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CONRAD VON HÖTZENDORF
Nach einer Zeichnung von 0. Brtlch
Tafel I
Conrad
von Höt&endorf
SOLDAT UND MENSCH
DARGESTELLT VON SEINEM MITARBEITER
FELDMARSCH ALLEUTN AN T
AUGUST URBANSKI VON OSTRYMIECZ
MIT GELEITWORT
VON GENERALFELDMARSCHALL VON MACKENSEN
MIT 16 BILDTAFELN UND
5 KARTENSKIZZEN
ZWEITE, DURCHG&SEHENE AUFLAGE
19 3 9
ULRICH MOSERS VERLAG . GRAZ-LEIPZIG-WIEN
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Alle Rechte Vorbehalten
Copyright 1938 by ülr. Mosers Verlag, Graz
2. Auflage. 4.-6. Tausend
Den Umschlag und Einband entwarf die Werkstätte Penecke-Bux-
baum, Graz, unter Verwendung einer Zeichnung von 0. Brüch
Hergestellt von der „Steirerdruck“,
Steirische Universitätsdruckerei, in Graz
INHALTSVERZEICHNIS
Seile
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN............................... 8
VORWORT DES VERFASSERS....................................11
VORWORT DES VERFASSERS ZUR 2. AUFLAGE.....................15
GELEITWORT DES GENERAL-FELD MARSCH ALL VON
MACKENSEN.............................................19
DER JUNGE CONRAD . . . ...................................21
Familie und Erziehung.................................21
ERSTE KRIEGSERFAHRUNGEN ..................................26
Die Okkupation Bosniens und der Herzegowina...........26
Die Besetzung des Lim-Gebietes........................39
Die Bekämpfung des Aufstandes in Süd-Dalmatien........47
.•* f i.
CONRADS AUFSTIEG......................................... 53
Divisions-Generalstabschef in Lemberg.................53
Im Büro für operative und besondere Generalstabsarbeiten . 53
Lehrer an der Kriegsschule........................... 55
In der Kommission zur Beurteilung der Stabsoffiziers-
Aspiranten .........................................76
Regimentskommandant in Troppau .......................77
Brigadier in Triest...................................85
Divisionär in Innsbruck.............................. 93
CHEF DES GENERALSTABES....................................98
Ernennung ............................................98
Die Stellung des Chefs des Generalstabes in Österreich-Ungarn 112
Der Kampf um den Ausbau der Wehrmacht................115
Vorübergehende Enthebung — Armeeinspektor............128
Conrads Mission in Rumänien..........................129
5
Seite
Wieder Chef des Generalstabes.............................130
Einfluß auf die Anlage und Leitung der großen Manöver 132
Einfluß auf den Geist der Armee.......................137
Einfluß auf die Besetzung der höheren Kommandostellen 141
Einfluß auf den Generalstab...........................143
Reorganisation der Kriegsschule...................144
Prüfung zum Stabsoffizier im Generalstabe .... 146
Erweiterung der Sprachkenntnisse ....................147
Sportliche Betätigung des Generalstabes...........147
Fachliche Fortbildung des Generalstabsbüros .... 148
Der Chef des Generalstabes und die Kriegsmarine . . . 152
Kriegsvorbereitungen.................................... 155
Befestigungen. Die Rolle von Przemysl im Kriege . . . 159
Verkehrsmittel ........................................ 165
Kundschafterdienst. Chiffernwesen.....................166
CONRAD UND DIE AUSSENPOLITIK ÖSTERREICH-UNGARNS . 174
Das Evidenzbüro des Generalstabes.........................177
Die Revolution der Jungtürken.............................180
Die Annexion Bosniens und der Herzegowina.................187
Die Einkreisung der Mittelmächte..........................191
Das Verhältnis zu Frankreich.............................191
Österreich-Ungarn und Rußland ...........................192
Das Verhältnis zu Serbien................................200
Das Verhältnis zu Rumänien...............................202
Das Verhältnis zu Italien................................206
Die Ermordung des Thronfolgers............................212
Zur Kriegsschuldfrage.....................................217
DIE MILITÄRPOLITISCHE VORBEREITUNG DES KRIEGES . . 229
Das Verhältnis zwischen den Verbündeten...................231
Die Frage des einheitlichen Oberbefehls...................261
CONRAD ALS FELDHERR .............................................271
Feldmarschall Erzherzog Friedrich.........................272
Die Kriegführung gegen Rußland............................275
Die Schlacht bei Limanowa-Lapanöw.........................296
Gorlice .....................................................310
(Die zweite Ehe Conrads)..................................322
Die Frühjahrsofiensive 1916 gegen Italien................. 324 ■
6
Seite
ENTHEBUNG CONRADS VOM POSTEN DES CHEFS DES
GENERALSTABES ......................................348
Heeresgruppenkommandant in Tirol....................350
Der Zusammenbruch des Reiches.......................354
Im Ruhestand in Innsbruck...........................355
Conrads Einstellung zur Religion....................358
Erkrankung und Tod..................................359
7
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
Zwischen
Tafel den Seiten
Conrad von Hötzendorf. I
Nach einer Zeichrmng von O. Brüch. (Titelbild.)
Kaiser Franz Joseph mit Conrad auf dem Manöverfeld 1909. II 16/17
Kaiser Franz Joseph, Conrad und der Thronfolger Erzherzog
Franz Ferdinand bei den Manövern 1909. III 32/33
Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand bei den Manövern
1912 in Ungarn mit Conrad. IV 64/65
Deutsche Manöver 1913. Kaiser Wilhelm, Conrad, Pollio,
Moltke. V 80/81
Conrad mit seinem Flügeladjutanten Oberstleutnant
Kundmann. VI 112/113
Kommandant der k. u. k. L Armee General der Kavallerie
Graf Dankl in der vordersten Linie des Abschnittes
des Verfassers. VII a 128/129
Armeeoberkommandant Feldmarschall Erzherzog Friedrich
mit dem Verfasser an der Nida in Russisch-Polen. Vllb 128/129
Mackensens Besuch beim k. u. k. Armeeoberkommando
in Teschen. VIII 160/161
Hindenburg und Ludendorff beim Kommando der k. u. k.
2. Armee. IX 176/177
Einzug der siegreichen österreichischen Truppen in
Lemberg (1915). Xa 208/209
Conrad'am Bahnhof in Lemberg (1915). Xb 208/209
Inspizierung dex^Truppen in Predeal. Erzherzog Friedrich,
Generaloberst von Falkenhayn, Feldmarsch alleut-
nant Graf Herberstein. XI a 224/225
Conrad bei der Besichtigung des k. u. k. Infanterie-Regi-
ments Nr. 27 am 20. Februar 1918 in Bozen. XI b 224/225
Erzherzog Eugen mit dem G. d. K. Frh. v. Rohr und seinem
Generalstabschef Feldmarschalleutnant Alfred Krauß. XII a 256/257
Feldmarschall Erzherzog Friedrich und Conrad. XII b 256/257
Conrad an der Tiroler Front. Dekorierung bosnischer
Soldaten. XIII a 272/273
Conrad mit seinem Stab südlich Passo della Vena
(März 1917). XIII b 272/273
8
Zwischen
Tafel den Seiten
Kaiser Karl mit Conrad in vorderster Linie an der Front
bei Vielgereuth (15. Mai 1917). XIV 304/305
Kaiser Karl mit Conrad am Passo della Vena (15. Mai 1917). XV a 320/321
Conrad mit seinem Generalstabschef Gen.-Maj. Rieh. Müller. XV b 320/321
Conrad sucht Erholung in Mergentheim. XVIa 336/337
Eine der letzten Aufnahmen des MarschaJls.
Conrads letzter Weg. Beisetzung in Wien am 29. August 1925. XVIb 336/337
Kartenskizzen:
Kartenskizze 2: Nordöstlicher Kriegsschauplatz .... 280/281
Kartenskizzen 3a, 3b, 3c: Schlacht beiLimanowa-Lapanöw 296/297
Kartenskizze 5a: Verlauf der Front Mitte Februar 1916.328/329
Kartenskizze 5b: Frühjahrsoffensive 1916 gegen Italien 328/329
Im Text:
Kartenskizze 1: Nationale Einkreisung Österreich-Ungarns . 168
Faksimile eines Briefes Conrads an den Verfasser .... 216
Kartenskizze 4: Durchbruch bei Gorlice...............311
Bildernachweis:
Für das Umschlagbild wurde eine Zeichnung von 0. Brüch ver-
wendet. Titelbild (Tafel I) verkleinerte Wiedergabe der Zeichnung.
Bilder auf Tafel V, XVIa: Gräfin Gina von Hötzendorf.
Bild auf Tafel IV: Gräfin Zoe von Schildenfeld.
Bild auf Tafel III: Oberstleutnant Hubka, Wien.
Bilder auf Tafel II, VIII, XII b, XVIb: Erwin Graf Conrad von
Hötzendorf.
Bilder auf Tafel VI, Xa, Xb, XIII b, XV a, XV b: Schostal, Wien.
Bilder auf Tafel IX, XIV: Österreichischer Lichtbild- und Film-
dienst, Kriegsbildsammlung der National-Bibliothek.
Bild auf Tafel Xlb: Alpenjäger-Regiment Nr. 10, Graz.
Bilder auf Tafel VIIa, VIIb und alle Kartenskizzen: Vom Ver-
fasser.
Bild auf Tafel XI a: Graf Herberstein.
9
VORWORT DES VERFASSERS
Im unerforschlichen Walten des Schicksals war der Untergang
des altehrwürdigen Habsburgerreiches bestimmt. In einem Tita-
nenkampf ohnegleichen hat Österreich-Ungarns Wehrmacht ge-
trachtet, den Zusammenbruch aufzuhalten. Siegreich standen die
österreichisch-ungarischen Soldaten, ihrer durch Jahrhunderte be-
währten Waffenehre treu, in weiten Gebieten des Feindes, bis
ihnen Hunger und außerhalb der Wehrmacht gelegene Umstände
das Schwert aus der Hand wanden.
Aus diesem Heldenkampfe des sterbenden Österreich ragt wie
ein Markstein die Gestalt des Feldmarschalls Conrad von Hötzen-
dorf hervor, der in glühender Vaterlandsliebe an das Ende des
Kaiserreiches nicht glauben wollte — ihm allein hatte sein
Lebenswerk gegolten. Schon in jungen Jahren begann sein Ein-
fluß auf die Wehrmacht, in ihr hat er sich durch Wissen und
zähes Wollen emporgerungen und stand auf dem höchsten Führer-
posten, als es galt, den Kampf um den Bestand des Vaterlandes
aufzunehmen.
In zäher Friedensarbeit hat er das gewaltigste Heer geschaffen,
das Österreich jemals auf gestellt hat. Von seinem Geiste ge-
leitet, hat dieses Heer in ungezählten Schlachten und Gefechten
neue, unvergängliche Lorbeeren um die alten, sturmgewohnten
Fahnen gewunden.
Die Zahl derer, die an diesem Ringen gegen eine Welt von
Feinden teilgenommen haben, wird immer geringer. Mir, dem
letzten überlebenden Referenten des Chefs des Generalstabes
Conrad von Hötzendorf aus der Vorkriegszeit, dem Zeugen sei-
nes unverdrossenen Kampfes für die Kriegsbereitschaft der Wehr-
macht, sei es gestattet, das Bild des toten Marschalls in seiner
geschichtlichen Bedeutung festzuhalten, dem gesamtdeutschen
Volke zu sagen, was es diesem Manne schuldet, dessen Kriegs-
kunst es zu verdanken ist, daß niemals der Fuß eines feindlichen
Soldaten im Kampf den Boden unserer heutigen engeren Heimat
11
betreten hat, daß diese von den Greueln des Krieges verschont
geblieben ist.
Die Berechtigung hiezu leite ich aus der Tatsache ab, daß eine
besondere Gunst des Schicksals mich in vielfache Berührung mit
diesem großen Manne gebracht hat. Als junger Offizier war ich
Conrads Schüler an der Kriegsschule, später war er mein Briga-
dier in Triest, sein Vertrauen berief mich an die Spitze der
österreichisch-ungarischen Offiziersmission zur Reform der türki-
schen Gendarmerie in Mazedonien und im Frühjahr 1909 zum
Chef des Evidenzbüros des Generalstabes. In dieser Stellung war
ich während der dem Kriege unmittelbar vorangegangenen fünf
Jahre Conrads Referent über die fremden Wehrmächte und die
auswärtigen Angelegenheiten. Die enge Zusammenarbeit mit ihm
er öffnete mir den Einblick in sein Wollen auf außenpolitischem
Gebiete, das vielfach mißverstanden wurde. Ich wende mich mit
dem dringenden Appell an die Leser, bei der Beurteilung von
Conrads Einstellung zu außenpolitischen Fragen nicht zu ver-
gessen, daß es sich um Ereignisse der V ergangenheit han-
delt, die in ihrer historischen Treue festzuhalten Pflicht des Bio-
graphen ist.
Den Zusammenschluß Österreichs und Deutschlands zu dem
vom Führer und Reichskanzler Adolf Hitler gerade kurz vor
Drucklegung dieses Buches in Linz am 13. März 1938 verkün-
deten Großdeutschen Reich sehe ich als Gewehr an, daß per-
sönliche Differenzen Conrads mit deutschen Heerführern als der
Vergangenheit angehörend hingenommen werden. Während mei-
nes mehrjährigen amtlichen Verkehres mit dem deutschen Gene-
ralstab, sowie während meiner zu den schönsten Erinnerungen
zählenden zweijährigen Kriegsdienstleistung unter deutschem
Kommando hatte ich mehr als andere Kameraden Gelegenheit, die
hervorragenden militärischen Fähigkeiten der deutschen Führer
und Soldaten schätzen zu lernen. Dieser enge Verkehr ließ mich
aber auch die Gefahren des mangelnden gegenseitigen Verstehens
für ein einträchtiges Zusammenwirken im Kriege erkennen, die
zu bannen nicht in meiner Macht lag.
Im besonderen geht mein Appell an die Objektivität für Con-
rads Einstellung zu Italien. Als Chef des Generalstabes war Con-
rad dessen unerbittlicher Gegner; als aber das Kriegsglück gegen
12
uns entschieden hatte, kehrte er sehr bald in seine geliebten
Tiroler Berge zurück, obzwar im Lande noch italienische Sol-
daten standen. Die Wertschätzung, welche die einstigen Feinde
ihrem großen Gegner bewiesen, entsprang der rückhaltlosen An-
erkennung des „Soldaten“ Conrad. Dieser Beweis von Ritterlich-
keit gibt mir das Vertrauen, daß bei Beurteilung historischer
Gegensätze, die der Vergangenheit angehören, die Gegenwart un-
berührt bleibt.
Für Conrads geradezu prophetische Gabe in politischen Din-
gen, die er vor und während des Weltkrieges immer wieder be-
wies, zeugt ein Brief an Hans Ludwig Rosegger aus dem Jahre
1920, in dem er schreibt: „Wenn Sie mich fragen, was ich für
unser schwer betroffenes deutsches Volk, dessen Zertrümme-
rung ja das Ziel der inneren und äußeren Feinde war, für das
Beste erachte, so ist es der Zusammenschluß aller Deut-
schen, jedoch vorausgesetzt, daß sie ihr nationales Empfinden
stets höherstellen als jedes andere und unter Ausschluß jeder
einseitigen Überhebung oder Bevormundung — der übrigens
jede Berechtigung fehlen würde — einmütig an den Wieder-
aufbau ihrer kulturellen Größe schreiten, dabei jederzeit fest ent-
schlossen, ihre Feinde gemeinsam abzuwehren.“
Bei Kriegsausbruch übernahm ich ein Brigadekommando an
der Front und schied von Conrad, dem ich in grenzenloser Ver-
ehrung nach besten Kräften gedient hatte.
Der Feldherr Conrad zählt zu den größten Führern aller Zeiten.
Ihn als Strategen zu würdigen, muß ich Berufeneren überlassen.
Ein Lebensbild Conrads kann aber seine Tätigkeit im Kriege
nicht übergehen. Deshalb nehme ich zu Fragen Stellung, in die
ich als sein Mitarbeiter amtlichen Einblick hatte, und hebe Kriegs-
handlungen hervor, die seine hohen Führereigenschaften be-
leuchten.
Am Abschluß eines langen Lebens sehe ich die Krönung mei-
ner militärischen Vergangenheit in dieser schlichten Niederschrift
der meist persönlichen Erinnerungen an den großen „Soldaten“
wie nicht minder an den großen „Menschen“ Conrad, dessen Ein-
fluß bestimmend für meinen Lebensweg geworden ist.
Ich danke allen, die mir bei der Abfassung des Buches behilf-
lich waren. Vor allem gebührt mein Dank Sr. Exzellenz dem
13
Herrn Generaloberst Graf Dankl, meinem verehrten Armeekom-
mandanten, unter dessen glänzender Führung ich meine Feuer-
taufe bei Krasnik erhalten habe, sowie dem Herrn General-Feld-
marschall von Mackensen, die mein Buch durch ein Geleitwort
ausgezeichnet haben. Mein besonderer Dank gilt der werktätigen
Unterstützung meines langjährigen Freundes Oberst des General-
stabskorps Gustav von Hubka. Wie er einst als Reformoffizier
in Mazedonien und später im Evidenzbüro mein treuer Mit-
arbeiter war, so hat er mir auch jetzt seine in vielen auswärti-
gen Missionen erworbene Erfahrung bereitwilligst zur Verfügung
gestellt.
Möge es mir gelingen, die Leser von der geschichtlichen Be-
deutung Conrads zu überzeugen und dadurch beizutragen, das
Andenken dieses Mannes, der einer der größten Söhne Öster-
reichs war, für alle Zukunft zu erhalten. Dann ist der Zweck
dieser Niederschrift erfüllt.
Frühjahr 1938. Der Verfasser.
14
VORWORT
DES VERFASSERS ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Die überaus freundliche Aufnahme meiner vor Jahresfrist
erschienenen Biographie des Feldmarschalls Conrad von Höt-
zendorf in der Tages- und Fachpresse des In- und Auslandes,
insbesondere die vielen zustimmenden Urteile aus dem Alt-
reich haben den Verlag zu einer Neuauflage des Buches ver-
anlaßt.
Vereinzelte Einwendungen der Kritik bestimmen mich, in
Erinnerung zu bringen, daß die Niederschrift des Lebensbildes
des Feldmarschalls in eine Zeit politischer Hochspannung fiel,
da es außerordentlich schwierig war, den oft weit auseinander-
gehenden Auffassungen über Conrads Einstellung zu inner-
und außenpolitischen Fragen gerecht zu werden. Gestützt auf
den jahrelangen amtlichen und außerdienstlichen Verkehr mit
Conrad von Hötzendorf, darf ich wohl für mich in Anspruch
nehmen, seine innersten Gedankengänge gekannt zu haben.
Ich kannte vor allem die treibenden Kräfte, die bestimmend
waren für Conrads Wirken als Chef des Generalstabes, für sei-
nen Einfluß auf die Innen- und Außenpolitik der Monarchie,
wie als Feldherr bei der Vorbereitung des Krieges. Conrads
Leitstern bei allen Handlungen in diesen verantwortlichen Stel-
lungen war eine glühende Hingabe für sein Vaterland Österreich
— die Heimat seiner Vorfahren, der er sein Lebenswerk ge-
widmet hatte. Hiezu gesellte sich ein ebenso glühendes Be-
kenntnis zum deutschen Volkstum. Conrad erkannte vor dem
Kriege die sicherste Gewähr für den Bestand der Monarchie
in dem engsten außenpolitischen Zusammengehen Österreich-
Ungarns mit dem Deutschen Reich und sah im Weltkriege „den
Kampf um die Existenz des Deutschtums“. Als er sich dem
unvermeidlichen Zusammenbruch des Habsburger-Reiches nicht
mehr verschließen konnte, hat er „das ideale Fernziel seiner
deutsch-österreichischen Heimat“ in die Worte gefaßt: „Für
jeden Deutschen kann seit dem Weltkriege dieses Ideal nur
in dem endgültigen Zusammenschluß zu einem mächtigen
15
Reiche deutscher Zunge bestehen..und so gibt es für uns
nunmehr das eine Ziel, die Vereinigung mit unserem Stamm-
lande.“ *
Dieser durch die geschichtlichen Ereignisse bedingte Wandel
in der Einstellung Conrads wurde nicht überall verstanden;
wiederholt stieß ich auf Auffassungen, die übersahen, daß erst
der Weltkrieg eine grundlegende Umstellung in den Beziehun-
gen der beiden deutschen Staaten geschaffen hat, zu der sich
auch Conrad bekannte, als er von der Aussichtslosigkeit des
Kampfes um den Bestand der österreichisch-ungarischen Mon-
archie überzeugt war. In diesem Zwiespalt der Meinungen
habe ich mich befleißigt, bei der Schilderung des Zusammen-
wirkens Conrads mit den Bundesgenossen den einzig gang-
baren Weg strengster Wahrheit zu gehen — selbst auf die
Gefahr hin, mißverstanden zu werden. Die Berechtigung fand
ich in der Überzeugung, Conrad besser gekannt zu haben als
jene Kritiker, die ihn gern nach ihrer Einstellung geformt
gesehen hätten. Daß ich den richtigen Weg gegangen bin,
hat mich das Urteil ungezählter Freunde, Kameraden und mir
gänzlich unbekannter Leser sowie der Widerhall in der Presse
und im Rundfunk gelehrt. Eine besondere Genugtuung und
die Gewähr, daß ich Conrad von Hötzendorf als Soldat und
Mensch in einer seiner Vergangenheit würdigen, wahrheits-
getreuen Form festgehalten habe, fand ich in den Zeilen des
Generalfeldmarschalls von Mackensen, der mir unmittelbar
nach dem Erscheinen des Buches schrieb:
„Sehr geehrter Herr Feldmarschalleutnant!
Meinen besten Dank für die freundliche Übersendung Ihres
Buches über den Feldmarschall Conrad von Hötzendorf.
Ich habe mich bereits in das Buch vertieft und freue mich,
daß es dem Feldmarschall ein seinem Feldherrntum, seiner
Persönlichkeit und seinen Verdiensten würdiges Denkmal
setzt. Der kriegsgeschichtliche Wert des Lebensbildes wird
allgemein anerkannt werden.
v. Mackensen,
Kgl. Preuß. Generalfeldmarschall.“
* Brief an Oberst v. Glaise-Horstenau vom 7. Februar 1918.
16
Das Urteil dieses sieggekrönten deutschen Führers, der in
enger Zusammenarbeit mit Conrad von Hötzendorf in einer
Reihe meisterhaft ersonnener und glänzend durchgeführter
Operationen unvergängliche Lorbeeren um die Fahnen der
verbündeten Heere gewunden hat, erhebt mich über verein-
zelte Kritiker, die in der Hervorhebung der Führereigenschaf-
ten Conrads eine Schmälerung der Leistungen deutscher Füh-
rer und ihrer Truppen sehen wollten. Nichts konnte mir fer-
ner liegen! Meine engen Beziehungen zum deutschen General-
stab vor dem Kriege und die zu meinen schönsten Soldaten-
erinnerungen zählende nahezu zweijährige Dienstleistung wäh-
rend des Krieges unter deutschem Kommando haben mich die
hervorragenden militärischen Fähigkeiten der deutschen Gene-
rale wie die überlegene Tüchtigkeit der deutschen Soldaten
kennengelehrt. Diese in meinem Buche wiederholt betonte
Wertschätzung durfte ich als Gewähr auf fassen, daß der Hin-
weis auf Mängel, die das einträchtige Zusammenwirken im
Kriege gestört haben, lediglich der Pflicht zu historischer Wahr-
heit entsprang.
Ich habe mich bei der Würdigung Conrads als Feldherr
grundsätzlich auf zumeist im Wortlaut wiedergegebene Urteile
von Fachmännern berufen, wobei mir allerdings auch Stim-
men von Feindesseite als maßgebend erschienen. Die von
mir zitierten Aufzeichnungen des englischen Premierministers
Lloyd George, der Conrad für den größten Strategen des Welt-
krieges erklärt, wurden von einzelnen Kritikern als das unmaß-
gebende Urteil eines „Zivilisten“ abgelehnt, obwohl ich darauf
verweisen konnte, daß es der Zivilist Lloyd George war, der, in
den ersten kritischen Phasen des Krieges zum Munitionsmini-
ster ernannt, die englische Front vor dem Zusammenbruch be-
wahrt hat, und daß er später als Chef der Regierung die ban-
gen Sorgen geteilt hat, die das Bekanntwerden der strategi-
schen Absichten Conrads jedesmal in den Reihen der Entente
auslöste.
Vor der Neuauflage des Buches habe ich gewissenhaft jeden
einzelnen Einwand meiner Kritiker geprüft und habe mich
bestrebt, den gegebenen Anregungen nach Tunlichkeit Rech-
nung zu tragen. Die nunmehr vorliegende zweite Auflage ent-
2
17
hält daher Berichtigungen, Ergänzungen und Weglassungen, so-
weit ich sie mit meinem Gewissen als Biograph vereinbaren
konnte — schwebt mir doch bei der Darstellung Conrads „als
Soldat und Mensch“ kein anderes Ziel vor, als das Verständ-
nis für das Wirken und Wollen unseres großen Feldmarschalls
in möglichst weite Kreise zu tragen.
Seit der Veröffentlichung der ersten Auflage habe ich aus
vielen Zuschriften wie durch mündlichen Gedankenaustausch
eine Bestätigung meiner Auffassung erfahren, daß Conrad mit
Berechtigung zu den größten deutschen Führern zu zählen ist,
deren Leistungen in der Geschichte der Kriege der Mensch-
heit unübertroffen sind.
Die Vorsehung hat es dem in Österreich geborenen Führer
Adolf Hitler Vorbehalten, das gewaltige Werk der Vereinigung
von achtzig Millionen Deutschen in einem mächtigen, geschlos-
senen Reich zu vollbringen. Möge mein Buch beitragen, auch
Conrad von Hötzendorf, den Sohn der Ostmark, in die Reihe
jener Männer zu rücken, die als kostbares Vermächtnis einer
stolzen Vergangenheit im Andenken jedes Deutschen weiter-
zuleben verdienen.
Graz, Frühjahr 1939.
Der Verfasser.
18
GELEITWORT DES GENERAL-FELD-
MARSCHALL VON MACKENSEN
Ich kann dem Lebensbild des Feldmarschalls Conrad von
Hötzendorf keine beredteren Geleitworte widmen als die nach-
stehenden Aufzeichnungen aus meinen Kriegserinnerungen.
Erste Meldung in Teschen am 27. April 1915, vor der Durch-
bruchsschlacht von Gorlice: „Der soldatisch treuherzige Erzher-
zog Friedrich kam mir mit der Wärme und Offenheit entgegen,
die dem Bündnisverhältnis und der ernsten Kriegslage ent-
sprachen. Ich hatte den Eindruck, daß Conrad von Hötzendorf,
der geistvolle Mann, schwer unter der Last der Verantwortung
und an der Ungunst der vorangegangenen Ereignisse trug, aber
bemüht war, seine drückend schwere Aufgabe zu meistern. Hach
den zwischen beiden Heeresleitungen in längeren Verhandlungen
getroffenen Vereinbarungen sollte ich an die Weisungen der öster-
reichisch-ungarischen Heeresleitung gebunden sein, die ihrerseits
sich vor allen wichtigen Entscheidungen mit der deutschen in
Verbindung gesetzt hatte. Daneben blieb ich dieser — der deut-
schen — unmittelbar unterstellt. Es galt für mich, hinfort zween
Herren zu dienen. Die taktvollen, ritterlichen, von kamerad-
schaftlichem Geist erfüllten Persönlichkeiten der k. u. k. Wehr-
macht, mit denen ich im Laufe des Krieges zu tun habe, werden
mir diese Aufgabe erleichtern.“
Am 6. Mai 1915: „Der eigentliche Träger der österreichischen
Heeresleitung ist der Generäl der Infanterie Conrad von Hötzen-
dorf, ein Mann von hohem Verstand und viel Herz, seiner Stel-
lung durchaus gewachsen.“
Gelegentlich der Meldung als Oberbefehlshaber der gegen Ser-
bien aufgestellten Heeresgruppe, am 18. September 1915: „Von
meiner Meldung in Teschen bewahre ich die angenehmsten Er-
innerungen. Die Besprechung mit Generaloberst von Conrad
war so inhaltvoll, daß meinerseits keine Lücke in der Kenntnis
2*
19
der Kriegslage blieb, in die ich plötzlich versetzt worden bin.
Daneben hatte ich wieder einen tiefen Eindruck von dem wert-
vollen Menschen und dem hervorragenden Soldaten, der die Ge-
schicke des österreichisch-ungarischen Heeres im Kopf und auf
dem Herzen trägt. Wir berühren uns je länger je mehr sym-
pathisch, und das ist für ein gedeihliches, verständnisvolles Zu-
sammenwirken von höchster Bedeutung. Erzherzog Friedrich war
leutselig und herzlich wie immer; sein Verhältnis zu seinem
Generalstabschef mustergültig!“
20
DER JUNGE CONRAD
Familie und Erziehung
Die Umgebung, der ein Mensch entstammt, ist vielfach be-
stimmend für seinen Lebenslauf. Eindrücke der Jugend wirken
noch bis in das reife Alter nach, Eigenschaften und Talente der
Vorfahren kehren in Nachkommen wieder. Deshalb ist ein Rück-
blick auf die Jugend eines bedeutenden Mannes immer aufschluß-
reich für das Verständnis seines Charakters.
Auch Conrad war in vielem ein Produkt seiner Zeit und
Umgebung, auch bei ihm lassen sich Jugendeindrücke als ent-
scheidend für das Denken und Handeln des reifen Mannes
nachweisen.
Conrad von Hötzendorf entstammte einer Offiziersfamilie; damit
war nach den konservativen Begriffen jener Zeit seine Laufbahn
vorgezeichnet.
Der Vater Conrads wird von Zeitgenossen als der Typus
des heiteren, offenherzigen, das Leben sorglos hinnehmenden
Soldaten geschildert, dessen große Güte rasch die Neigung aller
gewann. Die Kinder hingen in Liebe an ihm, die sie oft in recht
stürmischer Weise zum Ausdruck brachten; sie zogen den viel
älteren, aber lebensfrohen Vater der ernsten Mutter vor, die
ihrem Alter näher stand.
Liebe zum österreichischen Vaterland und Drang nach patrio-
tischer Betätigung haben Conrads Vater mit zwanzig Jahren der
Armee zugeführt. Mit dem Chevauleger-Regiment „Vincent“
machte er die Feldzüge 1813, 1814 und 1815 mit. Als Leutnant
trabte er mit der Schwadron Wouwerman eine Tagesreise lang
neben dem Wagen, in dem der verkleidete Kaiser Napoleon unter
berittener Eskorte durch Südfrankreich zur Überfahrt nach Elba
gebracht wurde.
Nach der siegreichen Beendigung der Kriege gegen Napoleon
kehrte Conrads Vater in die Heimat zurück und machte nun das
21
ELTERNHAUS
Wanderleben des österreichischen Offiziers mit. Als Husar kam
er auch nach Galizien, wo er — ein passionierter Reiter und
Jäger — ein reges gesellschaftliches Leben geführt haben muß;
eine ältere in Lemberg lebende Dame hat dem jungen Conrad
dort noch vieles von seinem Vater, dem stets Lebenslustigen,
erzählt.
Während des Aufstandes der galizischen Bauern im Jahre 1846
lernte Conrads Vater Benedek kennen, von dessen militä-
rischen Fähigkeiten er voll Bewunderung sprach. Im Revolutions-
jahr 1848 wurde das Husarenregiment, in dem Conrads Vater
diente, nach Wien verlegt. — Dort begegnete er einem jungen
Mädchen wieder, das er vor einigen Jahren im Hause seines
Onkels kennengelernt und das schon damals einen tiefen Ein-
druck auf ihn gemacht hatte. Er bewarb sich um sie und hatte
trotz des Altersunterschiedes von 32 Jahren Erfolg. Während der
Brautzeit erlitt Oberstleutnant Conrad einen schweren Unfall, bei
dem er fast das Leben eingebüßt hätte. Sein Pferd scheute bei
einer Ausrückung gegen die Revolutionäre, es überschlug sich und
Conrad erlitt bei dem Sturz einen mehrfachen Beckenbruch, der
eine völlige Invalidität befürchten ließ. Er glaubte, seiner Braut
das Wort zurückgeben zu müssen, doch sie hielt unbeirrt zu ihm,
und so schloß das an Jahren, aber auch an Temperament sehr
ungleiche Paar am 10. November 1851 den Bund der Ehe, die
sich sehr glücklich gestaltete.
Conrads Vater wurde kurz vor der Hochzeit unter Beförderung
zum Oberst in den Ruhestand versetzt; er blieb auch als „Pen-
sionist“ wohlgelaunt und lebenslustig. Seine Vergnügungen wenig
zuneigende Gattin suchte ihren vornehmsten Wirkungskreis in
der Familie.
Der ständige Familienwohnsitz war Penzing bei Wien. Dort
kam am 11. November 1852 der Sohn „Franz“, der spätere Feld-
marschall, zur Welt; zwei Jahre später folgte eine Tochter —
Betty —, an der ihr Bruder Zeit seines Lebens mit großer
Liebe hing.
Franz absolvierte die ersten drei Volksschulklassen zu Hause.
Er lernte nebenbei Französisch bei seiner Mutter; im Zeichnen,
in den bildenden Künsten und in der Architektur unterrichtete
ihn sein Großvater, der Maler Kügler. Eine Reihe von Zeich-
22
DIE MUTTER
nungen aus der Jugendzeit ist heute noch erhalten. Er bevor-
zugte Landschaften und zeichnete gern Pferde, die in seinen
Skizzen immer wiederkehren.
Als Conrad sich dann endgültig entschlossen hatte, seine
Zukunft im Generalstab zu suchen, schenkte er, um jede Ab-
lenkung von vornherein auszuschließen, seine Mal- und Zeichen-
requisiten einem Neffen, dem heute noch lebenden Kunstmaler
Manlick.
Vom zweiten Semester der dritten Klasse an besuchte Conrad
die öffentliche Schule.
Besonders innig war das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn.
Conrad hatte ihre Haupteigenschaft, das hohe Pflichtgefühl, ge-
erbt. Mit aufopfernder Gewissenhaftigkeit nahm die Mutter an
der geistigen Entwicklung des Sohnes teil, sie überwachte seine
Studien und half ihm bei den Schulaufgaben.
Die Mutter blieb Conrad sein ganzes Leben hindurch Stütze
und Mahnung zur Pflicht; ihr Einfluß hielt noch an, nachdem er
die höchsten Stufen militärischer Hierarchie erklommen hatte.
Wer die alte würdige Dame während ihrer letzten Lebensjahre
in dem einfachen Haushalt in der Reisnerstraße in Wien be-
suchte, empfand es an jedem Wort, daß sie, die Gatten und
Tochter verloren hatte, nunmehr all ihre Zärtlichkeit auf den
Sohn vereinte — nicht aus Stolz auf seine hohe Stellung, sondern
voll Sorge um seine durch die Aufregungen des Berufes bedrohte
Gesundheit.
Als Conrad in den Jahren 1878 bis 1882, im Drange, den
Krieg kennenzulernen, seine Versetzung zu einem der mobili-
sierten Verbände erbat, gab ihm die Mutter trotz ihrer Sorgen
recht. Sie verstand das Streben ihres Sohnes nach dem „Kriege“,
dem letzten Endes sein Studium galt.
Conrads Mutter starb im Jahre 1915 als neunzigjährige
Frau; sie hat bis an das Ende ihres reichbewegten Lebens in
voller geistiger Frische die schicksalsschweren Ereignisse ver-
folgt, an denen ihr „Franz“ entscheidenden Anteil nahm. Aus
der Ferne hat sie seinen Kummer über die schmerzlichen Ver-
luste geteilt, die getragen werden mußten, um die Feinde von
der Heimat fernzuhalten. Es war ihr aber auch vergönnt, den
Triumph des Sohnes zu erleben, als nach der Offensive von Gor-
23
LEUTNANT — KRIEGSSCHULE
lice die Russen zurückfluteten und ihr „Franz“ in die Reihe der
größten Feldherren gerückt war. Doch blieb ihr erspart, den
Kummer ihres Sohnes über den Zusammenbruch des Reiches zu
erleben. Sie starb in dem stolzen Bewußtsein, dem Vaterland
einen seiner größten Söhne geschenkt zu haben.
Conrad kam im Herbst 1863 mit elf Jahren in das Kadetten-
institut zu Hainburg. Daß es ihm beschieden war, von diesem
Tage an während 55 Jahren das Ehrenkleid seines Kaisers zu
tragen, hat er bis in sein spätas Alter mit Genugtuung betont.
In Hainburg begann die spartanische Erziehung, die für seine
Einstellung zu physischen Leistungen entscheidend wurde.
Im Herbst 1867 stieg Conrad nach Absolvierung des Kadetten-
institutes in die Militärakademie zu Wiener-Neustadt auf. Am
1. September 1871 wurde er zum Leutnant befördert und zum
Feldjägerbataillon Nr. 11 in St. Pölten eingeteilt.*
Bei der Truppe widmete sich der junge Leutnant mit größtem
Eifer seinen Berufspflichten. Der eben abgeschlossene Deutsch-
Französische Krieg hatte ihn zu der Überlegung angeregt, ob die
nach Einführung des Hinterladegewehres geänderten Ausbil-
dungsvorschriften und Reglements den Erfahrungen des Krieges
auch gerecht würden. Er vertiefte sich in Fachschriften über
Kriege vergangener Zeiten, schöpfte aus ihnen Belehrung über
das Wesen des Infanteriekampfes und entwickelte daraus die
Richtlinien für die Ausbildung seiner Rekruten. Conrad hat noch
in späteren Jahren gern die Stellen in der Umgebung von
St. Pölten und Wilhelmsburg auf gesucht, wo er seine jungen Sol-
daten für den damals schon erkannten „praktischen Kriegszweck“
geschult hat.
Von der „schönen wilden Leutnantszeit“ hat Conrad wenig
genossen, denn sein Streben nach höherer Ausbildung zwang ihn
bald wieder zum Studium. Im Herbst 1874 wurde er nach
gut bestandener Aufnahmsprüfung in die Kriegsschule aufge-
nommen.
Nun war Conrad an der Pflanzstätte des Generalstabes an-
* Die Schülerinnen des Institutes der Englischen Fräulein in
St. Pölten haben dem Feldmarschall Conrad während des Weltkrieges
eine Huldigungsadresse überreicht, die ihn an seine erste Leutnants-
garnison erinnern sollte.
24
GENERALSTABSOFFIZIER
gelangt. Hier erwarb er sich den Grundstein seines umfassen-
den militärischen Wissens, das ihn nach Jahren befähigte, selbst
als Lehrer an dieser Hochschule zu wirken.
Nach mit Vorzug absolvierter Kriegsschule wurde Conrad im
Herbst 1876 als Generalstabsoffizier der 6. Kavalleriebrigade
in Kaschau zugeteilt. Damit begann seine Laufbahn im General-
stab, die ihn steil aufwärts führte, bis es ihm gegönnt war, nach
drei Jahrzehnten selbst an die Spitze des Generalstabes der öster-
reichisch-ungarischen Wehrmacht zu treten.
25
ERSTE KRIEGSERFAHRUNGEN
Der Feldmarschall hat seine Kriegserinnerungen von 1878 bis
1882 unter dem Titel „Mein Anfang“ zu einer Zeit bearbeitet,
da er schon schwer krank und unfähig war, sich der Vollendung
seines großen Memoirenwerkes zu widmen. Wenn sich sein
Zustand vorübergehend besserte, holte er die vergilbten Auf-
zeichnungen hervor: kleine, zerfallene Notizbücher, mit enger,
zarter, nahezu verblaßter Bleistiftschrift, in denen nur er sich
zurechtfinden konnte.
Conrad stand vor der Frage, ob er diese Blätter der Verges-
senheit überantworten sollte. Schließlich erschien ihm „die
Quelle der Anschauungen, die mich in meinem späteren Leben
leiteten“, zu wertvoll. So entschloß er sich, sie zu ordnen, durch
einen Text zu verbinden und sie der Öffentlichkeit zu übergeben.
Er nennt dieses letzte, in Tagebuchform gehaltene Werk die
„schlichte Schilderung des Eintrittes eines Offiziers in die Praxis
des Berufslebens, den das Schicksal in der Folge dazu ausersehen
hatte, im Weltkriege eine führende Rolle zu spielen; eine an-
spruchslose Erzählung aus längst entschwundenen, durch den
Weltkrieg verwischten Tagen — und doch Ereignisse, eine Zeit
betreffend, in der die Keime zum Kriegsausbrüche gegen Ser-
bien sich bildeten und die große Katastrophe auslösten“.
„Mein Anfang“ ist mit der schwindenden Kraft des Marschalls
geschrieben und bildet das wertvolle Vermächtnis eines auch im
Schatten des Todes nicht rastenden Geistes. Ich glaube, einen
Akt schuldiger Pietät zu erfüllen, wenn ich diesen Aufzeichnun-
gen einen breiteren Raum widme und Conrad öfters mit seinen
eigenen Worten zum Leser sprechen lasse.
DieOkkupationBosniensundderHerzegowina
Nach dem für Rußland glücklichen Ausgang des Russisch-Tür-
kischen Krieges 1877 war der Friede von San Stefano geschlos-
26
ÖSTERREICH -UNGARNS MANDAT
sen worden. Mehrere europäische Mächte gaben sich mit den
Bestimmungen dieses Friedensvertrages nicht zufrieden, der Ber-
liner Kongreß sollte darüber entscheiden. Der Artikel XXV
regelte in der Folge die Rechte Österreich-Ungarns wie folgt: Die
Provinzen Bosnien und die Herzegowina sollten von Österreich-
Ungarn besetzt und verwaltet werden. Da die österreichisch-unga-
rische Regierung keinen Wert darauf legte, auch den Sandschak
Novibazar zu verwalten, sollte die ottomanische Regierung fort-
fahren, dort ihre Souveränität auszuüben, Österreich-Ungarn be-
hielt sich jedoch das Recht vor, zur Sicherung des neuen politi-
schen Status und der Verkehrsweg© im Sandschak Garnisonen
zu halten. Die beiden Regierungen sollten die weiteren Einzel-
heiten im gegenseitigen Einvernehmen regeln.
Für den Fall der Übertragung dieses Mandates an Österreich-
Ungarn lagen bereits Vorstudien vor: Conrad schreibt, daß schon
in der Kriegsschule reservate Vorträge über Land und Leute
und über die Art des beabsichtigten Einmarsches gehalten wor-
den waren. Allgemein herrschte die namentlich im Ministerium
des Äußeren vertretene Ansicht, daß sich die Besetzung der Pro-
vinzen Bosnien und Herzegowina friedlich vollziehen würde. In
der Öffentlichkeit kursierte die scherzhafte Auffassung, daß eine
Kompanie mit einer Regimentsmusik hiefür genügen würde.
Für den Einmarsch nach Bosnien waren das aus drei Infanterie-
divisionen zusammengesetzte XIII. Korps, für die Besetzung der
Herzegowina die 18. Infanteriedivision, in Summe 72.000 Mann,
bestimmt. Der Kommandant des XIII. Korps, Feldzeugmeister
Josef Freiherr von Philippovic, und der Kommandant der 18. In-
fanteriedivision, Feldmarschalleutnant Stephan Freiherr v. Jo-
vanovic, hatten im gegenseitigen Einvernehmen zu handeln.
Am 29. Juli 1878 überschritt das XIII. Korps die Save. Das
war das Signal für ein allgemeines Aufflammen des Aufstandes,
dem sich der Großteil der regulären türkischen Truppen an-
schloß. Etwa 40 Bataillone stark, mit Kruppschen Geschützen
ausgerüstet, repräsentierten sie einen ernst zu nehmenden Gegner.
Am 8. August wurde die unter Führung des Generalstabs-
hauptmannes Millinkovic zur Aufklärung und zu Requisitionen
vorausgesendete 5. Eskadron des Husarenregiments Nr. 7 bei
Maglaj überfallen und unter großen Verlusten zersprengt. Jetzt
27
CONRAD ERBITTET EINE KRIEGSVERWENDUNG
erst wurde der Ernst des Widerstandes erkannt: die Okkupa-
tionstruppen wurden durch drei weitere Infanteriedivisionen für
Bosnien und eine Division für die Herzegowina verstärkt.
Conrad, damals Brigadegeneralstabsoffizier in Kaschau, hatte
für die voraussichtlich kampflose Besetzung der zu verwaltenden
Gebiete wenig Interesse. Bei dem unerwarteten Widerstand
horchte er gespannt auf. „Der Gedanke, einer kriegerischen Un-
ternehmung österreichisch-ungarischer Truppen fernbleiben zu
sollen, war mir unerträglich, und so schrieb ich, jedes Herkom-
men beiseite lassend, direkt an den Chef des Generalstabes,
Freiherrn von Schönfeld, einen Privatbrief, in dem ich ihn um
die Einteilung zu einer mobilen Truppe bat, eventuell zu dem
in der 18. Infanteriedivision eingeteilten Feldjägerbataillon
Nr. 11, in dem ich zu dienen begonnen hatte.“
Der Brigadier nahm Conrads ungewöhnlichen Schritt vornehm
auf. Schon am 16. August verfügte ein Telegramm die Einteilung
Conrads zum Stabe der 4. Infanteriedivision. „Ich war selig“,
schreibt Conrad, „bitter war mir nur der Gedanke an meine
Mutter und Schwester, deren einzige Stütze ich war, nachdem
mein Vater am 30. März 1878 im 85. Lebensjahre seine Augen
für immer geschlossen hatte.“
Conrad beeilte sich, seinen nächsten Bestimmungsort Brünn
zu erreichen, wo die 4. Infanteriedivision mobilisierte. Einen
besonderen Abschied bereitete ihm der Militärkommandant von
Lemberg, General der Kavallerie Freiherr von Pulz.* Nach der
Abmeldung Conrads ließ er eine Flasche Wein bringen und stieß
mit den Worten auf sein Wohl an: „Machen Sie sich nichts
daraus, wenn Ihnen ein Läufel abgeschossen wird, aber geben
Sie acht, daß man Ihnen nicht etwa Ohren oder Nase ab-
schneidet !“
Nach einem kurzen Besuch bei den Seinen meldete sich Con-
rad am 19. August in Brünn. Am 22. August reiste das 4. Divi-
sionskommando unter dem Jubel der Bevölkerung ab und am
24. August spät nachts wurde bei Fackelschein in Essegg auswag-
* General von Pulz hatte als Brigadier am 24. Juni 1866 mit weni-
gen Eskadronen jene berühmt gewordene Attacke geritten, welche
den Erfolg hatte, daß zwei italienische Infanteriedivisionen von dem
Eingreifen in die Schlacht von Custoza abgehalten wurden.
28
AN DER KRIEGSBRÜCKE BEI BROD
goniert. Schon am folgenden Tage begann der Marsch an die
Grenze. Die enorme Hitze, der maßlose Staub und die Fliegen-
plage machten die Märsche sehr anstrengend. In Brod traf die
Nachricht ein, daß der 20. Halbdivision bei Doboj etwa 30 In-
surgentenbataillone gegenüberstünden; „darüber herrschte all-
gemeine Freude mit Rücksicht auf den bevorstehenden Kampf“.
Conrad wurde im Divisionsstab mit der Führung des Operations-
journals betraut. Am 31. August war er an die Kriegsbrücke bei
Brod vorausgeritten. „Vor mir lag das Land der Hoffnung und
Verheißung, was würde ich dort erleben?“
Während der Mobilisierung und Versammlung der 4. Infan-
teriedivision waren die Kolonnen unter mehrfachen, glücklich
verlaufenen Gefechten nach Bosnien einmarschiert. Nur die
20. Halbdivision mußte, dem Drucke starker feindlicher Kräfte
nachgebend, langsam zurückgenommen werden. Es gelang ihr,
sich auf den Höhen des rechten Bosna-Ufers und nördlich der
Spreca festzusetzen. Damit war eine gefährliche Lage entstan-
den, denn die Insurgenten konnten die Etappenstraße Brod—
Sarajevo gefährden. Diese Bedrohung sollte zunächst durch
die 4. Infanteriedivision abgewendet werden. Außerdem sah
man sich in Wien veranlaßt, der unerwarteten Lage Rech-
nung zu tragen und am 21. August die 2. Armee aufzustellen,
die unter Kommando des Feldzeugmeisters Freiherrn von Phi-
lippovic aus dem XIII., III. und V. Korps und der 14. Kaval-
leriebrigade zu bestehen hatte. Die 4. Infanteriedivision, bei der
Conrad als Generalstabsoffizier eingeteilt war, stand im Ver-
bände des III. Korps, Kommandant General der Kavallerie Graf
Szapäry. Divisionskommandant war der Feldmarschalleutnant
Josef Pelikan von Plauenwald, Generalstabschef Major Bach. Die
aus den Infanterieregimentern Nr. 8, Nr. 45 und aus dem Feld-
jägerbataillon Nr. 25 bestehende 7. Infanteriebrigade befehligte
Generalmajor Johann Freiherr von Waldstätten, die 8. Infan-
teriebrigade mit den Infanterieregimentern Nr. 49, Nr. 54 und
dem Feldjägerbataillon Nr. 4 der Oberst Moritz Ritter von
Bruckner.
Wegen der schwierigen Lage der 20. Halbdivision bei Doboj
waren von der 4. Division das Infanterieregiment Nr. 54 und
das Feldjägerbataillon Nr. 4 dahin vorausgesendet worden. Am
29
DIE ERSTEN GEFANGENEN
1. September folgte als nächste Staffel das Divisionskommando
mit dem Infanterieregiment Nr. 8, der Artillerie, dem Feldjäger-
bataillon Nr. 25 und der Geniekompanie. Der Übergang über
die Save dauerte drei Stunden, weil die Schiffsbrücke zeitweise
für durchfahrende Dampfer geöffnet werden mußte. Dann ging
es weiter nach Dervent. dem Ziel für diesen Tag. Der Marsch
war an diesem Tage wegen der drückenden Hitze und dem
dichten Staube besonders beschwerlich. Während der langen
Rast knallte plötzlich ein Schuß: ein Reservefeldwebel hatte
Selbstmord verübt, nachdem er erklärt hatte, die Strapazen nicht
mehr ertragen zu können.
Conrad stand nun im Krieg! Die Fülle der auf ihn einstür-
menden neuen Eindrücke hielt er gewissenhaft in seinem Tage-
buch fest, das er durch charakteristische Geländeskizzen ergänzte.
Am Abend des ersten Marschtages traf beim Divisionskom-
mando ein Transport von etwa 500 gänzlich erschöpften gefan-
genen Insurgenten und regulären Soldaten ein. Conrad fiel be-
sonders ein alter Türke auf, der jämmerlich um Wasser flehte
und von der Mannschaft unserer Eskorte, die selbst vor Durst
verschmachtete, gelabt wurde. Er hebt diesen Beweis der Gut-
mütigkeit unserer Soldaten hervor, die erst durch die Bestialität
des Gegners zur Rücksichtslosigkeit gezwungen wurden.
Am folgenden Tage wurde Conrad nach Kotorsko vorausge-
sendet, um Biwaks auszumitteln. Von der Höhe, auf der das
Lager gewählt worden war, hatte man bereits einen Blick auf
Doboj und die befestigte Stellung der Halbdivision Szapäry sowie
auf die gegenüberliegenden Stellungen der Insurgenten. Gegen
10 Uhr nachts, als die Truppen sich zur Ruhe begeben wollten,
fielen erst einige Schüsse, dann begann ein lebhaftes Feuer, das
sogar in Salven überging. Insurgenten sollten ein Wasserabho-
lungskommando der 25er-Jäger beschossen haben. Um Klarheit zu
schaffen — es waren zwei Tote und drei Verwundete gemeldet
—, ging Conrad mit zwei Mann feindwärts über die Feldwachen
hinaus. „Dort hörte ich nichts außer dem Zirpen der Grillen
in den Bosnawiesen. Ich kehrte zurück und fand bereits das
Regiment Nr. 8 in Gefechtsstellung, die Batterien hatten einge-
spannt, die Lagerfeuer waren verlöscht.“
Am nächsten Morgen mußte Conrad, um die Ursachen der
30
PANIK
nächtlichen Schießerei festzustellen, in einer Skizze die Nächti-
gungssituation des Jägerbataillons, die Standorte der Feldwachen
und die Orte festlegen, wo die Toten lagen. Es ergab sich, daß
das Bataillon nach dem Einrücken ins Lager ein unbewaffnetes
Wasserkommando zu einer von den Landesbewohnern bezeich-
neten Quelle entsendet hatte. Während des Füllens der Kessel
wurden die Jäger plötzlich angeschossen, worauf sie mit den
lärmenden Kesseln nach dem Lager zurückeilten. Die Feld-
wachen hatten das Feuer ins Blinde eröffnet, was zu dem nächt-
lichen Alarm führte.
Diese Episode pflegte Conrad seinen Kriegsschülern zur Il-
lustrierung des Kapitels „Panik“ zum besten zu geben. Sie
sollten daraus lernen, wie die Nerven bei Nacht, besonders einem
fanatischen, grausamen Gegner gegenüber, anders funktionieren
und geringfügige Ereignisse in Panik ausarten können.
Als Opfer lagen ein Unterjäger und ein Jäger tot unter einem
Baum; sie sollten hier begraben werden. Beide waren nur mit
Hemd und Unterhose bekleidet, weil die Monturswirtschaft ver-
langte, Kleidung und Ausrüstung der Gefallenen zu sammeln.
Conrad berührte es peinlich, die ersten Gefallenen in dieser
Weise zu Grabe gelegt zu sehen. Er hätte gewünscht, den Toten
schon mit Rücksicht auf die übrige Mannschaft die Uniform zu
belassen, aber „man mußte im Kriege lernen, jede Sentimen-
talität auszuschalten. Es war für mich sozusagen die erste Här-
tung“.
Am 4. September entwickelte sich ein Gefecht, das immer
lebhafter wurde. Die Infanterieregimenter Nr. 54 und Nr. 8 so-
wie eine Gebirgsbatterie mußten eingesetzt werden. Das Kom-
mando dieser Gruppe führte Generalmajor Baron Waldstätten.
Der Divisionär beobachtete das Gefecht von einer Höhe etwa
3000 Schritte hinter der Gefechtslinie. Conrad fand, daß man zu
weit rückwärts sei, und erbat sich mit dem Hinweis auf seine
Pflicht, das Operationsjournal zu führen, die Erlaubnis, näher
an den Feind gehen zu dürfen.
Auf dem Wege in die Schwarmlinie begegnete er Verwunde-
ten, die er tröstend ansprach. In der Folge hielt sich Conrad
bei der Gebirgsbatterie auf, die gegen eine türkische Batterie
im Feuer stand. Die Türken schossen sehr schlecht, in den eige-
31
FEUERTAUFE
nen Reihen wurde nur ein Kanonier verwundet. Vor der Front
lag ein großer Wald, in dem ein heftiger Kampf entbrannt war.
Conrad stand mit dem Batteriekommandanten auf dem offenen,
von Gewehrfeuer bestrichenen Höhenrücken. Aus dem Walde
tönten die türkischen Signale und die Allahrufe des Feindes,
der immer mehr gegen seine befestigte Hauptstellung zurückge-
drängt wurde. Das war Conrads Feuertaufe! Er schreibt dar-
über:
„Einen besonderen Eindruck machte mir Generalmajor Baron
Waldstätten, der kaltblütig und impulsiv überall eingriff und in
der Gefahr geradezu wuchs. Ich wußte jetzt, was ein Gefecht ist
und wie man es leitet. Ich war von dem Wunsche beseelt,
immer um diesen hervorragenden Führer zu sein. Er ist mein
Taktiklehrer in der Kriegsschule gewesen und ich hatte damals
vieles von ihm gelernt. Aber das war alles durch die Stunden
überboten, während welcher ich ihn im Gefechte von Lipac sah.“
Gegen 5.30 Uhr traf auch der Korpskommandant Graf Szapäry,
den Conrad einen „Ritter ohne Furcht und Tadel“ nennt, auf
dem Gefechtsfelde ein. Der Feind war unter schweren Ver-
lusten auf seine befestigte Hauptstellung zurückgeworfen wor-
den, worauf der Korpskommandant den Abbruch des Gefechtes
für diesen Tag anbefahl. Der Divisionsstab begab sich nach
Doboj. Conrad blieb noch bis 8 Uhr abends auf dem Gefechtsfeld
und folgte erst bei Einbruch der Dunkelheit. Er fand den Stab
beim Speisen. Der Divisionär sprach aus Anlaß der Feuertaufe
einige Worte, dann ging alles zur Ruhe. Conrad aber begab sich
noch zu Generalmajor Waldstätten mit den Daten für den Ge-
fechtsbericht, den sie dann gemeinsam verfaßten. „Generalmajor
Waldstätten hatte sich auch noch keine Ruhe gegönnt, er war
in das Lager des Regimentes Nr. 8 gegangen, hatte persönlich
alle Offiziersdiener versammelt und sie angewiesen, Decken und
sonstige Lagerbedürfnisse ihren Herren zu überbringen, ein klei-
nes Zeichen der großen Fürsorge, die Waldstätten bei allen Ge-
legenheiten seinen Truppen angedeihen ließ.“
Der nächste Tag war für Conrad ein Tag „einer großen Ent-
täuschung, die mich mein ganzes Leben lang begleitete“. Nach
dieser Einleitung ist man auf Arges gefaßt. Die „große Ent-
täuschung“ bestand darin, daß Conrad an Stelle eines erkrankten
32
KAISER FRANZ JOSEPH, CONRAD
UND DER THRONFOLGER ERZHERZOG FRANZ FERDINAND
BEI DEN MANÖVERN 1909
EIN NERVÖSER VORGESETZTER
Generalstabsoffiziers den Inspektionsdienst übernehmen und im
Lager bleiben mußte, statt bei der Fortsetzung des Angriffes
dabei zu sein. Er wurde dafür am kommenden Tag entschädigt,
indem er vom Divisionsgeneralstabschef mit einem Befehl an das
Feldjägerbataillon Nr. 25 entsendet wurde, wobei ihm Major
Bach vor dem Abreiten sagte: „Geben Sie acht, der Weg nach
Kozna war bis jetzt durch Insurgenten gefährdet.“
Dieser Auftrag war nach Conrads Geschmack. In stockfinste-
rer Nacht brach er auf — er gesteht es selbst zu, „es war kein
heimlicher Ritt“. Gegen 6 Uhr früh traf er nach allerlei
Abenteuern beim 25. Jägerbataillon ein, das eben im Begriff
war, den Morgenkaffee zu kochen. Conrad kritisiert in seinen
Aufzeichnungen ungewöhnlich scharf die Führung des Bataillons
und schreibt zum Schlüsse: „Ich hatte hier das abschreckende
Beispiel eines ,nervösen Vorgesetzten4 bekommen und es mir
für die Folge als weise Lehre dienen lassen.“
An diesem Gefechtstage gab es viele Tote und Verwundete.
Die meisten Leichen waren verstümmelt, hauptsächlich geköpft.
Die Pionierabteilungen waren darangegangen, gemeinsam mit
den Landesbewohnern die Toten zu begraben. Conrad zwang
sich zu der für den Soldatenberuf unerläßlichen Härte, „die nicht
dem Mangel an Gemüt oder Teilnahme entspringt, sondern der
Überzeugung von der Unerbittlichkeit des Kampfes ums Dasein,
des mit ihm innig verbundenen, unaufhaltsamen historischen
Geschehens und der daraus für den einzelnen erwachsenden
Pflichten“.
Nach Überwindung des Widerstandes der Insurgenten sollten
sich die Truppen der 4. Infanteriedivision in zwei selbständigen
Kolonnen in der Richtung auf Sarajevo bewegen und das durch-
zogene Gebiet von auftauchenden Banden säubern. „Der Ge-
danke, daß ich mit dem Divisionsstabe nach Sarajevo marschie-
ren und dort öden Kanzleidienst machen sollte, während die
Truppen über die Berge zogen, war mir unerträglich, und ich
bat daher Baron Waldstätten, mich mitzunehmen. Er willfahrte
freudig meiner Bitte und ich war selig darüber.“ Conrad ertrug
willig alle Mühen dieses Marsches, der über elende Gebirgswege
und fernab von jeder Zivilisation führte. Auch eine arge Magen-
3
33
„EKKEHARD1
Verstimmung, woran er seit längerer Zeit litt, konnte ihn nicht
entmutigen.
Sehr begeistert schreibt er über die Harmonie, die im Brigade-
stab herrschte. Neben der Sorge für die leiblichen Bedürfnisse
der Offiziere seines Stabes fand der Brigadier immer noch Zeit
für geistige Genüsse. Seine ganze Bibliothek bestand allerdings
nur aus Scheffels „Ekkehard“, worin er beim Lagerfeuer oft bis
in die späte Nacht las. Nach vielen Jahren besuchte Conrad ein-
mal den Baron Waldstätten in Wien, der inzwischen Armee-
inspektor geworden war. Plötzlich erhob sich der Hausherr und
kehrte aus dem Nebenzimmer mit einem Buch zurück. „Conrad,
kennen Sie das?“ Es war der „Ekkehard“ vom Jahre 1878 —
„unser treuer Begleiter im Kriege“.
Am 30. September erhielt Conrad den Befehl, nach Sarajevo
vorauszureiten, um beim Armeekommando das Eintreffen der
Brigade zu melden und Befehle einzuholen. „Es war ein schöner
Morgen, der die wunderbare Gegend in rosafarbener, violetter
und frischgrüner Färbung erscheinen ließ. Als ich den Rand
einer Höhe passierte, öffnete sich plötzlich das Tal, und vor mir
lag eines der herrlichsten Bilder, deren ich mich erinnere: die
Stadt Sarajevo, wie eine aufgeblätterte Rose, inmitten der Berge
eingebettet.“ Conrad sollte sich beim Armeekommandanten
Philippovic melden, der im Rufe eines sehr scharfen Herrn stand.
Der Empfang war aber überaus freundlich, und Conrad wurde
mit dem Befehl zurückgeschickt, die Brigade habe am Eingang
von Sarajevo zu rasten, der Armeekommandant werde ihr ent-
gegenkommen und mit ihr in die Stadt einziehen.
In Sarajevo gab es nach langer Zeit wieder ein Gasthaus,
sogar einen Zuckerbäcker, und Conrad konnte seinen Magen
etwas schonen. Aber schon am 3. Oktober wurde auf gebrochen
— und „am Abend ertönte aus dem Biwak der Leute wieder
fröhlicher Gesang, wir saßen in Mäntel gehüllt um das Lager-
feuer, tranken heißen Tee und freuten uns am Vorlesen des
,Ekkehard‘, bis rings um uns Pferde und Leute im tiefen Schlafe
lagen“.
Dann ging es weiter nach Konjica, Jablanica und Mostar. Die
Märsche in der wundervollen Gebirgswelt begeisterten Conrad
zu Naturschilderungen und Gedanken, die er allabendlich getreu
34
STRAFEXPEDITION
in sein Tagebuch schrieb. Frische, frohe Lebenslust spricht aus
diesen Zeilen. Conrad war Zeuge gewesen, wie unsere Soldaten
ihre Pflicht vorbildlich erfüllt hatten. Nun sollte der Sieg aus-
genützt werden. Vergessen war alle Mühe und Plage in dem
Bewußtsein, das Reich um zwei wertvolle Provinzen gemehrt
zu haben.
Am 13. Oktober erhielt Conrad den Auftrag, zum 4. Divisions-
kommando nach Sarajevo einzurücken. „Das war mir eine
Trauerbotschaft, und ich bat den General, es durchzusetzen, daß
ich bei der Brigade belassen werde.“ Waldstätten suchte tele-
graphisch um das Verbleiben Conrads an — so lieb hatten ihn
seine Vorgesetzten und die Kameraden gewonnen. Um Mitter-
nacht kam die „Freudenbotschaft“, daß er bei der Brigade
bleiben könne. Sie hatte eben den Auftrag erhalten, eine Straf-
expedition in die Zagorje durchzuführen, wo sich angeblich
1500 Insurgenten angesammelt hatten. Conrad wurde „zu seiner
großen Freude“ dem Kommando dieser Gruppe als Generalstabs-
offizier zugeteilt.
Der Weg der Strafexpedition führte ohne Karte über sehr
schwieriges Gelände, und Conrad erhielt den Auftrag, durch
Skizzen längs der Marschlinie eine primitive Aufnahme des
Landes zu machen. Auf diesem äußerst beschwerlichen Marsch
erlebte er sein erstes türkisches „Diner“. Die Expedition gelangte
bis Kalinowik, wo festgestellt wurde, daß sich die Insurgenten
zerstreut hatten. Conrad rückte am 27. Oktober wieder nach
Sarajevo ein, wo er bis zum 24. November verblieb.
Der Widerstand der Insurgenten war gebrochen, und da ein
Wiederaufflackern in absehbarer Zeit nicht zu erwarten war,
wurde der Truppenstand in Bosnien und der Herzegowina herab-
gesetzt. Ein Allerhöchstes Handschreiben vom 19. Oktober 1878
verfügte die Auflösung der 2. Armee; an deren Stelle wurde
ein Generalkommando in Sarajevo errichtet und Seine könig-
liche Hoheit der Feldzeugmeister Wilhelm Herzog von Württem-
berg zum kommandierenden General und Chef der Landesregie-
rung ernannt.
Baron Waldstätten übernahm das Kommando der 4. Infanterie-
division, Kommandant der 8. Infanteriebrigade wurde General-
major Killic. Conrad erhielt eine Einteilung als Generalstabs-
3*
35
PRIMITIVES QUARTIER — ERKRANKUNG
Offizier in Karlstadt. Da ihm der Dienst im Okkupationsgebiet
viel interessanter erschien und er hoffte, daß im Sinne des Ber-
liner Vertrages im. Laufe des Jahres 1879 wenigstens ein Teil
des Sandschaks Novibazar besetzt werden würde, bat er, seine
Kommandierung rückgängig zu machen. Dieser Bitte wurde will-
fahrt und Conrad erhielt den Bescheid, daß er als Generalstabs-
offizier bei der 8. Infanteriebrigade in Gorazda verbleiben könne,
in dessen Umgebung Insurgentenansammlungen gemeldet waren.
Das Quartier, das Conrad bis Ende August 1879 bewohnte, war
recht bescheiden. „Mein Bett bestand aus zwei Holzblöcken, auf
denen ein Gartenzaun ruhte, darüber ein Strohsack und Decken.
Am breiten Fenster stand ein Arbeitstisch, an dem ich tagsüber
mit dem Brigadeschreiber arbeitete. Wir verfügten ferner über
zwei Sessel. Alle meine Habseligkeiten (Satteltasche, Stiefel,
Kleider) hingen auf Nägeln hoch an der Wand, weil sie sonst
den zahlreichen Ratten und Mäusen, die nachtsüber kamen, zum
Opfer gefallen wären.“
Es war höchste Zeit, daß Conrad wieder zu einer geregelten
Lebensweise kam. Er litt noch an einem Magenübel, und in
Gorazda herrschte eine Typhusepidemie, der im Tage durch-
schnittlich ein bis zwei Leute erlagen.
Neben seinem Dienst hatte Conrad noch die Agenden der
Zivilverwaltung zu besorgen; der Brigadier war Bezirkshaupt-
mann und sein Generalstabsoffizier Bezirkskommissär. Schon die
ersten Tage benützte er zu einer Rekognoszierung der Gorazda
umschließenden Höhen und der Werke, die zum Schutze er-
richtet worden waren. Das Resultat war ein Bericht über not-
wendige Ergänzungsbauten, die dann später auch durchgeführt
wurden.
Zu den Pflichten der Zivil Verwaltung trat noch die Verpflegs-
leitung. Der der Brigade beigegebene Intendantursbeamte war
so „umständlich“, daß sich Conrad mit ihm nicht vertrug. „Mit
einem Verpflegsakzessisten, einem Kaufmannssohn aus Brünn,
ging die Sache tadellos.“ Endlich konnte Conrad auch etwas für
seine geistigen Bedürfnisse tun. Er erbat sich von seiner Mutter
Bücher: Schopenhauer, Scherrs „Menschliche Tragikomödie“, die
Kulturgeschichte von Hellwald und anderes. Es folgte nun eine
Zeit geordneten Lebens. Spaziergänge und Ritte in die Um-
36
IN GEHEIMER MISSION
gebung wechselten mit der reichen Kanzleiarbeit in angenehmer
Weise ab.
