452 Sechstes Kapitel Das östliche Europa und der jüdische Orient § 62. Der Aufschwung der Kolonien in Polen unter Kasimir, dem Großen In den letzten zwei Jahrhunderten des Mittelalters bildete Polen das Hauptziel der jüdischen Auswanderung aus Deutschland. Die vom Westen nach dem Osten hin verlaufende Bewegung war nach wie vor durch zweierlei Ursachen bestimmt: einerseits wurden die Juden durch den in die polnischen Städte sich ergießenden Strom deutscher Ansiedler mitgerissen, andererseits wurden sie aber auch durch speziell jüdisches Ungemach dorthin getrieben: durch die Verfolgun gen der „Judenschläger“, der Armleder und durch die im Zusam menhang mit dem „Schwarzen Tod“ angezettelten Hetzen im XIV. Jahrhundert, sowie durch die systematische Ausweisung ganzer jüdi scher Gemeinden aus verschiedenen deutschen und österreichischen Städten im nächstfolgenden Jahrhundert. Das die freiwilligen wie die unfreiwilligen Auswanderer bereitwillig aufnehmende Polen war um jene Zeit politisch erstarkt und stand im Begriffe, in ein höheres Stadium seiner wirtschaftlichen Entwicklung einzutreten. König Wladislaw Lokietek (i3o6—i333), dem es gelungen war, das Sy stem der Teilfürstentümer fast gänzlich zu beseitigen, machte den Weg für die staatliche Einheit Polens frei, während sein friedlieben der Sohn Kasimir der Große (i333—1370) unablässig bemüht war, in dem vereinigten Reiche das bürgerliche und wirtschaftliche Leben in geordnetere Bahnen zu lenken. In der Förderung der Kolonisation durch die Zuwanderer aus Deutschland erblickte Kasimir ein siche res Mittel zur Belebung von Handel und Industrie im Lande. Die Interessen aller Stände, die der leibeigenen Bauern miteingeschlos