschland gekommener Juden zurück, die Zarfati von der immer
bedrohlicher werdenden Lage der dortigen jüdischen Gemeinden in
Kenntnis setzten. In seinem Aufruf an „den Überrest Israels in den
Städten des Schwabenlandes, der Rheinlande, Steiermarks, Mäh-
rens und Ungarns“ ließ sich Isaak Zarfati folgendermaßen verneh-
men : „Ich habe von der schweren Bedrängnis gehört, unter der unsere
Brüder in Deutschland nach wie vor zu leiden haben, von den Ge-
walttaten und Ausweisungen, zu denen es alltäglich in den verschier
denen Städten kommt und deren Ende nicht abzusehen ist . . . So
glaube ich denn, daß ich nach der Türkei, diesem Lande des Über-
flusses, nur aus dem Grunde verschlagen worden bin, um euch nach
göttlichem Ratschluß Rettung zu bringen. Durch die Türkei führt der
gangbarste Weg nach Jerusalem, der tagtäglich von Scharen musel-
manischer und jüdischer Kaufleute benutzt wird. Seid also nicht
träge und säumet nicht! Man atmet hier viel leichter als in Deutsch-
land und in den Nachbarländern. Dort werdet ihr unablässig von bös-
willigen Verleumdungen verfolgt. Der Jude darf dort an ihren Feier-
tagen nicht seinem Gewerbe nachgehen, der Krämer nicht seinen
Laden offen halten. Seid doch nicht so schläfrig! Macht euch auf den
Weg und erbet das euch von Gott verheißene Land, denn es naht der
Tag, da Israel erblühen wird, und da sich versammeln Verden, die
im deutschen Lande schmachten und die nach dem Franzosenlande
verschlagen sind, um auf dem heiligen Berge zu Jerusalem vor Gott
niederzuknien“. Die Betonung der Nähe Palästinas (das damals noch
unter ägyptischer Herrschaft stand) sowie der messianische Einschlag
48o
§ 66. Das neue Zentrum in der Türkei
des Aufrufs sollten wohl dazu dienen, die Auswanderung nach der
Türkei besonders verlockend erscheinen zu lassen. Viele beeilten sich
auch in der Tat, dem ergangenen Rufe Folge zu leisten. In der zwei-
ten Hälfte des XV. Jahrhunderts erstand in Konstantinopel neben der
alteingesessenen jüdischen Gemeinde eine Kolonie der aus Deutsch-
land und Österreich neu zugewanderten „Aschkenasim“.
Das Haupt aller jüdischen Gemeinden in der Türkei war der er-
wähnte Moses Kapsali, der das Rabbineramt in Konstantinopel schon
vor der Einnahme der Stadt durch die Türken innehatte und dann
vom Sultan Mohammed II. zum Großrabbiner aller türkischen Ge-
meinden ernannt wurde. Es war dies der erste „Chacham-Baschi“ in
der Türkei, der die Amtsobliegenheiten der ehemaligen morgenlän-
dischen Exilarchen versah und in seiner Würde dem christlichen
Patriarchen ebenbürtig war. Der für den pünktlichen Eingang der
den Juden auf erlegten Steuern vor dem Sultan verantwortliche Moses
Kapsali verfügte in den inneren Gemeindeangelegenheiten über eine
uneingeschränkte Gewalt. Ihm stand das Recht zu, die Rabbiner zu
ernennen, in den wichtigsten Gerichtssachen zu entscheiden und auch
Strafmaßnahmen anzuordnen. Aus den Berichten eines seiner Nach-
kommen, des bereits zitierten Chronisten des XVI. Jahrhunderts, ist
zu ersehen, daß er vom Sultan manchmal auch in Staatsangelegen-
heiten zu Rate gezogen wurde. Eines Tages fragte der Sultan den
Rabbiner, was zur Bekämpfung der in Konstantinopel ausgebrocher
nen Pest zu geschehen habe, worauf Kapsali erwiderte, daß die Seuche
eine Strafe Gottes für die in der Hauptstadt sich breitmachende Un-
zucht sei. Der Sultan befahl nun, alle stadtbekannten Wüstlinge aus-
findig zu machen und sie der Strafe zuzuführen und übertrug die
Ausführung der Säuberungsaktion, soweit sie die jüdische Gemeinde
betraf, dem Großrabbiner. Bald wurden auf Verfügung des Moses
Kapsali eine Anzahl jüdischer junger Leute, die sich in Gesellschaft
der zügellosen Janitscharen (der Sultangarde) Ausschweifungen hin-
zugeben pflegten, verhaftet und mit Stockhieben gezüchtigt. Die er-
bosten Janitscharen schworen, die ihren Freunden zugefügte Schmach
an dem Rabbiner zu rächen. Während der von ihnen nach dem Tode
des Sultans Mohammed (i48i) angezettelten Unruhen drangen sie in
das Haus des Kapsali ein, um ihn niederzumachen, doch wurde $r
von seinen türkischen Nachbarn noch rechtzeitig gewarnt und ent-
ging so dem sicheren Tode. — Infolge seines loyalen Verhaltens der
.31 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
481
Osteuropa und der jüdische Orient
Staatsgewalt gegenüber geriet Kapsali einst in einen scharfen Kon-
flikt auch mit offiziellen Vertretern des Judentums. Um i488 ttaf
nämlich in Konstantinopel ein Rabbiner aus Jerusalem ein, der Kap-
sali um die Erlaubnis bat, in der Türkei für seine Landsleute Spenden
sammeln zu dürfen. Das offizielle Haupt der türkischen Judenheit
gab jedoch dieser Bitte aus politischen Erwägungen nicht statt: da
Palästina damals unter der Herrschaft der von dem türkischen Sultan
bekriegten ägyptischen Mamelucken stand, konnte die Kollekte zu-
gunsten der Palästinenser die Juden leicht in den Verdacht des Lan-
desverrates bringen. Die Gründe des Konstantinopeler Rabbiners wur-
den indessen mißverstanden, und sein Verbot löste nicht nur an Ort
und Stelle, sondern sogar in Italien eine lebhafte Agitation gegen ihn
aus. Der schon erwähnte Rabbiner von Mantua, Joseph Kolon, be-
zichtigte Kapsali der mangelhaften Kenntnis des Talmud und ins*-
besondere der Mißachtung des Gesetzes in seiner Ehescheidungs-
sachen betreffenden Rechtsprechung. Es fanden sich jedoch andere
Rabbiner, die die Grundlosigkeit all dieser Beschuldigungen nach-
wiesen und Kapsali das Zeugnis ausstellten, daß er nicht nur ein
hervorragender Gelehrter, sondern auch ein wahrer Freund des Vol-
kes sei, so daß der zwei Jahre lang umstrittene gute Ruf des Kon-
stantinopeler Rabbiners schließlich völlig wiederhergestellt wurde.
Um die gleiche Zeit machte sich in Konstantinopel auch unter den
alteingesessenen Karäern ein regeres Leben bemerkbar. Die Vertreter
der karäischen Gemeinde traten mit den ortsansässigen Talmud-
gelehrten in unmittelbaren Verkehr, manche begannen sogar den Tal-
mud zu studieren und waren bereit, den Rabbinern in der Thora-
erklärung weitestgehende Zugeständnisse zu machen. Zu den hervor-
ragendsten karäischen Glaubenslehrern jener Zeit gehörte Elias Ba-
schizi, der Verfasser des karäischen Gesetzeskodex „Adereth Elijahu“,
sowie sein Jünger Kaleb Afendopolo, der nicht nur ein hochgebildeter
Theologe, sondern auch ein Dichter war. Baschizi unterhielt freund-
schaftliche Beziehungen mit dem Rabbiner Mardochai Comatiano
(gest. um 1487), der sich sowohl als Mathematiker wie auch durch
einen nach der Methode des Abraham ibn Esra abgefaßten und vo;n
freiheitlichem Forschergeiste zeugenden Bibelkommentar einen Na-
men machte. Die von einigen Führern der Rabbaniten wie der Karäer
bekundete Weitherzigkeit ließ bei vielen die Hoffnung erstehen, daß
die beiden seit Jahrhunderten ihre eigenen Wege wandelnden Teile
482
§ 67. Ägypten und Palästina
der Judenheit nun wieder zueinander finden würden; Versuche, die
in dieser Richtung unternommen wurden, blieben jedoch ebenso er-
folglos wie die hundert Jahre früher von Schemaria Ikreti einge-
leitete Versöhnungsaktion (oben, § 61). Der konservativ gesinnte Mo-
ses Kapsali sprach sich mit Entschiedenheit gegen jeden Verkehr
zwischen den Talmudtreuen und den Schismatikern aus. Auch die
türkischen Karäer setzten auf die Versöhnung nur geringe Hoffnun-
gen. Gerade um jene Zeit hatten sie mit ihren Gesinnungsgenossen in
der Krim und in Litauen engere Beziehungen angeknüpft, und dieser
Zusammenschluß aller osteuropäischen Karäer mußte die Sekte für
die vom Rabbinismus ausgehenden Einflüsse unempfänglich machen.
Mit dem Jahre 1492 bricht in der Geschichte der Juden im otto-
manischen Reiche eine neue Ära an. Die aus Spanien und einige
Jahre später auch aus Portugal in die Türkei einströmende Aus>-
wandererflut verdoppelte und verdreifachte die Zahl der Mitglieder
in den alten Gemeinden und ließ zugleich neue Gemeinden von „Se-
phardim“ erstehen. Die ersten Scharen der spanischen Exulanten tra-
fen in der Türkei noch zu Lebzeiten des Moses Kapsali ein. Der
Großrabbiner nahm an dem Schicksal der Heimatlosen wärmsten
Anteil und ließ in den Gemeinden das nötige Geld für den Loskauf
der bei der Überfahrt von Seeräubern oder Sklavenhändlern gefangen
genommenen Verbannten sammeln. Er starb um das Jahr i495.
§ 67. Ägypten und Palästina vor der Eroberung durch die Türken
Im späten Mittelalter stand das jüdische Morgenland, Ägypten und
das ihm botmäßige Palästina, im Zeichen der türkischen Eroberungs-
züge. Der Einfall der türkischen Seldschuken gegen Ausgang des XI.
Jahrhunderts hatte die Kreuzzüge zur Folge, in deren Verlauf die Kreuz-
fahrer das Königreich Jerusalem begründeten. Gegen Ende des XII.
Jahrhunderts fiel dieses Königreich durch die Hand des Saladin, des
Begründers der Kurdendynastie der Ejjubiden in Ägypten. Die Ejju-
bidendynastie wurde jedoch ihrerseits durch die Tatareninvasion weg-
gefegt, von der Syrien und Palästina um die Mitte des XIII. Jahr-
hunderts heimgesucht wurden. Die Herrschaft über Ägypten und Pa-
lästina war um diese Zeit den türkischen Mamelucken zugefallen, die
sie dann zweieinhalb Jahrhunderte lang (1260—1517), bis zur Er-
Osteuropa und der jüdische Orient
oberung Ägyptens und Yorderasiens durch die osmanischen Türken,
fest in der Hand behielten.
Die Mamelucken gelangten in Ägypten zur Macht und begründeten
dort ihre Dynastie ganz auf dieselbe Weise, wie einstmals die Seld-
schuken im Kalifat von Bagdad. Die Leibgardisten der Ejjubiden-
sultane von Kairo, die zu Kriegern ausgebildeten Sklaven aus Asien
(„Mameluck“ heißt soviel wie „Leibeigener“, „Kaufsklave“) stürzten
diejenigen, die ihrem Schutze anvertraut waren, und brachten Sultane
aus ihrer eigenen Mitte auf den Thron. Die ersten Sultane aus der
neuen Dynastie wendeten von Ägypten die Gefahr der Invasion der
Mongolen ab, deren bereits in Palästina eingebrochene Horden sie ver-
trieben, und schufen so um das Jahr 1260 für den Mameluckenthron
von Kairo eine feste Grundlage. Der erste Sultan aus dieser Dynastie,
Bibars (1260—1277), ein „zweiter Saladin“, der die Überreste der
Kreuzfahrer an der palästinensischen Küste bekriegte und gleichzeitig
dem Ansturm der Mongolen von den Euphratufern her erfolg-
reichen Widerstand leistete, war von dem Wunsche beseelt, Kairo
zur geistigen Metropole des Islam zu erheben. Zu diesem Zwecke be-
rief er aus Bagdad einen Nachkommen der Abbassiden und verlieh
ihm die höchste geistliche Würde im Islam, den Titel eines „Kalifen“.
Die neuen „Kalifen“ glaubten nun zum Ruhme des Islam nichts
Besseres tun zu können, als die Andersgläubigen zu bedrücken. Sie
versuchten den „Omargesetzen“ von neuem Geltung zu verschaffen
und die schmachvollen Sonderzeichen wieder einzuführen, um so die
Zeiten des Bagdader Kalifen Mutawakil und des ägyptischen Kalifen
Hakim gleichsam Wiedererstehen zu lassen. Diese Tendenz kam be-
sonders kraß zu Beginn des XIV. Jahrhunderts in der Regierungszeit
des Sultans Al-Nassir zum Ausdruck. Seinen Triumph hatte der ägyp-
tische Klerikalismus nicht zuletzt seinen Gesinnungsgenossen aus
Maghreb zu verdanken, dieser alten Brutstätte des Fanatismus, die
nach dem Sturze der Almöhaden in nähere Beziehungen zu Ägypten
getreten war. Über den Verlauf dieser Ereignisse wissen die ägyp-
tischen Chronisten folgendes zu berichten1).
Im Jahre i3oi traf in Kairo auf seiner Pilgerfahrt nach Mekka
■t) Die diesbezüglichen Berichte der muselmanischen Chronisten Al-Nuwejrij
und Ibn-Nakkasch stimmen in den Hauptpunkten völlig überein. Der spätere jü-
dische Chronist Joseph Sambari gibt die Geschehnisse mit sagenhaften Aus-
schmückungen wieder. S. Bibliographie.
§ 67. Ägypten und Palästina
der Wesir von Maghreb ein. In einer Unterredung mit dem Sultap
Al-Nassir und dessen Emiren gab er seiner Verwunderung darüber
Ausdruck, daß Juden wie Christen in Ägypten völlig unbehelligt
bleiben, in prunkvollen Gewändern auftreten, hoch zu Rosse reiten
und sogar Staatsämter bekleiden, was ihnen Gewalt über Muselmanen
verleihe. Der Wesir fügte noch hinzu, daß in Maghreb solche Übeiv
tretungen des Gesetzes des Omar nicht geduldet würden, und daß die
Ungläubigen dort in „Schmach und Erniedrigung“ verharrten. Seine
Worte verfehlten ihren Zweck nicht. Die Emire faßten den Beschluß,
sich das Beispiel Maghrebs zum Vorbild zu nehmen, „um so dem
rechten Glauben in Ägypten größeren Glanz zu verleihen“. Hierauf
wurde in der Medrese von Kairo eine Versammlung der Vertreter
aller drei Religionen einberufen, in der den Juden und den Christen
kundgetan wurde, daß man fortan die Ungläubigen zur Unterschei-
dung von den Rechtgläubigen durch besondere Zeichen kenntlich
machen würde. Der muselmanische Chronist verzeichnet mit Genug-
tuung, daß diese Verordnung sowohl in Kairo wie in der syrischen
Hauptstadt Damaskus auch in der Tat mit aller Genauigkeit zur Aus-
führung gelangte: „Alle Juden trugen von nun an gelbe Turbane,
die Christen aber blaue. Bestieg jemand von ihnen ein Roß, so mußte
er ein Bein unter die Oberschenkel schlagen. Alle im Staatsdienst
angestellten Andersgläubigen wurden ihrer Ämter enthoben, was
manche von ihnen dazu bewog, sich zum Islam zu bekehren. Es wur-
den Befehle verlautbart, denen zufolge die Häuser von Christen und
Juden die ihrer muselmanischen Nachbarn nicht überragen durften“.
In Damaskus wurde darüber hinaus noch eine besondere Farbe der
Kopfbedeckung für die dritte Gruppe von Andersgläubigen, für die
Samaritaner festgesetzt, die einen roten Turban zu tragen hatten. Von
der Buntheit der Kainszeichen auf den Häuptern der Andersgläubigen
berauscht, ruft der farbenfreudige muselmanische Schriftsteller voll
Entzücken aus: „Fürwahr, ein herrlicher Anblick! Gepriesen und ge-
lobt sei der Herr!“
Die von dem muselmanischen Fanatiker bekundete, Begeisterung
zeugt davon, daß das Auge sich nur selten an solchem Anblick wei-
den konnte und daß die farbenreiche Schilderung nur dazu bestimmt
war, die Zeitgenossen zur Nachahmung anzufeuern. In Wirklichkeit
mochten solche Anwandlungen muselmanischer Intoleranz im Mame-
485
Osteuropa und der jüdische Orient
luckenreiche kaum von nachhaltigerer Wirkung gewesen sein als in
den verschiedenen Kalifaten der Vorzeit. Im allgemeinen pflegten
wohl die für die Andersgläubigen besonders erniedrigenden Kanons
des Islam ebensowenig beachtet zu werden wie die entsprechenden
Kanons der christlichen Kirche in den europäischen Ländern. Streng
und zuweilen sogar mit großer Härte wurde nur jenem Korangebot
Genüge getan, das den Andersgläubigen eine Sonderkopfsteuer auf-
erlegte. Nach dem Brauche, der sich schon im Kalifat von Bagdad
eingebürgert hatte, wurden die Lasten je nach der Vermögenslage
der Steuerzahler abgestuft. Die Behörden paßten auf die Vergröße-
rung der Einkünfte der einzelnen Juden scharf auf und brachten
ihnen gegenüber nicht selten in ganz willkürlicher Weise höhere
Steuersätze zur Anwendung oder bürdeten ihnen so schwere Sonder-
abgaben auf, daß sie unter der Last beinahe zusammenbrachen. Wie
in allen anderen Ländern, waren die Gemeindehäupter auch hier für
den regelmäßigen Eingang der Staatssteuem verantwortlich, doch er-
freuten sich die von ihnen geleiteten Gemeinden in ihrem inneren Le-
ben der weitestgehenden Freiheit. Die bedeutendste Gemeinde Ägyp-
tens war die von Kairo. Der ägyptische Geschichtsschreiber Makrisi
zählte in Kairo nebst der Vorstadt Fostat (Alt-Kairo) in der ersten
Hälfte des XV. Jahrhunderts nicht weniger als zwölf Synagogen, von
denen zwei den Karäem und eine den Samaritanern gehörten. Gegen
Ende des XV. Jahrhunderts fand hier ein jüdischer Reisender aus
Italien (Meschullam aus Volterra) etwa achthundert jüdische Familien
vor, ohne dabei die Karäer und Samaritaner mitgerechnet zu haben.
In Alexandrien konnte er hingegen nur sechzig Familien verzeichnen,
betonte aber, daß noch viele sich an jene Zeit erinnerten, da die Ha-
fenstadt viertausend jüdische Familien beherbergte. Die Gemeinde
scheint während der Kriege und der Epidemien stark zusammenge-
schmolzen zu sein. Die Glanzzeit der jüdischen Autonomie in Ägyp-
ten war längst vorbei Das „Nagidim“-Amt, auf dem der Abglanz des
ruhmreichen Namens des Moses Maimonides ruhte, konnte sich auf
seiner früheren Höhe nur noch im Laufe des XIII. Jahrhunderts
erhalten, als es in den Händen des Sohnes und Enkels des großen
Denkers, Abraham und David, lag. Der große, um Maimonides ent-
brannte Kulturkampf, der die Gemeinden Spaniens und Frankreichs
so tief aufgewühlt hatte, ließ auch die Träger seines Namens nicht
486
§ 67. Ägypten und Palästina
unberührt1). Die beiden „Nagidim“ genossen hohes Ansehen weit
über die Grenzen Ägyptens hinaus. Dagegen ist uns von den „Nagi-
dim“ des XIY. und XV. Jahrhunderts nur sehr wenig bekannt, und
ihre Bedeutung scheint sich auf ihre unmittelbare Wirkungsstätte be-
schränkt zu haben. Auch über das geistige Schaffen dringt aus die-
ser den Orient in tiefstes Nachtdunkel hüllenden Zeit keinerlei Nach-
richt zu uns. Den natürlichen geistigen Mittelpunkt hätte hier die
ägyptische Provinz Palästina bilden müssen, doch hatte sich auch
ihrer die Lethargie des ausgehenden Mittelalters bemächtigt.