Am 18. November registriert Conrad in seinem Tagebuch die
Nachricht, daß er zur Beförderung zum Hauptmann eingegeben,
vom Kriegsministerium aber mit der Begründung gestrichen wor-
den sei, daß er noch zu kurz Oberleutnant gewesen war. „Daß
ich fünfeinhalb Jahre Leutnant war, wurde nicht in Rücksicht
gezogen.“ Am 5. Dezember traf der neuernannte Brigadier Gene-
ralmajor Nikolaus Killic ein. 5,Ich wurde von ihm äußerst freund-
lich empfangen und sah sofort, daß mir mit seiner Ernennung
zum Brigadier ein Glück widerfahren war. Killic war eine aus-
gesprochen harte, entschlossene Soldatennatur; er hatte schon
unter Radetzky in Italien gekämpft, war bei Königgrätz schwer
verwundet worden und hatte sich während der Okkupation als
schneidiger Führer erwiesen.“
Conrad erkrankte infolge der Überanstrengung, er fieberte,
hatte starke Kopfschmerzen und verbrachte ganze Nächte schlaf-
los. In diesem Zustand traf ihn der Befehl des Generalkom-
mandos, in der Maske eines Parlamentärs, mit der Begründung,
es handle sich um ein gemeinsames Vorgehen gegen das über-
handnehmende Räuberunwesen, auf türkisches Gebiet, wenn mög-
lich bis Plevlje, vorzudringen und über die Stimmung der Be-
völkerung, den Wert der türkischen Truppen und die feindlichen
Kommunikationen zu berichten.
„So krank ich auch war, war es natürlich, daß ich mich zu
dern Ritt fertigmachte. Auch in der Nacht zum 7. Dezember
schloß ich kein Auge und fieberte, stand aber zeitlich auf und
ritt ab.“ Conrad erhielt einen Offizier als Dolmetsch und eine
Eskorte zugewiesen. Am 8. Dezember überschritt er, fiebernd
und nur von Tee und Brot lebend, in tiefem Schnee und bei
eisiger Kälte die Grenze; auf Wegen, die von den Pferden nur
mit größter Mühe erklettert werden konnten. An der Karaula
des türkischen Grenzpostens wurde Conrad angehalten und nach
einem Han eskortiert, wo ein türkisches Halbbataillon lag. Die
Offiziere konnten nicht schreiben, nur ein einziger lesen; die
Mannschaft hatte „verlumpte Verbrecherphysiognomien“.
Während des Rittes hatte die Einwohnerschaft eine bedroh-
liche Haltung eingenommen, die Conrad durch energisches Ver-
37
ALLERHÖCHSTE BELOBENDE ANERKENNUNG
halten abzuwehren verstand. In Gesellschaft der türkischen Offi-
ziere verbrachte er den Abend bei einem echt türkischen Mahl,
dem eine durch Ungezieferplage und eisige Kälte so arge Nacht
folgte, daß er trotz völliger Erschöpfung keinen Schlaf finden
konnte. Gegen 4 Uhr früh erklärte ein angekommener türkischer
Offizier, Conrad dürfe unter keinen Umständen nach Plevlje
reiten; er sei ermächtigt, die Verhandlungen zu führen. Es er-
übrigte nichts, als sich zu fügen und unter den gleichen Unbilden
der Witterung wieder nach Gorazda zurückzureiten. Dort ver-
faßte Conrad einen Bericht über die gescheiterte Mission und
seine Beobachtungen.
Das Christfest 1878 konnte Conrad im Kameradschaftskreise
feiern, ebenso den Anbruch des neuen Jahres. „Der Rückblick
auf das alte war mir reich an Erfahrungen, aber auch an Ent-
täuschungen. Ich kam jedoch über sie hinweg und fühlte, daß
ich damit eine wertvolle Erkenntnis für meinen weiteren Lebens-
weg gewonnen hatte.“
Die Zeit bis Anfang Dezember 1879 verbrachte Conrad in Go-
razda. Mit Personal-Verordnungsblatt vom 7. Mai 1879 war ihm
„für hervorragend tapfere Leistungen während der Operationen in
Bosnien und der Herzegowina im Jahre 1878“ die Allerhöchste
belobende Anerkennung ausgesprochen worden, auf Grund
welcher er die 1890 gestiftete Militärverdienstmedaille am Bande
des Militärverdienstkreuzes erhielt.
Die ruhigeren Verhältnisse gestatteten es ihm, sich nach langer
Zeit wieder um seine Angehörigen zu kümmern. Mit tiefer Be-
trübnis erfuhr er, daß sich seine Schwester einer Operation
unterziehen müsse. „Um die Mittel hiefür zu beschaffen, ver-
kaufte ich meinen siebenbürgischen Falben um 300 Gulden.“
Die Operation verlief glücklich und Conrad erlebte die Freude,
daß sich der Gesundheitszustand seiner geliebten Betty vorüber-
gehend besserte.
Zu den Pflichten der Zivil Verwaltung gehörte auch die Aus-
übung der Gerichtsbarkeit. Die österreichisch-ungarischen Offi-
ziere hatten sich sehr bald das Vertrauen der Bevölkerung er-
worben, was besonders von Conrads Brigadier General Killic
galt. Die christliche Bevölkerung begrüßte die Befreiung vom
konfessionellen Druck. Conrad erzählte gern Fälle der Rechts-
38
KULTURBILDER UNERSCHLOSSENER GEBIETE
pflege militärischer Richter in einem Lande, wo vor der Okku-
pation ausschließlich die Willkür der mohammedanischen Be-
drücker geherrscht hatte.
Am 1. Mai 1879 war Conrad zum Hauptmann im General-
stabskorps befördert worden. Im folgenden Monat erhielt er
den Befehl, das Gelände von der Linie Gorazda—Cainica östlich
der Drina bis an die montenegrinische und türkische Grenze auf-
zunehmen. Hiezu durchquerte er in der Zeit bis 12. Juli dieses
ausgedehnte Gebiet, arbeitete von früh bis abends und führte
ein Zigeunerleben unter Entbehrungen aller Art. Die Erlebnisse
dieser Wochen hat Conrad sehr anschaulich mit viel Humor ge-
schildert und Kulturbilder von Gegenden entworfen, die noch kein
Fremder vor ihm betreten hatte. Nach Wochen anstrengender
Arbeit konnte er seine Tagesskizzen zu einem Gesamtbild zu-
sammenfassen, das von den Truppen und Stäben mangels von
Karten als Orientierungsmittel mit Freude begrüßt wurde. In
den .ersten Augusttagen erhielt Conrad eine Berufung zum
Generalkommando nach Sarajevo, um an den Vorbereitungen
für die Besetzung des Limgebietes mitzuarbeiten.
Die Besetzung des Limgebietes
Diese Aktion litt von allem Anfang an unter der unklaren
Auffassung der Bestimmungen des Berliner Kongresses. Das
Ministerium des Äußeren nahm eine schwankende Haltung ein.
Es beabsichtigte ursprünglich die Entfernung der türkischen
Garnison in Plevlje, beantragte aber später, im Streben nach
glattem Vollzug der Besetzung, die türkische Garnison neben der
österreichisch-ungarischen zu belassen. Die k. u. k. Truppen
glaubten noch bis zum letzten Augenblick, die Räumung von
Plevlje und der militärisch wichtigen Orte mit Recht fordern
zu können, während der türkische Kommandant die Weisung
hatte, gemeinsam mit der österreichisch-ungarischen Garnison in
Plevlje zu verbleiben.
Die Pforte hatte Husny Pascha mit der Führung der Ver-
handlungen betraut. Dieser Funktionär traf am 26. Juli mit
39
OBERST GALIB BEY
zwei türkischen Stabsoffizieren und zwei Intendantursbeamten
in Sarajevo ein, um mit dem kommandierenden General in
Bosnien und der Herzegowina Feldzeugmeister Wilhelm Herzog
von Württemberg die näheren Modalitäten des Einmarsches der
k. u. k. Truppen in den Sandschak zu regeln. Der Herzog und
sein Generalstabschef Oberst Albori waren konziliante Naturen,
und Conrad befürchtete, daß der gewandte türkische Unter-
händler dies ausnützen würde. Seine Annahme erwies sich als
richtig. Husny Pascha setzte mit der von der türkischen Diploma-
tie so meisterhaft geübten Kunst des passiven Widerstandes
alles daran, die Besetzung des Sandschaks auf einen möglichst
kleinen Raum zu beschränken, sie, wenn möglich, ganz zu hinter-
treiben.
Schließlich kam unter Conrads Mitarbeit eine Vereinbarung
zustande, wonach der Einmarsch der österreichisch-ungarischen
Truppen in zwei Kolonnen zu erfolgen hatte. Dieser militärischen
Besetzung des Paschaliks hatte zwecks Orientierung ein „Kom-
missionsritt“ voranzugehen: auf der nördlichen Linie unter Major
Millinkovic und einem türkischen Generalstabsoffizier, auf der
südlichen Linie unter dem Generalstabshauptmann Conrad und
dem ottomanischen Oberst Galib Bey.
Conrad erhielt die Aufgabe, die militärisch wichtigen Ver-
hältnisse, die Anmarschwege, das Anterrain, die Lagerplätze und
Wasserstellen, die Örtlichkeit um Plevlje für den Fall eines be-
waffneten Widerstandes zu rekognoszieren und Terrainskizzen
zur Ergänzung der unzulänglichen Karten anzufertigen. Es ver-
ging der ganze August, die türkischen Kommissionsmitglieder er-
schienen nicht. Endlich, am 31. August, traf Oberst Galib Bey
mit zwölf Reitern in Öainica ein, und am 1. September früh
konnte der Ritt unter Conrads Führung angetreten werden.
Oberst Galib war sehr gedrückt. Er äußerte sich wiederholt:
„Vous verrez, nous aurons le sort de Mehemet Ali“ („Sie wer-
den sehen, wir werden das Schicksal Mehemet Alis teilen“).
Dieser Pascha war am 7. September 1878 in Djakova von den
Arnauten ermordet worden, weil er die Fremden ins Land ge-
bracht hatte. Zwei Stunden vor Plevlje weigerte sich Oberst
Galib, weiterzureiten, und forderte eine stärkere Infanterie-
eskorte. Diese wurde zugesendet, und nach Überwindung
40
EINZUG IN PLEVLJE
weiterer Widerstände erreichte die Expedition, dank der Energie
Conrads, Plevlje.
Mit dem Eintreffen des Majors Millinkovic war die Mission
beendet und am 6. September meldete sich Conrad wieder bei
seinem Brigadier in Cainica. Er ließ seine Geländeskizzen für
den Gebrauch der Truppen vervielfältigen und traf die Vorberei-
tungen für den Einmarsch in das Limgebiet. Am 8. Septem-
ber begann die Truppenbewegung und am 10. traf die Vorhut
vor Plevlje ein. Die Türken hatten dank der militärischen Vor-
sorgen den geplanten Widerstand aufgegeben. Eine türkische
Reiterabteilung war der Kolonne entgegengekommen, am Ein-
gang der Stadt wartete ein Bataillon zum Empfang. Um 7.20 Uhr
traf Liwa (Brigadegeneral) Mustapha Pascha aus Sjenica zur
offiziellen Begrüßung ein. Es ergaben sich noch Differenzen
wegen der Räumung der Werke. General Killic brach aber in
seiner gewohnten energischen Soldatenart die Pourparlers ab
und erklärte mit weithin schallender Stimme, daß ihn nichts da-
von abhalten werde, Plevlje in Besitz zu nehmen. Er befahl,
die Volkshymne zu spielen, und ritt die Front der türkischen
Truppen ab. Mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel zog
hierauf die kaiserlich-königliche Brigade in die Stadt ein. Der
Kaimakam war ihr entgegengeritten, die serbische Bevölkerung
begrüßte sie mit der Hymne „Mnoga ljeta“. Die Mohammedaner
sahen teils gleichgültig, teils unfreundlich und verbittert dem
Schauspiel zu.
Am 13. September setzte sich die Brigade wieder in Bewe-
gung. Auf dem Weitermarsche nach Prjepolje stieß sie auf tür-
kische Posten und kleinere Garnisonen, die sich weigerten, ihre
Stationen zu verlassen. Es konnte den k. u. k. Truppen nicht
gleichgültig sein, bei ihrem Vordringen in den Sandschak alle
wichtigeren Punkte hinter sich von türkischen Soldaten besetzt
zu wissen. Eine Erhebung der mohammedanischen Bevölkerung
hätte an ihnen Rückhalt gefunden. Deshalb telegraphierte Gene-
ralmajor Killic an das Generalkommando, daß er diese Verhält-
nisse für unhaltbar ansehe.
Während des Marsches am 14. September war Conrad vor-
ausgeritten, um sich über das Gelände bei Prjepolje zu
orientieren. An der Limbrücke traf er ein türkisches Bataillon.
41
GELUNGENE LIST
Der Brückeneingang war durch zwei Mann gesperrt. Conrad
schickte sich an, weiterzureiten, doch der herbeigekommene Kom-
mandant protestierte auf das heftigste. „Da nützte nur ein
rascher Entschluß, ich gab meinem Pferde die Hilfen zum Vor-
wärtsgehen, und obgleich die beiden Leute an der Brücke mit
vorgehaltenem Gewehr mich hindern wollten, ritt ich über diese
hinweg in den Ort.“ Beim Zurückreiten traf Conrad an der
Brücke die Vorhut seiner Brigade. Ein höherer türkischer Offi-
zier erklärte dem Kommandanten, daß die k. u. k. Truppen nicht
berechtigt seien, das rechte Limufer zu betreten. General Killid
gab unbekümmert um diesen Protest den Befehl zum Weiter-
marsch und rückte, die sich widersetzenden türkischen Soldaten
zur Seite schiebend, mit klingendem Spiel in Pr jepol je ein. Bei
den Verhandlungen über die Quartiere gab es wieder die obligate
passive Resistenz, aber die Energie des Brigadiers überwand
schließlich alle Widerstände.
Am folgenden Tage wurde mit dem Bau eines von Conrad
trassierten Werkes begonnen. Se. königliche Hoheit der Gene-
ralkommandant mit seinem Stabe und der türkische Bevoll-
mächtigte, General Husny Pascha, trafen am selben Tage in
Pr jepol je ein. Husny Pascha erhob sofort scharfen Einspruch
gegen den von Conrad angeordneten Schanzenbau. Es wurde be-
schlossen, am 16. September darüber an Ort und Stelle zu ent-
scheiden. An diesem Ritt sollten der Herzog nebst mehreren
Offizieren des Stabes und Husny Pascha teilnehmen.
Conrad glaubte in dem Vorgehen des türkischen Generals wie-
der einen passiven Widerstand zu erkennen und griff zu einer
List. Die Brigade hatte die Pferde für die nichtberittenen Funk-
tionäre beizustellen. Conrad legte nun dem Kommandanten des
Husarenzuges nahe, für Husny Pascha ein Pferd auszuwählen,
das ihn schon während des Rittes auf die Höhe gefügig machen
sollte. Am Morgen des 16. September, 6 Uhr früh, waren die
Pferde gestellt. Der Zugskommandant hatte seinen Auftrag ge-
wissenhaft erfüllt: für Husny Pascha stand ein hoher, schmaler
Schrägen da, der mit seinen schlotternden Beinen gerade das
Gegenteil eines Gebirgspferdes war. Der türkische Bevollmäch-
tigte war bald mürbe und gab seine Zustimmung zur Befesti-
gung der Höhe.
42
IN UNGNADE
Vor dem Rückmärsche aus Pr jepol je hatte Conrad einen Auf-
tritt mit dem Herzog von Württemberg. Husny Pascha hatte er-
fahren, daß die Brigade zwei eingeborene Hajduken (Straßen-
räuber) als Wegweiser in österreichischen Uniformen mitführe,
und forderte vom Herzog sehr energisch die sofortige Entlassung
dieser Leute. Se. königliche Hoheit ließ Conrad rufen und fuhr
ihn sehr scharf an: „Was muß ich hören? Sie haben Räuber
und Mörder bei der Brigade?“ — „Ich antwortete, daß diese
Leute misere Wegweiser seien und sehr gute Dienste geleistet
hätten; auch unter den Notabein, mit denen wir jetzt verhan-
deln, sind nicht wenige, die Morde auf dem Gewissen haben.“
Diese Antwort empörte den Herzog, der die sofortige Entlassung
der Hajduken befahl. Conrad erwiderte, daß er dies nicht tun
könne, weil den Leuten mit Handschlag versprochen worden sei,
sie gesichert wieder auf bosnischen Boden zurückzubringen und
er sein Wort nicht brechen wolle. Hierauf wandte sich Se. könig-
liche Hoheit an den Brigadier: „Herr General, Ihr General-
stabsoffizier weigert sich, meine Befehle zu vollziehen. Ich mache
Sie verantwortlich, daß diese sofort ausgeführt werden.“ Der
General salutierte und versicherte, dies würde selbstverständ-
lich sofort geschehen. Conrad war schwer enttäuscht. Während
des Weiterreitens sprach er kein Wort. Auf die Frage des Gene-
rals, weshalb er so schweigsam sei, erklärte er, er könne die
Zusage der Entlassung der Wegweiser nicht verstehen, er stünde
nun wortbrüchig da und den Leuten könne es den Kopf kosten.
Lachend erwiderte Generalmajor Killic: „Aber Conrad, seien
Sie kein Kind! Glauben Sie denn, daß ich das so machen werde?
Stellen Sie eine starke Postpatrouille zusammen, teilen Sie die
beiden Hajduken noch in unseren Uniformen bei dieser ein und
lassen Sie sie auf bosnisches Gebiet bringen, wo jede Gefahr
für sie geschwunden ist.“ Der Friede war wieder hergestellt.
Der Herzog aber hatte diese Widersetzlichkeit Conrads sehr
ernst genommen und seine Entfernung aus dem Generalstabe
beantragt. Der Generalstabschef Oberst Albori, der Conrads
Taktiklehrer an der Theresianischen Militärakademie gewesen
war und ihn außerordentlich schätzte, ließ eine Zeit vergehen,
bis die Ungnade seines hohen Herrn verflogen war. Einige
Wochen später unterschrieb der Herzog einen Antrag auf Ver-
43
DIE SPIONIN
leihung des Militärverdienstkreuzes an Hauptmann von Conrad
und übersendete ihm ein sehr warmes Anerkennungsschreiben
für seine Dienste bei der Besetzung des Limgebietes.
Am 17. September rückte die Brigade wieder in Plevlje ein.
Damit war die Besetzung des nördlichen Limgebietes vollzogen
und es mußte an die Vorsorgen für den bevorstehenden Winter
geschritten werden. Sie galten dem Bau von Baracken, der Er-
richtung von Etappenstationen und Sanitätsanstalten, der Ver-
pflegung, der Einrichtung von Post und Telegraph, der Pflege
der Hauptverbindungswege und der Sicherung durch Befesti-
gungsanlagen. Conrad hatte für die wichtigsten Werke Ge-
schütze angefordert. Er wurde jedoch abgewiesen und er-
hielt den Auftrag, die Werke so auszubauen, daß sie womöglich
„friedlichen Gehöften“ glichen. „Wie man Schanzen bauen sollte,
die dieser Forderung entsprachen, war mir nicht ganz klar, aber
ich nahm den Wunsch nicht sehr genau und wir arbeiteten an
unseren Schanzen weiter.“
Die mohammedanische Bevölkerung erkannte bald die Vor-
teile, die ihr aus der Besetzung des Landes durch unsere Trup-
pen erwuchsen, und fand sich sehr rasch mit dem neuen Regime
ab. Auch mit den türkischen Truppen ergab sich mit der Zeit
ein einträchtiges Verhältnis. Ein besonderes Augenmerk galt der
Wachsamkeit gegen die Spionage und der Abwehr der anti-
österreichischen Propaganda. Conrad wurde einmal eine bos-
nische Bäuerin vorgeführt, die das reinste Pariser Französisch
sprach und Bekanntschaften mit Offizieren angeknüpft hatte. Am
nächsten Morgen wurde sie mit einer Postpatrouille abgeschoben.
Mit dem Abflauen der Kriegsstimmung war der Reiz des Lebens
in den okkupierten Provinzen für Conrad geschwunden. „Wie
einst die Römer, so arbeiteten jetzt unsere Soldaten an der neuen
Niederlassung, und auch sonst breitete der Friedensengel seine
Fittiche über Plevlje. Es wurde exerziert, geübt, nach der Scheibe
geschossen, Reitschule gehalten; am Morgen ertönte wieder die
Tagwache, am Abend die Retraite.“ Das war nicht mehr nach
Conrads Geschmack und er erinnerte sich seiner Zusage, nach
Abschluß der Kriegsereignisse sich für den Dienst im Landes-
beschreibungsbüro zu melden.
„Damit schloß eine wesentliche Periode meines militärischen
44
WEIHNACHT IM FAMILIENKREIS
Jugendlebens ab.“ Schwer trennte sich Conrad von der Truppe
und von seinem geliebten Brigadier, aber auch von dem Lande
und seinen Bewohnern. Diese Gefühle wichen aber der Freude,
Mutter und Schwester nach so langer Zeit wiederzusehen.
Im engsten Kreise der Seinen feierte Conrad das Weihnachts-
fest. Wenige Tage später wurde ihm „in Anerkennung vorzüg-
licher Dienstleistungen“ mit Personal-Verordnungsblatt vom
29. Dezember das Militärverdienstkreuz verliehen.
So schloß das Jahr 1879. Das folgende Jahr verbrachte Conrad
im Landesbeschreibungsbüro mit Kanzleidienst. In freien Stun-
den betrieb er Sprachstudien und machte Ritte in die Umgebung
von Wien. Im Sommer erhielt er den Auftrag zur Rekognoszie-
rung des Gebietes zwischen der Narenta und der montenegrini-
schen Grenze sowie einiger Gebiete des Sandschaks Novibazar.
Mit der Sprache der Leute vertraut, verlebte Conrad inmitten
der Bewohner der neuerworbenen Länder zwei sehr interessante
Monate, nach deren Abschluß er in Wien das gesammelte Mate-
rial verarbeitete. In dieser Zeit verfaßte er mehrere militär-
wissenschaftliche Studien, die ihm vielfach Anerkennung ein-
trugen.
Die Freude des Zusammenseins mit der Familie wurde durch
die Erkenntnis getrübt, daß die geliebte Schwester immer mehi
dem Siechtum verfiel. Trotzdem malte sie eifrig und erteilte
Unterricht in mehreren Sprachen, im Zeichnen und Malen.
Im Jahre 1881 verfaßte Conrad eine Studie über die südliche
Herzegowina mit besonderer Berücksichtigung der durch das Ge-
lände bedingten Kampfweise, der Anlage von Befestigungen,
der Vorbereitung von Operationen und der Charakteristik von
Land und Leuten. Hiezu studierte Conrad auch die kriegsge-
schichtlichen Begebenheiten in diesen Gebieten. „Das Wesent-
lichste meiner Arbeit sah ich darin, das bisher geübte System der
Kriegsführung in diesem Gelände umzuwerfen.“
Noch bei der Bekämpfung des Aufstandes in Dalmatien im
Jahre 1869 rückten die Truppen, in der Regel nur die Wege be-
nützend, einzeln abgefallen, in endlos tiefen Kolonnen vor. Es
geschah dann sehr häufig, daß die Vorhut oder die Tete plötz-
lich überfallen, niedergemetzelt oder vernichtet wurde, ohne daß
die Haupttruppe eingreifen konnte. Das Wesen der Vorschläge
45
DAS ERSTE SCHRIFTSTELLERHONORAR
Conrads bestand nun darin, abseits der Wege, wenn es auch
noch so schwierig scheinen mochte, in Gefechtsformation weiter-
zukommen. Zum mindesten hatten die Vor- und Seitenhuten so
vorzugehen. Beim Zusammenstoß konnte dem Feinde sofort eine
schuß- und kampfbereite Front entgegentreten, Überfälle waren
nahezu ausgeschlossen.
Auf Rat seines Abteilungschefs, des Majors Millinkovic, ver-
faßte Conrad die Broschüre „Der südherzegowinische Karst in
militärischer Hinsicht“, die im Organ des Militärwissenschaft-
lichen Vereines erschien. Er erhielt hiefür sein erstes Schrift-
stellerhonorar von 122 Gulden. Es mußten in der Folge viele
Sonderabzüge seiner Studie hergestellt werden, weil Feldmar-
schalleutnant Jovanovic die Truppen seines Bereiches mit diesem
Behelf zu beteilen beabsichtigte. Der frühere Chef des General-
stabes, Feldzeugmeister Freiherr von Schönfeld, richtete an Con-
rad ein sehr warm gehaltenes Anerkennungsschreiben. Seine da-
maligen Vorschläge haben sich in den späteren Kämpfen be-
währt.
Unmittelbar nach Vollendung dieses Elaborats erhielt Conrad
den Auftrag, Westserbien in geheimer Mission zu bereisen.
Unter allerlei Abenteuern entledigte er sich auch dieser schwie-
rigen Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit der Vorgesetzten. Seine
Erfahrungen verwertete er in der Studie „Militärgeographische
Beschreibung Serbiens“.
In das Frühjahr 1881 fällt Conrads Verlobung mit einer jun-
gen. Dame vornehmer Wiener Kreise. Häufig ritt er nach Schluß
der Bürostunden über den Kahlenberg in das liebliche Weid-
lingtal zum Besuch seiner Braut und am Abend längs der Donau-
lände wieder heim. Diese Neigung war aber nicht von langer
Dauer: nach einem Jahr löste die Mutter der Braut die Ver-
lobung. Der Bruch ging beiden Teilen nicht allzu nahe. „Mich
fesselte alsbald ein anderes Ereignis: der in der Herzegowina
und in Süddalmatien ausgebrochene Aufstand.“ Zu seiner Be-
kämpfung waren die im Aufstandsgebiet dislozierten Truppen
auf erhöhten Friedensstand gebracht und neue Truppen dahin
verlegt worden. Conrad zog es wieder mit unwiderstehlicher
Gewalt dorthin, wo Kämpfe in Aussicht standen, über seine
Bitte wurde er zum Truppenkommando nach Ragusa eingeteilt.
46
WIEDER IM FELDE
Die Bekämpfung des Aufstandes in Süd-
Dalmatien
Der Truppenkommandant in Süddalmatien, Feldmarschalleut-
nant Freiherr von Jovanoviö, war eine Herrschernatur; eine
männlich-schöne Erscheinung mit klassischem Kopf und spre-
chenden, forschenden Augen. Mit scharfem Geist begabt, hatte
er sich schon in jungen Jahren als Soldat bewährt. Er hatte
unter Radetzky in den Jahren 1848 und 1849, dann in Italien
1866 gekämpft und war 1869 als Gebirgsbrigadier beim Auf-
stand in Süddalmatien schwer verwundet worden. Conrad emp-
fand es als besonderes Glück, unter diesem Führer zu dienen,
dessen militärische Fähigkeiten er sehr hoch einschätzte.
Nach schwerem Abschied von Mutter und Schwester reiste
Conrad am 22. Jänner 1882 nach Triest ab. Am Morgen des
nächsten Tages sah er plötzlich das Meer im Strahlenglanz des
Sonnenaufganges unbegrenzt vor sich ausgebreitet, „die blaue
Adria, die geheimnisvolle Flut, die mich nach dem Süden tra-
gen sollte, neuen Ereignissen entgegen. Offen lag die Welt vor
mir. Ein Gefühl von Lebensfreude und ungebundener Freiheit
zog in mir ein. So empfindet man nur in der Jugend. Was
würde mir die Zukunft bringen? Beherrschte mich damals noch
ehrgeiziger Tatendrang im Berufe, so mengte sich doch auch
schon ahnungsvoll die Einsicht von der Nichtigkeit mensch-
lichen Tuns hinein — als dunkler Schatten in den mir noch
hell aufleuchtenden Lebenshoffnungen. Nur zu oft hatte selbst
bisher schon die Wirklichkeit an diesen gerüttelt. Ich setzte
in der Folge an die Stelle des ,Ehrgeizes* die ,Pflicht*, meine
Lebensrichtung wurde der ,Aktivismus*..
Am 27. Jänner traf Conrad in Ragusa ein und meldete sich
beim Feldmarschalleutnant Freiherrn von Jovanovic. Wieder
bäumte sich sein Tatendrang gegen das Leben beim Truppen-
kommando, „das zu sehr einem schreibenden Hauptquartier
glich, wo man vom Herd des Aufstandes zu weit entfernt war**.
Er bewarb sich daher um die Einteilung bei der 47. Infanterie-
division, deren Kommandant Karl Ritter von Winterhaider war.
Conrad schildert ihn als feinfühlige, überaus vornehme Natur,
als unerschrockenen, vorbildlichen Soldaten, der stets nach dem
47
VOM MUT DER NATURVÖLKER
Prinzip „II faut payer de sa personne“ das eigene Beispiel vor-
anstellte. In Gesellschaft des Divisionärs und seines General-
stabschefs, des Hauptmannes Franz Siglitz, den Conrad als einen
entschlossenen, tapferen, scharfen, wenn nötig rücksichtslosen
Mann sehr verehrte, fuhr er am 28. Jänner nach Castelnuovo.
Kaum angekommen, füllte er im Fort Spagnol sein Notizbuch
mit Bemerkungen zur militärischen Lage und übte Kritik an
dem bisherigen defensiven und passiven Verhalten, das die In-
surgenten übermütig gemacht hatte. Es war schwer, sich über
ihre Zahl klar zu werden, denn sie erhielten unausgesetzt Zu-
zug aus der Herzegowina und wußten sich außerdem durch die
Flucht auf montenegrinisches Gebiet der Verfolgung zu entziehen.
Sehr treffend charakterisiert Conrad deren völlig mit Unrecht
zur Legende gesteigerte Tapferkeit. „Ihr Mut, so sehr er auch
zu Akten verwegenster Tapferkeit führte und sich bis zur Mord-
lust und Grausamkeit steigerte, schlug oft auch in das Gegen-
teil um und wurde selbst zu einem vorsichtigen, feigen Fliehen
vor der Gefahr. Es fehlte ihm jene sittliche Stärke, die auf das
Pflicht- und Ehrgefühl, auf jene innere Würde begründet ist,
die den Kulturmenschen auszeichnet und seinen Mut zu einem
weit nachhaltigeren, verläßlicheren und höherstehenden gestaltet.
Während der Mut des Kulturmenschen mit der Schonung des
wehrlosen Feindes verknüpft ist, flackert der Mut dieser ur-
wüchsigen Naturvölker ganz besonders dann auf, wenn sie sich
einer Minderzahl oder gar einem wehrlosen Feinde gegenüber
sehen, und steigert sich zu ungemessener Grausamkeit gegen den
bezwungenen Gegner.“
Der Revolver, den die österreichisch-ungarischen Offiziere
trugen, war ebenso für den Feind wie für sie selbst bestimmt,
falls es darauf ankam, sich durch eine Kugel den Bestialitäten
zu entziehen. Aus den nämlichen Gründen trugen viele Offiziere
auch Gift bei sich*
* Den Unterschied zwischen persönlichem Mut, der den Kultur-
menschen auszeichnet, und jenem der Gebirgsvölker des Balkans
haben auch die Reformoffiziere der türkischen Gendarmerie wieder-
holt feststellen können. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben war es,
die bestialische Niedermetzelung der in den Bandenkämpfen be-
siegten Gegner zu verhindern. Hinter der vielgepriesenen Romantik
des Räubertums steckte vielfach nur die „Tapferkeit“ gegen den
Wehrlosen.
48
BANDENKÄMPFE
Conrad räumt auch mit dem Glauben an das „Scharfschützen-
tum“ der Bewohner dieser wilden Gebirgswelt auf. Die ballisti-
schen Eigenschaften moderner Handfeuerwaffen waren ihnen
völlig fremd und das Feuer eröffneten sie in der Regel schon
auf große Distanzen, wodurch die zugefügten Verluste in
keinem Verhältnis zu der verschwendeten Munition standen. Er
hatte das gleich nach den ersten Zusammenstößen erkannt. Leider
währte es aber geraume Zeit, ehe sich die Truppen zu der Er-
kenntnis der moralischen Minderwertigkeit ihrer Feinde durch-
rangen und die Überschätzung der soldatischen Qualitäten dieser
Räuber dem Gefühl der eigenen Überlegenheit wich.
Die Aufgabe der in Süddalmatien aufgebotenen Truppen war
die Wiederherstellung der Staatsautorität. Die Küstenhöhen, die
sich in den Händen der Insurgenten befanden, mußten besetzt
und die Aufständischen aus der Krivosije vertrieben werden.
Für Conrad begann nun eine Zeit regster Tätigkeit. Jeder
Tag brachte Einfälle von Banden, die durch kleine detachierte
Posten abgewehrt werden mußten, während sich die Truppen
für den großen Schlag sammelten. Conrad war unausgesetzt zu
Fuß, zu Pferd und mit den Barkassen der eitrigst mitwirkenden
Kriegsmarine unterwegs, überall, gestützt auf das unumschränkte
Vertrauen des Divisionärs und des Generalstabschefs, initiativ
eingreifend. Er besaß Vollmacht, in dringenden Fällen Befehle
zu erteüen. Die Truppenkommandanten fügten sich diesen gern,
weil Conrad durch seine Beweglichkeit und sein reges Interesse
für die Truppe bald überall bestens bekannt war.
Bis Anfang Februar waren die Truppen so weit bereitgestellt,
daß die erste Phase des Operationsplanes, die Besetzung des
Höhenrandes der Krivosije, durchgeführt werden konnte. Als
Grundbedingung für das Gelingen galt die Geheimhaltung des
Unternehmens und die Irreführung der Aufständischen. Selbst
dem Truppenkommando in Ragusa wurde der Beginn der Ope-
rationen vorenthalten. Conrad war aufs höchste gespannt, da die
Aktion auf den von ihm ausgearbeiteten Grundsätzen aufgebaut
war. Die Truppen durften sich nicht allein an die Wege halten,
sondern mußten die felsigen Hänge in breiter Formation über
Stock und Stein erklimmen.
Conrad schloß sich einer der Kolonnen an, die am 9. Februar
4
49
CONRADS TAKTIK BEWÄHRT SICH
vor Sonnenaufgang am Fuße der steil abstürzenden Höhen be-
reitstanden. Das Unternehmen gelang; die Truppen erreichten
den Höhenrand unter Scharmützeln, zumeist flüchteten aber die
Insurgenten nach kurzem Widerstande angesichts dieser neuen
Vorrückungsart, die ihnen keine Gelegenheit bot, sich mit lokaler
Überlegenheit auf die Spitzen der einzeln abgefallen ansteigen-
den Kolonnen zu stürzen.
Als Conrad seine Kolonne in dem zugewiesenen Raume ver-
sorgt wußte, begab er sich bei einbrechender Dunkelheit zur
Nachbarkolonne, um sich zu überzeugen, daß die Angriffsziele
dispositionsgemäß erreicht waren. Erschöpft langte er hierauf
spät nachts beim Divisionskommando ein, von wo er um 2 Uhr
früh des Vortages auf gebrochen war. Er konnte sich mit dem
Bewußtsein zur Ruhe begeben, daß sich seine Vorschläge be-
währt hatten.
Der Höhenrand war unter geringen Verlusten binnen eines
Tages in die Hand der Truppen gelangt. Beim Kommando in
Ragusa hatte man die Geheimhaltung des Unternehmens übel-
genommen und es erging der Befehl, künftig operative Bewegun-
gen nur über Anweisung des Truppenkommandos durchzuführen.
Conrad schreibt hiezu: „Dieses verzögernde Verfahren entsprach
nicht dem Geiste, der bei uns im Divisionskommando herrschte,
wir empfanden es als Fessel.“
Mit wiederholten Unternehmungen gegen die immer wieder
auftauchenden Insurgentenbanden vergingen die Monate bis zum
Beginn des Frühjahres 1882. Conrad war unermüdlich tätig
und beteiligte sich an ungezählten Streifungen und Rekognoszierun-
gen. Dieses Leben in ständiger Kampfbereitschaft war ihm zum
Bedürfnis geworden. Er hatte jeden Gedanken an die Gefahr
verloren und gab mit seiner Unerschrockenheit vielfach geradezu
ein schlechtes Beispiel. So schreibt er in sein Tagebuch am
5. April: „Ich schloß mich der Schwarmlinie der Jäger an. Pott
(Hauptmann und Halbbataillonskommandant) und ich standen
aufrecht, desgleichen der Hornist und die Ordonnanzen. Die
Leute hätten sich ja legen dürfen, aber sie taten es nicht, da
sie uns Offiziere stehen sahen; die feindlichen Geschosse gingen
hart über uns. Beim Vorgehen dachte jeder Jäger an den eige-
nen Ausschuß, ohne die Rücksicht auf das feindliche Feuer vor-
50
LIEBE UND VERTRAUEN ZU DEN TRUPPEN
walten zu lassen; in ihnen wohnte der Geist, der sie dann im
Weltkriege so Großes leisten ließ. An solchen kleinen Szenen
bildete ich mir allmählich das Urteil über unsere Truppen, es
brachte sie mir nahe, ich lernte sie lieben, ihnen vertrauen.“
Ein von Conrad vermerkter kleiner Zwischenfall beweist, wie
populär er durch diesen ständigen Kontakt mit der kämpfenden
Truppe geworden war. Er stand wieder einmal aufrecht neben
einem Infanteristen des Regimentes Nr. 43, einem frischen,
braunen Burschen rumänischer Nationalität, der, genau zielend,
völlig ruhig auf den Gegner schoß. Plötzlich blickte er Conrad
lächelnd an und deutete auf einen Steinblock, hinter dem ein
mit dem Gepäck seines Herrn beladener Offiziersdiener bleich
und angstbeklommen kauerte. „... auch ich konnte mich nicht
enthalten und lachte mit.“ Während eines Gefechtes verließ der
Divisionär mit seinem Stabe schon gegen Mittag die Truppe und
langte um 3.15 Uhr in Risano ein. Das gefiel Conrad nicht.
Er schreibt darüber in seinem Notizbuch: „Es ist mir alles
widerwärtig, was so aussieht, als ob man bereits genug hätte,
besonders wegen des Eindruckes, den es auf die Truppe macht.“
Als der letzte Aufstand in Pobori Mitte Mai 1882 niederge-
worfen war, konnte die Erhebung als erloschen angesehen wer-
den. Generalmajor Winterhaider übernahm das Truppenkom-
mando in Mostar, Oberst Reymann wurde Kommandant der
47. Infanteriedivision und Conrad sein Generalstabschef. Es gab
noch reichlich Arbeit, nach Monaten kriegerischen Getriebes war
diese jedoch eine Conrad wenig zusagende Betätigung. Er nützte
die freie Zeit, um seine Kenntnisse von Land und Leuten zu
erweitern. In Begleitung seines Freundes, des Oberstleutnants
Lothar von Hortstein (nachmaliger Korpskommandant in Josef-
stadt), unternahm er einen Ritt ohne Paß nach Cetinje und über
Fort Kozmac, Budua zurück nach Castelnuovo. Ein anderer
Ausflug zu Pferd führte ihn nach Ragusa, wo die Offiziere einen
geselligen Verkehr mit den vornehmen Familien der alten Pa-
trizierstadt pflegten.
Als in Süddalmatien wieder völlige Ruhe herrschte, wurden
die mobilisierten Truppen auf den Friedensstand versetzt und
rückten in ihre alten Garnisonen ein. Auch Conrad, der an dem
Erfolg rühmlichst teilhatte, kehrte in das Landesbeschreibungs-
4*
51
EINE „WERTVOLLE PRAKTISCHE SCHULE“
büro nach Wien zurück. Ein warmes Anerkennungsschreiben
des Chefs des Generalstabes lohnte seine Tätigkeit für das Büro,
der Allerhöchste Kriegsherr würdigte seine Leistungen während
des Aufstandes in Süddalmatien durch die Verleihung der Kriegs-
dekoration zum Militärverdienstkreuz.
Conrad hatte nun Kriegserfahrung! Die Niederwerfung der
Insurrektion war kein Kampf regulärer Soldaten mit gleich-
wertigen Waffen, aber die Schwierigkeiten des Geländes, das
Klima, die Grausamkeit des in bekanntem Gelände kämpfenden
Gegners stellten höchste Anforderungen an die Moral der Trup-
pen. Aus den Aufzeichnungen Conrads geht hervor, wie sehr
die hier gesammelten Eindrücke ihn dazu angeregt haben, die
Bedeutung der moralischen Faktoren im Kriege zu erfassen. Aus
seinem Tagebuch spricht der eifrig forschende Sinn, der im Sol-
daten wie im Führer in erster Linie den „Menschen“ suchte.
An den vergilbten Tagebuchblättern erkennen wir, Conrads ehe-
malige Schüler, nach fast einem Menschenalter die Quelle der
lebenswarmen Schilderungen, die er uns von Kampfhandlungen
gab; sie sollten uns ein Bild des Krieges geben, bis wir ihn aus
eigener Erfahrung kannten. Conrad hatte sich mit dem Unge-
stüm eines jungen Soldatenherzens nach dem Kriege gesehnt:
nicht von Kriegslust getrieben, sondern von der Überzeugung,
daß der Krieg nur im Krieg gelernt werden könne.
Schon nahe seinem Ende, hat der Feldmarschall den Wert
seiner ersten Kriegserlebnisse mit dem abgeklärten Urteil des
erfahrenen Führers in die Worte gefaßt: „Die wichtigste, auch
für mein späteres Wirken maßgebende Erfahrung war die Zu-
versicht und das Vertrauen, das ich in unsere Truppen gewonnen
hatte; ich wußte nun, was man von ihnen verlangen und er-
warten durfte. Der Weltkrieg hat meine Ansicht darüber be-
stätigt. Damit ende ich die Schilderung eines vierjährigen
Lebensabschnittes; sie erschöpft die kriegerischen Ereignisse
meiner Jugendzeit. So bescheiden sie waren, galten sie mir als
wertvolle praktische Schule. Die nächsten fanden mich als Chef
des Generalstabes der gesamten bewaffneten Macht Österreich-
Ungarns im Weitkriegei“
52
CONRADS AUFSTIEG
Divisions-Generalstabschef in Lemberg
Am 29. Oktober 1888 wurde Conrad als Hauptmann zmn
Generalstabschef der 11. Infanterietruppendivision m Lemberg
ernannt. Der Divisionär, Feldmarschalleutnant Lamoral Prinz
Taxis, schätzte seinen Generalstabschef, der ihm bald eine wert-
volle Stütze wurde, außerordentlich hoch ein. Conrad erwarb
sich durch sein bescheidenes, korrektes Auftreten ebenso rasch
die Zuneigung der Truppenkommandanten, die in ihm einen
warmen Förderer ihrer Wünsche fanden.
Während seiner vierjährigen Tätigkeit verstand er es, bei
voller Wahrung der Autorität des Divisionärs, seine Kriegs-
erfahrungen auf die Truppen der Division zu übertragen. Die
von ihm angelegten, äußerst lehrreichen Übungsreisen und -ritte
erregten das Interesse der anderen höheren Kommandanten der
Garnison, die sein reifes Urteil in taktischen und praktischen
Ausbildungsfragen anerkannten.
Conrad benützte auch in dieser Stellung jede Gelegenheit zur
Rekognoszierung militärisch wichtiger Räume. Im Dezember 1884
sprach ihm der Chef des Generalstabes seine besondere An-
erkennung für einen Bericht über das an Ostgalizien grenzende
russische Gebiet aus. Das rege Interesse Conrads an der kriegs-
mäßigen Ausbildung der Truppen führte zur Erwerbung eines
von ihm ausgemittelten Gefechtsübungsplatzes für die Garnison
Lemberg. Im November 1886 sah sich das Korpskommando ver-
anlaßt, Conrad eine Belobung für die sachgemäße Instruktion
und die mit großem Fleiß durchgeführte Leitung einer Übungs-
reise der Truppenoffiziere auszusprechen.
Am 1. November 1887 wurde Conrad zum Major im General-
stabskorps befördert und in das
Büro für operative und besondere General-
stabsarbeiten
in Wien einberufen. Beim Scheiden von Lemberg wurde ihm
53
VEREHELICHUNG
der Dank des Korpskommandos für die mit besonderer Hingabe
geleisteten Dienste ausgesprochen.
Conrad vermählte sich in Lemberg mit der Tochter Vilma
des Obersten und Geniedirektors August von Le Beau. Sie war
am 27. Dezember 1860 in Sebenico in Dalmatien geboren, wo
ihr Vater damals in Garnison stand; zwei ihrer Brüder dienten
in der österreichisch-ungarischen Armee. Die überaus glückliche
Ehe mit dieser feingebildeten Frau, die alle Eigenschaften einer
geistig ebenbürtigen Lebensgefährtin besaß, wurde durch vier
Söhne gesegnet, die gleichfalls alle Soldaten wurden.
Der älteste, 1886 in Lemberg geborene Sohn Kurt ist als
Generalstabsoffizier während des Krieges gestorben. Der in
Wien 1887 geborene zweite Sohn, Erwin, diente zuerst in der
Kavallerie, kam dann nach Frequentiermig der Kriegsschule in
den Generalstab, wurde im Krieg bei Przemysl als Generalstabs-
offizier verwundet und war beim Zusammenbruch Hauptmann
im Generalstabskorps. Der dritte Sohn, Herbert, fiel gleich zu
Beginn des Krieges, am 8. September 1914, als Leutnant im
Dragonerregiment Nr. 15 bei Rawa Ruska, und der 1896 in
Troppau geborene Sohn Egon trat bei Ausbruch des Krieges
als achtzehnjähriger Freiwilliger gleichfalls in das Dragonerregi-
ment Nr. 15 ein und wurde 1915 Leutnant.
Conrads Gemahlin war eine zärtliche, fürsorgliche und liebe-
volle Gattin und Mutter. Als er bald nach der Eheschließung
seine Mutter in sein Haus nahm, umgab sie ihre Schwiegertochter
mit der aufopferndsten Fürsorge.
Der äußerst interessante Dienst im Operationsbüro befriedigte
Conrad nicht voll. Er entschädigte sich durch zahlreiche Studien-
reisen, die ihn auf die verschiedensten Schlachtfelder Europas
führten. Er bereiste Deutschland, Frankreich und Rußland, das
er wie Montenegro, Serbien, Bulgarien, Rumänien und Konstan-
tinopel von früheren Reisen kannte. Die Fülle der hiebei ge-
sammelten Erfahrungen veranlaßten ihn als Chef des General-
stabes, auf Auslandsreisen der Generalstabsoffiziere besonderen
Wert zu legen.
Nach einer kaum einjährigen Dienstleistung im Operations-
büro wurde Conrad am 10. September 1888 als Lehrer der Taktik
an die Kriegsschule in Wien berufen.
54
CONRADS SCHÜLER
Lehrer an der Kriegsschule
Der Einfluß Conrads auf die Wehrmacht begann mit dem
Tage, da er als 36jähriger Major im Generalstabe Lehrer der
Taktik an der Kriegsschule wurde. In den Jahren von 1888
bis 1892 hat er zwei Jahrgänge in seiner Auffassung der Kriegs-
wissenschaften erzogen. Seine Schüler wurden in den verschie-
denen Verwendungen des Truppengeneralstabes, als Lehrer an
den Kadettenschulen und Militärakademien, an den Korps-
offiziersschulen und Stabsoffizierskursen und schließlich als
Truppenkommandanten die Apostel seiner Lehren. Im Welt-
kriege standen 50 Prozent der einstigen Conrad-Schüler als
Generale auf verantwortungsvollen Posten.
Die Tätigkeit Conrads als Taktiklehrer an der Kriegsschule
fügte sich in das angestrebte Ausbildungsziel dieser Fachschule
für den Generalstab. Es war eine harte physische, moralische
und geistige Schule, in der auf die Entwicklung selbständiger,
verläßlicher Charaktere das größte Gewicht gelegt wurde. Ein
nüchterner, jede geistige Hochstapelei streng verurteilender Zug
beherrschte den Lehrvorgang. Dafür bürgte schon die Persön-
lichkeit des Kriegsschulkommandanten, Feldmarschalleutnant
Merta. Dieser eiserne, in strenger Selbstzucht groß gewordene
Soldat sah in der Pflichterfüllung, die auch unter den höchsten
geistigen und physischen Anforderungen nicht versagen durfte,
die vornehmste Eigenschaft des Generalstabsoffiziers. Er be-
gründete diese Forderung mit dem Hinweis, daß der Dienst des
Generalstabes dann beginne, wenn die Truppe, ermüdet von
Marsch oder Kampf, zur Ruhe geht. Feldmarschalleutnant Merta
kannte keine Zugeständnisse; jede reglementarische Bestimmung
war ebenso Gesetz wie eine administrative Vorschrift, der ge-
ringste Verstoß dagegen galt, wie die kleinste Bequemlichkeit
im Dienste, als strafbares Vergehen. Auch scheinbare Kleinig-'
keiten, wie Fehler gegen die militärische Rechtschreibung, un-
deutliche Handschrift, wurden streng gerügt.
Auf alle graphischen Arbeiten wurde besonderer Wert gelegt.
Dem Generalstab oblag die Vorsorge für das umfangreiche
Kartenmaterial des Inlandes und der voraussichtlichen Kriegs-
schauplätze. Die Landesaufnahme (Mappierung) spielte daher
55
EINE HARTE SCHULE
auch an der Kriegsschule eine große Rolle. Vor dem Abgehen
zur Mappierung im praktischen Kurs nach dem ersten Jahrgang
verabschiedete Feldmarschalleutnant Merta die Kriegsschüler mit
den Worten: „Jede Schraffe ist eine schriftliche Meldung, und
jedermann weiß, wessen er sich versieht, wenn er eine falsche
Meldung abgibt.“ Unter der Nachwirkmig dieser Worte hat ein
Kamerad, dem die Arbeit nicht stimmen wollte, die Nerven ver-
loren und Selbstmord begangen.
Im Anfang hielt man diese übertriebene Einschätzung der
graphischen Fertigkeit für eine den geistigen Flug beengende
Pedanterie und konnte es nicht verstehen, daß ein sachlich gutes
Elaborat wegen der mangelhaften äußeren Form abgelehnt wurde.
Selbst der geniale, eher freigeistige Conrad hielt peinlich auf
die tadellose äußere Form schriftlicher Befehle, Dispositionen
und Gefechtsskizzen. Später, im praktischen Generalstabsdienst,
namentlich aber im Krieg, wenn beim kümmerlichen Schein
einer Taschenlampe, in einem Erdloch, bei physischer und geisti-
ger Erschöpfung, zu später Nachtstunde eine Disposition mit
mehreren Durchschriften in dem vom Regen durchweichten
Kopierblock ebenso klar leserlich zu verfassen war wie im war-
men Kanzleizimmer, da dachte man dankbar an die harte Schule
zurück.
Schon der Entschluß, sich der Generalstabslaufbahn zu widmen,
war ein Prüfstein für den Charakter, denn jede freie Stunde
mußte für die Vorbereitung zu den Aufnahmsprüfungen aus-
genützt werden. Der Abschied vom Truppendienst bedeutete
den Verzicht auf die Betätigung in der freien Natur, auf den
Verkehr mit dem jungen, dankbaren Soldatenvolk. Der kaum
frei gewordene, lebensfrohe Offizier mußte wieder auf die Schul-
bank zurück, mit der Aussicht auf ein jahrelanges ernstes Stu-
dium. Die Entsagungen, die man auf sich nahm, sollten wohl
durch die Aufnahme in ein Korps belohnt werden, das die Elite
der Armee bildete. Der Truppenoffizier, der im Dienst bei den
„Stäben“ und an der „Zentrale“ eine Bevorzugung erblickte,
übersah, daß die oft beneidete Stellung des Generalstabes für
einen gesunden, die Natur und frische Luft liebenden jungen
Menschen schwerer zu ertragen war als die grimmigsten Marsch-
übungen bei stürmischem Eiswind oder glühendem Sonnenbrand.
56
DER „LIEBENSWÜRDIGE SCHINDER“
Wie rigoros die Auswahl des Generalstabsnachwuchses erfolgte,
zeigen die Daten des Kriegsschuljahrganges 1890/1892. Im Jänner
1890 hatten sich rund 300 Offiziere um die Aufnahme in die
Kriegsschule beworben. Etwa 100 wurden ausgeschieden, weil
sie den Bedingungen nicht entsprachen, 200 wurden zu der im
Februar stattfindenden „Vorprüfung“ einberufen. Diese umfaßte
sechs Gegenstände des allgemeinen Wissens und wurde schrift-
lich unter Klausur abgelegt. Die Ausarbeitungen wurden ohne
Namensangabe den Rezensenten zugestellt. Auf Grund der Vor-
prüfung schied etwa die Hälfte der Bewerber aus, die restlichen
100 wurden im Herbst desselben Jahres zur „Hauptprüfung“
nach Wien einberufen. Diese umfaßte militärische Gegenstände
und Sprachen. Sie währte 18 Tage, wurde mündlich und schrift-
lich im Zimmer und im Gelände abgelegt. Auf Grund des Ur-
teiles einer Kommisson aus Kriegsschullehrern unter Vorsitz des
Kommandanten erfolgte die Aufnahme in die Kriegsschule. Von
den 300 Offizieren, welche die Aufnahme angestrebt hatten, war
es nur 44 gelungen, den gestellten Anforderungen zu entsprechen.
Damit war erst der erste Schritt für den Eintritt in den General-
stab getan. Es folgten zwei Jahre eifrigen Studiums und gründ-
licher geistiger und physischer Erprobung. Nach Absolvierung
der Kriegsschule wurden die geeignet Befundenen dem General-
stabe „zugeteilt“ und nach einer weiteren dreijährigen Erprobung
lohnte endlich die Ernennung zum Hauptmann im Generalstabs-
korps das schwere Studium und den Verzicht auf die Freuden
der frohen Leutnantszeit.
Die Frequentierung der Kriegsschule war auch mit finanziellen
Entbehrungen verbunden. Die Beschaffung der Studien- und
Lernbehelfe verschlang einen beträchtlichen Teil der knappen
Leutnantsbezüge und zwang zu größter Sparsamkeit.
Ganz besonders hohe Anforderungen wurden an die physische
Leistungsfähigkeit gestellt. Conrad ist darin bis an die Grenze
des Möglichen gegangen. Trotzdem haben ihn seine Schüler mit
jener Verehrung geliebt, die begeisterte Jünger ihrem Meister
entgegenbringen. Aber gerade sie haben jenes Epitheton geprägt,
das Conrad auf seiner ganzen weiteren Laufbahn begleitet hat,
er war ihr „liebenswürdiger Schinder!“.
Das Tageswerk an der Kriegsschule begann zeitlich früh mit
57
CONRADS RUF ALS TAKTIKLEHRER
dem Reiten. Diesem schloß sich unmittelbar der theoretische
Unterricht an, der mit einer kurzen Mittagspause bis in die
Nachmittagsstunden währte. Einzelne Tage der Woche waren
einer Dauerarbeit im Zimmer Vorbehalten, die bis in die Abend-
stunden reichte. Oft reihte sich an dieses überreiche Tages-
programm noch eine russische Sprachstunde. Zu Hause ange-
kommen, gab es noch keine Ruhe, denn nun galt es erst, sich
für den folgenden Tag vorzubereiten. Der Lehrvorgang bedingte
eine vorherige Durcharbeit des vorzunehmenden Stoffes, der in
der Unterrichtsstunde in Form von Diskussionen besprochen
wurde.
Im ersten Jahrgang waren alle Sonn- und Feiertage mit dem
Übertragen topographischer und militärischer Daten aus den
umfangreichen Elaboraten des Landesbeschreibungsbüros in eine
Flußnetzkarte Mitteleuropas ausgefüllt. Die so adjustierten Kar-
ten dienten dann als Grundlage für die Besprechungen in der
Militärgeographie. Im zweiten Jahrgang zwang die Fülle des
Stoffes, auch die Feiertage für das Studium zu verwenden.
Die Taktik war an der Kriegsschule neben dem operativen
Generalstabsdienst der wichtigste Gegenstand. Wir hatten den
Taktiklehrer Conrad schon bei der Hauptprüfung kennengelernt;
er hatte unsere Kenntnisse der Reglements, die Auffassung von
Gefechtslagen und die Befehlstechnik zu beurteilen. Allgemeine
Sympathie wandte sich dem jugendlichen Major zu, der durch
sein freundliches Wesen die mit diesem scharfen Wettbewerb
verbundene Scheu vor den Prüfenden zu nehmen suchte. Von
unseren Vorgängern kannten wir seinen Ruf als überragender
militärischer Geist und als hervorragender Lehrer. So sah man
denn mit Spannung der ersten Taktikstunde entgegen. Schon
Conrads Eintritt in den Lehrsaal wirkte aufmunternd. Während
er die Meldung über den Stand der Frequentanten entgegennahm,
schweifte sein Blick wohlwollend über die neue Jüngerschar.
Ihre Verbeugung mit einem freundlichen Lächeln erwidernd,
ging er elastischen Schrittes dem Katheder zu. Nach einer kurzen
Begrüßung begann sofort der Unterricht. Man war bisher nicht
durch übermäßige Liebenswürdigkeit verwöhnt worden. Nach der
Spannung der achtzehntägigen Aufnahmsprüfung hatten wir uns
zur Urteilsverkündung in der Kriegsschule einzufinden. Am
58
DIE ERSTE UNTERRICHTSSTUNDE
Fuße einer Doppeltreppe stand der Adjutant des Kriegsschul-
kommandanten mit einer Liste. Jeder Ankommende wurde auf-
gefordert, sich entweder in den linken oder in den rechten Saal
zu begeben. Links versammelten sich die „Zurückgewiesenen“,
rechts jene, denen das Glück hold gewesen war. Feldmarschall-
leutnant Merta betrat zuerst den „Saal der Zurückgewiesenen“.
Soweit es seine Härte gestattete, wendete er sich mit Wohl-
wollen an die Enttäuschten und versicherte sie, daß er sich über
die große Zahl der Offiziere freue, die den Ehrgeiz gezeigt hatten,
der Intelligenz der Armee angehören zu wollen. Er gestand zu,
daß sie gut entsprochen hätten, die Räume der Kriegsschule seien
aber zu beschränkt, um alle aufzunehmen. Sie mögen unver-
drossen zu ihren Truppenkörpern zurückkehren und ohne Gefühl
der Enttäuschung ihren Dienst wieder aufnehmen. Im kommen-
den Jahre würden sie gewiß den Wettbewerb mit Erfolg be-
stehen.
Dann begab sich Merta in den „Saal der Auf genommenen“.
Seine Miene wurde ernster, mit strengem Blick betrat er das
Podium und erklärte, daß die Anwesenden wohl in die Kriegs-
schule aufgenommen seien, doch keineswegs auf Grund ihrer ge-
offenbarten Kenntnisse, sondern lediglich deshalb, weil der
Generalstab Nachwuchs brauche. Die Kriegsschule bedeute einen
wichtigen Abschnitt im Leben des Offiziers. Mit ihrem Betreten
verschreibe man Körper und Geist ausschließlich der Pflicht, dem
einzigen Leitstern des Generalstabes. Die zwei Jahre der theore-
tischen Heranbildung gehören ausschließlich dem Studium, auf
jede ablenkende Zerstreuung müsse man verzichten. Die Auf-
genommenen hätten sich noch sehr viel Wissen anzueignen, was
die größte Konzentration erfordere, denn ihre Kenntnisse wiesen
bedenkliche Lücken auf.
Ganz kleinmütig verließen die vom Glück Begünstigten den
Saal, den sie kurz vorher voll stolzer Befriedigung betreten hatten.
Nach einem Urlaub zur Regelung der persönlichen Angelegen-
heiten erschienen sie wieder. Kein Wunder, daß mancher mit
Beklommenheit den kommenden Dingen entgegensah.
Und nun hörten wir Conrad zum erstenmal sprechen. Der
Taktikunterricht an den Akademien und Kadettenschulen er-
schöpfte sich vielfach in Rezepten für das Gefecht. In den Taktik-
59
DER „MENSCH“ IM SOLDATEN
lehrbüchern gab es Anweisungen für einen Angriff auf einen
Wald, auf einen Berg, eine Ortschaft, die sich durch die Zahl
der hiebei zu befolgenden Punkte unterschieden. Das Studium
der Taktik bestand in dem Gebrauch dieser Anweisungen und
in der Befehlstechnik auf Grund der angegebenen Punkte. Der
Gedanke war naheliegend, daß der Lehrvorgang an der taktischen
Hochschule noch höhere Anforderungen an das Gedächtnis stellen
werde.
Zur größten Überraschung begann Conrad mit den Worten:
„Der Krieg wird von Menschen geführt. Wer den Krieg
verstehen will, muß daher vor allem den Menschen in seinen
Reaktionen gegenüber physischen und seelischen Einflüssen
kennenlernen.“
Dieser heute selbstverständliche Satz klang damals neu; wie
eine Offenbarung. Er gewinnt an Bedeutung, je größer die Zahl
der nichtaktiven Leute wird, welche im Kriege die Kaders der
Volksheere aufzufüllen haben.
Gegenüber dem „Menschen“ als Träger des Kampfes traten
die „Kampfformen“ in den Hintergrund. Um das Verständnis
für diese These zu wecken, bemühte sich Conrad an Hand
kriegsgeschichtlicher Beispiele und durch Wiedergabe von Selbst-
erlebtem, die Bedeutung der moralischen Faktoren her-
vorzuheben. Die Kämpfe der österreichisch-ungarischen Truppen
bei der Besetzung Bosniens und der Herzegowina, die Conrad mit-
gemacht hatte, boten reichlich Gelegenheit für das Studium des
psychologischen Momentes. Dessen Berücksichtigung zwang die
höhere wie die niedere Führung zu einer individualisier-
ten Befehlsgebung.
Um die Mannigfaltigkeit der psychologischen Vorgänge im ein-
fachen Soldaten aufzuzeigen, ließ Conrad seine Hörer Einblick
in die seelische Verfassung von Soldaten in den verschiedenen
Phasen des Krieges nehmen. Er bevorzugte Aufzeichnungen von
Mannschaftspersonen oder Reserveoffizieren, die ihre Kriegs-
erlebnisse ehrlich und ungeschminkt niedergeschrieben hatten.
Das erste solche Büchlein stammte aus der Feder eines kleinen
Beamten, der in einem Comptoir in Nürnberg im Juli 1870 als
Reserveleutnant eines Infanterieregimentes von der Kriegserklä-
rung an Frankreich überrascht worden war.
60
AUS DEM TAGEBUCH EINES RESERVEOFFIZIERS
Das Tagebuch begann mit der Schilderung der hellen Be-
geisterung des ganzen Volkes für die deutsche Sache, der Mo-
bilisierung, des Abschiedes von den Angehörigen, des Marsches
zum Bahnhof im Blumenregen der jubelnden Menge. Nach einer
längeren Eisenbahnfahrt, eng gedrängt in den Waggons, hatte sich
bereits eine kleine Ernüchterung eingestellt. Der Auswaggonie-
rung folgten ungewohnte längere Fußmärsche mit feldmäßiger
Ausrüstung an die Grenze, endlich der Einmarsch ins Feindes-
land. Gewissenhaft vertraute der junge Offizier jeden Wandel
der Stimmungen seinem Tagebuch an, das ihm eine wertvolle
Erinnerung an den Krieg werden sollte.
Nun ging es ernstlich gegen den Feind. Das Regiment
hatte einen ausgedehnten Waldkomplex südlich Weißenburg zu
durchschreiten. Der Leutnant wurde mit zehn Mann zur Auf-
klärung vorausgesendet. Er schied, wie er es im Frieden gelernt
hatte, eine Spitze aus und folgte, nach allen Seiten gesichert,
mit dem Rest seiner Leute. Die Spannung stieg immer höher,
jeder Nerv vibrierte, vergessen waren Müdigkeit, Hunger und
Durst. Plötzlich gab die Spitze das Zeichen „Feind!“ — die Pa-
trouille machte kehrt und lief zurück.
Nach einiger Zeit — es war kein Schuß bei der Spitze ge-
fallen — blieben die Leute stehen, sahen sich an und frag-
ten einander beschämt, vor wem sie eigentlich davonge-
laufen waren. Diesem Selbstvorwurf folgte alsbald ein morali-
scher Ruck, die Erinnerung an die Pflicht. Die Spannung war
geschwunden, die Patrouille ging ihrer Aufgabe nach. Kurz dar-
auf stieß sie mit dem Feinde zusammen und benahm sich kor-
rekt und beherzt. Wenige Tage nach dieser nicht gerade rühm-
lichen ersten Begegnung mit dem Feind kämpfte derselbe Offi-
zier mit seinen Leuten in der Schlacht bei Wörth vorbildlich
tapfer. Kaum zwei Wochen später beschreibt er in seinem Tage-
buch, wie er mit den Resten seines Zuges einen ganzen Tag
lang in heißem Gefecht auf 70 Schritte vor einer Kirchhofmauer
den Franzosen gegenüberliegt, empfindliche Verluste erleidet,
aber mit Selbstverständlichkeit von einem seiner Kämpfer zum
andern eilt, Verwundete verbindet, Sterbenden die Hand reicht
und durch Scherzworte den guten Mut seiner Leute zu erhalten
trachtet. Derselbe junge Führer, der beim ersten Eintritt in die
61
SOLDATEN KEINE „MASCHINEN“
Gefahr vor einem imsichtbaren Feind geflüchtet war, kämpfte
wenige Wochen später wie ein Held.
An diesem und anderen Beispielen demonstrierte Conrad, wie
verfehlt es wäre, als Führer stets mit der gleichen Leistung der
Unterführer und der Truppe zu rechnen, wie es bei taktischen
Aufgaben, beim Kriegsspiel und selbst beim Manöver üblich ist.
Gleich dem Verfasser des Büchleins haben hunderte und tausende
junger Unterführer empfunden und gehandelt. Aus ihren Einzel-
handlungen setzt sich die Gesamtleistung zusammen. Sie ist je
nach der Kriegslage und der Verfassung der Kämpfenden ver-
schieden und muß im Kalkül des Führers berücksichtigt werden.
Beim Kriegsspiel werden rote und blaue Zeichen verschoben.
Sie stellen Kompanien, Bataillone, Regimenter dar, 200, 1000 oder
3000 Soldaten in einem Verband, aber keine Maschinen, sondern
ebensoviele Menschen aus Fleisch und Blut, deren Handlungen
von niemals gleich reagierenden Nerven geleitet werden. Diese
Nerven können in den tausendfach wechselnden Gefechtslagen
im positiven oder negativen Sinn ausschlagen; dies richtig ein-
zuschätzen, ist Pflicht der Führung und ihrer Organe. Deswegen
bemühte sich Conrad bei jeder Übung, der Entschlußfassung den
moralischen Zustand der eigenen Truppen und die Eindrücke,
die man vom Feind hatte, voranzustellen.
Ein moralischer Faktor von großer Bedeutung ist das Über-
raschungsmoment. Conrad kannte eine Reihe typischer
Beispiele aus der Kriegsgeschichte und erzählte gern persönliche
Erlebnisse aus dem Okkupationsfeldzuge, wo Überraschungen,
Überfälle und dadurch hervorgerufene Paniken sehr häufig vor-
kamen.
In das Gebiet der moralischen Faktoren fällt auch die größere
Empfänglichkeit des Menschen für Eindrücke bei beschränkter
Sicht. Die Nacht, der Nebel, der Wald erzeugen, besonders bei
bestehender Gefahr, eine vom Alltag abweichende Reaktion. Wie
arg sich diese namentlich bei längerer Nervenanspannung aus-
wirken kann, hat der Weltkrieg reichlich gelehrt*
* Als Chef des Evidenzbüros referierte ich eines Tages Exzellenz
Conrad über den Entwurf eines neuen japanischen Infanterieregle-
ments. In dieser mustergültigen Ausbildungsvorschrift war der A b-
h ä r t u n g gegen Überraschungen ein eigenes Kapitel gewid-
met und die Gewöhnung des Rekruten an Wald und Nacht besonders
62
THEORIE UND PRAXIS
Das konsequente Hervorheben des moralischen Elementes bei
allen Kriegshandlungen machte den Taktikunterricht lebens-
wärmer. Ein im Kriege wichtiger Faktor — der Intellekt und
die Charaktereigenschaften des Befehlsempfängers — konnte bei
theoretischen Besprechungen nicht berücksichtigt werden. Es
blieb daher grundsätzlich bei der möglichst kurzen, präzisen Be-
fehlssprache, die einen vollwertigen Befehlsempfänger zur Vor-
aussetzung hatte.
