291 Sie den fortwährenden Hinweis: „Wir sind Doktoren, und die Laien verstehen nichts!“ Wer weiss, ob man nicht nach Jahren darüber staunen wird, was heute ein Doktor ge sprochen hat, und anerkennen wird, was ein Laie gesagt hat. (Beifall rechts. Dr. Lueger: Es giebt alte Weiber, die gescheiter sind, als mancher Doktor! Heiterkeit.) Abg. Gregorig: Auch ich hatte früher die Impfung für wichtig gehalten. Als vor sechs oder sieben Jahren die Blatternepidemie in Wien war, habe ich mich und meine sechs Kinder impfen lassen. Die Geschichte hat ein Heidengeld gekostet. (Heiter keit.) Und was ist geschehen? Heute bin ich von meiner Achtung vor Autoritäten geheilt; denn heute ist mein zweimal geimpfter Bub an den Blattern erkrankt. Das Ganze ist eben ein Schwindel. (Gelächter.) Wer ist es, der mit der Wissenschaft flunkert? Meistens sind die Armen die Opfer der Wissenschaft. Früher hat man sich einen Camillenthee für zwei Kreuzer heim Kaufmann kaufen können und hat für zehnmal genug gehabt; jetzt aber kriegt man in der Apotheke selbst für zehn Kreuzer nicht für einmal genug. Das Ganze ist eine G eschäftsmacherei. Aerzte und Apotheken arbeiten ein ander in die Här de. Diarrhöe, Brechdurchfall, Cholera und Wasserkur*) Von Prof. Dr. med. W. Winternitz. Probieren geht vor Studieren. Dieser alte Grundsatz, er scheint in neuester Zeit gründlich überwunden. Es wird nur probiert, was, wenn auch noch so künstlich, er-studiert. Ge wiss hat das Forschen und Studieren, das Experimentieren, das theore tische Konstruieren die vollste Berechtigung. Bei der Uebertragung des so Gefundenen in die ärztliche Praxis muss aber die grösste Vorsicht und Umsicht walten. Hier sollte gewiss der vertrauenswürdigen Empirie (Erfahrung) der Vortritt gebühren. Die Erfahrung hat es ja schon so oft gezeigt: das heute Geltende und als einzig rationell Gepriesene — morgen war es antiquiert (veraltet) und in die Rumpelkammer wissen schaftlicher Irrungen geworfen. Der Beispiele in der Geschichte der Medizin, es giebt ihrer un zählige. Man muss gar nicht in’s graue Altertum zurückgreifen, um zu finden, dass, was vor kurzem noch der unverantworlichste und irrationellste Kunstfehler gewesen, heute als höchste Wissenschaft gepriesen wird. Vor 30 und viel weniger Jahren, wie lächerlich schien es, nach spezifischen Heilmitteln zu fahnden. Heute sucht die exacte Forschung fast für jede Erkrankung nach einem spezifischen Heilmittel. Wer wird es leugnen, dass dieser rasche Wechsel in unseren Anschauungen einem raschen Fort schritte in unseren pathologischen Kenntnissen zu danken ist? Von der pathologischen (krankheitlichen) Erkenntnis bis zu therapeutischem Können ist der Weg viel weiter, als unsere sanguinischen Bacillenfinder gemeinhin glauben. Als die Cholera vor wenigen Jahren in Budapest wütete, ward ein einziger Fall nach Wien verschleppt. Und damals waren die heutigen strengen Absperrungsmassregeln in Misskredit, wie alle Landquarantaine. Was hat damals Wien vor der Epidemie geschützt? Und solche ganz unverständliche Verbreitungsweise vom Standpunkte unserer gegenwärtigen Anschauungen zeigt die Geschichte einer jeden Cholera-Epidemie. Obwohl es recht gefährlich ist, heute auch nur einen leisen Zweifel an der Nützlichkeit und Zweckmässigkeit all’ der Verkehr und Kommu nikation schwer schädigenden Massregeln zu äussern, so macht sich doch schon selbst im eigensten Lager entschiedene Fronde bemerkbar. Die *) Wir entnehmen diesen Aufsatz den Winternitz’schen „Blättern für klinische Hydrotherapie.“ Die Red.