Unter den sich im Orient vollziehenden politischen Umwälzungen
hatte Palästina am schwersten zu leiden. Auch nachdem Saladin dem
Königreich Jerusalem ein Ende gemacht hatte, hielten die Kämpfe
zwischen Ägypten und den Kreuzfahrern noch ein ganzes Jahrhun-
dert lang an. Von Europa aus wurde eine Reihe von Kreuzzügen un-
ternommen, um den Muselmanen die geheiligten Stätten von neuem
zu entreißen. Die Wiederherstellung des Königreichs Jerusalem sollte
zwar den Christen nicht mehr gelingen, doch spielte ihnen das Kriegs-
glück manchmal einen Teil der palästinensischen Küste in die Hände,
und im Jahre 1229 trat der ägyptische Sultan Kamil dem Kaiser
Friedrich II. sogar Jerusalem selbst ab. Im Jahre 12 44 wurde die
Stadt von den chowaresmischen Tataren erobert und ausgeplündert.
Drei Jahre später wieder Ägypten zugefallen, wurde Jerusalem bald
darauf von den Schrecken der Mongoleninvasion heimgesucht, die
wie ein Sturm über Palästina und Syrien dahinbrauste. Als der Pil-
ger aus dem Westen, der berühmte Ramban (Nachmanides), im Jahre
1267 nach Jerusalem kam, fand er dort nichts als Trümmer. „Groß
ist die Verwüstung — schrieb er an seinen Sohn nach Spanien — und
je heiliger die Stätte, desto größer die Verheerung. Am schwersten
ist Jerusalem heimgesucht, Judäa ist mehr verwüstet als Galiläa“.
Unter der dezimierten christlichen und muselmanischen Bevölkerung
der Heiligen Stadt fand Ramban nur zwei Juden, die Pächter einer
dem ägyptischen Emir gehörenden Färberei waren. An den Sabbat-
tagen pflegten diese zwei Jerusalemer Juden in Gemeinschaft mit
ihren Glaubensgenossen aus der Umgegend in der vorgeschriebenen
!) Abraham Maimonides sollte noch die Verbrennung der Schriften seines
Vaters miterleben. Die Nachricht von der in Frankreich geschehenen Untat bewog
ihn, eine polemische Abhandlung, ,,Die Kriege des Herrn“ („Milchamoth Adonai*)
zu schreiben, um das Andenken des Schöpfers des „Buches der Erkenntnis“ und
des „Führers“ vor der Verketzerung in Schutz zu nehmen (i235).
487
Osteuropa und der jüdische Orient
Zehnzahl („Minjan“) die öffentliche Andacht zu verrichten. Hin und
wieder kamen nach Jerusalem Wallfahrer aus Damaskus, Aleppo und
anderen Orten, um sich an der geweihten Trümmerstätte der Trauer
hinzugeben. Von dem trostlosen Anblick aufs tiefste bewegt, beschloß
Ramban, wenigstens eine kleine Gemeinde in der geheiligten Stadt zu
versammeln. Er bewog die während des Tatareneinfalls aus der Stadt
Geflüchteten heimzukehren, ließ in einer halbzerstörten Synagoge den
Gottesdienst wieder abhalten und begründete daneben eine Talmud-
schule. Indessen sollte Ramban die Auferstehung der Jerusalemer
Gemeinde nicht mehr erleben: er starb um 1270 und wurde in
Haifa zur letzten Ruhe bestattet.
So ruhten in zwei benachbarten Städten Galiläas, in Tiberias und
Haifa, die Gebeine der Repräsentanten zweier Hauptrichtungen im
Judaismus: die des großen Rationalisten Maimonides und die des tra-
ditionstreuen Ramban, der als Vater der Kabbala gilt. Raid nach dem
Hinscheiden des Ramban kam es an der Grabstätte des Maimonides
zu einer Ungeheuerlichkeit. In Palästina traf nämlich aus Europa der
Antimaimonist Salomo Petit ein, ein zügelloser Glaubensschwärmer,
der in Frankreich, Deutschland und Italien überall mit donnernden
Strafreden gegen das Studium der Werke des Maimonides aufge-
treten war. Nunmehr sollten auch die Juden des Heiligen Landes dem
Feldzug gegen diese Werke ihren Segen erteilen. Bald gelang es Sa-
lomo in der Tat, eine Gruppe von Rabbinern und Gelehrten in Akko
für seinen Plan zu gewinnen: gegen alle, die sich mit dem Studium
des Maimonides abgeben würden, wurde der Cherem proklamiert,
während der „Führer“ sogar für vernichtungswürdig erklärt wurde.
Es fanden sich glaubensschwärmerische Finsterlinge, die sich zum
Grabe des Maimonides nach Tiberias begaben, um in den Denkstein
die frevelhaften Worte einzuritzen: „Moses, Sohn des Maimon, der
Ketzer und der Verbannte“. Als der Nagid der ägyptischen Juden,
David, ein Enkel des Maimonides, und der Sproß des Exilarchenge-
schlechtes Isai ben Hiskia aus Damaskus davon Kunde erhielten, ver-
hängten sie zusammen mit anderen Vertretern der morgenländischen
Gemeinden gegen die Verketzerer des Maimonides und seiner Werke
einen Gegencherem (1289). Von dieser nxit hoher Autorität ausge-
statteten Verfügung wurden auch die europäischen Gemeinden in
Kenntnis gesetzt.
In die in Palästina außerhalb Jerusalems bestehenden Gemeinden
488
kam nach dem Abschluß der Epoche der Kreuzzüge wiec
§ 67. Ägypten und Palästina
ben. Das von Venedig über den ganzen Orient ausgebreitete Netz des
internationalen Handels hatte auch die jüdische Bevölkerung der pa-
lästinensischen Küste miterfaßt. In den neuerblühten Hafenplätzen
Jaffa und Akko standen viele Juden im Dienste der Warenausfuhr.
In den Binnenstädten Ramleh und Hebron befaßten sie sich vornehm-
lich mit der Fabrikation und der Färbung von Webstoffen sowohl
für den Ortsverbrauch wie für die Ausfuhr. In Tiberias, Safed und
den anderen galiläischen Städten gedieh der Wein- und Olivenbau,
dessen Erzeugnisse hauptsächlich für die Ausfuhr bestimmt waren.
Unter leidlich guter Verwaltung hätte sich das Land nach Beendigung
des zwei Jahrhunderte währenden Religionskrieges zwischen Christen
und Muselmanen von neuem auf richten können; die Herrschaft der
Mamelucken, die selbst Ägypten ruinierte, artete in Palästina vollends
zu einer Raubwirtschaft aus, der die Landesverwaltung nur ein Mit-
tel zur größtmöglichen Ausbeutung der Bevölkerung war.
Besonders schwer hatte unter der Willkür der Behörden die arme
Gemeinde von Jerusalem zu leiden, die sich aus den Jahrhunderte al-
ten Trümmern langsam emporzurichten begann. Es war dies die Stadt
der Pilger, christlicher wie jüdischer, die hier aus aller Herren Län-
der zusammenströmten. Die zahlenmäßig geringe bodenständige Stadt-
bevölkerung lebte in überaus dürftigen Verhältnissen. Der aus Süd-
frankreich nach Palästina übergesiedelte Gelehrte Estori Farchi ver-
mag in seiner Abhandlung über die auf das Heilige Land bezüglichen
Gesetze („Kaftor u’ferach“, um i322) von Jerusalem nur in einem
sehr gedrückten Tone zu berichten: „Zwar suchen wir und unsere
Brüder aus Tarabul (Tripolis an der syrischen Küste), Hamat, Da-
maskus, Aleppo, Kairo und Alexandrien an den Feiertagen Jerusalem
auf, doch wird unsere Trauer dadurch nur noch erhöht“. Es fehlen
noch immer genauere Nachrichten über die zahlenmäßige Stärke der
jüdischen Wallfahrerbewegung aus dem Europa des XIV. und XV.
Jahrhunderts; es ist jedoch anzunehmen, daß sie sich in durchaus
mäßigen Grenzen hielt. Die venezianischen Schiffe, die alljährlich
Tausende von christlichen Pilgern nach Jaffa brachten, sahen nur
selten jüdische Reisende an Bord. Im XV. Jahrhundert kam es häufig
vor, daß sich die Schiffsherren ausdrücklich weigerten, die Juden
nach ihrer uralten Heimat zu befördern. Es hing dies mit einem zwi-
schen Christen und Juden in Jerusalem ausgebrochenen Konflikt zu-
Osteuropa und der jüdische Orient
sammen. Auf dem Zionsberge, in der Nähe der sogenannten „Königs-
gräber“, stand nämlich eine Kapelle der Franziskaner. Als nun einst
ein aus Deutschland gekommener reicher Jude bei dem ägyptischen
Sultan das Grundstück mit den Gräbern käuflich erwerben wollte,
geriet er in einen langwierigen Streit mit den Mönchen, so daß die
muselmanischen Behörden den umstrittenen Platz schließlich in
eigene Verwaltung nahmen. Die Häupter des Franziskanerordens be-
schwerten sich hierauf beim Papst über die „Schmähungen und die
Bedrückung“, die die Minoritenbrüder an der „Davidskapelle“ von
seiten der Juden auszustehen hätten. Der Papst nahm die Beschwerde
zum Anlaß, um den christlichen Reedern durch eine besondere Bulle
die Beförderung von Juden grundsätzlich zu untersagen. Der Doge
von Venedig verwehrte daraufhin den venezianischen Schiffsherren,
Juden aus dem Heimathafen nach Palästina mitzunehmen, und so
ward ihnen der direkte Seeweg nach Jaffa (über Gandia und Cypem)
verschlossen. Das im Jahre 1428 ergangene Verbot blieb noch lange
Zeit in Kraft und nötigte die Juden, bei ihren Palästinareisen einen
weiten Umweg (über Sizilien und Alexandrien und dann landeinwärts
bis nach Jerusalem) zu benutzen. Auf zwei italienische Gelehrte, die
Jerusalem in den achtziger Jahren des XV. Jahrhunderts besuchten,
machte die Stadt einen trostlosen Eindruck. Meschullam da Volterra
schrieb: „Im Jahre 524i (i48i) trafen wir in Jerusalem ein. Als
ich der zerstörten Stadt gewahr wurde, zerriß ich den Saum meines
Gewandes und sprach die Worte des Trauergebetes. Die Stadt ist
von zehntausend muselmanischen und von nur etwa zweihundertfünf-
zig jüdischen Familien bewohnt“. Im Jahre i488 fand aber der nach
Jerusalem gekommene berühmte Mischnakommentator Ohadia da
Bertinoro dort nur noch siebzig Familien vor, da die meisten jüdi-
schen Einwohner infolge der untragbaren und mit größter Rück-
sichtslosigkeit eingetriebenen Steuern die Stadt inzwischen verlassen
hatten. Obadia schildert die Zustände in der Jerusalemer Gemeinde
in den allerdüstersten Farben. Zur Begleichung der Steuerschulden
sahen sich die Gemeindeältesten gezwungen, das jüdische Kranken-
haus und sogar das synagogale Gerät mitsamt den heiligen Büchern
zu verkaufen, die von den Christen gern angekauft wurden, weil sie
als Reliquien aus dem Heiligen Lande bei den europäischen Juden
reißenden Absatz fanden. Die wohlhabenderen Pilger aus Europa
liefen in der Heiligen Stadt stets Gefahr, von den rücksichtslosen
490
§ 67. Ägypten und Palästina
„Vätern“ der Gemeinde, den korrupten Handlangern des Sultanats-
fiskus, bis auf das letzte Hemd ausgeplündert zu werden.
Unter solchen Umständen vermochte Jerusalem nicht zu jenem
geistigen Mittelpunkte des Judentums zu werden, den die Diaspora
sich gewünscht hätte. Die vereinzelten nach dem Heiligen Lande
ziehenden jüdischen Pilger sehnten sich danach, in der alten Heimat
von den in den christlichen Staaten erduldeten Qualen und Demüti-
gungen auszuruhen, doch fanden sie auch hier nur ein Häuflein von
gedemütigten und vom Elend geplagten Brüdern. Erst zu Beginn des
XVI. Jahrhunderts, nach der Vertreibung der Juden von der Pyrenäi-
schen Halbinsel, wandten sich wieder größere jüdische Massen najch
Palästina. Es war dies am Vorabend des Zusammenbruchs der ägyp-
tischen Herrschaft im Lande. Über drei Weltteile breitete sich das
Reich der osmanischen Türken aus, das zusammen mit dem christ-
lichen Byzanz auch den muselmanischen Orient verschlang. Im Jahre
i5i7 wurde Ägypten zusammen mit Palästina dem ottomanischen
Reiche einverleibt. Durch die sich innerhalb der Grenzen der euro-
päisch-asiatischen Türkei vollziehende Wiedervereinigung der bis da-
hin voneinander getrennten Teile der Judenheit sollte der jüdische
Orient aus seinem Jahrhunderte währenden Schlafe jäh aufgerüttelt
werden.
Ende des fünften Bandes
Zur Quellenkunde und Methodologie
Der jüdische Geschichtsschreiber, der in seiner Arbeit bis zum späten
Mittelalter vorgeschritten ist, kann sich nicht mehr, wie bei der Be-
handlung der vorhergehenden Perioden, über die Dürftigkeit der Quel-
len beklagen. Der Quellenstoff ist hier vielmehr für einige Problem-
gebiete so ergiebig, daß er nur in speziellen Monographien, nicht aber in
einem auf zusammenfassende Synthese ausgehenden Werke voll erschöpft
werden kann. Schwierigkeiten entstehen in diesem Zusammenhänge ledig-
lich infolge der Ungleichmäßigkeit oder Einseitigkeit des durch das publi-
zierte Quellenmaterial verbreiteten Lichtes. Während gewisse Momente in
ihm mehr oder weniger klar zutage treten, bleiben hingegen andere ganz im
Schatten. Auffallend ist vor allem die äußerste Spärlichkeit der jüdischen
Quellen im Vergleich zu den nicht jüdischen. Vielen Tausenden von Ur-
kunden aus den Staats- und Stadtarchiven steht eine verschwindend geringe
Zahl jener Dokumente gegenüber, die aus den schon an und für sich
sehr seltenen und inhaltsarmen jüdischen Gemeindearchiven stammen
(unten, Ziffer i). Für die Behandlung der drei Jahrhunderte (XIII.—XV.
Jahrhundert) umspannenden Zeitperiode bietet uns die jüdische Chrono-
graphie nur zwei zusammenfassende Chroniken („Schebet Jehuda“ und
„Emek ha’bacha“), die aber auch erst in späterer Zeit entstanden sind,
und daneben einige wenige auf lokale Verhältnisse oder auf Einzelepisor
den sich beziehende Aufzeichnungen. Der Historiker sieht sich daher auf
die durch Konfrontierung mit jüdischen Quellen nicht zu kontrollierenden
Nachrichten angewiesen, die in den zumeist von kirchlicher Tendenz durch-
drungenen christlichen Chroniken verstreut sind (unten, Ziff. 2). Das
größte Hemmnis für eine allgemeingeschichtliche Darstellung bildet aber
die viel zu geringe Zahl von wissenschaftlichen Monographien, die die Ge-
schicke der Juden in den einzelnen Ländern behandeln. Es mag der Hin-
weis genügen, daß uns noch immer umfassende Werke über die Geschichte
solcher jüdischer Zentren wie Deutschland, Frankreich und Italien fehlen.
Statt dessen stehen uns nur vereinzelte Monographien über diese oder jene
Provinz oder Gemeinde zur Verfügung sowie monographische Unter-
suchungen über geschichtliche Einzelprobleme (unten, Ziff. 3 und 4). So
sieht sich denn der Geschichtsschreiber nach wie vor genötigt, mit seiner
architektonischen Hauptarbeit immer wieder auszusetzen, um zunächst das
495
Anhang
Rohmaterial für seinen Bau zusammenzutragen und es verwendbar zu
machen.
Wir wenden uns nun der Betrachtung der hier in Frage kommenden
Gruppen von Quellen und literarischen Werken der Reihe nach zu.
1. Akten und Regesten
Für Deutschland und Österreich liegen uns zwei Codices von Regesten
vor: der Schlußteil des uns bereits bekannten Werkes von Aronius
(„Regesten zur Geschichte der Juden im Deutschen Reiche bis zum
Jahre 1273“, Berl. 1902) sowie die ältere Sammlung von M. Wiener
(„Regesten zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Mittel-
alters“, Hannover 1862). Das Werk von Wiener bietet eine Zusammen-
stellung von etwa i4oo aus deutschen Aktenpublikationen und alten Chro-
niken geschöpften kurzen Auszügen, die mit manchen Unterbrechungen die
Zeit vom Ausgang des XIII. bis Ende des XY. Jahrhunderts umfassen (die
Dekrete der deutschen Kaiser sowie bayerischer und österreichischer Her-
zoge). Die Sammlung von Wiener ist nicht nur lückenhaft, sondern er-
mangelt auch jenes kritischen Apparates, der von Aronius geboten wird,
bleibt aber für den Geschichtsschreiber dennoch nicht ohne Wert. Neben
diesen allgemeinen Werken ist noch die speziell Frankfurt betreffende
Sammlung von Kracauer („Urkundenbuch zur Geschichte der Juden in
Frankfurt am Main, ii5o—i4oo“, Frankfurt a. M. 1914) zu nennen.
Für Böhmen und Schlesien liegt die reichhaltige Akten- und Regesten-
sammlung von Bondy und Dworshy vor: „Zur Geschichte der Juden in
Böhmen, Mähren und Schlesien, 906—1620“, Band I—II, Prag 1906.
Die die Juden Ungarns betreffenden amtlichen Urkunden aus der Zeit
vom XIII. bis zum Beginn des XYI. Jahrhunderts sind von A. Friss in
seinen „Monumenta Hungariae judaica“, Budapest 1908, zusammengestellt.