Einmal hatte ich Gelegenheit, diesen Unterschied zwischen
Theorie und Praxis an Conrad selbst zu erfahren. Zur Zeit der
Kärntner Manöver im Jahre 1900 hatte ein Detachement unter
Kommando des Generalmajors Conrad die Aufgabe, das Vor-
rücken einer stärkeren feindlichen Kolonne aufzuhalten. Ich war
dieser Gruppe als Berichterstatter der Manöveroberleitung zuge-
teilt; es war mein erstes Wiedersehen mit meinem ehemaligen
Taktiklehrer. Conrads Disposition ließ an Klarheit nichts zu wün-
schen übrig, doch verstieß sie in der Form gegen alles in der
Kriegsschule Gelehrte, vor allem gegen die streng geforderte
Kürze. Dem Regimentskommandanten wurde weitschweifig die
Gruppierung seiner Kräfte, die Formation der Bataillone, selbst
die Verteilung einzelner Kompanien im Gelände vorgeschrieben
und jede Handlung vom Detachementkommandanten abhängig ge-
macht. Ich notierte nur das Wesentliche der Disposition und
reichte Conrad meine Meldung mit einem Lächeln zur Unter-
schrift. Er hatte mich verstanden: „Ja, ja, ich habe anders dis-
poniert, als ich es von euch gefordert habe: das ist der Unter-
schied zwischen Theorie und Praxis. Ich muß nach dem Auf-
fassungsvermögen des Befehlsempfängers disponieren, wenn ich
anempfohlen. Die neu eingerückten Soldaten sollten zunächst ohne
Waffen, zwanglos, bei Nacht in den Wald geführt werden. Später
waren sie durch verschiedene Geräusche, zuerst in Gruppen, dann
einzeln zu überraschen. Diese systematisch zu steigernden Übungen,
die schließlich mit plötzlich einsetzendem Gewehr- und Maschinen-
gewehrfeuer zu verbinden waren, sollten den japanischen Soldaten
gefaßt gegen Überraschungen machen und ihm praktisch zeigen,
welche moralische Überlegenheit sich der von Angst freie Soldat
gegenüber dem nervlich schwächeren sichert. Conrad, auf dieses
Kapitel aufmerksam gemacht, hörte sehr interessiert zu und sagte:
„Das haben wir in unserem Reglement übersehen, es gehört in die-
ses zum mindesten ein Hinweis. Hoffentlich denken die Regiments-
kommandanten selbst daran.“
63
VERSTÄNDNIS FÜR HUMOR
die Gewähr haben will, daß die Befehle in meinem Sinne aus-
geführt werden.“
Conrad besaß eine besondere Fähigkeit, Gefechtslagen der
Vergangenheit im Lichte moderner Waffenwirkung zu sehen.
Seine graphische Begabung kam ihm als Taktiklehrer sehr zu-
statten. Immer wieder eilte er zur Tafel, warf mit wenigen
charakteristischen Strichen eine ähnliche Lage aus der Kriegs-
geschichte hin und erläuterte sie auf Grund der an Ort und Stelle
gesammelten Eindrücke. Die Fülle seiner auf den Schlacht-
feldern erworbenen Detailkenntnisse war verblüffend. Er be-
herrschte sie so gründlich, daß ihm Worte und Zeichnung fließend
von Lippen und Hand gingen.
Auch der Humor kam bei Conrad zu seinem Recht. Die Schul-
bank hatte uns wieder zu Schülern gemacht, die oft recht er-
finderisch in kindlichen Scherzen sein konnten. Es wiederholte
sich die beliebte Verwechslung der Manteldragoner und ähn-
liches. Conrad erfreute sich an dieser harmlosen Heiterkeit und
lachte herzhaft mit. Als er einmal an der Tafel eine kriegs-
geschichtliche Episode an einer rasch hingeworfenen Skizze be-
sprach, fiel plötzlich ein Papierpfeil zu seinen Füßen nieder.
Conrad ging mit einem freundlichen Lächeln darüber hinweg.
Die ergiebigste Quelle für den Taktikunterricht war der
Deutsch-Französische Krieg 1870/71, den Conrad in allen Einzel-
heiten beherrschte. Auch seine Schüler kannten jede interessante
Episode aus den Kämpfen bis Sedan. Dies sollte mir im Verkehr
mit dem deutschen Generalstab sehr zustatten kommen. Im
Sommer 1911 legte mir Conrad als Chef des Evidenzbüros nahe,
anläßlich der Krönung König Georgs V. nach England zu reisen,
um mir das großartige Schauspiel der Flottenparade und die
vielen Truppenabordnungen anzusehen, die aus allen Teilen des
britischen Weltreiches in der Hauptstadt zusammengeströmt
waren.
Ich sollte zugleich die Gelegenheit benützen, mir ein Bild
über die militärischen Zustände Frankreichs zu machen, wo der
sozialdemokratische Ministerpräsident Briand eben einen Eisen-
bahnerstreik dadurch gebrochen hatte, daß er die waffenübungs-
pflichtigen Eisenbahner zu einer militärischen Dienstleistung ein-
berief. Die französischen Eisenbahnen standen noch unter mili-
64
THRONFOLGER ERZHERZOG FRANZ FERDINAND
BEI DEN MANÖVERN 1912 IN UNGARN MIT CONRAD
SCHLACHTFELDER UM METZ
tärischer Bewachung, was Gelegenheit bot, Teile der Armee in
Ausübung ihres Dienstes zu sehen. Die Rückschlüsse waren in-
teressant, weil damals die Ansicht immer mehr Verbreitung fand,
die Disziplin innerhalb der französischen Armee hätte unter dem
Einfluß der sozialistischen Ideen derart gelitten, daß sich der
französische Soldat in einem künftigen Kriege nicht mehr mit
jenem Elan schlagen werde wie in der Vergangenheit. Dieses
Urteil spielte im Kalkül der Mittelmächte eine wichtige Rolle
und berechtigte zu der Hoffnung, daß die aggressive Politik der
französischen Regierungen in der Masse des Volkes keinen
Widerhall finden würde.
Ich wählte den Weg nach der Reede von Spithead, wo ich auf
dem österreichisch-ungarischen Kreuzer „Radetzky“ die Flotten-
parade mitmachen sollte, über Berlin und Metz, um die Schlacht-
felder des Jahres 1870 zu besuchen, die ich durch die Vorträge
Conrads theoretisch kannte. Der Chef des Stabes des Metzer
XVI. Korps, der die Kämpfe des 14., 16. und 18. August 1870
eben für den Großen Generalstab bearbeitet hatte, bot sich mir
in liebenswürdigster Weise als Führer am Tief ergriffen wanderte
ich über die Stätten, wo eine überlegene Führung und deutscher
Heldenmut die Bedingungen für die Kapitulation einer großen
französischen Armee geschaffen hatten.
Der deutsche Kamerad konnte nicht genug staunen, wie genau
ich über die Kämpfe unterrichtet war und welche wertvollen
Lehren wir unter Conrads Anleitung aus diesen drei entscheiden-
den Tagen vor Metz gezogen hatten. Ich konnte meinen Führer
auf einige charakteristische Erfahrungen Conrads aufmerksam
machen.
Die geistig stark in Anspruch genommenen Kriegsschüler wuß-
ten Conrad besonderen Dank, daß er sie in der Taktik niemals
mit Hausarbeiten belastete, sondern die Instruktion lediglich auf
die Unterrichtsstunden beschränkte. Mit dem Jahrgang 1890 be-
sprach Conrad die Operationen der deutschen Kronprinzenarmee
im Sommer 1870, die zum Gefecht von Weißenburg, zur Schlacht
von Wörth bis zur Kapitulation von Sedan führten. Besonders
intensiv wurden die Kämpfe um Metz durchgesprochen. Dem
deutschen Generalstabswerk entnahm man den Aufmarsch der
5
65
„POSITIVE KRITIK'
dritten Armee, die Dispositionen für den Vormarsch, die Ver-
fügungen der Korpskommandanten. Dann wurden einzelne In-
fanteriedivisionen herausgegriffen und deren Tätigkeit verfolgt,
was reichlich Stoff für die Besprechung von Kampfhandlungen
bot.
Conrad bestimmte zu Beginn der Stunde einen Sprecher. Mit
ihm erörterte er die verschiedenen Lagen, forderte sein Urteil
heraus und ließ die übrigen Hörer an der Besprechung teil-
nehmen, indem er sie nach ihrem Urteil befragte. Es bedurfte
keines Zwanges, die freie Meinungsäußerung herauszufordern,
denn die Debatte nahm niemals die Form einer Prüfung an.
Conrad gestaltete auf diese Weise seine Vortragsstunden span-
nend und geistig anregend. Aus dem Vergleich der Vorgänge
auf den Kampffeldern mit den heute herrschenden Anschauungen
ergab sich die von Conrad angestrebte „positive Kritik“. Sie
führte zumeist zu der Erkenntnis, daß unsere Vorfahren uns an
Intelligenz nicht nachstanden und daß die abweichende Kampf-
weise nur durch die veränderte Waffenwirkung bedingt war.
Die umfassende Kenntnis der Kriegsliteratur kam Conrad sehr
zustatten, wenn es galt, Erklärungen für Entschlüsse zu finden,
die im Gegensatz zu den Ansichten unserer Zeit standen. Er
verfolgte hiedurch die Erziehung zu einer zurückhaltenden Kritik
und zu der für den Generalstäbler besonders wertvollen Be-
scheidenheit.
In der Ära Merta-Conrad wurden die philosophischen Fächer
aus dem Lehrplan der Kriegsschule gestrichen. Der einfache,
klare, nüchterne Menschenverstand wurde höher gewertet als
hochstrebender Geistesflug. Durch den regen Gedankenaustausch
mit Conrad im Verlauf der zwei Studienjahre lernten die Hörer
kriegsgeschichtliche Ereignisse mit geschultem Verständnis und
unter dem Gesichtswinkel der veränderten Kampfmittel beur-
teilen.
Der Unterricht auf kriegsgeschichtlicher Grundlage füllte die
Wintermonate. Ein Tag der Woche war der Ausarbeitung einer
zusammenhängenden, längeren taktischen Aufgabe im Zimmer
gewidmet. Die Arbeitszeit für die Entschlußfassung und deren
Begründung sowie für die Verfassung von Befehlen, Skizzen usw.
wurde gewöhnlich begrenzt, um aueh dem Zwang zur Eile ge-
66
DIE GROSSE UNBEKANNTE — „DER FEIND“
recht zu werden, der im praktischen Generalstabsdienste ein
wichtiges Moment ist.
Sehr lästig war Conrad die Verpflichtung, als Lehrer die
Leistungen seiner Hörer zu klassifizieren. Er unterwarf sich der
mühsamen Rezension der vielen umfangreichen Arbeiten mit
dem ihm eigenen Interesse an anderen Meinungen, sie gestatteten
auch ein Urteil, wie weit die Schüler in seine Lehren eingedrun-
gen waren, doch widerstrebte es Conrad, sein Urteil in eine
konkrete Note „gut“, „sehr gut“ oder „vorzüglich“ zu fassen. Er
wußte, wie sehr taktische Ansichten selbst unter Fachmännern
auseinandergingen. Es gab ausgesprochene Fehler, die einem
Generalstabsoffizier nicht unterlaufen durften, sie waren zumeist
technischer oder formeller Natur; ansonsten aber anerkannte
Conrad jede Meinung, wenn man sie zu begründen wußte.
Als Kenner der Kriegsgeschichte wußte er, wie oft im Kriege
scheinbar unzutreffende Verfügungen zu einem Erfolg geführt
haben, während den besten Dispositionen der Erfolg versagt
blieb, weil — um mit Conrad zu sprechen — die Kriegswissen-
schaft, zum Unterschied gegen andere Disziplinen, mit einer
großen „Unbekannten“, dem „Feind“, zu rechnen hat, dessen
Handlungen niemals im vorhinein erkannt werden können. Alle
taktischen Entschlüsse militärischer Führer, ob hoch oder nieder,
werden auf einer labüen Basis gefaßt, die sich im Augenblicke
der Befehlserteüung ändern kann. Bei jeder militärischen Hand-
lung spielt daher die „Intuition“, das „Soldatenglück“, eine Rolle.
Es gibt auch in der Taktik altbewährte Grundsätze, die eine
gewisse Gewähr für den Erfolg bieten; auf diese legte Conrad
Wert. Vor allem hielt er auf konsequentes Handeln. Das zähe
Festhalten an einem einmal gefaßten Entschluß und dessen ziel-
bewußte Durchführung sagten ihm mehr zu als zutreffende Ent-
schlüsse, die wechselten oder mangelhaft in der Durchführung
waren. Ihm besonders zusagende Lösungen zeichnete er gern mit
einem „vorzüglich“ und machte sie bei der nächsten Gelegenheit
zum Gegenstände der Besprechung. Eine tadelnde Klassifikation
hatte man nur bei einem groben Formfehler zu gewärtigen.
Natürlich trug auch diese Methode dazu bei, die Freude am
Taktikunterricht zu steigern.
Das weitaus größte Gewicht legte Conrad auf die Übungen im
5*
67
„CONKAD-SAMSTAG IM GELÄNDE“
Gelände. Für diese war grundsätzlich der Samstag Vorbehalten.
Zeitlich früh, lange bevor der Morgen dämmerte und die ersten
Verkehrsmittel sich in Wien zu regen begannen, wanderten die
Kriegsschüler im Schein der Straßeriaternen, mit Kartentasche,
Schreib- und Zeichenmaterial ausgerüstet, zum Versammlungs-
ort, irgendeiner Tramway- oder Stadtbahnstation, von wo sie der
erste Frühzug in die Umgebung Wiens brachte. Mit dem ersten
Lichtstrahl begann die Arbeit und währte ohne Rast bis zur
einbrechenden Dunkelheit. Mittagspause gab es keine, „denn
vor dem Feinde schlug auch keine Speisestunde“. Jede Wetter-
unbill war willkommen, „denn im Kriege könne man sich das
Wetter auch nicht aussuchen“. Die schriftlichen Ausfertigungen
mußten bei Regen, Hagel und Schnee ebenso klar leserlich sein
wie im Zimmer oder bei Sonnenschein verfaßte. Gegen erstarrte
Finger mußte man sich schützen oder lernen, auch mit ihnen
deutlich Lesbares zu Papier zu bringen. Ebenso durfte die Be-
leuchtung kein Hindernis bilden. Feldmarschalleutnant Merta
hat einmal den Satz geprägt: „Für den Generalstab unterschei-
det sich der Tag von der Nacht lediglich dadurch, daß bei Tag
die Sonne scheint und bei Nacht die Kerze angezündet werden
muß.“
Anfangs sank man nach solch einem „Conrad-Samstag im Ge-
lände“ zur Rückfahrt erschöpft auf seinen Sitz. Niemals aber
regte sich der geringste Unwille, denn wer sich bei diesen An-
lässen am meisten „schindete“, war Conrad selbst, der als
Übungsleiter unermüdlich bemüht war, neue interessante und
anregende Gefechtslagen zu schaffen. Vor so viel Begeisterung
und Pflichttreue wandelte sich jeder keimende Widerstand in
ehrliche Bewunderung.
Conrad überbot in unerbittlicher Strenge gegen sich selbst die
Leistungen seiner Schüler; er wurde hiedurch ihr Vorbild. Viele
hält die von ihm gelernte Selbstdisziplin noch im Greisenalter
aufrecht.
Während der Fahrten zur und von der Samstagübung sprach
Conrad frei und ungezwungen mit seinen Schülern über alle
Tagesfragen auf der Grundlage voller Gleichwertigkeit mid trat
ihnen hiedurch auch menschlich näher. Nach kurzer Zeit war
der hierarchische Unterschied geschwunden, an dessen Stelle
68
OBJEKTIVITÄT
trat die Ehrfurcht vor dem geliebten Lehrer. Die trennende
Schranke zwischen Lehrer und Schüler, die sich in der Einengung
der freien Meinungsäußerung auswirkt, hatte Conrad schon längst
niedergerissen. Seine Methode forderte die offene, freie, selbst-
bewußte Meinung heraus. In der sachlichen Verteidigung einer
gegensätzlichen Ansicht erkannte er mehr Charakter und Wissen
als in der ergebenen Annahme der Auffassung des Lehrers. Dies
enthob auch den Vorsichtigsten bald von dem das eigene Denken
lähmenden Suchen nach des Lehrers Meinung.
Es ereignete sich nicht selten, daß eine wohlbegründete Auf-
fassung Conrad zur Revision der seinen bewog. Bei Übungen
im Gelände liebte er es, nach einem Fragepunkt die Vertreter
der verschiedenen Lösungen in Gruppen einander gegenüberzu-
stellen. Abschließend erklärte er sodann, daß er sich die Lösung
zwar anders gedacht hatte, sich aber der Auffassung der Mehr-
heit anschließe. Diese Einstellung eines Lehrers war neu. Man
war nach dem Truppendienst mit einer gewissen Scheu wieder
auf die Schulbank gegangen, und nun stand man vor einem
Lehrer, dessen Überlegenheit man empfand, und der seine
Schüler dennoch vollwertig nahm. Das hob das Selbstbewußtsein,
lehrte aber auch, bescheidener gegenüber Ansichten anderer zu
sein.
Conrad hat seinen Schülern die „Objektivität“ als wertvolles
Vermächtnis auf den Lebensweg mitgegeben. Durch sein per-
sönliches Beispiel bekämpfte er jede nicht sorgfältig abgewogene
abfällige Kritik. Bei Beurteilung von Geschehnissen jeder Art
lehrte er, die Kritik in eine „positive“ und eine „negative“ zu
scheiden. Die rein negative Kritik, die Ablehnung einer gegen-
teiligen Ansicht oder Handlung, verurteilte er scharf. Um so
eindringlicher forderte er die positive Kritik heraus, die bei Ver-
schiedenheit der Ansicht nach den Gründen der Abweichung
forscht.
Diese Methode erwies sich besonders bei der Beurteilung
kriegsgeschichtlicher Begebenheiten angebracht. Es gab eine
Zeit, da sich junge Generalstabsoffiziere, ohne über ein gereiftes
Urteil zu verfügen, über Operationen bewährter Führer der Ver-
gangenheit gern von oben herab äußerten. Diese Form der
Kritik durfte in der Ära Merta-Conrad nicht aufkommen. Auch
69
„ANGRIFF“ UND „VERTEIDIGUNG“
unglücklich verlaufene Operationen durften nur auf die Gründe
ihres Mißlingens hin untersucht werden.
Sehr eindringlich bestand Conrad auf der Einschätzung des
Wertes des einfachen Soldaten. Er hielt es als eine der vornehm-
sten Pflichten der Führer aller Grade, die Psyche des Mannes
in der Front zu erfassen, der die größten Lasten des Kampfes
zu tragen hat. Plötzlich aus seinem Beruf gerissen, tritt der
Kämpfer moderner Massenheere nach anstrengenden Märschen
unvermittelt in den zermürbenden Kampf mit verheerenden
Waffen. Ihm, der Erhaltung seiner Schlagkraft gebührt die
größte Fürsorge.
Conrad war ein überzeugter Verfechter der Überlegenheit des
„Angriffes“ gegenüber der „Verteidigung“. Er hat diese seinem
Wesen entsprechende Überzeugung auch auf seine Schüler über-
tragen. Sie verleitete vielfach dazu, jede taktische Aufgabe
grundsätzlich durch den Angriff lösen zu wollen. Um den
Offensivgeist nicht zu unterbinden, nahm Conrad diesen Drang
zum Angriff hin, auch wenn es sich um eine rein defensive Auf-
gabe handelte. Er sah in der angriffsweisen Kampfführung die
Möglichkeit, selbst bei zahlenmäßiger Unterlegenheit an der be-
absichtigten Einbruchsstelle eine relative Überlegenheit zu er-
reichen. Die vielfach verbreitete Ansicht, daß die Vervollkomm-
nung der Waffen in erster Linie der Verteidigung zugute kommt,
hat Conrad niemals anerkannt. Er sah im Gegenteil in der Mög-
lichkeit der Konzentration wirkungsvollerer Kampfmittel in über-
legener Zahl an der Einbruchsstelle höhere Aussichten für den
Angreifer. Dieser Auffassung sollte der Satz im Reglement Nach-
druck geben: „In zweifelhaften Fällen ist der kühnere Entschluß
der bessere.“
Besonders lehrreich war eine Reihe analytischer Geländeübun-
gen, die den Zweck verfolgten, den taktischen Blick für das Ter-
rain zu schulen und automatisch jene Räume zu erkennen, welche
die Annäherung an die feindliche Stellung unter den geringsten
Verlusten gestatteten. Hiezu wurden die Übungsteilnehmer mit
Plänen größeren Maßstabes beteilt, auf welchen Rayons die An-
griffswege gegen eine Stellung bezeichneten. Längs dieser Rayons
vorgehend, hatte der Übungsteilnehmer jene Punkte zu verzeich-
nen, wo man gegen das Infanterie-, beziehungsweise Artülerie-
70
TAKTISCHE ÜBUNGSREISE
feuer gedeckt war. Durch die Verbindung dieser Punkte auf
einem gemeinsamen Plan ergaben sich die gedeckten Räume
gegen das Infanterie- oder Artilleriefeuer. Die beste Möglich-
keit einer gedeckten Annäherung ergab theoretisch die günstigste
Angriffsrichtung. Den Höhepunkt der taktischen Ausbildung bil-
dete die taktische Übungsreise am Schluß des zweiten Jahrgan-
ges. Die Anforderungen, die Conrad in diesen zwei Monaten an
die Offiziere seiner Übungsgruppe stellte, reichten an die Grenze
der Leistungsfähigkeit junger, gesunder, trainierter Männer. Die
Übungsmappierung am Schlüsse des ersten Jahrganges hatte
schon einen Vorgeschmack gegeben. Wie bei dieser vom ersten
bis zum letzten Sonnenstrahl gearbeitet werden mußte, so gab
es auch bei der taktischen Übungsreise keinen Rasttag außer
Kaisers Geburtstag. Es wurde von Sonnenaufgang bis Sonnen-
untergang mit täglichen Marschleistungen bis zu 30 Kilometer im
Rahmen einer taktischen Aufgabe geübt, wobei ein Fragepunkt
mit beschränkter Arbeitszeit den anderen jagte. Spät abends
kam man im Quartier zur ersten Mahlzeit. Dabei geschah es
nicht selten, daß Conrad, um keine Zeit zu verlieren, während
des Essens die Annahme für den nächsten Tag diktierte. Häufig
fielen ihm hiebei die Augen vor Müdigkeit zu, aber mit eiserner
Energie überwand er diese Schwäche im Wettstreit mit seinen
jüngeren Schülern und brachte so eine sportliche Note in diese
von hoher geistiger Leistung begleitete physische Betätigung, die
auch den Bequemsten mitriß.
Wenn in den glühend heißen Tälern Südtirols die Sonne un-
barmherzig brannte und bei der Besprechung einer Disposition
Zweifel darüber entstanden, ob eine Seitenkolonne auf den steilen
Begleithöhen fortkommen würde, ertönte plötzlich das gefürchtete
„Also sehn wir’s uns an!“. Dies bedeutete einen Aufstieg von
mehreren hundert Metern zu dem einzigen Zweck, ein verläß-
liches Urteil über die Benützbarkeit einer in der Karte verzeich-
neten Kommunikation zu bekommen. In dieser Weise ging es
zwei Monate, Tag für Tag, zu Fuß, von Südtirol bis zu den
böhmischen Schlachtfeldern. Erschöpft landeten dort auch die
Kräftigsten.
Mit dem letzten übungstage waren aber alle Mühen vergessen:
die Kriegsschüler beugten sich vor dem eisernen Pflichtgefühl,
71
HOHE PHYSISCHE ANFORDERUNGEN
das Conrad veranlaßt«, die physischen Leistungen seiner Jünger
zu teilen.
Der verehrte Lehrer Conrad hat seinen Schülern sein
Bestes auf den Lebensweg mitgegeben: sein tiefgegründetes
Fachwissen und seine Selbstzucht. Schwer schieden sie von ihrem
Meister, der ihnen außerdem ein warmfühlender Kamerad ge-
worden war. Der Allerhöchste Kriegsherr verlieh ihm für seine
Verdienste als Lehrer den Orden der Eisernen Krone III. Klasse.
Wir aber wußten, daß Conrad in der Anhänglichkeit seiner
Schüler einen weit höheren Lohn für sein Wirken fand.
Man hat dem System Merta-Conrad den Vorwurf gemacht, die
übertriebenen physischen Anforderungen an die durch das Stu-
dium ohnehin überreich in Anspruch genommenen Kriegsschüler
hätten sich schädlich auf ihre Nerven ausgewirkt und hätten das
Urteil des Generalstabsnachwuchses für die Leistungsfähigkeit
der Truppe getrübt. In der Tat haben nicht alle Kriegsschüler,
trotz dem Training der vorangegangenen zwei Jahre, die Stra-
pazen bei der taktischen Übungsreise durchgehalten. Daß trotzdem
auf dieser harten Probe bestanden wurde, hatte seine wohl-
erwogene Begründung.
Jeder Kriegsteilnehmer weiß heute, wie unverhältnismäßig
größer die Anforderungen an die Truppen während des Krieges
waren als beim Manöver. Der beliebte Einwand, „daß man sich
gegen das Sterben nicht abhärten könne“, traf nicht zu. Eine
physisch härter erzogene Truppe erwies sich zweifellos wider-
standsfähiger und einem weniger trainierten Gegner gegenüber
überlegen.
An den Generalstab aber, der auch nach den größten An-
strengungen verläßliche Arbeit leisten mußte, waren diese For-
derungen in noch höherem Maße zu stellen. Die Verantwortung,
die auf dem Kriegsschulkommandanten lastete, war zu groß, um
einer weicheren Auffassung Raum zu geben, die sich nur zum
Nachteü der Armee auswirken konnte. Der Weltkrieg hat die
Berechtigung dieser Auffassung bestätigt. Nur ein in dieser har-
ten Schule erzogener Generalstab vermochte im Verlaufe des
viereinhalb] ährigen Ringens unter den schwierigsten Verhält-
nissen seine Pflicht zu erfüllen.
72
BEREICHERUNG DERFACHLITERATUR
Es ist noch der Einfluß hervorzuheben, den Conrad durch
seine Fachschriften nicht nur auf die Kriegsschüler, sondern auch
auf weite Kreise der Armee ausgeübt hat. Im Frühjahr 1891 er-
schien sein Behelf „Zum Studium der Taktik“, der auch
von der ausländischen Kritik als „bahnbrechend“ begrüßt wurde.
Die vollendete Behandlung des umfangreichen Stoffes, die Klar-
heit und Bestimmtheit des Urteils, die fesselnde, mitunter ge-
radezu spannende Darstellung machten eine zweite und nach
sieben Jahren eine dritte Auflage notwendig. Im letzten Lehr-
jahr Conrads an der Kriegsschule, 1892, erschien das von der
Kritik gleichfalls sehr warm aufgenommene Buch „Taktik-
aufgabe n“, das den mit vielen anderen Pflichten belasteten
Truppenkommandanten die taktische Aufgabenstellung erleich-
tern und den jungen Offizieren die Möglichkeit bieten sollte, sich
durch Selbststudium fortzubilden. Auch dieses Buch erlebte bin-
nen vier Jahren drei Auflagen und fand besonders in fremden
Armeen starke Verbreitung.
In das Jahr 1891 fällt die Veröffentlichung von 69 Landschafts-
skizzen, die Conrad während der Wanderungen über die euro-
päischen Schlachtfelder angefertigt hat. Es sind dies Skizzen
des Kampfterrains bei Weißenburg, der Höhen von Spichern,
des Schlachtfeldes von Wörth und besonders lehrreiche, mit den
Kriegsschülern wiederholt besprochene Geländeskizzen der Ge-
fechtsfelder von Mars-la-Tour und Gravelotte. Eine Planskizze
und zahlreiche Landschaftsbilder zeigen charakteristische Ge-
ländeabschnitte aus den blutigen Kämpfen um Plewna, Gorni
Dubnik, Telis, Lovca und den heißumstrittenen Sipka-Paß. Den
Abschluß dieser Sammlung bilden ein Plan und drei Skizzen
des Gefechtsfeldes von Slivnica, dessen erfolgreiche Verteidi-
gung durch Alexander von Battenberg im Feldzug des Jahres
1885 gegen die Serben berühmt geworden ist. 1895 erschien
eine Arbeit Conrads: „Vorgang beim Studium taktischer Regle-
ments“, die gleichfalls innerhalb kurzer Zeit zwei Auflagen not-
wendig machte.
Diese Werke trugen seinen Ruf in die weitesten Kreise. Seine
Lehren fanden bald in den Reglements und Ausbildungsvor-
schriften fremder Armeen Aufnahme. Die gesamte militärische
Welt blickte nach dem jungen Stabsoffizier des österreichisch-
73
EIN DANKBARER SCHÜLER ÜBER CONRAD
ungarischen Generalstabes, dem Schöpfer neuer richtunggeben-
der Auffassungen über den Infanteriekampf.
Ich habe das Kapitel „Conrad als Kriegsschullehrer“ aus-
schließlich aus meinen persönlichen Erinnerungen geschrieben.
Bei der Durchsicht der Conrad-Literatur stieß ich auf das 1916
erschienene Lebensbild Conrads von Hofrat Professor Ludwig
von Pastor und im Anhang dazu auf einen Brief meines Kriegs-
schulkameraden Feldmarschalleutnant von Boog. Das Urteil die-
ses erfahrenen Generals war mir ein willkommener Beweis, daß
meine Würdigung Conrads nicht einer einseitigen, überschweng-
lichen Bewunderung entspringt, sondern daß der Großteil, man
darf es ruhig aussprechen, alle Schüler Conrads die gleiche
Erinnerung an seine Lehrtätigkeit bewahrt haben. Diesem Brief
entnehme ich folgende Stellen:
„Conrad war einer jener seltenen Lehrer, deren Geist uns
bis ans Lebensende begleitet.“
„Er mochte wohl aus unserer gespannten Aufmerksamkeit er-
kannt haben, daß wir uns aus seinen Vorträgen und Besprechun-
gen, die er freilich ganz ungewöhnlich anregend und belehrend
zu gestalten wußte, jedes Wort dauernd einprägten; uns aber
förmlich zu prüfen, dazu war er nicht zu bestimmen. Ja, es
schien uns, als hätte er eine Prüfung unter seiner und das schüler-
hafte Hersagen unter der Würde seiner Schüler gefunden. Da-
gegen besprach er alle Fragen mit uns in freimütiger Weise,
forderte die Diskussion heraus und war in seiner erhabenen
Seelengröße sichtlich glücklich, wenn einer der Schüler auch ihm
gegenüber trotzig bei seiner Meinung beharrte.“
„Conrad war nach Art der antiken Lehrer ein Freund der
Jugend. Er war ein Herr, der in seinen Schülern auch Herren
suchte. Damit hob er uns auf seine eigene Höhe und machte
uns zu seinen freudigen und stolzen Jüngern.“
„Seine anregende und dabei so gütige Art befreite selbst die
zaghaftesten Naturen ihrer Fesseln, und indem er mit klugem
Bedacht den Schüchternen sehr bald einen Erfolg bot, erzeugte
er Selbstvertrauen und schuf damit die Grundlage zu weiteren
Erfolgen. Er befreite unseren Geist.“
„Mit welch bleibendem Erfolg verstand es doch Conrad, uns
74
MACHT DER PERSÖNLICHKEIT
in die Psychologie der Entschlußfassung einzuführen und uns da-
mit zur Entschlußfähigkeit zu erziehen! Beharrlich und unnach-
giebig forderte er stets ganze Entschlüsse, verurteilte Halbheiten
und bildete auf diese Weise auch unseren Charakter.“
„Er war ein abgesagter Feind aller Phrasen und jedes nichts-
sagenden Schwulstes, und das von ihm so oft gebrauchte Wort
,konkret4 klingt gewiß noch allen seinen Schülern in den Ohren.“
„Mag auch der jetzige große Krieg manche seiner Lehren
nicht mehr bestätigen, keiner seiner Schüler wird darin eine
Überraschung erlebt haben, denn niemand hat lauter und über-
zeugender den Grundsatz gepredigt, daß jeder Krieg neue Er-
scheinungen bringe und daß es vor allem darauf ankomme, rasch
das Wesen dieser neuen Erscheinungen zu erkennen, sich ihnen
mit freier Auffassung anzupassen, und daß daher bei der Aus-
bildung der Truppe jede Dogmatik streng ferngehalten werden
müsse. Was so viele Lehrer vor ihm, aber auch nach ihm ver-
nachlässigten, das wußte er uns mit zwingender Macht beizu-
bringen : daß die Truppe aus Menschen bestehe und daß
die Menschen im Selbsterhaltungstriebe anders handeln, als der
trockene Theoretiker in der Regel anzunehmen beliebt. In vielen
lebendigen Beispielen aus seiner reichen Erfahrung und aus
seinen Studien wußte er uns immer wieder den Menschen im
Soldaten zu zeigen.“
„Conrad war auch unser Erzieher. Die Bekämpfung des so
vielen Menschen anhaftenden Hanges zur Bequemlichkeit war
immer sein Ziel, und seine besondere Kunst hiebei lag darin,
für seine zuweilen recht unbequemen Forderungen Zustim-
mung, Willigkeit und Freudigkeit zu finden. Er vermochte, ohne
je ein rauhes Wort gebraucht zu haben, auch den ärgsten Be-
quemling zu den größten geistigen und körperlichen Leistungen
anzuspornen. Wer darin Rätsel sucht, weiß nicht, was die Macht
der Persönlichkeit bedeutet, die ihm in hohem Maße zur Ver-
fügung stand.“
75
DIE MAJORSECKE
In der Kommission zur Beurteilung der
Stabsoffiziersaspiranten
Nach Abschluß der vierjährigen Lehrtätigkeit an der Kriegs-
schule wurde Conrad im Herbst 1892 als Bataillonskommandant
zur Truppendienstleistung beim Infanterieregiment Nr. 93 in
Olmütz eingeteilt. Im folgenden Jahre erfolgte seine Berufung
in die „Kommission zur Beurteilung der theoretischen Kenntnisse
der Stabsoffiziersaspiranten“.
Nachdem der „Stabsoffizierskurs“, wo die älteren Hauptleute
und Rittmeister eine theoretische Unterweisung für die Stabs-
offizierscharge erhielten, längere Zeit bestanden hatte, wurde die
Notwendigkeit erkannt, die Erweiterung des theoretischen Wis-
sens schon auf die älteren Oberleutnants in den „Korpsoffiziers-
schulen“ zu übertragen. Die Stabsoffiziersaspiranten hatten
später als ältere Hauptleute vor einer ständigen Kommission zu
erweisen, ob sie die nötigen theoretischen Kenntnisse für höhere
Kommandostellen besaßen. Oberst Conrad war dem Präses die-
ser Kommission zugeteilt, er hatte die Aufgaben zu entwerfen
und so zu leiten, daß sich die Kommission ein Urteil über die
Kenntnisse der Aspiranten bilden konnte. Er war also wieder
im Lehrfach tätig und sollte wieder „klassifizieren“, diesmal mit
größerer Tragweite, denn es handelte sich um Existenzfragen
von Familien.
Die gefürchtete „Majorsecke“ bildete eine Klippe, an der die
militärische Laufbahn eines Bruchteiles der Hauptleute scheitern
mußte. Eine Auslese war unvermeidlich, denn das Interesse
der Armee gebot, daß nur solche Hauptleute in die Stabsoffi-
zierscharge vorrückten, die auf höheren Posten entsprechen
würden. Conrad brachte in seinen neuen Wirkungskreis das ehr-
liche Wollen mit, als guter Kamerad zu raten und zu helfen
und den um ihre Existenz Kämpfenden die Scheu vor der Kom-
mission zu nehmen.
Die von ihm geleiteten Übungen im Gelände machten den
Stabsoffiziersaspiranten das Leben nicht sehr bequem. Die nicht
mehr ganz jungen Hauptleute und Rittmeister hatten Mühe, zu
Fuß das Tempo des beweglichen, leistungsfähigen, wenig über
40 Jahre alten Obersten Conrad durchzuhalten. Er entschädigte
76
WIEDER „PRÜFER'
sie aber durch seine kameradschaftliche Offenheit, die niemals
in die Aufgaben und Fragen „Fallen“ legte. Conrad war viel
zu sehr Pädagoge und bewußter Werter des praktischen Trup-
pendienstes, um nicht zu wissen, daß ein Ungeschick auf dem
Kriegsspielplan oder eine Unsicherheit im Gelände durchaus
nicht militärische Unfähigkeit bedeutete. Er unterschied Un-
wissen von Unvertrautheit mit der Technik oder Prüfungsscheu,
ließ sich aber nicht durch Redegewandtheit blenden.
Bald war Conrad als „Prüfer“ der Stabsoffiziersaspiranten
ebenso beliebt wie als Lehrer an der Kriegsschule. Der Präses
war befriedigt, einen solchen Fachmann zur Seite zu haben, die
Mitglieder der Kommission dankten Conrad, daß er ihnen die
Möglichkeit gab, sich zutreffende Urteile zu bilden, und die Aspi-
ranten waren glücklich, ihr Schicksal in den Händen eines wohl-
wollenden, gerechten, objektiven Mannes zu wissen. Alles war
zufrieden — nur Conrad nicht.
Er hat auch in dieser Verwendung Einfluß auf die Ausbildung
der Wehrmacht genommen, indem er sein Wissen auf die aus
der ganzen Armee vereinten Stabsoffiziersanwärter übertrug.
Mancher höhere Kommandant im Kriege hat, aus Conrads Leh-
ren schöpfend, zur Mehrung der Waffenehre unserer Armee bei-
getragen.
Das Reichskriegsministerium sprach mit Erlaß vom 19. August
1895 Conrad für sein „mit Sachkenntnis und besonderem Eifer“
geführtes Wirken auf diesem Posten die Anerkennung aus.
Regimentskommandant in Troppau
Für Conrads Streben, seine taktischen Ideen auf die Truppe
zu übertragen, gab es keine geeignetere Stellung als die eines
Regimentskommandanten. Es lag in seiner Macht, seine Auffas-
sung über den Krieg zum Gemeingut der ihm unterstehenden
Offiziere und der Mannschaft zu machen. Das Ansehen, das Con-
rad als Oberst bereits in der Armee genoß, bot die Gewähr, daß
ihm niemand hemmend in den Weg treten würde, obwohl seine
Ansichten über die Truppenausbildung vielfach als „revolutio-
när“ galten.
77
GEGEN DEN EXEKZIERPLATZ-DRILL
Im Herbst 1895 wurde Conrad zum Kommandanten des k. u. k.
Infanterieregimentes Kaiser Franz Joseph Nr. 1 ernannt. Das
Mannschaftsmaterial des Ergänzungsbezirkes Troppau zählte mit
Recht zu den allerbesten der Armee. Es waren fast durchwegs
Deutsche, deren natürlicher Intellekt durch gute Schulbildung
wesentlich gehoben war: eine glückliche Mischung von Bauern,
Industriearbeitern, Landbewohnern und Städtern mit hochent-
wickelter Moral, die sich in Pflichtbewußtsein, Disziplin und
männlichem Mut ausdrückte. Diese besonders günstigen Verhält-
nisse verdienen hervorgehoben zu werden, weil sie die Voraus-
setzung für die großen Erfolge Conrads in der kriegsmäßigen
Ausbildung seines Regimentes waren. Für den Verfasser des
Exerzierreglements wäre es vielleicht vorteilhafter gewesen, wenn
er seine Erfahrungen an weniger intelligenten und minder bil-
dungsfähigen Soldaten gemacht hätte.*
Der Einfluß Conrads auf die Ausbildung setzte schon bei den
Rekruten ein. Sonst wurden die neu einrückenden Soldaten
unter dem Titel Disziplinierung meist vorerst auf dem Kasern-
hof oder auf dem Exerzierplatz gedrillt, sie lernten Kopf- und
* Ich habe das gleiche Mannschaftsmaterial während des Krieges
im Troppauer Schützenregiment Nr. 15 befehligt. Ich konnte mich
in den kritischesten Lagen auf das Regiment verlassen, es hat oft
mehr geleistet, als man von ihm erwarten konnte. An einem der
schönsten Ruhmestage der 46. Schützendivision, der Einnahme von
Sokal im Juli 1915, habe ich das Schützenregiment Nr. 15 im Laufe
einer Nacht aus einem Kampfabschnitte herausgezogen, um es am
Morgen an jener Stelle einzusetzen, wo die einzige Aussicht bestand,
den Angriff über den hoch angeschwollenen, mit Hindernissen durch-
setzten Bug gegen drei hintereinander liegende vorbereitete rus-
sische Stellungen zu führen. Nach einer Rekognoszierung und Fest-
legung der artilleristischen Unterstützung stellte mir Oberst Bischof-
berger die Einnahme der entscheidenden Höhe für eine bestimmte
Stunde in Aussicht. Mit mathematischer Präzision drang das Batail-
lon des ersten Treffens um die angegebene Zeit in die russische
Stellung ein. Dank seiner tüchtigen Mannschaft blieb das Regiment
auch auf der Höhe, nachdem ein großer Teil der Offiziere gefallen
oder verwundet war. Die schlesischen Lehrer und Mittelschüler
waren ein sehr guter Offiziersersatz. Der Einfluß der besseren Schul-
bildung machte sich bei der rationellen Ausnützung der eigenen
Waffen sowie bei der Abschwächung der feindlichen Waffenwirkung
deutlich fühlbar. Während beim Troppauer Schützenregiment jeder
Mann lesen und schreiben konnte, gab es zum Beispiel beim Schüt-
zenregiment Neu-Sandec Nr. 32 derselben Division bis zu 75 Prozent
Leute, die kaum ihren Namen schreiben konnten.
78
DAS AUFLÖSENDE DES MODERNEN KAMPFES
Körperwendungen und das Leisten der Ehrenbezeigung, worauf
erst langsam auf die Erziehung zum Gefecht übergegangen
wurde. Conrad vertrat die Ansicht, daß dieses Einpressen in
starre Formen den gesunden, natürlichen Sinn der jungen Leute
für den Kampf unterbindet. Auch die allgemein übliche Art,
dem Manne auf dem Exerzierplatz als erstes die „Schwarm-
linie“ als „Kampfform“ zu lehren, mußte die in jedem jungen
Menschen steckende Anlage für den Kampf untergraben. Con-
rads Rekruten wurden vom ersten Tage an ins Gelände geführt
und zur Durchführung kleiner, ihrem Auffassungsvermögen an-
gepaßter Gefechtsaufgaben angeleitet. Zwischenpausen wurden
für die formelle Ausbildung ausgenützt. Der junge Rekrut sollte
vor allem lernen, daß er Soldat geworden war, um durch
Kampf zu siegen.
Während der Kommandoführung in Troppau hat Conrad die
Erfahrungen für sein bahnbrechendes Werk „Die Gefechtsausbil-
dung der Infanterie“ gesammelt.* Diese Anleitung fand in der ge-
samten militärischen Welt Beachtung, vor allem aber wurde sie
richtunggebend für die Kampfweise unserer Fußtruppen, als
Conrad seine Auffassungen in dem neuen Reglement nieder-
legte. Die Ausbildung sollte sich auf das im Kriege Erforder-
liche beschränken: „Zur Pflege von bloßen Äußerlichkeiten hat
die heutige Infanterie keine Zeit.“
Conrad stellte das „Auflösende“ des modernen Infanterie-
kampfes, zum Unterschiede gegen frühere Zeiten, in den Vor-
dergrund, weshalb der Mann so zu erziehen sei, daß er auch
dann als Kämpfer seine Pflicht tut, wenn er, seiner Führer be-
raubt, „auf sich selbst angewiesen ist“. Jeder Teilnehmer am
Weltkriege wird anerkennen müssen, wie berechtigt diese For-
derung war. Der gerade in militärischen Belangen sich nur zu
leicht einbürgernde Konservativismus hat diesen vorausblicken-
den Ideen Conrads nicht zu folgen vermocht. Wenn Conrad zum
* „Die Gefechtsausbildung der Infanterie“, Wien, Verlag L. W.
Seidel u. Sohn, erschien in erster Auflage im Jänner 1900. Die
weite Verbreitung des Buches führte bereits 1902 zu einer zweiten
Auflage, in der die Bestimmungen des mittlerweile erschienenen
Entwurfes für die k. u. k. Fußtruppen berücksichtigt wurden. Im
Februar 1906 erschien die dritte Auflage, die dem Exerzierreglement
von 1903 und der Schießinstruktion von 1905 Rechnung trug.
79
DIE WAHRE „STRAMMHEIT“
Beispiel über den Parademarsch schreibt: „Man sehe nur zu,
wie der Marsch auf dem ebenen Exerzierplätze zu einer wahren
Wissenschaft entwickelt, welche Mühe auf den marionettenhaften
Sprung bei der Ziehung oder bei Wendungen verwendet, bis
zu welcher Entstellung oft der Mann in der Absicht sogenannter
Strammheit verzerrt wird“, so wurde dies als Vorstoß gegen den
für die Disziplin unentbehrlichen „Drill“ angesehen.
Conrad verwahrte sich gegen den Vorwurf, den Wert der
Strammheit zu verkennen: „Eine rationale Ausbildung muß
viel höhere Anforderungen stellen als jene sich lediglich
bei Defilierungen und auf kurze Marschstrecken durch stampfen-
den Schritt, steife Haltung und eckige Bewegungen ausdrückende
Strammheit, die nur den Laien über eine mangelnde tiefreichende
Detailausbildung hinwegzutäuschen vermag.“ Für Conrad war
Strammheit in physischer Hinsicht das Resultat „einer systema-
tischen gymnastischen Körperdurchbildung“, moralisch aber das
Resultat „eines durch sorgfältige Erziehung geweckten und ge-
festigten Ehr- und Selbstgefühls, das einen Stolz dareinsetzt, das
Nachlassen in Körperhaltung und Ordnung auch dann zu be-
kämpfen, wenn Ermüdung und Abspannung ihren Einfluß gel-
tend machen“.
Großen Wert legte Conrad auf die systematische Ausbildung
der „moralischen Potenzen“ im einfachen Mann wie in den Füh-
rern aller Grade. Er zählt hiezu in erster Linie die Züchtung
des „Dranges nach vorwärts im Angriff“ und die Erziehung
zum „zähen Ausharren“ in der Verteidigung, — „die zwei Haupt-
tugenden des Soldaten aller Zeiten“.
Den schärfsten Widerständen begegnete Conrads Schießausbil-
dung bei den streng konservativen Schießtheoretikern. Als Leh-
rer an der Kriegsschule hatte er es sich mit ihnen verdorben,
weil er die „Wolozkoische Theorie“ vertrat, die sie mißverstan-
den. Er geriet in den Ruf, den Wert des „gezielten Schusses“
zu verneinen. Gerade das Gegenteil war der Fall. Conrad ar-
beitete darauf hin, daß der Mann, der „im heiß engagierten Ge-
fecht“ nicht zielt, durch die Feuerdisziplin dahin gebracht
wird, auch bei gesteigerter Lebensgefahr gezielte Schüsse abzu-
geben. Die „Schießtheoretiker“ sahen im „Punktschießen“, dem
„Treffen“ auf möglichst große Distanzen, das Ziel der Sehieß-
80
I
DER „TAKTISCHE“ SCHIESSUNTERRICHT
ausbildung, während Conrad das Schießen nicht als Selbstzweck
anerkannte, sondern es in den Dienst einer taktischen Handlung
stellte.
In diesem Sinne wurden bei seinem Regiment auch schon die
Rekruten im Schießen ausgebildet. Wieder wurde an den ge-
sunden Verstand des jungen Soldaten appelliert und durch kleine
taktische Handlungen das Verständnis für die Verwertung des
Gewehres im Kampfe geweckt. Der einfache Mann sollte aus
sich selbst die geeignetste Feuerart wählen lernen.
Die im Frieden nicht mit genügendem Nachdruck geforderte
Voranstellung des taktischen Schießunterrichtes wirkte sich
gleich in den ersten Gefechten sehr empfindlich aus. Die Leere
des Gefechtsfeides gab der Infanterie nur selten Gelegenheit zum
gezielten Feuer auf größere Distanz. Das konnte die Artillerie
weit wirksamer besorgen. Für den Nahkampf mit der Schuß-
waffe, wobei die Artillerie wenig, die Infanterie nahezu alles zu
leisten hatte, war diese nicht geschult. Die zum „Punktschießen“
erzogene Infanterie versagte im „Schnellfeuer“. Man hatte
sie dazu erzogen, im Schnellfeuer eine Munitionsverschwendung
zu sehen. Während die Konstrukteure aller Staaten eifrigst be-
strebt waren, ein möglichst schnell schießendes Gewehr mit mög-
lichst rasanter Flugbahn zu erfinden, verpönte die Schießausbil-
dung das schnelle Schießen und forderte vom Infanteristen unter
allen Verhältnissen den gezielten Schuß, mit methodischer Ziel-
erfassung und bedächtigem Abzug. Und nun wälzten sich schon
in den Einleitungsschlachten die tiefgegliederten russischen Mas-
sen als willkommenes Ziel für ein vernichtendes Schnellfeuer
gegen unsere Infanterie bis an die nächsten Distanzen heran,
und selbst unsere aktiven Leute waren nicht fähig, die in ihrem
Gewehr steckende volle Leistungsfähigkeit auszunützen.*
* Diese schon in den ersten Gefechten aufgetretene Erscheinung
mahnte mich an die Auffassung Conrads, daß das Schießverfahren
im Dienste der taktischen Forderungen zu stehen habe. Die Er-
kenntnis, daß das Schnellschießen nicht auf der Höhe war, veran-
laßte mich, diesen Mangel ehestens zu beheben. Bei jeder Gelegen-
heit forderte ich vom einzelnen Mann und auch von Abteilungen die
Abgabe eines kurzen, rapiden Schnellfeuers; jeder Schütze meiner
Division mußte gewärtig sein, bei Tag oder Nacht, in jeder Körper-
lage ein zur höchsten Schnelligkeit gesteigertes Abwehrfeuer abzu-
geben. Durch Zuweisung einer geeigneten Übungsmunition wurde dies
6
81
WERT PHYSISCHER M A X I M A L L E I S T U N G E N
Conrad legte auch als Regimentskommandant besonderen Wert
auf hohe physische Leistungen. Er hielt daran fest, obzwar er
nicht selten Kritiken von maßgebender Stelle begegnete. In
seiner Anleitung zur Gefechtsausbildung der Infanterie stellt
Conrad den „Unternehmungsmut“ als Grundbedingung
für jede kriegerische Leistung hin und bezeichnet als dessen
Quelle das aus der Erkenntnis des eigenen physischen
Könnens sich ergebende „Kraftbewußtsein“, das aber nur
an Maximalleistungen gemessen werden kann. „Im
Kriege tritt die höchste Anforderung an den Menschen
dadurch heran, daß er mit Unterdrückung des jedem
Wesen innewohnenden Selbsterhaltungstriebes der Todesgefahr
entgegensehen muß, was als das höchste Maß des Niederdämpfens
der auf das eigene Wohlbefinden gerichteten menschlichen
Seelentätigkeit angesehen werden muß. Im Frieden, wo die
Todesgefahr entfällt, muß der Mann durch Strapazen und Ent-
behrungen lernen, den auf das eigene Wohlbefinden abzielenden
Trieb zu bekämpfen und zu bezwingen... Eine Truppe, die dies
bei hohen Leistungen und Strapazen im Frieden vermag, läßt
hoffen, daß sie auch den viel höheren Anforderungen des
bis zum Exzeß geübt. Im Rahmen von Preiskonkurrenzen in der Ein-
zelausbildung machte ich das Schnellschießen auf nahe Distanzen
zum ersten Programmpunkt. Jeder Bewerber hatte gegen eine von
hundert Schritten vorgehende Figur mit sechs Schüssen möglichst
viele Treffer zu erzielen. Bei diesen Bewerben, zu denen jede Kom-
panie der Division zwei Mann zu stellen hatte, erreichten einzelne
Leute sechs Treffer binnen 14 Sekunden. Wie sich diese Ausbildung
bewährte, konnte ich an den Auszeichnungsanträgen wahrnehmen.
Es handelte sich nach zusammengebrochenen russischen Massen-
angriffen zumeist um Leute, die im vollen Vertrauen auf die Lei-
stungsfähigkeit ihres Gewehres ruhig von der Brustwehr aus in die
Anstürmenden bis auf nächste Distanzen schossen. Sie gaben ihren
Kameraden ein gutes Beispiel, überzeugt, daß auch der dichteste
Angriff im Feuer unseres schnellschießenden Gewehres zusammen-
brechen müsse. Die schweren Verluste zu Beginn des Krieges, na-
mentlich die Feuertaufe über dem Artillerieschießplatz von Krasnik,
hatten mich veranlaßt, die Einzelausbildung der Infanterie zu re-
vidieren; getreu der Mahnung Conrads, daß jede Armee als Rekrut
in einen neuen Krieg zieht und derjenige sich den Erfolg sichert,
der rascher Mängel erfaßt und sie zu beheben versteht. Es war
deutlich wahrzunehmen, wie nach den blutigen Erfahrungen der
ersten Kriegsmonate durch systematische Hebung der Einzelausbil-
dung die Verluste geringer wurden, das Vertrauen in die eigene
Kraft wuchs.
82
EIN „BAHNBRECHENDER“ KOMMANDANT
Kampfes eher gewachsen sein wird als eine Truppe, die an die
Abgabe solcher Maximalproben nicht gewöhnt wurde.“
Das Kriegshandwerk hat seit den Jahren, da Conrad seine
Ausbildungsgrundsätze niederschrieb und an seinem Regiment
praktisch erprobte, gewaltigen Wandel erlebt. Die „I n d i v i-
dualisierung“, die Conrad an die Spitze seiner Ausbil-
dungsmethode stellte, wird immer wichtiger, je größer die An-
forderungen an die moralischen Potenzen des Einzelkämpfers
werden. Dies vorausblickend erkannt und mit Tatkraft durch-
geführt zu haben, ist Conrads Verdienst. Kein Wunder, daß
sein Ruf als Fachmann in Ausbildungsfragen über die Gren-
zen des Vaterlandes drang.
Jeder einzelne Mann von „Kaiser“-Infanterie fühlte sich stolz,
einem Regimente anzugehören, das vorbildlich für den Krieg
ausgebildet war. Conrad war streng und forderte viel, aber er
schonte vor allem sich selbst nicht. Bei anstrengenden Marsch-
übungen sah man den Regimentskommandanten zumeist zu Fuß
die Leistungen seiner Leute teilen. Solches Beispiel gewann ihm
die Herzen aller, sie wären für ihn durchs Feuer gegangen. Als
er von seinen geliebten „Einsern“ Abschied nehmen mußte, wid-
mete ihm ein Offizier folgende Abschiedsworte:
„Eines hat Conrad erreicht: das unbedingte Vertrauen aller
Untergebenen, vom ältesten Stabsoffizier bis zum letzten In-
fanteristen, in seine Führung. Was er befahl, war einfach das
,Beste4, und so wurde jeder seiner Befehle auch von jedem mit
ganzem Herzen, mit Begeisterung ausgeführt. Conrad war ein
Kommandant, dessen Wille unbedingt im Regimente durchdrang,
nicht etwa, weil man sich vor dem gestrengen Herrn Oberst
fürchtete, sondern aus Überzeugung und aus Liebe zu ihm; jeder
wollte alles so gut als möglich machen, um dem verehrten Kom-
mandanten eine Freude zu bereiten. So hat er es verstanden,
seinem Regimente den Stempel seiner Individualität aufzuprägen.
Ein hervorragender, bahnbrechender Kommandant, dem das
ganze Regiment nachweinte, als er schied.“
Conrad empfand es als eine angenehme Pflicht, seine Offiziere
auch gesellschaftlich an sich heranzuziehen. Er führte in Troppau
ein offenes Haus. Seine Frau, die jede Einmischung in dienst-
liche Angelegenheiten peinlich mied, bemühte sich, sein Heim
6*
83
DIE „GLÜCKLICHSTEN JAHRE MEINES LEBENS4*
zu einem gern besuchten geselligen Mittelpunkt zu gestalten.
Jeden Dienstag war Empfang, ungern versäumten die Offiziere
und deren Familien das gastfreundliche Haus des Obersten Conrad.
An einem Tag der Woche gehörte er ausschließlich seinen Offi-
zieren, er speiste mit ihnen in der Messe und verbrachte auch
den Abend in ihrem Kreise. Der noch jugendliche Oberst mengte
sich gern unter die Jüngsten und wurde mit ihnen wieder „jung“.
Am „Kindertisch“, wie er scherzhaft hieß, saß Conrad mit den
Kadetten und Fähnrichen und scherzte und lachte mit ihnen.
Für Steifheit hatte er niemals etwas übrig.
An der Spitze dieses schönen, stolzen Regimentes, das den er-
lauchten Namen seines Kaisers und Allerhöchsten Kriegsherrn
trug, genoß Conrad die vollste Befriedigung seines soldatischen
Wirkens. Ein glückliches Familienleben, sehr angenehme gesell-
schaftliche Verhältnisse trugen dazu bei, den Aufenthalt in
Troppau zu verschönern. Conrad hat in dankbarer Erinnerung
an diese Zeit ungetrübter Freude und innerster Genugtuung in
späteren Jahren, in Stellungen, die seinen Ehrgeiz weit mehr be-
friedigen konnten, die Jahre als Regimentskommandant als die
„glücklichsten“ seines Lebens bezeichnet.
Die in alle Kreise der Armee gedrungene Erkenntnis, daß
Conrad einer der besten Kenner des Infanteriekampfes sei, führte
zu seiner Berufung in die Kommission zur Neuverfassung des
Exerzierreglements für die Fußtruppen in den Jahren 1899 und
1900. Er übernahm sehr bald die Führung in taktischen und
Ausbildungsfragen. 1901 entstand der Entwurf zum Exerzier-
reglement für die k. u. k. Fußtruppen, der zunächst zur Er-
probung an einzelne Truppenkörper ausgegeben wurde. Das
Kapitel „G e f e c h t“ war nahezu gänzlich von Conrad bearbeitet.
Der Entwurf wurde mit nur geringen Änderungen angenommen
und bildete die Grundlage für die Ausbildung der Fußtruppen
des gemeinsamen Heeres und der Landwehren. Mit diesem
Reglement, das durchwegs Conrads offensiven Geist trug, ist un-
sere Infanterie in den Krieg gezogen und hat durch initiative
Kampfführung in vielen Schlachten und Gefechten auch über
zahlenmäßig überlegene Gegner gesiegt. An der Spitze der Be-
stimmungen für die Gefechtsausbildung stand Conrads Satz:
„Bei jeder Übung hat der praktische Kriegszweck allein maß-
84
GEGNER VON „PARADEN“
gebend zu sein.“ Das war das Leitmotiv für die Ausbildung, an
dem Conrad auf allen Posten seiner Lehr- und Kommandotätig-
keit festgehalten hat.
Er war ein ausgesprochener Gegner von „Paraden“. Conrad
hätte am liebsten die Wehrmacht von allen Diensten entlastet,
welche die Zeit ihrer kriegsmäßigen Ausbildung kürzten. In
diesem Streben hat er die Schaffung von „Garnisonstruppen“
angeregt, die das stehende Heer ’ von Verpflichtungen, wie
Kirchenparaden, Leichenkondukten, Sicherheits- und Notstands-
assistenzen, ja sogar vom Wachdienst entlasten sollten. Conrads
schlichtem, jedem Prunk abholdem Wesen widersprachen alle
militärischen Schauspiele. Nur schwer ließ er sich davon über-
zeugen, daß bei gewissen festlichen Anlässen die Bevölkerung
Anspruch auf Entfaltung militärischen Prunkes habe. Die Armee
war die Verkörperung der Staatsgewalt und die Bürgschaft für
Zucht und Ordnung; es diente dem Interesse des Staates, dies
auch durch Äußerlichkeiten zum Ausdruck zu bringen.
Das neue Reglement kannte, zum Unterschied von allen an-
deren Armeen, keine Paradegriffe mehr. Alle nicht unbedingt
notwendigen Gewehrgriffe, die in anderen Heeren als Mittel zum
„Drill“ dienten, waren abgeschafft. Die „Gefechtsdiszi-
p 1 i n“, die den auf sich selbst angewiesenen Soldaten in anerzoge-
ner Manneszucht zur gewissenhaften Erfüllung seiner Pflichten
verhielt, war über die Disziplin gestellt, die sich in geschlossenen
Formationen, bei formellen Bewegungen und im „Parademarsch“
dokumentierte.
Durch die Annahme des neuen Exerzierreglements drang
Conrads Geist in die gesamte österreichisch-ungarische Armee.
Sein Einfluß hat jenen einheitlichen Guß geschaffen, der die
Eigenschaften der verschiedenen Völker der Monarchie auf der
gemeinsamen Linie der Conradschen Ausbildungsvorschrift
einigte.
Brigadier in Triest
Am 1. Mai 1899 wurde Conrad zum Generalmajor befördert
und zum Kommandanten der 55. Infanteriebrigade in Triest
ernannt.
85
KARST EIN IDEALES ÜBUNGSGELÄNDE
Triest stand seit jeher im Ruf, besonders ungünstige Aus-
bildungsverhältnisse zu haben. Die Lage der Stadt am Meer
und knapp am Fuß des steil abfallenden Karstplateaus ließ
wenig Raum für Übungsplätze in erreichbarer Nähe der Unter-
künfte. Infolgedessen spielte sich die Ausbildung zum größten
Teil auf dem Kasernhof, bei schlechtem Wetter gar auf den
Gängen ab.
In diese Verhältnisse trat Conrad, erfüllt von seinen ausschließ-
lich im Gelände erzielten Erfolgen beim Regimente „Kaiser“.
Er verwies sofort auf das Karstplateau oberhalb Triest, das
wegen des geringen Feldbaues geradezu ideale Ausbildungsmög-
lichkeiten bot. Bis auf die von Steinriegeln eingeschlossenen
Dolinen und die zu schonenden Aufforstungen war das Gelände
im Ausmaß von Hunderten von Quadratkilometern das ganze
Jahr hindurch ohne Feldschaden zu betreten. Allerdings bedingte
dies einen Aufstieg von 300 bis 400 Meter, was Conrad als will-
kommene Gelegenheit zu einem gesunden Training begrüßte.
Er verwies auf die Marktweiber, die schon seit Generationen vom
Plateau aus im Sommer und im Winter, bei glühender Hitze und
schärfster Bora schwer beladen täglich den Weg zu und von den
Märkten Triests zurücklegten, ohne an ihrer Gesundheit Schaden
zu nehmen. Den Einwand, daß durch die Hin- und Rückmärsche
viel Zeit verlorengehe, ließ er schon gar nicht gelten, da sich
gerade diese zu allerlei kleinen Gefechtsmomenten, zu Über-
fällen u. dgl. verwerten ließen. Mit einem Schlag war die Aus-
bildungsmisere von Triest in das Gegenteil verwandelt; das bis
dahin öde Karstplateau wimmelte plötzlich von übenden Sol-
daten. Conrad griff wiederholt persönlich ein, um den Wert
dieses idealen Ausbildungsgeländes zu beweisen. Er war täglich
bei jedem Wetter unterwegs, beschäftigte sich eifrig mit Ab-
teilungen, die er eben übend antraf, und gab wertvolle An-
regungen zur Steigerung der kriegsmäßigen Ausbildung.
Bald kannte jeder Infanterist seinen Brigadier. Die Mann-
schaft hatte die Verlegung der täglichen Beschäftigung auf das
Plateau freudig begrüßt. Nichts ermüdete den Mann physisch
und geistig so wie das stundenlange formelle Exerzieren und
Gewehrgriffklopfen als Selbstzweck, während ihm die Bewegung
in der freien Natur weit mehr zusagte. Für die unerläßlichen
86
BRUCH MIT DEM ALTHERGEBRACHTEN
Strammheitsübungen gab es in den Pausen hinreichend Zeit.
Selbst der Kompanierapport konnte im Freien in Übungspausen
abgehalten werden, wodurch die Leute gewöhnt wurden, den
beengenden Kasernhof oder -gang zu meiden. Um so williger
gaben sie ihr Bestes her, wenn von ihnen knapp vor dem Ein-
rücken noch ein strammer Vorbeimarsch oder ein paar exakte
Griffe gefordert wurden. Der Sommerhitze mußte durch eine
möglichst frühe Aufbruchstunde Rechnung getragen werden, was
einen Bruch mit der sonst in der Armee üblichen Tageseinteilung
bedeutete. Conrad setzte es durch, daß das Regiment während
der heißesten Jahreszeit bataillonsweise für zwei bis drei Wochen
auf das Karstplateau verlegt wurde, wo die günstigen Ausbil-
dungsverhältnisse den Kommandanten volle Freiheit ließen, ent-
lastet vom Garnisonsdienst, nach Bedarf den Tag oder die Nacht
der kriegsmäßigen Ausbildung in wechselndem Gelände zu
widmen.
Conrad setzte bei jedem Unterkommandanten den Ehrgeiz
voraus, seine Leute nach besten Kräften so tüchtig als möglich
auszubilden. Er anerkannte daher nicht die Notwendigkeit einer
für das ganze Regiment einheitlichen, die Arbeit auf die Minute
regelnden Tageseinteilung, sondern sah es lieber, daß sich der
Kompaniekommandant sein Tagesprogramm selbst zurechtlegte.
Schädlichen Übereifer Ehrgeiziger konnte der Oberst durch regen
Kontakt mit seinen übenden Abteilungen ebenso bremsen, wie
der Bequemlichkeit einzelner steuern. Die dem Kommandanten
überlassene Freiheit in der Ausnützung der Zeit sah Conrad als
die sicherste Gewähr für die Erreichung des angestrebten Aus-
bildungszieles an.
Es kostete Mühe, den Bruch mit der althergebrachten, die
Selbsttätigkeit der Unterkommandanten beengenden Regelung der
Tageseinteilung zu erreichen, Conrad ließ aber nicht locker und
wußte schließlich auch den hartgesottensten Vertreter des ein-
heitlichen, gleichförmigen Ausbildungsvorganges zu überzeugen,
daß die als „revolutionär“ angesehenen „Neuerungen“ doch nur
der Sache dienten. Hauptleute, die schon auf eine viel jährige
Erfahrung zurückblicken konnten, durften zu einer Zeit, da schon
vom einzelnen Mann Selbständigkeit und Initiative verlangt
wurde, nicht mehr am Gängelbande geführt werden.
87
DER „GENERALSTÄBLER“
Im Mai 1901 wurde ich als Hauptmann im Generalstabskorps
zur Truppendienstleistung beim Infanterieregiment Nr. 97 der
Brigade Conrad eingeteilt. Mein Empfang durch den Regiments-
kommandanten als Generalstäbler, der noch dazu der Ar-
tillerie entstammte, war nicht gerade warm und ermuti-
gend.* Man hörte deutlich die Sorge um die Kompanie
heraus, die da „geopfert“ werden sollte. Um dieser Ge-
fahr möglichst vorzubeugen, erklärte der Oberst, er habe
bereits den ältesten Subalternoffizier zur Kompanie eingeteilt,
der das „Werkel“ schon seit 14 Jahren betreibt und es ausge-
zeichnet versteht. Er, der Oberst, könne mir nur raten, die Aus-
bildung der Kompanie ganz dem erfahrenen Subalternen zu
überlassen.
Es bedeutet heute keine Indiskretion mehr, wenn ich verrate,
daß mich Conrad auf einen solchen Empfang vorbereitet hatte.
Er hatte die Empfindung, daß er sofort eingreifen müsse.
Gleich am nächsten Tag sollte ich, dem der Oberst nicht zutraute,
einen Zug aus dem Kaserntor zu bringen, ein Bataillon im Regi-
mentsverband gelegentlich eines Gefechtsexerzierens befehligen,
dessen Leitung sich Conrad Vorbehalten hatte.
