Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert
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erschaffung ex nihilo gelten zu lassen. Es ist für ihn bezeichnend,
daß er den wunderbaren Stillstand der Sonne und des Mondes wäh
rend der Schlacht bei Gibeon auf „natürliche“ Weise zu erklären
sucht: Josua soll nämlich Gott nur darum gebeten haben, daß die
Wirkungskraft der den Feind Israels nach astrologischem Gesetze be
günstigenden Gestirne unterbunden werde. Dieses Gemisch von Aber
glauben und Freidenkertum ist für die ganze Weltanschauung des
Levi ben Chaim überaus charakteristisch. In den Fällen, wo vernunft
gemäße Gründe für ihn nicht ausreichen oder er sie nicht in Anwen
dung zu bringen wagt, nimmt er seine Zuflucht zu Symbolen oder
Allegorien. Um indessen nicht in den Verdacht der Ketzerei zu kom
men, begnügte er sich häufig, gleich dem verkappten Freidenker Abra
ham ibn Esra, mit unklaren Andeutungen und täuschte sogar Ab
neigung gegen die Ansichten der „Allegoristen“ vor. Seine freidenke
rischen Lehren pflegte Levi ben Chaim auch in mündlichen Vorträgen
und Predigten mitzuteilen, doch beschränkte er sich hierbei auf einen
engen Kreis von Gleichgesinnten und ging jeder Auseinandersetzung
mit Andersdenkenden behutsam aus dem Wege.
Die im Geiste der alten Schule des Philo von Alexandrien gehal
tene Doktrin des Symbolismus oder Allegorismus war aber der einzig
mögliche Ausweg aus dem scharfen Widerstreit zwischen Tradition
und Freidenkertum. Die Rationalisten machten bei der von ihnen an
gestrebten Säuberung des Gottesbegriffs vor den in Bibel und Hag-
gada vorkommenden anthropomorphistischen und bildlichen Redewen
dungen nicht halt und versuchten, die Methode der allegorischen Aus
legung auf den gesamten Inhalt der biblischen Erzählungen auszudeh
nen. Sie gingen hierbei von der folgenden Erwägung aus: Sind wir
bereit, solche biblische Redewendungen wie „Gott sprach“, „Gott
streckte seinen Arm aus“ u. dgl. nur als poetische Bilder zu deuten,
warum sollten wir denn auch die heiligen Legenden nicht in über
tragenem Sinne aufzufassen versuchen? Es schien ihnen unglaub
lich zu sein, daß die Heilige Schrift, der Born tiefster Weisheit, sich
mit „unnützen“ Erzählungen über die Lebensschicksale einzelner Men
schen hätte abgeben können. In dem ganzen erzählenden Teil der
Thora sahen sie daher nur einen Schleier, hinter dem tiefsinnige Ideen
verborgen wären. So ließen sie denn die in der Bibel wiedergegebenen
realen Tatsachen zu abstrakten metaphysischen Formeln oder mora
lischen Grundbegriffen, Geschichte und Poesie zu philosophischer