Das auf Südeuropa bezügliche Aktenmaterial, das bisher veröffentlicht
ist, verteilt sich auf die verschiedenen Länder in überaus ungleichmäßiger
Weise. Die 210 von M. Stern gesammelten päpstlichen Bullen aus dem
Zeitraum vom XIII.—XYI. Jahrhundert („Urkundliche Beiträge über die
Stellung der Päpste zu den Juden“, HeftI—II, Kiel 1893—1896) betreffen
nicht nur die Juden Italiens, sondern auch die anderer katholischer Län-
der; die nicht zu Ende geführte Publikation bedarf noch weitestgehender
Ergänzungen. Erschöpfenden Stoff, etwa 1000 ungekürzte Urkunden, bie-
ten die Brüder Lagumina für die Geschichte der Juden in dem unter
aragonischer Herrschaft stehenden Sizilien, die die Zeitspanne vom Ende
des XIII. Jahrhunderts bis zum Ende des XY. Jahrhunderts umfaßt:
„Codice diplomatico dei Giudei di Sicilia“, Band I—III, Palermo i884
bis 1895. In Spanien ist es bisher nur Aragonien, dem besondere Be-
achtung zuteil geworden ist: der französische Forscher Jean Regne för-
derte im Staatsarchiv von Barcelona 3456 auf die Geschichte der Juden
in Aragonien von 1213 bis 1327 bezügliche Regesten zutage („Catalogue
496
Anhang
des actes de Jaime I., Pedro III., Alphonso III. et Jaime II., rois d’Aragon,
concernants les juifs“, REJ. 1910—1924, Band LX—LXXVIII). Dem
Sammler dieses reichhaltigen Stoffes steht nunmehr bevor, die Akten
aus der nachfolgenden Zeit, von 1327 bis 1492, zu sichten. Hin-
gegen harren die kastilischen Archivalien immer noch der Bearbeitung
und verheißen, nach den kurzen Titelverzeichnissen von Jacobs zu urteilen
(„An inquiry into the Sources of the History of the Jews in Spain“,
London 1894), reichliche Ausbeute1).
Das spärliche Aktenmaterial zur Geschichte der Juden in den erst im
späten Mittelalter auf der geschichtlichen Bühne erscheinenden Ländern
Polen und Rußland ist in den folgenden Sammelwerken zu finden: im
„Russko-jewrejskij Archiv“ von Berschadski (die ersten Nrn. des I. und
III. Bandes, Petersburg 1882 und 1903), in den „Regesty i Nadpissi (In-
schriften)“, Band I (Petersb. 1898) und im „Dyplomatariusz“ von Berson
(Warschau 1910; s. unten, Bibliogr. zu S 63).
Hingegen ist für eine Reihe von mittelalterlichen Zentren das für die
in Frage kommende Periode unentbehrliche Baumaterial noch immer
nicht zusammengetragen; es sind dies: Frankreich, Italien mit Ausnahme
von Sizilien, Spanien mit Ausnahme von Aragonien in der Zeit vom XIII.
bis zum Beginn des XIY. Jahrhunderts sowie England im XIII. Jahr-
hundert (hinsichtlich der englischen Juden liegt nur dürftiges Quellen-
material in dem veralteten Buche von Tovey, Anglia Judaica, Oxford
1738, vor).
Was den aus jüdischen Quellen, aus den Gemeinde- und synagogalen
Büchern sowie aus dem rabbinischen Schrifttum geschöpften Urkunden-
stoff betrifft, so besitzen wir bisher auf diesem Gebiete nur vereinzelte
Sammlungen von Exzerpten oder Regesten, die in Zeitschriften, Jubiläums-
sammelwerken oder in Beilagen zu manchen Untersuchungen (so Auszüge
aus den rabbinischen Responsen in dem Anhang zum Buche von M. Hoff-
mann: „Der Geldhandel der deutschen Juden bis zum Jahre i35o“ und
in der weiter genannten Abhandlung von Baer über die aragonischen
Juden) verstreut sind. Dies ist umsomehr zu bedauern, als die viele
Bände umfassenden rabbinischen Responsen solcher Führer des Judentums
wie Raschba, Isaak b. Schescheth, R. Meir-Rothenburg, „Or-Sarua“ (Vater
und Sohn), R. Jakob Weil, R. Israel Isserlein und R. Israel Bruna reich-
lichen Stoff für einen gewichtigen Kodex geschichtlicher Regesten in sich
bergen. Erst in jüngster Zeit wurden auf Anregung des Jewish Theological
Seminary in New York aus verschiedenen Publikationen geschöpfte Bruch-
stücke von Entscheidungen mittelalterlicher Rabbinerkonferenzen sowie
Satzungen einiger Gemeinden zusammengestellt und mit Texterläuterungen
t) Im Aufträge der Berliner „Akademie für die Wissenschaft des Juden-
tums“ ist Fritz Baer, der Verfasser einer eingehenden Monographie über die
aragonischen Juden des XIII. und XIV. Jahrhunderts, zur Zeit damit beschäf-
tigt, in den spanischen Archiven die die Juden betreffenden Akten zu sammeln
und zu sichten.
32 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
497
Anhang
der Öffentlichkeit übergeben (L. Finkeistein, Jewisb Selfgovernment in
the middle ages, 1924). Den Regesten sind noch die den synagogalen
Memorbüchern verschiedener deutscher Städte entnommenen Märtyrer-
register (Salfeld, Martyrologium des Nürnberger Memorbuches, Berlin
1898) sowie die einschlägigen Stücke aus der synagogalen Poesie zuzu-
zählen, die in der Sammlung „Sefer ha’demaoth“ von S. Bernfeld, Berlin
1924, zu finden sind.
2. Chronographie
Die unmittelbare Vorgängerin der Historiographie, die mittelalterliche
Chronographie, gewährt dem jüdischen Geschichtsschreiber nur einen über-
aus unzuverlässigen Stützpunkt. Von den zwei obenerwähnten Chroniken
gebührt dem Buche „Schebet Jehuda“ als dem den Ereignissen des XV.
Jahrhunderts näher stehenden der Vorrang. Seinem Verfasser, Salomo ihn
Verga, standen, wie es scheint, dem Familienbesitz entstammende Auf-
zeichnungen sowie Bruchstücke später verschollener Annalen zur Ver-
fügung und überdies hatte er eine der größten geschichtlichen Tragödien,
die Vertreibung aus Spanien und die darauffolgenden Wanderungen, per-
sönlich miterlebt. Nach einer Vermutung von Graetz (Band VIII, Note 1)
soll der Verfasser vieles dem uns nicht erhalten gebliebenen Martyrologium
des Profiat Duran: „Sichron ha’schmadoth“ entnommen haben. Isidore
Loeh beurteilte das Buch als ein Gemisch von Geschichte und volkstüm-
lichen Legenden („Le folk-lore juif dans la chronique du Schebet Jehuda
d’ibn Verga“, REJ., t. XXIV). Jedenfalls vermag diese um die Mitte des
XVI. Jahrhunderts zuerst im Druck erschienene, in der Form einer Chro-
nik abgefaßte Sammlung von geschichtlichen Erzählungen, ungeachtet
Ihres hohen literarischen Wertes, dem Geschichtsschreiber sogar auf dem
von ihr bevorzugten Gebiete des Martyrologiums nur überaus unsichere
Anhaltspunkte zu bieten; die geschichtliche Wahrheit will hier erst durch
behutsame Kritik herausgeschält sein. Zuverlässigen Quellen scheint nur
jene Reihe von Aufzeichnungen entnommen zu sein, die sich vornehmlich
auf das letzte Jahrhundert des jüdischen Spanien beziehen (1891—1497)
und in der Darlegungsweise jede Rhetorik vermeiden. Die quellenkritische
Durchleuchtung des „Schebet Jehuda“ ist noch weit von ihrem Abschluß
entfernt (zu erwähnen ist in diesem Zusammenhänge die jüngst erschie-
nene Arbeit von F. Baer, Untersuchung über Quellen und Komposition
des Schebet Jehuda, Berlin 1923), und viele Nachrichten dieser Chronik
könnten allein durch Entdeckung anderer aus jener Zeit stammender Auf-
zeichnungen geschichtliche Bestätigung finden. Die in zweiter Linie in
Betracht kommende Chronik des Joseph haKohen: „Emek ha’bacha“, die
über das XVI. Jahrhundert mehr oder weniger authentische Nachrichten
enthält, vermag für die vorhergehende Epoche gleichfalls erst nach sorg-
fältigster Überprüfung als Quelle zu dienen (vgl. Loeh, Joseph haCohen
et les chroniqueurs juifs, in REJ., tt. XVI—XVII, 1887—1888). Für die
Kenntnis mancher Geschehnisse aus dieser Zeit besitzen wir wertvolle Er-
498
Anhang
gänzungen in den erhalten gebliebenen Einzelschilderungen. So beleuchtet
die im Jahre i5io abgefaßte kurze Chronik: „Sefer ha’Kabbala“ des
Ahraham von Torrutiel manche Einzelheiten der Vertreibung aus Spanien
und Portugal (in Neubauers „Chronicles“, I, ioi—n4 sowie im Anhang
zum Bande VI der Geschichte von Graetz in der hebräischen Ausgabe von
Schefer). Das von einem Zeitgenossen in jüdisch-deutscher Sprache ver-
faßte Volksbuch „Die Wiener Gseire“ vermittelt uns den Eindruck, den
die im Jahre 1^21 erfolgte Austreibung aus Wien in der Volkspsyche
hinterlassen hat. Die Chronik des Elias Kapsali: „Debe Elijahu“ (in
„Likkutim schonim“ des M. Lattes, Padua 1869) bildet die einzige Quelle
für die Geschichte des in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts neu-
entstandenen Zentrums in der Türkei. Die Berichte über die zwei Dis-
putationen, über die von Barcelona im Jahre 12 63 und die von Tortosa
in den Jahren i4i3—i4i4 („Wikkuach ha’Ramban“ in Wagenseils „Tela
ignea Satanae“, 1681; „Wikkuach Tortosa“ in „Jeschurun“ von Koback,
Band VI, 1868) stellen ein wertvolles Gegenstück zu den Berichten der
christlichen Zeitgenossen dar. Solcher kurzgefaßter Schilderungen von
Einzelepisoden ließe sich noch eine ganze Anzahl anführen; was will aber
dies alles der betrübenden Tatsache gegenüber bedeuten, daß das Mittel-
alter uns keine systematisch gepflegte Chronographie hinterlassen hat. Die
erschütternden geschichtlichen Tragödien wurden von keinem ihnen ge-
wachsenen Annalisten festgehalten, und so müssen wir die Berichte über
die Erlebnisse unserer Vorfahren aus fremden, zumeist auch feindlichen
Händen in Empfang nehmen: aus den Chroniken und Streitschriften
der katholischen Mönche, aus tendenziös zugestutzten Berichten über
Ritualmordprozesse und aus ähnlichen trüben Quellen.
3. Monographien über einzelne Länder und Gemeinden
Von den uns zur Geschichte der Juden in den einzelnen Ländern oder
Provinzen sowie zur Geschichte der bedeutendsten Gemeinden des mittel-
alterlichen Europa vorliegenden Monographien verdienen die folgenden
besondere Erwähnung:
Für die Pyrenäische Halbinsel kommen vor allem die zwei eingehenden
Monographien von M. Kayserling in Betracht: „Geschichte der Juden in
Navarra“, Berlin 1861, und „Geschichte der Juden in Portugal“, Berlin
1867, die zwar heute im wesentlichen veraltet sind, jedoch als Zusammen-
stellung des aus alten spanischen und portugiesischen Chroniken geschöpf-
ten Materials noch immer einen gewissen Wert behalten. Noch wertvoller
ist indessen in dieser Beziehung das dreibändige Werk des Amador de
Los Rios: „Historia social, politica i religiosa de los Judios de Espana“,
Madrid, 1875—1876. In wissenschaftlicher Hinsicht kommt freilich diesem
die ganze mittelalterliche Geschichte der Juden auf der Pyrenäischen Halb-
insel umfassenden Werke keine allzu große Bedeutung zu, da sich der
katholische Verfasser, der sogar die Untaten der spanischen Inquisition zu
Anhang
rechtfertigen geneigt ist und alle Erzählungen der kirchlichen Chronisten
über die Juden kritiklos hinnimmt, weder durch Schärfe der Urteilskraft
noch durch geschichtliche Objektiviät auszeichnet. Unentbehrlich ist das
Buch nur soweit, als es in aller Ausführlichkeit die Nachrichten der christ-
lichen Chronisten, wie etwa des Zuniga, Zurita und Ajala, wiedergibt
und auch sonstigen Quellenstoff zusammenträgt. Den modernen wissen-
schaftlichen Anforderungen genügt hingegen in vollem Maße die das jüdi-
sche und spanische Material in gleicher Weise berücksichtigende Mono-
graphie von Fritz Baer: „Studien zur Geschichte der Juden im König-
reiche Aragonien im XIII. und XIV. Jahrhundert“, Berlin 1913. Von den
spanischen Quellen vermochte allerdings der Verfasser nur die erste Folge
der obenerwähnten, von Regne zusammengestellten Regesten zu verwer-
ten, deren Fortsetzung erst nach der Veröffentlichung der Monographie
erschien. Von einzelne Gemeinden behandelnden Monographien seien noch
die folgenden zwei erwähnt: Bofarul y Sans, „Los Judios en el territorio
de Barcelona“, Barcelona 1911, und Bojerano, „Histoire de la juiverie de
Seville“, Madrid 1922.
Frankreich hat bis jetzt keine einzige zusammenfassende Geschichte
der dortigen Juden aufzuweisen, obwohl das in den achtzig bisher er-
schienenen Bänden der Vierteljahrsschrift „Revue des etudes juives“ ver-
öffentlichte alte und neue Quellenmaterial reichlichen Stoff dazu bietet.
Dieser Mangel wird zum Teil durch gediegene Monographien über einzelne
Provinzen und Gemeinden wettgemacht. Es mögen hier nur die bedeutend-
sten auf gezählt sein: Saige, Les juifs de Languedoc anterieurement au
XIV. siede, Paris 1881; Regne, fitudes sur la condition des juifs de
Narbonne jusqu’au XIV. siede, REJ. t. LV—LIX; L. Kahn, Les juifs
de Paris depuis le VI. s., Paris 1889; Prudhomme, Les juifs de Dauphine
au XIV. et XV. s., Grenoble i883; Maulde, Les juifs dans les etats fran-
gais du Saint-Siege, Paris 1886; Bardinet, Condition civile des juifs du
Comtat Venaissin, REJ. I—VII u. a.
Auch Deutschland, die Heimat der neuen Wissenschaft des Judentums,
harrt noch immer einer die ganze Geschichte der deutschen Juden umfas-
senden wissenschaftlichen Monographie, eine Lücke, die allerdings z. T.
soweit die rechtlich-sozialen Verhältnisse in Frage kommen, durch das
altbekannte Werk von Stobhe, Die Juden in Deutschland während des
Mittelalters (1866, 2. Aufl. 1902), ausgefüllt wird. Vielfach vorhanden
sind hier nur Untersuchungen zur Geschichte einzelner Gemeinden oder
Provinzen. Von den bedeutsamsten Werken dieser Art sind zu erwähnen:
F. Scheid, Histoire des juifs d’Alsace, Paris 1887, und die jüngste Ergän-
zung dazu: Ephraim, Hist, des juifs d’Alsace depuis le milieu du XIII.,
jusqu’ä la fin du XIV. s., REJ. t. LXXVIII; ferner: Brann, Geschichte der
Juden in Schlesien (Breslau 1896—1910); Taussig, Geschichte der Juden
in Bayern (München 1874). Unter den zahlreichen Darstellungen der Ge-
schichte einzelner Gemeinden kommt allgemeinere Bedeutung den folgen-
den Werken zu: Weyden, Geschichte der Juden in Köln (1867); Carle-
5oo
Anhang
hach, Die rechtlichen und sozialen Verhältnisse der Judengemeinden in
Speyer, Worms und Mainz bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts (Frank-
furt a. M. 1901); Rothschild, Die Judengemeinden in Mainz, Speyer
und Worms, i349—i438 (1904); Kracauer, Geschichte der Juden in
Frankfurt a. M. (Band I, Frankfurt a. M. 1925).
Für das mittelalterliche Österreich bietet einen wertvollen Ersatz einer
umfassenden Monographie das Werk von Scherer: Die Rechtsverhältnisse
der Juden in den deutsch-österreichischen Ländern (Leipzig 1901). Die
hier zu kurz kommende Geschichte der inneren Verhältnisse findet ein-
gehendere Darstellung in den Monographien von Schwarz: Das Wiener
Ghetto bis 1421 (Wien 1909) und von Goldmann: Das Judenbuch der
Scheffenstraße zu Wien (1908). Die Darstellung der äußeren Geschicke
der österreichischen Judenheit wird wesentlich ergänzt durch die Unter-
suchungen von Krauß: Die Wiener Geserah vom Jahre 1421 (Wien 1920)
und von Rosenberg: Beiträge zur Geschichte der Juden in Steiermark
(Wien 1914). Anschließend ist noch die kurz gefaßte, an Urkundenbelegen
reiche Monographie von Auguste Steinberg über die Schweiz mitzuerwäh-
nen: Studien zur Geschichte der Juden in der Schweiz während des Mittel-
alters (Zürich ipoß).
Böhmen bildet den Gegenstand zweier Monographien, deren eine (Her-
mann, Geschichte der Israeliten in Böhmen, Prag 1819) jedoch bereits
antiquiert ist, während die andere (Stein, mit gleichlautendem Titel, 1904)
ihrer Aufgabe durchaus nicht gewachsen ist. — Für Ungarn ist man
mangels zweckentsprechenderer Arbeiten auf die knappe Darstellung von
Bergei, Geschichte der ungarischen Juden, 1879, angewiesen.
Für Italien besitzen wir zwar keine umfassende geschichtliche Mono-
graphie, doch stehen uns zwei großangelegte Werke über die Geschichte
der Juden in Rom zur Verfügung: die von Berliner und von Vogelstein-
Rieger (beide führen den Titel: „Geschichte der Juden in Rom“ und um-
fassen je zwei Bände, erschienen 1893 und 1895—1896). Das zweite
dieser Werke zeichnet sich durch größere Ausführlichkeit und durch über-
sichtlichere Stoffgliederung aus. Gründliche Bearbeitung fand überdies
die Geschichte der Gemeinden von Venedig (Chiavi, Gli ebrei in Venezia
et nelle sue colonie, „Nuova Antologia“, 1893), von Padua (Ciscato, Gli
ebrei in Padova, i3oo—1800, Padova 1901) und von Florenz in der
Renaissancezeit (Cassuto, Gli ebrei in Firenze nell etä del Rinascimento,
Firenze 1918).
Dem mittelalterlichen jüdischen England sind eine Reihe von Kapiteln
der kurzgefaßten Monographie von A. Hyamson, History of the Jews in
England (London 1908) gewidmet, der das von der englischen „Jewish
Historical Society“ publizierte Quellenmaterial zugrunde liegt. Der kurze
Abriß findet eine Ergänzung in einer Reihe von Aufsätzen, die in der
Vierteljahrsschrift „Jewish Quarterly Review“ zur Veröffentlichung ge-
langt sind.
Hinsichtlich Polens und Rußlands, die im Mittelalter nur die Rolle
5oi
Anhang
von jüdischen Kolonisationsgebieten spielten, kommt eine geschichtliche
Darstellung dieser Epoche im eigentlichen Sinne des Wortes kaum in
Betracht. In der Form einer sich in bescheidenen Grenzen haltenden Ein-
leitung gelangt diese frühe Epoche in meiner englischen Monographie
„History of the Jews in Russia and Poland“ zur Darstellung (Band I,
S. 39—65. Philadelphia, Jewish Publication Society of America, 1916).
Die Werke von Kraushaar (Historja zydöw w Polsce, Warschau i865),
Sternberg (Geschichte der Juden in Polen unter den Piasten und Jagel-
lonen, Leipzig 1878) und Nußbaum (Historja iydöw, t. Y, Warschau
1890) sind veraltet und durch die Untersuchung von Schipper über die
Wirtschaftsgeschichte der Juden im mittelalterlichen Polen (Studja nad
stosunkami gospodarczymi iydöw w Polsce podczas sredniowiecza, Lem-
berg 1911) weit überholt. Von großer Bedeutung für die Geschichte die-
ser Epoche sind auch die Monographien von Perles und Balaban über
die zwei Hauptgemeinden des alten Polen, Posen und Krakau (Geschichte
der Juden in Posen, in der Monatsschrift für Geschichte und Wissen-
schaft des Judentums, 1864—1865, Sonderausg. 1866; Dzieje zydöw w
Krakowie, I, Krak. 1913).