Die Übung bestand in einer Vorrückung des Regimentes in
Gefechtsformation über eine Strecke von etwa zehn Kilometer,
wobei der Brigadier allerlei Annahmen bezüglich Richtung und
Intensität des feindlichen Artilleriefeuers sowie überraschende
Feindhandlungen einflocht, welche im Verein mit den zu schonen-
den Dolinen und Aufforstungen zu Formationsveränderungen
und zu partiellen Gefechtsentwicklungen zwangen. Die Übung
forderte von allen Kommandanten initiatives Handeln. Unter
dem äußeren Anschein, mich zu prüfen, gab mir Conrad Ge-
legenheit, die Bestimmungen des eben in Erprobung befindlichen
Reglemententwurfes an konkreten Beispielen zu interpretieren.
* Der Regimentskommandant war ein armeebekanntes Original.
Conrad schätzte an ihm seine Kriegsdienstleistung. Er besaß das
Militärverdienstkreuz mit der Kriegsdekoration für die Hissung der
Regimentsfahne auf dem Kastell von Sarajevo als Oberleutnant im
Jahre 1878. Aus der Zeit meiner Truppendienstleistung stammt eine
Reihe von Militärhumoresken, die ich häufig zum besten geben mußte,
wenn Conrad, von seinen Sorgen als Chef des Generalstabes be-
drückt, auf unserem Landhaus Zerstreuung suchte.
88
DAS KOMPANIE-MAGAZIN
Aus der Prüfung wurde ganz unauffällig eine Conrad sehr will-
kommene Instruktion, denn ich kannte seine im Kapitel „Ge-
fecht“ niedergelegten Intentionen durch die unmittelbar voran-
gegangene Dienstleistung in der 5. Abteilung des Kriegsministe-
riums, wo ich am Reglementsentwurf mitgearbeitet hatte.
Mit einem Schlage war meine „t a k t i s c h e“ Position ge-
macht. Es gab aber noch eine Klippe: die „administrative“
Führung der Kompanie, auf die der Herr Oberst vielleicht noch
mehr hielt. Auch da sprang Conrad helfend ein.
Wenige Tage später fand die Frühjahrsinspizierung durch den
Brigadier statt* Unmittelbar nach der Entgegennahme der Bit-
ten und Beschwerden befahl der Brigadier: „Die 11. Kompanie
mit der Exerziermontur am Arm antreten!“ Der tägliche Marsch
auf das Plateau und die Übungen am Karst hatten eine starke
Abnützung der Exerziermontur zur Folge, Es bedurfte daher
gewisser Vorsorgen, die entstandenen Mängel im Laufe des
Abends zu beheben, so daß am nächsten Tag wieder tadellos
ausgerückt werden konnte. Gewissenhaft hielt Conrad mit stren-
ger Miene jede Zwilchhose und jedes Ärmelleibel gegen die
Sonne, um nach einem ungeflickten Loch zu fahnden, jeder
Schuh wurde auf schadhafte Sohlen untersucht — es war alles
in Ordnung. Nun befahl Conrad: „Herr Hauptmann, führen Sie
mich ins Magazin!“ Ich sehe heute noch meinen Oberst er-
bleichen; jetzt mußte die Katastrophe kommen. Auch Conrad
schien nicht ganz sicher und fragte anfänglich nur tastend nach
dem Stand der einzelnen Sorten. Als er aber merkte, daß ich
vollkommen orientiert war, wurde er immer kühner und schwang
sich schließlich zu der Frage auf: „Herr Hauptmann, was haben
Sie für Pläne für die Herbstfassung?“
Beim Regimente durften auch im Winter keine Mäntel ge-
tragen werden, denn „wenn wir in Triest schon einen Mantel
tragen, wie viele Mäntel müßten die dann in Tarnopol tragen?“,
war die Auffassung des Regimentskommandanten. Die Mäntel
hingen daher Sommer und Winter fein säuberlich zusammenge-
rollt am Haken des Monturbrettes; in deren Rückenfalte führte
* Jeder Mann hatte bei diesem Anlaß das Recht, ohne vorherige
Anmeldung dem Brigadier direkt Bitten und Beschwerden vorzu-
tragen.
89
EINE LUST ZU ARBEITEN
ein Heer von in der alten Kaserne unausrottbaren Wanzen ein
ungestörtes Dasein. Diese Schonung der Mäntel ergab einen
reichen Überschuß an „Montursportionen“, und ich konnte dem
Brigadier daher stolz melden, daß im vergangenen Jahr so viele
tausend Portionen erspart worden seien, und daß ich sie bei der
kommenden Herbstfassung in Zwilchhosen umzusetzen beabsich-
tige. Conrad hatte auch meine „administrative Position“ gemacht.
Der gestrenge Herr Oberst benützte von da an jedes Zusammen-
treffen nur mehr zu halb scherzhaften Klagen über den General-
stab.
Er gewöhnte sich selbst an die „revolutionären“ Ideen seines
Generalstäblers, der grundsätzlich mit „Doppelreihen links
a b f a 11 e n“ aus dem Kasernhof marschierte, oder mit dem
dritten Zug und dem zweiten Glied voraus in die „Masse“ ein-
rückte, um im Sinne des neuen Reglements dem von altersher
bevorzugten rechten Flügel und dem ersten Glied ihre Bedeu-
tung zu nehmen. Er duldete es, daß die 11. Kompanie zur Aus-
rückung oder zur Befehlsausgabe — statt in der üblichen Kolonne
oder entwickelten Linie: die Züge nach der dienstlichen Num-
mer, das erste Glied voraus — stets in einer anderen Formation
antrat, um Zugskommandanten und Mannschaft an die rasche
Annahme verschiedener Formationen zu gewöhnen. Er bespöttelte
es auch nicht mehr, wenn die 11. Kompanie aus erziehlichen
Gründen bei jedem Friedensmarsch, selbst zum Baden, mit einer
kleinen Vorhut marschierte. Auch Abweichungen von der alther-
gebrachten Tageseinteilung wurden hingenommen. Wenn zum
Beispiel für den nächsten Tag die zwölf Kilometer entfernte
Schießstätte zugewiesen war, wurde am Vortag der Vormittag
ganz freigegeben, dafür am Nachmittag mit einer Übung übers
Plateau marschiert, in der Nähe der Schießstätte genächtigt, um
mit dem ersten Sonnenstrahl mit dem Schießen zu beginnen.
Es war eine Lust, zu arbeiten. Die Genugtuung, die Kompanie
nach bestem Können kriegsmäßig ausbilden zu können, entlohnte
reichlich für die hiemit verbundenen Strapazen.
Der Bruch mit dem „Althergebrachten“ war nicht leicht. Zur
Erprobung des Reglemententwurfes war im Regiment eine Kom-
mission bestimmt, welche die neuen Bestimmungen Punkt für
Punkt durchzugehen hatte. Eines Tages kam ich mit meiner
90
STREIK DER LLOYD-HEIZER
übenden Kompanie eben zurecht, als von der Kommission beraten
wurde, auf welches Knie sich der Soldat auf das Kommando
„Nieder!“ zuerst niederlassen sollte. Im „Entwurf“ stand darüber
nichts mehr. Um meine Meinung befragt, konnte ich nur darauf
hinweisen, daß das Kommando „Nieder!“ bezwecke, die Truppe
so rasch als möglich der Sicht oder der Waffenwirkung zu ent-
ziehen, und da sei es gleichgültig, auf welches Knie sich der
Mann zuerst niederlasse.
Die durch Conrad unterstützte kriegsmäßige Ausbildung führte
zu den besten Erfolgen. Nach kurzer Zeit waren die Kompanien
elastisch und beweglich. Die zum selbständigen Denken er-
zogenen Soldaten hatten gelernt, sich auf kurze Befehle hin aus
jeder Formation nach jeder Richtung zum Gefecht zu entwickeln.
Sie hatten hiebei durchaus nicht an Strammheit eingebüßt und
brauchten weder bei der Defilierung noch in der Exaktheit der
Gewehrgriffe eine Konkurrenz zu scheuen. Ein hoch einzu-
schätzender moralischer Gewinn war das enge Band, das sich
zwischen Offizier und Mannschaft gebildet hatte. Unter den vielen
Andenken an meine Soldatenlaufbahn nimmt eine bescheidene
Zigarettendose den Ehrenplatz ein; sie trägt die Inschrift: „In
dankbarer Erinnerung ihrem Kommandanten die 11./97. Kom-
panie,“ Die Annahme solcher Geschenke war verboten. Conrad
entschied, daß ich meinen braven Leuten die Freude nicht ver-
derben dürfe.
Im Februar 1902 kam es in Triest durch einen Streik der
Lloyd-Heizer zu politischen Unruhen. Ihre Lohnforderungen
wären durch Verhandlungen zu befriedigen gewesen, subversive
Elemente hatten aber die Gelegenheit ergriffen, daraus ein Po-
litikum zu machen. Die italienische Irredenta förderte damit ihre
propagandistischen Ziele; es gelang ihr, den Generalstreik zu
provozieren, wodurch der Verkehr im Hafen lahmgelegt und die
gesamte Bewohnerschaft beunruhigt wurde. Die aufgestachelte
Menge zog johlend durch die Straßen, die Sicherheitsorgane er-
wiesen sich als unzulänglich. Um die Ordnung herzustellen,
wurde die bewaffnete Macht herangezogen.
Conrad hatte als Militärstationskommandant die politischen
Hintergründe des Aufruhrs erkannt und zögerte nicht, durch
energische Maßregeln die loyale Bevölkerung vor dem Pöbel zu
91
ZUFRIEDENHEIT DES KAISERS
schützen. Am 14. Februar kam es zum Zusammenstoß mit den
ausgerückten Truppen, einzelne Abteilungen sahen sich ge-
zwungen, von der Feuerwaffe Gebrauch zu machen, es gab Tote
und Verletzte.
Die Agitatoren schürten die Leidenschaften zur Siedehitze. Am
folgenden Tag zog der tobsüchtig gewordene Mob durch die
Straßen, stürzte Gaskandelaber um, zündete das ausströmende
Gas an, verübte Terrorakte gegen die Hausbesitzer, die anläß-
lich der Trauer um die Gefallenen keine schwarzen Fahnen aus-
gesteckt hatten, und begann die offen gebliebenen Geschäfts-
läden zu plündern. Es kam wieder zum Waffengebrauch, die
Zahl der Toten und Verletzten stieg. Conrad setzte die Ver-
hängung des Standrechtes durch, was alle weiteren Ausschreitun-
gen unterband.
Ich befand mich bei Ausbruch der Unruhen bei der Stabs-
offiziersprüfung in Wien. Auf die erste Zeitungsnachricht erbat
ich beim Chef des Generalstabes die Einrückung zum Regimente.
Feldzeugmeister Beck verstand mein Verlangen, ich wurde rasch
in den noch ausständigen Gegenständen geprüft und reiste noch
am selben Tag nach Triest ab.
Am Bahnhof erwartete mich der Offiziersdiener mit der
Marschadjustierung, der Pferdewärter mit dem Pferd, und unter
Bedeckung einer Patrouille rückte ich zu meiner Kompanie ein,
welche das alte Statthaltereigebäude in der inneren Stadt zu
schützen hatte.
Nachdem die Ruhe wiederhergestellt war, berief der Aller-
höchste Kriegsherr den Regimentskommandanten nach Wien, um
ihm seine Anerkennung für die tadellose Haltung des Regiments
auszusprechen, das die Insulte der irregeleiteten Menge mit Ge-
duld hingenommen hatte, bis die Wahrung der Staatsautorität
und die Sicherung von Leben und Eigentum der Bevölkerung
rücksichtslose Schärfe forderten. Kaiser Franz Joseph war offen-
bar durch die mustergültige Haltung des sich zum großen Teil
aus der Bevölkerung von Triest rekrutierenden Regiments sehr
angenehm überrascht.
Das Regiment hatte noch mehrere Monate nach Unterdrückung
des Aufstandes strenge Bereitschaft bei Tag und Nacht. Zum
täglichen Exerzieren wurde mit scharfer Munition ausgerückt,
92
DIE ITALIENISCHE FRAGE
und es war eine gute Disziplinübung, eine Verwechslung mit der
Exerziermunition zu vermeiden.
Conrad hat während der vierjährigen Dienstzeit in Triest
die italienische Frage gründlich studiert. Seine Erfahrungen
verdichteten sich zu der Überzeugung, daß die nationalen Be-
strebungen Italiens eine ernste Gefahr für die Monarchie bedeu-
teten. Er erkannte die Symptome kaum mehr verhüllter Feind-
schaft des Dreibundgenossen und erhob pflichtgemäß seine war-
nende Stimme in amtlichen Berichten.
Bei Ausbruch des Burenkrieges verfolgte Conrad aufmerksam
den Kampf dieses nach Freiheit strebenden Volkes und zog hier-
aus wertvolle taktische Schlußfolgerungen. Er hat sie in seiner
Schrift „Infanteristische Fragen und die Erscheinungen des Buren-
krieges“, Wien 1903, niedergelegt.
Als Conrad auf einen neuen Dienstposten berufen wurde,
trauerte ihm seine Brigade ebenso nach wie einst das Regiment
„Kaiser“.
Für mich bedeutete der Abschied vom Regiment auch den
Abschied von meinem verehrten Brigadier, dem ich eine außer-
ordentlich lehrreiche Truppendienstzeit verdankte. Sie war aus-
schließlich meiner Kompanie gewidmet. Nach Bewältigung des
reichen Tagesprogrammes blieben mir nur wenige Abendstun-
den für die Vorbereitung zur Stabsoffiziersprüfung im General-
stabe. Bereichert durch wertvolle Erfahrungen trat ich in meinen
neuen Pflichtenkreis.
Als Generalstabschef der in Aufstellung begriffenen 46. Land-
wehrdivision in Krakau fand ich reichlich Gelegenheit, die unter
Conrads Anleitung erweiterten Kenntnisse im praktischen Trup-
pendienst auf die neuformierten Verbände zu übertragen, mit
denen ich zwölf Jahre später in den Weltkrieg zog.
Divisionär in Innsbruck
Im November 1903 wurde Conrad zum Feldmarschalleutnant
und zum Kommandanten der 8. Infanterietruppendivision in
Innsbruck ernannt. Korpskommandant in Innsbruck war Erz-
93
AUF DIE „FRAU HITT“
herzog Eugen, der Conrad schon von der Truppendienstleistung
in Olmütz kannte, wo er sein Brigadier war. Die Truppen der
8. Division waren über ganz Tirol und Vorarlberg verteilt, Con-
rad fand daher bei den Inspizierungen Gelegenheit, sich nicht
nur über die militärischen Verhältnisse in seinem Dienstbereich
zu informieren, sondern auch die geographischen und politischen
Verhältnisse dieses Grenzlandes zu studieren.
Auch als Divisionär sah Conrad seine wichtigste Pflicht in der
kriegsmäßigen Ausbildung seiner Truppen. Wiederholt
führte er seine braven Kaiser]äger persönlich in die Berge.
Seine kein Hindernis scheuende Tatkraft übertrug sich auf Offi-
ziere und Mannschaft der Division.
Er trat in Innsbruck dem Deutsch-Österreichischen Alpenver-
ein bei und unternahm die kühnsten Hochgebirgstouren. Bei
den Märschen war er auf den schwierigsten Steigen in den Reihen
seiner Jäger zu sehen, er schlief mit ihnen, in seinen dünnen
Soldatenmantel gehüllt, in Almhütten oder im Freien und teilte
mit ihnen die Soldatenkost. Die Fama berichtet von folgender
Episode: Gelegentlich eines Garnisonswechsels kam ein Regi-
ment, das sich aus dem böhmischen Flachland ergänzte, in den
Verband der 8. Division. Zur ersten Besichtigung stand es in
tadelloser Paradeaufstellung auf dem Exerzierplatz. Der Divi-
sionär erschien zu Fuß mit Bergschuhen, Gamaschen und dem
Eispickel, schritt die Front ab und befahl — den Abmarsch auf
die etwa 2400 Meter hohe „Frau Hitt“ unter seiner Führung.
Die geringe Besiedlung und der spärliche Anbau in den höhe-
ren Lagen Tirols boten ideale AusbildungsVerhältnisse. Beson-
ders das feldmäßige Schießen verstand Conrad zu fördern, in-
dem er die Bestimmung der Schießinstruktion voranstellte, daß
eine feldmäßige Schießübung vor allem eine Gefechts-
übung sei. In vielen Garnisonen war dieser Forderung schwer
zu entsprechen, weil die Absperrung eines die volle taktische
Entschlußfreiheit gewährenden Raumes zu hohe Kosten verur-
sachte. Im hohen Gebirge fiel diese Beschränkung weg.
Auf diesen Schießplätzen konnte auch das Zusammenwirken
der Artillerie mit der Infanterie bei scharfen Schießübungen ge-
übt werden. Conrad forderte auch von der Artillerie die Über-
windung der schwierigsten Hindernisse, wenn es galt, Stellungen
94
ENTSCHEIDENDER „MANÖVER SIEG“
zu erreichen, aus denen sie unterstützend in den Kampf der In-
fanterie eingreifen konnte. Er hat mit dem Vorurteil gebrochen,
daß im Gebirge nur kleinkalibrige Gebirgsartillerie eingesetzt
werden könne. Dank dieser Erziehung hat unsere Infanterie
auch in der Gletscherwelt auf die Hilfe ihrer Schwesterwaffe
nicht verzichten müssen. Im Weltkrieg standen Geschütze in
Positionen, die vorher nur von erprobten Hochtouristen erklom-
men wurden.
Bezeichnend ist ein angeblich von Feldmarschall Erzherzog
Eugen stammender Ausspruch: „Mein bestes Gebirgsgeschütz
ist der 30*5-Mörser.“
Im Jahre 1905 fanden in Südtirol Kaisermanöver statt. Con-
rad kommandierte die nach Tirol eingedrungene „Südpartei“.
Die Kämpfe im Nonstale schlossen für Conrad sehr günstig ab.
Der Kaiser war über den Verlauf der Manöver und im beson-
deren über das Geschick, womit sich Conrad den „Manöversieg“
gesichert hatte, hochbefriedigt. Alle Manövergäste, vor allem die
fremdländischen Militärattaches, blickten nach dem jugendlichen,
elastischen General mit dem scharfen Blick des überlegenen
Führers. Ganz besonders fiel das Interesse des Erzherzog-Thron-
folgers für Conrad auf.
Die politischen Verhältnisse in Südtirol bestärkten Conrads
Auffassung, daß Italien mit allen Mitteln auf die Lostrennung
von Gebieten der Monarchie hinarbeite.
Die intensive Beschäftigung mit dieser Gefahr ließ ihn die
mangelhaften Vorsorgen für die Verteidigung Tirols erkennen,
und er hielt es für seine Pflicht, Mittel zur Behebung dieser
Mängel vorzuschlagen.
Tirol mußte schon im Jahre 1866 vorübergehend sich selbst
überlassen werden, eine Lage, die sich wiederholen konnte.
Italien besaß in seinen nahe der Grenze dislozierten Alpini-
formationen eine ausgezeichnete Spezialtruppe für überraschende
Aktionen.
Conrad faßte seine Anträge dahin zusammen, daß die zur
Zeit in Tirol bestehenden Verhältnisse „nicht länger hinzuneh-
men sind, ohne sich einer schweren Verantwortung auszusetzen“.
Diese Lage erforderte die Schaffung einer eigenen Truppe für
95
„KAISERSCHÜTZEN“ CONRADS ANREGUNG
den Grenzdienst und einer Festungsinfanterie; die Finanzwache
müßte militarisiert, die Gendarmerie verstärkt und organisch in
den Grenzdienst eingefügt werden.
Der Effekt dieser Studien war, daß der Befestigung der Ti-
roler Westfront ein erhöhtes Augenmerk zugewendet und Con-
rad einer Sitzung im Kriegsministerium zugezogen wurde, in der
die Frage des Grenzschutzes Gegenstand der Verhandlungen* war.
Auf Grund dieser Besprechungen kam es in der Folge zu der
Aufstellung der „Kaiserschütze n“, die sich als eine Elite-
truppe der österreichisch-ungarischen Wehrmacht im Weltkrieg
auf allen Schlachtfeldern unvergänglichen Ruhm erworben haben.
Sie waren für den Dienst im Hochgebirge besonders ausgerüstet
und ausgebildet und waren in den von ihnen zu schützenden
Grenzabschnitten vom Stilfserjoch bis zur Kärntner Grenze dis-
loziert.
Diese Schöpfung Conrads bewährte sich in kürzester Zeit und
wurde auch auf die Kärntner Grenze ausgedehnt. Sein Antrag,
die Stände der in Tirol garnisonierenden Truppen zu erhöhen,
scheiterte an dem begrenzten Rekrutenkontingent und am Ko-
stenpunkt. Der beantragte Ausbau der Befestigung Südtirols
fand bei den maßgebenden Faktoren nicht das volle Verständ-
nis. Erst als Chef des Generalstabes war Conrad in der Lage,
seine Vorschläge wenigstens teilweise zu realisieren. Seiner Vor-
aussicht ist es zu danken, daß die italienischen Versuche im
Weltkriege, nach Tirol einzubrechen, restlos scheiterten. Die
Grenzbefestigungen haben sich nach Anlage und Bau wie durch
den Geist ihrer Verteidiger als ein unüberwindliches Bollwerk er-
wiesen.
Conrads Ansehen wuchs weit über seine Stellung als Divi-
sionär hinaus. Seine Führereigenschaften hatten die Aufmerk-
samkeit der Armee, aber auch des Auslandes erregt. Er stand
im Zenith seines Lebens, im Vollbesitz der geistigen und physi-
schen Kräfte, verehrt und geschätzt von allen, die er in den
Kriegswissenschaften herangebildet hatte, geliebt von seinen
mustergültig geschulten Truppen, anerkannt als militärischer
Fachmann und getragen von dem Vertrauen aller Vorgesetzten
bis zu seinem Allerhöchsten Kriegsherrn.
Der Kaiser hatte ihn für sein „langjähriges und ersprießliches
96
SCHWERER VERLUST
Wirken“ durch die Verleihung des Ritterkreuzes des Leopold-
ordens ausgezeichnet. Ein bitterer Wermutstropfen fiel in all die
stolze Genugtuung über sein bisheriges Wirken — am 29. April
1905 verschied nach schmerzvollem Leiden im Alter von 45 Jah-
ren seine Gattin, die Mutter seiner vier Söhne.
Die bald auf ihn einstürmenden Ereignisse ließen ihm nicht
die Zeit, sich dem Schmerz über den Verlust der treuen Lebens-
gefährtin hinzugeben. Ein Jahr nach ihrem Tode mußte er von
der Scholle scheiden, wo sie ruhte, er mußte Abschied nehmen
von seinen Kaiser Jägern, den Söhnen seiner geliebten Tiroler
Berge, denn eine höhere Berufung harrte seiner.
7
97
CHEF DES GENERALSTABES
Ernennung
Feldzeugmeister Freiherr von Beck, der das Amt des Chefs
des Generalstabes seit mehr als einem Vierteljahrhundert be-
kleidet hatte, fühlte sich seines hohen Alters wegen den Anfor-
derungen seiner Stellung nicht mehr gewachsen.
Unter den Anwärtern, die für diesen Posten in Betracht
kamen, befanden sich der damalige Stellvertreter des Chefs des
Generalstabes, Feldmarschalleutnant Potiorek, der Kriegsminister
und ehemalige Stellvertreter des Chefs des Generalstabes, Frei-
herr von Pietreich und die Feldmarschalleutnants Tersztiansky
und Conrad. Letzterer war als Oberst aus dem Generalstab ge-
schieden, hatte seither die Verbindung mit den Zentralstellen
verloren und fühlte vor allem nicht die geringste Berufung für
diese Stelle in sich.
Die Manöver des Jahres 1905 in Südtirol waren ein Erfolg
für Conrad gewesen. Besonders interessierte sich der Thronfol-
ger, Erzherzog Franz Ferdinand, für ihn. Der Ruf, den Con-
rad schon als Regimentskommandant in der Armee genoß,
hatte den Erzherzog zu einer überraschenden Inspizierung ver-
anlaßt. Wenige Tage vor dem Abmarsch des Regiments zu den
größeren Waffenübungen traf der Erzherzog in Troppau ein.
Nach der Meldung am Bahnhof verabschiedete er die zum Emp-
fang Erschienen und sprach den Wunsch aus, den Abend zwang-
los mit einigen Herren verbringen zu wollen.
Für den folgenden Tag sollte es bei den Anordnungen des
Regimentskommandos bleiben. Als der Erzherzog zum gemein-
samen Mahl im Hotel erschien, begrüßte er Conrad mit den
Worten: „Herr Oberst, es freut mich, Ihnen sagen zu können,
daß alles, was ich bisher von Ihrem Regimente gesehen habe,
mir gefallen hat, insbesondere die stramme Haltung und das
offene Auftreten der Leute.“
98
ORIENTIERENDE AUSSPRACHE
Conrad war nicht wenig erstaunt. Der Erzherzog hatte in der
Zwischenzeit seine Soldaten auf der Straße beobachtet und hatte
dann die Kaserne besichtigt, um sich ein Urteil über die innere
Ordnung im Regiment zu bilden. Auch bei der Übung am fol-
genden Tag fand der Erzherzog nur Worte des Lobes. Dieses
erste dienstliche Zusammentreffen mit Conrad hatte beim Thron-
folger einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen.
Im Jahre 1901, als Conrad die 55. Infanteriebrigade in Triest
befehligte, sah er ihn bei der Inspizierung der um Rakek üben-
den 28. Infanterietruppendivision wieder. Conrad kommandierte
die „schwächere“ Partei. Auch diese Prüfung fiel zu seinen
Gunsten aus. Der Erzherzog verabschiedete sich von ihm mit
besonders warmen, anerkennenden Worten.
Im Herbst desselben Jahres war Conrad als Schiedsrichter
bei den Kaisermanövern in Südwestungarn eingeteüt. Er war
in Baksa, etwa vier Kilometer vom Standorte des kaiserlichen
Hauptquartiers, untergebracht. Gegen Abend eines Manöver-
tages, als Conrad sich eben umkleiden wollte, meldete der Diener,
daß der Erzherzog-Thronfolger erschienen sei, um ihn zu einer
Spazierfahrt einzuladen. Schon betrat der Besucher auch das
Zimmer und bat Conrad, sich in aller Ruhe fertigzumachen.
Während der Wagenfahrt wurden aktuelle militärische und
politische Themen besprochen. Aus der Art der Fragestellung
glaubte Conrad entnehmen zu können, daß der Erzherzog seine
Einstellung zu diesen kennenlernen wolle. Es kam weiters die
Sprache auf organisatorische Angelegenheiten, auf Probleme der
Wehrmacht, der Truppenausbildung, des Generalstabes, der Offi-
zierserziehung. Bel der Besprechung der innenpolitischen Lage
betonte Conrad die dringliche Lösung der südslawischen Frage
zugunsten der Kroaten und entwickelte seine Ansicht über die
staatsrechtliche Stellung Ungarns in der Monarchie.
Der Erzherzog forschte immer weiter. Wenn sich Verschieden-
heiten in den Ansichten ergaben, hielt Conrad mit seinem Ur-
teil nicht zurück. In den wichtigsten innerpolitischen Fragen
herrschte volle Übereinstimmung, insbesondere in der Notwen-
digkeit, alle Kräfte des Reiches zur Bekämpfung der destruk-
tiven Tendenzen und nationalen Sonderbestrebungen zusammen-
zufassen. Während dieser zweistündigen Aussprache hatte der
7*
99
BERUFUNG INS BELVEDERE
Erzherzog einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt Conrads ge-
wonnen.
Es verging ein Jahr bis zur nächsten Begegnung. Als Conrad
1904 die Manöver seiner Division in Oberösterreich leitete, er-
schien der Erzherzog bei strömendem Regen, ganz durchnäßt,
im offenen Auto gegen Abend im Standorte des Divisionskom-
mandos und nahm in bester Stimmung das Abendbrot mit den
Offizieren ein. Am folgenden Tag fand bei schlechtem Wetter
eine Übung statt, die sehr instruktiv verlief. Conrad und seine
Truppen hörten wieder Worte der Anerkennung.
Entscheidend für den Entschluß des Thronfolgers, Conrad zum
Chef des Generalstabes vorzuschlagen, waren die Manöver im
Nonstal. Conrad hatte die Empfindung, von ihm als Soldat rich-
tig eingeschätzt zu werden. Ob sich der Erzherzog auch die
Mühe genommen hatte, seine militärwissenschaftlichen Arbeiten
zu lesen und aus ihnen auf seine Auffassung in strategischen
und taktischen Fragen zu schließen, wußte Conrad nicht. Auf
jeden Fall hatte er sich dem Erben des Thrones frei und offen
gegeben, wie er war: einfach, aber unwandelbar in seinen An-
sichten, vor allem unnachgiebig in der Forderung hoher physi-
scher Leistungen an die Truppen und Führer. Aber gerade in
dieser Hinsicht hatte der Thronfolger Bedenken, trotzdem Con-
rad sich bisher in allen Stellungen die Anhänglichkeit seiner
Untergebenen zu erwerben verstanden hatte.
Im Herbst 1906 erhielt Conrad eine Berufung ins Belvedere
nach Wien. Unmittelbar nach der Meldung erklärte ihm der
Erzherzog Franz Ferdinand, daß er ihn dem Kaiser als Nachfolger
des Chefs des Generalstabes vorgeschlagen habe und erwarte,
er werde nicht „nein“ sagen. Conrad war aufs höchste über-
rascht. „Die erzherzogliche Eröffnung traf mich wie ein Blitz
aus heiterem Himmel“, schreibt er darüber, „ja sie berührte
mich überaus unangenehm, nicht nur weil ich eine ausgesprochene
Aversion gegen die mir zugedachte Verwendung hatte, überdies
seit fünfzehn Jahren (eine zehnmonatige Unterbrechung abge-
rechnet) im Truppendienste stand, dem Generalstabe also ganz
entfremdet war, sondern auch deshalb, weil es mir schwerfiel,
mich von meinen Truppen und der dienstlichen Tätigkeit in
dem mir so liebgewordenen Tirol zu trennen.“
100
WER SOLL CHEF WERDEN?
Conrad bat den Erzherzog, von seiner Absicht abzusehen. Bei
der folgenden Aussprache empfahl er den General Potiorek als
Nachfolger des Feldzeugmeisters Beck, den der Erzherzog jedoch
ablehnte. Mit den Worten: „Also, im ersten Ansturm habe ich
die Festung nicht genommen“, schloß diese erste Bemühung des
Thronfolgers, Conrad zu gewinnen.
Aber schon wenige Wochen später, im November desselben
Jahres, erhielt er ein Schreiben des Flügeladjutanten, des Majors
Alexander Brosch von Aarenau.* Es setzte ihn in Kenntnis, daß
der Thronfolger ihn anläßlich eines Vortrages bei Sr. Majestät
als Nachfolger des Chefs des Generalstabes vorgeschlagen habe.
Major von Brosch fügte hinzu, daß ein weiteres Sträuben gegen
diese Berufung nicht nur zwecklos wäre, sondern geeignet schiene,
Se. kaiserliche Hoheit, die Conrad ein unbegrenztes Vertrauen
und größte Sympathie entgegenbringe, tief zu kränken.
Diesem Schreiben war eine charakteristische Szene vorange-
gangen. Major von Brosch, der eine Truppendienstleistung bei den
Kaiserjägern unter Conrad mitgemacht hatte, war ein begeisterter
Vorkämpfer für dessen Berufung zum Chef des Generalstabes.
Als sich der Thronfolger zu dieser Wahl nicht entschließen
konnte, bat ihn sein Flügeladjutant, den nächstbesten Offizier
auf der Straße zu fragen, wer Chef des Generalstabes werden
solle. Darauf bezog sich der folgende Satz des Flügeladjutanten:
„Daß Se. kaiserliche Hoheit orientiert ist, daß die ganze
Armee die Berufung Eurer Exzellenz wünscht, ist Eurer Ex-
zellenz bekannt; Se. kaiserliche Hoheit hat aber auch vom Erz-
herzog Friedrich, insbesondere aber vom Erzherzog Eugen Be-
richt erhalten, daß ihrer Ansicht nach Eure Exzellenz die geeig-
netste Persönlichkeit für den Posten des Chefs des General-
stabes seien.“
Diesmal gab es keinen Ausweg. Der Erzherzog appellierte an
Conrads militärisches Pflichtgefühl, das vom Offizier forderte,
jeden aufgetragenen Dienst zu übernehmen Er verließ das Bel-
vedere in „nachdenklicher, eigentlich gedrückter Stimmung“, mit
dem Empfinden, daß ihn ein für seine Existenz „entscheidender
* Brosch fand als Oberst und Kommandant des 2. Regiments der
Tiroler Kaiserjäger auf dem russischen Kriegsschauplätze 1914 den
Heldentod.
101
JUBEL IN DER ARMEE
Schicksalsschlag getroffen“ und ihn aus dem Wirkungskreis ge-
drängt habe, der ihm als Abschluß seiner Laufbahn vorschwebte.
Am folgenden Tag wurde Conrad vom Kaiser in Audienz emp-
fangen; Se. Majestät ernannte ihn mit kurzen, bestimmten Wor-
ten zum Chef des Generalstabes. Mit einem Handschreiben vom
18. November 1906 wurde die Ernennung veröffentlicht.
Über den Verlauf dieser Audienz schreibt Conrad, er habe
auch dem Kaiser gegenüber Bedenken hinsichtlich seiner Wahl
geltend gemacht und ihn gebeten, wenn er schon diese Stelle
annehmen müsse, eine Bitte vortragen zu dürfen. Auf die Auf-
forderung des Kaisers sagte Conrad: „Ich bitte Eure Majestät,
stets unumwunden meine Ansichten und Meinungen sowie offen
die Wahrheit sagen zu dürfen“, worauf der Kaiser erwiderte:
„Ich gestatte Ihnen dies nicht nur, sondern ich mache es Ihnen
zur Pflicht.“ Conrad hat von dieser kaiserlichen Zusage in der
Folge vielfach Gebrauch gemacht. „Kaiser Franz Joseph hat den
Standpunkt absoluter Offenheit und Wahrheit, wenn auch oft
unter sichtlichem Ärger, der manchmal zu erregten Szenen führte,
stets akzeptiert; vornehm, wie er war, hielt er aber an dem
gegebenen Versprechen fest.“
Getragen von dem Vertrauen seines Allerhöchsten Kriegs-
herrn, des Erben des Thrones und der Armee, stand Conrad
nunmehr an der Spitze des Generalstabes. Ein Jubel ging durch
das Heer. Jeder Offizier kannte ihn, sein Ruf war in die ent-
ferntesten Garnisonen des weiten Reiches gedrungen. Er galt
als der beste Kenner des Infanteriekampfes und moderner,
kriegsmäßiger Ausbildung. Frisches, schneller pulsierendes Blut
sollte in die höhere Führung dringen, der alte Exerzierplatz-
drill durch eine Ausbildung ersetzt werden, die ausschließlich
den Bedürfnissen des Krieges Rechnung trug.
Schwer sahen die Kaiserjäger ihren Divisionär scheiden, schwer
verließ auch er seine Jäger und die Tiroler Berge und zog in
die Hauptstadt des Reiches, dessen Schutz ihm nun an vertraut
war. Aus dem Truppenkommandanten Conrad war der für die
Führung im Kriege verantwortliche Chef des Generalstabes ge-
worden. Conrad war ein ebenso glühender Patriot wie ein treuer
Diener des Erzhauses: ihnen beiden galt fortan in verstärktem
Maße sein Wollen und Wirken.
102
EMPFANG IN BERLIN
Wie weit Conrads Ruf auch in die Bevölkerung gedrungen war,
bewies der rege Anteil der Presse an diesem Wechsel in der
Leitung des Generalstabes. Alle Urteile gipfelten in der Auf-
fassung, daß Kaiser Franz Josef den richtigen Mann an diese
wichtige Stelle berufen hatte. Mit besonderer Genugtuung wurde
diese Berufung auch im verbündeten Deutschen Reiche auf ge-
nommen. Conrad war auch dort durch seine militärwissenschaft-
lichen Arbeiten bekannt; namentlich seine Richtlinien für die
Ausbildung der Infanterie hatten in deutschen Offizierskreisen
weite Verbreitung gefunden. Der Ruf als „Feind der Paraden“
war Conrad vorausgeeilt, als er in Berlin seinen Antrittsbesuch
als Chef des Generalstabes abstattete. Kaiser Wilhelm II. trug
dieser Einstellung in sehr feinfühlender Weise Rechnung. Dem
Generalstabschef der verbündeten Macht sollte außer den nicht
zu umgehenden Paraden als besonderer Programmpunkt eine
Gefechtsübung mit Gegenseitigkeit vorgeführt werden.
Während die 2. Gardeinfanteriebrigade in die Ausgangssituation
marschierte, wurden bei der auf dem Döberitzer Exerzierfelde
versammelten 1. Gardeinfanteriebrigade von den Truppenkom-
mandanten kleine Führungsaufgaben gestellt, wie sie Conrad
in seinem Behelf für die Ausbildung der Infanterie empfohlen
hatte.
Als der Zeitpunkt für den Beginn der Übung gekommen war,
erbat sich der Kaiser das Kommando der 1. Brigade. Er verlas
die Annahme, erteilte die Disposition und führte das Brigade-
kommando bis zum Schluß der Übung. Nach der Kritik des
Übungsleiters, des Kommandeurs der 1. Gardeinfanteriedivision,
wendete sich der Kaiser an Conrad, den er als ersten Fachmann
* auf dem Gebiete der Taktik ansprach, mit der Bitte, auch sein
Urteil über den Verlauf der Übung abzugeben. Conrad hat mit
dem ungeteilten Lobe nicht zurückgehalten, seinen Referenten
gegenüber aber stets auf das vorzügliche, ausgesuchte Soldaten-
material der Garderegimenter hingewiesen, von dem man beides
— Gefechtsausbildung und Paraden — verlangen konnte, ohne
die erstere zu beeinträchtigen.
Als Chef des Evidenzbüros, dessen Aufgabe auch in der Be-
urteilung der fremden Wehrmächte bestand, mußte ich den
Generalstabschef wiederholt darauf aufmerksam machen, daß in
103
PARADEN AM TEMPELHOF UND IN POTSDAM
allen Armeen gewisse, durch Überlieferung übernommene Ein-
führungen bestanden, die nach „Parade“ aussehen mochten, ohne
der kriegsmäßigen Ausbildung Abbruch zu tun. Dieser Eindruck
drängte sich mir besonders bei den Paraden des Gardekorps auf
dem Tempelhofer Felde und in Potsdam auf, denen ich wieder-
holt beiwohnte.
Zur Zeit meines ersten Besuches in Berlin hatten die Garderegi-
menter eben einen aus der friderizianischen Epoche stammenden
Präsentiergriff für den Vorbeimarsch übernommen. Es bedurfte
sehr vieler Übung, um mit dieser Gewehrhaltung die schnur-
gerade Frontlinie einzuhalten, womit jede Kompanie ausnahms-
los an ihrem Kaiser vorbeikam. Kein einziger Mann kam zu spät,
wenn sich der Wald von 1200 Bajonetten während des Marsches
knapp vor dem kaiserlichen Herrn aus dem „Gewehr über“ zu
dem Paradegriff an der linken Hüfte senkte. Als Gast in der
Messe des Kaiser-FranzrGardegrenadierregimentes konnte ich von
den Offizieren hören, welche Zeit und Mühe die Einübung dieses
Griffes erforderte. Wenn ich bei der Rückkehr von Berlin mit
meiner Bewunderung für dieses einzigartige militärische Schau-
spiel nicht zurückhalten konnte, fertigte mich Conrad regelmäßig
mit den Worten ab: „Hör mir auf mit den Paraden, dazu haben
wir keine Zeit. Wir müssen jede Minute unserer kurzen Präsenz-
dienstzeit für die kriegsmäßige Ausbildung ausnützen.“
Conrad kannte den in allen Kriegen bewährten Ruf der deut-
schen Garderegimenter von seinen Wanderungen über die
Schlachtfelder, er anerkannte auch ihre gegenwärtige hoch-
stehende kriegsmäßige Ausbildung, dem Parademarsch konnte
er aber nichts abgewinnen. Auch der Einwand, daß man als Zu-
schauer bei den deutschen Paraden Zeuge der Bewunderung des
aus allen Weltteilen zusammengeströmten Publikums sein könne,
vermochte Conrad nicht für militärische Schaustellungen zu ge-
winnen. Dem Argument, daß das bei den Paraden sich bildende
Auslandsurteil über die Armee zu einem politischen Faktor wird,
stellte Conrad seine Auffassung entgegen: „Sie sollen die deutsche
Disziplin im Gefecht bewundern, die hat viel mehr Wert!“
In der Denkschrift anläßlich der Enthüllung eines Ehrenmales
der im Weltkrieg gefallenen österreichisch-ungarischen General-
stabsoffiziere ist die Bedeutung Conrads als Nachfolger Becks
104
KAISER FRANZ JOSEPH
gewürdigt. „Unter Becks Leitung wurde der Generalstab ein ein-
heitlich geschultes und generalstabstechnisch ausgezeichnet be-
währtes Organ der höheren Führung. Für Conrads Größe ist
es kennzeichnend, daß er an den bewährten Grundlagen der Aus-
bildung festhielt und diese nur nach den gesteigerten Anforderun-
gen erweiterte und vertiefte. Nicht nur auf sachlichem, sondern
auch auf persönlichem Gebiete lag Conrads Bedeutung. Vier
Jahrzehnte hatte Beck, von 1866 her, die schwersten Verantwor-
tungen getragen. Selbst seine außergewöhnliche Spannkraft
mußte endlich unter der Last des Alters erlahmen. Die Gefahr
der Erstarrung lag nahe; sie drohte auch dem Generalstabe. Da
kam Conrad und erweckte durch den hinreißenden Schwung
seines Wesens neues Vertrauen, neues Leben. Das war eine
Leistung, dadurch begründete er seine Stellung in der Geschichte
des Generalstabes.
Beck hat das Werkzeug geschaffen, Conrad ihm die stählerne
Härte und den scharfen Schliff gegeben: vor der letzten und
schwersten Erprobung.“
Das Wirken Conrads als Chef des Generalstabes stand aus-
schließlich im Dienste des Ausbaues der Wehrmacht. Hieraus
ergab sich eine enge Zusammenarbeit mit dem Kaiser und König
Franz Joseph, der allen Fragen der bewaffnetem Macht des
Reiches ein besonderes Interesse entgegenbrachte.
Die steigende Sorge um das Schicksal des Staates hatte den
Monarchen veranlaßt, eine jüngere Kraft an die Spitze des
Generalstabes zu berufen. Die nach nationalem Zusammenschluß
drängenden Nachbarn Österreich-Ungarns sahen in dem unter
einem Zepter vereinigten Völkergemisch ein Hindernis für die
Verwirklichung ihrer Programme. Es war naheliegend, daß die
Donaumonarchie in nicht allzu ferner Zeit ihre Existenzberech-
tigung werde erweisen müssen.
Der Kaiser stand in seinem 76. Lebensjahre, in einem Alter,
da das Beharren auf dem Bestehenden mit dem stets vorwärts
drängenden jungen Chef des Generalstabes zu Gegensätzen
führen mußte. Um so höher ist es dem Kaiser anzurechnen, daß
er sich bestrebte, den Ideen Conrads zu folgen, seinen Tatendrang
nicht zu unterbinden. Nur die streng verfassungsmäßige Einstel-
105
VOM ZEHNTEN LEBENSJAHR DES KAISERS ROCK
lung des Monarchen zu den Ressortministern bewog ihn, dem
Chef des Generalstabes manches zu versagen, was dieser im
Interesse der Wehrmacht forderte. Conrad hat seinem Aller-
höchsten Kriegsherrn eine Verehrung entgegengebracht, die schon
seit der Kindheit in seinem Herzen verwurzelt war. Dazu gesellte
sich im Laufe der schweren Krisenjahre die steigende Bewun-
derung für des Kaisers hohe Auffassung seiner Pflichten. Auch
Zeiten der Ungnade konnten daran nichts ändern. Dies zeigt zum
Beispiel, wie Conrad die Enthebung von seinem Posten anläßlich
der Audienz vom 30. November 1911 aufgenommen hat. „Die
durchaus vornehme, offene, würdige und eines Zuges wirklich
empfundener Herzlichkeit nicht entbehrende Art, in der mich
Kaiser Franz Joseph des Dienstes als Chef des Generalstabes
enthoben hatte, erweckte in mir ein wohltuendes, ausgleichendes
Gefühl, das mich in meinem Innern meinem verehrten kaiser-
lichen Herrn noch näherbrachte.“
In einem Brief an den Vorstand der Militärkanzlei des Kaisers
schreibt Conrad: „Daß ich in Anbetracht der mich stets be-
glückenden Huld und Gnade Sr. Majestät und bei dem schwär-
merischen Hängen an dem Rock, den ich seit meinem zehnten
Lebensjahr trage, ausharren will, wenn es zum Nutzen und From-
men der Sache ist, brauche ich wohl nicht zu beteuern.“
Die Person des Monarchen hatte sich schon in Conrads Kinder-
seele zu einer strahlenden Idealgestalt geformt; er galt als das
Vorbild unerschütterlich treuer Pflichterfüllung; er war der erste
Soldat, der erste Beamte seines Staates.
Niemand konnte sich dem Eindruck entziehen, den Kaiser
Franz Joseph auf alle Menschen ausübte, die mit ihm in Be-
ziehung traten. In seiner Gegenwart wurden auch Vertreter der
schärfsten Opposition zu zahmen Lämmern; vor seinen klaren,
freundlich blickenden Augen brach jeder Widerstand zusammen.
Als Führer der Militärattaches bei den großen Manövern war
ich Zeuge des Eindruckes, den der Kaiser auch auf diese welt-
gewandten Offiziere ausübte. Wenn der Augenblick nahte, da er
sie ansprechen sollte, überkam sie eine Unruhe, die erst durch
die Liebenswürdigkeit des Monarchen schwand. Nach der Vor-
stellung gab es nur ein Gesprächsthema: die überwältigende
Persönlichkeit des Kaisers,
106
GENERALE KÜSSEN DES KAISERS HAND
Aber auch Männer in hoher Stellung unterlagen dieser Macht
der Persönlichkeit. Als die Kaiserin von Mörderhand gefallen
war und alle Großen des Reiches das Bedürfnis empfanden, dem
Monarchen ihre Teilnahme auszusprechen, erschienen auch die
Armeeinspektoren in Audienz. Fürst Windischgrätz, ein adels-
stolzer Grandseigneur, dem man alles andere als servile Ergeben-
heit nachsagen konnte; dann der General der Infanterie Freiherr
von Waldstätten, ein Mann von unbeugsamem Charakter, der
niemals seiner Überzeugung ein Opfer gebracht hatte. Beide
waren gekommen, um ihrem Allerhöchsten Kriegsherrn zu sagen,
wie sehr die Armee Anteil nahm an dem neuen, schweren Schlag
des unerbittlichen Geschickes.
Zuerst wurde Fürst Windischgrätz in Audienz empfangen, ihm
folgte Baron Waldstätten. Als dieser in tiefer seelischer Er-
regung aus dem Saale trat, sagte er mit tränenerfüllten Augen:
„Weißt du, was mir jetzt widerfahren ist? Als ich vor meinem
Kaiser stand und in seinem Antlitz den würdevollen Kummer
um seine Lebensgefährtin las, da überkam mich das Mitgefühl
mit diesem schwergeprüften Greis, ich beugte mich über die
Hand meines Kaisers und küßte sie.“ Der Fürst erwiderte:
„Tröste dich, ist mir genau so gegangen.“
Man könnte sagen, es seien Offiziere gewesen, alte Militärs,
aufgewachsen in einem besonderen Kult für ihren Allerhöchsten
Kriegsherrn. Aber auch Fremde in höchsten Stellungen unter-
lagen der eigenartigen Würde, die von Franz Joseph ausging.
Während der Millenniumsfeierlichkeiten in Ungarn, im Sommer
1896, war ich durch längere Zeit einem hohen italienischen
General zugeteilt. Ich war sein offizieller Begleiter bei der Au-
dienz wie bei der darauffolgenden Hoftafel.
In sichtlicher Aufregung betrat Generalleutnant Mocenni, der
als gewesener Kriegsminister an den Verkehr mit einem Mon-
archen gewöhnt war, den Audienzsaal. Strahlend verließ er ihn,
begeistert von der Liebenswürdigkeit des Kaisers wie von dessen
Orientiertheit über die außenpolitische Lage.
Kaiser Franz Joseph war Soldat durch und durch. Das bewies
sein Auftreten, seine Vorliebe für die militärische Kleidung und
sein reges Interesse für alles, was die Armee betraf. Als 18jäh-
riger Jüngling hatte er seine Feuertaufe erhalten. (Mit Stolz trug
107
KAISERRAPPORTE
er immer die bei Santa Lucia erworbene Kriegsmedaille, die im
Jahre 1873 für alle Teilnehmer an einem Krieg der Monarchie
geschaffen worden war.)
Er liebte seine Armee mehr als irgendeine andere Institution
im Staate, nicht zuletzt, weil er die Wehrmacht frei wußte von
dem zersetzenden Getriebe der Nationalitäten und weil er in ihr
mit Recht die verläßlichste Stütze seines Reiches sah.
Selbst streng diszipliniert, forderte er auch von der Wehrmacht
die peinlichste Befolgung aller Vorschriften, nicht allein der
taktischen Reglements, sondern auch aller administrativen Ver-
fügungen.
Wie in allem, war der Kaiser auch genau in der Wahrung der
ihm laut Verfassung zustehenden Rechte und Pflichten. Daß
er seine persönliche Meinung den Ansichten der berufenen Rat-
geber willig unterwarf, hat Kaiser Franz Joseph während seiner
langen Regierung wiederholt bei entscheidenden Fragen des
Reiches bewiesen. Ein Rückblick auf die geschichtlichen Ereig-
nisse zeigt, daß es manchmal besser gewesen wäre, wenn der
Kaiser, gestützt auf seine reiche Erfahrung und die gründliche
Kenntnis der inneren Struktur der Doppelmonarchie, seinen
Willen auch gegen die berufenen Ratgeber durchgesetzt hätte.
Es waren meist unangenehme Dinge, über die Conrad dem
Allerhöchsten Kriegsherrn zu referieren hatte. Der Rückständig-
keiten innerhalb der Wehrmacht gab es nur allzu viele, und die
außenpolitische Lage des Reiches erforderte eine hohe Kriegs-
bereitschaft der Armee, was bei den Kabinettchefs und den
Finanzministerien nicht immer volles Verständnis fand. Im be-
sonderen zwang die grundsätzlich verschiedene Auffassung der
außenpolitischen Lage durch den Minister des Äußeren und den
Chef des Generalstabes den Kaiser wiederholt, vermittelnd ein-
zugreifen.
Gespannt sahen Conrads Referenten seiner Rückkehr von einem
der sich immer häufiger wiederholenden Kaiserrapporte entgegen.
Während die ihn stets beengende Halsbinde in die eine Ecke,
das Band des Ordens der Eisernen Krone I. Klasse in die andere
flog, hörten wir aus dem Munde Conrads häufig die Worte: „Der
Gescheiteste von uns allen ist doch der Kaiser, niemand kennt
sein Reich so gut wie er!“ Des Monarchen Festhalten an dem
108
VORSICHTIGE AUSSENPOLITIK
Bestehenden, seine Abneigung gegen Experimente in der inneren
wie in der äußeren Politik waren nicht Begleiterscheinungen des
hohen Alters, sondern das Ergebnis der reiflichen Überlegung,
daß die Monarchie für eine aktive Betätigung in der Weltpolitik
nicht mehr das nötige feste innere Gefüge besitze.
Daraus erklärt sich auch die Haltung des Kaisers gegenüber
dem Krieg. Er ahnte das Ende dieses Kampfes, doch glaubte
er, es nicht verantworten zu können, sich ihm mit seiner vollen
Autorität widersetzen zu dürfen. Bereitwillig ist der Kaiser im
Jahre 1903 darangeschritten, im Einvernehmen mit dem Zaren
Nikolaus das Los der Christen in Mazedonien zu lindern. Dies
entsprach seiner Auffassung vom Berufe der Herrscher. Leider
löste sich in der Folge die im Mürzsteger Programm zum Aus-
druck gekommene Entente mit dem Zarenreich; von da an sah
Kaiser Franz Joseph mit steigender Besorgnis die sich immer
enger schließende Einkreisung der Mittelmächte zur Tatsache
werden. Gegen die in Europa sich bildende neue Mächtegrup-
pierung schien ihm der Bund mit Deutschland allein nicht ge-
wachsen. Deshalb wollte er jede politische Verwicklung ver-
mieden sehen. Aus dieser Auffassung von der Widerstandskraft
des Habsburgerreiches ergaben sich dauernd Differenzen zwi-
schen Conrad einerseits, dem Minister des Äußeren und dem
Kaiser andererseits. Die vorsichtige Führung der äußeren Po-
litik durch den Grafen Aehrenthal entsprach der Einstellung des
Monarchen. Er kannte anderseits Conrads Ergebenheit und wußte
die Wehrmacht bei ihm in besten Händen. Bei sich ergebenden
Differenzen baute der Kaiser auf die ausgleichende Macht seiner
Persönlichkeit.
Conrads Pflichtgefühl sträubte sich gegen jedes Kompromiß
nur um des lieben Friedens willen. Er sah klarer als die anderen
Staatsmänner die dem Reiche drohende Gefahr und drang immer
energischer auf die Behebung der vielen Rückständigkeiten, die
der Wehrmacht aus der Zeit des langen Friedens anhafteten.
In dem Streben, den Allerhöchsten Kriegsherrn für seine Auf-
fassung zu gewinnen, übte er nicht jene Schonung, die andere
Berater dem Monarchen mit Rücksicht auf sein hohes Alter und
seine geschwächte Gesundheit schuldig zu sein glaubten. So kam
es nicht selten zu unliebsamen Auftritten, die Conrad gewiß tief
109
CONRADS DENKSCHRIFTEN
bedauerte, die aber durch serviles Nachgeben zu verhindern sei-
nem Pflichtgefühl widersprach. Psychologisch ist es erklärlich,
daß die auf dem Schreibtisch des Monarchen sich türmenden
Denkschriften Conrads den Kaiser in Harnisch brächten. Niemals
aber steigerte sich eine vorübergehende Gereiztheit zu dauernder
Ungnade. Der Kaiser wußte, daß Pflichttreue die Triebfeder
für alle Handlungen Conrads war.
Conrad beschreibt eine charakteristische Szene in seinen
Memoiren. Er hatte wieder einmal eine Denkschrift vorgelegt,
in der auf Mängel innerhalb der Wehrmacht hingewiesen wurde.
Plötzlich schlug der Kaiser mit der Faust auf den Schreibtisch
und rief: „Ich ärgere mich immer, wenn ich Ihre Denkschriften
lese!“ Dann blickte der Monarch starr vor sich hin, eine wort-
lose Pause verstrich ... „Die Adern waren dem stark geröteten
Kaiser angeschwollen, und ich saß schweigend zur Seite des
Tisches in großer Sorge, daß den hochbetagten Herrscher ein
Unfall treffen könne. Etwa zehn Minuten verstrichen, die mir
endlos vorkamen. Der Kaiser ließ sodann das Referat fortsetzen.
Ich wurde mit den kurzen Worten ,Ich danke!4 entlassen. Bei
dem nächsten Referat jedoch empfing mich der Kaiser, indem er
mir freundlich entgegenkam, als wäre nichts vorgefallen.“
Die tief wurzelnden Gegensätze zwischen den wichtigsten Be-
ratern des Kaisers in den Fragen der äußeren Politik waren für
die Dauer nicht auszugleichen. Auf den Posten des Ministers
des Äußeren, des gemeinsamen Kriegsministers und des Chefs
des Generalstabes standen scharf ausgeprägte Naturen. Ein
Zusammenarbeiten wäre nur durch eine entsprechende Wahl
gleichgestimmter Ratgeber der Krone zu erreichen gewesen. Sehr
viel trug zur Verschärfung der Mißverständnisse die Stellung
des Generalstabschefs bei, dessen Wirkungskreis im Frieden als
Hilfsorgan des Kriegsministeriums wesentlich beengt war, wäh-
rend mit Ausbruch des Krieges die Fehler und Versäumnisse der
äußeren Politik und die Rückständigkeiten der Wehrmacht den
Chef des Generalstabes belasteten, der die Verantwortung vor
seinem Volk und der Geschichte zu tragen hatte. Auch das
größte Talent mußte an diesem Zwiespalt scheitern. Conrad
wies oft in bitterer Klage auf die Einigkeit des Dreigestirns
110
FRANZ JOSEPH UND DIE KRIEGSSCHULD
Bismarck-Moltke-Roon hin, die zu den größten Erfolgen im
Kriege geführt hatte.
Die in Gehässigkeit ausgearteten Gegensätze zwischen dem
Chef des Generalstabes und dem Minister des Äußeren führten
1912 zur vorübergehenden Enthebung Conrads von seinem Posten.
Lange aber konnte der Kaiser seinen bewährten militärischen
Berater nicht entbehren. Als er vor der Entscheidung stand, wie
der Thronfolgermord seine Sühne finden sollte, stand Conrad
wieder an der Seite seines kaiserlichen Herrn.
Die Siegerstaaten haben die Mittelmächte mit dem Vorwurf
belastet, den Krieg gewollt zu haben. Dieses Schulddiktat schließt
auch Kaiser Franz Joseph mit ein. Nie ist eine historische Un-
wahrheit so ungerechtfertigt ausgenützt worden, um eine mora-
lische Berechtigung für die dauernde Knebelung der im Krieg
Unterlegenen zu schaffen.
Nur zögernd war Conrad der Berufung zum Chef des General-
stabes gefolgt. Nun aber, da die Würfel gefallen waren, schritt
er mit Tatkraft an die Erfüllung der ihm großenteils noch frem-
den Pflichten. Zunächst galt es, einen überblick über die viel-
seitigen Agenden seines Ressorts zu gewinnen. Er mußte erst
wieder die inneren Zusammenhänge im Generalstabsdienst ken-
nenlernen. die sich im Verlauf der viel jährigen Amtsführung
seines Vorgängers ergeben hatten. Conrad übernahm dessen be-
währte Referenten, wodurch die Kontinuität des Dienstes inner-
halb des Generalstabes gewährleistet war. Daß sich Conrads
initiativer Geist mit dem Überkommenen nicht für die Dauer
begnügen werde, war vorauszusehen. In der Tat setzte bald
nach der ersten Orientierung eine außerordentlich rege Tätigkeit
in allen Ressorts ein.
Conrads Referenten durften sich mit Recht seine Mitarbei-
ter nennen. Im amtlichen Verkehr herrschte völlige geistige
Gleichstellung — eine von Conrad als unerläßlich angesehene
Bedingung für verantwortungsvolle Zusammenarbeit. Die Ent-
scheidungen, die in den Wirkungsbereich des Chefs des Gene-
ralstabes fielen, waren viel zu wichtig, um von einem einzigen
Willen diktiert zu werden. Weniger bedeutungsvolle Angelegen-
heiten überließ Conrad seinem Stellvertreter, er selbst behielt
111
CONRADS PROGRAMM
sich die wichtigsten vor und forderte von seinen Referenten
rückhaltlose Vertretung der eigenen Ansichten. Die ihm vor-
schwebenden Ziele hat Conrad bald nach Übernahme seines
Amtes in die Worte gefaßt: „Vor allem schwebt mir die Durch-
setzung einer auf den praktischen Kriegszweck eingestellten Aus-
bildung der Truppen, bei gleichzeitiger Erziehung zu starken
Leistungen, zum Ertragen von Strapazen und zu männlich-sol-
datischem Geiste vor; als nächstes: eine auf das gleiche Ziel ge-
richtete theoretische Weiterbildung der Führer und des Gene-
ralstabes.“
Dies war das Programm, mit dem Conrad an seine neue Auf-
gabe schritt.
Die Stellung des Chefs des G e n e r a 1 s t a b e s
Nach dem Wortlaut der organischen Bestimmungen für den
Generalstab war der Chef des Generalstabes im Frieden ein
„Hilfsorgan des Kriegsministeriums“. Die Verfassung der Mon-
archie bedingte in Wehrangelegenheiten die Zusammenarbeit
von drei Ministerien: des gemeinsamen Reichskriegsministeriums
und der beiderseitigen Landesverteidigungsministerien, was große
Erschwerungen zur Folge hatte. Die Abhängigkeit des Chefs des
Generalstabes vom Kriegsministerium bildete einen dauernden
Hemmschuh für den von Conrad angestrebten Ausbau der Wehr-
macht. Ein Beispiel aus meiner Dienstpraxis soll die Schwierig-
keiten beleuchten, die selbst bei geringfügigen Forderungen zu
überwinden waren.
Der Geschäftsumfang des Evidenzbüros hatte unter der im-
mer näher rückenden Kriegsgefahr seit der Annexionskrise be-
deutend zugenommen. Um den Forderungen des außerordent-
lich rührigen Chefs des Generalstabes gerecht zu werden, mußte
der Dienstbetrieb wesentlich erweitert werden. Das Verfolgen
des Ausbaues der fremden Wehrmächte, die mit steigender Ein-
kreisung als Feinde der Mittelmächte in Betracht kamen, ver-
ursachte eine wesentlich erhöhte Mehrarbeit. Hiezu trat die
Abwehr der immer intensiver einsetzenden feindlichen Aus-
spähung und nationalen Propaganda.
112
Tafel VI
CONRAD MIT SEINEM; F L Ü G E L A D J ü T A N T E N
OBERSTLEUTNANT KUNDMANN
BESCHRÄNKTE BEFUGNIS IM FRIEDEN
Der gewaltige Ausbau der feindlichen Grenzbefestigungen er-
forderte eine Erweiterung der Befestigungsgruppe des Evidenz-
büros, und die dringend gewordene Schaffung einer Chiffern-
gruppe war ohne Vermehrung des Personals nicht durchzufüh-
ren. Die Bemühungen des Chefs des Generalstabes, diese durch-
zusetzen, scheiterten daran, daß sich der Kriegsminister als Ge-
genleistung für die Gewährung von Krediten für die Neubewaff-
nung der Feldartillerie verpflichtet hatte, in den folgenden fünf
Jahren keine budgetären Mehrforderungen zu stellen. In dieser
aussichtslosen Lage faßte ich den Entschluß, mit Umgehung
des Dienstweges unmittelbar an die beiden Landesverteidigungs-
minister mit der Bitte um Abhilfe heranzutreten. Es gelang mir
zunächst, den Honvedminister zu überzeugen, daß das Evidenz-
büro im Interesse der gesamten Wehrmacht, einschließlich der
beiden Landwehren, arbeite. Mit dankenswertem Entgegenkom-
men gestand mir Exzellenz von Hazay die Kommandierung von
Honvedoffizieren, zum Teil mit Generalstabsvorbildung, zu. Auch
der österreichische Minister für Landesverteidigung, Freiherr
von Georgi, anerkannte die Berechtigung dieser Bitte. So war
die Personalfrage mit einem Schlag — allerdings auf einem
vollkommen ungesetzlichen Weg — gelöst. Die von den beiden
Landwehren in das Evidenzbüro kommandierten Offiziere bilde-
ten bald eine wertvolle Unterstützung ihrer überlasteten Kame-
raden. Einige von ihnen nehmen heute noch wichtige Posten
in den Nachfolgestaaten ein.
Dieses Beispiel beweist, wie beschränkt die Macht des Chefs
des Generalstabes selbst bei geringen administrativen Angele-
genheiten war und in welcher Abhängigkeit vom Kriegsmini-
sterium er stand. Dieser Gegensatz zur Verantwortung, die auf
ihm im Kriege lastete, drängte nach Abhilfe. Conrads Bestreben
war es deshalb, seine Stellung im Frieden so auszugestalten, daß
er, ungehemmt von administrativen und verfassungsmäßigen
Rücksichten, im Kriegsfall die Sicherheit der Monarchie gewähr-
leisten konnte.
Als besonders hinderlich empfand Conrad die Unmöglichkeit,
die Bedürfnisse der Wehrmacht vor den Parlamenten ver-
treten und im direkten Verkehr mit den Volksvertretern ihr
Interesse für die Bedürfnisse der Landesverteidigung wecken
8
113
KEIN ZUTRITT IN DIE PARLAMENTE
zu können. Die Forderungen der „gemeinsamen“ Armee wur-
den von dem „gemeinsamen“ Kriegsminister in den Delegatio-
nen — einem alljährlich einmal zusammentretenden Ausschuß
der Parlamente Österreichs und Ungarns — verhandelt. Der Chef
des Generalstabes hatte hiezu keinen Zutritt. Auch war es ihm
versagt, in den Parlamenten der beiden Reichshälften das Wort
zu ergreifen. Jede von ihm für notwendig erkannte Maßnahme
mußte dem gemeinsamen Kriegsministerium gegenüber begrün-
det werden und es hing von dem Ermessen des Kriegsministers
ab, ob und mit welchem Nachdruck er diese Forderung vertrat.
Nicht selten geschah es, daß sich der Reichskriegsminister nur
einen Bruchteil der Wünsche des Chefs des Generalstabs zu
eigen machte oder sie in der Sorge vor Widerständen gänzlich
zurückstellte.
Dieser Zustand mußte zu Konflikten führen. Zu ihrem Aus-
gleich wurde die Intervention des Erzherzog-Thronfolgers oder
die des Allerhöchsten Kriegsherrn erbeten, was die Gegensätze
noch mehr verschärfte, ohne das Übel an der Wurzel zu fassen.
Die Unterstellung des Chefs des Generalstabes als Organ des
Kriegsministeriums bestand seit alters her. Conrads Vorgänger,
der durch Jahrzehnte das besondere Vertrauen seines Kaisers be-
sessen hatte und sich durch seine frühere Stellung als Vorstand
der Militärkanzlei auf ein großes Prestige bei den rang jüngeren
Ministern stützte, vermochte in allen die Wehrmacht betreffen-
den Fragen seine Autorität einzusetzen, die dem jüngeren Con-
rad fehlte. Gerade diese aber war nötig, um die Rückständig-
keiten zu beheben. Freiherr von Beck hatte die Wirkungskreise
der beiden Stellen wie folgt abgegrenzt: „Der Generalstab be-
zeichnet, was im Kriege absolut erforderlich und was im Frie-
den wünschenswert ist. Der Kriegsminister bezeichnet die Gren-
zen des Gewährbaren, über welche nicht hinausgegangen werden
kann. Niemals aber wird der Feldherr oder der Generalstab
durch die Verantwortlichkeit des Kriegsministers entlastet sein.“
In diesem Schlußsatz lag das Problem, das nie eine befrie-
digende Lösung gefunden hat. Alle Versuche, durch geklügelte
Umschreibungen eine Abgrenzung der Wirkungskreise erreichen
zu wollen, scheiterten an dem Mißverhältnis der Stellung des
Chefs des Generalstabes im Frieden und im Kriege.
114
KAMPF UM ERHÖHTE SELBSTÄNDIGKEIT
Baron Beck hatte als Chef der Militärkanzlei des Kaisers und
Königs im Jahre 1874 eine Präzisierung der Pflichten und Rechte
des Chefs des Generalstabes versucht. Es war ihm gelungen, das
unmittelbare Vortragsrecht desselben beim Allerhöchsten Kriegs-
herrn durchzusetzen — allerdings gegen vorherige Verständi-
gung des Kriegsministers. Als Baron Beck dann selbst an die
Spitze des Generalstabes getreten war, hatte er die Unterstel-
lung des Chefs unter den unmittelbaren Befehl des Kaisers er-
wirkt.
Conrad erreichte beim Kaiser die Berechtigung zu mündlichen
Referaten anläßlich der „Kaiserrapporte“, auch gelang es ihm
nach vielen Kämpfen, die Zustimmung des Kaisers zum unmit-
telbaren amtlichen Verkehr mit dem Außenminister zu erlangen.
Dieser systematische Kampf um Erweiterung der Selbständig-
keit entsprang nicht dem Machtbedürfnis Conrads, sondern der
Erkenntnis, daß nur die schon im Frieden dem Chef des Gene-
ralstabes eingeräumte Selbständigkeit die Gewähr bot, die Wehr-
macht verläßlich für den Krieg vorzubereiten.
