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Italien zur Zeit der Frührenaissance
auf die Opferung von zweihunderttausend spanischen und hundert
tausend sizilianischen Juden, nicht .verzichten. Die einzige zugestan
dene Erleichterung war die Verlängerung der Gnadenfrist bis zum
Dezember 1492. Gegen Ausgang des Jahres verließen alle Juden mit
Ausnahme der zum Christentum Übergetretenen die Insel; es war
ihnen gestattet, nur das Allernotwendigste mit sich auf den Weg zu
nehmen, während ihr sonstiger Besitz dem Reichsschatz zufiel. Die
Vertriebenen begaben sich zunächst nach Neapel, Apulien und Ka
labrien. Als aber diese Gebiete bald darauf von dem vereinigten spa
nisch-französischen Heere überflutet wurden und im Jahre i5o5
auch Neapel den Spaniern in die Hände fiel, sahen sich die Auswan
derer genötigt, sich von dem süditalienischen Boden endgültig loszu
reißen. Ein Teil von ihnen zog nach dem Norden, andere wieder
wandten sich nach der Balkanhalbinsel, nach dem neuerblühten Tür
kenreiche. Sie begründeten in Konstantinopel, Saloniki, Adrianopel,
Patras, Larissa und anderen Städten mit vorwiegend griechischer Be
völkerung, die sie schon aus ihrer Heimat gut kannten, bedeutende,
festgefügte Gemeinden. So brachte auch Italien dem an der Grenz
scheide der Neuzeit wütenden Moloch ein ansehnliches Opfer dar: das
ihm zu Ehren zerstörte uralte sizilianische Diasporazentrum sollte
bis ins XIX. Jahrhundert hinein in Schutt und Asche liegen.
§ 61. Das jüdische Schrifttum in der Epoche der italienischen
Renaissance
Zugleich mit den ersten Anfängen der italienischen literarischen
Renaissance erlebte in der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts auch
das jüdische Schrifttum in Italien eine Zeit der Wiedergeburt. Diese
Wiedergeburt war das Ergebnis einer zwiefachen Beeinflussung, die
zum Teil vom italienischen Lande selbst, zum Teil von der Provence
ausging. Einerseits stand nämlich das geistige Leben der italienischen
Judenheit unter der Einwirkung neu zuströmender literarischer
Schaffenskräfte aus der französischen Provence, von wo aus seit der
im Jahre i3o6 erfolgten Vertreibung eine ununterbrochene Auswan
dererbewegung nach Italien im Gange war; andererseits machte sich
aber auch der frische Luftzug des Zeitalters eines Dante, Petrarca
und Boccacio, der atmosphärische Druck der freien Gedankenströ
mungen bemerkbar, denen sogar die Mauern der Judenviertel kein