4. Monographien über Einzelprobleme
Eine gründliche Bearbeitung haben manche Einzelprobleme der Ge-
schichte des mittelalterlichen Judentums gefunden. Die Rechtsverhältnisse
der Juden in Deutschland und Österreich sind eingehend erforscht in
den bereits erwähnten Werken von Stobbe und von Scherer. Die
sozial-wirtschaftliche Geschichte der Juden im Zeitraum vom XIII.
bis zum XY. Jahrhundert ist in dem zweiten Bande des Werkes
von G. Caro (Sozial- und Wirtschaftsgesch. d. Jud. im Mittelalter,
Band II: Das spätere Mittelalter, Leipzig 1920) dargestellt, der jedoch
erst nach dem Tode des Verfassers erschienen und bedauerlicherweise
unvollendet geblieben ist. Für die Geschichte der Gemeindeautonomie
kommen als erste, eines gewissen Wertes nicht entbehrende Versuche die
bereits zitierte Arbeit von Finkeistein über die Selbstverwaltung sowie
die Abhandlung von Epstein über die Responsen des Raschba als ge-
schichtliche Quelle (The Responsa of R. Salomon ben Adreth, as a source
to the history of Spain, London 1925) in Betracht. Die jüdische Kultur-
geschichte des ausgehenden Mittelalters in Italien und Deutschland ge-
langt in den zwei letzten Teilen des Werkes von Güdemann (Geschichte
des Erziehungswesens und der Kultur der abendländischen Juden wäh-
rend des Mittelalters, Wien 1888) zur Darstellung. Als Ergänzung dazu
sind noch die Abhandlungen über die mittelalterliche Lebensführung von
Berliner (Aus dem inneren Leben der deutschen Juden im Mittelalter,
Berlin 1900) und von I. Abrahams (Jewish Life in the middle ages, Lon-
don 1896) zu Rate zu ziehen. Für die Geschichte des Rabbinismus be-
hält noch immer das Werk von Weiß seinen Wert, dessen fünfter Band
Anhang
der hier dargestellten Epoche gewidmet ist (Dor dor we’dorschow,
Band Y, Wien 1891). Die bekannten Werke von Joel, Guttmann und
Neumark ergänzen den die mittelalterliche jüdische Philosophie betref-
fenden Abschnitt der Literaturgeschichte, der auch in der allgemeinen
Geschichte von Graetz einen überaus ansehnlichen Platz einnimmt
Dem Altmeister unserer Historiographie gebührt rückhaltlose Aner-
kennung: die das späte Mittelalter behandelnden Teile des großen Wer-
kes von Graetz und insbesondere der achte Band in der verbesserten Auf-
lage von 1890 stehen auch heute noch in mancher Hinsicht auf der Höhe
der wissenschaftlichen Kritik. Die diesem Bande beigegebenen Noten, die
nahezu den vierten Teil seines Gesamtumfanges beanspruchen, bilden nach
wie vor den Ausgangspunkt für die Erforschung der umstrittenen
Punkte dieser Periode. In den letzten Jahrzehnten wendete sich die
Aufmerksamkeit der Geschichtsschreiber, dank den in der Genisa ge-
machten Entdeckungen, in immer steigendem Maße dem mittelalterlichen
Orient zu. Für die Geschichte des mittelalterlichen Okzidents war von
besonderer Wichtigkeit die Entdeckung der erwähnten aragonischen Ak-
ten, die über die Autonomie der jüdischen Gemeinden und über ihre
politische Rolle in Spanien neues Licht verbreiteten. Neue Ausblicke er-
öffneten sich dank den Forschungen von Scherer, G. Caro und anderen
auch in der sozial-wirtschaftlichen Geschichte. Außerdem ist manches,
wie wir gesehen haben, in jüngster Zeit auf dem „exotischen“ Gebiete
der Geschichte der polnischen Juden geleistet worden, für deren Dar-
stellung Graetz nur ein sehr unzulänglicher Stoff zur Verfügung stand.
All dies kann uns, im Zusammenhang mit dem Wandel der allgemeinen
Auffassung der jüdischen Geschichte, von dem Verlauf des geschichtlichen
Prozesses im späten Mittelalter eine viel klarere Vorstellung vermitteln.
5o3
BIBLIOGRAPHIE
Quellen- und Literaturnachweise
Im folgenden gebrauchte Abkürzungen: Aronius, Regesten = Regesten
zur Geschichte der Juden im fränkischen und deutschen Reiche bis zum Jahre
1273 (Berlin 1902); Berliner, Rom = Geschichte der Juden in Rom, Bd. I—II
(Frankfurt i8g3); Bernfeld, Martyrologium = Sefer ha’demaoth, Bd. I—II
(Berlin 1924); Bondy-Dworsky, Böhmen = Zur Geschichte der Juden in
Böhmen, Mähren und Schlesien, 609—1620, Bd. I—II, Akten (Prag 1906);
G. Caro = Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden im Mittelalter, Bd. I—II
(Leipzig 1908, 1920); ,JZmek ha’bacha“ W. = Joseph ha’Kohens Chronik in
deutscher Übersetzung mit Noten und Beilagen von M. Wiener (Leipzig i858);
Graetz = Geschichte der Juden, Bd. YII und VIII (3. Aufl., Leipzig 1894 und
1890); Graetz-Sehefer — Dibre jeme Israel, hebr. Übersetzung mit Ergänzungen
von S. P. Rabbinowitz und Harkavy, Bd. V—VI (Warschau 1897—1898); Güde-
mann, Kultur = Geschichte des Erziehungswesens und der Kultur der abend-
ländischen Juden im Mittelalter, Bd. III (Wien 1888); Güdemann, Ha'thora
we’ha’chaim = dasselbe in hebräischer Übersetzung von Friedberg, I—III (War-
schau 1896—1899); Jew. Enc. — Jewish Encyclopedia, I—XII (New-York 1901
bis 1906); JQR. = Jewish Quarterly Review (London 1888—1908; New-York
1908—1926); Jacobs, Sources = An inquiry into the sources of the history of
the Jews in Spain (London 1894); Lea, Inquisition = A history of the Inquisi-
tion of the middle ages, I (New-York 1888); Lea, Spain == History of the In-
quisition of Spain, I (New-York 1906); MS. — Monatsschrift für Geschichte
und Wissenschaft des Judentums (Breslau 1852—1926); Neubauer, Ghronicles =
Mediaeval Jewish Chronicles, I—II (Oxford 1888—1895); Regni, Catalogue =
Catalogues des actes des rois d’Aragon concernants les juifs (REJ. 1910—1924);
Regne, Narbonne = La condition des juifs de Narbonne du VI. au XIV. s. (REJ.
1908—1910); REJ. = Revue des etudes juives (Paris 1880—1926); Renan-
Neubauer, Rabbins = Les rabbins frangais (Histoire littöraire de la France,
t. XXVII, Paris 1877); Rios, Historia = Amador de los Rios, Historia social,
politica i religiosa de los Judios de Espana i Portugal, t. I—III (Madrid 1875
bis 1876); Salfeld, Martyrologium = Das Martyrologium des Nürnberger Memor-
buches (Berlin 1898); „Schebet Jehudaf = Ibn Vergas Chronik, ed. Wiener,
hebr. Originaltext mit deutscher Übersetzung (Hannover i856); Scherer, Öster-
reich = Rechtsverhältnisse der Juden in den deutsch-österreichischen Ländern
(Leipzig 1901); Steinschneider, Übersetzungen = Die hebräischen Übersetzungen
des Mittelalters (Berlin 1893); Stern, Päpstliche Urkunden = Urkundliche Bei-
träge über die Stellung der Päpste zu den Juden, I—II (Kiel 1893—1895); Stobbe,
5o4
Bibliographie
Deutschland = Die Juden in Deutschland während des Mittelalters (1866; neue
Aufl. 1902); Vogelstein-Rieger, Rom = Geschichte der Juden in Rom, I—II
(Berlin 1895—1896); Wiener, Regesten = Regesten zur Geschichte der Juden
in Deutschland während des Mittelalters (Hannover 1862); ZGJD. — Zeitschrift
für die Geschichte der Juden in Deutschland, herausgegeben von L. Geiger,
Bd. i-v (1887-1892).
§ 2. (Die Albigenser in Frankreich und die Lateransynode vom Jahre 1215)
„Schebel Jehuda“, Anhang von Sanzolo, S. n3f. (cf. Graetz VI, Note 1);
Stern, Päpstliche Urkunden II, Nrn. 174, 176, 177, 187, 188; Aronius, Regesten,
Nrn. 346, 347, 3q5; Epistolae Innocentii III, ed. Baluz II, p. 33, 123; Mansi,
Sacrorum Conciliorum Collectio XXII, io54f.; Hefele, Konziliengeschichte V,
899, 942, 1144; Graetz VII, 4—20; Bernfeld, Martyrologium I, 262 f. (Klage-
lied über das Judenzeichen); Lea, Inquisition I, passim; Scherer, 4i—45; Lucas,
Innocent III. et les juifs (REJ., t. XXXV, p. 247 et suiv.); Robert, Les signes
d’infamie au moyen-äge, Paris 1889; idem, La roue des juifs depuis le XIII.
siede (REJ., t. VII, 81—p5; t. VIII, 94—102); Saige, Les juifs de Languedoc,
19 et suiv. (Paris 1881); Regnö, Narbonne (REJ., t. LVIII, p. 207—209);
Singermann, Über Judenabzeichen (Berlin 1915); Newman, Jewish influence on
Christian reform movements, New-York 1926 (vgl. REJ., t. LXXXII, 1926:
Alphandery, Sur les Passagiens).
§ 3. (Frankreich unter Ludwig dem Heiligen)
Lauriere, Ordonnances der rois de France, t. I, p. 35—37, kh, 53, 54, 75, 85;
Robert, Catalogue des actes relatifs aux juifs pendant le moyen-äge (REJ. III,
211—216); Loeb, Bulles inädites des papes (REJ. I, 116); Bouquet-Delisle,
Recueil des historiens de France, t. XXIV, pp. 9—11, 76, 82, i5i, 189 et
passim (Paris 1904,* S. Index s. v. Judaeus); Renan-Neubauer, Rabbins, 558—562;
Stern, Päpstliche Urkunden, Nrn. 192, 196, 197, 202, 209; Saige, Juifs du
Languedoc, 23, 2Ö, 38—4o, 44, 61; Regnö, Narbonne (REJ., t. LVIII, p. 81,
208; t. LIX, p. 60—64); Neubauer, Ghronicles II, 2Öi (cf. REJ., t. XXXII,
p. 129); Kahn, Juifs de Beaucaire (REJ., t. LXV, p. i85; t. LXVI, p. 75—80);
Groß, Gallia Judaica, p. 423 et passim; Lavisse-Langlois, Histoire de France,
t. II, passim; Scherer, Österreich 94—100; G. Caro I, 364—390.
§ 4. (Die Disputationen und die Verbrennung des Talmud)
„Milchemeth Choba“: Sammlung von Berichten über die Disputationen der
Kimchiden, des Ramban und anderer, Konstantinopel 1710; Wagenseil, Tela ignea
satanae (Altdorf 1681; unter den antichristlichen Schriften ist auch die Dis-
putationsrede des R. Jechiel aus Paris angeführt); Graetz VI, Note 7: Nathan
Official; idem VII, Note 5; Zadoc Kahn, Etüde sur le livre de Joseph le Zelateur
(REJ. I, 222; III, 1 et suiv.); Loeb, La controverse de i24o sur le Talmud (ibid.,
t. I, II, III; cf. I, 293); idem, Polemistes chrätiens et juifs en France et en
Espagne (ibid. XVIII, 43 seqq.); Renan-Neubauer, Rabbins, 475—482; Darmsteter,
L’autodafä de Troyes (REJ. II, 199 seqq.); Stern, Päpstliche Urkunden, II,
Nr. 2o5 f. (das Protokoll des Ritualmordprozesses vom Jahre 1247 in Valreas);
5o5
Bibliographie
Bernfeld, Martyrologium I, 3c>7 f. (das Klagelied über die Talmudverbrennung),
335 f. (Klagelieder über das Autodafe in Troyes); Levi, Les juifs et l’inquisition
dans la Franke meridionale, Paris 1891 (auch REJ. XXIII, i5o).
§ 5. (Philipp IV. und die Vertreibung im Jahre i3o6)
„Emek habacha ‘ W. 46, 180, 181; Lauriere, Ordonnances etc. I, 317, 333
et passim; Bouquet, Recueil t. XXI, 27 etc.; Luce, Gatalogue des documents du
tr6sor des chartes (REJ., t. II, 15—72); Robert, Gatalogue des actes etc. (ibid.
III, 216—224); Saige, Juifs de Languedoc, 87—103, 211—243; Regnö, Narbonne
(REJ., t. LIX, p. 64—81); Loeb, Les juifs de Paris en 1296—1297 (ibid. I,
61—71); L. Kahn, Les juifs ä Paris depuis le VI 's., Paris 1889, chap. II—III;
Hefele, Konziliengeschichte VI, 177; Lavisse-Langlois, Histoire de France III,
passim; Kayserling, Die Juden in Navarra, S. 3i—35 (Berl. 1861).
SS 6—8. (England im XIII. Jahrhundert)
„Emek ha’bacha“ W. 41—44^ 176—177; Tovey, Anglia Judaica (1738); Jacobs,
The Jews in Angevin England (1893); idem, in Jew. Enc. V, 164—167; Graetz
VII, 110, 176, i83 u. Note 11; Rigg, The Jews of England in the XIII Century
(JQR. XV, 1903); Abrahams, The expulsion of the Jews from England (ibid.
1894—1895); Hyamson, History of the Jews in England, 5o— io5 (London 1908);
Scherer, Österreich, 88—93; G. Caro I, 343—47; II, 3—68; Guttman, Die Be-
ziehung des Duns Scotus zum Judentum (MS. 1894, Bd. XXXVIII, S. 26—39).
S 9. (Kastilien zur Zeit der Reconquista)
Jacobs, Sources, passim; Rios, Historia, t. I, cap. 8—10; t. II, cap. 1; Graetz
VII, i3, 114, i4o; Stern, Päpstliche Urkunden II, Nrn. 175, 177, 179, 180,
186, 193, 201; Loeb, Nombre des juifs de Gastille (REJ., t. XIV, p. 161 seqq.);
G. Caro II, 237—264,* Kayserling-Jacobs, Spain in Jew. Enc. XI, 489—490;
Steinschneider, Übersetzungen, S. 977—980.
S 10. (Aragonien unter Jakob I.)
Regne, Catalogue, Nrn. 1—657 (REJ., t. LX—LXII, Paris 1910—1911);
Bofarul y Sans, Los Judios en el territorio de Barcelona (Barcelona 1911);
Jacobs, Sources, S. 9—44; Stern, Päpstliche Urkunden II, Nrn. 181—185; Tour-
toulon, Jaime I. le Conquerant, Paris 1863; Baer, Studien zur Geschichte der
Juden im Königreich Aragonien während des XIII. und XIV. Jahrhunderts (Berlin
1913), passim; idem in „Debir“ II, 310 ff. (Berlin 1924); Kahn, Documents
inedits sur les juifs de Montpellier (REJ., t. XIX, 22 f.).
S 11. (Die autonome Aljama)
Regne, Catalogue 1. c. Nrn. 6, 12, 29, 3i, 92, i33, 160, 203, 257, 27b,
276, 317, 343, 355, 398, 445, 446, 520, 552 u. sonst.; Baer, op. citi S. 88—126;
Jacobs, Sources, passim; Jew. Enc. I, 4oo— 4oi: „Aljama“; Vidal, Les juifs de
Roussillon (REJ. XV, 24—28).
5o6
Bibliographie
§ 12. (Die Disputation in Barcelona)
Wagenseil, Tela ignea satanae (1681): die Disputationsreden des Ramban mit
lateinischer Übersetzung; „Wikkuach ha’Ramban“ in der Sammlung „Milchemeth
Choba“ (oben, zu § 4) und die neue Ausgabe von Steinschneider, Stettin 1860;
De-Lattes, Schaare Zion, ed. Buber, i885, S. 45; Koback, „Jeschurun“ 1868,
Bd. VI, i—34: ein Brief von R. Jacob ben Eliahu an Pablo Ghristiani (Vgl.
Mann, Une source de l’histoire juive au XIII s., REJ., 1926, t. LXXXII); Regne,
Catalogue 1. c. Nrn. 207, 209, 212, 215—217, 249, 262, 3i8, 323, 324, 386;
Graetz VII, 120—126; Graetz-Schefer V, 122—127; Loeb, La controverse de
1263 ä Barcelone (REJ., t. XV, p. 1—18); Renan-Neubauer, Rabbins, 562—569.
S i3. (Aragonien gegen Ende des XIII. Jahrhunderts)
Regne, Catalogue Nrn. 658-2635 (REJ., t. LXIII-LXVII, LXIX-LXX,
1912—1920); „Teschuboth ha’Raschba“ (Responsen des S. b. Adret aus den Jahren
1270—1310, in sechs Bänden, ed. 1516—1906, passim); Perles, Salomo ben
Addereth, Breslau i863; Baer, op. cit. passim; idem in ,,Debir“ II, 3nf£.;
Epstein, The „Responsa“ of R. Salomon ben Adreth, as a source to the history
of Spain, London 1925; Saige, Juifs de Languedoc, 92—102, 3o8—319; Vidal,
JLes juifs de Roussillon (REJ., t. XV, 28—49); Kahn, Les juifs de Montpellier
(ibid., t. XIX).
§ i4- (Die Maimonisten und ihre Gegner)
„Iggereth ha’Ramban“, Warschau 1876, S. 31—60; Abraham Maimonides,
Milchamoth Adonai, Hannover i84i; „Ozar Nechmod“ II, 70, 170f. (Wien 1857);
Moses von Coucy, Sefer Mizwoth Gadol I, S 3 (Venedig iÖ22); Graetz-Schefer V,
Kap. 2 und Note 1; Guttman, Guillaume d’Auvergne et la litterature juive (REJ.
XVIII, 2 43 f.).
§ i5. (Der Rabbinismus)
Weiß, Dor dor we’dorschow, Bd. V,, Kap. 1, 3, 6 (Wien 1891); Groß,
Gallia Judaica, passim (s. Index nominum); Graetz-Schefer V, Kap. 2 und 5;
Perles, R. Salomo ben Addereth, Breslau i863; Renan-Neubauer, Rabbins, passim;
Epstein, The „Responsa“ etc.
S 16. (Die Philosophie des XIII. Jahrhunderts)
Renan, Averroes et l’averroisme, 219—277 (Paris 1861); Renan-Neubauer,
Rabbins, 58o— 599, 628—647; Lavisse-Langlois, Histoire de France, passim; Gutt-
man, Verhältnis des Thomas von Aquino zum Judentum, Göttingen 1891; Güde-
mann, Das jüdische Unterrichtswesen in Spanien, i55—158 (Wien 1873); Jakob
Anatoli, Malmad ha’talmidim (ed. „Mekize Nirdamim“, Lyck 1866); „He’chaluz“,
Bd. IV und VI (Fragmente aus den Werken des Albalag); Steinschneider, Hebr.
Übersetzungen, SS 166—171 (über Albalag); Graetz-Schefer V, Kap. 7; Groß,
Gallia Judaica, 199, 465 (Levi b. Abraham etc.).