Der Kampf um den Ausbau der Wehrmacht
Der Chef des Generalstabes hatte alle Bedürfnisse der Armee
im Frieden wahrzunehmen, deren Befriedigung rechtzeitig an-
zuregen und so die Schlagfertigkeit der Wehrmacht im Kriege
zu sichern. Conrad bemühte sich, die Mängel und Rückständig-
keiten zu beheben — getreu dem Grundsatz, daß man im Krieg
nie stark genug sein könne. Je tieferen Einblick er gewann,
um so deutlicher mußte er erkennen, welcher gewaltigen An-
strengung es bedurfte, um angesichts der immer näher rücken-
den Kriegsgefahr den angestrebten Grad der Schlagfertigkeit zu
erreichen. Diese Erkenntnis führte zu dem zähen Kampf Con-
rads mit jenen Staatsmännern, die sich dieser Gefahr verschlos-
sen und seine Forderungen für übertrieben oder finanziell un-
tragbar erklärten.
Nach dem verlorenen Krieg suchte die öffentliche Meinung
die Schuld in der militärischen Führung. Kein Wort des Vor-
wurfs erhob sich gegen die wahrhaft Verantwortlichen, die der
8*
115
VERSÄUMNISSE DER VOLKSVERTRETUNGEN
Armee versagt hatten, was der Chef des Generalstabes vor dem
Kriege für sie gefordert hatte. Wer die Geschichte des Krieges
schreibt, darf die Vorwürfe nicht unterdrücken, die auf den
Volksvertretern der Vorkriegszeit lasten. Ihre Versäumnisse
sind die Ursache, daß die k. u. k. Armee nicht jene zahlen-
mäßige Stärke und jene Ausrüstung erreichte, die innerhalb der
eigenen Kraftquellen gelegen waren und die Conrad im Voll-
bewußtsein seiner Verantwortung angestrebt hat.
Als Conrad Chef des Generalstabes wurde, war die Frage, ob
im Zukunftskrieg noch immer „kleine Berufsheere“ oder schon
„Massenarmeen“ um die Entscheidung kämpfen würden, längst
im Sinne der letzteren entschieden. Es wäre daher ein schweres
Versäumnis gewesen, wenn er nicht eine höchstmögliche nume-
rische Stärke gefordert hätte. Das bestehende Wehrgesetz trug
der Erfassung der wehrfähigen Bevölkerung in keiner Weise
Rechnung. Infolge der dualistischen Reichsgestaltung gab es eine
„gemeinsame Armee“, eine „österreichische“ und eine „unga-
rische“ Landwehr (Honved), schließlich eine „bosnisch-herze-
gowinische Wehrmacht“. Für jeden dieser Teile war ein Frie-
densstand festgesetzt. Die Höhe des jährlichen Rekruten-
kontingents wurde auf zehn Jahre im voraus festgesetzt, die Be-
willigung der Rekrutenaushebung war aber alljährlich an die
Genehmigung der beiderseitigen Parlamente gebunden.
Wie unheilvoll sich diese komplizierte Art der Heeresergän-
zung auswirken mußte, wird verständlich, wenn man sich die
innerpolitischen Verhältnisse der Monarchie in Erinnerung ruft.
Im österreichischen Parlament mußte die für ein Gesetz nötige
Stimmenzahl erst fallweise mühsam, zumeist durch Kompromisse,
erkauft werden. Im ungarischen Parlament galt bei der meist
national eingestellten Mehrheit der Volksvertreter in militäri-
schen Fragen der Grundsatz: „Für die gemeinsame Armee
nichts, für die Honved alles !“ Auch die ernstesten Mah-
nungen Conrads, sich von den kleinlichen Bedenken der ein-
seitigen Reichshälfte zu dem Interesse des Gesamtreiches zu er-
heben, verhallten ungehört.
Durch das begrenzte Rekrutenkontingent, das nur einen Bruch-
teil der Bevölkerung dem Wehrdienste zuführte, ergab sich
pro Jahr ein Überschuß von rund 80.000 Tauglichen, die weder
116
RÜCKSTÄNDIGKEITEN AUF ALLEN LINIEN
im Heer noch in den Landwehren dienten, sondern als Ersatz-
reservisten eine nur flüchtige Ausbildung erhielten. Landsturm-
pflichtig waren die 19- und 20jährigen, dann die Männer vom
32. bis zum 42. Lebensjahre, die im Kriegsfall notgedrungen in
operative Feldformationen eingereiht werden mußten, um die
durch das mangelhafte Wehrgesetz bedingte Unzulänglichkeit des
Feldheeres halbwegs auszugleichen. Die Folge war eine große
Verschiedenheit des Ausbildungsgrades, ja selbst der Bewaff-
nung. Eine Zeitlang hatte zum Beispiel der österreichische Land-
sturm ein moderneres Gewehrmodell als die erste Linie, weil
die Parlamente für ihre Landwehren und Landstürme mehr
Opferwillen aufbrachten als für das gemeinsame Heer.
Die gesetzlich begrenzten Friedensstände waren ein großes
Hindernis für den organisatorischen Ausbau der Wehrmacht. Die
Auswertung neuer Kampfmittel oder technischer Fortschritte be-
dingte die Aufstellung von Neuformationen, was nur auf Kosten
der Infanterie und Kavallerie geschehen konnte. Die Friedens-
stände der Infanteriekompanien waren aber schon so niedrig,
daß die Ausbildung darunter empfindlich litt. Es war unter die-
sen Verhältnissen auch unmöglich, höhere Verbände aufzustellen,
weil das Personal für die Stäbe und Anstalten wieder nur der
Infanterie und Kavallerie entzogen werden konnte.
Besonders rückständig war das Artilleriematerial.
Im Jahre 1907, da selbst außereuropäische Kleinstaaten ihre
Feldartillerie längst schon mit Schnellfeuergeschützen ausgerüstet
hatten, gab es in Österreich-Ungarn erst 30 fertige und 1200 ge-
gossene Rohre eines Schnellfeuergeschützmodells. Diese und
viele andere Mängel zwangen Conrad immer häufiger, den Ein-
fluß des Allerhöchsten Kriegsherrn auf die Ministerpräsidenten
und Finanzminister zu erbitten.
Bei einem Kaiserrapport im März 1907 mußte sich Conrad zum
Beispiel gegen eine Forderung der Kriegsmarine wehren, die zur
Bemannung der im Bau befindlichen Dreadnoughts 1100 Rekruten
des Heeres anforderte. Im selben Frühjahr sah sich der Kriegs-
minister selbst zu dem Vorschlag gezwungen, zur Gewinnung der
nötigen Mannschaft für Spezialformationen die vierten Batail-
lone der Infanterie- und die sechsten Eskadronen der Kavallerie-
regimenter en cadre zu setzen. Conrad wendete sich aufs schärfste
117
IMMER DRINGENDERE ANTRÄGE
dagegen und benützte diesen Anlaß, dem Kaiser die ungesun-
den Verhältnisse vor Augen zu führen, die selbst den Kriegs-
minister zwangen, die Wehrmacht auf Kosten der Kampftruppen
auszugestalten. Er bat den Kaiser, das Übel an der Wurzel zu
fassen und durch die Gewährung eines auf lange Dauer gesicher-
ten Rekrutenkontingents die Grundbedingungen für eine gesunde
Entwicklung der Wehrmacht sicherzustellen.
Am 6. April 1907, etwa ein halbes Jahr nach der Amtsüber-
nahme, faßte Conrad in einer Denkschrift alle seine Bedenken
zusammen. Er schreckte selbst nicht davor zurück, dem Mon-
archen eine Verfassungsänderung vorzuschlagen, um diesen Zu-
ständen ein Ende zu setzen. Wie unermüdlich Conrad in der
Vertretung der Interessen der Wehrmacht war, erwiesen die
vielen Denkschriften, die er dem Allerhöchsten Kriegsherrn selbst
um den Preis des Unwillens vorgelegt hat.
So betrieb er unter anderem im Februar 1907 die Abschaf-
fung der Paradeuniform und die Einführung einer praktischen
feldgrauen Einheitsadjustierung. Im Mai desselben Jahres erbat
er die Betreibung des Pferdestellungsgesetzes, das die Klassi-
fizierung der Pferde schon im Frieden sowie die Pflicht der so-
fortigen Abgabe im Falle der Mobilisierung vorsah. Am 24. Mai
referierte Conrad Sr. Majestät über die Bedeutung des Auto-
mobils für Heereszwecke und erbat bis zur organisatorischen
Regelung dieses Dienstzweiges die Bewilligung, ein freiwilliges
Automobilkorps zu schaffen. Am 16. November mußte Conrad
den Einfluß des Kaisers auf den Reichsfinanzminister erbitten,
damit die bosnisch-herzegowinische Gendarmerie ihre Standes-
abgänge nicht der Infanterie des gemeinsamen Heeres entnehme.
Am Schluß des Jahres 1907 faßte Conrad alle seine Forderun-
gen noch einmal in einer Denkschrift zusammen. Dieses sehr
umfangreiche Elaborat beginnt mit der Feststellung: „Organi-
sation und Schlagwert der gesamten bewaffneten Macht sowie
die operativen und sonstigen Vorbereitungen für den Kriegsfall
stehen kaum in einem anderen Staate in so engen Beziehungen
zur äußeren und inneren Politik wie in der österreichisch-un-
garischen Monarchie.“ Nach einer gründlichen Prüfung der
außen- und innenpolitischen Verhältnisse schreibt Conrad: „Da
nunmehr der ökonomische Ausgleich mit Ungarn perfekt ge-
118
UNERMÜDLICHER KAMPF
worden ist, erscheint es ein dringendes Gebot, auch die mili-
tärischen Fragen, und zwar in großem Stil, zu lösen. Hiebei
stehen obenauf: erstens der einheitliche Geist in der bewaffneten
Macht; zweitens materielle Entwicklung der Wehrmacht, und zwar
Sicherung des erforderlichen Rekrutenkontingents durch ein
neues Wehrgesetz, organischer Ausbau der Landmacht hinsicht-
lich der Standesverhältnisse, Bewaffnung, Ausrüstung, Spezial-
organisationen, Ausbildungserfordernisse im Frieden usw.; drit-
tens Erweiterung der Seemacht; viertens Reichsbefestigung; fünf-
tens Entwicklung des Kommunikationswesens.“ Die Denkschrift
begründet sodann diese Forderungen im Detail. Der Ausbau
der Landmacht sieht folgende wesentliche Aufgaben vor: eheste
Sanierung der Fußtruppen hinsichtlich der Standesverhältnisse,
Gewehr- und Patronenfrage (automatisches Gewehr), Maschinen-
gewehrabteilungen, Neuorganisation und Neuausrüstung der Feld-
artillerie, Hebung des Schießwesens durch reichere Zuweisung
von Übungsmunition, Ausgestaltung der Gebirgsartillerie (der
getragenen wie der fahrenden), Vermehrung und Neuorganisa-
tion der Festungsartillerie, insbesondere Entwicklung der An-
griffsartillerie, Vermehrung und Neuorganisation der Verkehrs-
truppen (Eisenbahn- und Telegraphen truppen), Aufstellung von
Luftschifferabteilungen, Einführung von Lenkballons, Aufstel-
lung von Gebirgstrainformationen, Neubeschaffung eines moder-
nen schweren Angriffsartilleriematerials, Neuadjustierung und
Modifikation der Ausrüstung (Erleichterung der Truppen im all-
gemeinen, der Fußtruppen im besonderen), Beschaffung eines
leichten Brückentrains und von Wurf brücken, Anschaffung von
Fahrkücben und Ausgestaltung des Automobilwesens.
Conrad hatte sich lange schon mit der Idee eines automati-
schen Gewehres und eines leistungsfähigeren Infanteriegeschosses
beschäftigt, ohne durchdringen zu können. In einem Referat
am 8. Jänner 1908 erbat er die Unterstützung des Erzherzog-
Thronfolgers für die Erhöhung des Rekrutenkontingents, für die
Gründung eines Luftschiffervereines zur Erweiterung der mili-
tärischen Organisation des Flugwesens und die Schaffung eines
ungarischen freiwilligen Automobilkorps, das dem bereits be-
stehenden österreichischen ähnlich organisiert sein sollte.
Am 7. Februar und am 2. April 1908 vertrat Conrad beim
119
DIE ZWEIJÄHRIGE DIENSTZEIT
Kaiser die Notwendigkeit der ehesten Lösung der nicht mehr
aufzuschiebenden Artilleriematerialfrage. Er begründete die Be-
deutung der Fahrküchen und betrieb die Einführung einer Feld-
uniform. Schließlich beantragte er bei diesen Vorträgen die Ab-
schaffung der Tamboure, um einigermaßen den Standesschwierig-
keiten bei der Infanterie zu begegnen. Am 3. November mußte
Conrad sogar das kleinliche Mittel vorschlagen, durch Entnahme
je eines Reiters pro Kavalleriezug die 1008 Mann und Pferde
zu erlangen, die zur Neuaufstellung der dringend notwendigen
drei Gebirgskanonen- und vier Gebirgshaubitzbatterien erforder-
lich waren.
Diese Einzelheiten sollen die Schwierigkeiten aufzeigen, mit
denen Conrad zu kämpfen hatte, und zugleich die unermüdliche
Ausdauer beleuchten, womit er diesen Kampf führte. Als im
Jahr 1909 die außenpolitische Lage immer kritischer wurde,
trat er in immer dringenderen Referaten für die Lösung der
vielen von ihm angeregten Armeefragen ein. Conrad sah in dem
Übergang auf die zweijährige Dienstzeit unter den ge-
gebenen Verhältnissen das aussichtsvollste Mittel für den weiteren
Ausbau der Wehrmacht. Er drang daher mit aller Entschieden-
heit in den Kaiser, die Parlamente unter Hinweis auf die Prag-
matische Sanktion zur Bewilligung der Reichsnotwendigkeiten zu
verpflichten.
Im September und Oktober 1909 betrieb er beim Kaiser die
schon Ende 1908 gestellte Forderung zur Aufstellung von Gebirgs-
brigaden in Bosnien und der Herzegowina. Bis dahin waren diese
aus wechselnden Bataillonen des gemeinsamen Heeres zusammen-
gesetzt gewesen, während Conrad die Formierung je einer Ge-
birgsbrigade aus jedem der 14 Korpsbereiche beantragte, die
ständig in Bosnien und der Herzegowina verbleiben sollten.
Bei Kaiserrapporten im Mai und Oktober 1909 stellte er den
Antrag auf Ernennung der Armeekommandanten für den Kriegs-
fall, die schon im Frieden einen Stamm ihres Stabes erhalten
sollten. Dieser Antrag fand die Zustimmung des Allerhöchsten
Kriegsherrn; er wurde allmählich auch durchgeführt.
Beim Rapport am 23. Jänner 1909 setzte sich Conrad für die
Beschleunigung der Aufstellung der Honvedartillerie ein. Am
27. November erbat er die Einwirkung des Kaisers auf den Aus-
120
KEIN EINFLUSS AUF DAS HEERESBUDGET
bau der Festungsartillerie, der bisher wegen mangelnder Mann-
schaft zurückgestellt werden mußte. Man versteht den Groll
Conrads, als er es mit ansehen mußte, daß dem Ackerbau-
ministerium für die Gestütsbranche und dem Justizministerium
für das ihm unterstehende Wachkorps 2000 militärisch ausge-
bildete, intelligente Soldaten zur Verfügung gestellt wurden,
während man das Personal für die dringlichsten militärischen
Vorsorgen verweigerte.
Am 25. September 1909 beantragte Conrad die Anschaffung
von Lenkballons und Flugzeugen, ferner die Stabilisierung der
Streifkorpsabteilungen (Strafuni) in Bosnien und der Herzego-
wina, die sich schon nach kurzem provisorischem Bestände sehr
bewährten. Der Kampf um eine kriegsmäßige Feldadjustierung
blieb erfolglos, obzwar Conrad darauf hinweisen konnte, daß
Italien in dieser Hinsicht beispielgebend vorangegangen war
und Deutschland seine Kavallerie feldgrau, Rußland seine Ka-
vallerie und Artillerie khakifarben bekleidet hatte.
Auch das Jahr 1910 verging unter ständigem Drängen nach
Berücksichtigung der Bedürfnisse der Wehrmacht. Es war eine
aufreibende Tätigkeit; nur die Referenten Conrads vermochten
seine rastlose UnVerdrossenheit voll zu würdigen. Noch immer
war das Wehrgesetz, die Grundlage für alle Ausbaumöglichkeiten,
nicht revidiert.
Conrad sah sich gezwungen, beim Kaiser Einspruch dagegen
zu erheben, daß er bei der Zusammenstellung des Heeresbudgets
vollkommen ausgeschaltet werde. Im Jahr 1910 betrieb Conrad
die Anschaffung einer modernen schweren Angriffsartillerie, ins-
besondere der 10.5-cm-Kanone und des 30.5-cm-Mörsers. Ober
die Entstehungsgeschichte des 30.5-cm-Mörsers, der bei der
Niederringung der belgischen Festungen im August 1914 eine
hervorragende Rolle gespielt und sich als das wirkungsvollste
Geschütz aller Armeen erwiesen hat, sind die verschiedensten
Meinungen im Umlauf.
Unbestreitbar ist, daß der Kriegsminister von Auffenberg die
Mittel für die ersten 30.5-cm-Mörser sichergestellt und der Firma
Skoda den Auftrag zu deren Erzeugung gegeben hat. Die An-
regung für die Konstruktion dieses Geschützes ist aber von
Conrad ausgegangen.
121
DER 3 0‘5-cm-MÖRSER
Das Evidenzbüro hatte erfahren, daß der italienische General-
stab die Absicht habe, den bisher westlich der Livenza ange-
nommenen Aufmarsch der für Operationen in der venetianischen
Ebene bestimmten Armeen an den Tagliamento vorzuverlegen.
Gleichzeitig wurde bekannt, daß der neue Aufmarschraum durch
drei Brückenköpfe gesichert werden sollte, die das Gelände vom
Alpenfuß bis an die Nordküste der Adria abzusperren hatten.
Die Detailpläne der Werke ließen erkennen, daß in der Tat das
gesamte Vorfeld der Tagliamento-Linie im Bereich der italieni-
schen Verteidigungsgeschütze lag.
Conrad hielt diese Meldung für unglaubwürdig und befahl
deren Überprüfung. Bald konnte durch mehrfache Anzeichen
festgestellt werden, daß der Ausbau der Tagliamento-Linie mit
Sicherheit zu erwarten sei. Conrad, der sich unausgesetzt mit der
Möglichkeit eines italienischen Angriffes beschäftigte, beabsich-
tigte, dem italienischen Angriff durch eine Offensive in der
venetianischen Tiefebene zuvorzukommen. Eine stark befestigte
Tagliamento-Linie störte diesen Plan wesentlich. Gelegentlich
meines Referates über die Tagliamento-Linie äußerte sich Conrad:
„Es muß sofort etwas geschehen, um den Widerstand der ita-
lienischen Werke in der kürzesten Zeit zu brechen.“ Das Ergeb-
nis der daran geknüpften Besprechungen war die Forderung an
das technische Militärkomitee nach einem Geschütz, das, außer-
halb der wirksamen Tragweite der italienischen 14.9-cm-Vertei-
digungskanone aufgestellt, eine solche Schußpräzision besäße,
daß es mit dem Aufwand von etwa 300 Wurf einen Panzerturm
von den uns bekannten Dimensionen außer Gefecht setzen könne.
Die Lösung war der 30.5-cm-Mörser; er hat die theoretisch er-
rechnete ballistische Leistungsfähigkeit noch übertroffen. Dieser
Erfolg österreichischer Geschützkonstrukteure ist der Beweis da-
für, daß es in der österreichischen Artillerie nicht an Geistern ge-
fehlt hat; ihre Fähigkeiten wurden aber aus kurzsichtigen fiskali-
schen Gründen nicht ausgewertet. Unsere Soldaten mußten mit
einem minderwertigen Geschützmaterial ins Feld ziehen und mit
dem Blute Tausender büßen, was die verantwortlichen Staats-
männer und die nicht genügend belehrten Volksvertreter der
Wehrmacht vorenthalten hatten. Kein Gericht ist gegen diese
Versündigung am Volks wohl eingeschritten!
122
RÜCKTRITT NICHT ANGENOMMEN
Um im Kriegsfall der zahlenmäßig weit überlegenen russischen
Kavallerie wenigstens einigermaßen entgegentreten und den
weit ausgedehnten Aufklärungsräumen Rechnung tragen zu
können, erhielt Conrad die Zustimmung Sr. Majestät, die Di-
visionskavallerie von drei auf zwei Eskadronen herabzusetzen,
um weitere Kavalleriedivisionen aufstellen zu können.
Im Jahr 1910 wurde der Antrag Conrads verwirklicht, die
künftigen Armeekommandanten im Kriegsfall zu Generaltruppen-
inspektoren zu ernennen. Mit dem Hinweis auf Frankreich,
Deutschland, Rußland und Italien, die im Luftwesen bereits weit
voraus waren, gelang es Conrad, den bescheidenen Kredit von
300.000 Kronen für die Schaffung des Militärflugwesens durch-
zusetzen. Conrad flog auf dem Übungsplatz in Wiener-Neustadt
im Äroplan und in Fischamend im Lenkballon, um sich ein per-
sönliches Urteil über das Fliegen zu bilden.
In seinem Kampf um den Ausbau der Wehrmacht sollte sich
das Jahr 19y besonders kritisch auswirken. Noch immer war
das Wehrgesetz nicht revidiert, das Heeresbudget nicht erhöht.
Am 30. Jänner 1911 stellte Conrad einen Antrag, begleitet von
einem Motivenbericht, an den Kriegsminister. Gleichzeitig rich-
tete er Ersuchen an die beiden Landesverteidigungsminister um
Unterstützung, „damit wir endlich zu einem Resultat kommen“.
Mit Spannung sah Conrad den Verhandlungen der Delegationen
in Budapest entgegen, von denen er einen Erfolg seines Schrittes
erhoffte. Da las er zu seiner größten Überraschung in den Zei-
tungen von einer Reduzierung des Budgets für das gemein-
same Heer. Der Kriegsminister hatte seinen Organen verboten,
mit dem Chef des Generalstabes und mit Offizieren der General-
stabsbüros über Budgetfragen zu sprechen! Conrad fuhr augen-
blicklich zu Sr. Majestät nach Budapest. Er meldete dem im
gleichen Hotel wohnenden Kriegsminister, daß er heute um seine
Enthebung bitten werde. Der Kaiser willfahrte dieser Bitte
nicht. Doch mußte Conrad bei der Audienz zu der Erkenntnis
kommen, daß von den diesjährigen Delegationen nichts mehr für
die Wehrmacht zu erwarten sei. Seine Vorstellungen hatten den
einzigen Erfolg, daß ihm der Kaiser die Zusicherung gab, seine
Forderungen den berufenen Stellen vortragen zu können. Die
schriftliche Resolution des Monarchen lautete: „So schwer Ihre
123
SITZUNG IN DER OFNER HOFBURG
Bedenken bezüglich der Kriegstüchtigkeit und Kriegsbereitschaft
der bewaffneten Macht auch sein mögen, vermag deren unmittel-
bare Behebung doch ebensowenig eingeleitet zu werden, als Ich
Ihrer Mir mündlich vorgebrachten Bitte um die Enthebung vom
Posten des Chefs des Generalstabes Meiner gesamten bewaff-
neten Macht Folge zu geben finde. Ich halte Mich vielmehr ver-
sichert, daß Sie Ihres Dienstes mit jener Hingebung, die Ich
stets gerne anerkannte, walten und in den großen Fragen der
Wehrmacht auf dem realen Boden der allgemeinen staatlichen,
inneren und äußeren Verhältnisse schreiten werden.“
Conrad wollte es trotzdem nochmals versuchen, das Verständ-
nis für die Bedürfnisse der Wehrmacht in möglichst weite Kreise
der Bevölkerung zu tragen, und bat, daß zu der Besprechung der
„maßgebenden Faktoren“ nicht allein Minister zugezogen würden,
vor denen die Sache bereits verloren war, sondern auch Vertreter
der Delegationen. Diese Bitte wurde abgeschlagen, und so fand
denn am 5. März 1911 in der Ofner Hofburg die denkwürdige
Sitzung statt, an welcher unter Vorsitz des Ministers des Äußeren
nur die beiden Ministerpräsidenten und die beiden Landes-
verteidigungsminister teilnahmen. Conrad begann mit den Wor-
ten: „Ich weiß, daß das Ganze ein Schlag ins Wasser ist.“ Dann
entwickelte er seine Auffassung über die Stellung des Chefs des
Generalstabes als ersten beratenden Organs des Armeeoberkom-
mandanten, dem im Frieden die konkreten Kriegsvorbereitungen
obliegen. „Entweder man vertraut dem Chef des Generalstabes,
oder man lasse ihn wenigstens seine Anträge begründen.“ Hier-
auf ging Conrad auf die militärische Lage seit seinem Amtsan-
tritt im Herbst 1906 über und zählte die erkannten Mängel und
Rückständigkeiten in den Wehreinrichtungen auf, worauf er
seine Forderungen begründete.
Das Protokoll dieser Sitzung weist Erklärungen des Außen-
ministers über die außenpolitische Lage aus, die Conrad von der
völligen Aussichtslosigkeit seiner Bemühungen überzeugen muß-
ten. „Die Monarchie hegt keine Aspirationen über ihren Besitz
hinaus und er, der Minister des Äußeren, fasse die von ihm im
Aufträge Sr. Majestät und unter Zustimmung der beiden
Ministerpräsidenten geführte Politik dahin auf, daß wir bei etwa
eintretenden Verwicklungen nicht sofort aktiv hervorzutreten
124
CONRAD VERWEIGERT PROTOKOLL-UNTERSCHRIFT
hätten, sondern die Dinge sich vorerst entwickeln
lassen und erst dann eingreifen sollen, wann und wie es die
Interessen der Monarchie erheischen.“
Diese geradezu laienhaft anmutende Einstellung mußte auch
den schwächsten Nachbar ermutigen, sich die ihm zusagenden
Gebietsteile der österreichisch-ungarischen Monarchie zu wählen
und nur auf den günstigen Augenblick zu warten, da ihm diese
zufallen würden.
Ebenso hoffnungslos klang ein zweiter Satz aus dem Diktat
des Außenministers. „Unsere Politik weist demnach einen er-
haltenden Charakter auf, dem wir bei Ergreifung außerordent-
licher (?) militärischer Maßnahmen Rechnung tragen müssen.
Wenn wir nun einen neuen Rüstungskredit anfordern würden,
würde man uns aggressive Absichten zuschreiben.“
Conrad wollte seine Unterschrift zu diesem Protokoll ver-
weigern. Schließlich aber unterschrieb er es mit einem Zusatz,
der den Unterschied seiner Auffassung zu jener der „maßgeben-
den Faktoren“ betonte. „Während am Sitzungstage die Forderun-
gen des Friedens im Vordergründe stehen, trifft bei Aus-
bruch eines Krieges den Chef des Generalstabes al-
lein die volle Verantwortung für die Versäumnisse anderer.
Die Forderungen des Chefs des Generalstabes besitzen nicht die
gleiche Aktualität wie neue Steuerlasten, wodurch sich der erst
im Kriege Verantwortliche in der Hinterhand befindet — dies
entbindet ihn jedoch nicht der Pflicht, sich bei allen seinen
Handlungen den Ernst des Krieges vor Augen zu halten.“
Mit voller Berechtigung fordert Conrad in seinen nach dem
Kriege verfaßten Memoiren das Urteil heraus, ob nach den Er-
fahrungen des Weltkrieges seine damalige Mehrforderung von
260 Millionen Kronen übertrieben war und ob seine Auflehnung
gegen eine Verminderung des Heeresbudgets als „ungerecht-
fertigt“ bezeichnet werden durfte. Diese Reduzierung verhinderte
die Beschaffung der allerdringendsten Bedürfnisse, wie Geschütze,
Gewehre, Munition, Befestigungen, oder verschob sie auf viele
Jahre und lud die Schuld auf sich, die Armee unzulänglich an
Zahl, Bewaffnung und Ausrüstung in den Weltkrieg geschickt zu
haben. Die Nachbarn der Donaumonarchie aber ließen sich
durch die zartfühlende Zurückhaltung Österreich-Ungarns in
125
ERNSTER KONFLIKT MIT AUSSENMINISTER
seinen Rüstungen nicht im mindesten abhalten, zielbewußt und
ermutigt durch ‘die passive Außenpolitik der Donaumonarchie
ihren Weg zu gehen.
Es war klar, daß so tief reichende Verschiedenheiten der Auf-
fassungen auf die Dauer nicht nebeneinander bestehen konnten.
Dazu kam, daß auch das persönliche Verhalten des Außen-
ministers beitrug, die sachlichen Gegensätze zu verschärfen. Graf
Aehrenthal nahm bei den Besprechungen mit Conrad eine durch-
aus unangebrachte Geste der Überlegenheit an, die anzuerkennen
Conrad nicht die geringste Veranlassung hatte. Sie mußte ihn,
der seinen pflichtgemäßen Standpunkt lediglich mit den Waffen
des Geistes vertrat, verletzen.
Wir, Conrads Referenten, hatten damals Mühe, ihn von
Schritten zurückzuhalten, die in der Öffentlichkeit unliebsames
Aufsehen erregt hätten. Der nächste Anlaß mußte zu einem
offenen Bruch führen. Er ergab sich nur zu bald.
Das ständige Mißtrauen Conrads gegen Italiens Bündnistreue
veranlaßte ihn, bald nach der Sitzung in der Ofner Burg das
Außenministerium aufmerksam zu machen, daß Italien für das
Jahr 1912 einen Hochstand militärischer Bereitschaft anstrebe.
Ohne sachliche Prüfung antwortete der Minister des Äußeren,
er werde nicht verfehlen, die im Evidenzbüro gesammelten Wahr-
nehmungen durch seine Organe „überprüfen“ zu lassen.
Er fügte hinzu, daß das Bundesverhältnis mit Italien erst 1914
ablaufe und wir uns daher bis zu diesem Zeitpunkt „jede n-
falls“ vor einem feindlichen Angriff gesichert betrachten
können.' (Doch schon im Frühjahr 1915 wurde der Monarchie
der Krieg erklärt!)
Am 23. Februar 1911 erhielt Conrad den Bericht des öster-
reichisch-ungarischen Botschafters beim Quirinal zur Einsicht.
Er enthielt die „Überprüfung“ der Nachrichten des Evi-
denzbüros. Dieser Bericht verriet in jeder Zeile die laienhafte
Herkunft, war aber trotzdem in einem belehrenden und hoch-
mütigen Ton gehalten, den Conrad unmöglich hinnehmen konnte.
Den Schluß bildete ein Hinweis auf die „paur a“, die die ita-
lienische Regierung, Armee und Marine, Parlament, Presse und
ein großer Teil der Bevölkerung vor der Donaumonarchie hege,
— eine Geringschätzung, die, selbst wenn sie zutraf, nicht am
126
CONRAD NIMMT NICHTS ZURÜCK
Platze war. Alle militärischen Maßnahmen Italiens bewiesen
das Gegenteil der „paura“ — im Gegenteil, höchst aggressive
militärische Absichten, die völlig im Einklang mit den politischen
Zielen Italiens standen.
Conrad konnte in seiner Antwort mit Recht darauf verweisen,
daß Österreich-Ungarn trotz der „paura“ zwei seiner schönsten
Provinzen, die Lombardei und Venetien, verloren habe und daß
er, Conrad, diesem billigen Schlagwort zuliebe nicht Mitschul-
diger eines ähnlichen Verlustes werden wolle.
Die sehr gespannte Stimmung verschärfte sich immer mehr.
Graf Aehrenthal stellte der Entsendung von Kundschaftern so-
wie den Reisen von Offizieren nach Italien größte Schwierig-
keiten entgegen — zu einer Zeit, als die Monarchie von Spionen
überschwemmt war. Auch an diesem Verbot hatte der Bot-
schafter in Rom mitgewirkt, indem er dem Außenministerium
nahegelegt hatte, „man sollte die Langmut der Italiener nicht
zu stark in Anspruch nehmen“.
Conrad konnte sich nicht zurückhalten, dem Minister des
Äußeren zu erwidern, solche Anschauungen würden das schwere
Bedenken rechtfertigen, „daß die Interessen der Monarchie nicht
jene energische Vertretung finden, wie sie wohl jeder andere
Staat von seinen Funktionären voraussetzt“. Diese Kritik hatte
eine Beschwerde des Ministers beim Kaiser zur Folge, der den
Vorstand der Militärkanzlei mit der Mission beauftragte, zwi-
schen Conrad und dem Grafen Aehrenthal zu vermitteln. Con-
rad weigerte sich auf das entschiedenste, irgendeine Äußerung
zurückzunehmen. Jedes Wort sei nur von seiner Pflicht diktiert,
von einer Entschuldigung könne keine Rede sein.
In der Audienz vom 15. November 1911 erklärte der Kaiser,
daß der Außenminister seine, des Kaisers, Politik mache und
Conrads Kritik sich daher in erster Linie gegen ihn richte.
Bei der nächsten Audienz am 30. November empfing Se. Maje-
stät Conrad mit den Worten: „Es tut mir leid, nach reiflicher
Überlegung bin ich aber genötigt, Sie von Ihrem jetzigen Dienst-
posten zu entheben und Sie zum Armeeinspektor zu ernennen.“
Das Handschreiben vom 2. Dezember war in besonders warmen
Worten gehalten. Der Kaiser betonte darin „die hervorragen-
den Führereigenschaften“, das „reiche militärische Wissen“ und
127
AUFATMEN NACH FÜNF JAHREN SORGE
das „ausgezeichnete, überaus hingebungsvolle Wirken“ Conrads.
Außerdem verlieh er seinem scheidenden Chef des General-
stabes das Großkreuz des Leopoldordens.
Conrad war in Erfüllung seiner Pflicht gefallen. Er schreibt
zu seiner Enthebung: „Es war ein Aufatmen nach fünf Jahren1“
Vorübergehende Enthebung — Armee-
inspektor
Die Obliegenheiten der Armeeinspektoren ergaben sich aus
ihrer Bestimmung als Armeekommandanten im Kriege. Conrad
war für die 3. Armee in Aussicht genommen, die nach den von
ihm selbst ausgearbeiteten Vorsorgen gegen Italien im Gailtale
aufzumarschieren und die Offensive über die Karnischen Alpen
vorzutragen hatte. Auf dieser Kriegslage baute Conrad die Ge-
neralsbesprechungen im Jahre 1912 auf. Die hiebei gesammelten
Erfahrungen faßte er in operative und organisatorische An-
träge zusammen, die von dem neuen Chef des Generalstabes,
Feldmarschalleutnant Blasius Schemua, berücksichtigt wurden.
Während des Sommers leitete Conrad eine Übungsreise am
Zochenpaß und wohnte dann den Schlußübungen des XIV., III.
und II. Korps, schließlich den großen Manövern in Südungarn
bei.
Seine militärische Betätigung als Armeeinspektor erstreckte
sich auf das Detailstudium organisatorischer und taktischer
Fragen, auf das Verfolgen der technischen Fortschritte, die
Lektüre von Fach werken, die Abgabe von Gutachten und auf
Berichte über den Zustand und die Ausbildung der von ihm
inspizierten Truppen, sowie die Eindrücke über die Eignung der
Generale und Stabsoffiziere für höhere Posten.
Conrad vernachlässigte auch als Armeeinspektor nicht seine mi-
litärpolitische Tätigkeit. Am 17. Februar 1912 starb Graf Aehren-
thal, sein Nachfolger im Amte wurde Graf Berchtold, der mehr-
jährige österreichisch-ungarische Botschafter in Petersburg. Schon
beim ersten Zusammentreffen gewann Conrad den Eindruck,
daß der neue Minister „bei aller Wahrung seiner eigenen An-
128
Tafel VII b
ARMEEOBERKOMMANDANT
FELDMARSCHALL ERZHERZOG FRIEDRICH
MIT DEM VERFASSER
AN DER NIDA IN RUSSISCH-POLEN
PFLICHT ALS GEHEIMER RAT
sichten auch solche anderer anzuhören und zu erwägen ge-
neigt ist“.
Als Geheimer Rat hatte sich Conrad mit Eid verpflichtet, die
Interessen der Monarchie zu verfolgen. Dies veranlaßte ihn,
Ende Oktober 1912 den Leitern der Militärkanzleien des Kaisers
und Thronfolgers ein Essay über die außenpolitische Lage zu
übermitteln.
Conrads Mission in Rumänien
Der Balkankrieg hatte die Monarchie in eine schwierige Lage
gegenüber Rumänien gebracht. Es war sehr wichtig, sich dessen
Bündnistreue für den Fall einer Verwicklung mit Rußland zu
sichern. Anderseits zwangen die Verhältnisse auf dem Balkan zu
einer Unterstützung Bulgariens, dem Rivalen Rumäniens.
Mitte November 1912 starb die Gräfin von Flandern, die
Schwester des Königs Carol. Der Thronfolger eröffnete Conrad,
daß er im Aufträge des Kaisers als Überbringer der Kondolenz
des Hofes nach Bukarest entsendet werde. Dieser Anlaß sollte
benützt werden, um die Beziehungen beider Länder zu vertiefen.
Mit Rumänien seien ähnliche Vereinbarungen wie mit Deutsch-
land anzubahnen und diese womöglich schriftlich niederzulegen.
Mit diesen Instruktionen reiste Conrad nach Bukarest. Er
verbrachte dort den 29. und 30. November in regem Gedanken-
austausch mit dem König, dem Ministerpräsidenten, dem Chef
des Generalstabes und sonstigen einflußreichen Staatsmännern.
Er konnte dem Kaiser berichten, daß Rumänien im Kriegsfälle
mit seinen vollen Kräften an der Seite des Dreibundes stehen
werde. Die Besprechungen mit dem Chef des rumänischen Ge-
neralstabes, Avarescu, hatten zu einer Einigung bezüglich der
von Conrad empfohlenen Aufmarschräume der rumänischen
Armee geführt. Auch der Ministerpräsident Majorescu hatte
Conrad versichert, bei einem Angriff auf die Monarchie seiner
Bündnispflicht treu nachzukommen. Die schriftlichen Abmachun-
gen beschränkten sich auf Abmachungen mit dem Chef des Ge-
neralstabes. Doch waren gerade diese ein großer Erfolg, da
9
129
ERFOLG IN BUKAREST
die Verwendung der rumänischen Streitkräfte sich in die opera-
tiven Absichten des österreichisch-ungarischen und deutschen Ge-
neralstabes im Kriege gegen Rußland einfügten. Die rumänische
Presse widmete Conrad warme Begrüßungsworte und unterstrich
die gegenseitigen Sympathien der beiden Reiche. Conrad konnte
mit Genugtuung auf seine Mission zurückblicken.
Wieder Chef des Generalstabes
Am 7. Dezember 1912 berief der Thronfolger Conrad zu einer
Besprechung. Die Unterredung galt militärpolitischen Fragen.
Plötzlich erklärte der Erzherzog: „So, jetzt muß ich Ihnen aber
doch noch etwas sagen: Sie müssen wieder Chef des General-
stabes werden!“ In der Müitärkanzlei des Erzherzogs war unter-
dessen schon der Befehl eingetroffen, daß sich Conrad noch am
selben Tage um 3 Uhr nachmittags bei Sr. Majestät einzufinden
habe. Mit einigen gnädigen Worten eröffnete ihm der Monarch,
der Thronfolger lege Wert darauf, Conrad wieder an der Spitze
des Generalstabes zu sehen. Er selbst habe nichts dagegen, die
Ernennung werde demnächst erfolgen. Gleichzeitig erklärte der
Kaiser, er beabsichtige die Enthebung Auffenbergs vom Posten
des Kriegsministers. Conrad erhob Einwände, er mußte sich
aber, angesichts des unabänderlichen Willens des Monarchen,
mit der Ernennung Auffenbergs zum Armeeinspektor begnügen.
Conrad war mit seiner neuerlichen Berufung nicht einverstan-
den. Er hatte das dunkle Empfinden, daß die für ein initiatives
Handeln geeigneten Augenblicke ungenützt geblieben waren und
die Monarchie nunmehr einer Lage entgegentreibe, „in der ihr
Schicksal von dem Willen ihrer Feinde entschieden werde“.
In der von ihm so eifrig betriebenen Wehrgesetzfrage fand
Conrad allerdings eine gebesserte Lage vor. Dem willensstarken
Präsidenten des ungarischen Abgeordnetenhauses, Grafen Stephan
Tisza, war es gelungen, das am 4. Juni 1912 eingebrachte Wehr-
gesetz zur Abstimmung zu bringen, indem er die dagegen tobende
Opposition mit Polizeigewalt aus dem Hause entfernen ließ.
Auch in Österreich war die Wehrvorlage durchgegangen. Mit
130
ERHÖHUNG DES REKRUTENKONTINGENTS
dem Übergang zur zweijährigen Dienstzeit war das Rekruten-
kontingent für die nächsten zwölf Jahre von 103.000 auf 159.000
erhöht worden. Das war ein entschiedenes Verdienst Conrads.
Eine zweite Errungenschaft war die begonnene Großerzeugung
der schweren Artillerie, darunter auch des 30’5-Zentimeter-
Mörsers.
Am 15. März 1913 mußte der österreichische Reichsrat infolge
der tschechischen Obstruktion aufgelöst werden. Auf Grund des
Paragraph 14 der österreichischen Verfassung wurden die für
die Armee angeforderten 375 Millionen Kronen freigegeben, die
Rekruten konnten ausgehoben werden.
Dies schuf die Möglichkeit für die dringendsten Ausgestal-
tungen der Wehrmacht.
Conrad sah in einer „Reservearmee“ das Mittel, den
steigenden außenpolitischen Gefahren zu begegnen. Diese Idee
vertrat er in einer Audienz am 30. Jänner 1914. Bei diesem
Anlaß drang er in Se. Majestät, die durch unablässige Wider-
stände verzögerte Beendigung der Geschütz- und Munitionsfrage
kurzweg zu befehlen. Er erhob weiters Beschwerde gegen das
Überhandnehmen der Ernteurlaube, wobei er beim Kaiser volles
Verständnis fand. In der Audienz vom 24. Februar 1914 be-
trieb er abermals die Aufstellung einer Reservearmee, bean-
tragte Änderungen in der Stationierung der Donauflottille und
forderte, daß die Rekrutenkontingentserhöhung in Österreich par-
lamentarisch gelöst werde. Am 10. März wiederholte Conrad
bei Sr. Majestät die Bitte um nachträgliche Bewilligung der vom
Kontingent abgestrichenen 3000 Rekruten, was der Kaiser in
Aussicht stellte.
Im Frühjahr 1914 wurde die Unabwendbarkeit eines Krieges
immer klarer erkennbar. Conrad beschwor den Kriegsminister
Krobatin, vor den Delegationen „hart“ zu bleiben und das Budget
ungekürzt durchzubringen. Bei einem Besuch des Barons Skoda
wies Conrad auf die Notwendigkeit hin, die Erzeugung der Ge-
schütze zu beschleunigen. Auch die Umwandlung des bestehen-
den Gewehres in ein automatisches beschäftigte ihn sehr. Beim
Kaiserrapport am 4. Juni 1914 kam er wieder auf die Reserve-
armee zurück und erbat den Einfluß des Monarchen auf eine
weitere Erhöhung des Rekrutenkontingents.
9*
131
FELDHERRNKUNST MUSS MÄNGEL ERSETZEN
Am 28. Juni 1914 fielen in Sarajevo die verhängnisvollen
Schüsse.
Früher als Conrad befürchtet hatte, stand die Wehrmacht plötz-
lich vor der Aufgabe, den Kampf um den Bestand des Reiches
aufzunehmen. Trotz all seines zähen Wollens war ihm nur die
Verwirklichung eines Bruchteiles der als notwendig erkannten
Reformen gelungen. Die österreichisch-ungarische Armee zog
mit vielen Mängeln in der Organisation und Ausrüstung in den
Krieg — Conrads Feldherrnkunst mußte ersetzen, was dem Heer
an Zahl und an Kampfmitteln fehlte.
Einfluß auf die Anlage und Leitung der großen Manöver
Die Anlage der großen Manöver war unter Conrads Vor
gänger einem bestimmten Schema gefolgt. Der erste Tag war
dem Aufklärungsdienst der Kavallerie gewidmet, am zweiten
fand der Zusammenstoß der Kavalleriegros mit dem Schaustück
einer großen Attacke statt. Unterdessen erfolgte der Anmarsch
der Infanteriegros, sodann der Zusammenstoß in zwei bis drei
Kampftagen. Der tägliche Übungsbeginn wurde von der Ma-
növeroberleitung geregelt. Die zwischen den Parteien gezogene
Demarkationslinie durfte erst zu einer festgesetzten
Stunde überschritten werden. Die Ausgabe dieser Linie beendete
die Kampfhandlungen, nur der Sicherungs- und Aufklärungs-
dienst durften weitergehen.
Diese Beschränkungen nahmen den Übungen die Kriegsähn-
lichkeit. Die Führer hatten keine Veranlassung, mit den Kräften
ihrer Truppen hauszuhalten, denn die Ausgabe der Demarka-
tionslinie erfolgte gewöhnlich in den ersten Nachmittagsstunden.
Bis zum Wiederbeginn am nächsten Morgen blieb reichlich Zeit
für die Nachtruhe. Innerhalb der wenigen Manöverstunden
konnten sich die Entschlüsse der Parteikommandanten nicht aus-
wirken, die interessantesten Kampfhandlungen mußten unter-
brochen werden, den Führern wurden durch die Demarkations-
linie Lagen aufgezwungen, die mit ihren operativen Absichten
nicht zusammenstimmten. Die für den Manöverbeginn bereit-
gestellten Truppen standen sich am Morgen innerhalb der wirk-
132
FREIZÜGIGE MANÖVER
samen Artillerieschußdistanz Gewehr bei Fuß gegenüber, um
erst zur angegebenen Stunde aufeinander loszugehen.
Mit dieser Art der Manöverleitung hat Conrad gründlich ge-
brochen. Er ließ den Kampfhandlungen während der Übungstage
ohne Beschränkung freien Lauf. Der Entschluß zur Nächtigung
war den Parteikommandanten, unter Berücksichtigung des Kräfte-
zustandes ihrer Truppen, überlassen. Zahlreiche Schiedsrichter
hatten der voraussichtlichen Wirkung des feindlichen Feuers
Geltung zu verschaffen, die Entscheidungen waren in einer Form
zu fällen, die ein kriegsmäßiges Handeln erforderten. Bei einer
derart freizügigen Anlage der Manöver mußte auch die Leitung
mobil sein. Diese Beweglichkeit, die sich auch auf das Aller-
höchste Hauptquartier erstreckte, wurde als Argument gegen die
neue Art der Leitung ins Treffen geführt.
Conrad konnte nur darauf hin weisen, daß Se. Majestät, trotz
seines hohen Alters, schon bei den ersten nach Conrads Art
geleiteten Manövern in Kärnten 1907 mit seinem Begleiter,
Feldzeugmeister Baron Bolfras, noch in der Dunkelheit eines
nebligen Herbstmorgens auf dem Manöverfeld erschienen war,
weil die beiden Parteikommandanten den Beginn ihrer Aktionen
zu sehr früher Morgenstunde angeordnet hatten.
Conrads Art der Manöverleitung wurde bald von nahezu allen
Armeen übernommen. Die von ihm geforderten „zeitweisen
größeren Leistungen“ erregten beim Thronfolger Bedenken. Con-
rad bemühte sich, diese durch den Hinweis zu widerlegen, daß die
k. u. k. Armee aller Voraussicht nach den Kampf gegen die
zahlenmäßig überlegenen Russen zu führen haben werde. Ein
Sieg war nur möglich, wenn Truppen und Führer geschult
waren, durch Initiative und große Beweglichkeit sich zu ver-
vielfältigen.
Mit Berechtigung konnte daher Conrad nach dem Weltkriege
sagen: „Die so erzogene Armee hat das geleistet.“ Er stellt die-
sem Krieg den des Jahres 1866 gegenüber. Die Einleitungs-
kämpfe gegen Preußen hatten am 26. Juni begonnen, am 3. Juli
fiel die Entscheidung bei Königgrätz und am 22. Juli fand das
letzte Gefecht statt; der Krieg war in kaum vier Wochen ent-
schieden. Im Weltkrieg hielt die k. u. k. Armee durch mehr
als vier Jahre einer erdrückenden Überzahl von Feinden stand
133
BEI DEN DEUTSCHEN MANÖVERN
und rang im Verein mit ihren Bundesgenossen vier Gegner,
darunter das mächtige russische Reich, nieder. „An diesen Lei-
stungen ist der Wert der Vorbereitung unserer Wehrmacht für
den Krieg zu messen“, schreibt Conrad.
Durch Erweiterung des Umfanges der Manöver sollte den
höheren Stäben Gelegenheit geboten werden, das Zusammenwir-
ken in großen Verbänden zu üben. Die Versammlung und der
Abtransport größerer Truppenmassen ergab außerdem Gelegen-
heiten für die praktische Schulung des militärischen Eisenbahn-
dienstes.
Im Jahre 1913 hatte Conrad Gelegenheit, anläßlich der Kaiser-
manöver im Raume Hohenfriedberg—Schweidnitz die deutsche
Art der Leitung kennenzulernen. Auch hier war sein Grund-
satz der Freizügigkeit und der Fortsetzung der Kampfhandlun-
gen bei Nacht angenommen worden.
Die obere Führung fand Conrad der unsrigen ebenbürtig. Bei
voller Anerkennung der vorzüglichen Ausbildung der Truppen
glaubte er aber unserer Infanterie größere Geschicklichkeit in
der Ausnützung des Geländes und höhere Beweglichkeit zubil-
ligen zu können. Die deutsche Kavallerie fand er sehr gut, aber
etwas schwerfällig, die Artillerie auch sehr gut, im indirekten
Schießen jedoch nicht so geübt wie unsere. Die technischen
Arbeiten waren vorzüglich durchgeführt, alle Verschanzungen
sehr richtig angelegt und mit vollen Profilen ausgehoben. Sehr
aktiv war die Luftaufklärung. Zur Abwehr war ein Teil der
reitenden Artillerie probeweise mit Ballon ab wehrkanonen aus-
gerüstet. Feldtelephon und Feldtelegraph standen den unsrigen
weit nach.
Anläßlich der großen Truppenübungen des Jahres 1913 in
Böhmen kam es zu einem argen Zerwürfnis Conrads mit dem
Thronfolger. Der zweite Manövertag war in vollem Gange.
Plötzlich um 3 Uhr nachmittags wurde die Übung über Befehl
des Erzherzogs eingestellt. Bald darauf ergingen Anordnungen
für eine am folgenden Tage unter Leitung des Thronfolgers statt-
findende Übung gegen Markierung. An einem der Armeeflügel
hatte sich unter dem Kommando des Kavallerieinspektors ein
aus zwei Divisionen gebildetes Kavalleriekorps zu formieren.
Conrad war hievon völlig überrascht und zögerte nicht, die
134
KONFLIKT MIT DEM THRONFOLGER
Konsequenzen aus dieser Verletzung seiner Autorität zu ziehen.
Der bei den Manövern anwesende Kommandant des 2. Tiroler
Kaiser]ägerregiments, der frühere Flügeladjutant des Thron-
folgers Oberst von Brosch, hatte alle Mühe, Conrad von dem
Entschluß abzubringen, das Manöverfeld sofort zu verlassen.
In dem von mir geführten Attachequartier hatten diese Vor-
gänge höchste Sensation ausgelöst. Ich eilte mit dem deutschen
Militärattache Grafen Kageneck nach dem Standort der Ma-
növeroberleitung, und unseren vereinten Bemühungen gelang
es, Conrad von dem sofortigen Rücktritt zurückzuhalten. Während
der folgenden Übungen — darunter eine Attacke von acht
Kavallerieregimentern gegen intakte Infanterie und Maschinen-
gewehre — stand Conrad stumm neben dem Thronfolger. Un-
mittelbar nach Schluß der Übungen fuhr er nach Wien.
Er sah seine militärpolitischen Ratschläge abgelehnt, die An-
träge auf Ausgestaltung der Wehrmacht zum Großteil unbe-
rücksichtigt, sein Streben nach kriegsmäßiger Ausbildung durch
die berufenste Persönlichkeit durchkreuzt und das Vertrauen
des Thronfolgers in seine Person erschüttert. Daher meldete er
dem Erzherzog, daß er um seine Versetzung in den Ruhestand
bitten werde.
Darauf erhielt er ein Schreiben, worin ihn der Thronfolger
„inständigst“ bat, in seinem Amte zu verbleiben. Der Ton des
Briefes und die Begründung der Bitte waren so gehalten, daß
Conrad blieb.
Leider kam es wenige Wochen später wieder zu einem recht
unliebsamen Zwischenfall. Conrad war im Gefolge des Thron-
folgers im Oktober 1913 zur Enthüllung des Volk er schiacht denk-
mals nach Leipzig gekommen.
Bei der Zusammenstellung des Festprogrammes hatte offenbar
die in der preußischen Geschichtschreibung zum Ausdruck kom-
mende Unterschätzung der Leistungen Österreichs während der
Befreiungskriege fortgewirkt. Dies zeigte sich schon anläßlich
der Festrede am 18. Oktober. Den österreichisch-ungarischen,
russischen und schwedischen Gästen war lediglich die Rolle
von Zuschauern zugedacht, obwohl sich Offiziersabordnungen von
über zwanzig österreichisch-ungarischen Regimentern in Leipzig
befanden, die an der Schlacht teilgenommen hatten. Außerdem
135
CONRAD BLEIBT AUS PFLICHTGEFÜHL
waren Nachkommen des bewährten Führers, Fürsten Schwarzen-
berg, erschienen.
Am Abend des 18. Oktober fand ein Festessen zu 450 Ge-
decken statt, nach dem in einem anstoßenden Saal zwanglos der
Kaffee genommen wurde. Im Gespräch mit Conrad äußerte
Kaiser Wilhelm den Wunsch, die österreichischen Kommandan-
ten kennenzulernen, die mit Offiziersabordnungen zur Feier ge-
kommen waren. Conrad bemühte sich, mit Hilfe des Militär-
attaches Major Freiherrn von Bienerth, die Offiziere im Gedränge
zu finden.
Plötzlich trat der durch die ganze Aufmachung der Feier
schon sehr gereizte Erzherzog Franz Ferdinand mit der brüsken
Frage auf Conrad zu: „Was geschieht hier?“ Auf die Antwort,
daß der Deutsche Kaiser die anwesenden österreichisch-un-
garischen Regimentskommandanten kennenzulernen wünsche,
herrschte der Thronfolger Conrad an: „Das ist meine Sache!
Sind Sie der Armeekommandant? Das werde ich mir ausbit-
ten!“ Conrad, durch diese öffentliche Zurechtweisung aufs tiefste
verletzt, entfernte sich aus dem Saal. Exzellenz Moltke, der
Zeuge dieser Szene, folgte ihm und beschwor ihn: „Halten Sie
aus! Jetz£, wo wir einem Konflikt entgegengehen, müssen Sie
bleiben!“
Nach Wien zurückgekehrt, fand Conrad eine wesentlich ver-
schärfte außenpolitische Lage vor; er vermochte es nicht auf sich
zu nehmen, die Konsequenzen aus diesem neuen Affront zu ziehen.
Die einzige Genugtuung bot ihm die Versicherung des Vorstandes
der Militärkanzlei des Thronfolgers, es sei dem Erzherzog sehr
unangenehm gewesen, bei der Leipzigfeier Conrad gegenüber
„aus der Hand gekommen zu sein“.
Ende 1913 hatten sich die politischen Wogen auf dem Balkan
durch den endgültigen Verzicht des Königs von Montenegro auf
Skutari vorübergehend geglättet, es blieb aber noch reichlich
Zündstoff für neue Konflikte. Conrad mußte als pflichttreuer
Soldat auf seinem Posten ausharren. Für das Jahr 1914 waren
große Manöver geplant, darunter solche in Bosnien. Diese fanden
ihren tragischen Abschluß durch den Fürstenmord von Sarajevo.
Die österreichisch-ungarische Armee mußte statt zu Friedens-
übungen auf die blutige Walstatt des Weltkrieges ziehen.
136
„IN DEINEM LAGER IST ÖSTERREICH“
Einfluß auf den Geist der Armee
Der Gesamtwert einer Armee wird wesentlich durch den sie
beseelenden Geist beeinflußt. In national einheitlichen Staaten
ist dieser schon durch die natürliche Gemeinschaft von Menschen
gleicher Rasse, Sprache und Religion gewährleistet. In der viel-
sprachigen, von etwa zehn verschiedenen Nationen bewohnten
Donaumonarchie hatte sich während der Herrschaft der Habs-
burger ein typisch österreichischer, von Dichtern besungener
„Armeegeist“ herausgebildet. Im Lager der Armee war Öster-
reich-Ungarn. Erst als die Nachbarn der Monarchie mit einer
immer stärkeren nationalen Propaganda einsetzten, begann sich
dieses Gefüge allmählich zu lockern. Um so größer wurde hie-
durch die Verpflichtung, den Geist des gemeinsamen Staats-
gedankens in der Wehrmacht zu erhalten.
Conrad erkannte in der einheitlichen Ausbildung die Gewähr
hiefür. Die dualistische Staatsform schloß eine einheitliche Reichs-
armee aus. Gründe der rascheren Kriegsbereitschaft hatten zum
Übergang auf die territoriale Ergänzung gezwungen: die Regi-
menter nahmen hiedurch immer mehr einen nationalen Cha-
rakter an. Die Träger des gemeinsamen Staatsgedankens wurden
die Berufsoffiziere.
Conrad vertrat den Standpunkt, es dürfe nicht der Eindruck
entstehen, daß es im Heere bevorzugte und zurückgesetzte Na-
tionen gebe. Jeder Soldat sollte sich in der Armee wohlfühlen
und das Bewußtsein haben, ohne Rücksicht auf seine Sprache
und Religion gerecht behandelt zu werden.
Von besonderer Bedeutung war der Geist des Offizierskorps.
Dieses bildete den Rahmen, in den die wehrhaften Männer des
Reiches zur Verteidigung des gemeinsamen Vaterlandes eintraten.
Conrads Billigung der in der Armee üblichen Ansprache mit
dem brüderlichen „D u“ — ein Erbstück aus der besten Zeit
Altösterreichs — entsprach seiner Auffassung, daß dieser äußere
Ausdruck sozialer Gleichstellung ein Band zwischen den Offi-
zieren aller Nationen und Stände schaffe.
Sehr wichtig war die Regelung der Sprachenfrage
innerhalb der Wehrmacht. Die Kommandosprache war
durch die Verfassung gegeben. Sie war „deutsch“ für das ge-
137
DIE „REGIMENTSSPRACHE“
meinsame Heer und die österreichische Landwehr, „ungarisch“
für die königlich ungarische Landwehr und „kroatisch“ für die
Truppen der kroatischen Landwehrdivision. Die territoriale Er-
gänzung gab der „Regimentssprache“ ihre Bedeutung. Die Aus-
bildung konnte nicht gut in einer dem Manne fremden Sprache
erfolgen, auch hatte der Soldat ein Recht darauf, beim Rapport
und bei der Befehlsausgabe in einer ihm verständlichen Sprache
belehrt, einvernommen und an seine Pflichten gemahnt zu wer-
den. Nur so war es zu erreichen, daß sich der nichtdeutsche
Soldat in der Armee bei der deutschen Kommandosprache wohl-
fühle. Von den Offizieren mußte daher gefordert werden, daß
sie die Regimentssprache können. Das war eine Anforderung
an das österreichisch-ungarische Offizierkorps, wie sie keine an-
dere Armee in diesem Maße kannte. Es ist ein unvergängliches
Verdienst der altösterreichischen Offiziere, daß sie in gewohnter
Pflichttreue auch dieser Forderung nachgekommen sind und sich
hiedurch das Vertrauen und die Anhänglichkeit ihrer nicht-
deutschen Untergebenen erworben haben.
Conrad hat sich selbst redlich bemüht, alle in der Armee ge-
sprochenen Idiome zu beherrschen. So unerbittlich scharf er
gegen die zersetzenden nationalen und sozialen Einflüsse war,
so sehr anerkannte er das Recht der Mannschaft auf ihre Mutter-
sprache.
Der Geist des Berufsoffizierskorps war durch die Erziehung
in militärischen Anstalten gewährleistet. Beim nichtaktiven
Offizier konnte sich ein Einfluß auf den Geist nur während der
kurzen Zeit des Einjährig-Freiwilligen-Jahr es und der Waffen-
übungen geltend machen. Schon das dem nichtaktiven Offizier
zustehende Wahlrecht setzte ihn dem politischen Parteiengetriebe
aus. Dem österreichisch-ungarischen Reserveoffizier gebührt eine
um so höhere Anerkennung, als er mit ganz geringen Ausnah-
men seine nationale und politische Einstellung gegen die Pflichten
für das gemeinsame Vaterland zurückgestellt und so der großen
deutschen Sache gedient hat.
Conrads Urteil über das österreichisch-ungarische Offiziers-
korps lautet: „Es ist in der Masse nicht den Versuchungen des
modernen Zeitgeistes nach Luxus und materiellem Genuß unter-
legen, sondern hat in strenger Pflichterfüllung den Ersatz für
138
NATIONALE UND SOZIALE WÜHLARBEIT
die Entbehrungen auf sich genommen, die ihm schon durch die
sehr bescheidene finanzielle Entlohnung auferlegt war.“
Trotz seiner spartanischen Anspruchslosigkeit hat sich Conrad
nicht der Einsicht verschlossen, daß der für seine Familie be-
sorgte ältere und der an den bescheidenen Freuden des Lebens
hängende junge Offizier Anspruch auf eine entsprechende Ent-
lohnung haben. Er hat die Aufmerksamkeit der verantwortlichen
Stellen wiederholt auf die Besoldungsfrage gelenkt. Das Evidenz^-
büro mußte immer wieder in vergleichenden Zusammenstellun-
gen nachweisen, wie sehr die Gebühren des österreichisch-
ungarischen Offiziers selbst gegen die der Kleinstaaten zurück-
blieben. Es kam eine Zeit, da der aktive Offizier finanziell schlech-
ter gestellt war als der Staatsbeamte. Conrad fühlte sich ver-
pflichtet, eine Erhöhung der Bezüge zu fordern, weil er in der
Zurücksetzung gegen andere Staatsangestellte eine schädliche
Rückwirkung auf den Geist des Offizierskorps befürchtete. Diese
Bemühungen hatten keinen Erfolg. Sie wurden mit der Er-
klärung der Finanzminister abgetan, daß hiefür nicht die Mittel
vorhanden seien.
Eine der größten Sorgen Conrads war der Schutz der Wehr-
macht gegen die nationale und soziale Wühlarbeit. Dies er-
forderte die verständnisvolle Mitarbeit der politischen Behörden,
die es nur zu oft an der gebotenen Strenge gegen staatsfeindliche
Tendenzen fehlen ließen. Conrad erbat wiederholt in dieser
Richtung die Einflußnahme des Kaisers. Bei der Audienz vom
3. Dezember 1907 wies er im besonderen auf das Überhand-
nehmen der antimilitaristischen Propaganda in Böhmen hin und
ersuchte um energisches Vorgehen gegen die Rädelsführer.
Die politischen Behörden schwebten in dauernder Sorge, bei
schärferem Zugreifen von national eingestellten Abgeordneten
in unliebsame Parlamentsdebatten hineingezogen zu werden,
wofür es keinen Schutz gab. „So wucherten radikal-nationa-
listische, sozialistische, antimifitaristische, selbst anarchistische
Machenschaften. Sie wurden staatlich nicht genug bekämpft und
schufen in Verbindung mit der vom Ausland betriebenen Propa-
ganda gefährliche Zustände.“
Es muß besonders anerkannt werden, daß trotz dieser zer-
setzenden Einflüsse der Geist der Armee, getragen von einem
139
DIE BESTE ARMEE DER HABSBURGER
pflichtbewußten Offizierskorps, eine Weitaus größere Wider-
standskraft bewiesen hat, als es die Feinde der Donaumonarchie
erwarteten. Statt des erhofften Siegeszuges über das zerfallende
Reich standen sie einem geschlossenen Willen gegenüber, der
in den alten, stolzen Traditionen wurzelte. An ihnen zerschell-
ten die Angriffe der Waffen und der feindlichen Propaganda.
Erst die Übermacht und der zermürbende Hunger konnten diesen
Geist brechen.
Das Urteil des Feldmarschalls Conrad über diese oft ab-
sichtlich zurückgesetzte Armee lautet: „Sie war die beste, welche
die alte Monarchie jemals ins Feld gestellt hatte; sie stand an
kriegerischem Geist keinem fremden Heere nach. Dies ins-
besondere in den ersten Phasen des Krieges, da sie die Wucht
der russischen Übermacht nahezu allein zu tragen hatte und sie
zu tragen wußte, ohne ihre Kampfkraft einzubüßen. Ihr immer
wieder erfolgtes Vorgehen auch nach den schwersten, verlust-
reichsten Schlachten hat dies erwiesen, die tendenziöse Lüge von
ihrer sofortigen Zertrümmerung wird durch die Tatsachen wider-
legt. Auch geben ihr vierjähriges Ringen und die enorme Zahl
ihrer Gefechtsverluste den Maßstab für ihre Widerstandskraft.
Nur wer ihre Leistungen aus zahlreichen Detailhandlungen zu
beurteilen Gelegenheit hatte, vermag dies zu würdigen. Erbärm-
lich erscheinen dagegen jene Kritiker, die vom sicheren Pfühl
des Hinterlandes aus, oft auf oberflächliche Schlagworte oder
auf Einzelfälle hin, wie jedes Heer sie auf weist, die alte k. u. k.
Armee herabzusetzen wagen und bar jedes vornehmen Empfin-
dens ' das Andenken jener schänden, die im blutigen Kampf
dahingesunken sind, beseelt von einem Geist, den solche Kritiker
erst zu erweisen hätten.“
Conrad hat auch als Chef des Generalstabes auf die formelle,
bloß äußerliche Disziplin wenig Wert gelegt, die intellektuelle
Disziplin hingegen mit aller Konsequenz und Rücksichtslosigkeit
gefordert.
Und wohl mit Berechtigung kann der Feldmarschall in seinem
Rückblick auf die Leistungen der in diesen Grundsätzen er-
zogenen österreichisch-ungarischen Truppen im Weltkrieg sagen:
„Mit dieser Disziplin haben unsere Truppen, trotz ihrer polyglot-
ten Zusammensetzung und trotzdem sie oft gegen Konnationale
140
„KEINE HAT GRÖSSERES GELEISTET!“
zu kämpfen hatten, jahrelang im Kriege durchgehalten, in Eis
und Schnee, Sumpf und Wald, Kälte und Hitze, Regen und
Sturm, in trostlosen Flächen in Rußland, im wilden Waldgebirge
der Karpathen und des Balkans, im Steingewirr des Karstes, auf
den himmelragenden Zinnen der Alpen — keine andere
Armee hat Größeres geleistet! Erst die nicht mehr
so erzogenen, lediglich rasch gedrillten, überdies national und so-
zial verdorbenen Ersätze haben dieses feste Gefüge gelockert, aber
auch dieses brach doch erst dann zusammen, als ein nationaler
Zerfall gesetzlich proklamiert worden war. Auch in Deutschland,
dem anerkannten Musterstaate militärischer Disziplin und
Strammheit, erlag diese schließlich dem zersetzenden Treiben
des Hinterlandes, und zwar schon zu einer Zeit, da unsere Fron-
ten noch nicht wankten. Als unsere von der französischen Front
abberufenen Divisionen in voller Ordnung im befohlenen Heim-
marsch begriffen waren, wurden sie bereits Zeugen des Zu-
sammenbruches der Disziplin in revoltierenden deutschen
Truppenteilen und der Herrschaft der Soldatenräte.“
Einfluß auf die Besetzung der höheren Kommando stellen
Zu den Pflichten des Chefs des Generalstabes zählte der Ein-
fluß auf die Wahl der höheren Kommandanten sowie der leiten-
den Funktionäre in der Militärverwaltung.
Die Eignung der Generale für höhere Posten war alljährlich
Gegenstand von Sitzungen, an denen unter Vorsitz des Kaisers
der dem Allerhöchsten Oberbefehl zugeteilte Erzherzog-Thron-
folger, der Vorstand der Militärkanzlei Sr. Majestät, der Kriegs-
minister, der Chef des Generalstabes, die Armeeinspektoren, die
beiden Landesverteidigungsminister und die Generalinspektoren
der Waffen teilnahmen. Auf Grund vorbereiteter „cahier s“
wurden dem Range nach alle Generale vorgenommen; jeder Teil-
nehmer hatte sein Urteil abzugeben.
Conrad sah sich im Jänner 1908 veranlaßt, seine Auffassung
über die höheren Personalien der Armee schriftlich niederzu-
legen. Während die Generalskonferenz dieses Jahres tagte, lag
er mit einer Lungenentzündung zu Bett und beauftragte seinen
141
VERJÜNGUNG DER HÖHEREN FÜHRUNG
Stellvertreter, Feldmarschalleutnant Langer, seine Ausführungen
vorzulesen. Conrad trat darin vor allem für eine V er jüngung
der militärischen Führung ein und beantragte die Festsetzung
einer abgestuften Altersgrenze. Eine Reihe hoher Funktio-
näre war zweifellos auch nach Überschreitung der von ihm
vorgeschlagenen Altersgrenze ihrer Aufgabe noch gewachsen;
diese Ausnahmen konnten aber nicht als Gegenargument gelten.
Die Frage der Altersgrenze war heikel, weil der Kaiser im
78. Lebensjahre stand und gewiß noch Anspruch erhob, als
vollwertige Arbeitskraft zu gelten. Dies hielt Conrad jedoch
nicht ab, seine Auffassung unbekümmert um die Meinung der
Konferenzmitglieder zum Ausdruck zu bringen, von denen die
meisten unmittelbar vor oder über der Altersgrenze standen.
Um die Beständigkeit der obersten Kommandostellen bei
Kriegsausbruch zu sichern, sollten die höheren Führer — min-
destens die Korpskommandanten — schon im Frieden jene Ein-
heiten befehligen, die ihnen im Kriege zugedacht waren.
Mit der bloßen Wahl geeigneter Persönlichkeiten war die
Frage der höheren Führung noch nicht abgetan. Es war auch
notwendig, die Einheitlichkeit in der Auffassung operativer und
taktischer Lage sicherzustellen. Conrad sorgte daher für die
häufige Heranziehung der höheren Generale zu den großen
Manövern, zu Instruktionsreisen und Kriegsspielen. Er leitete
alljährlich eine große Generalsreise, für die er persönlich die
Annahme entwarf und die Teilnehmer mit Rücksicht auf ihre
Kriegsdienstbestimmung heranzog. Sein erster Gehilfe war hiebei
der «Chef des Operationsbüros, der ihm auch im Kriege zur Seite
stand und bei den Reisen Gelegenheit fand, die höheren Führer
und ihre Generalstabschefs kennenzulernen.
Conrad stand wieder vor der Aufgabe, auf Grund von Friedens-
übungen Urteile über die Eignung von Führern im Kriege zu
fällen. Er hat reichlich erfahren, daß „Männer, die im Frieden
durch martialisches Gebaren, scharfes Wesen oder gewandten
Redefluß den Ruf besonders tüchtiger Führer erworben hatten,
unter den Eindrücken des Ernstfalles plötzlich überraschend klein
wurden, während manche im Frieden unscheinbare Persönlich-
keiten im Kriege durch Ruhe, Unerschrockenheit und Tapferkeit
hervorleuchteten“.
142
ZU VERTRAUENSVOLL GEGEN MENSCHEN
Conrad kommt auf Grund seiner Kriegserfahrungen zu der Er-
kenntnis, „er sei an die Menschen im allgemeinen von Haus aus
zu vertrauensvoll herangetreten und hätte in ihrer Beurteilung
Fehler begangen“. Er beruft sich dabei auf einen Vorwurf des
Erzherzog-Thronfolgers: „Sie halten jeden Menschen von Haus
aus für einen Engel und werden damit schlechte Erfahrungen
machen.“
Dieser Wandel war die Auswirkung der vielen Enttäuschungen,
die ihm das Alter brachte. Wer Conrads Vertrauen zu allen
Menschen in früheren Jahren gekannt hat, vermag an dieser
Veränderung nur das bittere Leid zu ermessen, das ihn nach den
Erfahrungen des Krieges beherrschte. Er schreibt in seinen
Aufzeichnungen: „Ich muß gestehen, daß ich an der Neige mei-
nes Lebens die Ansicht des Erzherzogs im allgemeinen für die
praktischere erachte.“ Dieser Satz ist der Ausdruck der Ent-
täuschungen, die ihm nicht erspart blieben, als sein Stern zu
sinken begann. Männer, denen er voll vertraut hatte, haben sich
dieses Vertrauens unwürdig erwiesen.
Einfluß mif den Generalstab
Nach Conrads Auffassung sollte ein zahlenmäßig eng begrenztes
Korps die ersten Gehilfen der höchsten Führer stellen, die
leitenden Posten in den Stäben der höheren Kommanden ein-
nehmen, auf die Führung und Ausbildung der Truppen Einfluß
nehmen, die operativen und organisatorischen Arbeiten besorgen,
die konkreten Kriegs Vorbereitungen, die Verfügungen für die
Truppenausbildung bearbeiten und den Dienst als Militär-
attaches versehen. Untergeordnete Tätigkeiten, vor allem rein
manuelle und Manipulationsarbeiten, sollten durch Offiziere des
Truppen-, Armee- oder Ruhestandes verrichtet werden. Als
Conrad die Leitung des Generalstabes übernahm, umfaßte das
Generalstabskorps Offiziere vom Hauptmann bis zum
Obersten, ferner dem Generalstab zugeteilte Offiziere, aus
denen sich das Generalstabskorps ergänzte, und zum General-
stab kommandierte Offiziere, welche die Hilfsdienste ver-
sahen.
Conrad legte besonderen Wert auf eine enge Verbindung des
143
GENERALSTAB UND TRUPPE
Generalstabes mit der Truppe. Durch wiederholte Truppen-
dienstleistungen sollte das Verständnis des Generalstabes für die
Bedürfnisse der Truppe gesteigert werden. Der Generalstab
hätte sich nach seiner Auffassung aus Offizieren zusammensetzen
sollen, die Generalstabsdienst leisteten, und solche, die zum
Truppendienst eingeteilt waren.
Bei den Versuchen, dies durchzusetzen, stieß Conrad auf un-
überwindliche Schwierigkeiten beim Kriegsminister. Die aus-
schließliche Verwendung im Generalstabsdienste ließ sich nicht
mit einem Schlag durchführen. An vielen Zentralstellen und
bei den höheren Kommanden saßen Generalstabsoffiziere auf
Posten, für welche die Generalstabsvorbildung nicht nötig war.
Andererseits fehlten sie an Stellen, wo man ihre Fachausbildung
nicht entbehren konnte. Eine von Conrad dem Direktionsbüro
besonders aufgetragene Aufgabe war es, diese unrationelle Ver-
wendung allmählich auszuschalten.
Auch sollte die „Verjüngung der Führung“ schon beim Ge-
neralstab einsetzen. Nach Conrads Wunsch sollte die Obersten-
charge im Generalstab mit etwa 40 Jahren erreicht werden.
Hiedurch wären die wichtigsten Posten, wie Korpsgeneralstabs-
chef, Abteilungsvorstände in den Ministerien, Chefs der Ge-
neralstabsbüros, von Offizieren in der vollen geistigen Schaffens-
kraft besetzt gewesen.
Es gelang ihm, den Allerhöchsten Kriegsherrn für die Ver-
jüngung des Generalstabes zu gewinnen, hingegen konnte er mit
dem Antrag nicht durchdringen, daß jeder Korpsgeneralstabs-
chef vorher zwei Jahre ein Truppenkommando zu führen habe.
Die steigenden Anforderungen an den Generalstab, als Folge
der zunehmenden Mannigfaltigkeit der Kampfmittel und des er-
weiterten Wirkungskreises bei den höheren Kommanden, der
Zentralstellen und in besonderen Generalstabsverwendungen,
mußten bei der Heranbildung des Nachwuchses berücksichtigt
werden.
Die Heranbildung von Gehilfen für die höhere Führung be-
gann in den Jahren 1811 bis 1813 in der Ära Radetzky. Es
bedurfte weiterer vier Jahrzehnte, bis es 1852 zur Gründung
einer Fachschule für den Generalstab kam.
144
WEISUNGEN AN DEN KRIEGSSCHULKOMMANDANTEN
Die organischen Bestimmungen vom Jahre 1900 setzten den
Zweck der Kriegsschule wie folgt fest: „Sie habe besonders be-
fähigten und vorgebildeten, mit dem Truppendienst vertrauten,
charakterfesten Berufsoffizieren die für die höhere Truppen-
führung erforderliche wissenschaftliche Grundlage zu geben.“
Der Lehrplan war derart festgelegt, daß die Schule „in erster
Linie eine Fachschule für den Generalstab“ sein
sollte. Später folgte eine teilweise Angliederung des höheren
Artillerie- und des höheren Geniekurses. Diese Organisation
sollte der gewünschten gleichmäßigen Vorbildung der Organe
der höheren Stäbe Rechnung tragen.
Die dem System der starken Jahrgänge und Vereinigung aller
Stäbe anhaftenden Mängel veranlaßten Conrad im Jahre 1907
zu einer Reform der Kriegsschule. Sie sollte wieder ausschließ-
lich eine Fachschule für den Generalstab werden. Gleichzeitig
wurde die Ausbildungszeit von zwei auf drei Jahre verlängert.
Die neuen organischen Bestimmungen setzten keine bestimmte
Schülerzahl fest. Sie sollte sich nach dem jeweiligen Bedarf
richten und dem Fortgang im Vorjahr Rechnung tragen. Außer-
dem wurde wieder das 28. Lebensjahr als Höchstalter für den
Eintritt festgesetzt, die Übungsmappierung gestrichen und durch
eine Kroquisreise ersetzt. Erhöhter Wert wurde darauf gelegt,
daß die Kriegsschüler in möglichst enge Fühlung mit allen
Waffengattungen traten. Sie hatten nach dem ersten und zweiten
Jahrgang für mehrere Wochen zu jenen Waffengattungen ein-
zurücken, denen sie nicht entstammten. Nach Schluß des dritten
Jahrganges erfolgte die Einteilung zu höheren Kommanden, die
an den großen Manövern teilnahmen.
Conrad erließ im Jahre 1909 an den Kommandanten der
Kriegsschule, Generalmajor Alfred Krauß, „Direktiven für die
Leitung der Kriegsschule“. Als Grundsatz für die Auswahl galt:
„Die Generalstabsanwärter sollen das Herz am rechten Fleck
haben, sie müssen offene, gerade, biedere, männliche Charak-
tere, keine Augendiener, keine berechnenden Opportunitätsmen-
schen, keine Kriecher und Speichellecker nach oben sein. Sie
müssen den Mut der eigenen Überzeugung haben, aber auch das
soldatische Gefühl, sich dort, wo der Dienst es gebietet, der be-
rufenen höheren Meinung zu unterwerfen und dieser nach besten
10
145
DIE „ERZENGELPRÜFUNG“
Kräften zu dienen, auch dann, wenn sie von der ihrigen ab-
weichen sollte ... Stellenjäger, Streber nach Schein und Äußer-
lichkeiten, Menschen, die mit Neid den Weg ihrer Kameraden
verfolgen, kann ich nicht brauchen“, schrieb Conrad an General
Krauß.
Besonderen Wert legte er wie immer auf physische Leistungs-
fähigkeit und Ausdauer. Die Ausbildung soll „reelle, konkrete
Arbeiter“ erziehen, nicht „Wolkenschieber, Blender, Phrasen-
drescher, aber auch keine Pedanten und Formalisten“. Außer
dem „technischen Wesen“ des Krieges sollte das „psychologische
Moment“ gelehrt werden, das den Führer und Kämpfer als
„Menschen“, aber auch die „Psychologie der Massen“ erfaßt.
Der auf nur wenige Anwärter begrenzte Ausbildungsvorgang
sollte den Nachwuchs für den Generalstab erziehen, während
für den sonstigen Dienst bei den Stäben und Zentralstellen die
„Korpsoffiziersschulen“ hinreichten. Deren Absolventen sollten
sich in kurzen Kursen an der Kriegsschule die für den niederen
Generalstabsdienst nötigen Kenntnisse aneignen und ein Re-
servoir für den erhöhten Bedarf im Kriege bilden.
Durch die Aufstellung vieler höherer Verbände und neuer
Kommandostellen während des Krieges entstand ein erhöhter
Bedarf an Offizieren mit Generalstabsvorbildung. Daher wurde
1917 in Laibach ein Kriegsschulkurs errichtet, der im letzten
Kriegs]ahre nach Belgrad verlegt wurde. Während einer sechs-
bis achtwöchigen theoretischen Lehrzeit erhielten Offiziere, die
sich vor dem Feinde bewährt hatten, eine Unterweisung in ge-
wissen Generalstabsdienstzweigen.
Die Auswahl der für die höchsten Posten im Generalstab
ausersehenen Offiziere erfolgte, außer auf Grund der voran-
gegangenen mehrjährigen theoretischen und praktischen Er-
probungen, durch eine Prüfung. Diese fand vor einer viel-
gliederigen Kommission hoher Offiziere des Generalstabes und
vor Vertretern der Truppe statt. Um keinen befähigten Be-
werber auszuschließen, war es auch Hauptleuten und Rittmeistern
der Truppen freigestellt, sich zu der Stabsoffiziersprüfung im
Generalstabe zu melden, die im Volksmunde die „Erzengel-
prüfung“ hieß.
146
SPEACHKENNTNISSE, SPORTLICHE ‘BETÄTIGUNG
Unter dem Vorgänger Conrads hatten diese Prüfungen nur
theoretisch im Zimmer stattgefunden. Conrad ergänzte das Prü-
fungsprogramm durch eine Übung im Gelände, die eine opera-
tive, eine taktische und eine große Artillerieaufgabe zum Ge-
genstand hatte.
Conrad wollte durch Beibehaltung dieser Prüfung die Gene-
ralstabsoffiziere verhalten, alle Neuerungen auf den verschiede-
nen Gebieten der Kriegswissenschaft zu verfolgen.
Als wichtige Ergänzung der geistigen Fortbildung des General-
stabes sah Conrad die Erweiterung der Sprachkenntnisse an.
Nur wenige konnten sich Reisen in fremde Länder aus eigenen
Mitteln gestatten. Conrad wußte aus Erfahrung, wie sehr Reisen
den Horizont erweitern und welche Vorteile die Beherrschung
mehrerer Sprachen mit sich bringt. Er forderte deshalb gleich
nach der Amtsübernahme 400.000 Kronen als Reisefonds für
Generalstabsoffiziere an. Als ihm dieser verweigert wurde, ver-
stand er es, den Kaiser dafür zu interessieren, der aus eigenen
Mitteln 12.000 Kronen dafür zur Verfügung stellte.
Das Sprachstudium wurde vom Evidenzbüro so geregelt, daß
die Verteilung der zu erlernenden Sprachen auf Grund des Be-
darfes an Fremdsprachkundigen im Generalstab obligatorisch er-
folgte. Für den Nachwuchs an Militärattaches wurden Kriegs-
schüler ausgewählt, die ihrer Individualität nach die Eignung
für diesen Dienst versprachen. Sie wurden zum Studium frem-
der Sprachen durch die Aussicht auf ein Reisestipendium nach
bestandener Sprachprüfung angeeifert.
Neben der intellektuellen Fortbüdung sollte auch der Sport
im Generalstab gefördert werden. Conrad schätzte Reiten und
Bergsteigen als besonders wichtig für den Generalstabsoffizier
ein. Alljährlich mußte von jedem Generalstabsoffizier mindestens
ein mehrtägiger Distanzritt mit Tagesleistungen von sechzig
Kilometer durchgeführt werden. Um den Reitsport zu fördern,
wurde der Beginn der Bürostunden an den Zentralstellen auf
10 Uhr vormittags verlegt. In wiederholten Referaten an den
Allerhöchsten Kriegsherrn hat sich Conrad bemüht, Mittel für
die Beschaffung guter, leistungsfähiger Pferde zu erlangen. Der
10*
147
GENERALSTABSREISEN, KRIEGSSPIELE
junge Generalstabsoffizier war wegen des unzulänglichen Bei-
trages für Anschaffung der Pferde gezwungen, gleich am
ersten Tag seiner Zuteilung zum Generalstab eine Anleihe beim
Pferdefonds aufzunehmen. Zur Förderung des Skisportes be-
standen eigene Generalstabsskikurse.
Die Bemühungen Conrads, die Liebe zum Sport zu heben,
trugen gute Früchte. Trotz der großen dienstlichen Inanspruch-
nahme steigerte sich im Generalstab der sportliche Sinn, wenn
auch wegen der mangelnden Mittel vieles imerfüllt blieb, was
Conrad angestrebt hatte.
Der fachlichen Fortbildung dienten Generalstabsreisen, Kriegs-
spiele, übungsritte und Dienstleistungen bei der Truppe.
Alljährlich fanden mehrere „kleine Generalstabsreisen“ un-
ter Leitung von höheren Offizieren des Generalstabes statt. Der
Chef leitete die „großen Generalstabsreisen“, wobei
eine operative und taktische Aufgabe im Rahmen einer Armee
zur Besprechung kam. Conrad hat auch diese Übungen auf eine
größere Beweglichkeit umgestellt. Das Programm kannte nicht
mehr im voraus bestimmte Nächtigungsstationen.
Die Versammlung der Teilnehmer erfolgte nach Parteien
getrennt in den Räumen ihrer operativen Ausgangssituation. Die
Parteien rückten sich mit Fortschreiten der Operationen auch
mit ihren Quartieren näher. Die Übungsleitung mußte viel unter-
wegs sein, um die Ereignisse an Ort und Stelle zu besprechen,
die Nachrichten im Gelände zu geben. Auch innerhalb der Par-
teien hatten die Unterkommandanten in jenen Räumen zu ver-
bleiben, wo sie sich im Ernstfälle aufhalten würden. Diese der
Kriegslage entsprechende Trennung zwang zu weitgehender Aus-
nützung der Verbindungsmittel. Gewöhnlich waren die Übungs-
teilnehmer beritten, doch mußte auch die Ausnützung der Kraft-
wagen gelernt werden.
Conrad bestand besonders streng auf der gewissenhaften
Durcharbeitung aller in den Pflichtenkreis des Generalstabes
fallenden Tätigkeiten. Neben den operativen und taktischen Ar-
beiten durfte niemals die materielle Versorgung, die Kranken-
und Verwundetenfürsorge, das Nachschub wesen und die Train-
disponierung vernachlässigt werden.
148
DER K. U. K. GENERALSTAB IM KRIEGE
Die Kriegsspiele füllten den Winter aus. Der Chef des
Generalstabes leitete persönlich das „große Generalstabskriegs-
spiel“, das Conrad besonders fesselnd und lehrreich zu gestalten
verstand. Jeder einzelne Zweig des Generalstabsdienstes wurde
bis ins kleinste durchgearbeitet. Ein streng realer Zug ließ nie-
mals das in großen Verhältnissen leicht einreißende „Wolken-
schieben“ aufkommen. Conrad fand in mündlichem Gedanken-
austausch Gelegenheit, seine Auffassung in operativen wie in
Versorgungsfragen zum Gemeingut des Generalstabes zu machen.
So wurde die Einheitlichkeit der Anschauungen begründet, die
eine unerläßliche Bedingung für ein verständnisvolles Zu-
sammenarbeiten der Stäbe im Kriege war.
Bei den Generalstabsreisen und Kriegsspielen wurden hohe
Anforderungen an die Teilnehmer gestellt. Conrad sah in der
Raschheit der Arbeit der Stäbe die Gewähr für die klaglose Ver-
sorgung der Truppen. Ein so gründlich durchgebildeter Befehls-
gebungsapparat war auch den Schwierigkeiten gewachsen, die
der mehrjährige Krieg auf weit voneinander getrennten Kriegs-
schauplätzen geschaffen hat.
Conrad hat die durch seine Ausbildung erreichte rasche An-
passungsfähigkeit an die stets wechselnden Lagen dankbar an-
erkannt. Es kann jeden einstigen Generalstabsoffizier mit Ge-
nugtuung erfüllen, in seinen Aufzeichnungen zu lesen, daß der
Generalstab „durch hervorragende Tüchtigkeit und unverdros-
sene, aufreibende, wenn auch dem Abseitsstehenden fremd ge-
bliebene, daher wenig verstandene und wenig gewürdigte Ar-
beitsleistung dem Stande treue Dienste erwiesen und im vollsten
Maße seine Pflicht getan hat“.
„Wenn schon die klaglose Durchführung der Mobilisierung,
des Aufmarsches sowie der mannigfachen Operationen seitens
bisher nie in gleicher Größe aufgetretener Massenheere, in vier-
jähriger Dauer, auf fünf verschiedenen Kriegsschauplätzen, jedem
vorurteilslosen Verständigen sagen konnte, daß dabei der
Generalstab entsprochen haben muß, so steht ebenso fest, daß
die Offiziere des Generalstabes, sowohl bei temporärer Ein-
teilung zur Truppe als auch im speziellen Generalstabsdienst,
durch Tod und Verwundung bewiesen haben, ihrer Soldaten-
pflicht vollauf nachgekommen zu sein.“
149
ETAPPENWESEN
Dies ist das Urteil des zur Beurteilung der Leistungen des
Generalstabes in erster Linie Berufenen. Im Sinne Conrads er-
zogen, hat der Generalstab in edlem Wettstreit mit allen Teilen
der bewaffneten Macht sein bestes Können und Wollen auf die
Erfüllung seiner mühevollen Pflichten konzentriert. Er kann mit
Recht seinen Anteil an dem Ruhm der österreichisch-ungarischen
Waffen für sich in Anspruch nehmen. Die Anerkennung Con-
rads erhebt die Angehörigen des Generalstabes über das Urteil
der vielen unberufenen Kritiker, die von der verantwortungs-
vollen Tätigkeit des Generalstabes keine Vorstellung haben.
Conrad hat an der bewährten Verteilung der Dienstzweige
innerhalb des Generalstabes nichts geändert. Das Operations-
büro wurde durch Zuteilung von Offizieren der Artillerie und
der Geniewaffe fachmännisch ergänzt Die anderen Generalstabs-
büros wurden dank der ihren Chefs überlassenen Freiheit ent-
sprechend den erweiterten Aufgaben ausgestaltet. Eine wesent-
liche Ergänzung erfuhr das Etappenwesen.
Die intensive Beschäftigung mit den Kriegsvorsorgen führte
zur Erkenntnis der Rückständigkeiten in diesem Dienstzweige.
Es mußte schon im Frieden das für den Kriegsfall errechnete
Material aller Art für die Armee beschafft werden. Die ge-
steigerte Bedeutung der Etappe in einem durch gewaltige Volks-
heere geführten Kriege machte eine eigene Amtsstelle für diesen
Dienst notwendig.
Conrad schuf daher im Jahre 1909 die Stelle eines „Chefs
des Etappenwesens“ und das „Etappenbüro des Generalstabes“.
Diese hatten in engster Zusammenarbeit mit dem Operationsbüro
die auf die Versorgung der Armee bezüglichen Agenden zu be-
arbeiten und durch Reisen und Kriegsspiele das Verständnis für
das Etappenwesen im Generalstab, bei der Intendanz, der Train-
truppe, den Militärärzten, der Verpflegsbranche und den sonst
einschlagenden Dienstzweigen zu fördern und die reibungslose
Zusammenarbeit dieser Organe im Kriege zu gewährleisten.
Die Voraussicht Conrads hat sich außerordentlich bewährt.
Alle Armeen empfanden zu Beginn des Krieges den lähmenden
Munitionsmangel. Conrad hatte im Frieden dem Etappenbüro
die Aufstellung eines Munitionsverbrauchskalküls aufgetragen,
150
VERSORGUNG VON FRONT UND HINTERLAND
das als Grundlage für eine anfangs 1914 vom Kriegsministerium
geforderte radikale Erhöhung der Artilleriemunition diente.
Leider kam es bis zum Kriegsausbruch nicht zu deren vollen
Verwirklichung.
Die Verpflegungsvorsorgen wurden im Frieden nicht allzu
ernst genomm0**- Man rechnete mit einer kurzen Kriegsdauer,
in dem Glauben, aai«) die Staatsfinanzen die Erhaltung der auf-
gebotenen Riesenarmeen nur wenige Monate gestatten würden.
Je mehr sich der Krieg in die Länge zog, um so schwieriger
gestaltete sich, infolge der Absperrung der Mittelmächte, die
Beschaffung der Nahrungsmittel für Armee und Hinterland.
Aus dem Etappenbüro wurde im Krieg die Generalstabsabtei-
lung des Etappenkommandos.
Der Weltkrieg hat das Etappenwesen vor bis dahin ungekannt
hohe Aufgaben gestellt. Die Versorgung von Millionen Streitern
stellte gewaltige Anforderungen an den Nachschub, insbesondere
während des Bewegungskrieges in dem eisenbahn- und straßen-
armen Rußland und Serbien. Als im Stellungskrieg die Nieder-
ringung des Feindes nur durch massenhafte Anhäufung von Ver-
nichtungsmaterial zu erhoffen war, wurde der Nachschub von
noch größerer Bedeutung. So stellte z. B. die Versorgung der
in den klimatisch unwirtlichen, kommunikationsarmen, wenig
besiedelten und ressourcenlosen Karpaten angesammelten
Truppenmassen die Etappe vor schier unüberwindliche Auf-
gaben.
Nicht minder schwierig gestaltete sich die Versorgung in der
wasserlosen Öde des Karsts, im Hochgebirge von Tirol und
Kärnten, in den weglosen, zerklüfteten Bergen Albaniens und
Montenegros und in den weiten, wegarmen, versumpften Land-
strichen Rußlands.
Alle diese Schwierigkeiten hat der Etappendienst schließ-
lich doch überwunden. Durch die Eroberung weiter Landstriche,
die der Versorgung der eigenen Armee nutzbar gemacht werden
sollten, ergaben sich als neuartige Pflichten die militärische und
politische Verwaltung dieser Gebiete, wie Russisch-Polen, Ser-
bien, Montenegro, Rumänien und die Ukraine.
Als die Ernährungssorgen im Hinterland beängstigende
Formen annahmen, ernannte der Kaiser im Februar 1917 den
151
TROST IM BEWUSSTSEIN GETANER PFLICHT
bisherigen Chef der Quartiermeisterabteilung der V. Armee
zum Vorsitzenden des gemeinsamen Ernährungsausschusses.
Seine Aufgabe war es, die Verpflegungsfrage innerhalb der Mon-
archie und bei der Armee im Felde einheitlich zu lösen. Der
aus der Schule Conrads hervorgegangene ehemalige Chef des
Etappenbüros Generalmajor Höf er wurde, als das Vaterland in
Not war, österreichischer Ernährungsminister. In den Quartier-
meisterabteilungen arbeiteten Generalstabsoffiziere mit seltener
Tatkraft, Sachkenntnis und Entschlußfreude für die materielle
Versorgung. Im Herbst 1918 waren bei der Armee im Felde
rund drei Millionen Menschen und eine halbe Million Pferde
zu verpflegen. Die katastrophale Ernährungslage im Hinterlande
zwang zu außergewöhnlichen Maßregeln. Der Generalstab be-
währte sich auch in diesem Dienste für das hungernde Vater-
land durch Tatkraft und Umsicht.
Diese Tätigkeit blieb bei dem allgemein herrschenden Mangel
unbekannt und ohne Dank. Nicht seifen mußte die Verpflegs-
leitung von der unorientierten Masse sogar den Tadel über sich
ergehen lassen, nicht umsichtig genug gehandelt zu haben. Nur
in dem eigenen Bewußtsein lag der Trost der Verantwort-
lichen.
Der Chef des Generalstahes und die Kriegsmarine
Der Chef des Generalstabes führte den Titel „Chef des General-
stabes der gesamten bewaffneten Macht“, wozu auch die Kriegs-
marine gehörte. Die österreichisch-ungarische Kriegsmarine
nahm seit jeher eine Sonderstellung innerhalb der Wehrmacht
ein, die sich auch gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften
ausdrückte. Es bestand zwar kein eigenes Marineministerium,
sondern nur eine dem Kriegministerium angegliederte Marine-
sektion, doch durfte deren Vorstand, der zugleich Marine-
kommandant war, seine Forderungen vor den Delegationen per-
sönlich vertreten. Mit dem Generalstab bestand ein nur loser
Zusammenhang in personellen, technischen und organisatorischen
Belangen, der sich hauptsächlich auf die von der Festungs-
artillerie besetzten Küstenbefestigungen und auf gemeinsame
Übungen von Heer und Flotte beschränkte.
152
AUFGABEN DER K. U. K. FLOTTE
Die Ausgestaltung der Kriegsflotte war eine Lieblingsidee des
Thronfolgers. Conrad verschloß sich nicht der Erkenntnis, daß
die Landesverteidigung durch die Flotte unterstützt werden
könne, er mußte aber angesichts der dringenden Bedürfnisse
der Landarmee auf das Mißverhältnis hinweisen, das zwischen
den budgetären Forderungen für den Schiffsbau und jenen für
den Ausbau der Wehrmacht zu Land bestand. Conrad hat ein-
mal für ein wichtiges Erfordernis des Heeres um die leihweise
Überlassung von 60 Millionen Kronen gebeten, die für einen erst
in Jahren zu erbauenden Dreadnought von den Delegationen
bewilligt worden waren. Dies wurde ihm nicht nur abgeschlagen,
sondern es trug ihm Vorwürfe und Ungnade an hoher Stelle ein.
Trotzdem förderte er stets den Ausbau der Flotte, die in seinem
operativen Kalkül eine nicht unwesentliche Rolle einnahm.
Laut Vereinbarung mit dem Dreibundgenossen sollte sich die
österreichisch-ungarische Flotte im Kriegsfall im Thyrrhenischen
Meer mit der italienischen vereinigen, um unter österreichisch-
ungarischem Oberbefehl im westlichen Mittelmeer zu operieren
und vor allem die französischen Truppentransporte aus Afrika
zu unterbinden.
Niemand glaubte ernstlich an diese Zusammenarbeit. Viel
näher lag die traditionelle, naturgemäße Aufgabe unserer Kriegs-
flotte: der Schutz der Adria und die Sicherung des Seeverkehrs
nach den Häfen Dalmatiens. Für weiter ausgreifende Unter-
nehmungen war sie nicht stark genug. Das große Interesse des
Thronfolgers für die Flotte wirkte sich in der Anforderung ver-
hältnismäßig hoher Beträge für den Bau von Schiffen aus. Die
Beschaffung der Bemannung für die neuen Einheiten bereitete
hingegen Schwierigkeiten, denn sie ging auf Kosten des Heeres-
kontingents.
Dies führte wieder zu Reibungen mit dem Chef des General-
stabes, der unmöglich seine Einwilligung dazu geben konnte, so-
lange das Rekrutenkontingent nicht erhöht wurde. Das Entgegen-
kommen der Delegationen in Flottenangelegenheiten beruhte auf
den wirtschaftlichen Vorteilen für die heimische Industrie. Jede
der beiden Reichshälften wachte eifersüchtig darüber, daß die
Schiffsbauten genau nach der Quote der Beitragsleistung für die
gemeinsamen Angelegenheiten vergeben würden.
153
ZUSAMMENWIRKEN VON HEER UND FLOTTE
Di© drohende Kriegsgefahr veranlaßte Conrad, alle Teile der
Wehrmacht so stark als möglich auszubauen. Er unterstützte
daher, insbesondere in der Audienz vom 25. September 1909,
die Gewährung der für vier neue Dreadnoughts angeforderten
Mittel, die vom Marinekommandanten als unbedingt notwendig
erklärt worden waren. Conrad stellte sogar den Antrag, diese
Schiffe auf Kredit zu bauen, wofür Anbote Vorlagen. Die Schiffs-
werften konnten schlimmstenfalls mit der Aussicht rechnen, nicht
benötigte Schiffe an andere Bewerber zu verkaufen.
Im Rahmen der konkreten Kriegsvorbereitungen im Süden der
Monarchie war der Flotte eine wichtige Rolle zugedacht. Wäh-
rend der Annexionskrise 1908 hatte Conrad nicht nur die Be-
reitstellung der gegen Montenegro bestimmten Eskader, sondern
auch die Mobilisierung der gesamten Flotte gefordert. Er mußte
mit der Möglichkeit rechnen, daß bei einem Konflikt mit Ser-
bien und Montenegro auch Italien sich feindlich gegen die Mon-
archie stellen könnte. Die Gefahr lag nahe, daß die italienische
Flotte durch überraschende Aktionen unsere Mobilisierung stö-
ren und das Einrücken der Ergänzungsmannschaften aus und nach
den südlichen Gebieten verhindern könnte.
Die österreichisch-ungarische Flotte hatte in der Vergangen-
heit stets sehr wirksam an den Kriegshandlungen der Landmacht
teilgenommen. Conrad war 1878 und insbesondere 1882 Zeuge
dieser werktätigen Zusammenarbeit. In der letzten Jahresdenk-
schrift vom Jahre 1913 betonte er ausdrücklich, daß die Kriegs-
marine Landoperationen, insbesondere Truppen Verschiebungen,
wesentlich zu unterstützen vermag, ja sie oft überhaupt erst er-
möglicht. Er sei daher für namhafte Mittel, die dem Ausbau
der Flotte dienen, nur dürfte dies nicht auf Kosten der Land-
macht gehen.
Sehr eingehend befaßte er sich mit der Mitwirkung der Kriegs-
marine an Binnenoperationen. Für die Monarchie bestand die
Notwendigkeit, mächtige Wasserläufe, wie die Donau, die Theiß,
die Save und die Drau, zu überschreiten oder die Feinde daran
zu verhindern. Das Bestehen von Flußflottillen bei den Ufer-
staaten und die Möglichkeit des Eindringens fremder Kriegs-
fahrzeuge donauaufwärts bedingte die Ausgestaltung der k. u. k.
Flußflottille, wofür Conrad wiederholt eintrat.
154
DANK AN UNSERE KRIEGSMARINE
Er hat mit Dank die Mitwirkung der Kriegsmarine wäh-
rend des Weltkrieges anerkannt. Die kühnen Unternehmungen
gegen die Ostküste Italiens, die Mitarbeit bei der Einnahme des
Lovcen, die Unternehmungslust der österreichisch-ungarischen
Unterseeboote, der Schutz des für die Versorgung der Armeen
in Montenegro und Albanien außerordentlich wichtigen See-
weges, schließlich das verständnisvolle und tapfere Verhalten der
Kriegsmarineabteilungen bei den blutigen Abwehrkämpfen der
Isonzoschlaehten reihen sich würdig an die Ruhmestaten unserer
kleinen, aber nie besiegten Flotte.
Ganz besonders wertvoll war das Zusammenwirken der k. u. k.
Donauflottille mit den Landtruppen bei den Operationen gegen
Serbien und Rumänien. Durch kühnen Unternehmungsgeist hat
sie die Truppen zu Land auf das wirksamste unterstützt und
sich der k. u. k. Flotte auf hoher See ebenbürtig erwiesen.
Kriegsvorbereitungen
Die militärischen Friedensvorbereitungen dienten dem Zweck,
eine der Zahl nach möglichst starke, wohlausgerüstete und gut
ausgebildete Wehrmacht zu schaffen. Die allgemeinen
Kriegsvorsorgen waren für alle Kriegsfälle gleich. Sie umfaßten
die Aufbringung der Kämpfer, deren Bekleidung, Ausrüstung
und Bewaffnung, ihre Organisation in höhere Verbände, die Er-
ziehung und Ausbildung, die Pflege von Geist und Disziplin, die
Heranbildung eines tüchtigen Offiziers- und Unteroffizierskorps,
die Sanitätsvorkehrungen, das Train-, Verpflegs- und Nach-
schubwesen, die Pferdebeschaffung, die Ergänzung an Mann und
Material, die Justizpflege, die allgemeinen Verfügungen für die
Mobilisierung und vieles andere. Die konkreten Kriegsvor-
sorgen ergaben sich aus den einzelnen möglichen Kriegsfällen,
für welche die Zahl der bereitzustellenden Streitkräfte, deren be-
sondere Ausrüstung, ihr Aufmarsch auf Grund eines operativen
Planes festzulegen waren. Auf diesem Gebiete ergaben sich die
wichtigsten Aufgaben für den Chef des Generalstabes. Von der
Zweckmäßigkeit und Gründlichkeit dieser Arbeiten hing zumeist
der erste Erfolg im Kriege ab, der entscheidend für den Aus-
gang des Feldzuges werden konnte.
155
KRIEGSVORBEREITUNGEN UND AUSSENPOLITIK
Der Raum gestattet es nicht, auf die Mannigfaltigkeit dieser
Arbeiten näher einzugehen. Es möge die Erklärung eines lang-
jährigen Mitarbeiters Conrads genügen, daß er all sein umfas-
sendes Wissen und Können, seine reiche Erfahrung und sein
reifes Urteil für die Bearbeitung der konkreten Kriegsvorberei-
tungen eingesetzt hat. Die vielen Kriegsschauplätze, mit denen
Österreich-Ungarn zu rechnen hatte, die Vielfalt der feindlichen
Maßnahmen nach Raum, Zeit und Gruppierung ergaben un-
zählige Varianten, die durchkalkuliert werden mußten. Conrads
initiativer Geist stellte stets das eigene Wollen voran und
ließ sich auch in der strategischen Defensive nicht das Gesetz
vom Feind auf zwingen. Jeder Wandel der außenpolitischen Kon-
stellation, die geringste Veränderung im eigenen und im Eisen-
bahnnetz der Nachbarn erforderten Überprüfung, Ergänzung, Ab-
änderung dieses umfangreichen Elaborats, das einem ineinander-
greifenden Räderwerk glich, das Conrad bis in die kleinsten
Einzelheiten beherrschte.
Die Aufmarschkalküle gründeten sich auf die jeweilige außen-
politische Lage. Diese mußte klar vorliegen, ehe an die kon-
kreten Kriegsvorbereitungen geschritten werden konnte. Hier
machte sich die grundsätzlich verschiedene Auffassung zwischen
Conrad und dem Leiter des Außenamtes besonders fühlbar. Der
Chef des Generalstabes konnte es zum Beispiel unmöglich mit
seiner Pflicht vereinen, die Kriegsvorbereitungen auf dem Drei-
bundabkommen mit Italien aufzubauen. Er sah vielmehr in die-
sem Bundesgenossen den gefährlichsten Feind der Monarchie,
der nicht zögern würde, seine Waffen gegen sie zu kehren, falls
es seinem politischen Ziel entsprach.
Den ersten im Herbst 1908 verfaßten konkreten Kriegsvor-
bereitungen hat Conrad folgende außenpolitische Lage zugrunde
gelegt:
Die Bundestreue Deutschlands galt als sicher, die Rumäniens
war zu erhoffen. Während nach Ansicht der Diplomaten von
Italien mindestens eine „wohlwollende Neutralität“ zu erwarten
war, rechnete Conrad mit dessen Gegnerschaft. Ganz außer
Zweifel stand die aggressive, mit allen Mitteln gegen die Mon-
archie arbeitende Feindseligkeit Serbiens und Montenegros, hinter
denen Rußland stand, das sich 1908 von den Folgen des Krieges
156
ALLEINIGE VERANTWORTUNG
gegen Japan militärisch noch nicht ganz erholt hatte. Hieraus
ergaben sich folgende Kriegsmöglichkeiten: Erstens Krieg gegen
Rußland und Serbien-Montenegro, zweitens Krieg gegen Serbien-
Montenegro allein und drittens Krieg gegen Italien und Serbien-
Montenegro zugleich. Unter diesen drei Annahmen wurden die
aufzubietenden Streitkräfte, ihre Kriegsgliederung, die Aufmarsch-
räume und deren Schutz, die Kommandoverhältnisse geregelt und
die Vorsorgen für die materielle Ausrüstung getroffen.
Dringende Vorkehrungen erforderten die Absperrung und Si-
cherung der Grenze, der Schutz der Eisenbahnen und wichtigen
Objekte, die Verhinderung des feindlichen und die Einleitung
des eigenen Kundschafterdienstes. Diese Vorsorgen, unter dem
Begriff „A1 a r m“ zusammengefaßt, mußten binnen wenigen
Stunden durchführbar sein, was wieder eine erhöhte Marsch-
bereitschaft der nahe den Grenzen garnisonierenden Truppen
bedingte. Diese hatten im Verein mit der Gendarmerie und
Finanzwache den Grenzschutz zu besorgen. Für alle diese For-
mationen lagen bei den Korps- und Grenzabschnittskomman-
danten bis in die letzten Einzelheiten ausgearbeitete Instruk-
tionen bereit.
Um vollkommen unbeeinflußt zu sein, legte Conrad die Richt-
linien für diese Arbeiten ohne Rücksicht auf bestandene Elabo-
rate persönlich fest. Er wollte die Verantwortung allein tra-
gen, von der Auffassung ausgehend, daß der zur Leitung der
Operationen im Kriege Berufene nur dann konsequent handeln
könne, „wenn alles Verfügte mit seiner Überzeugung, seinem
Gedankengang, seinem Charakter und seinem Wesen im Ein-
klang stand“.
Für die konkreten Kriegsvorbereitungen gegen Rußland war
das Einvernehmen mit dem deutschen Generalstab notwendig,
das in der Form eines persönlichen Schriftenwechsels zwischen
den beiden Chefs gepflogen wurde. Die übrigen Kriegsvorsor-
gen wurden grundsätzlich jedes Jahr, mit Berücksichtigung der
Veränderungen im eigenen und feindlichen Heerwesen sowie
der Entwicklung der Eisenbahnen, überprüft und ergänzt. Der
Allerhöchste Kriegsherr ließ sich darüber eingehend unterrichten
und folgte den Ausführungen des Chefs des Generalstabes mit
ungeteiltem Interesse. Trotz der abweichenden Einstellung zur
157
POLITIK MIT WEITGESTECKTEN ZIELEN
Außenpolitik war der Kaiser ein warmer Förderer der Anträge
Conrads, weil er sich überzeugen konnte, daß die Kriegsvor-
sorgen auf der soliden Grundlage verantwortungsbewußter Ge-
dankenarbeit fußten. Wenn es sich trotzdem ereignete, daß Con-
rads Anträge vom Außenminister hintertrieben wurden — be-
sonders bei Forderungen, Truppenkörper näher an die Grenzen
zu verlegen —, so lag dies in der grundsätzlichen Abneigung
des Monarchen gegen jeden Akt, der als friedenstörend ange-
sehen werden konnte. Aus diesen Anlässen gab es unausgesetzt
Meinungsverschiedenheiten. Conrad bemühte sich, den Kaiser
zu überzeugen, daß die bewaffnete Macht aufgerufen würde,
wenn die Diplomatie mit ihrem Latein fertig ist. Dann müsse
plötzlich militärisch alles klappen.
Im auswärtigen Dienst war man nicht unterrichtet, welch müh-
selige, zeitraubende Arbeit in den konkreten Kriegsvorbereitun-
gen lag, die sich nicht im letzten Augenblick improvisieren ließen.
Conrad vertrat die Auffassung, der Minister des Äußeren habe
die Pflicht, sich durch den Chef des Generalstabes über das
Maß der militärischen Kraft des Staates unterrichten zu lassen,
und habe die äußere Politik im engsten Einvernehmen mit ihm
zu führen. Der Leiter der Außenpolitik habe sich vor Augen
zu halten, daß die Kriegsvorsorgen für Massenheere sehr viel
Zeit erfordern, „daher nicht sprunghaft gewechselt werden kön-
nen ... Dies machte eine Politik mit weitgesteckten, klaren
und konsequent verfolgten Zielen notwendig“.
Die letzten konkreten Kriegsvorbereitungen des Jahres 1913
rechneten mit Rußland als Hauptgegner. Das Zarenreich hatte
sich von den Folgen des Russisch-Japanischen Krieges erholt und
war durch den französischen Milliardenkredit militärisch we-
sentlich erstarkt. Rumänien, auf dessen Hilfe die Mittelmächte
gerechnet hatten, war auf dem Weg, ins feindliche Lager über-
zugehen. Eine vom Evidenzbüro verfaßte Übersicht der Kräfte-
verhältnisse auf Grund der geplanten Heeresvermehrung bei den
Gegnern zeigte die Verschlechterung der militärischen Lage der
Mittelmächte.
Conrad suchte in der Aufstellung einer „Reservearmee“
das Mittel zur Erhöhung der Kampfkraft Österreich-Ungarns.
158
KOSTBARE ZEIT VERSÄUMT
Das Menschenmaterial war durch die Erhöhung des Rekruten-
kontingents vorhanden. Es kam nur auf die Bewilligung der
Kredite für deren Ausrüstung und Erhaltung an. Nach Conrads
Berechnung wäre es möglich gewesen, eine Reservearmee von
450.000 vollständig ausgebildeten, im besten Alter stehenden
Soldaten aufzustellen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese
Macht im Entscheidungskampfe ein ausschlaggebender Faktor
werden konnte. Die Kosten hiefür hätten sich nicht höher
gestellt als die bewilligten Mittel für drei moderne Großkampf-
schiffe.
Der Kriegsminister, Feldzeugmeister Ritter von Krobatin, ließ
den Antrag des Chefs des Generalstabes einer genauen Prüfung
unterziehen. Die Mobilisierungsabteilung stellte fest, daß in ein-
zelnen Korps schon jetzt Standesüberschüsse bestanden, und be-
richtete, daß einem raschen Ausbau der Reservearmee keine
Hindernisse entgegenstünden. Die beiden Landesverteidigungs-
minister waren für den Plan gewonnen.
Conrad sah fortan in der Reservearmee die Rettung der müi-
tärischen Lage und hoffte, daß der Monarchie die Spanne Zeit
noch vergönnt sein werde, diesen Aufbau zu vollenden. Diese
Hoffnung sollte sich nicht erfüllen, es war durch die Widerstände
zuviel kostbare Zeit versäumt worden.
Befestigungen. Die Rolle von Przemysl im Kriege.
Es lag in Conrads Natur, alle strategischen und taktischen
Aufgaben offensiv lösen zu wollen, auch die Verteidigung war
aktiv zu führen. Befestigungen sollten in erster Linie die per-
sonellen Kampfmittel schonen, um sie für entscheidende Aktionen
verfügbar zu halten. Die von Feinden eingekreiste Monarchie
bedurfte vieler Befestigungen, um an den Offensivfronten mög-
lichst stark auftreten zu können.
In diesem Sinn stellte Conrad bald nach seinem Amtsantritt
ein Reichs-Befestigungsprogramm auf. Sein höchstes Interesse
galt der italienischen Front. Sollte es zum Krieg mit Italien
kommen, so beabsichtigte Conrad eine überraschende Offensive
in der venetianischen Ebene. Hiefür war die Festhaltung von
159
PLÄNE DER EEICHSBEFE8TI6UNG
Tirol eine wesentliche Bedingung, bis sich bei Fortgang der Ope-
rationen auch an dieser Front die Gelegenheit ergab, etwa aus
der Richtung über die Sieben Gemeinden gegen die Ebene vor-
zustoßen. Die Befestigung von Tirol war ebenso wichtig für die
Verteidigung Tirols wie als Basis für den später geplanten Offen-
sivstoß. Im Zusammenhang mit den operativen Plänen gegen
Italien stand Conrads Antrag auf die Befestigung von Triest und
einiger Punkte an der dalmatinischen Küste zum Schutz gegen
italienische Landungsversuche.
Zum Schutz gegen Serbien-Montenegro beantragte Conrad eine
großzügige Grenzbefestigung in Bosnien, der Herzegowina und
Süddalmatien, um sich die Operationsfreiheit für die mobilen
Kräfte zu sichern.
Eine Befestigung an der russischen Front hätte infolge Fehlens
natürlicher Abschnitte ein kostspieliges System zusammenhän-
gender Anlagen erfordert. Die hiefür notwendigen Mittel waren
zweckmäßiger zur Ausgestaltung der Armee für eine offen-
sive Kriegsführung auszunützen. Conrad begnügte sich daher
mit der Erhaltung der vorhandenen Lagerfestungen, die immer-
hin noch einigen Wert besaßen. Ansonsten sollte sich die Be-
festigung dieser Front auf feldmäßige Anlagen beschränken.
Für Lemberg, das als Depotpunkt bestimmt war, beantragte er
einen starken feldmäßigen Schutz mit vorgeschobenen Artillerie-
werken.
Im Juli 1909 beantragte Conrad als Ergänzung der San-
Dnjestr-Linie den Ausbau von Sieniawa und Jaroslau und von
Mikolajöw und Halicz als Offensivbrückenköpfe am San und
Dnjestr. In den konkreten Kriegsvorbereitungen für 1912/13
waren fünf Infanterie- und acht Kavalleriedivisionen dazu be-
stimmt, in Anlehnung an die Gürtelfestungen Krakau, Przemysl
und an die San-Dnjestr-Linie die eindringenden Russen durch
Offensivoperationen aus den Brückenköpfen aufzuhalten.
Die Befestigung der Karpaten — eine Frage, die bis in das
Jahr 1810 zurückreicht — hat Conrad nie beabsichtigt, weil
die 560 Kilometer lange Strecke vom Jablunka- bis zum Prislop-
sattel — mit Ausnahme des Tatramassivs — keinen Hindernis-
charakter trug und die dort errichteten Befestigungen verhältnis-
mäßig leicht umgangen werden konnten.
160
KEINE GELDMITTEL HIEFÜR
Die Südostgrenze der Monarchie blieb unbefestigt, weil das
Bündnis mit Rumänien eine gewisse Sicherheit bot. Erst als
sich das Verhalten Rumäniens nach dem zweiten Balkankrieg
immer offener in Feindschaft verwandelte, mußte Conrad auch
die Befestigung von Siebenbürgen beantragen.
Alle diese großzügigen Pläne scheiterten an den nicht zu er-
langenden Geldmitteln. Conrad stand vor unüberbrückbaren
Schwierigkeiten, mußte aber zu gleicher Zeit mit steigender Be-
sorgnis verfolgen, wie systematisch Italien den Ausbau seiner
Befestigungen betrieb. Während im Budget des k. u. k. Heeres
in den Jahren bis 1910 jährlich 3*65 Millionen und erst 1911
6 Millionen Kronen für Befestigungszwecke der ganzen Monarchie
ausgeworfen waren, hatte das italienische Parlament in der Zeit
von 1907 bis 1909 außer einem Ordinarium von 28 Millionen
Lire ein Extraordinarium von 186 Millionen bewilligt — aus-
schließlich zu Befestigungsbauten gegen Österreich-Ungarn. Mit
den verschwindend kleinen Mitteln, die Conrad zur Verfügung
standen, konnte kaum an den Neubau einzelner moderner Werke
an den wichtigsten Punkten im Gebirge und an der Küste ge-
dacht werden.
Sehr empfindlich machte sich bei den Befestigungen das rück-
ständige Verteidigungs-Artilleriematerial fühlbar. Viele Werke,
selbst an den wichtigsten Punkten, besaßen als Hauptgeschütz
noch die eiserne Kanone Muster 61 mit einer Tragweite von
2000 Meter. Wenn es mit der Zeit gelang, Mittel für die Mo-
dernisierung der schweren Artillerie zu erlangen, so mußten
diese vor allem für das Feldheer verwendet werden.
Conrad kämpfte mit größter Zähigkeit für den Ausbau der
Reichsbefestigung und rief wiederholt die Vermittlung des Kai-
sers an; der Erfolg blieb ihm aber auch hier versagt. Als Italien
Österreich-Ungarn den Krieg erklärte, war im Raume von der
Valsugana bis zum Gardasee kaum ein Drittel der Bauten fertig,
die Conrad gefordert hatte. Gestützt auf die Befestigungen von
Lavarone und Folgaria gelang die Offensive 1916 mit überraschen-
dem Erfolg, während durch das Fehlen der von Conrad be-
antragten Werke beiderseits der Valarsa die Offensive ins Stocken
geriet. „So rächten sich Friedensversäumnisse auf dem Schlacht-
feld!“ klagt der FeldmarschalL
11
161
ANZIEHUNGSKRAFT DER FESTUNGEN
Bezüglich der doch so notwendigen Grenzbefestigungen gegen
Italien hatte Conrad auch mit Schwierigkeiten von seiten des
Thronfolgers zu kämpfen, der bei aller militärischen Begabung
wegen mangelnder Fachausbildung die Wechselwirkung zwischen
strategischen Operationen und Befestigungsanlagen nicht voll
übersah. Erst als es Conrad gelang, ihn an Ort und Stelle von
dem Wert der Gebirgsbefestigungen zu überzeugen, wurde auch
er ein warmer Förderer der Pläne Conrads — leider zu spät
Hieher gehört auch der Zwiespalt, der sich zwischen der Ein-
stellung Conrads zu Festungen im allgemeinen und der Rolle er-
gab, die Przemysl im Kriege tatsächlich gespielt hat.
Conrad hatte der Erhaltung der Lagerfestungen Krakau und
Przemysl zugestimmt, obwohl er sich klar war, daß sie an Wert
wesentlich eingebüßt hatten. „Sind sie (die Lagerfestungen) aber
einmal geschaffen, so verleitet dies nur zu sehr dazu, sie immer
wieder zu ergänzen, auch wenn sie ihrer Lage nach ihrem
Zwecke nicht mehr zu dienen vermögen. Dies war auf dem
galizischen Kriegsschauplätze mit Przemysl der Fall“, lautete
seine Auffassung.
Die Festung lag nach dem Aufmarschplan Conrads im Rücken
der Armeen; sie diente somit nicht der Sicherung des Aufmar-
sches und hätte auch eine offene Stadt sein können. Ihre Rolle
konnte erst beginnen, wenn die Feldarmeen zum Rückzug ge-
nötigt waren. Sie wurde nur erhalten und ausgestaltet, weil sie
schon als Lagerfestung bestand und als gesicherter Depotpunkt
bei einem möglichen Rückzug von Wert werden konnte.
Conrad war als Leutnant eigens nach Olmütz gereist, um diese
vielgerühmte Lagerfestung zu besehen, die im Jahre 1866 wider
Erwarten gar keine Rolle gespielt hatte, weil sie die siegreichen
Preußen auf ihrem Vormarsch nach Wien links liegengelassen
hatten. Damals schon bildete sich Conrad ein Urteil über den
Wert von Befestigungen im offenen Gelände und verwies in der
Folge als Lehrer der Kriegsschule auf die gefährliche Anziehungs-
kraft von befestigten Plätzen auf Freund und Feind. Anläßlich
der Besprechungen des Deutsch-Französischen Krieges 1870 ver-
trat er den Standpunkt, daß es niemals zur Kapitulation zweier
großer französischer Armeen gekommen wäre, wenn die Festun-
162
SOLLTE PRZEMY&L GERÄUMT WERDEN?
gen Metz und Sedan nicht bestanden hätten. Und doch konnte
auch er sich von der Anziehungskraft solcher Festungen nicht
ganz freimachen.
Der Rückblick ist lehrreich, welches Personal und Material
die Instandsetzung von Przemysl bei der Mobilisierung bean-
sprucht hat. Die Arbeiten begannen am 1. August 1914. Inner-
halb von sechs Wochen wurden die bestehenden 34 Gürtel- und
28 Noyauwerke sowie die Zwischenbatterien sturmfrei gemacht,
was die Demolierung und Niederbrennung von 21 Ortschaften
und rund 1000 Hektar Wald bedingte. Der Gürtel wurde durch
den Bau von 7 neuen Zwischenwerken und 24 granatsicheren
Stützpunkten ergänzt und in den Intervallen etwa 50 Küometer
Infanteriedeckungen und beiläufig 200 Batterien erbaut. Vor dem
Gürtel wurden eine Million Quadratmeter Drahthindernisse und
zahlreiche Minenfelder angelegt. Bis Mitte September 1914, als
die Lemberger Schlacht schon verloren war, standen 400 Offi-
ziere und Gagisten, 25.000 Mann und 3000 Pferde im Dienste
der Ausrüstungsarbeiten von Przemysl. Die Armierung bestand
aus 956 Geschützen, die Sicherheitsbesatzung aus 22 Landsturm-
bataillonen. Als mobile Kräfte standen in der Festung bei der
ersten Einschließung Ende September 1914 eine Honvedinfan-
teriedivision und 4 Landsturminfanteriebrigaden, rund 65 Batail-
lone, 7 Eskadronen, 4 Feldkanonenbatterien, weiters 43 Festungs-
artilleriekompanien, 48 Landsturmarbeiterabteilungen, 8 Sap-
peurkompanien und 70 Militärarbeiterabteilungen.
Es ist nicht zu leugnen, daß nach dem unglücklichen Ausgang
der Schlacht von Lemberg die stark hergenommenen Truppen
der 4. und 3. Armee an der befestigten San-Linie und an Prze-
mysl eine Stütze fanden und daß es an dieser Linie gelang, sich
vom Feinde loszulösen und die Verbände wieder zu ordnen.
Przemysl, das von den folgenden Russen gänzlich eingeschlossen
wurde, hemmte zweifellos auch deren Vorgehen gegen Westen
und förderte dadurch die Retablierung der österreichisch-unga-
rischen Kräfte an der Biala und am Dunajec — aber nur,
weil die Festung auch auf die Russen eine Anziehungskraft
ausübte, die ihr nicht zukam. Im weiteren Verlauf der Ereignisse
schlug die Besatzung in der Zeit bis zum 8. Oktober 1914 den
gewaltsamen Angriff von siebeneinhalb russischen Divisionen
11*
163
WAS FÜR PRZEMYSL AUFGEWENDET WURDE
ab, bis es gelang, die Festung zu entsetzen. Bis zum 5. Novem-
ber 1914 war Przemysl ein wichtiger Stützpunkt in der Kampf-
front. Die allgemeine Lage zwang aber wieder zum Loslösen
vom Feinde, und Przemysl war nun vom 8. November an end-
gültig eingeschlossen.
Wiederholt wurde die Frage besprochen, ob der Zeitpunkt des
allgemeinen Rückzuges nicht auch der richtige Augenblick für
die Räumung der Festung gewesen wäre. Es waren vor allem
Prestigegründe, welche die sachlichen zurückdrängten. Außerdem
bestand eine schwache Hoffnung, daß ein Entsatz wieder gelingen
könnte, obzwar die Abgabe von beträchtlichen VerpflegsVorräten
an die Feldarmee die Widerstandskraft der Besatzung wesentlich
verringert hatte. Schließlich konnte man mit Rücksicht auf das
bisherige Verhalten der Russen erwarten, daß die Festung auch
weiterhin namhafte feindliche Kräfte binden würde.
Dies traf auch zu. Die Anziehungskraft von Przemysl ver-
lor ihre Wirkung nicht. Auch für die Russen war der Besitz der
Festung zur Prestigefrage geworden. So verbluteten vor den
heldenmütigen Verteidigern die besten Kerntruppen Rußlands.
Erst als durch die gewaltigen Verluste die Aussichtslosigkeit
einer Erstürmung erkannt wurde, begnügten sich die Russen mit
der Zernierung und brachten Przemysl durch Hunger zu Fall.
Die Frage bleibt offen, ob die in der Festung verbliebenen
mobilen Kräfte anderwärts eine bessere Verwertung gefunden
hätten. Conrad als Meister in der Vervielfältigung der Kräfte
durch rasche Manöver hätte für die 65 Bataillone — unter denen
sich allerdings viel Landsturm befand — in den oft wechselvollen
Lagen gewiß eine operative Verwendung gefunden. Vom psycho-
logischen Standpunkt bleibt es aber interessant, daß auch seine
Kriegführung vom 8. November an sich nicht von der An-
ziehungskraft der „Festung“ befreien konnte. Die Dezember-
offensive der 3. Armee verfolgte als Nebenzweck die „Befreiung
von Przemysl“, und die opfervollen Kämpfe vom Jänner bis
März 1915 standen im Zeichen des Entsatzes der schwer be-
drängten Festung.
Wie die Dinge lagen, haben sich die eingeschlossenen Batail-
lone in der Verteidigung außerordentlich verwertet, weü die
Russen hartnäckig auf der Einnahme der Festung bestanden.
164
DIE HELDEN VON PRZEMYÖL
Der österreichisch-ungarischen Wehrmacht war dadurch Gelegen-
heit geboten, ihre Geschichte um ein unvergängliches Ruhmes-
blatt zu mehren. Die von Entbehrungen schwerster Art heim-
gesuchte Besatzung erwies nach nahezu fünfmonatigem Wider-
stand noch einmal drei Tage vor der Kapitulation ihren Helden-
mut in einem aussichtslosen Ausfall. Schließlich überließen die
Helden von Przemysl dem Feind nur einen rauchenden Trüm-
merhaufen. Nach dem Fall der Festung wurden erst die durch
die Reserveformationen verstärkten zwei russischen Korps frei,
die Monate hindurch vor der Festung gefesselt gewesen waren.
Verkehrsmittel
Conrad, der bei allen strategischen Erwägungen mit einer
großen Beweglichkeit rechnete, wendete den Verkehrsmitteln ein
besonderes Augenmerk zu. Die Eisenbahnen wurden für die
Mobilisierung und den Aufmarsch in vorbildlicher Weise aus-
genützt. Conrad bewies aber auch während des Krieges, wie er
sich ihrer zur Beförderung großer Heereskörper für operative
Zwecke zu bedienen verstand.
Die Straßen hatten seit der Verwendung von Kraftfahrzeugen
zum Personenverkehr und zum Lastentransport an Bedeutung
gewonnen.
Schließlich kamen in Österreich-Ungarn auch die großen
Wasserwege, die Donau, Theiß, Save, Drau und Weichsel, in
Betracht. Conrad verfolgte den Ausbau der Verkehrsmittel wach-
samen Auges und verabsäumte nie, seinen Einfluß geltend zu
machen, wenn militärische Interessen auf dem Spiele standen.
Seine Anträge scheiterten auch da vielfach an den mangelnden
Geldmitteln wie an der dualistischen Staatsform, weil jede In-
vestition aus gemeinsamen Mitteln in der einen Reichshälfte Wi-
derspruch in der anderen auslöste. Es lag zum Großteil in den geo-
graphischen Verhältnissen, daß das Eisenbahnnetz Österreich-Un-
garns schwach entwickelt war. Viele Linien waren eingeleisig, oft
schränkten die Qualität des Unterbaues und die unzureichenden
Ein- und Auswaggonierungsverhältnisse die militärische Lei-
stungsfähigkeit wesentlich ein. Es mangelte auch an Betriebs-
material, vor allem an Lokomotiven, insbesondere an solchen für
165
UNZULÄNGLICHKEIT DER VERKEHRSMITTEL
die Gebirgsbahnen. Auch die Sicherung der für den Kriegsfall
nötigen Kohle bereitete Schwierigkeiten, und im Karst mußte
für den Wasserbedarf besonders vorgesorgt werden.
Dem Vorgänger Conrads war es gelungen, den Bau der Kar-
patenbahnen, die nahezu ausschließlich militärischen Interessen
dienten, durchzusetzen. Gegen Italien führten nur wenige, durch
die Feindnähe bedrohte Aufmarschbahnen mit geringer Lei-
stungsfähigkeit. Conrad beleuchtete diese Mängel in Studien und
Referaten und wies auf die weit günstigeren Verhältnisse auf
Feindesseite hin. Alle Bemühungen, das Eisenbahnnetz vom mili-
tärischen Gesichtspunkt aus auszubauen, scheiterten an den be-
reits sattsam bekannten Widerständen.
Die Unzulänglichkeit des gegen Serbien führenden Eisenbahn-
netzes hatte sich schon während des Annexionskrieges erwiesen.
Nahezu alle Strecken in Bosnien waren schmalspurig. Dalmatien
hatte überhaupt keine durchlaufende Eisenbahnverbindung. Nach
der unteren Drina führte kein Geleise, nach Slawonien nur eine
eingeleisige Bahn; auf der aus dem Norden kommenden Strecke
fehlte eine Brücke über die Donau; es war nur ein Trajekt vor-
handen.
Diese Daten zeigen, wie vieles mangelte, um die Mobilisierung
und den Aufmarsch zu bewältigen. Das Straßennetz in den Grenz-
gebieten Tirols, gegen Rußland und Serbien war lückenhaft und
qualitativ minderwertig.
Conrad betrieb in vielen Anträgen die dringendsten Bauten
sowie die Ausgestaltung des Telegraphen- und Telephonnetzes
und der Radio-Telegraphie.
Er hatte sich auch schon mit der Frage der Elektrifizierung
der Eisenbahnen befaßt und stand, diesbezüglich mit General
von Moltke im Gedankenaustausch, der von seinen Referenten
dahin beraten war, daß dieser Fortschritt militärisch noch nicht
spruchreif sei.
Der Kundschafter dienst. Chiffernwesen
Die österreichisch-ungarische Monarchie hatte infolge ihrer
nationalen Zusammensetzung unter der feindlichen Spionage
mehr zu leiden als irgendein anderer Staat. Das in der Habs-
166
NATIONALE PROPAGANDA UND AUSSPÄHUNG
burger-Monarchie vereinte Völkergemisch wurde zum Ziel poli-
tischer Agitation, als der Zusammenschluß von Menschen glei-
cher Nation und Religion zum politischen Programm der Nach-
barn geworden war. Jeder Bewohner Österreich-Ungarns mußte
im Interesse des Gesamtstaates Opfer in nationaler Beziehung
bringen und fühlte sich dadurch verkürzt. Dies schuf einen
fruchtbaren Boden für die Propaganda, die auf Lostrennung der
„noch unbefreiten“ Gebiete hinarbeitete. So kam es, daß die
Habsburgermonarchie, wollte sie nicht freiwillig zerfallen, ge-
zwungen war, einen ständigen Abwehrkampf gegen innere und
äußere Feinde zu führen.
Der feindlichen Spionage ergaben sich reiche Ziele: die
nationale Propaganda, die auf die Auflösung des Reiches
hinarbeitete, und die militärische Ausspähung für den
Fall einer Abrechnung mit der Monarchie durch Waffengewalt.
Die fortschreitende Einkreisung forderte einen regen offen-
siven Kundschafterdienst gegen die vielen voraussichtlichen
Feinde, die Sicherheit des Staates hingegen einen womöglich
noch regeren defensiven Kundschafterdienst zur Abwehr
der zersetzenden nationalen Einflüsse und der in ihr eine Stütze
findenden feindlichen Spionage. Diese aufreibende Doppelarbeit
stellte Anforderungen an die Kundschaftsgruppe des Evidenz-
büros, wie sie kaum einem anderen Generalstab aufgebürdet
waren.
Die Skizze Nr. 1 auf der nächsten Seite zeigt die Ziele der
feindlichen Spionage und die Einkreisung der loyalen Elemente
der Donaumonarchie durch die nach außen gravitierenden Natio-
nalitäten.
Die nationale Propaganda hat sich im Kriege sehr folgen-
schwer ausgewirkt. Zu Beginn des großen Ringens, als noch das
aktive Berufsoffizierskorps mit den Präsenzständen und jungen
Reservejahrgängen an der Front stand, bot die alteingelebte
Disziplin einen Rückhalt gegen die zersetzende Wühlarbeit. Alle
Truppenkörper der vielsprachigen Monarchie haben sich in alt-
bewährter Treue für das angestammte Kaiserhaus geschlagen.
Als aber nach den ersten verlustreichen Schlachten der Rasen
die Blüte des Offizierskorps deckte, ein Großteil verwundet in
den Spitälern lag und minder ausgebildete Ersätze die breiten
167
TREUE DER SUDSLAWEN
Lücken füllten, traten Erscheinungen auf, die den Einfluß der
jahrelangen Agitation erkennen ließen. Tschechische Soldaten
stellten gegen Ende des Krieges das Hauptkontingent der ver-
schiedenen Legionen, die sich aus Deserteuren und Gefangenen
im Auslande gebildet haben. Dieselben Menschen, die sich nicht
scheuten, ohne Schuß zum Feinde überzulaufen, wurden aus
nationaler Begeisterung zu Helden.
Die Italiener verwendeten die tschechischen Legionäre mit
Vorliebe, um die gegenüberliegenden österreichisch-ungarischen
Soldaten slawischer Nationalität zum überlaufen zu bewegen.