S 17. (Der Kampf gegen die Philosophie)
Abba-Mari de Lunel, Minchath Kenaoth (Preßburg 1838); „Teschuboth
ha’Raschba“ I, Nrn. 4i5—4i8; Renan-Neubauer, Rabbins 647—728; Steinschneider,
507
Bibliographie
Hebr. Übersetzungen, §§ 312, 383—386; Graetz-Schefer V, 215—232; Weiß,
Dor dor we’dorschow Y, Kap. 4; Saige, Juifs de Languedoc, 92—102, 3o8—319:
Zinberg, Der Kampf gegen den Rationalismus („Jewrejskaja Sstarina“, X, Peters-
burg 1918, russ.).
SS 18—19. (Die Kabbala und der „Sohar“)
A. Jellinek, Beiträge zur Geschichte der Kabbala, Leipzig i8Ö2; idem, Moses
de Leon und sein Verhältnis zum Sohar, Leipzig i85i; idem, Auswahl kabbalisti-
scher Mystik, Leipzig i853; idem, „Sefer ha'Oth“ des Abraham Abulafia, in
Graetz’ Jubelschrift „Atereth Zewi“, Berlin 1887; A. Zacuto, Jochassin 88 f.
(Lond. 1857); Graetz-Schefer Y, 177—204 und Note 12; Leon Modena, Ari
nohem, ed. Fürst, Leipzig i84o; S. D. Luzzato, Wikkuach al chachmath ha’kabbala
(Warsch. 1913, „Tebuna“); Weiß, Dor we’dorschow V, Kap. 2; Günzig, Abra-
ham Abulafia (Sammelbuch „Ha’Eschkol“, Bd. V, Krak. 1905); Joel, Die Reli-
gionsphilosophie des Sohar, Leipzig 1849; Neumark, Geschichte der jüdischen
Philosophie des Mittelalters, Bd. I, 195, 236 (Berl. 1907); G. Scholem, in
„Maddae ha'jahaduth“ I, 16—29, Jerusalem 1926 (Einleitung zu Vorlesungen
über den „Sohar“).
S 20. (Deutschland unter Friedrich Hohenstaufen)
Aronius, Regesten Nrn. 379—581; ibid. Nrn. 458 u. 771: Sachsen- und
Schwabenspiegel; Höniger, Zur Geschichte der Juden Deutschlands im Mittel-
alter (ZGJD. I, 137—151); Stobbe, Deutschland, S. 12—14, 27, io3f.;
Graetz VII, 85—90, 100—io5; Scherer, Österreich, 60—61, 76—78; G. Caro I,
4o8—4i2, 423, 426—443; Stern, Päpstliche Urkunden II, Nr. 191; Hefeke,
Konziliengesch. V, 9Öi, 1027 (1878).
$ 21. (Die Ritualmordlüge)
Aronius, Regesten Nrn. 4i3, 474, 497, 629, 53i, 539, 556, 568; Stern,
Päpstl. Urkund. II, Nr. 210; idem, Die Blutbeschuldigung in Fulda (ZGJD. II,
194—199)', Br esselau, Juden und Mongolen im Jahre I24i (ibid. I, 99—102);
Kracauer, Geschichte der Juden in Frankf. a. M., Bd. I, 5—9 (Frankfurt 1925);
Zunz, Synagogale Poesie, 29 f. (1920); Salfeld, Martyrologium, S. 120 f., 317L;
Bernfeld, Martyrologium I, 265 f., 273, 286 f., 295 f.
$ 22. (Das Interregnum von 1254—1273)
Aronius, Regesten, Nrn. 582—770; „SchwabenspiegeV1, ibid. Nr. 771; Hefele,
Konziliengesch. VI, 63; Stobbe, 19—27, 89—92; G. Caro II, 116—118; Graetz
VII, i35—137; Güdemann, Zur Gesch. d. Jud. in Magdeburg, 9—12 (1866);
Weyden, Geschichte d. Jud. in Köln, i46—156 (Köln 1867); Zunz, Synagog,
Poesie 3i f.; Landshut, Amude ha’aboda, S. 100, i32; Salfeld, Martyrologium.
128 f.; Bernfeld, Martyrologium I, 316—329.
§ 23. (Deutschland unter den Habsburgern)
Wiener, Regesten S. 9—21; Böhmer, Fontes rerum germanicarum (ed. i843
bis i853), Bd. II, 19, 3o—39, 144 f•; König, Annalen der Juden in Preußen
5o8
Bibliographie
19— 26 (Berl. 1790); Graetz VII, 170—175, 23o—233, 244 u. Note 9; Stobbe,
20— 27, 46—49, i64, 184—187, 282—283; G. Caro II, 118—i32; Scherer,
Österreich, 79, 339, 349; Hoff mann, Der Geldhandel d. deutschen Jud. bis zum
Jahre i35o S. 178—217 (Berl. 1910): Auszüge aus den Responsen des R. Meir
Rothenburg; Back, R. Meir aus Rothenburg (Frankf. 1895); Wellesz, Meir b.
Baruch de Rotenburg (REJ., t. LXI, p. 49—55); Salfeld, Martyrologium 29 f.»
i64f., 34i f.,* Bernfeld, Martyrologium II, 4i—59 (Klagelieder über die Ver-
folgungen durch Rindfleisch).
S 2 4« (Österreich, Böhmen und Ungarn)
Aronius, Regesten, Nrn. 509, 547, ^97, 6o3, 724—725, 731; Bondy-Dworsky,
Böhmen, Bd. I, Nrn. 24—45; Friss, Monumenta Hungariae Judaica, t. I, Nrn.
8—32 (Budapest 1903); Hefele, Konziliengesch. Bd. VI, 100—106, 190, 197;
Scherer, Österreich i3o—355 (eingehende Darstellung); Schwarz, Das Wiener
Ghetto (W. 1909); Brann, Gesch. d. Jud. in Schlesien I, 6—2 5 (Breslau 1896);
Bergei, Gesch. d. ungar. Jud. (1879); Hoffmann, Der Geldhandel etc., 171
bis 178, 217—224 (Auszüge aus den Responsen des „Or-Sarua“).
S 2 5. (Die Gemeinden und der Rabbinismus)
Aronius, Regesten, Nrn. 42 3, 553, 574, 581; Scherer, 2 54—260; Graetz VII,
21, 102; Finkeistein, Jewish Selfgovernment in the middle ages (New-York 1924,
Jew. Theologie. Seminary), pp. 56—81, 218—2 04; Güdemann, Ha’thora we ha’-
chaim I, 118, 200, 2i4f- — Das rabbinische Schrifttum: „Teschuboth Or-Sarua“,
Schitomir 1862 — Jerusalem 1887; „Teschuboth R. Meir me’Rotenburg“, Lem-
berg 1860 — Berl. 1891; Weiß, Dor dor we’dorschow V, Kap. 2, 6, 7, 8;
Wellesz, Meir de Rotenburg, REJ., t. LVIII—LXI (1909—1911); Tykocinski, Die
Lebenszeit des Isaak Or-Sarua (MS. 1911, 478 ff.).
S 26. (Der Antirationalismus, die Martyrologien)
Moses Tako, Ketab tamim (Sammelwerk „Ozar nechmad“, Bd. III, Wien
1860); Graetz-Schefer V, i5o—IÖ2; Zunz, Syn. Poesie, 27—36; Landshut, Amude
ha’aboda, passim; Berliner, Kobez al jad, Bd. III—IV (Berl. „Mekize Nirdamim“,
1887 f.); Salfeld, Martyrologium, passim; Bernfeld, Martyrologium II, 4i f-‘ Süs-
kint der Jude von Trimberg, Minnenlieder, Berl. 1926 (Soncino-Gesellschaft); vgl.
Aronius, Regesten Nr. 397 und die dort angeführte Literatur sowie die Ab-
bildung in Jew. Enc. t. XI, 6o5.
SS 27—29. (Rom und Süditalien)
Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter, Bd. V, passim (1892);
Berliner, Rom II, 35—58; Vogelstein-Rieger, Rom I, 357—421; Güdemann, Ha’-
thora weha’chaim II, passim; Lagumina, Codice diplomatico dei Giudei di Sicilia,
Bd. I, Nrn. 16—33 (Palermo i884); Strauß, Die Juden im Königreich Sizilien
unter Normannen und Staufern (Heidelberg 1910); Zunz, Zur Geschichte und Li-
teratur, S. 484—488 (Berl. i845); idem, Literaturgeschichte der synagog. Poesie,
S. 25 (Berl. i865); W. Cohn, Das Zeitalter der Hohenstaufen in Sizilien, S. i38ff.
(Berl. 1825).
509
-rrnrrr—rnTiffrrririrUMi 1 inum in11111 IHjWTrf1TilTiriTfTimilUllfinniiiwiiii 11 illillUWllllf11
Bibliographie
§ 3o. (Polen als Kolonie Deutschlands)
„Russko-jewrejskij Archiv”, ed. Berschadski, .Bd. I, Nr. i (Petersburg 1882);
Hube, Constitutiones synodales provinciae Gneznensis, p. 68—71, 159—161 (Peters-
burg 1856); Aronius, Regesten Nr. 724; Sternberg, Geschichte d. Jud. in Polen
(1878); Graetz-Schefer V, 187 f.; Schipper, Studja nad stosunkami gospodarczymi
zydöw w Polsce podczas sredniowiecza, Lemberg 1911; Responsen des R. Meir
Rotenburg, Bd. III, Nr. 112 und „Or-Sarua“ I, Nr. n3 (Zitat aus R. Eleieser
v. Böhmen); Brann, Geschichte der Juden in Schlesien, S. 24—26, 32—33 (Bres-
lau 1896).
§ 3i. (Byzanz und Rußland)
Über Byzanz: Stern, Päpstl. Urkunden II, Nrn. 198—200; über Theodoros I.:
Köbach, Ginse nistaroth (1869) und „Jeschurun“, 1868 (Brief an Pablo Chri-
stiani); vgl. Krauß, Studien zur byzantinisch-jüdischen Geschichte, 53—55 (Wien
1914). — Rußland und die Krim: Regesten und Inschriften I, Nrn. 177, 178
(Petersh. 1898, russ.); Güdemann, Ha’thora weha’chaim I, 83—89; Graetz-
Schefer V, 263 f.; Dubnow in „Jewrejskaja Sstarina“ 1914, S. 7 (russ.).
§§ 33—35. (Kastilien im XIV. Jahrhundert)
„Schebet Jehuda” Nr. 10; „Emek ha’bacha“ W. 54; Neubauer, Ghronicles I,
97—98, 109—110; S. Alami, Iggereth ha’mussar, ed. Jellinek. Leipzig 1854;
spanische Chroniken: Zuniga (Anales de Sevilla), Zurita (Anales de Aragon) und
Ayala (Chronicas de Don Pedro, Don Juan I, Enrique III) zitiert nach Rios,
Historia II, Kap. 2, 4 u. 6; Lea, Spain I, 94— io3; Jacobs, Sources, passim;
Graetz VII, 2Öof., 286—296, 352—372 u. Note i3; idem, VIII, i5—22; Kayser-
ling, Les juifs dans le royaume de Leon (REJ., t. XXXVII, S. 187 et suiv.).
§ 36. (Aragonien, Navarra, Portugal)
„Schebet Jehuda(<, Nr. 6; „Emek habacha” W. kg, 51 f.; Neubauer, Chro-
nicles II, 243—2 45; Graetz VII, 256, 284—285, 332, 35o; idem VIII, 42—47;
Zurita, Anales de Aragon, zitiert nach Rios, Historia II, cap. 3 u. 5; Jacobs,
Sources 45—65 et passim; Regne, Catalogue (REJ. 1922—1924, Bd. LXXIII,,
LXXV, LXXVI, LXXVIII); Lea, Spain I, 94, 100 f.; Baer, Studien zur Gesch.
d. Jud. im Königreich Aragonien (Berl. 1918); Kayserling, Gesch. d. Jud. in
Navarra etc. (Berl. 1861), Kap. 3; idem, Gesch. d. Jud. in Portugal, S. 1—89
(1867); Vidal, Les juifs de Roussillon etc. (REJ., t. XV, p. 46—58). Der aus
dem Jahre i354 stammende Entwurf zum Statut des Gemeindeverbandes ist ver-
öffentlicht von: Schorr, im „He’chaluz“, Bd. I, S. 20 f. (Lemberg i85i) und
von Finkeistein, Jewish Selfgovernment, S. 328 f. (New-York 1924)-
§ 37. (Der „Heilige Krieg“ vom Jahre 1891)
„Schebet Jehuda“ Nrn. 27, 45, 47, 48; Ch. Grescas, Ketab al ha’geseroth,
ibid. S. 128—i3o; Zacuto, Jochassin, Kap. 4; Neubauer, Chronicles I, 98, 110;
Ayala, Cronica de Enrique III, ano 1891; Rios, Historia II, Kap. 7; Graetz
VIII, 53—65 u. Note i5; Lea, Spain I, io3—110.
5io
§ 38. (Der Rabbinismus und die Philosophie)
I. De-Lattes, Schaare Zion, ed. Buber 1885; Weiß, Dor dor we’dorschow V,
Kap. 12—16; Graetz-Schefer V, 277—289, 332, 338; VI, 28, 3i—36, 92—96,
4oi—4io; Kodex „Turim“, die ersten Ausgaben: Venedig IÖ22 u. i55o bis
i5Ö9 (vier Bände); „Teschuboth R. lzchak b. Schescheth“, ed. Konstantinopel
i547; Ghasdai Crescas, Or Adonai, ed. Wien 1860; Güdemann, Das jüdische
Unterrichtswesen während der spanisch-arabischen Periode, 172—179 (Wien 1873);
Steinschneider, Hebr. Übersetzungen, §§ 4—6; Joel, Ghasdai Crescas’ Religions-
philosophie (Breslau 1886); Kayserling, Ha’sephardim, Kap. 2 (Sammelwerk
„Ha’assif“ IV, 10—20: über Santob de Carrion); Atlas, Ha’Ribosch u’bne doro
(Sammelwerk „Ha’kerem“, Warsch. 1887).
§§ 39—40. (Die Rückkehr nach Frankreich und die Vertreibung im Jahre i3g4)
Ordonnances des rois de France, t. I, p. 488, 571, 6o4, 646, 682; III, 351,
352, 467-469, 471-472; IV, 139, 439; V, 167, 168; VI, 44, 339, 439,
519, 563; VII, 169—171, 643, 675 (Paris 1849). ~ „Schebet Jehudact, Nrn. 6,
24—20, 43; „Emek ha’bacha“ W. S. 46 f., 181 f.; Saige, Les juifs du Langue-
doc, p. 103—107, 33o—334; L. Kahn, Les juifs ä Paris depuis le VI. s. chap.
III (P. 1889); Graetz VII, 2Ö2, 258, 331; VIII, 4—9, 33—35, 65—70; Luce,
Les juifs sous Charles V. (Revue Historique, Bd. VII, 362 f.); Is. Loeb, Les
expulsions des juifs de France au XIV s. (Graetz’ Jubelschrift, Breslau 1887,
S. 39—56); G. Caro II, 91—116; Scherer, Österreich, 97—99, 260—266; Lavisse,
Histoire de France III, passim; Lazard, Les juifs de Touraine (REJ., t. XVII,
210—234); S. Kahn, Les juifs de Beaucaire (ibid., t. LXVI, 83—97); Regney
Narbonne (ibid., t. LIX, 80—89); ^ew• Enc• V, 461—464-
S 4i- (Die Überreste der französischen Judenheit im XV. Jahrhundert)
Prudhomme, Les juifs en Dauphine au XIV et XV ss. (Grenoble 1883);
Arnauld, Essai sur la condition des juifs en Provence au moyen-age (1879);
Gremieux, Les juifs de Marseille au moyen-äge (REJ., t. XLVI, 246—268);
Maulde, Les juifs dans les etats frangais du Saint-Siege (Paris 1886); idem in
REJ., Bd. VII—X; Bardinet, La condition civile des juifs du Comtat Venaissin
au XV. s. (REJ., t. VI, i—38; cf. ibid. I, 269—273); Graetz VIII, 388—392;
Groß, Gallia Judaica, S. 46, 78, 36g, 489—495.
§ 42. (Der Untergang der jüdischen Kultur in Frankreich)
De-Lattes, Schaare Zion (ed. Buber 1885); Graetz-Schefer V, 290—302; VI„
10—11, 37—39; Weiß, Dor we’dorschow V, Kap. 11 und 16; Groß, Gallia
Judaica, 67, 94, 467; Munk, Melanges de philosophie, 497— 5o3; Renan-Neu-
bauer, Les ecrivains juifs frangais (Histoire litt6raire de la France, t. XXXI,
Paris 1893, p. 477—547, 586—644, 666—681); Joel, Levi b. Gerson als Re-
ligionsphilosoph (Breslau 1862); Steinschneider, Hebr. Übersetzungen, 66—73,
91-94-
§ 43. (Deutschland: Ludwig der Bayer und die „Judenschläger“)
Wiener, Regesten, S. 25—5o, m—125, 219—222; Bondy-Dworsky, Böhmen.
I, Nrn. 51—92; Stobbe, Deutschland, S. i5—16, 28—32, 187, 188, 283,
Bibliographie
284; Graetz VII, 325—327; Scherer, Österreich, 356—3^3; Scheid, Histoire des
juifs d’Alsace, ii—18, 23—33 (Paris 1887); Ephraim, Histoire des juifs d’Alsace
depuis le milieu du XIII jusqu’ä la fin du XIV s/ (REJ., t. LXXVIII, p. 38—47);
Weyden, Gesch. d. Jud. in Köln, i65—186, 359—376 (Köln 1867); Kracauer,
Gesch. d. Frankfurter Juden, Bd. I, 18, 3o (Frankfurt 1925); Salfeld, Mar-
tyrologium, 67f., 236f.; Bernfeld, Martyrologium II, 79!.
S 44» (Der Schwarze Tod)
Böhmer, Fontes rerum germanicarum, Bd. III, 2Ö9f.; IV, 68 f., 272 f.
(i843—1868); Königshofen, Straßburger Chronik, ed. Schilter, S. 1021—io36
(1686); Hegel, Chroniken der deutschen Städte, Bd. II, 759—764: Straßburger
Chronik (1862); Ulrich, Sammlung jüdischer Geschichten aus der Schweiz, 94,
12 5, 157, 188 (1768); König, Annalen der Juden in den Preußischen Staaten
(1790); „Emek habacha“ W., 53—54, 186—193; Graetz VII, 335—346; Höniger,
Der Schwarze Tod in Deutschland (Berlin 1882); Bondy-Dworshy, Böhmen etc. I,
Nrn. 110—116; Stobbe, 53, 92, 98, 188—191, 284—286; Scheid, o. c. 34—38;
Ephraim, o. c. 47—67; Weyden, Gesch. d. Jud. in Köln, 186—194, 677!.;
Kracauer, Gesch. der Frankf. Jud. I, 3i—4o; Steinberg, Studien zur Geschichte
d. Juden in d. Schweiz, 127—135 (Zürich 1903); Zunz, Syn. Poesie, 39—43;
Nohl, Der Schwarze Tod, eine Chronik der Pest, 1348—1720, Potsdam 1924
(Schilderung der konkreten Lebensverhältnisse mit Belegen aus alten Chroniken).
S 45. (Die zweite Hälfte des XIV. Jahrhunderts)
Wiener, Regesten, S. 127—159, 2i3—2i5, 223—236; Bondy-Dworshy, Böh-
men etc. I, Nrn. 98—109, 121—184; Friß, Monumenta Hungariae Judaica,
Nr. 46 f.; „Emek habacha“ W., 55, ig4; Stobbe, 22, 32, 55, 71—73; Graetz
VIII, 49—53, 85, 93, 101, i33—139, 190; Scherer, 3r][\— 4o2; Scheid, Alsace
5of.; Ephraim, o. c. 57 f.; Brann, Gesch. d. Jud. in Schlesien, 66—79 (Breslau
1901); Weyden, Gesch. d. Jud. in Köln, 194— 23i, 377 f.; Kracauer, Gesch.
d. Frankf. Jud. I, Kap. 2; Goldmann, Das Judenbuch der Scheffstraße zu
Wien (Wien 1908); Schwarz, Das Wiener Ghetto (1909); Eibenschütz, Docu-
ments sur les juifs de Wiener-Neustadt (REJ., tt. XXVIII—XXX); Wolf, Gesch.
d. Jud. in Wien, i3—16 (Wien 1876); Süßmann, Die Judenschuldentilgungen
unter König Wenzel (1907).
§ 46. (Die Hussitenkriege und die Reaktion)
Wiener, Regesten, S. 53—77, 167—196, 237—246; Bondy-Dworsky I, Nrn.
205—233; „Emek ha’bacha“ W., 58—61, 195—197; „Wiener Gesera“ in Gold-
manns Judenbuch der Scheffstraße (1908); Stobbe, 36, 86, 93, 175, 192, 2 4o,
288—291; Kerler, Besteuerung der Juden durch Siegmund und Albrecht II.
(ZGJD. III, 1—13, 107—129); Graetz VIII, i3o— 139; Kracauer, Gesch. d.
Frankf. Jud. I, Kap. 4; Weyden, Gesch. d. Jud. in Köln, 232—2 02, 391—396;
Scherer, Österreich, 4o3—421; Brann, Gesch. d. Jud. in Schlesien, 81—io4;
Schwarz, Das Wiener Ghetto: das Judenviertel bis zu seiner Aufhebung im Jahre
1421 (Wien 1909); S. Krauß, Die Wiener Geserah vom Jahre il\2i (Wien
1920); Friß, Mon. Hungariae Jud., Nrn. 118—119; Steinberg, Die Geschichte
der Juden in d. Schweiz, i42—i47 u. passim.
5l2
Bibliographie
$ 47* (Der Verfall der deutschen Gemeinden)
Wiener, Regesten, S. 78—104, 200—210, 2 47—2 02; Stern, Päpstl. Urkun-
den I, Nrn. 49, 52, 53, 55, 59, 62; Bondy-Dworsky, Böhmen, Nrn. 289—298;
Oelsner, Schlesische Urkunden zur Gesch. d. Jud., 33, 76—78 (1864); König,
Annalen d. Juden, 46—48; Gemeiner, Regensburger Chronik III, passim (1810);
Stobbe, 17—19, 48, 61, 62, 76—83, 291, 292; Gädemann, Gesch. d. Jud. in
Magdeburg, 20—26, 44, 45 (1864); Scherer, Österreich, 420—44o; Scheid, Hist,
d. juifs d’Alsace, 71—77; Brann, Gesch. d. Jud. in Schlesien, n5—149; Kracauer,
Gesch. d. Frankf. Jud. I, Kap. 5; Rosenberg, Beiträge zur Gesch. d. Jud. ln
Steiermark, Wien 1914 (Quellen zur Gesch. d. Jud. in Österreich, Bd. VI).
§ 48. (Das innere Leben und die Literatur in Deutschland)
Die Responsen der Rabbiner: Maharil, Isr. Isserlein: „Terumath ha’deschen“;
Israel Bruna, I. Weil; „Leketh joscher“ (ed. „Mekize Nirdamim“, Berlin 1903);
Wiener, Regesten, passim; Stobbe, 94—96, i4o— 148; Scherer, ii4, n5, 119,
241—249, 254—26o; Rosenberg, o. c. S. 11 f.; Güdemann, Ha’thora weha’chaim,
Bd. III, Kap. 1, 2, 6; Graetz-Schefer VI, 108—110, i38, i4i—i43, 237—240,
420—428; Weiß, Dor we’dorschow V, Kap. 22—24; Landshut, Amude ha’aboda
II, Beilagen 1—4; Zunz, Syn. Poesie, 36—53; Salfeld, Martyrologium, 73, 242 ff.;
Bernfeld, Martyrologium II, 100—181.
§ 49* (Der Missionsterror)
„Schebet Jehudat(, Nrn. 46, 49, 5o; „Emeh habacha“ W., S. 56, 57, 62;
„Secher Zaddih(e in Neubauers Ghronicles I, 98; Zacuto, Jochassin, Kap. 4, ge-
gen Ende; Rios, Historia II, Kap. 8 und 10; Graetz VIII, 73—86, 94—96, io5
bis 113; Lea, Spain I, 110—116; Jacobs, Sources, passim.
S 5o. (Die Disputation in Tortosa)
„Schebet Jehuda“, Nr. 4o; „Wikkuach Tortosa“ in Kobacks „Jeschurun",
Bd. VI, 45—55 (Bamberg 1868); Rodriguez de Castro, Biblioteca Espanola, t. I,
fol. 2o3 f. (das lateinische Protokoll); Graetz VIII, 113—129 und Note 3; Ad.
Poznanski, Le colloque de Tortose et de San Mateo, in REJ., Bd. LXXIV—LXXVI
(Paris 1922—1923; eine ausführliche Wiedergabe der Protokolle); Rios, Historia
II, Kap. 8; Lea, Spain I, 117!. Zur Quellenkritik s. Baer, Untersuchungen über
die Quellen des Schebet Jehuda, S. 38—47 (Berlin 1923).
S 5i. (Die Restauration in der Zeit von i4i5— 1454)
Stern, Päpstl. Urkunden I, Nrn. 18, 26, 39, 4o, 43; „Schebet Jehuda!',
Nr. 41; Rios, Historia III, Kap. 1—2; Graetz VIII, i4o—154, i83—185 und
Note 4; Kayserling, Das castilianische Gemeindestatut (Jahrb. f. Gesch. d. Ju-
den, 1869); Fernandez y Gonzalez, Ordenamiento ... de i432 (der spanische
und hebräische Originaltext des Statuts vom Jahre i432; Madrid 1886); /. Loeb,
Reglements des juifs de Gastille en i432 (REJ., t. XIII, 187!.; hebr. Über-
setzung im „Ha’assif“, Bd. III, Warschau 1887); Finkeistein, Jewish Selfgovern-
ment in the middle ages, Kap. XIII (New-York 1924).
33 Dnbnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. V
5i3
Bibliographie
$ 5 2 • (Bewegung gegen die Marranen)
Neubauer, Chronicles I, 99: „Secher Zaddik“; Stern, Päpstl. Urkunden, Nrn.
45, 5i, 56; Lea, Spain I, i2Ö—i3o, i48— 154; Bios, Historia III, Kap. .3;
Graetz VIII, 149—154, 190—192, 225— 237, 464 f-; Jacobs, Sources, passim.
S 53. (Portugal)
Kayserling, Geschichte der Juden in Portugal, S. 38—68 (Berlin 1867); Rios,
Historia, Bd. II, Kap. 6 und 9; Bd. III, Kap. 4; Graetz VIII, 64, I2Ö, 324f.;
„Schebet Jehuda“, Nr. 65.
S 54* (Der Untergang der jüdischen Kultur in Spanien)
Simon Duran, Kescheth u’magen (Livorno 1785); Profiat Duran, Al tehi
ka’abotecha, in Geigers „Melo Chofnaim“, Berlin i84o; „Schebet Jehuda“, Nrn.
7, 8, 29, 32, 4o, 4i, 64, 65, 67 (die Disputationen); Chaim ibn Musa, Magen
wa’romach, ed. Kaufmann in „Beth-Talmud“ II, 117 f.; „More Nebuchim“ mit
Kommentaren von Efodi, Schemtob und Abravanel, Warschau 1872; Albo, Sefer
ha'Ikkarim, Warschau 1877; Weiß, Dor we’dorschow, Bd. V, Kap. 17—21;
Graetz-Schefer VI, 89, 90, 163—182, Noten 1, 4, 8, 9; Loeb, Polemistes
chr6tiens et juifs (REJ., t. XVIII, 219L); Steinschneider, Hebr. Übersetzun-
gen, passim.
$ 55. (Die Inquisition in Spanien)
Llorente, Histoire critique de Tinquisition d’Espagne, t. I, passim (Paris 1817);
Lea, History of the Inquisition in Spain I, i55—183, 249 f.,* Rios, Historia III,
Kap. 5—6; Graetz VIII, Kap. i3 und Note 12; „Schebet Jehuda“, Nrn. 62, 64.
S 56. (Die Vertreibung aus Spanien)
Is. Abravanel, Vorwort zum Kommentar zu den Büchern der Könige, wieder-
gegeben in „Schebet Jehuda“, Nr. 51; ibid., Nrn. Ö2—58; Abraham Torrutiel,
Sefer ha’kabbala, in Neubauers Chronicles I, mf., sowie in dem Anhang von
Harkavy zu Graetz-Schefer VI, 19!.; Lattes, Likkutim: „Debe Eliahu“ von
E. Kapsali, S. 68 (Padova 1869); „Emek ha’bacha“ W., 65f. — Lea, Spain I,
i3i—142, und Appendix, 569—582, 587—611; Graetz VIII, 334—354, Noten 11
und 15; Graetz-Schefer VI, 354 f*; Loeb, Le Saint-enfant de la Guardia, Paris
1888 (auch in REJ., t. XV); Rios, Historia III, Kap. 6 und 8.
S 57. (Die Vertreibung aus Portugal)
„Schebet Jehuda“, Nrn. 59—62; Lattes, o. c. 73 f.; Zacuto, Jochassin,
S. 226 f. (ed. Filippowski, London); Abr. Torrutiel, o. c. Neubauer, Chronicles
I, 112 f.. und Harkavy, 20 f.; „Emek ha’bacha“ W., 67—71; Kayserling, Gesch.
d. Jud. in Portugal, 85— 13p; idem, Gesch. d. Jud. in Navarra etc., io5—110;
Rios, Historia III, Kap. 9; Graetz VIII, 356—388, Noten i3—14; Graetz-Schefer
VI, 379 f.
5i4
Bibliographie
§ 58. (Die römische Gemeinde im XIV. und XV. Jahrhundert)
„Emek habacha‘ TV., 49, i83—184; „Schebet Jehuda“ Nr. i4; Stern,
Päpstl. Urkunden I, Nrn. i4, i5, 19—21, 24—26, 29—31, 34— 4o, 44, 54,
60—64; Berliner, Rom II, 58—78; Vogelstein-Rieger, Rom I, 3oo—320; II, 1
bis 28; Gädemann, Kultur II, passim; Gregorovius, Gesch. d. Stadt Rom, Bd. VI
bis VII; Halberstamm, Takkonoth kadmonioth be’Bologna (Graetz* Jubelschrift,
Breslau 1887).
§ 59. (Oberitalien)
Stern, Päpstl. Urkunden I, Nrn. 16, 17, 3i, 4i, 42, 48; ,JEmek habacha TV.,
63—64, 198; Schiavi, Gli ebrei in Venezia e nelle sue colonie („Nuova Antologia“,
1893, passim); Ciscato, Gli ebrei in Padova, i3oo—1800, 12—32, 38—60, 68—70,
i32— i37, 229—245 (Padova 1901); Cassuto, Gli ebrei in Firenze nell* etä del
Rinascimento, i4f., 32 f., 39—42, 53—67, 36i—38o (Firenze 1918); idem, La
famille des Medicis et les juifs (REJ., t. LXXVI, p. i32— 145); Graetz VIII,
255—26i; Giidemann, Kultur II, Kap. 8; Scherer, Österreich, 596, 615, 643
bis 667 (über den Prozeß von Trient); Strack, Das Blut im Aberglauben der
Menschheit, 126—i3o (1900); Levi, Les juifs de Candie (REJ., t. XXVI, p.
198 ss.); Bernheim, Document relatif aux juifs de Negropont (ibid, t. LXV, p.
2249s.); D. Kaufmann, Contributions ä l’histoire des juifs en Italie (ibid. t. XX,
p. 34—35, 48—51); Krauß, 'Studien zur byzantinisch-jüdischen Geschichte, 83,
85, 95; die Artikel: Venice, Padua, Pisa, Ferrara, Grete in Jew. Enc.
§ 60. (Süditalien und Sizilien)
Terorelli, Gli ebrei nellTtalia meridionale (Archivio storico Napolitane, tt.
XXXII—XXXIII; Lagumina, Codice diplomatico dei Giudei di Sicilia, Vol. I bis
III (Palermo 1884—1895); Zunz, Gesch. d. Jud. in Sizilien (Zur Geschichte und
Literatur, 487—534); La. Lumia, Ebrei Siciliani, in Studi di storia siciliana. vol.
II, 1870; Güdemann, Kultur II, Kap. 9 u. Note 18.
S 61. (Die Literatur in der Epoche der Renaissance)
Immanuel ha*Romi, Machberoth (Lemberg 1870); Dubnow, Immanuel der
Römer (Woss’chod“ 1886, Heft 3—5, russ.); Krasny, Immanuel und Dante (ibid.
1906, Heft i—3, russ.); Cassuto, Dante und Manoello (Jahrb. f. jüd. Gesch. u.
Literat., 1921—1922, Berlin); Vogelstein-Rieger, Rom I, 42 1—425; II, 68 bis
74; Renan-Neubauer, Les ecrivains juifs frangais: Calonymos b. Galonymos etc.
(Histoire littöraire de la France, t. XXXI, p. 417—46o, 651—653); Gädemann,
Kultur II, Kap. 4—5; Weiß, Dor we'dorschow V, Kap. 25; Vogelstein-Rieger,
Rom I, 42 1—485; II, 68—74,* Berliner, Rom II, 119—122; Graetz VII bis
VIII, passim; Steinschneider, Hebr. Übersetzungen, 263, 33o, 499 etc.; Reggio,
Vorwort zu „Bechinath ha’dath“ des Elias Delmedigo (Wien i83o).
§ 62. (Polen unter Kasimir dem Großen)
Bandtkie, Jus Polonicum, p. 1—21 (Warschau 1831); Volumina Legum, s. a.
i347 (ed. Petersburg 1859, v°l* P- 22); Rassko-jewrejskij Archiv, Bd. I, Nr.
1 (Petersburg 1882, russ.); ibid. Bd. III, Nr. 1; Dlugosz, Historia Polonica,
s. a. 1357; Bielski, Kronika Polska I, 398, 4i4, 4i5 (Krakau 1856); Monumenta
33*
5i5
Bibliographie
Poloniae Historica, t. VI, p. 347, ^9° (Kronika Olivska etc.); Sternberg, Gesch.
d. Jud. in Polen, 07—65 (1878); Schipper, Studya nad stosunkami gospodarczymi
zydöw w Polsce podczas sredniowiecza, 63—66, 77—79, 106, n3, i33, IÖ2
(Lemberg 1911).
S 63. (Polen und Litauen unter Jagello und Witold)
Volumina Legum I, 35; Russko-jewrejskij Archiv I, Nr. 1; ibid. III, Nr.
2; Berson, Dyplomatarjusz dotyczacy zydöw w dawnei Polsce, Nr. 1 (Warschau
1910); Dlugosz, Historia Polonica s. a. i4o6—1407; Bielski, Kronika I, 5o8;
Berschadski, Die Litauischen Juden, K!ap. III (Petersburg i883, russ.); Perles,
Gesch. d. Jud. in Posen (MS. Bd. XIII, 281—288); Balaban, Dzieje Zvdow w
Krakowic I, 9— 3o (Krakau 1913); idem, in „Kwartalnik Historyczny“, Bd. XXV,
234—239 (Lemberg 1911); Schipper, Studya etc. 137—142, 329—334; idem in
„Jewrejskaja Sstarina“, IV, 102—106 (1911, russ.); Prümers, Der Hostiendieb-
stahl zu Posen im Jahre 1399 (Zeitschrift d. Hist. Gesellsch. für die Provinz
Posen, 1905, S. 293—317).
S 64* (Polen unter den ersten Jagellonen)
Bandtkie, Jus Polonicum, 19, 289 ss.; Volumina Legum I, 116—117; Russko-
jewrejskij Archiv I, Nrn. 3—4o; II, Nrn. 3—15; Schorr, Krakauer Kodex der
Judenstatute, „Jewrejskaja Sstarina“, Bd. I, 249 ff.; Bd. II, 81 f. (russ.);
Dlugosz, Hist. Pol. s. a. 1464; Bielski, Kronika II, 794, 893—894,* Wetstein,
Mi’pinkasse ha’kahal he’Krako, Nr. 1 (MS. 1900, Breslau); Berschadski, Lit.
Jud., Kap. IV; idem, In der Verbannung (Woss’chod, 1892, Heft I, russ.);
Harkavy, Vertreibung der Juden aus Kiew (ibid. 1900, Heft V, russ.); Graetz
VIII, Note 5, S. 431—435; Bloch, Generalprivilegien der polnischen Judenschaft
(Posen 1892); Perles, Posen, 1. c. 289—293,* Balaban, Krakow I, 3i—5o;
Schipper, Studya i48, IÖ2, 162—176, i85; idem, Kulturgesch. fun d. Jüden in
Polen beessn Mittelalter (Warschau 1926, jiddisch); Ringelblum, Zydzi w War-
szawie po rok 1527 („Nowe Zycie“, Nr. 3, Warschau 1924).
§ 65. (Krim und Rußland)
Regesten und Inschriften zur Gesch. d. russ. Juden, Bd. I, Nrn. i84—218,
russ.; Firkowisch, Ahne Sikkaron, passim (Wilna 1872); Harkavy, Alt jüdische
Denkmäler aus der Krim, 23o—232 (Petersburg 1876); idem, Galuth Kiow
(„Ha’mizpa“, Petersburg 1885); Kolli, Kaffa zur Zeit der Herrschaft der St.
Georgsbank (Simferopol 1911, russ.); Choker, Die Juden im genuesischen Kaffa
(„Jewrejskaja Sstarina“ 1912, Bd. V, S. 66 f., russ.); Hessen, Die Juden im
moskowitischen Reiche des XV—XVII. Jahrh. („Jewrejskaja Sstarina“ 1915, Bd.
VIII, S. iff.); Bruzkus, Sacharia, Fürst von Taman („Jewr. Sstar.“ 1918, Bd.
X, russ.); Panow, Die Ketzerei der Judaisierenden (y,Zeitschr. des Volksauf-
klärungsministeriums“, Petersburg 1877, russ*)j Golubinski, Geschichte der russi-
schen Kirche II, passim (russ.); Zinberg, Abraham aus der Krim und Moses aus
Kiew (Jewr. Sstar., 1924, Bd. X, S. 93—111, russ.).
S 66. (Das neue Zentrum in der Türkei)
Lattes, Likkutim schonim; Elias Kapsali, Debe Elijahu (Padova 1869); Sambari,
Dibre Joseph (Neubauers Chronicles I, i38, i53); Jellinek, Kuntros tatnaw, An-
5i6
Bibliographie
hang: das Sendschreiben des Isaak Zarfati (Leipzig i854); Graetz-Schefer VI,
24o—2 43, 3oo— 307, 428—438; Rosanes, Dibre jeme Israel be’Togarma, Bd. I,
Kap. i—3 (Hussjatin 1907); Franco, Essai sur l’histoire des isra61ites de Tempire
Ottoman, 27—38 (Paris 1897); Zinberg, Die Aufklärer von Konstantinopel
(„Jewrejskaja Mysl“, Bd. II, S. 164—179, Petersburg 1926, russ.).
§ 67. (Ägypten und Palästina)
Macrizi, Histoire des sultans Mamelouks, t. I, 2e part., p. i53—154 (ed.