Sie sprachen in ihrer Muttersprache zu ihnen, sangen nachts
slawische Lieder, stellten ihnen Brot, Zigaretten, Erlösung vom
Kriege und allerlei materielle Vorteile in Aussicht, wodurch
diese fanatischen Nationalisten zu gefährlicheren Gegnern wur-
den als die feindlichen Soldaten. Die tschechische Propaganda
brachte es zuwege, daß Truppenkörper, die auf eine mehr als
zweihundertjährige stolze Vergangenheit zurückblicken konnten,
ihren Fahneneid vergaßen und die widerstandslose Gefangen-
nahme einem ehrlichen Kampfe vorzogen. Die von Frankreich
systematisch in Szene gesetzte Wühlarbeit unter den Tschechen,
die dem Ehrgeiz der führenden Nationalisten zu schmeicheln
verstand, erwies sich sehr wirksam. Schon zur Zeit der An-
nexionskrise hatten sich Gehorsamsverweigerungen tschechischer
Soldaten bei der Mobilisierung ereignet. Seither steigerte sich
der Einfluß der Agitation trotz aller Warnungen von militä-
rischer Seite infolge der Schwäche der Regierung. Die Folge
war, daß im Kriege geschlossene Abteilungen tschechischer Sol-
daten zum Feinde übergingen.
Sehr widerstandsfähig gegen nationale Propaganda haben sich
hingegen die Südslawen Österreich-Ungarns gezeigt. In den
ersten Schlachten gegen Serbien fochten kroatische Regimenter
mit großer Tapferkeit und ehrlicher Erbitterung gegen ihre
Konnationalen. Kroaten, Dalmatiner und Slowenen standen auf
dem italienischen Kriegsschauplatz noch in den letzten Phasen
des Krieges in unerschütterlicher Treue zu ihren Fahnen.
Die UnVerläßlichkeit der österreichischen Soldaten italienischer
Nationalität hatte zur Folge, daß man sie von der italienischen
Front fernhielt. Beim Abgang österreichisch-ungarischer Divi-
169
CONRAD ÜBER DEN KÜNDSCHAFTSDIENST
sionen vom russischen auf den italienischen Kriegsschauplatz
wurden die Italiener ausgeschieden und auf die zurückbleiben-
den Truppen aufgeteilt. Die Erfahrungen mit diesen Leuten, die
unter anderssprachigen Kameraden ein wenig beneidenswertes
Leben führten, hatten mich veranlaßt, den Antrag auf Zusam-
menfassung der Italiener in eigene Abteilungen zu stellen, deren
Offiziere die Sprache der Mannschaft beherrschten und Ver-
ständnis für ihre Lage aufbrachten. Das Armee-Oberkommando
gab diesem Antrag Folge. Das im Rahmen der 46. Schützen-
division aufgestellte „Südwest-Bataillon“ hat seine Pflicht erfüllt
und keinen Anlaß zur Klage gegeben.
Diese kurz angedeuteten Zusammenhänge zwischen der natio-
nalen Propaganda und ihrer Auswirkung im Kriege sollte be-
leuchten, mit welchen Schwierigkeiten der defensive Kund-
schaftsdienst als Propaganda-Abwehrorganisation, aber auch die
gesamte Wehrmacht in disziplinärer Beziehung zu kämpfen hatte.
Daraus ergaben sich ungleich höhere Anforderungen an unser
Offizierskorps.
Die feindliche Ausspähung stand im Dienste der außenpoliti-
schen Absichten der betreffenden Staaten. Sie fügte sich orga-
nisch in das System der politischen und militärischen Einkrei-
sung der Mittelmächte, die der europäischen Außenpolitik der
Vorkriegsjahre den Stempel aufdrückte.
Conrad hat den Wert des Kundschaftsdienstes sehr wohl er-
kannt. Er schreibt darüber: „Gleich bei meiner Ernennung zum
Chef des Generalstabes wendete ich diesem Dienst meine Auf-
merksamkeit zu. Ich erkannte bald, daß die hiefür ausgewor-
fenen Geldmittel auch nicht im entferntesten genügten, diesen
so wichtigen Dienst in großzügiger Weise einzurichten... Nicht
nur, daß die als Gegner in Betracht kommenden Staaten im
Gegensatz hiezu ganz enorme Beträge dem Spionagedienste wid-
meten, hatten einige derselben, vor allem Rußland, auch ihre
Militärattaches mit diesem Dienste betraut.“
„Es erschien sehr wichtig, die erforderlichen Informationen
nicht nur durch den Konfidentendienst, sondern auch durch
Reisen von Offizieren in geheimer Mission zu ergänzen. Offiziere
zu entsenden, war auch schon deshalb geboten, weil es den mei-
sten Konfidenten an richtigem Blick und Verständnis fehlte, wie
170
MILITÄRISCH „BLIND“
solche nur von einem Fachmann erwartet werden können. Dies
insbesondere in technischen Fragen, wie Befestigungen, Bahnen
und deren Leistungsfähigkeit und sonstigen militärischen Vor-
bereitungen, die dem Auge des Laien entgehen. Auch sah ich
in Offizieren die verläßlichsten Kontrollorgane für Berichte von
Konfidenten oder solcher anderer Herkunft. So konnte ich bei-
spielsweise in der Audienz am 14. Juni 1907 Sr. Majestät mel-
den, daß es dem Evidenzbüro gelungen war, Kopien detaillierter
Originalpläne einiger im Bau begriffener permanenter Werke
eines voraussichtlichen Gegners zu erlangen. Ich begründete aber
auch die Notwendigkeit, dies durch Offiziere an Ort und Stelle
prüfen zu lassen, um nicht durch einen vielleicht fingierten Ver-
rat getäuscht zu werden. Die hiezu nötigen, damals noch nicht
verbotenen Reisen bestätigten das Zutreffen der Pläne — eine
Feststellung, die später noch erhärtet wurde, als diese Werke
im Krieg in unsere Hände fielen.“
Der Kundschaftsdienst erforderte große Geschicklichkeit, Ner-
venruhe, Geistesgegenwart und Glück, so daß es nicht wundern
konnte, wenn ab und zu im Ausland einer der hiemit betrauten
Offiziere verhaftet wurde. Dies führte zu diplomatischen Erör-
terungen, die dem Minister des Äußeren höchst ungelegen kamen.
Conrad klagt darüber: „Meine Ansicht, daß dies in Ansehung
des Zweckes hingenommen werden müsse, führte zu Kontroversen
zwischen mir und dem Grafen Aehrenthal. Noch in einer Audienz
am 27. November 1909 vertrat ich Sr. Majestät gegenüber die
Unerläßlichkeit solcher Reisen, die Notwendigkeit des Kund-
schaftsdienstes sowie die Erhöhung der hiefür bestimmten Gel-
der. Es war daher ein empfindlicher Schlag, als Graf Aehrenthal
bei Sr. Majestät das Verbot solcher Reisen durchsetzte. Wir
waren von da ab militärisch „blind“ und nur auf die Beobach-
tung der Militärattaches und den unkontrollierten Konfidenten-
dienst beschränkt.“
Selbst der Thronfolger sah sich infolge der mißlichen Verhält-
nisse, worunter der Kundschaftsdienst im österreichisch-unga-
rischen Generalstab zu leiden hatte, veranlaßt, in einem Aller-
untertänigsten Vortrag vom 30. Oktober 1911 die Aufmerksam-
keit Sr. Majestät auf diesen Gegenstand zu lenken und die Bitte
zu stellen, daß das vom Ministerium des Äußeren erlassene Reise-
171
CHIFFERNDIENST
verbot von Offizieren nach Serbien und Albanien aufgehoben und
die Dotation für den Kundschaftsdienst erhöht werde.
Einem besonderen, geradezu imverständlichen Widerstand be-
gegnete der Chef des Generalstabes aus Anlaß der Schaffung des
Chifferndienstes im Evidenzbüro des Gene-
ralstabes.
Die technischen Fortschritte in der drahtlosen Übermittlung
von Nachrichten ließen erwarten, daß in einem künftigen Krieg
von diesem Mittel ausgiebig Gebrauch gemacht würde, wobei
naturgemäß mit chiffrierten Depeschen zu rechnen war. Es war
von höchstem Wert, chiffrierte feindliche Depeschen mitlesen
zu können.
Das militärische Chiffemwesen hatte sich bis dahin darauf be-
schränkt, eigene Depeschen mit einem den Zentralstellen und
höheren Kommanden zur Verfügung stehenden Schlüssel zu
geben und zu entziffern. Das Arbeiten mit unbekanntem
Schlüssel, namentlich in fremden Sprachen, wurde nicht
praktiziert, auch gab es hiefür kein geschultes Personal. Im
Ministerium des Äußeren aber bestand wohl ein mit Fachleuten
reichlich dotiertes Chiffemdepartement.
Als ich dem Chef des Generalstabes über die Notwendigkeit
eines militärischen Chiffernwesens referierte, war es nur zu
naheliegend, die Unterstützung des Außenministeriums in An-
spruch zu nehmen. Wider Erwarten kam vom Ministerium des
Äußeren eine ablehnende Antwort, und auf ein noch dringen-
deres Ersuchen eine grundsätzliche Abweisung. Das Chiffern-
wesen sei das größte Geheimnis der Diplomaten und könne unter
keinen Umständen einer Indiskretion preisgegeben werden. Con-
rad sah sich veranlaßt, die Entscheidung Sr. Majestät zu erbitten,
doch auch der Kaiser wollte der ablehnenden Haltung des Mini-
steriums des Äußeren nicht entgegentreten. So war denn das Evi-
denzbüro auf die Selbsthilfe angewiesen; zu einer Zeit, da im
Rahmen des auf fünf Jahre gedrosselten Budgets des Kriegs-
ministeriums weder eine personelle noch eine materielle Hilfe
zu erwarten war.
Trotzdem wurde die Sache angegangen. Ich berief einen Offi-
zier ins Evidenzbüro, der die italienische Sprache grammatikalisch
beherrschte, und gab ihm zunächst acht Wochen Zeit, um sich
172
ERFOLG DURCH EIGENE GEISTESARBEIT
zurechtzulegen, wie er die Arbeit anzufassen gedenke. Diesem
Offizier gelang es ohne jede fremde Anleitung, durch Selbst-
studium, in unglaublich kurzer Zeit ein greifbares Ergebnis in
dieser schwierigen Materie zu erzielen. Der Krieg in Tripolis
war mir dabei zu Hilfe gekommen; die Radiostation in Pola
übermittelte dem Evidenzbüro täglich die zwischen Rom und
den operierenden Streitkräften in Tripolis gewechselten chiff-
rierten Depeschen. Das gab ein willkommenes Material zum
Studium des Dechiffrierens.
Mit Dankbarkeit gedenke ich heute noch meines erfolgreichen
Dechiffreurs, des damaligen Hauptmannes Andreas Figl, dem der
Triumph gebührt, durch eigeneGeistesarbeitdie erste
chiffrierte Depesche in Klarschrift niedergelegt zu haben, die ich
Conrad beim Rapport unterbreiten konnte. Hiemit war der erste
Schritt getan; sofort wurde mit dem Dechiffrieren russischer De-
peschen begonnen, was gleichfalls zum Erfolg führte.
Durch Beharrlichkeit und intensive geistige Arbeit wurde der
Grundstein zu der Chifferngruppe des Armeeoberkommandos
gelegt, die im Kriege die wertvollsten Dienste geleistet hat. Die
Russen bedienten sich in voller Vertrauensseligkeit die längste
Zeit chiffrierter Depeschen zur Übermittlung der wichtigsten
Dispositionen und Mitteilungen. Diese drahtlose Korrespondenz
wurde in der Nachrichtenabteilung des Armee-Oberkommandos
in kürzester Zeit entziffert. Als die Russen nach Jahresfrist zur
Erkenntnis gelangten, daß ihr Chiffernschlüssel bekannt sei, und
sie ihn änderten, war es eine Arbeit weniger Stunden, auch den
geänderten Chiffernschlüssel zu entziffern. Dieser Erfolg gei-
stiger Arbeit hat sich ungleich mehr bewährt als die mit
großen finanziellen Opfern angestrebte Erwerbung eines feind-
lichen Schlüssels auf dem Wege des Kundschaftsdienstes, der
bei jeder Veränderung wertlos wurde.
173
CONRAD UND DIE AUSSENPOLITIK ÖSTERREICH-
UNGARNS
Vor dem Eingehen auf Conrads Auffassung außenpolitischer
Fragen möchte ich den im Vorwort an den Leser gerichteten
Appell wiederholen, in meiner Darstellung lediglich die objek-
tive Wiedergabe historischer Tatsachen zu sehen, die der Ver-
gangenheit angehören. Wer ein Lebensbild des Feldmarschalls
geben will, muß auch in die Zeiten hineinleuchten, da das von
Feinden umringte Österreich-Ungarn seinen Bestand zu sichern
hatte.
Die Siegerstaaten haben in der Kriegsschuld der Mittelmächte
eine moralische Berechtigung für die Härten der Friedensverträge
gesucht. Die Ankläger weisen mit Vorliebe auf Conrad von Höt-
zendorf als „Kriegshetzer“ und als „Apostel der Präventivkriege“
hin. Sie werfen ihm vor, daß er bald nach Antritt seines Amtes
als Chef des Generalstabes im Jahre 1907 eine kriegerische Ab-
rechnung mit Italien gefordert, daß er während der Annexions-
krise 1908/09 und später während der Balkankriege 1912/13 den
Krieg gegen Serbien gewollt und in der Ermordung des Thron-
folgers den willkommenen Anlaß gesehen habe, sein lang erstreb-
tes Ziel — „den Krieg“ — zu erreichen. Die Entente sah in ihm
die Triebfeder für die scharfe Fassung des kurzbefristeten Ulti-
matums, das dem Königreich Serbien keine Zeit lassen sollte,
sich diesmal dem Krieg zu entziehen.
Als Referent des k. u. k. Chefs des Generalstabes für die aus-
wärtigen Angelegenheiten während der schicksalsschweren Jahre
von der Annexionskrise bis nahe zum Kriegsausbruch und als
Kenner des innersten Fühlens und Denkens des verstorbenen
Marschalls muß ich die Auffassung bekämpfen, daß Conrad den
Krieg um des Krieges willen gewollt habe. Er hat in Erkenntnis
seiner Pflichten die Entscheidung durch die Waffen gefordert,
wenn er es im Interesse der Monarchie für geboten hielt; er hat
aber den Krieg für den Fall verworfen, daß die Monarchie ge-
174
EINKREISUNG DER MITTELMÄCHTE
zwungen sein sollte, ihn an mehreren Fronten zu führen. Con-
rad äußerte sich am 23. Juli 1914, also zwei Tage vor Ablauf des
Ultimatums an Serbien, dem Außenminister Graf Berchtold ge-
genüber: „Wenn wir auch Italien zu fürchten haben, dann mobi-
lisieren wir nicht.“
In der 1925 dem parlamentarischen Ausschuß des Deutschen
Reichstages zur Untersuchung der Kriegsschuldfrage zur Ver-
fügung gestellten Studie „Mein Beitrag zur Kriegsschuldfrage“
habe ich die Einkreisung der Mittelmächte als die
bange Sorge Conrads während der dem Krieg vorangegangenen
Jahre bezeichnet. Sie spiegelte sich in den verzweifelten An-
strengungen des für die Führung im Kriege verantwortlichen
Chefs des Generalstabes wider, die Wehrmacht für den unver-
meidlichen Existenzkampf zu befähigen. Die Abwehr der „Ein-
kreisung“ war der leitende Gedanke in Conrads rastlosem
Kampf um die Schlagfertigkeit der Armee. Wie sich die Mon-
archie der vielen Feinde erwehren sollte — das ging dem mit
Sorgen schwer belasteten Chef des Generalstabes Tag und Nacht
durch den Kopf. Er schreibt ganz eindeutig in seinen Memoiren:
„Die alte Monarchie konnte nur hoffen, daß der ihr zugedachte
Schlag sich noch hinausziehen und ihr dadurch die Möglichkeit
geboten würde, ihre Wehrkraft auf das höchst erreichbare Maß
zu steigern. Dieses Hoffen und dieses Streben beherrschten nun
auch mein Denken und Wirken.“
Zur Beurteilung der Einstellung Conrads zur Außenpolitik ist
es notwendig, sich in die Lage im Herbst 1906 rückzuversetzen,
als er Chef des Generalstabes wurde.
Das Bündnis mit Deutschland, 1879 begründet, war
durch die Sekundantenrolle Österreich-Ungarns auf der Konfe-
renz von Algeciras (Jänner bis April 1906) noch mehr gefestigt.
Der Bund mit Italien lag vertragsmäßig fest: er war 1882
abgeschlossen, 1887, 1892 und 1902 erneuert und 1897 durch das
Abkommen über Albanien ergänzt worden, das jede Aktion der
Monarchie am Balkan an das Einvernehmen mit Italien knüpfte.
Durch den Vertrag von Mürzsteg (Herbst 1903) war Österreich-
Ungarn im Einvernehmen mit Rußland in die mazedonische Re-
formaktion verwickelt, wodurch sich das Zarenreich den Rücken
für den Krieg gegen Japan (1904/1905) gesichert hatte. Nach dem
175
DEUTSCHLAND-ÖSTEEREICH-UNGARN ISOLIERT
japanischen Krieg litt Rußland noch schwer an den Nach-
wehen der unmittelbar darauf ausgebrochenen Revolution. Es
war einerseits durch das Bündnis vom Jahre 1891 und ein
Heeresabkommen von 1892 an Frankreich verpflichtet, hatte
sich aber auch bei der Begegnung zwischen Kaiser Wilhelm II.
und Zar Nikolaus II. in Borkjö (Juli 1905) Deutschland genähert,
das ihm beim Friedensschluß mit Japan — ebenso wie König
Eduard VII. von England — Dienste geleistet hatte.
Rußlands Satelliten, Serbien und Montenegro, standen
in aggressiver Feindschaft gegen die Monarchie, Serbien unver-
hüllt, Montenegro beständig im Lavieren. Serbien war fortgesetzt
an der Arbeit, die Südslawen Österreich-Ungarns aufzuwiegeln.
England war bereits am Werk, Deutschland einzukreisen,
Eduard VII. noch im Werben um Österreich-Ungarns Abfall von
Deutschland. Der französisch-englische Vertrag über Ägypten
und Marokko war 1904 abgeschlossen und damit die Freund-
schaft Englands mit Frankreich hergestellt (Entente cordiale).
Durch die Verträge von 1905 war auch Japan für diese Politik
gewonnen. Bulgarien, im tributären Verhältnis zum Sultan,
neigte auf die Seite Deutschlands. Die europäische Türkei
war durch die Unruhen in Mazedonien zerrüttet. Rumänien
befand sich in aufmerksamer, stets besorgter Rivalität gegenüber
Bulgarien, im Bunde mit Deutschland und der Monarchie; sein
Herrscher war ein Hohenzoller. Griechenland war von den
mazedonischen Wirren ebenso berührt wie Bulgarien und mit
Rumänien im Konflikt, weil auch dieses sich seiner bedrückten
Volksgenossen in Mazedonien, der Kutzowalachen, annahm.
So lag ein verworrenes Netz gegenseitiger Verträge und Ver-
pflichtungen über Europa, Asien und Afrika, das aber schon
die Umrisse der großen Koalition erkennen
ließ, die sieh gegen Deutschland und Öster-
reich-Ungarn richtete.
Die Dienststelle für die Orientierung des Chefs des General-
stabes über die auswärtigen Angelegenheiten war das Evidenz-
büro des Generalstabes.
Der Evidenzdienst konnte sich nicht auf die Festhaltung der
rein militärischen Machtfaktoren beschränken, er mußte alle die
Wehrkraft der Staaten beeinflussenden Momente umfassen. Dazu
176
DER EVIDENZDIENST
gehörte auch das Verfolgen der auswärtigen Politik
namentlich jener Staaten, die als Verbündete oder als Feinde
in Betracht kamen, aber auch der neutralen Länder, deren Stel-
lungnahme erst während eines ausgebrochenen Krieges erwartet
werden konnte. Die Orientierung des Chefs des Generalstabes
über die Machtfaktoren der fremden Staaten bedeutete eine
große Verantwortung, denn sie bildete die Grundlage für dessen
politische und militärische Erwägungen.
Das Evidenzbüro des Generalstabes
Im Gegensatz zu den anderen Militärstaaten war die Evidenz
der fremden Wehrmächte im k. u. k. Generalstab in einem Büro
vereint. Den Bedürfnissen entsprechend, bestand je eine Evidenz-
gruppe für Rußland, Italien und den Balkan. Einzelne Refe-
renten hatten die Wehreinrichtungen in Frankreich, Belgien,
den Niederlanden, England, Deutschland, der Schweiz, den nor-
dischen Staaten, den Vereinigten Staaten Amerikas und in den
wichtigsten Überseeländem zu verfolgen und evident zu halten.
Den Ausspähungsdienst besorgte die Kundschaftsgruppe des
Evidenzbüros, während die fortifikatorische Gruppe alle Befesti-
gungen und, unter Mithilfe von Fachmännern, die fremden Ge-
schütze, das Flug- und Autowesen evident zu führen hatte.
Die Fülle der Arbeit, die hier zu leisten war, beleuchtet ein
Vergleich mit der Organisation des Evidenzdienstes im deut-
schen Generalstab. Dort gab es eine selbständige Evidenzgruppe
„West“ und „Ost“, zwei Gruppen für die Evidenz der Wehr-
mächte der anderen Staaten. Außerdem bestanden je eine Befe-
stigungsgruppe „Ost“ und „West“ und eine eigene Sektion aus-
schließlich für den Kundschaftsdienst: demnach 7 Abteilungen
des Großen Generalstabes, unter je einem höheren Stabsoffizier
als Vorstand, mit unmittelbarer Berichterstattung an den Chef
des Generalstabes oder an den Generalquartiermeister. Während
im k. u. k. Evidenzbüro 22 Offiziere den gesamten Evidenzdienst
zu versehen hatten, waren im deutschen Großen Generalstab
82 Offiziere in den bezeichneten sieben Abteilungen tätig. Wie
12
177
KENNTNIS DER FREMDEN WEHRMÄCHTE
vordenkend dort die Personalfrage geregelt war, zeigt zum Bei-
spiel die Tatsache, daß die Evidenzführimg der großen feind-
lichen Lagerfestungen je einem Stabsoffizier des Generalstabes
oblag, der im Kriegsfall als Stabschef der diese Festung angrei-
fenden Heeresgruppe in Aussicht genommen war. Berücksichtigt
man, daß die Monarchie zu drei Vierteilen an Feindesstaaten
grenzte, die Abwehr der nationalen Propaganda und der feind-
lichen Spionage daher außerordentlich wichtig wurde, so ergibt
sich der Umfang der Aufgaben, die dem k. u. k. Evidenzbüro
in den fünf Jahren politischer Hochspannung vor dem Kriege
erwuchsen.
Conrad beschäftigte sich unausgesetzt mit den Vorbereitungen
für alle möglichen Kriegsfälle. Die Schaffung der Grundlagen
für diese Erwägungen stellte hohe Anforderungen an die Evi-
denzgruppen; sie hatten oft über Nacht ein von Conrad gefor-
dertes umfangreiches Elaborat fertigzustellen.
Dem Evidenzbüro oblag auch die Orientierung der Militär-
kanzleien des Kaisers und Thronfolgers, des Kriegs- und Außen-
ministeriums über die laufenden kriegerischen Ereignisse, womit
die Jahre 1908 bis 1914 reichlich ausgefüllt waren.
Die Kenntnis der fremden Wehrmächte wurde durch eine
mühselige, fleißige Sammelarbeit auch scheinbar minderwertiger
Daten dauernd erweitert. Dies geschah durch fachmännische
Verarbeitung aller erlangbaren Dienstvorschriften, durch Verfol-
gen der militärischen Fachpresse, der Tagesliteratur (im Evi-
denzbüro wurden im Tag etwa 70 fremdländische Zeitungen ge-
lesen) und der Verhandlungen in den gesetzgebenden Körper-
schaften, insbesondere zur Zeit der Budgetberatungen. Eine sehr
wertvolle Quelle für den Evidenzdienst waren die Berichte der
Militär- und sonstigen Fachattaches bei den Auslandsvertretun-
gen. Diese Offiziere haben in vorbildlicher Pflichttreue aus-
nahmslos Hervorragendes geleistet und dadurch wesentlich dazu
beigetragen, daß der Chef des Generalstabes nicht nur über die
rein militärischen Angelegenheiten unterrichtet war, sondern
auch außenpolitische Fragen fachmännisch beleuchtet sah.
Dem Chef des Evidenzbüros oblag die Auswahl der Militär-
attaches und deren Unterweisung über ihre Aufgaben. Die vor-
nehme Einstellung des Kaisers Franz Joseph schloß jede aktive
178
DIE ö S T E R R. -ÜNG. MILITÄRATTACHES
Betätigung der österreichisch-ungarischen Militärattaches im
Kundschaftsdienste aus; jeder neuernannte Attache mußte vor
seinem Abgang dem Chef des Evidenzbüros die Einhaltung dieses
Allerhöchsten Verbotes in die Hand versprechen. Diese Zurück-
haltung bedeutete keine Beeinträchtigung des Dienstes unserer
Militärattaches. Im Gegenteil, sie festigte ihre Position bei den
leitenden Stellen und in den Offizierskreisen der fremden Staaten,
sie wurden um so bereitwilliger zu Besichtigungen und beson-
deren militärischen Vorführungen eingeladen, wo sie mit mili-
tärisch geschultem Blick mehr sehen konnten als Kundschafter.
Durch die rationelle Auswertung aller erlangbaren Daten ent-
stand in den Evidenzgruppen ein immer vollständigeres Bild von
den Wehreinrichtungen der fremden Staaten. Ergaben sich durch
Anfragen seitens der verschiedenen Amtsstellen Lücken, so wurde
getrachtet, sie durch Beschaffung der betreffenden Dienstvorschrift
oder durch Anfragen bei den Militärattaches auszufüllen. Wenn
dies auf diesem Wege nicht gelang, dann mußte der Kundschafts-
dienst einspringen. So reihte sich dieser organisch in die Ge-
samtaufgabe des Evidenzdienstes: er wurde nicht zum Selbst-
zweck, sondern blieb ein Glied in der Kette des gesamten Evi-
denzapparates.
Bei der Übernahme meines Amtes legte ich Wert darauf, daß
die Offiziere der Evidenzgruppen durch persönlichen Einblick
Land und Leute der Staaten kennenlernten, die sie evident zu
führen hatten. Dies entsprach auch den Intentionen Conrads.
Allerdings mußte ein Teil der kargen Kundschaftsdotationen
dazu verwendet werden, aber es bekamen fachmännisch vorge-
bildete Offiziere Einblick in Verhältnisse, wie er von einem
Durchschnittsspion niemals erwartet werden konnte. Die Ergeb-
nisse der Evidenztätigkeit wurden den Truppen schon im Frie-
den zugänglich gemacht. So entstanden die Handbücher, Patrouil-
lenbehelfe, Kriegsgliederungen, Adjustierungsbilder über die
fremden Wehrmächte, die gelegentlich der theoretischen Beschäf-
tigung verwertet wurden und die Kenntnis der fremden Wehr-
mächte verbreiten halfen.
Es war ein besonderer Ehrgeiz aller Evidenzgruppen, den
hohen Anforderungen des Chefs des Generalstabes zu ent-
sprechen. Conrad hat das zuverlässige Funktionieren des Evi-
12*
179
VOLLE FREIHEIT DER MITARBEITER
denzdienstes stets rückhaltslos anerkannt und sein volles Ein-
verständnis mit der Leitung dieses Dienstes dadurch ausgedrückt,
daß er dem Chef des Evidenzbüros volle Freiheit ließ. Conrad
unterband nie die Initiative seiner Bürochefs, sondern unter-
stützte ihre Anträge stets auf das werktätigste. Dadurch über-
trug sich die Verantwortungsfreude auf jeden einzelnen Re-
ferenten.
Als Zeichen besonderen Vertrauens forderte Conrad niemals
Rechenschaft über die Gebarung mit der Kundschaftsdotation.
Das unbegrenzte Vertrauen eiferte jeden Untergebenen Conrads
zu Maximalleistungen an. Jeder Offizier seines Stabes fühlte
sich als vollwertiges Glied in der Reihe seiner Mitarbeiter. Stolz,
unter so hervorragender Führung das Seinige zum Erfolg bei-
zutragen, stellte jeder ausnahmslos sein bestes Können in den
Dienst der Sache.
Die Revolution der Jungtürken
Die politischen Ereignisse, die zum Ausbruch des Weltkrieges
führten, stehen im ursächlichen Zusammenhang mit der jung-
türkischen Revolution des Sommers 1908. Es ist zum Verständ-
nis der außenpolitischen Lage jener Zeit notwendig, dieses histo-
risch bedeutsame Geschehnis in Erinnerung zu bringen.
In dem von Kaiser Franz Joseph und dem Zaren Nikolaus
festgelegten „Mürzsteger Programm“ war im Jahre 1903 in den
unter der Bezeichnung „Mazedonien“ zusammengefaßten türki-
schen Vilajets ein internationales Reformwerk ins Leben gerufen
worden, das in diesem von politischen Wirren durchwühlten
Lande, wo Mord und Bandenkämpfe an der Tagesordnung stan-
den, Ruhe schaffen sollte. Alle europäischen Großmächte hatten
sich daran beteiligt. In den ihnen zugewiesenen Abschnitten
sollte vor allem die türkische Gendarmerie nach europäischem
Muster reformiert werden.
Zu diesem Zweck wurde eine Anzahl von Offizieren entsendet,
die nach mühseligen Verhandlungen mit dem Sultan Abdul Hamid
in türkische Dienste zu treten hatten, türkische Uniformen trugen
180
ÖSTERR. - UNG. REFORMATION
und auf den Sultan vereidigt waren. Es war zu besorgen, daß die
Tätigkeit einer verhältnismäßig geringen Zahl fremdländischer
Offiziere im „türkischen System“ untergehen würde; deshalb
wurde für jeden Abschnitt ein höherer Offizier des betreffenden
Staates bestimmt, der, nicht in türkischen Diensten stehend, den
Reformoffizieren als Rückhalt dienen sollte. In dieser Eigen-
schaft, als „Adjoint militaire d’Autriche-Hongrie“, kam ich
als Nachfolger zweier bewährter Vorgänger * im April 1908 nach
Üsküb, dem Hauptort des österreichisch-ungarischen Sektors.
Das im Jahre 1904 begonnene Reformwerk sah im Jahre 1908
bereits auf Erfolge zurück. Die terroristische Tätigkeit der
nationalen Banden hatte mit dem Eintritt der wärmeren Jahres-
zeit wohl aufs neue mit Leidenschaft und Grausamkeit einge-
setzt; auch die serbische Propaganda im Vilajet Kossowo und
die griechische in den südslawischen Bezirken machte sich mit
gesteigerter Intensität fühlbar. Die mit großem finanziellem
Aufwand betriebene serbische Agitation verfolgte den Zweck,
bei den kommenden Wahlen im Königreich auf nationale Er-
rungenschaften der Regierung in Mazedonien hinweisen zu
können. Durch Gewalt und Bestechung gelang den Serben die
Ausbreitung der patriarchistischen Hegemonie in den nörd-
lichen Kazas (Regierungsbezirken). Die bulgarischen exarchi-
stischen Banden entwickelten in diesem Jahre im Vilajet Kos-
sowo eine verhältnismäßig geringere Tätigkeit, weil die Partei-
organisation zunächst die Bekämpfung der gesteigerten griechi-
schen Propaganda in dem Vilajet Monastir auf ihr Programm
gesetzt hatte. Türkische Banden und Mordgesellen trieben die
christliche Bevölkerung zur Selbstwehr, was zu einer Reihe von
Bluttaten führte. Die serbische Agitation hatte auch die Albaner
der nördlichen Kazas gegen Österreich-Ungarn aufgewiegelt.
Der projektierte Bau der Anschlußbahn von der bosnischen
Grenze nach Mitrovica durch den Sandschak Novibazar wurde
durch die serbische Wühlarbeit geschickt ausgenützt.
Während die blutige Fehde zwischen Nationen und Religionen
ihr Zerstörungswerk in Mazedonien fortsetzte, war dort als
Frucht mehrjähriger geheimer Vorbereitungen die j ungtür-
* Oberst des Generalstabskorps Johann Graf Salis-Seewis und
Oberst des Generalstabskorps Ludwig Goiginger.
181
VORKÄMPFER FÜR FREIHEIT UND FORTSCHRITT
kische Bewegung gereift. Nach der Annahme des kon-
stitutionellen Regierungssystems in Montenegro war die Türkei
als letzter autokratisch regierter Staat in Europa übriggeblieben.
Die Zahl der Unzufriedenen, die den Sturz der Willkürherrschaft
und eine Erneuerung des durch Erstarrung und Bestechung bis
ins Mark faulen Staatswesens herbeisehnten, hatte gewaltig zu-
genommen.
Mahmud, des Sultans eigener Schwager, leitete nach geglückter
Flucht aus dem Lande seit Jahren von Paris aus die Tätigkeit
des jungtürkischen Komitees, das daselbst, dann in London, Rom,
Genf, Kairo sehr rührige Propagandastellen und innerhalb der
Türkei nahezu an allen Orten verläßliche Vertrauensmänner be-
saß. Als solche hatte man vielfach auch jüngere Offiziere zu ge-
winnen gewußt, namentlich solche, die zu höherer Ausbildung
in fremde Heere und zur Marine abkommandiert waren und
mit offenen Augen den kulturellen und wirtschaftlichen Auf-
schwung der westeuropäischen Staaten verfolgt hatten und, er-
füllt von Sehnsucht nach Geistesfreiheit und abendländischer
Kultur, in die Heimat zurückgekehrt waren. Sie waren die Träger
der Reformpläne, für deren Verwirklichung sie auch ihr Leben
zu opfern bereit waren.
Unter den Verschwörern gab es auch Abtrünnige und Doppel-
spieler, so daß es der Geheimpolizei des Sultans, unter der
skrupellosen Leitung Achmet Djellaheddin Paschas, in vielen
Fällen gelang, vereinzelte Fäden aufzuspüren, Schuldige und Un-
schuldige festzunehmen, deren weiteres Schicksal zumeist in völ-
liges Dunkel gehüllt blieb. Viele Hunderte jungtürkischer Vor-
kämpfer mußten den vorschnellen Wunsch nach Freiheit und
Fortschritt, ja selbst den unbedacht laut gewordenen Gedanken
daran mit dem Leben bezahlen, bevor die Frucht der geheimen
Saat zur Reife gelangte.
Die jungtürkischen Offiziere suchten in ihrem Streben, mit
der Kultur des Westens Fühlung zu nehmen, vielfach den geisti-
gen und kameradschaftlichen Verkehr mit den Reformoffizieren,
besonders mit denen Österreich-Ungarns. Diese kamen ihnen
freundschaftlich entgegen und bemühten sich, ihre Sprache zu
erlernen, ihre Sitten und Gebräuche zu achten.
Die ersten Anzeichen der jungtürkischen Bewegung zeigten
182
ERMORDUNG DEM SULTAN ERGEBENER GENERALE
sich Anfang Juni im Vilajet Kossowo. Der österreichisch-unga-
rische Reformoffizier in Istib meldete, daß türkische Offiziere
und aufgeklärte mohammedanische Bürger geheime Zusammen-
künfte hätten, die auf den Umsturz der bestehenden Staatsord-
nung hinarbeiteten. Es folgten Verhaftungen. Von Konstan-
tinopel wurden mehrere Generaladjutanten des Sultans in die
Provinz gesendet, um der revolutionären Bewegung mit Gewalt,
durch Überredung oder durch Bestechung entgegenzutreten.
Das Ergebnis war ein negatives; die bisher mit Erfolg ange-
wendeten Bestechungen versagten. Soldatenmeutereien, als Folge
des seit mehreren Monaten rückständigen Soldes und der un-
zulänglichen Verpflegung, häuften sich. Am 7. Juli 1908 wurde
der Divisionsgeneral Schemsi Pascha in Monastir auf offener
Straße von einem Offizier niedergeschossen. Der Attentäter
flüchtete mit einigen Soldaten in die Berge.
Wenige Tage später desertierte der Vizemajor Niazi Bey mit
zwei Offizieren und 150 Mann aus Rezna im Vilajet Monastir
mit Waffen, Munition und 600 Pfund in Gold.
Dieses Beispiel fand Nachahmung auch in anderen Vilajets.
Die entwichenen Offiziere und Soldaten machten mit den umher-
streifenden Banden gemeinsame Sache gegen die Regierung. In
dieser Bewegung trat Major Enver Bey besonders hervor.
Mit zwölf Mann der Garnison Monastir durchzog er das Innere
des gleichnamigen Vilajets und bemühte sich, die Bevölkerung
für den Anschluß an die neue Bewegung zu gewinnen, als deren
Ziel er die Gleichberechtigung aller Nationen und Religionen des
Reiches verkündete. Die Regierungsbehörden und militärischen
Kommandanten standen dieser Erhebung, die mit jedem Tag
mächtiger anwuchs, hilf- und ratlos gegenüber.
Am 19. Juli wurde der Stadtkommandant von Saloniki, Divi-
sionsgeneral Suleiman Pascha, der es ablehnte, mit den Revo-
lutionären zu verhandeln, ermordet. Der neuernannte Divisio-
när in Üsküb, Hussein Remzy Pascha, den ich als Chef der öster-
reichisch-ungarischen Offiziersmission am Tage seines Eintreffens
mit allen Ehren begrüßt hatte, rettete sein Leben nur, indem
„er den ihn bedrängenden Offizieren seinen Generalsrock vor
die Füße warf, um sie vor der Schande zu bewahren, daß sie
ihren Vorgesetzten töteten, weil er dem Padischah die Treue
183
SIEG DER JUNGTÜRKISCHEN REVOLUTION
hielt“. Am folgenden Morgen wurde der General mit abgeris-
senen Tressen von einor tobenden Menge verhöhnt, beschimpft
und aus der Stadt gejagt.
Angesichts dieser Meutereien und zunehmenden Desertionen
ganzer Abteilungen zog die Regierung ergebene Truppen aus
Kleinasien heran; aber schon die ersten in Saloniki gelandeten
anatolischen Bataillone verweigerten den Gehorsam. Am 23. Juli
1908 wurde in vielen Orten gegen den Willen der Regierung die
Freiheit und Konstitution ausgerufen. Unter dem Drucke dieser
Ereignisse Unterzeichnete Sultan Abdul Hamid in der Nacht auf
den 24. Juli das Irade, das die Verfassung des Jahres 1876 wie-
der in Kraft setzte.
Dieses verbürgte die Gleichberechtigung aller Nationen und
Religionen des Osmanischen Reiches. Traf dies zu, dann mußte
das Interesse der serbischen Bevölkerung Mazedoniens an einer
Vereinigung mit dem Königreich Serbien aufhören. Der Traum
des großserbischen Staates war demnach durch die Erfolge der
Jungtürken bedroht und alle Opfer der Serben an Geld und
Menschenleben schienen umsonst gebracht. Es mußte daher rasch
gehandelt werden, um den alten Zustand wiederherzustellen,
der die Hoffnung auf baldige Aufteilung der Türkei und die
Einverleibung eines möglichst großen Teiles von Mazedonien in
das serbische Reich versprach. Dies konnte nur durch die Inter-
vention einer auswärtigen Macht geschehen — es handelte sich
nur darum, dafür einen Grund zu schaffen.
Durch geschickte Propaganda war es den Serben gelungen, ein
gefügiges Werkzeug für ihre Pläne in dem Oberhaupt des mäch-
tigsten und unbotmäßigsten Arnautenstammes, Issa Boletinac,
zu finden. Dieser war von der Pforte stets mit namhaften Be-
trägen gekauft worden und befürchtete nun mit Recht, daß seine
Einnahmsquelle unter einer verfassungsmäßigen Regierung ver-
siegen würde. In den Tagen der Revolution stand er mit etwa
2000 Anhängern in der Nähe von Üsküb bereit, um in die Er-
eignisse einzugreifen.
Am Nachmittag des 25. Juli 1908 waren serbische Agitatoren
in seinem Lager bei Osman erschienen, wo auch der durch eine
List dahingelockte Kommandant des Üsküber Gendarmerieregi-
ments als Geisel festgehalten wurde, und erklärten den Arnauten:
184
BEDROHUNG DER ÖSTERR. - UNG. OFFIZIERS MISSION
„Die neue Bewegung in der Türkei ist mit österreichischem
Geld erkauft, die Führer der Jungtürken sind von Österreich
bestochen, um den Sultan zu stürzen. Österreich-Ungarn rüstet,
um nach Novibazar einzubrechen, und binnen wenigen Wochen
werden die Österreicher die albanischen Gebiete besetzen, um
eure Freiheit mit dem Standrecht zu knebeln, wie sie es vor
dreißig Jahren in Bosnien getan haben. Wollt ihr eure Rechte
und eure Freiheit wahren?“ — „Auf nach üsküb!“ schrien die
handscharschwingenden Arnauten, während Issa Boletinac Hand-
schlag und Bruderkuß mit den serbischen Aufwieglern wech-
selte. Unter seiner Führung wälzte sich nun die beutegierige
Schar den Vardar entlang gegen Üsküb.
Dort befanden sich um diese Zeit außer mir nur mein Stell-
vertreter, mein Adjutant und zwei Dragomane. Der türkische
Statthalter, Mahmud Schefket Pascha, hatte im Verein mit den
führenden Offizieren der Jungtürken eiligst umfassende Vorkeh-
rungen zur Abwehr dieses Angriffes getroffen.* Er ließ vier
Batterien an der Nordseite der Stadt in Stellung gehen und alar-
mierte die Infanteriebesatzung, die sich jedoch wegen zahlreicher
Beurlaubungen als unzulänglich erwies. In diesem kritischen
Augenblick stellten sich etwa 300 jungtürkische Offiziere dem
Vali zur Verfügung, die Gewehre ergriffen und den Albanern
mit der Erklärung entgegentraten, daß der Weg zu den öster-
reichisch-ungarischen Reformorganen nur über die Mündung
ihrer Gewehre führe. So wurde die Gefahr eines blutigen Mor-
dens in letzter Stunde abgewendet.
In Üsküb bildete sich alsbald unter dem tatkräftigen Izzet Bey
ein Gerichtshof, der für die Einhaltung der Gesetze sorgte. An
die serbischen Wühler erging die Warnung, daß jeder Versuch
zur Aufreizung gegen fremde Staatsangehörige mit dem Tode
durch den Strang bestraft würde. Angesichts dieser Drohung
wagte die serbische Agitation keine offene feindliche Handlung
mehr.
In den ersten Wochen nach Verlautbarung der Verfassung
* Der Vali hatte zu unserer Flucht eine Lokomotive bereitgestellt.
Er erhielt zur Antwort, daß wir auf unseren Posten bleiben und daß
jeder Schuß unserer Pistolen einem der Banditen, der letzte dem
eigenen Leben gelten werde.
185
ENDE DER REFOßMTÄTIGKEIT
hatten die Banden verschiedener Nationalität und Parteirfchtung
ihre Unterwerfung angezeigt und waren nach Zusicherung von
Straflosigkeit aus ihren Verstecken in die Ortschaften gekommen,
um sich als Helden und Befreier feiern zu lassen. Etwas zögernd
waren die serbischen Banden dem Beispiel der bulgarischen und
griechischen gefolgt. Auch sie konnten schließlich der Verlok-
kung nicht widerstehen, als „junaci“ (Helden) bejubelt zu wer-
den.
Die Neugestaltung der Türkei, die verfassungsmäßig die Gleich-
berechtigung der Nationen und Religionen gewährleistete, nahm
der Reformaktion in Mazedonien die weitere Berechtigung. Die
Führer der Jungtürken hatten die ernste Absicht und schienen
auch die Macht zu haben, in ihrem Vaterland Ordnung zu schaf-
fen. Eine Fortsetzung des Reformwerkes von seiten Österreich-
Ungarns wäre einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten
der Türkei und zugleich einer Herausforderung der neuen Macht-
haber gleichgekommen. Ich ordnete daher am 16. August in
meinem Sektor die Einstellung der Reformtätigkeit und die Zu-
sammenziehung aller österreichisch-ungarischen Offiziere in mei-
nem Standort Üsküb an, eine Maßnahme, die vom Ministerium
des Äußeren gutgeheißen wurde. Am 26. August verließ ich, einer
Einberufung nach Wien folgend, mit einem Teil der Offiziere
Mazedonien. Sechs Wochen später nahmen auch die anderen
österreichisch-ungarischen Reformorgane Abschied von der Stätte
ihres fünfjährigen opfervollen Wirkens.
In serbischen Kreisen wurde dies mit Jubel aufgenommen;
er sollte sich bald in schäumende Wut verwandeln.
Der Chef des Generalstabes war durch meine Berichterstat-
tung über diese sich überstürzenden Ereignisse unterrichtet und
verfolgte mit vorausblickendem Verständnis deren mögliche
Rückwirkungen auf die Monarchie. Conrad schreibt zu der jung-
türkischen Revolution in seinen Auf Zeichnungen: „Die durch
die Ereignisse in der Türkei in den Vordergrund gerückte An-
nexionsfrage und die bei ihrer Lösung zu gewärtigenden Kom-
plikationen waren nun Gegenstand wiederholter Verhandlungen
und eines häufigen Meinungsaustausches.“
186
UNMÖGLICHE LAGE FÜR ÖSTERR. - UNGARN
Die Annexion Bosniens und der Herzegowina
Die dem Sultan abgerungene Verfassung hatte das Parlament in
Konstantinopel wieder in seine Rechte eingesetzt. Die Provinzen
Bosnien und Herzegowina, 1878 im Auftrag des Berliner Kon-
gresses von Österreich-Ungarn okkupiert, waren formell noch tür-
kisches Gebiet. Nun sollten sie gleichfalls Abgeordnete nach Kon-
stantinopel entsenden, um dort Gesetze zu beschließen, die auch
für Bosnien, die Herzegowina und für den Sandschak Novibazar
geltend waren. Dies ergab eine immögliche Situation für die Mon-
archie, die diese Länder mit dem Blute ihrer Söhne erworben und
durch das Geld ihrer Steuerträger zu kultureller Blüte gebracht
hatte.
Kein rechtlich denkender Mensch konnte von Österreich-Un-
garn einen anderen Entschluß erwarten als die Annexion
dieser Provinzen, die sich tatsächlich schon 30 Jahre in seinem
Besitz befanden.
Für die Serben als Vorkämpfer des südslawischen Reiches
bedeuteten diese Länder in der Hand der Türkei eine bei pas-
sender Gelegenheit leicht zu erfassende Beute. In österreichisch-
ungarisches Gebiet einverleibt, mußten sie dem Traum nach
Vereinigung mit dem Serbenreich entrückt erscheinen. Deshalb
löste die Nachricht der „Annexion“ in Serbien einen Sturm der
Empörung aus, der später auch die in ihr Schicksal ergebene
türkische Regierung mitriß und einen unerwarteten Widerhall
in mehreren europäischen Staaten fand, deren Außenminister
schon vergessen hatten, daß die österreichisch-ungarischen
Reichslande „auf dem Papier“ noch türkisches Gebiet waren. Es
war kein Zufall, daß in diesem Protestkonzert schon jene Staaten-
gruppierung zu erkennen war, der die Donaumonarchie wenige
Jahre später im Krieg gegenüberstand. Es war der erste offene
Ausdruck der „Einkreisungspolitik“.
Von den Siegern des Weltkrieges wird die Kriegsschuld —
soweit sie Österreich-Ungarn betrifft — auf den 5. Oktober 1908
zurückdatiert; das ist der Tag, an dem der österreichisch-unga-
rische Außenminister in den Delegationen die Annexion Bos-
niens und der Herzegowina verkündete. Man erblickte in diesem
Akt, der ohne vorherige Verständigung mit den anderen Mäch-
187
BESPRECHUNG MIT FRH. V. AEHRENTHAL
ten und ohne Konferenzen durchgeführt worden war, eine Her-
ausforderung Europas. Über diese Auffassung kann man nur
staunen. Die Welt hat sich vor- und nachher mit territorialen
Erwerbungen anderer Staaten mit weit weniger triftigen Begrün-
dungen abfinden müssen.
Am 26. August 1908 reiste ich nach Wien ab. Die Auflösung
der Reformaktion war späteren diplomatischen Verhandlungen
Vorbehalten. Sofort nach meinem Eintreffen am 28. August berief
mich Freiherr von Aehrenthal zu einer Besprechung, bei der er zu-
nächst die Notwendigkeit der Annexion begründete und sodann die
möglichen Folgen dieses Schrittes erwog. Er empfand die Ver-
pflichtung, bevor er dem Kaiser — damals in Ischl — den Antrag
auf Annexion von Bosnien und der Herzegowina stellte, vorerst
meine Meinung zu hören, da ich eben aus dem Hexenkessel der
jungtürkischen Revolution, des nationalen und religiösen Kampfes
zwischen Serben, Bulgaren, Albanern, Griechen und Türken kam.
Ich erklärte auf Grund meiner Erfahrungen, daß sich die Serben
mit allen Mitteln der Annexion widersetzen und in der sicheren
Erwartung, von Rußland unterstützt zu werden, auch vor einem
bewaffneten Konflikt nicht zurückschrecken würden. Ihr Selbst-
vertrauen gründete sich nicht allein auf die Unterstützung Ruß-
lands; jeder Serbe rechnete mit der Unterstützung mehrerer
europäischer Staaten, deren Politik die Einkreisung der Mittel-
mächte anstrebte. Nur diese Zuversicht konnte den kleinen Bal-
kanstaat ermutigen, an einen Krieg mit dem mächtigen Nachbar
zu denken.
Die Tatsache, daß die serbische Regierung im folgenden Win-
ter 1908/09 gezwungen wurde, ihre Ansprüche zeitweilig zurück-
zustellen, verstärkte nur die Begehrlichkeit des serbischen Vol-
kes. Aus dieser Atmosphäre mußte früher oder später der Krieg
entstehen.
Am Tage der Annexionsverkündung, am 5. Oktober 1908,
langte um 9 Uhr abends die telegraphische Meldung des öster-
reichisch-ungarischen Geschäftsträgers in Belgrad ein, daß eine
Sonderausgabe der „Politika“ die sofortige Mobilisierung und den
Kampf auf Leben und Tod gegen die Donaumonarchie fordere.
„Nur in diesem Falle werden andere Mächte Serbien unter-
stützen“, hieß es in dem offiziellen Blatt. Die Manöver sollten
188
SERBISCHE KRIEGSDROHUNGEN
abgesagt und die bereitgestellten Divisionen ehestens an die
Drinagrenze gebracht werden.
Diese Stimmung war keineswegs erst durch das jüngste Er-
eignis ausgelöst worden. Sie hatte sich schon früher bei den
geringsten Anlässen gezeigt. So schrieb am 16. März 1908 die
„Vecernje Novosti“: „Im Falle Österreich-Ungarn mit dem Bau
der Bahn Uvac—Mitrovica beginnen sollte, bleibt Serbien nichts
anderes übrig, als diesem Konglomerat von Nationen4 den Krieg
zu erklären ... Wenn mit dem Bau der serbische Interessen be-
drohenden Sandschakbahn begonnen wird, dann muß Montenegro
sofort in den Sandschak und Serbien in Bosnien einfallen. An
Österreich-Ungarn muß der Krieg bis zur Vernichtung erklärt
werden. Entweder wir machen aus Serbien einen großen Fried-
hof oder wir schaffen Großserbien.“ Diesen Ton schlug die ge-
samte serbische Presse an.
Daß bei solcher Zuspitzung der Gegensätze eine kriegerische
Verwicklung nicht zu verhindern sein werde, war jedem Ein-
sichtigen klar. Es kam für die Monarchie nur darauf an, den
richtigen Zeitpunkt zu wählen. Dieser war von der Haltung
Italiens abhängig, weshalb sich Conrad um Klarstellung an das
Ministerium des Äußeren wandte. Dieses gab beruhigende Zu-
sicherungen bezüglich Italiens, verwarf aber eine entscheidende
Abrechnung mit Serbien. Obwohl sich die Verhältnisse verschärf-
ten und sich die Gefahr steigerte, daß der erhitzte Volkswille
über die Köpfe der serbischen Regierung hinweg den Krieg aus-
lösen könnte, verblieb Österreich-Ungarn auf dem Friedensfuße.
Dieser Zustand bereitete Conrad so große Besorgnis, daß er beim
Außenminister am 18. Oktober 1908 eine „Aufmarschfrist im
Wege eines möglichst lang hinauszuziehenden
Kongresses“ beantragte. Am 24. schrieb er an Baron Aehren-
thal: „Sollte es nicht gelingen, eine Situation zu schaffen, die
einen Angriff Serbiens und Montenegros ausschließt, so müsse
getrachtet werden, einen kriegerischen Austrag biszumFrüh-
jahr hinauszu schiebe n.“
Kennzeichnend für Conrads Einstellung zu einem Krieg im
allgemeinen ist seine Äußerung in der Audienz am 27. März 1909:
„Es ist ein Leichtsinn, einen ungerechtfertigten
Krieg vom Zaun zu brechen, aber nichts anderes ist ein V e r-
189
KRIEG GEGEN SERBIEN UNVERMEIDLICH
säumnis, wodurch der Krieg unter ungünstigen Bedingungen
ausgelöst wird.“
Allmählich begann sich die Überzeugung von der Unvermeid-
lichkeit eines Krieges mit Serbien auch im Ministerium des
Äußeren durchzuringen. Die schwache Haltung der Monarchie,
die rein defensive Absichten verratende zögernde Auf-
füllung der Truppenstände in Bosnien, der Herzegowina und in
Süddalmatien hatten den Mut der Serben nur belebt. Selbst
Baron Aehrenthal rechnete jetzt mit dem Krieg. In der Mini-
sterratssitzung vom 29. März 1909 wurde die gewaltsame Lösung
der Krise beschlossen. Hierauf reagierte Rußland — unterstützt
durch die Regierungen Englands, Frankreichs und Italiens —
mit der Aufforderung an Serbien, seine Ansprüche aufzugeben.
Serbien versuchte auch jetzt noch, im März 1909, die Lösung
zu verzögern. Erst am 31. März wurde von seinem Gesandten
in Wien die von den Mächten vorgeschriebene Erklärung abge-
geben, wonach „das Königreich Serbien anerkennt, daß es seine
Rechte durch die Annexion nicht berührt sehe, seinen Protest
aufgebe und sein Heer auf den Stand vom Frühjahr 1908 zurück-
führen wolle“.
Diese Note erweckte allgemein den Eindruck eines vollen Er-
folges der Monarchie. Nur Conrad war anderer Ansicht. Er
schreibt: „Es hat wenig Voraussicht dazu gehört, zu ermessen,
daß Serbien nie daran denken würde, sein Versprechen zu hal-
ten; der diplomatische Scheinerfolg war gewahrt, im Wesen aber
die letzte Gelegenheit versäumt, mit Serbien entscheidend abzu-
rechnen. Die Folgen blieben nicht aus. Serbien blieb der unab-
lässige Störefried, es tat das Gegenteil von all dem, was es
versprochen hatte, es verstärkte und verbesserte unter finanzieller
Unterstützung Frankreichs mit hastiger Kraftanstrengung seine
Wehrmacht, nährte mit allen Mitteln den Haß gegen Österreich-
Ungarn und setzte seine unterwühlende Propaganda fort.“
Conrad sah mit schwerer Sorge der Zukunft entgegen... In
dieser Zeit entstand sein verzweifelter Ausspruch: „Nie ent-
schlossen, die ihm günstigen Momente zu erfassen, wankte nun
das alte Reich dem Unheil zu!“
190
FRANZÖS. - RUSSISCHE FREUNDSCHAFT
Die Einkreisung der Mittelmächte
Das Verhältnis zu Frankreich
Die Politik Frankreichs war für die Donaumonarchie von
ausschlaggebender Bedeutung, weil sie sich in erster Linie
gegen den einzigen verläßlichen Verbündeten, das Deutsche
Reich, richtete.
Frankreichs enges Verhältnis zu Rußland und England legte
Conrad die Verpflichtung auf, sich eingehend mit den politischen
Vorgängen in diesem Lande zu befassen.
Dem Bündnisvertrag Frankreichs mit Rußland vom 28. August
1891 war ein französischer Flottenbesuch in Kronstadt voraus-
gegangen, worauf im Jänner 1893 der Gegenbesuch der russi-
schen Flotte in Toulon erfolgte. Zar Nikolaus II. hatte 1896,
dann 1901 und 1909 Frankreich besucht und an den großen
Manövern in Compiegne teilgenommen — die Beziehungen waren
also schon sehr innige. Frankreichs Politik war nicht allein durch
die „Revanche“ und den Wunsch auf Rückeroberung von Elsaß-
Lothringen diktiert, es wirkte auch die Sorge vor der wirtschaft-
lichen Erstarkung Deutschlands mit. Diese Gefahr war nur durch
die Zertrümmerung des Deutschen Reiches zu bannen, wozu die
Gewinnung recht zahlreicher Bundesgenossen Tätlich erschien.
Selbst Österreich-Ungarn kam als solcher in Betracht. Als aber
Kaiser Franz Joseph ein diesbezügliches Ansinnen mit nicht
mißzuverstehender Klarheit zurückwies, wurde der Weg der
nationalen Zersetzung der Monarchie gewählt. In diese Zeit fällt
die Anbahnung enger Beziehungen Frankreichs zu den Slawen,
vornehmlich den Tschechen.
Conrad hat nach dem Kriege in seinen Memoiren die Ziele
der französischen Politik wie folgt beurteilt: „Die Besorgnis vor
Deutschlands wirtschaftlichem Erblühen und die Furcht vor sei-
ner politischen Machtentwicklung haben Deutschlands Feinden
die Waffen in die Hand gedrückt, sie zum gemeinsamen Über-
fall auf den gefährlichen Wettbewerber vereint, der niederge-
schlagen und zertreten werden mußte; mit ihm aber auch sein
Bundesgenosse Österreich-Ungarn, an dem hiezu in herausfor-
191
VERNICHTUNG ODER VERSKLAVUNG
dernder Weise der Hebel angesetzt und dem in den Arm gefallen
wurde, als er sieb dagegen wehren wollte. So weit historische
Erinnerung zurückreicht, die brutalste Verkörperung eines von
materieller Gewinnsucht getriebenen Konkurrenzkampfes, der
das Kulturleben zerstört und die niedrigsten Instinkte der
Menschheit an die Oberfläche gezogen hat. Schon lange für den
gemeinsamen Krieg geeint, haben sich Frankreich, Rußland und
England nicht bloß die Zerstörung des Deutschen Reiches zum
Ziele gesetzt, und dies nicht nur durch den Kampf mit den
Waffen und eine reich finanzierte Propaganda, sondern auch
durch Entziehung der Existenzmittel verfolgt, bis zu jenem Hun-
ger, der die Sterblichkeit erhöhen und zum physischen Nieder-
gang von Generationen führen sollte. Dies richtete sich gegen
alle Deutschen; sie mögen daran ermessen, wofür sie im Welt-
krieg gekämpft haben und was sie zu gewärtigen hatten, als sie
die Waffen niederlegten.
Die Entente hat — auf moderne Verhältnisse übertragen —
dem Krieg wieder die antiken Formen gegeben, welche die phy-
sische Vernichtung oder die Versklavung des Gegners zum Ziele
nahmen.“
Österreich-Ungarn und Rußland
Rußlands Politik bewegte sich nach dem japanischen Krieg
und der ihm folgenden Revolution im Schlepptau Frankreichs
und Englands. Es stand überdies an der Spitze der panslawisti-
schen Kriegshetze, die immer schärfere Formen gegen Österreich-
Ungarn annahm.
Bei der Beurteilung der militärischen Vorgänge in Rußland
war von Wichtigkeit, Verläßliches über die Versammlung seiner
Kräfte im Falle eines Krieges zu erfahren. Es war vor Jahren
gelungen, das Aufmarschelaborat zu beschaffen, seither hatte
sich aber vieles geändert.
Im Jahre 1909 entstanden Gerüchte über die Rückverlegung
des russischen Aufmarsches und die Räumung des weit nach
Westen vorspringenden Polen. Der Militärattache, der den Auf-
trag hatte, diesem Gegenstand besondere Aufmerksamkeit zuzu-
wenden, berichtete, daß die Russen wegen der Rückständigkeit
192
FRANZÖSISCHE MILLIARDEN FÜR RUSSLAND
ihrer Vorbereitungen im Jahre 1910 kaum imstande sein wür-
den, anders als nach dem alten Plan aufzumarschieren. Der
russische Generalstab beschäftigte sich wohl mit einem neuen
Plan, der aber 1910 noch nicht durchführbar sei. Dies erklärt,
weshalb das Zarenreich anläßlich der Annexionskrise im Früh-
jahr 1909 ängstlich bemüht war, Serbien von überstürzten Schrit-
ten gegen die Monarchie abzuhalten.
Diese Verhältnisse änderten sich plötzlich durch das Eingreifen
Frankreichs. Der französische Generalstab war zur Erkenntnis
gelangt, daß Rußland in seiner gegenwärtigen Verfassung ein
Bundesgenosse von sehr fraglichem Werte sei. Seine Wehrmacht
und alle militärischen Einrichtungen mußten einer gründlichen
Durchsicht unterzogen werden. Es waren große Summen not-
wendig, uni die Rückständigkeiten zu beheben, und vor allem,
um die brachliegenden personellen Kraftquellen des russischen
Reiches in den Dienst der Entente zu stellen.
Wer an den aggressiven Absichten des sich gegen die Mittel-
mächte bildenden Staatenblockes noch zweifelte, mußte durch
die Nachricht eines besseren belehrt werden, daß Frankreich
Rußland einen Milliardenkredit gewährt habe. Es wurde kein
Geheimnis daraus gemacht, daß diese Anleihe nicht etwa wirt-
schaftlichen Zwecken, sondern vor allem dem Ausbau der aus
dem Innern des Reiches nach dem Westen führenden Aufmarsch-
bahnen dienen sollte.
Rußland war 1904 trotz seinem schier unerschöpflichen Men-
schenmaterial Japan unterlegen. Die überlegene höhere Füh-
rung und die weit bessere kriegsmäßige Ausbildung des japa-
nischen Heeres hätten nicht genügt, diesen Waffenerfolg zu
erringen, wenn Rußland mit der überwältigenden militärischen
Macht aufgetreten wäre, die in seiner weit größeren Einwohner-
zahl lag. Diese konnte es aber nicht geltend machen, weil die
Verbindung zwischen der im Fernen Osten operierenden Armee
und den materiellen und personellen Kraftquellen des Hinter-
landes lediglich in der transsibirischen Bahn bestand, deren Lei-
stungsfähigkeit sehr beschränkt war. Die wenigen Züge reichten
kaum hin, die gegen Japan aufgebotenen Kräfte und ihre Be-
dürfnisse heranzubringen, geschweige die Truppenmassen nach-
zuschieben, die notwendig waren, als der russische Generalstab
13
193
VORMUNDSCHAFT ÜBER RUSSLAND
erkennen mußte, daß man die Japaner an Zahl und Qualität
unterschätzt hatte.
So wurde denn der Kampf aus Prestigegründen angenommen,
obwohl er den Keim des Mißerfolges in sich trug. Die Rückwir-
kung der russischen Niederlagen gegen den als minderwertig
eingeschätzten Gegner der „gelben Rasse“ hatte das Reich an
den Rand des Abgrundes gebracht. Nur dem diplomatischen Ge-
schick des Staatsrates Witte war es zu danken, daß sich Ruß-
land im Frieden von Portsmouth annehmbare Bedingungen
sicherte, welche die öffentliche Meinung beruhigten und für dies-
mal die Katastrophe abwendeten.
Diese Erfahrungen blieben nicht ohne Wirkung auf die lei-
tenden militärischen Kreise Rußlands, sie fanden aber weit mehr
Verständnis beim französischen Generalstab, der nach Gewährung
der Milliardenkredite die Kontrolle über alle Wehreinrichtungen
seines Verbündeten übernahm. Die französische Militärmission
erkannte als erste Aufgabe den Ausbau des unzureichenden
nach dem Westen führenden Netzes der Aufmarschbahnen und
die Ausnützung des gewaltigen Menschenmaterials. Den militäri-
schen Abmachungen folgten bald offizielle Besuche der Regie-
rungschefs und häufige Reisen französischer Generalstabsoffiziere
nach Rußland. Der französische Bürger, der seine Sparpfennige
für die Anleihe hergegeben hatte, wollte wissen, ob sein Geld
auch gut angelegt sei. Ich konnte dem Chef des Generalstabes
schon nach kurzer Zeit eine Reihe von Maßnahmen melden,
welche die Masse der männlichen Bevölkerung Rußlands für die
Wehrmacht dienstbar machen sollten. Formationen höherer Ord-
nung wurden plötzlich aus dem Boden gestampft, Ausrüstungs-
depots wurden errichtet, das Artilleriematerial modernisiert, das
Flugwesen ins Leben gerufen. Die Franzosen übernahmen auch
die Ausbildung des russischen Generalstabes und des Heeres.
Probemobilisierungen sollten die Schlagkraft der neuen Ver-
bände erweisen. Die großen Manöver — bisher Paradevorfüh-
rungen veralteten Stils — wurden nach französischem Muster
angelegt. Um dem französischen Sparer einen Vorgeschmack der
„gloire“ zu geben, wurden russische Gäste zu den großen Manö-
vern geladen, die sich mit Vorliebe an der deutschen Grenze
abspielten. Bei solch einer Gelegenheit wurde der bekannte Deut-
194
RUSSISCHE PROPAGANDA IN GALIZIEN
schenhasser Großfürst Nikolaus Nikolajewitsch, der voraussicht-
liche Führer der russischen Armeen im Kriege, mit seiner Ge-
mahlin hart an die Grenze geführt, wo er in einer scharf be-
tonten Rede mit einer bezeichnenden Geste nach dem Osten die
Bedeutung des franko-russischen Bündnisses pries.
Das Zarenreich stand als Protektor der Slawen namentlich
nach der Annexionskrise in scharfem Gegensatz zur Donau-
monarchie. Es unterstützte seine aggressiven Ziele durch eine
verschärfte Agitation in den slawischen Gebieten. Eine beson-
ders rührige Propaganda setzte in dem angrenzenden Galizien
ein, wo rund vier Millionen Polen im Westen und nahezu eben-
soviele Ruthenen im Osten lebten. Die Polen sind Katholiken
mit einer älteren Kultur, die Ruthenen, den Kleinrussen stamm-
verwandt, sind Bekenner der griechischen Religion. Galizien
stand unter polnischer Verwaltung, der Statthalter war grund-
sätzlich ein Mitglied des polnischen Hochadels, und die fast
durchwegs aus Polen zusammengesetzte Landesregierung drückte
dem Land ihren nationalen Charakter auf. Die Polen wider-
setzten sich hartnäckig der von den Ruthenen geforderten Tei-
lung Galiziens in zwei national gesonderte Verwaltungsgebiete.
Sie nahmen überdies in der Innenpolitik der Monarchie seit
jeher eine bevorzugte Stellung ein, was nationale Reibungen
ergab, die russischerseits sehr geschickt zu einer Propaganda
für die Vereinigung der ruthenischen Gebiete mit dem Zaren-
reich ausgenützt wurden.
In einer Audienz im April 1910 berichtete Conrad dem Kaiser
über die russische Agitation in Galizien und betonte die Notwen-
digkeit der Abwehr dieser Wühlarbeit. Rußland verstand es
dank seiner ausgebildeten Polizeiorganisation, seine Kriegsvor-
bereitungen zu verschleiern. Die deutschen und österreichisch-
ungarischen Militärattaches wurden streng überwacht, ihre Rei-
sen begegneten Schwierigkeiten: sie wurden nur mehr zu Pa-
raden eingeladen und von der Teilnahme an Manövern ausge-
schlossen.