Quatremere, Paris i84o); Mjednikoff, Palästina seit d. Zeit d. arab. Eroberung
etc., Bd. II, i34i f., i368f. (Auszüge aus Al-Nuwejrij und Ibn-Nakkasch, Peters-
burg 1903, russ.); Lane-Poole, History of Egypt in the middle ages, passim
(London 1901); Sambari in Neubauers Ghronicles I, 116—137; Lunz, Jeruscha-
laim, Bd. I, 166—219; Bd. II, 1—32; III, 72—86 (Jerusalem 1882, 1887,
1889); ßrißfe des Obadja Berlinoro im Jahrb. für Gesch. d. Jud. III, 195—224
(Lpz. 1863); Graetz-Schefer VI, 3o3—307, 43o— 43i; Munk, Palestine, 644 f-
(Paris i856); Carmoly, Itineraires de la Terre Sainte du XIII—XVII s. (1847).
5l7
Namen- und
Aaron ben Joseph, Karäer — 2 2 4-
Abba-Mari Jarchi (aus Lunel) — 129 ff.,
I^9-
Aberglaube — 47 f-, 5o, 168 f., 174 f.,
209, 298, 432 f.
Abner-Alfons aus Burgos — 287 f.
Aboab, Isaak — 4o4, 4o6.
Abraham ben Chisdai — n3.
Ahravanel, Isaak — 375 f., 385, 398,
4o3, 4o5.
Ahravanel, Juda — 376.
Abravanel, Samuel — 2 44 f-, 260, 376.
Absonderung — 12, 21 f., 77, 170,
181, 190, 199, 219.
Abudraham, David — 266.
Abulafia, Abraham — i44f», IÖ2
(Anm.).
Abulafia, Meir — nof., i43.
Abulafia, Samuel Halevi — 238 f.
Abulafia, Todros — 143, 147.
Abzeichen (Sondertracht) — 12, 2if.,
32, 5o, 61, 68, 77, 83, 99, 170,
181, 187, 198, 204, 219, 251, 255,
279, 3i4, 424, 436, 485.
Adrianopel — 478 f.
Afendopolo, Kaleb — 482.
Ägypten — 483 ff.
Akademien — s. Jeschiboth.
Akko - 488 f.
Alami, Salomo — 2 45.
Albalag, Isaak — 126 f., 386, 448.
Albertus Magnus — 45, 106, 122, 447-
„Albigenser“ — 17 ff.
Albo, Joseph — 353 f., 382 f.
Albrecht I. v. Habsburg, Kaiser —
176 f., 182 f.
Albrecht II., öster. Herzog — 298!.,
3o6.
Albrecht V., öster. Herzog — 320 f.
Sachregister
Aldabi, Meir — 270.
„Alenu“-Gebet — 341.
Alexander (Litauen) — 470 f.
Alexander IV., Papst — 201.
Alexander VI., Papst — 4*i-
Alexandrien — 486.
Alfachar, Jehuda — mf.
„Alfaquimen“ (Übersetzer) — 84, 98.
Alfons III. (Aragonien), — 100 f.
Alfons X., der Weise (Kastilien) —
76 f.
Alfons XI. (Kastilien) — 234 f.
„Alfonsinische Tafeln“ — 78.
Al-Ghazali — 126, 292.
Alguadez, Meir — 346 f.
„AJjama“ — 87 f., 249, 362.
Alkonstantini, Bachiel — 109 f.
Allatif, Isaak — 143 f.
Allegorismus — 128 f., i3i, i35, i5o,
214*
„Almojarifen“ — 78 f., 232 f., 247-
Anatoli, Jakob — i23f., 210.
Anawim (Dei Mansi), Familie — 209.
Antimaimonisten — s. Maimonisten.
„Anussim“ — 263, 365 f., 4n f-
S. Marranen, Tauf zwang.
Apologien — 37 f., 97, 117, 119, 248,
343, 377 f., 447* S. Disputationen.
Araber — s. Mauren.
Aragonien — 56, 81 f., 249 f-, 261 f.,
353 f., 387 f., 3p5 f.
Arama, Isaak — 385.
Arbuez, Pedro (Inquisitor) — 3q5f.
Aristotelismus — 106 f., 123 f., 208,
290!. S. Maimonisten, Rationalis-
mus, Religionsphilosophie.
Arles — 285 f.
„Armleder“ — 297!.
Ärzte, jüdische — 2 4, 78, 84, 202,
5l8
Namen- und Sachregister
25o, 279, 364, 417 f- (Rom), 420,
437, 472.
Ascher ben Jechiel — s. Rosch.
Aschkenasim — 481.
Asriel (Kabbalist) — i42.
Assimilation — 245, 203 £. S. Marra-
nen, Renegaten, Mischehen, Namen.
Astronomie und Astrologie — 78 f.,
290.
Astruc Halevi — 353.
Augsburg — 321 £.
Aussätzige, Verleumdung durch — 276 f.
Auswanderung — s. Emigration.
Autodafe — 392 f. S. Inquisition, Tal-
mudverf olgungen .
Autonomie — i3, 86 f. S. Gemeinde-
verbände, Gemeindeverfassung, Ge-
richtsbarkeit.
Averroes — 121 f., 290, 292, 446.
Avignon — 24, 287 f., 290.
Avila — i4tf, 248, 35o, 402.
Bacharach — 174.
Balearen — s. Mallorca.
Banken — 423 f. S. Kreditgeschäfte.
Barcelona — 82, 92 f., i34f., 2Öo,
261.
Barone — s. Feudalismus.
Baschizi, Elias — 482.
Bayern — 175 f., 295 f., 3o6.
Bederesi, Jedaja — iS'] f.
Bela IV. (Ungarn) — 186.
Benedikt XII., Papst — 298.
Benedikt XIII., Gegenpapst — 2 48,
347, 352 f., 359, 419.
Benveniste, Abraham — 361 f.
Benveniste, Isaak — 83.
Benveniste, Joseph — 2 34 f.
Benveniste, Vidal — 353 f.
Benveniste de Porta — 84*
Bern — 3o2.
Bernhardin da Siena — 429 f.
Bernhardin de Feltre — 43of., 434-
Bertinoro, Obadja di — 490.
Beziers — 18.
Bibelkommenlare, Bibelexegese — 117,
224, 385, 447, 482.
„Birchath ha’minim“ — 238, 247, 342.
S. Renegaten.
Bischöfliche Jurisdiktion — 33 f., 83,
io4, i54f-, i65f., 207.
Blutbeschuldigung (Päpstl. Bulle) —
161, 179 f., 217. S. Ritualmord-
prozesse.
Böhmen — 179 f., 317 f.
Boleslaw von Kalisch — 2i5f., 453.
Bologna — 418.
Bonifazius VIII., Papst — 49, 202 £.
Bonifazius IX., Papst — 4*7-
Bordeaux — 36, 276.
Botarel, Moses — 386 f.
Brandenburg — 174, 3o6.
Brescia — 422, 43o.
Breslau — 180, 218, 3o6, 326 f.
Brest (Litauen) — 462, 470.
Bruno, Israel — 329 !., 338 f.
Buchdruckerkunst — 4o6, 451.
Buda (Ofen) — 187.
Bürgerschaft, christliche — 12, i55f.,
i64 ff., 2i5, 280, 299, 3o3 f.,
323 f., 33o f., 456, 45g, 46i, 469.
Burgos — 242 f., 247, 261, 35o.
Byzanz — 221 f., 23o, 477-
Candia (Kreta) — 422, 424f*, 449*
Capistranus, Johannes — 325 f., 42 1,
465.
Cavalleria, Jehuda de — 84, 9^*
Chaim ben Mussa — 38of.
Cliajat, Jehuda (Kabbalist) — 4o8
(Anm.).
Chasarien — 472.
Cherem (Exkommunikation) — 88, 106,
108, i34 f-, 190, 488.
Chinon — 275, 277.
Christentum, christlicher Staat — s. Dis-
putationen, Kirche, Konzile.
Christiani, Paulus (Pablo) — 32, 91 f.
„Christlichsoziale“ — 429 f.
Chronographie — 34o, 495, 498.
Clemens IV., Papst — 48, 98, 180,
201, 218, 233.
Clemens VI., Papst — 3oi f.
Colmar — 297, 3o4-
Comatiano, Mardochai — 482.
„Condotta“ — 424 ff*
„Conversos“ — 263. S. Marranen.
Cordova — 75, 260, 370, 390, 3g3.
5ig
Namen- und Sachregister
Cortes — 98, 232 f., 244, 246, 346,
368, 374 f*
Crescas, Chasdai — 262, 268 f., 289.
Damaskus — 485, 488.
Dämonologie — i5o. S. Aberglaube.
Dante — 444 f-
Danzig — 468.
Da-Piera, Meschullam — 112.
Dauphinö — 282 f.
Deggendorf — 297 f.
Delmedigo, Elias — 449 f*
Deutschland — 11, i53ff., 227 ff.,
294 ff-, 48o.
Diplomaten — 84, 2Öo, 474* S. Alfa-
quimen.
Disputationen, religiöse — i3, 2 5, 29,
36 ff., 90 ff., 238, 247 f-, 34if.,
353 ff., 377 f., 448.
Dlugosz, Jan — 457, 46o, 465, 46g.
Dogmatik — 108, 122, i3of., 142,
212, 268 f., 290 f., 377, 382 f. S.
Religionsphilosophie, Disputationen.
Dominikaner — 2Öf., 39 f., 70, 76,
84, 90 f., 112 fi5g, 169 f., 200 f.,
320 f., 389 f., 419 f. S. Missionare.
„Domus conversorum“ — 61, 70.
Donin, Nikolaus — 4i f., 200.
Don Juda (Schatzmeister) — 205 f.
Duns Scotus — 70.
Duran, Profiat („Efodi“) — 378 f.
Duran, Simon (Raschbaz) — 38o.
Eduard I. — 67 f.
Eidesleistung — 89, 170.
Elsaß — 168, 295 f., 3o3 f.
Emanationslehre — i4i f., i5o. S. Se-
f iroth.
Emigration — 55, 65, 172 f., 249 f.,
277 f., 285, 349, 371 f., 4o5, 4i2 f.,
4i4, 452, 462, 470.
England — 12, 56 ff.
Erfurt — 159 (Anm.), 3o5.
Espina, Alfonso de — 368 f.
Estella — 2Ö2 f.
Esterka (Favoritin) — 457.
Eugen IV., Papst — 363, 420 f.
Expropriation (Requisitionen) — 28, 3i,
Ö2 f., 71, 3i2 f., 442, 470.
Falaquera, Schemtob — 12 4 f •
Faradsch (Faragut) — 207.
Farchi, Estori — 489.
Ferdinand III., der Heilige (Kastilien)
— 75 f.
Ferdinand der Katholische — 387 f.,
439 f.
Ferrara — 426 f.
Ferrer, Rabbi — s. Benveniste, Vidal.
Ferrer, Vicente — 35of., 352, 35o,
372.
Feudalismus, Feudalherren — 11, 27^,
32 ff., 5i, 54, 60, 67 f., io3,
i54f., i65f„ 282 f., 295 f., 309 f.,
329. S. Bischöfliche Jurisdiktion.
Finanzagenten — 27, 58, 78 f., 85,
177 f., i85, 232 f., 2 54 f•» 36of.,
373, 398 f.
Flagellanten (Geißler) — 3o3f., 3o6.
Florenz — 427 f., 43o.
Forli — 418.
Frankfurt a. M. — i63f., 297, 3o5 f.
Frankreich — 11, i5ff., io5 ff.,
227 ff., 272 ff.
Franziskaner — 25, 325 f., 429 f.
Freidenkertum — io5f., 267, 291 f.,
443 f. S. Religionsphilosophie.
Friedrich, öster. Herzog — ibg, 177 f.
Friedrich II., v. Hohenstaufen — i56f.,
160 f., 177, 2o3 f., 487.
Friedrich III., Kaiser — 323 f.
„Führer“ des Maimonides — s. „More
Nebuchim“.
Fulda — i5gf., 195.
Galipapa, Chaim — 267.
Garcia, Benito — 4oof.
Geldhandel — s. Kreditgeschäfte.
Gemeindeverbände, Gemeindekonferen-
zen — 90, 101, 189 f., 2Ö2, 335,
362, 4i8 f., /j39.
Gemeindeverfassung — 62, 87 f., 101 f.,
188 f., 220, 334, 362 f., 439.
Genua, Republik — 223 f., 422, 471 ff-
Gerichtsbarkeit — bg, 62, 88 f., io3,
178, 188, 216 f., 234, 239, 246,
264, 454.
Gerona — 91, i42.
Gerondi, Jona — 108 f., 112, n4-
Gerondi, Nissim — 267.
520
IS amen- und Sachregister
Geronimo de Santa-Fe — 352 f., 35g.
Gersonides — s. Ralbag.
Geschichtsschreibung — s. Chrono-
graphie .
Gibraltar — 371.
Gikatilla, Joseph — i44*
Grafen — s. Feudalismus.
Granada — 75, 399 f., 43g.
Gregor IX., Papst — 25, 36, 4i, i58,
i85f., 200, 221.
Gregor X., Papst — 49, 182.
Gregor XII., Papst — 4i8.
Grodno — 402, 470.
Grundbesitz — 16, 68 f., 80, 82,. 181,
i85, 187, 238, 3i 1, 463, 467. S.
Landwirtschaft.
Guido (Kardinallegat) — i8of., 218.
Haggada — 42, 93 f., 108, 122, i4o,
194, 209, 357, 45o.
Haifa - 488.
Halle - 167.
Handel — 11, 69, 84, i55, 201, 2o5,
284, 3n, 423 f., 436 f., 454, 463,
46g.
Handwerk — 69, 84, 3n, 364, 438,
44i, 463. S. Industrie.
Hebron — 48 g.
Hegemonie, nationale — i3, ioöf.,
227 f •, 23i, 293.
Heinrich III. (England) — 5g f.
Heinrich II. de Trastamara (Kastilien)
— 23g, 243 f.
Heinrich III. (Kastil.) — 346 f.
Heinrich IV. (Kastil.) - 368 f.
Hillel aus Verona — 2iif.
„Hirtenzüge“ — 227. S. Pastorellen.
„Hochmeister“ (Oberrabbiner) — 317,
336 f.
Honorius III., Papst — 76, 83.
Honorius IV., Papst — 71.
„Hostia mirifica“ — 174. S. Hostien-
schändung.
Hoslienschändung — 47 f., 5o, 174 ff-,
i83, 196, 297 f., 320, 326 f„ 348,
4oi, 459.
Hussitenkriege — 317!.
Ibn Cid, Isaak — 78.
Ibn Jach ja, Gedalja — 373.
Ibn Jach ja, Joseph — 375.
Ibn-Verga, Jehuda — 398.
Ikreti, Schemaria — 447, 483.
Immanuel Romi — 443 ff.
Industrie — 204 f., 438 f„ 441, 456,
489. S. Handwerk.
Innocenz III., Papst — 12, i5ff.
Innocenz IV., Papst — 25, 44, 161 f.,
i63.
Innocenz VII., Papst — 4*7-
Innocenz VIII., Papst — 407, 422.
Inquisition — 12, 26, 49 f», 98, H2f.,
251, 367, 389ff., 422.
Inquisitionstribunale (Spanien) — 3gi f.,
3g3f.
Isaak <jus Corbeil — 116.
Isaak bar Schescheth — s. Ribosch.
Isabella v. Kastilien — 388 ff.
Isserlein, Israel — 338 f.
Italien — 199 ff., 2 3o, 4i4ff-
Iwan III. (Rußl.) - 474, 476.
Jaffa — 48g f.
Jagello, Wladislaw — 458 f.
Jakob I. (Jayme, Aragonien) — 81 f.
Jakob II. (Aragon.) — io3f., 24gf-
Jakob ben Ascher („Turim“) — 265 f.
Jakob Mölln — s. Maharil.
Jan Albrecht (Polen) — 469.
Jechiel ben Jekutiel — 209!.
Jechiel, R. (Paris) — 42 f., n5.
Jerucham ben Meschullam — 266.
Jerusalem — 487 f.
Jeschiboth — n5, 172, igof., 2 65,
279, 34o, 363, 448, 488.
Jochanan, Oberrabbiner — 289.
Johann XXII., Papst — 276.
Johann ohne Land — 57 f.
Jomtob de Sevilla (Ritba) — 266.
Jomtob de Tolosa (Don Vidal) — 267.
Joseph ha’Mekane — 39.
Joseph ben Schemtob — 384.
Josua de Lorca — 2Ö2. S. Geronimo.
Juan I. (Kastilien) — 246, 259.
Juan II. (Portugal) — 4o6 f.
Judaisierende — 17, 49, 366, 389 f.,
476 (russ. Sekte).
Judaismus — s. Rabbinismus, Religions-
52 I
Namen- und Sachregister
philosophie, Konservativismus, Ratio-
nalismus .
Judeca — 43g. S. Judenviertel.
Judenabzeichen — s. Abzeichen.
„Judenbischof“ — i65, 188.
„Judenbrand“ — 3o4*
Judenhetze — 35 f., 67, 74 f., 325 f.,
429 f., 437, 46o. S. Dominikaner,
Disputationen, Judenmetzeleien.
„Judenmeister“ — 32g, 334.
Judenmetzeleien — 18, 36, i64, 168,
175 f., 203, 260 f., 275 f., 285,
297, 3oi f., 3i3f., 367 f., 468.
S. Schwarzer Tod, Kreuzzüge.
„Judenschaft“, „Jüdischheit“ — 334*
„Judenschläger“ — 228, 296 f.
Judenviertel — 33 f., 75, 83, 87, 100,
240, 287, 33of., 374, 456.
„Juderia“ (Judaria) — 87, 260 f. S.
Judenviertel.
„Juiverie“ — s. Judenviertel.
Kabbala — i4, 117, i4off., 214, 23o,
386 f., 44g f- S. Sohar.
Kaffa (Theodossia) — 2 2 3, 470, 472 f.
„Kahal“ - 362, 43g.
Kairo (Fostat) — 486 f.
„Kalifen“ (Ägypten) — 484-
Kalisch - 454 f.
Kalonymiden (Narbonne) — 34.
Kalonymos ben Kalonymos — 445 f.
Kalonymos ben Todros („Nassi“) — i34-
„Kammergrafen“, jüdische — 180, i85.
Kammerknechtschaft — 11, i53f., 157,
176 f., 2o3 f., 295 f., 3ogf., 324,
436.
Kanons — s. Kirchenkanons.
Kapsali, Moses — 479 f-
Karäer — 224, 447, 463 f., 472 f.,
482 f., 486.
Karl IV. (deutsch. Kaiser) — 3o2 f.,
309.
Karl V. (Frankreich) — 278 f.
Karl VI. (Frankr.) — 280 f.
Karl von Anjou (Italien) — 201 f., 206.
Karo, Abigdor — 3i4-
Kasimierz (bei Krakau) — 470.
Kasimir der Große — 452 f.
Kasimir der Jagellone — 464 f.
Kaspi, Joseph — 291 f.
Kastilien — 74 ff., 232 ff., 258 f.,
346*f., 36of., 387 f.
Katharer — s. Albigenser.
Kaukasus — 223 f.
Kiew — 470 f., 473.
Kimchi, David — 39, m.
Kimchi, Joseph — 37 f.
Kirche, Kirchenherrschaft — i2f., i5f.
Kirchenkanons — 20 f., 48, 71, 76 f.,
82, 99, iÖ7f., 170, 181 f., 187,
466. S. Kirchenkonzile.
Kirchenkonzile — 19 f., 24, 4g, 61,
i58, 170, 180 f., 187, 218 f., 322,
363, 461.
Kirchenterror — 258 f., 35of. S. Tauf-
zwang.
Kirchenzehnte — 20, 99, 181, 206,
219.
Kirimi, Abraham — 472.
Klausner, Abraham — 337.
Klerikalismus — s. Kirchenkonzile, Kir-
chenterror, Inquisition, Tauf zwang.
Kodifikation, rahbinische — n5f.,
208 f., 265 f.
Köln — i65f., 3o5, 319.
Kolon, Joseph — 449, 451, 482.
„Kommunisten“ (Derwische) — 478.
Konferenzen, jüdische — 23. S. Ge- ■
meindeverhände.
Konservativismus — io5f., 129 f.,
193 f., 23o, 263 f., 385. S. Frei-
denkertum.
Konstantinopel — 221, 479 f *
Konstanz —- 302.
Konzile — s. Kirchenkonzile.
Krakau — 454 f«, 46o, 468 f.
Kreditgeschäfte — 11, 16, 20, 27 f.,
34, 38, 52 f., 56 f., 60, 67 f., 84 f-,
io3, i55, i58, i64f-, 178, 189,
216, 273 f., 278 f., 284, 3nf.,
422 f., 427 f., 454 f.
Krems — 182 f., 321.
Kreta — s. Candia.
Kreuzfahrer — 35 f., 74, 468, 487.
Kreuzzüge — i5f., 221 f., 483.
Krim — 223 f., 468, 471 f-
Kultur — io5ff., 288 ff., 377 f. S.
Rabbinismus, Religionsphilosophie,
Sprache, Wirtschaft.
522
Namen- und Sachregister
Kulturkampf — i3. S. Maimonisten,
Freidenkertum.
La Guardia — 4oo.
Landfrieden — 168, 171.
Landpacht — s. Grundbesitz.
Landwirtschaft — 82, 84, 99, 2o5,
438, 463, 489. S. Grundbesitz.
Languedoc — 17 f.
Lateransynode — 18 f. S. Kirchen-
konzile.
Lemberg — 456 f., 468.
Levantehandel — 422 f.
Levi ben Abraham (Raibach) — 127!:.,
i3i.
Levi ben Gerson — s. Ralbag.
Lewko (Bankier) — 456.
Lissabon — 205 f., 374 f., 4o6 (Anm.),
4n.
Litauen — 458, 462 ff.
Literatur — s. Rabbinismus, Talmud-
wissenschaft, Religionsphilosophie,
Poesie, Apologien, Martyrologien,
Sprache.
Liturgie — s. Ritus.
Lombarde (Monte di Pietä) — 431.
London — 58, 61, 63, 67.
Ludwig VIII. (Frankreich) — 28.
Ludwig IX., der Heilige (Frankr.) —
28 f., 32, 44 f-, 222.
Ludwig X. (Frankr.) — 273 f.
Ludwig der Bayer (Kaiser) — 295 f.,
4i5.
Luzk — 462, 470.
Maestro Gajo — 202, 2i3.
Magdeburg — i56, 167, 333.
Maghreb — 484*
Magistrate — s. Bürgerschaft.
Maharil (R. Jakob Mölln) - 3i8, 338.
Maimonides, Abraham — 486 f.
Maimonides, David — 486, 488.
Maimonides, Moses — 106 f., 488. S.
Maimonisten.
Maimonisten — I07f., i2if., i36f.,
210f., 291 f.
Mainz — 172 ff., 3o5, 319, 333.
Malaga — 398, 4o8.
Malea, de (Don Meir u. Don Zag) —
78 f.
Mallorca — 82 f., io3, 262.
„Malsin“, Malschin (Denunziant, Er-
presser) — 88, 2 46, 362.
Mamelucken — 483 f.
Manecier de Vesoul — 278 f.
Mantua — 449, 451.
Manuel (Portugal) — 409 f.
Mardochai ben Hillel — 175, 192, 195.
Marranen — 229, 263, 366 f., 388 f.,
4oi, 407, 4n f-, 421 f.
Marseille — 23, 284 f.
Martin V., Papst — 36o, 4i8f., 429.
Martinez Ferrand — 258 f., 346.
Martinez Gonzalo — 2 35 f.
Märtyrer — 46 f., 64, 168 f., 227 f.,
2Ö9f., 262, 276, 3oi f., 320, 327,
4oo, 432. S. Judenmetzeleien, Inqui-
sition, Taufzwang.
Martyrologien — 195 f., 3o8, 3i4,
339 f.
Mauren — 75 f., 398, 4o5.
Mattathias Provenci — 279 f., 288.
Medici (Florenz) — 428.
Medizin — i35, 428. S. Ärzte.
Meir aus Rothenburg — 44, I72f.,
192, 195.
Meir ben Simon aus Narbonne — 3i.
Meir Halevi aus Wien — 289, 335,
338.
Meiri, Menachem — 187.
„Memorbücher“ — 33g.
Menachem ben Serach — 2 53, 266.
Menz, Jehuda — 448 f.
Menz, Moses — 339.
Messer Leon (Mantua) — 451.
Messer Leon (Moskau) — 476 f.
Messianismus, messianische Bewegungen
— 92 f., i45f., i5of., i63, 196,
354 f., 383, 387.
Minz — s. Menz.
Mischehen — 21, 77, io3, 107, 116,
185, 2 51. S. Assimilation.
Missionare, Missionspredigt — 32, 39,
70, 84, 90 f., 96 f., 247 f-, 251,
322, 363, 419 f-, 438.
Mohammed II. (Sultan) — 479-
Mongoleninvasion — i63, 2 2 3, 484,
487.
Montfort, Simon — 18.
Montfort, Simon II. — 67.
Namen- und Sachregister
Montpellier — 81, 83, io3f., n3,
129 f., i38, 25o.
Moral-Literatur („Mussar“) — 209 f.,
292, 34o.
„More Nebuchim“ — 107 f., 109, n3,
12 5, 291 f. (Kommentare), 379,
384f.
„Moriscos“ — 4o5.
Moses aus Coucy — 42, io5, n5.
Moses aus Salerno — 210.
Moses ben Nachman — s. Ramban.
Moses de Leon (Kabbalist) — 147L,
IÖ2.
Moses de Tordesillas — 2 48.
Moses ha’Gola — 473 f.
Moskau — 476 f.
Mülhausen — 299.
Mülhausen, Jomtob-Lipmann — 34of.
München — 174.
Mystik — 139 f., 194 f. S. Kabbala.
Nachmanides — s. Ramban.
„Nagidim“ (Ägypten) — 486 f.
Namen (fremde) — 84, 91, 129, i32,
234, 244, 264.
Narboni, Moses — 292, 386, 448.
Narbonne — 23, 3i, 33 f., 54-
„Nassi“ — 34, m.
Nassir, Al- (Sultan) — 484-
Nathan Official — 3g.
Navarra — 2Ö2 f., 4i3.
Navarro, Moses — 255, 262, 372.
Neapel — 2o3f., 4o5, 4i4, 435, 442.
Negro, David — 256 f.
Negropont.e — 42 5, 447•
„Neuchristen“ — 365. S. Marranen.
Nikolaus III., Papst — 49, 79, i45.
Nikolaus IV., Papst — 202.
Nikolaus V., Papst — 324 f., 367, 421,
426 f., 465.
„Nizzachon“ (Apologie) — 343.
Nunez, Jakob — 368.
Nürnberg — 175 f., 196, 3i2.
Oberrabbiner — 254 f.
Oberwesel — 174.
Oiesnicki (poln. Kardinal) — 458, 464 f.
„Omargesetze“ (Ägypten) — 484 f-
„Opferpfennig (der güldene)“ — 296,
317, 32 4.
„Ordonnanz der Donna Catalina“ —
348 f.
Or-Saruä, Isaak — 191.
Orthodoxie — s. Konservativismus.
Österreich — 177!., i83, 298 f., 3o6,
3i5 f., 3ig f., 325, 335, 338.
Ottokar II. (Böhmen) — 179 f.
Oxford — 65.
Padua — 422, 425 f., 449 f *
Palästina — 46, 59, 98, n5, 48o,
482 ff., 487 f.
Palermo — 2o5f., 436 f., 44i-
Pamplona — 262.
Papsttum — 12, i5f., 199 f., 287,
4i6 f. S. Rom.
Paris — 25, 4i S-, 47, n5, 121, 280.
Parma — 427.,
Pastorellen — 227, 2Öo, 2Ö2, 275 f.
Paul von Burgos (Bischof) — 346 f.,
35i f., 36o.
Paulus Christiani — s. Christiani.
Pedro III. (Aragonien) — 98 f., 207.
Pedro IV. (Kastilien) — 238 f.
Pedro de Luna — s. Benedikt XIII.
Perpignan — io3f., 127, i3i, i3g,
286, 290, 292.
Petit, Salomo — 213, 488.
Philipp II.. August (Frankreich) — 16,
27 f.
Philipp III. (Frankr.) — 48.
Philipp IV. (Frankr.) — 47, 49 f-, io4,
177, 272 f.
Philipp V. (Frankr.) — 275.
Philosophie — s. Religionsphilosophie.
Pichon, Joseph — 2 44 f*
Pico de Mirandola — 44g*
Pisa — 428.
Poesie — 270, 443 f. S. Synagogale
Poesie.
Polemik, religiöse — 38 f., 269, 379 f.
S. Disputationen.
Polen — 2i4f-, 23o, 452 ff.
Pomis, Elias de — 2o3.
Portugal — 254 f-, 262, 372 f.,
4o4f., 4o6 ff.
Posen — 456 f., 45g, 465.
„Posskim“ — 265 f. S. Kodifikation.
Prag — 3i3f.
„Presbyter Judaeorum“ — 58, 62 f.
524
Narrten- und Sachregister
Privilegien — s. Statute
Provence — 17 f., 55,
282 f.
328, 371, 43i ff.
Ritus (griechischer, aschkenasitischer)
Robert von
Habbiner — 39, [\2 f., 59, 88, 102,
i3of., i65, 188 f., 220, 246,
288 f., 3i7, 336 f., 339, 36i, 363,
388, 398, 439.
Rabbinismns, rabbinische Literatur —
i3, io5f., n5ff., 190 f., 23i,
263 f., 387, 448.
„Rabi de la corte“ — 361.
„Rabi mor“ (Portugal) — 2 04-
Raimund VI., Graf — 17 f.
Raimund de Pennaforte (Dominikaner)
Rom — 199 ff., 4i4f-
Romano, Leo (Jehuda) — 447
Rosch (Ascher ben Jechiel) ■
i34, 192, 261, 264f.
Rothenburg — 172, 175, 196.
Rudolf von Habsburg, Kaiser —
182.
Rumelien — 478.
Ruprecht, Kaiser — 317, 336.
Rußland — 221, 475 ff.
Raimund, Martin — 96, 119.
Ralbag (Levi ben Gerson) — 2 9of.,
386, 448.
Ramban (Moses ben Nacbman) — 91 f.,
97 f., 110, 112, 117 f., 147, 487 f.
Ramleh — 489.
Rascbba (Salomo ben Adret) — 102,
ii8f., i3of.
Rationalismus — 107, 122 f., 2iif.,
289 f. S. Religionspbilosophie.
Recanati, Menachem — 214.
Regensburg — 167, 328 f.
Religionsphilosophie — io5f., 121 f.,
i34 f., 268 f., 289 f., 4oof., 449 f-
S. Rationalismus.
Renaissance, literarische — 442 f.
Renegaten — 24, 96, 206, 237 f., 247,
251 f., 329 f., 34i f-, 347, 352,
436 f.
Responsen, rabbinische — 118, 188,
192, 265 f., 267, 338 f., 449.
Restauration — 272, 278 (Frankreich),
3io (Deutschland), 346, 36of.
(Spanien).
Rhetorik — 451.
Ribosch (Isaak b. Schescheth) —
267 f., 289.
Richard I. (England) — 56.
Rienzi, Cola di — 4i5f.
Rieti, Moses da — 421, 448.
Sabbat und Feiertage — 35, 89, 217.
Sabbato, Elias — 417, 42 0.
Sacharia aus Kiew — 475 f.
„Sachsen“- und „Schwabenspiegel“ —
i54, i7of.
Safed — 489.
Salomo ben Abraham aus Montpellier
— io8f., 112 f.
Salomo ben Adret — s. Rascbba.
Samaritaner — 486.
Samuel, Märtyrer von Trient — 432.
„Sanbenito“ — 392 f.
Sancbo IV. (Kastilien) — 79 f., 233.
Santob de Carrion — 23g, 270 f.
Saragossa — 82, 35i, 395 f.
Savoyen — 3oi f.
Schaprut, Schemtob — 2 48.
Schatzmeister — 235 f., 238 f., 376.
S. Steuerpäcbter, Finanzagenten.
Scheintaufe — 229, 3o8. S. Marranen.
Schemaria Ikreti — s. Ikreti.
Schemtob ben Joseph — 384•
Schemtob Gaon — 266.
Schemtob ibn Schemtob — 383 f., 386.
Schlesien — 218. S. Breslau.
Schuldentilgung — 28, 3o, 52, 100,
238, 3i2f., 3i6f.
Schulunterricht — 124, i34f., 363.
Kammer-
Ritualmordprozesse — i3, 46 f., 63 f
mmmm
üüsi
Namen- und Sachregister
„Schwarzer Tod“ — 227, 2Öo, 292,
3ooff., 3i6, 455.
Schweiz — 3oi f.
„Sefiroth“ (Kabbala) — il\i f., i45
(Sefirologie), i5o, 45o.
Segovia — 371.
Seigneurs — s. Feudalismus.
Senior, Abraham — 388, 3g8, 4o3f.
Sepliardim — 483.
Sepulveda — 371.
Serachia ben Schaltiel Chen — 211.
Serachia Halevi — 353.
Sevilla — 75, 246, 25gf., 3go f.
Sigismund, Kaiser — 317, 337.
Simon Tridentinus — 431 f.
Sinzig — 168, ig5.
Sixtus IV., Papst — 38g f., 3g3, 421,
433 f.
Sizilien — 101, i45, 2o3 f., 4i4,
435 ff.
Sklavenbesitz — gg, i58.
„Sohar“ (Kabbala) — i47f., 386, 45o.
Sondertracht — igo, 198. S. Abzei-
chen.
Spanien — 11, 74 ff io5 f., 227 f.,
344 ff-, 4o6.
Speyer — 3o5.
Sprache (arabische) — 7g, 84, 264.
Sprache (deutsch-jüdische) — 34o.
Sprache (französisch-jüdische) — 46,
56.
Sprache (griechische) — 478.
Sprache (hebräische) — 56. S. Litera-
tur.
Sprache (slawische) — 191.
Sprache (spanisch-jüdische) — 264
(Anm.), 362.
Sprache (türkische) — 478.
Staatsdienst — 18, 22, 78 f., 84, 98,
157, 180, i85, 235 f. S. Finanz-
agenten, Steuerpächter, Zollpächter.
Städte — s. Bürgerschaft.
Stadtrepubliken, italienische — 4i4f-,
422 f.
Statistik — 72, 80, 4o5, 472.
Statute — 29, 57, 68, 77, 157, 178T.,
186, 204, 215 f., 348 f., 362, 374,
436, 453 f., 462, 464, 466, 472.
Steuern — 16, 20, 27, 33 f., 5i, 57,
526
61, 79L, 86, 101, 167, 296, 3ig,
324, 438, 479, 486, 490.
Steuerpächter, Steuereinnehmer 78 f
177 f., i85f„ 232 f., 247, 2 54 f*,
36i f., 367, 388.
Straßburg — 2g5, 3o3f., 307 f., 3i4f-
Südfrankreich — i5f., 26 f., 81,
278 f., 3oi. S. Provence.
Süditalien — 203 f., 435. S. Sizilien.
Sulchat (Krim) — 224, 472.
Susan, Diego de — 3 g 1.
Süßkind von Trimberg — 197 f.
Susslin, Rabb. in Frankf. — 337.
Symbolismus — s. Allegorismus, Kab-
bala.
Synagogale Poesie — ig5f., 34o. S.
Martyrologien.
Synagogen — 16, 49, 61, 71, 76, 97,
181, 217, 219, 24o, 2Ö8f., 274,
307, 3ig, 333, 35o, 437, 488.
Syrakus — 43 g.
„Takanoth Schum“ — 190.
Tako, Moses — 193 f.
Talmudkommentare und -kompendien —
118, 120, 191 f., 265 f. S. Kodi-
fikation.
Talmudverfolgungen — 4if., 91 f..
200, 206, 273.
Talmudwissenschaft — 46, iT5f.,
190 f., 208 f., 265 f., 288, 337 f.,
446.
Tatarenreich (Krim, Rußland) — 22 3,
471-
Tauf zwang — 19, 22 f., 70 f., 176,
192, 229, 258 f., 280, 285 f., 297,
3o4 f., 3o8, 345, 35o f., 36g,
4o8f., 4iof., 437.
Theologie — 121 ff. S. Religionsphilo-
sophie, Dogmatik, Haggada.
Theosophie — i4of. S. Kabbala.
Thomas von Aquino — 106, 121 f.,
447.
Tibbon, Jakob ben Machir — i3a.£.,
i36 f..
Tibbon, Moses ibn —123.
Tibbon, Samuel ibn — 123.
Tibboniden — 123.
Tiberias — 488, 489.
Tobias, Märtyrer von Trient — 431 f.
Namen- und Sachregister
„Tödtbriefe“ — 3i5f. S. Schuldentil-
gung.
Toledo — 74 f., ui, a4o, 243, 261,
35o, 366 £., 369 f., 3q6 f.
Torlak Kemal — 478.
Torquemada, Thomas — 389, 3g4f.,
4oi, 4o3.
Tortosa — 35i, 353 £.
Tossafisten — n5f., 190 f., 208.
Toulouse — i7f., 32, 53, 275 f.
Trani (Jesaja de, I. u. II.) — 208.
Trient — 328, 431 f.
Troki — 462, 464, 470.
Troyes — 46 £.
Tudela — 2Ö2 £., 4i3.
„Turim“, Kodex — 265 f.
Türkei — 23o, 473, 477 ^•
Umgangssprache — 263 f., 390, 478.
S. Sprache.
Ungarn — i84f., 3i6.
Valencia — 82, 261, 351.
Valladolid — 2 38, 2 43, 35o, 362.
Venedig — l\2 4, 433.
Venezianische Republik — 422 f.
Vertreibung — 12, Ö2 f., 72 f., 23o,
281 £., 286, 319, 320 £., 328, 333,
402 f., 4iof., 44of., 470.
Volterra, Meschullam de — 486, 490.
Vormundschaft — s. Kammerknecht-
schaft, Schutzjuden.
W^akar, Jehuda ihn — 234, 204*
Wakar, Samuel — 235 f.
Weil, Jakob - 338.
Wenzel, Kaiser — 3i2f.
Wien — 157, 177 f., 182, 3o6, 3i5,
321.
Wiener-Neustadt — 182.
Wirtschaft — s. Handel, Handwerk,
Industrie, Kreditgeschäft, Landwirt-
schaft.
Wissenschaften, profane — 108 f.,
120f., i24f., 127, i32 f., i34f-,
193, 208, 211, 265, 267, 446.
Witold (Litauen) — 462.
Worms — 167, 3o5.
Wucher — s. Kreditgeschäfte.
Würzburg — 166, 175.
Zacuto, Abraham — 409.
Zag de Malea — s. Malea.
Zarfati, Isaak — 48o.
Zarzal, Abraham — 23g.
Zedekia ha’Rofe — 200, 208.
Zollpächter — 464, 467.
Zürich — 3o2.
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