In Kazan befanden sich auf Grund eines alten Übereinkom-
mens dauernd zwei Offiziere des österreichisch-ungarischen Ge-
neralstabes zur Erlernung der russischen Sprache, und umgekehrt
russische Offiziere zur Erweiterung ihrer Sprachkenntnisse in
13*
195
RUSSISCHE SPIONAGE
Linz und Budapest. Während letzteren volle Bewegungsfreiheit
gewährt wurde, unterlagen die österreichisch-ungarischen Offiziere
einer strengen Kontrolle. Die weitverzweigte Polizeiorganisation
Rußlands verschloß jedem Fremden den Einblick in innere Ver-
hältnisse. Es war unter diesen Umständen sehr schwierig, Kund-
schafter anzuwerben. Geldmangel und die Empfindlichkeit des
Ministeriums des Äußeren gegen den militärischen Ausspähungs-
dienst beschränkten die Entsendung fachmännisch gebildeter
Offiziere zu Rekognoszierungszwecken. Dies machte eine zutref-
fende Orientierung über die auf ein weites Gebiet verteilten
Machtfaktoren Rußlands unmöglich. Das Fehlen einer verläß-
lichen Grundlage für die operativen Kalküle des Chefs des Ge-
neralstabes, die das Evidenzbüro trotz Aufbietung aller Mittel
nicht einwandfrei zu beschaffen vermochte, bildete eine dauernde
Sorge Conrads.
Im Gegensatz zu dieser durch allerlei Rücksichten beengten
Kundschaftstätigkeit arbeitete die russische Spionage unter werk-
tätigster staatlicher Unterstützung mit vollen Segeln. Die Grenz-
wache und Grenzgendarmerie bildeten den Rückhalt für die
Ausspähung und nationale Propaganda in den Grenzgebieten.
Die Kundschafter rekrutierten sich zum Großteil aus den für
jeden Gelderwerb stets bereiten Juden, die mit ihren Glaubens-
genossen jenseits der Grenze in dauernden Handelsbeziehungen
standen. Der Wert der durch diese Spione erworbenen Nach-
richten war allerdings fraglich, diese breite, über das ganze
Grenzgebiet ausgedehnte Organisation war aber nicht zu unter-
schätzen, weil sich die Bauernschaft und selbst die ruthenische
Geistlichkeit, seit Generationen verschuldet, zum Großteil in den
Händen der Juden befanden. Erfolgreich unterstützt wurde der
Kundschaftsdienst durch den von den Juden nach beiden Rich-
tungen betriebenen Schmuggel. Die sprichwörtliche Korruption
in allen Ständen Rußlands sorgte dafür, daß ein beträchtlicher
Teil der für Spionage aufgewendeten Mittel in die Taschen der
Beamten floß. Das „Spionieren“ gehörte in den Grenzgebieten
zur beliebten Beschäftigung; der relativ leichte Gelderwerb schuf
eine starke Versuchung. Die Gesamtleistung stand aber nicht im
Verhältnis zu den hiefür verausgabten Summen.
Weit gefährlicher war die russische Auslandsspionage, mit
196
DIE RUSSISCHEN MILITÄRATTACHES
deren Leitung die „Oehrana“, die Geheimpolizei, betraut war.
Ihren Agenten oblag die Anwerbung der Auslandsspione, was
dank der zur Verfügung stehenden reichlichen Mittel nicht
schwer war.
Der Umstand, daß es dem Personal der russischen Auslands-
vertretungen instruktionsgemäß zur Pflicht gemacht war, sich
aktiv im Spionagedienst zu betätigen, förderte die Ausspähung.
Die Militärattaches und die in allen größeren Städten des Aus-
landes sitzenden Konsularagenten, die mit den Organen der
Geheimpolizei zusammenarbeiteten, waren in der Lage, wert-
volles Material zu beschaffen. Es verstand sich daher von selbst,
daß man sich für deren Tun und Lassen interessierte. Während
meiner Amtstätigkeit wurden zwei Militärattaches der russischen
Botschaft in Wien der Spionage überwiesen und mußten ihren
Posten verlassen.
Schon mehrere Jahre vorher hatte einer ihrer Vorgänger, der
uns im Weltkrieg als Armeeführer gegenüberstand, einen ge-
lungenen Trick ausgeführt. Als die Räume des alten Kriegsmini-
steriums „Am Hof“ in Wien den gesteigerten Bedürfnissen nicht
mehr genügten, mußten in der Nähe Privatwohnungen gemietet
werden. In einem dieser Häuser in der Bognergasse, wo einige
Ministerialabteilungen — darunter die für Befestigungsbauten —
untergebracht waren, mietete sich der russische Militärattache
unter einem Decknamen ein Zimmer. Es gelang ihm, einen
Armeediener zu bestechen, der ihm. auf seinen Rundgängen die
Verschlußtasche brachte, womit die Reservatakten in Umlauf
gesetzt wurden. So nahm der Russe die längste Zeit Einsicht
in die geheimsten Dienststücke des Kriegsministeriums und des
Generalstabschefs, bis durch einen Zufall dieses Treiben aufge-
deckt und ihm das Handwerk gelegt wurde.
Als ich das Evidenzbüro übernahm, war ein Oberst M. rus-
sischer Militärattache in Wien. Ich lernte ihn bei den nächsten
Kaisermanövern im Attachequartier als einen bequemen Herrn
kennen, der beim ersten Antraben über seine Leber zu klagen
begann. Seinem Rangverhältnisse nach sollte er bald ein
Kavallerieregiment irgendwo im weiten russischen Reich über-
nehmen. Das paßte diesem im diplomatischen Dienst verweich-
lichten Offizier nicht. Er strebte daher die Übernahme in das
197
WARNUNG EINES „PATRIOTEN“
diplomatische Korps an und verstand es, die Konjunktur er-
fassend, sich sowohl beim Außenminister wie beim Thronfolger
in Gunst zu setzen, indem er deren Programm einer öster-
reichisch-ungarischen Annäherung an Rußland auch zu dem
seinigen machte. Dies hinderte jedoch den Oberst M. nicht, auch
weiterhin den unmittelbaren Verkehr mit den Kundschaftern
aufrechtzuerhalten.
Eines Tages erhielt das Evidenzbüro aus dem Auslande eine
von einem „Patrioten“ Unterzeichnete Warnung, daß ein öster-
reichischer Untertan in der Hauptstadt des betreffenden Landes
Zusammenkünfte mit einem Organ des Nachrichtendienstes habe.
Der Anzeige lag eine Photographie bei, worauf am Fuß eines
Monumentes zwei Männer zu sehen waren. Der eine von ihnen
sollte der österreichische Spion sein.
Durch die Erhebungen der Kundschaftsgruppe des Evidenz-
büros wurde dieser Mann, von dem lediglich das Lichtbild vor-
lag, als ein Beamter in Wien ausgeforscht. Die Beobachtung
ergab, daß er von Zeit zu Zeit an wechselnden Orten Zusammen-
künfte mit dem russischen Militärattache habe. Die Verhaftung
eines Mitgliedes des diplomatischen Korps schien in dieser Zeit
politischer Hochspannung nicht opportun. Ich ordnete daher
an, daß nach der nächsten Zusammenkunft der Beamte allein
zu verhaften und auf die nächste Polizeistation zu bringen sei,
wo er sofort einem Verhör unterzogen werden sollte. Es war zu
erwarten, daß er in der ersten Überraschung ein Geständnis ab-
legen würde, womit die Grundlage für die Abberufung des
kompromittierten Attaches gegeben war.
Die Ereignisse spielten sich programmgemäß ab. Der Ver-
haftete gestand die wiederholte Übergabe von Schriften reser-
vierten Inhaltes an Oberst M. Conrad beauftragte mich, den Fall
dem Außenminister mit der Aufforderung zu melden, die nötigen
Schritte zur Abberufung des kompromittierten Russen einzuleiten.
Die Sache kam dem Grafen Aehrenthal äußerst ungelegen,
insbesondere, als ich ihn aufmerksam machte, daß am nächsten
Tag ein Hofball stattfinde. Der Kaiser pflegte hiebei das diplo-
matische Korps zu empfangen und einzelne Mitglieder ins Ge-
spräch zu ziehen. Man konnte dem Monarchen nicht zumuten,
einem fremden Staatsangehörigen freundschaftlich entgegenzu-
198
HOFBALL OHNE RUSSEN
kommen, der sich gegen die ihm gewährte Gastfreundschaft ver-
gangen hatte.
Graf Aehrenthal entschloß sich, den Fall dem Kaiser vorzu-
tragen, und dieser entschied, daß er keinen Einfluß darauf neh-
men wolle, ob Oberst M. beim Hofball erscheine oder nicht, er
würde ihn aber keiner Ansprache würdigen.
Beim Einzug des diplomatischen Korps in den großen Re-
doutensaal der Hofburg fehlten die — Russen. Sie hatten sich
nach dem Empfang unter dem Vorwand der Hoftrauer nach
einem Großfürsten zurückgezogen. Wenige Tage nach dem Hof-
ball verschwand Oberst M. wegen einer angeblichen Erkrankung
für immer von Wien.
Sein Nachfolger hatte noch weniger Glück. Natürlich interes-
sierte man sich für den neuen Attache noch mehr. Bei den ver-
zweifelten Versuchen, im Sinne seiner Instruktion mit Agenten
des rassischen Kundschaftsdienstes zusammenzukommen, schlug
er die kompliziertesten Wege ein, um sich der Überwachung zu
entziehen. Es entbehrte nicht des Humors, wenn ich in einer
Abendgesellschaft mit ihm zusammentraf und an all die Irr-
fahrten denken mußte, die er in Ausübung seines Dienstes tags-
über unternommen hatte. Auch dieser Russe mußte — der
Spionage überwiesen — bald Wien verlassen. Sein Nachfolger
traf kurze Zeit vor Ausbruch des Krieges ein.
Der russische Nachrichtendienst bemühte sich, die Leistungen
seiner Agenten dadurch zu heben, daß er sie in Spionage-
schulen für ihren Beruf vorbereiten ließ.
Spionage und nationale Propaganda mögen an den ersten
Waffenerfolgen der überlegenen russischen Armee ihren Anteil
gehabt haben. Durch die folgenden Niederlagen waren aber diese
Friedensvorsorgen zerstört, und einer den geänderten Verhält-
nissen angepaßten Improvisation waren die Russen in ihrer
Schwerfälligkeit nicht gewachsen. Ihr Nachrichtendienst versagte
in diesem Stadium trotz seiner alteingelebten, weitverzweigten
Organisation vollkommen.
Rußland hatte sich, obzwar Österreich-Ungarn und Deutsch-
land große Anstrengungen machten, die freundnachbarlichen
Beziehungen wiederherzustellen, mit Leib und Seele Frankreich
199
NATIONALE ANSPRÜCHE SERBIENS
verschrieben. Die heilige Allianz, die vor rund 100 Jahren
Frankreich den Fuß auf den Nacken gesetzt hatte, war endgültig
gelöst. Die Einkreisung der Mittelmächte war nahezu vollzogen;
im Westen wie im Osten standen sie vor einem Wall von Bajonet-
ten, im Süden triumphierten die Serben, Lücken blieben nur im
Südosten und Südwesten.
Das Verhältnis zu Serbien
Das politische Ziel Serbiens war die Losreißung der süd-
slawischen Gebiete der Monarchie und deren Vereinigung zu
einem großserbischen Reich unter der herrschenden Dynastie.
Zu den österreichischen Südslawen zählten 1,175.000 Slowenen
und, einschließlich der bosnisch-herzegowinischen Mohamme-
daner, 4,800.000 Kroaten und Serben. Obwohl stammverwandt,
sind diese Völker in vieler Beziehung verschieden. Im beson-
deren konnte sich der Gegensatz zwischen Kroaten und Serben
bis zu erbittertem Haß steigern. Trotzdem gelang es dem von
nur 2,000.000 orthodoxen Serben bewohnten Königreich, das
politische Programm seines Herrscherhauses zum Ziel der Mehr-
heit der Südslawen zu machen.
Die nationalen Ansprüche Serbiens reichen zum Berliner Kon-
greß in das Jahr 1878 zurück, als Österreich-Ungarn das Mandat
zur Okkupation von Bosnien und Herzegowina übertragen wurde.
Diese Ansprüche schwanden auch nicht nach der Annexion
dieser Provinzen durch die Monarchie. Die Weisungen der ser-
bischen Regierung an ihre Gesandtschaft in Wien vom 17. April
1909 — nach dem Nachgeben in der Annexionskrise —, betref-
fend die Fortführung der großserbischen Propaganda, lassen dar-
über keinen Zweifel. Sie stellten „Mittel für die militärischen In-
formationen und einen Betrag für die Beeinflussung der öster-
reichisch-ungarischen Presse in Aussicht“. Weiter hieß es: „Die
nationale Propaganda im slawischen Süden wird der allslawi-
schen Propaganda untergeordnet, deren Organisation im brüder-
lichen Rußland liegt; diese Organisation wird über reichliche
Mittel verfügen. Im brüderlichen tschechischen Königreich wird
ein neuer Brennpunkt projektiert. Soweit eine politisch-revolu-
tionäre Propaganda notwendig erscheint, soll sie von nun an von
200
DIMITRIEVIC, GENANNT „APIS“
Petersburg und vom Goldenen Prag besorgt werden. Wir werden
diese Tätigkeit durch Verbindungen fördern, deren Unterhaltung
der serbische Generalstab auch in Hinkunft sich angelegen sein
lassen wird.“
In keinem Staat hat die politische Kundschaftstätigkeit so
mustergültig mit der militärischen zusammengearbeitet wie in
Serbien. Die Mordnacht des 29. Mai 1903, da der letzte König
aus dem Hause Obrenovic und seine Gattin durch Mörderhand
fielen und das neue Herrscherhaus zum Thron gelangte, ist der
Ausgangspunkt für den Krieg gegen Österreich-Ungarn. Diese
Tragödie rückte den Generalstabshauptmann Dragutin Dimitrie-
vic in den Vordergrund, dessen Tätigkeit auf nationalem Gebiet
unzertrennlich ist von der Geschichte des neuen Reiches. Er war
es, der, von national-revolutionärem Geist erfüllt, vor allem das
serbische Offizierskorps mitgerissen hat. Am Tage nach der Er-
mordung bekannte sich das Volk zu dem durch mehrere Brust-
schüsse verwundeten Hauptmann Dimitrievic, dem das Hauptver-
dienst für das Gelingen des Verschwörungsplanes zugesprochen
wurde, und nannte ihn den „Retter des Vaterlandes“. Seither
spielte Dimitrievic in der Politik Serbiens eine hervorragende
Rolle. Umgeben von einer Gruppe blind ergebener junger Offi-
ziere, riß er bald die Führung an sich. Ein Tisch im Restaurant
Kolarac in Belgrad, an dem er präsidierte, wurde der „Exekutiv-
ausschuß des Königreiches Serbien“ benannt.
Im November 1911 meldete der österreichisch-ungarische
Militärattache in Belgrad die Gründung einer terroristischen
Organisation, „Die schwarze Hand“ — in Wirklichkeit hieß sie
„Einigung oder Tod“ —, in welcher der Generalstabsmajor
Dimitrievic die leitende Persönlichkeit war. Diese großserbisch-
irredentistische Vereinigung hatte sich die Zertrümmerung der
Monarchie zum Ziel gesetzt. Ihr Wirken ist durch eine Reihe
von Attentaten gegen österreichisch-ungarische Würdenträger
gekennzeichnet.
Nach dem zweiten Balkankrieg wurde Dimitrievic im Juni
1913 zum Chef des Nachrichtenbüros im serbischen Generalstab
ernannt. Als solcher war er die Seele des Attentates gegen den
Thronfolger, zu dessen Ausführung er die Zustimmung gab, nach-
dem er sich vom russischen Militärattache Oberst Artamanof?
201
„GROSS-SERBIEN“ DAS GEMEINSAME ZIEL
die Zusicherung hatte geben lassen, Rußland werde auch nach-
her Serbien nicht im Stiche lassen. Eine seltsame Schicksals-
fügung wollte es, daß dieser Mann, der einstige „Retter des
Vaterlandes“ und Begründer des heutigen vergrößerten Serben-
reiches, im Jahre 1917 als Verräter an König und Vaterland
zum Tode verurteilt wurde.
Die Gefährlichkeit des serbischen Kundschaftsdienstes lag vor
allem in seiner politischen Betätigung. Jeder Serbe, der bei dem
regen Grenzverkehr österreichisch-ungarisches Gebiet betrat, war
in seinem nationalen Haß ein Spion. Die militärische Ausspähung
fand ihre wesentlichste Stütze in den Stammesbrüdern jenseits
der Grenze, vor allem in der studierenden Jugend, die sich mit
fanatischer Begeisterung den großserbischen Idealen hingab.
Für jede Aufgabe des offensiven Kundschaftsdienstes meldeten
sich Freiwillige, die um des Vaterlandes wülen gern ihr Leben
ließen. In den Komitadschibanden vereinigten sich Offiziere und
Intellektuelle mit Räubern zu dem gemeinsamen Ziel „Groß-
Serbien!“.
Der nationalen Idee dienten auch die Grenzpolizei und Finanz-
wache. Sie unterstützten in jeder Weise den militärischen Kund-
schaftsdienst und bildeten andererseits einen schwer zu über-
windenden Wall gegen das Vordringen der Spionage in das
eigene Land.
Der großserbische Gedanke hatte auch Montenegro erfaßt.
Daran änderte wenig, daß die Idee des Zusammenschlusses aller
Südslawen den Bestand der montenegrinischen Dynastie bedrohte.
Auch dem Volk der Schwarzen Berge war die benachbarte Mon-
archie ein Hindernis auf dem Weg der Einigung, die nur durch
einen Krieg zu erreichen war. Der mächtige Einfluß Rußlands
in Cetinje hatte die Bewohner Montenegros längst schon auf
diesen Waffengang vorbereitet. So blühten Spionage und Pro-
paganda auch an dieser Grenze.
Das Verhältnis zu Rumänien
In einer Denkschrift vom Jahr 1910 hat Conrad das Verhält-
nis Österreich-Ungarns zu Rumänien wie folgt gekennzeichnet:
„Eingeengt zwischen Bulgarien und Rußland und in steter Sorge,
202
CONRADS MISSION IN RUMÄNIEN
durch den Zusammenschluß dieser beiden Staaten erdrückt zu
werden, einerseits besorgt um die Dobrudscha und andererseits
getragen von den Aspirationen auf Bessarabien, steht Rumänien
in einem natürlichen Gegensätze zu Bulgarien und Rußland und
tritt damit naturgemäß auf die Seite der österreichisch-ungari-
schen Monarchie und Deutschlands. Das Bündnis hat greifbare
Formen angenommen in Vereinbarungen militärischer Natur,
welche eine Voraussetzung bei den diesseitigen konkreten Kriegs-
vorbereitungen bilden.“
Im Jahr 1911 konnte der österreichisch-ungarische Militär-
attache in Bukarest berichten, daß vor der Einflußnahme des
eigenen Generalstabes keinerlei Aufmarschvorbereitungen Ru-
mäniens gegen Rußland bestanden hätten; daß sie aber jetzt,
über Wunsch der Monarchie, in Angriff genommen würden.
Dieser Einfluß ging so weit, daß Conrad den Raum festsetzte,
wo ein gemeinsames Vorgehen der beiden Armeen zu erfolgen
hätte. Die Beziehungen der beiden Generalstäbe wurden in den
nächsten Monaten so enge, daß der Militärattache meldete, es
werde an den Aufmarschplänen ganz im Sinne Österreich-
Ungarns gearbeitet.
Durch den Balkankrieg ergab sich eine schwierige Lage der
Donaumonarchie gegenüber Rumänien. Die feindselige, auf Los-
reißung von Gebieten und letzten Endes auf die Vernichtung
Österreich-Ungarns abzielende Haltung Serbiens zwang zu einer
politischen Unterstützung Bulgariens, was in Rumänien Miß-
stimmung erregen mußte. Um in diesem Zwiespalt die alten
bündnistreuen Absichten der Monarchie zu unterstreichen und
den Abmachungen eine bindende Form zu geben, wurde Conrad
im Herbst 1912 mit der Aufgabe betraut, in persönlicher Füh-
lungnahme mit König Carol, dem Regierungschef und dem Chef
des rumänischen Generalstabes ein klares Bild der Lage zu
schaffen und zu verhindern, daß Rumänien in der Sorge vor
Bulgarien in seiner Haltung zum Dreibund wankend werde.
Es kam zu sehr konkreten Abmachungen, namentlich mit dem
Generalstab, wonach Rumänien im Fall eines russischen An-
griffes mit zehn aktiven und fünf Reservedivisionen gegen Ruß-
land aufmarschieren sollte. Außerdem war eine italienische
Gruppe von 40.000 Mann zur Unterstützung Rumäniens in Aus-
203
VERSTIMMUNG MIT RUMÄNIEN
sicht gestellt Der König und der Ministerpräsident Minurescu
versicherten, „Rumänien würde seine Bündnispflicht treu er-
füllen“. Die Vereinbarungen für den Kriegsfall wurden mit dem
Chef des Generalstabes schriftlich festgelegt.
Der Ausgang des ersten Balkankrieges, die darauffolgenden
Differenzen zwischen Serbien und Griechenland einerseits und
Bulgarien andererseits brachten plötzlich einen grundlegenden
Wandel in die Beziehungen zwischen der Donaumonarchie und
Rumänien. Am 6. Jänner 1913 berichtete der österreichisch-
ungarische Militärattache in Bukarest, daß die mit Bulgarien
schwebenden Fragen alle rumänischen Staatsmänner so in An-
spruch nehmen, daß Vorbereitungen für einen Feldzug an der
Seite der Monarchie gegen Rußland niemand interessieren. Er
beschwor, alles aufzubieten, um Rumäniens Forderungen zu be-
friedigen. Wenige Tage später schrieb er, daß der Augenblick
gekommen sei, da unsere Beziehungen die Feuerprobe bestehen
müßten.
Die ersten Anzeichen der Verstimmung zeigten sich im Jänner
1913 selbst bei König Carol. Rumänien forderte Beweise des
Interesses und wollte sich nicht mit platonischen Beteuerungen
zufrieden geben. Man beklagte sich über den Verkauf von 50.000
österreichisch-ungarischen Gewehren an Bulgarien. Abermals
beschwor der Attache, sich Rumänien um jeden Preis zu er-
halten.
Im Juli 1913 mobilisierte die rumänische Armee, um in den
zweiten Balkankrieg einzugreifen. Man zeigte dabei keine Be-
fürchtungen mehr vor Rußland, aber Besorgnisse wegen des Ver-
haltens Österreaeh-Ungarns. Diesen Umschwung leitete die
rumänische Presse durch eine sehr scharfe Sprache ein. Sym-
pathien für Serbien, Brandreden gegen Österreich-Ungarn traten
immer deutlicher hervor und schürten zum Haß.
Am 10. August 1913 wurde der Bukarester Friede geschlossen,
der Bulgarien um alle Früchte des opfervollen ersten Balkan-
krieges brachte. Die Monarchie, mit den Bestimmungen nicht
zufrieden, forderte deren Abänderung zugunsten Bulgariens.
Damit waren die Fäden zwischen Österreich-Ungarn und Ru-
mänien zerrissen. Schon erhob die Presse Ansprüche auf Ge-
biete der Donaumonarchie. Die Stimmung hatte plötzlich derart
204
RUMÄNIEN WIRD ZUM „FEIND“
umgeschlagen, daß sich Conrad in seinem Memoire von 6. De-
zember 1913 gezwungen sah, mit Rumänien „als Feind“ zu
rechnen.
In einer Audienz mußte er seinem Allerhöchsten Kriegs-
herrn den Antrag stellen, im Falle eines Krieges gegen Serbien,
mit Rücksicht auf die Haltung Rumäniens, das XII. Korps in
Siebenbürgen zu belassen. Am 3. November schrieb er an den
Minister des Äußeren, daß mit Rumänien als Bundesgenossen
nicht mehr zu rechnen sei, es werde wahrscheinlich auf der Seite
der Feinde stehen. Solange König Carol lebe, bestehe eine leise
Hoffnung, daß Rumänien seine Bündnistreue halte, der Erbe des
Thrones aber biete keine Sicherheit mehr dafür.
Bald mußte aber auch König Carol der allgemeinen Stimmung
Rechnung tragen. Am 12. Dezember 1913 berichtete der Militär-
attache, der König habe erklärt, daß er unter den herrschenden
Verhältnissen nicht in der Lage sei, für die Einhaltung des
Bündnisvertrages zu bürgen. Dies veranlaßte Conrad zum ersten-
mal, die Vorbereitungen für den Kriegsfall gegen Rumänien be-
arbeiten zu lassen. Im politischen Resume zu Beginn des Jahres
1914 schrieb er: „Zu den bedauerlichen Resultaten des Balkan-
krieges zählt der Umschwung, der sich in Rumänien vollzogen
hat. Ein Abfall Rumäniens vom Dreibund ist kaum mehr zu
verhüten, es müssen daher alle militärischen Vorkehrungen gegen
Rumänien ins Kalkül gezogen werden.“ Es mußte die Befestigung
Siebenbürgens und der Ausbau des Eisenbahnnetzes nach der
Südostgrenze des Reiches ins Auge gefaßt werden.
In den folgenden Wochen zeigte sich mit steigender Deutlich-
keit die feindliche Einstellung Rumäniens. Die Presse besprach
die Notwendigkeit einer militärischen Aktion gegen die Donau-
monarchie, was namentlich in der Armee Widerhall fand. Die
Hoffnung auf eine baldige Auflösung des Habsburgerreiches wurde
im ganzen Lande verbreitet, russische Emissäre arbeiteten in
diesem Sinne, und das französische Werben um Rumänien wurde
immer intensiver.
Am 9. März 1914 kam es im Nationaltheater in Bukarest an-
läßlich der Aufführung eines magyarenfeindlichen Stückes von
Goga zu Kundgebungen des Publikums gegen die Monarchie.
Goga wurde bejubelt, die Zuschauer stimmten in das Hetzlied
205
EIN WERTLOSER FETZEN PAPIER
ein: „Wach auf, Rumäne!“ und sangen das Kriegslied „Zu den
Waffen!“. Der Militärattache meldete, daß zum erstenmal der
Kriegsfall gegen die österreichisch-ungarische Monarchie im ru-
mänischen Generalstab bearbeitet werde.
In dieser Lage wurde der Gesandte Graf Czernin mit der
Mission betraut, das Verhältnis zu Rumänien in letzter Stunde
zu retten. Sein Bericht vom 2. April 1914 zeigte die Aussichts-
losigkeit dieses Unternehmens: „König Carol sei nicht mehr
Herr in seinem Lande, er fürchte die Volksstimmung und scheue
einen Konflikt mit ihr ... Das österreichisch-ungarisch-rumä-
nische Bündnis sei zur Zeit ein wertloser Fetzen Papier.“
Auf dem Lande waren die Lehrer und die Geistlichkeit nebst
der Kulturliga die Träger der antimagyarischen Agitation. Ruß-
land bearbeitete die öffentliche Meinung, Frankreich konzen-
trierte seinen Einfluß auf die Intelligenz der Hauptstadt, durch
politische Werbeartikel in der Presse und durch die Gründung
des Vereines „Amitie franco-roumaine“, dem der französische
Gesandte präsidierte. Die Annäherung an Rußland sollte durch
eine Heirat mit einer Zarentochter gefördert werden. Insbeson-
dere die Armee sprach von der baldigen Aufteilung der Mon-
archie, und den Kriegsspielen des Generalstabes und der Trup-
pen lag ausschließlich der Kriegsfall gegen Österreich-Ungarn
zugrunde.
So hatte sich bis zum Frühjahr 1914 der Ring um die Donau-
monarchie auch im Südosten geschlossen. Jenseits der Grenzen
harrten feindliche Armeen des Augenblicks, das Habsburgerreich
mit Waffengewalt zu zertrümmern. Innerhalb der eigenen Gren-
zen aber formte sich ein Ring von national durchsetzten Gebieten,
deren Bevölkerung nach außen strebte. Die nationale Propaganda
und der auf diesem Boden gedeihende Ausspähungsdienst sollten
den feindlichen Heeren den Weg nach dem Herzen Österreich-
Ungarns bahnen.
Das Verhältnis zu Italien
K
Conrad hat schon wenige Wochen nach seiner Ernennung zum
Chef des Generalstabes die Gefahr erkannt, die Österreich-Un-
garn durch das Festhalten am Dreibund lief. Er hat ihn als
206
CONRAD FÜR KLARHEIT ÜBER ITALIEN
einen „Dreifuß“ bezeichnet, der Umfallen müsse, wenn eine der
Stützen wackelig würde. Dies war der Ausdruck der als Briga-
dier in Triest und als Divisionär in Tirol gesammelten Erfah-
rungen, die er als Chef des Generalstabes bestätigt fand.
Die schwerwiegenden Bedenken gegen Italiens Bündnistreue
treten in Conrads Sorgen der Vorkriegszeit immer wieder zu-
tage^ Was er in zahlreichen Denkschriften mit prophetischer
Voraussicht dem Monarchen, dem Leiter des Auswärtigen Amtes,
den Staatsmännern dies- und jenseits der Leitha sowie dem
deutschen Verbündeten vorgehalten hat, ist bei Ausbruch des
Krieges zur Wahrheit geworden. Besorgt um das Geschick des
Vaterlandes, hat er Klarheit über Italiens Politik gefordert und
hat — falls Italien nicht bindende Garantien seiner Bündnis-
treue biete — im Jahre 1907 den Krieg gegen Italien beantragt,
weil er nicht die Verantwortung tragen konnte, zuzuwarten, bis
sich der Ring der Feinde um die Mittelmächte vollkommen ge-
schlossen habe.
Weder der Monarch noch der Außenminister sind Conrad auf
diesem Wege gefolgt. Eis kam die Annexionskrise und Italien
stand in der Reihe der Gegner der Monarchie. Der russische
Außenminister Iswolski brachte als Vergeltung für seinen Miß-
erfolg in der Annexionsfrage im Oktober 1909 die Monarchen-
begegnung in Raceonigi zustande, zu welcher Zar Nikolaus mit
ostentativer Vermeidung österreichisch-ungarischen Bodens nach
Italien reiste. Die in Raceonigi getroffenen Abmachungen blie-
ben den Dreibundgenossen geheim. Auch diese „Extratour“ ver-
mochte den Glauben an den Verbündeten weder beim Grafen
Aehrenthal noch in Berlin zu erschüttern.
Im Jahre 1911 schritt Italien nach einem kurzbefristeten Ulti-
matum an die Türkei an die Einverleibung der Provinz Tripolis.
Österreich-Ungarn schwieg; auf dem Ballhausplatz hatte man die
Haltung des Bundesgenossen in der Annexionskrise offenbar
schon vergessen. Conrad versuchte es wieder — abermals ohne
Erfolg —, die augenblickliche Schwäche Italiens wenigstens dazu
auszunützen, um greifbare Bürgschaften für sein Verhalten im
Falle eines Krieges des Dreibundes zu erlangen.
Es ist bezeichnend, daß ein Großteil meiner amtlichen Tätig-
keit als Chef des Evidenzbüros damit ausgefüllt war, die mili-
207
ITALIEN VERLEGT DEN AUFMARSCH VOR
tärischen Maßnahmen Italiens zu verfolgen. Die eifrig betriebenen
Kriegsvorbereitungen unseres Dreibundgenossen verrieten alles
eher als freundnachbarliche Beziehungen. Während der österrei-
chisch-ungarische Außenminister in den Delegationen den Drei-
bund alljährlich als die Grundlage der Außenpolitik bezeichnete
und in den Generalstabsbüros immer wieder die Instradierung der
an den Rhein zu transportierenden italienischen Armeekorps
durch Tirol überprüft wurde, häuften sich im Evidenzbüro die
Anzeichen, wie methodisch sich Italien auf den Krieg gegen die
Monarchie vorbereite.
Eine Kette modernster Befestigungen an der Tiroler und
Kärntner Grenze hatten Flanke und Rücken der im Venetiani-
schen aufmarschierenden Armee zu decken. Bis 1910 erwartete
man den Aufmarsch dieser Hauptkräfte hinter der Livenza.
Eines Tages meldete ich dem auf das höchste überraschten Chef
des Generalstabes die Vorverlegung des italienischen Auf-
marsches an den Tagliamento. Conrad befahl, diese Meldung zu
überprüfen, weil er nicht daran glauben wollte, daß Italien den
Aufmarschraum gegen seinen Verbündeten vorverlege und ihn
durch mächtige Brückenköpfe am Tagliamento zu schützen beab-
sichtige. Diese Befestigungen waren noch nicht fertiggestellt, und
schon wurde die italienische Regierung im Parlament angegriffen,
weil der schmale Grenzstreifen zwischen dem Tagliamento und
der Reichsgrenze an Österreich-Ungarn „ausgeliefert“ werde. We-
nige Wochen später verlautete, daß hart an der Grenze neue
Werke geplant seien.
Diese militärischen Vorbereitungen standen im Einklang mit
dem Ton der Presse und der Tätigkeit der Irredenta. Satirische
Gedichte, die auch die Person des ehrwürdigen Monarchen nicht
verschonten, ließen keinen Zweifel über die Empfindungen des
italienischen Volkes. Die zunehmende Zahl von Grenzverletzun-
gen durch die militärisch organisierte Zollwache, durch unmit-
telbar an der Grenze übende Alpini waren ein weiterer Aus-
druck dieser feindlichen Haltung. Die Adria, der kümmerliche
Kontakt Österreich-Ungarns mit dem Welthandel, wurde Ge-
genstand des Begehrens von seiten des Verbündeten. Italien,
dem die Monarchie während des Tripolisunternehmens völlig
freie Hand gelassen hatte, stand — es gab keinen Zweifel
208
Tafel Xa EINZUG DER SIEGREICHEN
ÖSTERREICHISCHEN TRUPPEN IN LEMBERG 1915
Tafel X b CONRAD AM BAHNHOF IN LEMBERG 1915
CHEF DES GENERALSTABES POLLIO
mehr — in der Reihe der Feinde. Der eiserne Ring um
die Mittelmächte bot keine Lücke mehr!
Nach Beendigung des Tripolisfeldzuges trat unerwartet eine
Besserung der Beziehungen zu Italien ein. Der neuernannte Chef
des italienischen Generalstabes, General Pollio, hatte seinen An-
trittsbesuch in Berlin und Wien gemacht. Kurz darauf ergingen
von Italien konkrete Anträge, betreffend die Erweiterung der
militärischen Leistungen im Falle eines Krieges des Dreibundes.
Conrad schrieb damals: „Meinem wohl nie erloschenen Zweifel
im Herzen stellte sich die Hoffnung gegenüber, daß Italiens Ver-
halten doch ehrlich gemeint sein könnte.“
Im Februar 1914 kam die amtliche Mitteilung, der König habe
für den Kriegsfall der Entsendung einer italienischen Armee, be-
stehend aus zwei Kavallerie- und sechs Infanteriedivisionen, durch
Tirol an den Rhein gegen Frankreich zugestimmt. Am 12. Mai
1914 — kaum sieben Wochen vor dem Thronfolgermord — gab
General von Moltke seinem österreichisch-ungarischen Kollegen
anläßlich eines Besuches in Karlsbad bekannt, daß Italien bereit
sei, drei Korps zur direkten Unterstützung Österreich-Ungarns
gegen Rußland zur Verfügung zu stellen. Conrad eilte mit dieser
Versicherung nach Wien, um sofort die Instradierung der italieni-
schen Kräfte nach den in Aussicht genommenen Aufmarsch-
räumen in Ostgalizien einzuleiten.
Am 1. Juli 1914, zwei Tage nach dem Attentat, starb plötz-
lich General Pollio. Sein Nachfolger, General Luigi Graf Cadorna,
erklärte sich bereit, die übernommenen Verpflichtungen zu er-
füllen. Er ging sogar noch darüber hinaus und beantragte beim
König eine Vermehrung der vertraglich festgesetzten drei Armee-
korps und zwei Kavalleriedivisionen um zwei Korps, „denen
unter Umständen noch mehr folgen sollten“.
Die Zustimmung des Königs befand sich noch am 2. August
1914 in den Händen Cadornas, obwohl der Ministerrat am Abend
des Vortages die Neutralität beschlossen hatte, weil angeblich
nach dem Dreibundvertrage der Bündnisfall für Italien nicht ge-
geben sei. König Viktor Emanuel teilte dem Kaiser Franz Joseph,
der die Mithilfe des italienischen Heeres in einem Krieg gegen
die Entente angerufen hatte, am 2. August 1914 mit, daß Italien
„eine herzlich freundschaftliche Haltung“ bewahren werde.
14
209
ITALIEN BLEIBT NEUTRAL
Cadorna lehnte die Teilnahme an einer von Conrad erbetenen
Konferenz über das Zusammenwirken der verbündeten Ar-
meen jedoch ab.
Der italienische Botschafter in Wien hatte schon am 25. Juli
„Kompensationen“ für den Fall angekündigt, als die Donau-
monarchie auf dem Balkan auch nur vorläufige Besetzungen
durchführen sollte. Trotz der feierlich versprochenen „herzlich
freundschaftlichen Haltung“ leitete Italien am 4. August ver-
trauliche Verhandlungen mit Paris, London und Petersburg ein,
wobei es als Preis für eine gemeinsame Aktion Trient, Triest,
Valona und eine Vormachtstellung in der Adria beanspruchte.
Die Nichterfüllung der Verpflichtungen Italiens für den Kriegs-
fall des Dreibundes hatte schwerwiegende Folgen. Deutschland
mußte Mitte August fünf Ersatzdivisionen, auf die Conrad im
Osten sicher gerechnet hatte, auf den Südflügel seiner Westfront
werfen, während Frankreich seine südöstlichen Grenztruppen
gegen Deutschland heranziehen konnte.
Graf Cadorna begann sofort nach der Neutralitätserklärung mit
den Rüstungen gegen Österreich-Ungarn. Er entschloß sich für
eine Offensive über den Isonzo, wobei ihm Triest als wertvolles
Objekt und die Möglichkeit eines Zusammenwirkens mit dem
serbischen Heere winkte. Bei der Verwirklichung seiner opera-
tiven Absichten mußte er sich Zurückhaltung auferlegen, denn
ein Bericht vom 24. September 1914 über die mangelhafte Aus-
rüstung des Heeres als Folge des Libyschen Feldzuges, über
den Mangel an schweren Geschützen, an Maschinengewehren, an
Lastkraftwagen mahnte zur Vorsicht, die Armee bei herannahen-
dem Winter ins Feld zu führen. Im Einvernehmen mit dem
Kriegsminister wurde ein Ausbauprogramm von fünfeinhalb
Monaten festgesetzt, dem sich die ungeduldigen Diplomaten und
extremen Nationalisten fügen mußten.
Um die Jahreswende 1914/15 wurde die Außenpolitik Italiens
trotz Cadornas Warnungen immer aktiver. Es erfolgte die Be-
setzung von Valona am Weihnachtstage 1914, und am 4. Jänner
1915 wurden bei Besprechungen mit dem deutschen Botschafter
Fürsten Bülow zum erstenmal die Forderungen nach dem öster-
reichischen Trento erhoben. Conrad widersetzte sich dieser Zu-
mutung mit aller Entschiedenheit.
210
ES KÜNDIGT DEN DREIBUNDVERTRAG
Als die italienische Regierung am 15. Februar 1915 ein förm-
liches Veto gegen neue Operationen auf dem Balkan einlegte
und Deutschland immer dringender zur Erfüllung der Forderun-
gen Italiens nach Gebieten der Monarchie drängte, um es vom
Eingreifen an der Seite der Feinde abzuhalten, begann der neu-
ernannte österreichisch-ungarische Außenminister Baron Burian
am 9. März schweren Herzens Verhandlungen über Gebietsabtre-
tungen, bei denen die Monarchie wegen der schwierigen Lage
auf den Kriegsschauplätzen in der Hinterhand war. Am 10. April
forderte Italien auch schon rein deutsche Gebiete Südtirols, dazu
Görz und Gradisca, die Inseln Lissa, Lesina, Curzola, Lagosta,
Pelagosa, die Ausrufung von Triest zum Freistaate und die An-
erkennung der italienischen Souveränität über Valona.
Das österreichische Gegenangebot war nicht imstande, die An-
sprüche der italienischen Nationalisten zu befriedigen: die Entente
konnte mehr bieten. Am 26. April verpflichtete sich Italien im
Vertrag von London, „mit allen ihm zur Verfügung stehenden
Mitteln einheitlich mit Frankreich, Großbritannien und Rußland
den Feldzug gegen alle mit ihnen kriegführenden Staaten zu
führen“. Italien sollte spätestens am 26. Mai die Feindselig-
keiten gegen Österreich-Ungarn eröffnen. Drei Tage vor Ab-
schluß dieses Vertrages begann die „geheime Mobilisierung“
zunächst von acht Armeekorps. Bis zum 18. Mai folgten die
übrigen.
Am 4. Mai kündigte Italien den Dreibundvertrag, am selben
Tag begannen die Aufmarschtransporte. 875.000 wohlausge-
rüstete Soldaten traten als neue Gegner der österreichisch-un-
garischen Armeen auf, die auf zwei Kriegsschauplätzen schwer
zu kämpfen hatten.
Conrads Befürchtungen hatten sich erfüllt. Das zögernde Ein-
greifen Italiens beweist, wie zutreffend er die Lage beurteilte,
als er im Jahre 1907 den Antrag stellte, den Ring um die Mittel-
mächte zu durchbrechen, solange die Feinde noch nicht für den
gemeinsamen Vernichtungskampf gerüstet waren.
14*
211
FÜRSTENBESUCH IN DEN REICHSLANDEN
Die Ermordung des Thronfolgers
Das hohe Alter des Kaisers Franz Joseph und seine sich im-
mer häufiger wiederholenden Unpäßlichkeiten hatten zur Folge,
daß der Erbe des Thrones immer stärker in den Vordergrund
trat. Der Erzherzog empfand das begreifliche Bedürfnis, die dem
Reiche neueinverleibten Provinzen Bosnien und die Herzegowina
zu besuchen, um die Bande der Zusammengehörigkeit zwischen
dem Herrscherhaus und der Bevölkerung enger zu knüpfen.
Der Landeschef von Bosnien, Feldzeugmeister Potiorek, war
ein warmer Förderer des Fürstenbesuches., weil er sich davon
eine Stärkung der loyalen Elemente versprach. Die Wirkung
einer Reise unter Entfaltung eines Pompes auf die Mohammeda-
ner war als Gegengewicht gegen die serbische Wühlarbeit nicht
zu unterschätzen. Während der Annexionskrise hatte die poli-
tische Spannung den Besuch nicht rätlich erscheinen lassen und
während des Balkankrieges war die Monarchie gezwungen ge-
wesen, in den Reichslanden militärische Bereitschaft zu halten.
Erst im Winter 1913/14, als auf dem Balkan vorübergehend Ruhe
eingekehrt war, konnte an die Ausführung des Besuches ge-
dacht werden.
Die Nachricht, daß Erzherzog Franz Ferdinand beabsichtige,
mit seiner Gemahlin im Anschluß an militärische Übungen sei-
nen feierlichen Einzug m Sarajevo zu halten, löste in Serbien
einen Sturm der Entrüstung aus. Man unterschätzte dort nicht
die innerpolitischen Rückwirkungen einer solchen Reise und ver-
schloß sich nicht den Folgen, die den großserbischen Interessen
aus einer Stärkung der vaterlandstreuen Bevölkerung erwuchsen
— der Besuch mußte um jeden Preis vereitelt werden. Wieder
brach eine maßlose Hetze in der Presse und eine wütende Agi-
tation im ganzen Lande aus, die begründete Sorge um die Sicher-
heit des Thronfolgers auslösen mußte.
Unausgesetzt liefen im Evidenzbüro Meldungen der Kund-
schaftssteilen ein, die von Drohungen und Warnungen berich-
teten, den Besuch in Bosnien zu unterlassen, über den Befehl Con-
rads wurden alle Nachrichten der Militärkanzlei des Erzherzogs
zur Einsicht übermittelt.
Die aus solcher Stimmung erwachsenden Gefahren lösten bei
212
SERBISCHE ANSCHLÄGE
Conrad Bedenken gegen die Reise aus: er war sich der unab-
sehbaren Folgen eines Anschlages voll bewußt. Politische Morde
waren auf dem Balkan nichts Neues, wenn es galt, nationalen
Bestrebungen Nachdruck zu verleihen; sie haben ihre Opfer auch
unter den gesalbten Häuptern der eigenen Herrscher gefunden.
Banden als Exponenten der serbisch-nationalen Regierungspoli-
tik haben auch in Mazedonien ihr Unwesen getrieben.
Als nach der jungtürkischen Revolution im Sommer 1908
die Banden dort zeitweilig abrüsteten, zeigten sie in Üsküb
mit dem Stolz der Briganten ihre aus staatlichen Magazinen
stammenden Gewehre, Revolver, Bomben und Ausrüstungsgegen-
stände, und es bedurfte nicht erst des zungenlösenden Alkohols,
um sie zur Nennung der Offiziere zu bewegen, die sie in ihrem
sauberen Handwerk unterrichtet hatten.
An der Spitze der Nachrichtenabteilung des serbischen Gene-
ralstabes, die die Führung der antiösterreichischen Agitation
übernommen hatte, stand der Oberst Dimitrievic, genannt „Apis“.
Seine rechte Hand war der berüchtigte Major Tankosic, der
ehemalige Bandeninstruktor in Vranje, der die gedungenen Mör-
der im Gebrauch der Mordwaffen zu instruieren hatte. Schon
vor dem Fürstenmord von Sarajevo hat die von Dimitrievic ge-
leitete politische Organisation Anschläge gegen Männer in her-
vorragenden Stellungen veranstaltet. Am 15. Juni 1910 schoß
der Student Bogdan Zerajic in Sarajevo auf den Landeschef von
Bosnien, Feldzeugmeister von Varesanin. Am 8. Juni 1912 ver-
übte der Student Kuka Jukic einen Revolveranschlag gegen den
königlichen Kommissär von Cuvai in Agram. Er fehlte, tötete aber
den Landrat von Hervolic. Am 20. Mai 1913 versuchte der
Student Jakov Sefer ein Attentat gegen den Banus von Kroatien,
Baron Skerlecz. Die Spuren aller dieser Anschläge führten nach
Belgrad. Hier wurden die Pläne ausgeheckt, die Attentäter in
der Ausführung unterrichtet und mit Mordwaffen ausgerüstet.
Nach solchen Erfahrungen war die Sorge des Chefs des Gene-
ralstabes um den Thronfolger begreiflich. Seine Einwände gegen
die Reise hatten aber keinen Erfolg. Es überwogen die innen-
politischen Motive der Reichslande, und das Reiseprogramm fand
schließlich die Zustimmung des Kaisers.
Als Zeuge der damaligen Ereignisse wie als Kenner der Vor-
213
TENDENZIÖSE BERICHTE
geschichte der so verhängnisvoll gewordenen Thronfolgerreise
muß ich feststellen, daß sich der Chef des Generalstabes ent-
schieden dagegen ausgesprochen hat.
Nach dem Reiseprogramm sollte, anschließend an die am 26.
und 27. Juni bei Tarein, südwestlich von Sarajevo, stattfinden-
den größeren Übungen, am 28. Juni der feierliche Einzug des
Thronfolgerpaares in Sarajevo erfolgen. Der Chef des General-
stabes, in dessen Wirkungskreis die Heeresausbildung fiel, konnte
sich der Teilnahme an den Manövern nicht entziehen. Er gab
aber seinem Nichteinverständnis mit dem darauffolgenden poli-
tischen Teil des Besuchsprogrammes dadurch Ausdruck, daß er
eine von ihm geleitete Generalsreise in Hochkroatien derart an-
setzte, daß er unmittelbar nach Schluß der Manöver das Gefolge
des Thronfolgers verlassen mußte.
An die bosnischen Manöver vom Juni 1914 wurden im Aus-
land bewußt unzutreffende Kommentare geknüpft, man wollte
in ihnen eine Herausforderung der Serben sehen. Der franzö-
sische Gesandte in Belgrad berichtete nach Paris, daß in Bosnien
und der Herzegowina 100.000 Mann versammelt seien, die mit
Absicht nahe der Grenze übten, was eine Bedrohung des Lan-
des bedeute. Tatsächlich nahmen an den Manövern 33% Batail-
lone Infanterie, 2 Eskadronen, 20 Batterien, zusammen 22.000
Mann, teil und das Manövergelände lag 80 Kilometer von der
Grenze entfernt. Die Manöveranlage vermied jede Anspielung auf
den Kriegsfall gegen Serbien, sondern beruhte auf einer feind-
lichen Landung an der dalmatinischen Küste und einer darauf
einsetzenden eigenen Gegenoffensive. Diese Annahme bewies eine
der politischen Spannung entsprechende Zurückhaltung, ein ge-
radezu peinliches Vermeiden jeder Herausfor-
derung, obgleich Rücksichten auf die Ausbildung es erfordert
hätten, Waffenübungen in Räume zu verlegen, wo Führer und
Truppe voraussichtlich verwendet werden dürften. Andere
Staaten haben sich durchaus nicht die gleichen Rücksichten auf-
erlegt.
Auch die von Conrad geleitete Generalsreise wurde mit A b-
sicht in ein Gebiet verlegt, dem keine aktuelle Bedeutung zu-
kam. Diese Tatsachen erweisen zur Genüge, daß Conrad nicht
nur keinen Krieg wollte, sondern im Gegenteil alles
214
CONRAD UND DER THRONFOLGERMORD
vermied, was geeignet gewesen wäre, Zündstoff in den glim-
menden Brand zu werfen.
Die Ereignisse des 28. Juni 1914, an dem das Thronfolger-
paar durch Mörderhand fiel, sind bekannt. Vom Standpunkte
der Kriegsschuldfrage ist das persönliche Verhalten Conrads in
den Tagen unmittelbar nach dem Mord bezeichnend. Das erste
Gerücht über das Attentat traf ihn am 28. Juni um 2 Uhr nach-
mittags in Agram, auf der Durchreise nach Karlstadt, wo sich
die Teilnehmer an der Generalsreise zu versammeln hatten.
Dort erhielt er das die erschütternde Tatsache bestätigende Tele-
gramm und die Berufung durch Se. Majestät nach Wien. Die
Generalsreise wurde abgesagt.
Einem an mich gerichteten Schreiben Conrads vom 2. Juli*
entnehme ich folgende nichts weniger als Kriegslust atmende
Stelle: „Daß ich hier (in Wien) in einem wenig benei-
denswerten Trubel bin, wirst Du mir glauben, ebenso, daß
ich eine wahre Sehnsucht nach etwas Ruhe habe.
Aber es scheint für mich ausgeschlossen zu sein; weiß Gott, ob
ich mich überhaupt werde von hier wegrühren können, und
weiß Gott, was dieser Sommer noch bringt. Die Berichte aus
Bosnien und der Herzegowina lauten immer beunruhigen-
d e r.“
Nicht minder bezeichnend für Conrads Einstellung zum Krieg
ist seine Audienz beim Kaiser am 5. Juli 1914. Conrad schreibt
darüber: „Am Schluß der Audienz war Se. Majestät freundlich
wie immer und bemerkte: ,Am Dienstag gehe ich nach Ischl/
Ich bat Se. Majestät, falls die Krise abflauen und es
die Lage zulassen sollte, für einige Tage nach Tirol gehen zu
dürfen, was Se. Majestät mit den Worten bewilligte: Selbst-
verständlich, Sie müssen sich ja auch erholen/ “
Diese Einzelheiten beleuchten mehr als Akten und Dokumente
die Stimmung Conrads unter dem unmittelbaren Eindruck der
Mordtat. Kein Wort der Empörung, der Drohung, der Rache,
lediglich die Sorge vor den möglichen Folgen!
* Siehe den Auszug aus diesem Brief auf der nächsten Seite.
215
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POINCARE — IS WO LS KI
Zur Kriegsschuldfrage
Das Verhalten Conrads regt unwillkürlich zum Vergleich an,
wie andere verantwortliche Staatsmänner gehandelt haben. Aus
der Reihe dieser Männer ragt einer hervor, dessen Einfluß ver-
hängnisvoll für die ganze Welt geworden ist: Raymond Poincare.
Der in Bar-le-Duc geborene Lothringer war als zehnjähriger
Knabe Zeuge deutscher Einquartierung im Elternhaus gewesen;
er mußte es mit ansehen, daß die verhaßten „Boches“ sein Va-
terland überschwemmten. Diese Jugenderinnerungen an den
Krieg und den demütigenden Frieden gebaren in Poincare den
Drang nach „Revanche“, der zum Leitstern seines Lebens wurde.
Nach einer erfolgreichen, früh begonnenen parlamentarischen
Laufbahn — er wurde mit 33 Jahren Unterrichtsminister — er-
folgte Poincares Berufung zum Ministerpräsidenten und 1913
die Wahl zum Präsidenten der Republik. In dieser Stellung be-
gnügte er sich nicht mit der Rolle eines über den Parteien
stehenden Repräsentanten der Staatsgewalt, sondern leitete auch
weiter die Außenpolitik Frankreichs im Sinne seines eigenen
politischen Programms. Er setzte die auf Einkreisung der Mittel-
mächte hinzielenden engen Beziehungen mit dem russischen Bot-
schafter Jswolski, die er als Ministerpräsident aufgenommen
hatte, auch als Präsident fort. Der durch seine diplomatische
Schlappe in der Annexionsfrage in seinem Ehrgeiz schwer ge-
troffene Iswolski war ein willkommener Bundesgenosse. Völlig
eindeutig hat sich Poincares Kriegswille anläßlich seines Be-
suches im Juli 1914 in St. Petersburg dokumentiert. Vier Wochen
nach der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronerben,
zu einer Zeit, da die ganze Welt in atemloser Spannung der Ent-
wicklung der Dinge harrte, das Gespenst des Krieges nicht allein
durch die Staatskanzleien ging, sondern auch die Herzen von
Müttern, Frauen und Kindern in banger Sorge hielt und es die
heiligste Pflicht jedes Menschen in verantwortlicher Stellung ge-
wesen wäre, vermittelnd, schlichtend, beruhigend zu wirken —
da brachte der Schlachtkreuzer „France“ das Oberhaupt der Fran-
zösischen Republik mit betont militärischer Aufmachung nach der
Hauptstadt Rußlands, um den für den Kriegsfall getroffenen Ver-
einbarungen die Sanktion <lurch die Staatsoberhäupter zu geben.
217
KRIEGSFANFARE
Man muß in den Annalen der Geschichte weit zurückblättern,
um ein Analogon für diese Herausforderung zu finden. Als Na-
poleon III. im Jahre 1859 seine berüchtigte Neujahrsrede hielt, die
als Ankündigung des Krieges gegen Österreich galt, sprach der
„Kaiser der Franzosen“ nicht so aufreizend wie 1914 der „Bür-
ger Poincare“. Von dem Augenblick an, da dieser Demagoge
neben dem Beherrscher von 180 Millionen Reußen am Heck der
kaiserlichen Jacht saß, beherrschte er die Unterhaltung. Beim
folgenden Galadiner lauschte die ganze illustre Gesellschaft sei-
ner frei, mit Stentorstimme gesprochenen Erwiderung auf die
schüchtern verlesene Begrüßungsrede des Zaren. Der glänzende
Saal vibrierte in Kriegsstimmung, als der Präsident der Fran-
zösischen Republik endlich die langersehnte Waffengemeinschaft
mit Rußland zusicherte. Sein Freund Paleologue, der franzö-
sische Botschafter in Petersburg, äußerte sich begeistert hiezu:
„So sollte ein Autokrat sprechen!“
Der geschickteste „metteur en scene“ hätte kein packenderes,
die Kraft des menschlichen Geistes besser bezeichnendes Bild
stellen können als diesen unscheinbaren Mann im Frack inmit-
ten der jahrhundertealten Pracht, der goldstrotzenden Unifor-
men, der kostbarsten Juwelen der Welt, der dem autokratischen
Beherrscher des mächtigsten Reiches der Erde seinen Willen
aufzwang, ihn seinen ehrgeizigen Plänen unterwarf. Wie eine
Kriegsfanfare klangen beim Empfang des diplomatischen Korps
die Worte Poincares an den österreichisch-ungarischen Botschaf-
ter Grafen Szapäry: „La Serbie a des amis chauds dans le
peuple russe, et la Russe a une alliee — la France!“ („Serbien
hat warme Fremide im russischen Volk und Rußland hat einen
Verbündeten — Frankreich!“)
Es ist interessant, einen Kronzeugen in der Kriegsschuldfrage
aus dem Lager der neutralen Mächte zu hören. Der ehe-
malige spanische Botschafter am russischen Hof, Graf Cartagena,
hat während der Zeit seiner Tätigkeit in St. Petersburg Auf-
zeichnungen geführt, die nach seinem Tode zum Teil im „Boletin
de la Accademie de la Historia“ verlautbart wurden. In diesen
wird zunächst bestätigt, daß unter dem Einfluß des französischen
Generalstabes, der die geringe Leistungsfähigkeit der russischen
Aufmarschbahnen kannte, schon im April 1914 Truppenbewe-
218
EIN KRONZEUGE ZUR KRIEGSSCHULDFRAGE
gungen aus dem Innern Sibiriens nach der russischen West-
grenze begannen. Graf Cartagena stellte anläßlich einer Reise
anfangs Juli 1914 in der Gegend von Kowno russische Truppen-
transporte und die Anlage von Befestigungen großen Stils fest.
Seinen Aufzeichnungen kann man außerdem entnehmen, welcher
Druck von der Entente auf Spanien ausgeübt wurde, um es zur
Aufgabe seiner Neutralität zu bewegen. Graf Cartagena be-
stätigt auch den vielkolportierten Ausspruch Iswolskis etwa drei
Monate vor Kriegsausbruch: „Dieser ist mein Krieg!“
Zum Besuch Poincares schreibt der spanische Diplomat: „Er
war gekommen, um den Krieg vorzubereiten.“ Er bestätigt auch,
was Paleologue in seinen Memoiren über das Auftreten des Prä-
sidenten am Zarenhof begeistert schreibt, sowie den Widerhall,
den die von Kriegslust flammenden Worte Poincares bei den
zwei „montenegrinischen“ Großfürstinnen — eine davon die Ge-
mahlin des Großfürsten Nikolaus Nikolajewitsch — gefunden
hatten. Schwer belastend sind die absichtlich falschen Informa-
tionen russischer Amtspersonen an die deutschen Diplomaten,
die vermittelnd in den austro-serbischen Konflikt eingreifen
wollten. Zur selben Stunde, als sowohl der Kriegsminister
Suchomlinow wie der Chef des Generalstabes Januschkiewitsch
dem deutschen Militärattache ehrenwörtlich versicherten, daß
keinerlei Mobilisierung im Gange sei, erfuhr Graf Cartagena
durch Paleologue, daß dreizehn russische Armeekorps auf den
Kriegsfuß versetzt worden seien. Am 25. Juli, an dem das öster-
reichisch-ungarische Ultimatum an Serbien ablief, eröffn ete Su-
chomlinow dem spanischen Botschafter in einer Abendgesell-
schaft, daß der Krieg unvermeidlich sei, weil Rußland Serbien
nicht im Stiche lassen werde. Dieselbe Entschlossenheit zum
Kriege konnte Cartagena in den folgenden Tagen an den „künst-
lich organisierten Volkskundgebungen“ wahrnehmen.
Die Aufzeichnungen dieses Diplomaten gipfeln in der Fest-
stellung, daß die Verantwortung für den Krieg auf Rußland
zurückfalle und daß der Fürstenmord von Sarajevo, „von den
Serben unter Mitschuld der Regierung und der »Schwarzen Hand4
ausgeführt, in Belgrad mit Hilfe russischer Agenten angestiftet
wurde...“ „Der Krieg war gewollt!“ schreibt er, „und hatte
russischerseits die Zerstückelung Österreich-Ungarns, die poli-
219
GRAF POÜRTALES’ FRIEDENSBEMÜHUNGEN
tische und religiöse Vorherrschaft über alle den Habsburgern
unterworfenen Slawen, die Eroberung Konstantinopels und der
Dardanellen zum Ziel sowie die Einsetzung des orthodoxen Pa-
triarchates des Ostens, zur Verminderung des Einflusses des
Papstes.“ Im Gegensatz zu der kriegerischen Haltung der fran-
zösischen und russischen Staatsmänner hebt Graf Cartagena das
auf die Erhaltung des Friedens hinzielende Verhalten des deut-
schen Botschafters Graf Pourtales hervor, von dem er sagt, „er
habe das Unmögliche möglich gemacht, um den Krieg zu ver-
meiden; er konnte aber nichts machen, weil der russische Kriegs-
wille offenbar war“.
Ebenso deutlich erwies sich der Kriegswille Frankreichs gegen-
über den Versuchen der in Paris akkreditierten Diplomaten
neutraler Mächte, die in letzter Stunde den Versuch unter-
nahmen, den Ausbruch des Krieges zu verhindern. Am 31. Juli
1914, um 10.30 Uhr abends, telegraphierte der Schweizer Ge-
sandte M. Lardy an seine Regierung, daß der österreichisch-un-
garische Botschafter Graf Szecsen sich dem rumänischen Ge-
sandten gegenüber geäußert habe: „Wenn eine befreundete
Macht Serbiens, zum Beispiel Frankreich, im Namen Serbiens
österreichische Bedingungen erbitte, sei noch Hoffnung vorhan-
den, daß Wien antworten werde. Der österreichische Standpunkt
bleibe der des die beiden Länder betreffenden Duells, ohne Ein-
mischung Dritter.“
Lardy begab sich am 1. August vormittag ins französische
Auswärtige Amt. Dort wurde ihm bedeutet, daß „alle Hoffnung
verloren sei, weil am Tage vorher Deutschland an Rußland den
Krieg erklärt habe“. Diese Mitteilung war unrichtig: die
deutsche Kriegserklärung an Rußland erfolgte erst am 1. August
um 7 Uhr abends. Trotzdem erhielt auch der rumänische Ge-
sandte Lahovary, der sich gleichfalls um die Vermeidung des
Krieges bemühte, am Morgen des 1. August die gleiche Ant-
wort. In Paris hatte man am 31. Juli nachmittag in einem Mi-
nisterrat die Mobilmachung der fünf Grenzkorps beschlossen.
Als der letzte Ministerrat dieses Tages um Mitternacht ausein-
anderging, konnte der Kriegsminister Messimy „in gehobenem,
herzlichem Ton“ dem russischen Militärattache erklären, „daß
die Regierung fest zum Kriege entschlossen sei“. Dies wurde
220
AMERIKA ZUR KRIEGSSCHULDFRAGE
unverzüglich dem russischen Botschafter Iswolski übermittelt,
der nun endlich sein Werk gekrönt sah.
Historiker, Rechtsgelehrte und Staatsmänner haben durch
gründliche Forschung und auf Grund unwiderleglicher Doku-
mente die Legende von der „Schuld der Mittelmächte am Kriege“
zerstört. Namentlich in den Vereinigten Staaten Amerikas be-
gannen bald nach dem Kriege prominente Persönlichkeiten zu
erkennen, unter welch falschen Vorspiegelungen sie in den Krieg
verwickelt worden waren. Das ehemalige Mitglied des Obersten
Gerichtshofes in Washington, Frederick Bausmann, schreibt:
„Deutschland war in gefährlicher Weise durch drei mächtige
Länder eingekreist, von denen das eine sich über seine Flotte
ärgerte, das zweite von Revanchelust erfüllt war und das dritte
gierig nach mehr Gebieten an der Ostsee, an den Dardanellen
und am Balkan verlangte.“
Das Mitglied des Repräsentantenhauses Victor Berger führte
in seiner Rede vom Jänner 1926 in Washington aus: „Aber die
größte Lüge von allen ist, daß Deutschland die einzige Ursache
des Weltkrieges ist. Ohne diese Lüge kann der Vertrag von Ver-
sailles nicht bestehen.“ Professor William Burgeß, einer der
ältesten Historiker der Vereinigten Staaten, äußert sich zur
Kriegsschuldfrage: „Die Zentralmächte hatten sich von Anfang
an gegen einen langgehegten Plan Rußlands zu verteidigen, das
österreichisch-ungarische Reich zu verteilen, ein Plan, der von
Frankreich mit der Absicht unterstützt wurde, die langgehegte
und eifrig gepflogene Revanche für Sedan zu erlangen, und von
Großbritannien mit dem Ziel, die mächtige und stets zuneh-
mende Konkurrenz Deutschlands loszuwerden.“
Der amerikanische Generalkonsul John Gaffney gab seinem
Unmut gegen die Kriegsschuldlüge in den Worten Ausdruck:
„Wenn ich einen Tropfen deutschen Blutes in meinen Adern
hätte, würde ich keine Nachtruhe mehr finden, bis von meinem
Vaterland der Vorwurf genommen ist, der es des furchtbarsten
Verbrechens der Weltgeschichte schuldig erklärt, trotzdem es
absolut nicht für den Ausbruch des Weltkrieges verantwortlich
gemacht werden kann.“
Der amerikanische Prediger John Haynes Holmes sprach von
der Kanzel: „Weil wir wissen, daß wir getäuscht wurden, weil
221
ENGLISCHE UND FRANZÖSISCHE URTEILE
wir wissen, daß wir dem deutschen Volke das bitterste Unrecht
taten, indem wir es des Krieges für schuldig erklärten, darum
hat sich unser ein wachsender Ekel bemächtigt gegen das, was
wir getan haben, und wir würden gern unsere Hände von diesem
schmutzigen Geschäft reinwaschen.“
Lloyd George, dessen Unterschrift unter dem Vertrag von
Versailles steht, der daher auch die Verantwortung für den
ominösen Schuldpunkt 231 trägt, hat sich schon 1920 im „M a n-
chester Guardian“ geäußert: „The more one reads me-
moirs and books written in the various countries of what hap-
pened before the Ist of August 1914, the more you realise, that
no one at the head of affaires quite meant war at the stage...“
„Je mehr man die Memoiren und Bücher über die Begebenheiten
vor dem 1. August 1914 liest, desto mehr begreift man, daß
niemand an leitender Stelle zu jener Zeit den Krieg gewollt
hat...“ Und der spätere englische Premierminister Mac Do-
nald äußerte sich gelegentlich eines Besuches in Berlin: „I
personally believe, that no one nation alone can be made respon-
sible for the last war.“ „Ich persönlich glaube, daß nicht ein
Volk allein für den letzten Krieg verantwortlich gemacht
werden kann.“
Ähnliche Urteile ließen sich aus allen Kreisen in England
vernehmen, sie gipfelten in einem von Leuten aller Stände er-
gangenen „British appeal to conscience“, „Britischer Ap-
pell an das Gewisse n“, der schon 1926 die Überprüfung
der Kriegsschuld durch einen unparteiischen Gerichts-
hof forderte.
Der gleichen geistigen Haltung entsprang in Frankreich
der im Jahre 1925 ergangene „appell aux consciences“, „Appell
an die Gewissen“, der gegen den Vertrag von Versailles Protest
erhob, weil er auf der Unwahrheit der Kriegsschuld Deutsch-
lands aufgebaut ist. Diesem Aufruf folgte drei Jahre später ein
„Appell aux bon sens“, „Appell an den gesunden
Menschenverstan d“, der sagt: „Cette revision se f era,
parce qu’au-dessus des volontes incoherantes des hommes joue
la logique des evenements...“ „Die Revision muß kommen,
weil über dem unklaren Willen der Menschen die Logik der
Ereignisse steht.“
222
„DER GRÖSSTE TOTENGRÄBER EUROPAS“
Sehr scharf in seinem Urteil ist der Franzose Victor Mar-
g u e r i t e. Er sagt: „Geschichtlich wurde unwiderleglich bewie-
sen, daß diejenigen, die in Wahrheit den Krieg gewollt und
seinen Ausbruch veranlaßt haben, der schwache Zar und
der wilde Poincare waren.“
Vernichtend äußerte sich der französische Schriftsteller Er-
neste Renauld über Poincare, dem er in einem offenen
Briefe vorwarf, er habe durch seine Politik einen Kirchhof
von 800 Kilometer Länge, von Beifort bis Roubaix,
angelegt, um darin eineinhalb Millionen Franzosen
zu begraben. „Vous etes, monsieur, le premier fossoyer de
l’Europe!“ — „Sie sind der größte Totengräber Europas!“
rief er ihm zu.
Conrad faßte seine Darstellung der Juli-Ereignisse, als sich
„die entscheidenden Staatsmänner Österreich-Ungarns und Kaiser
und König Franz Joseph erst allmählich zur unerbittlichen Er-
kenntnis der Unvermeidlichkeit des Krieges durchgerungen
hatten“, in der Feststellung zusammen: „Österreich-Ungarn war
zum Kriege gegen Serbien gezwungen. Statt die kriegerische
Austragung des Konfliktes mit Serbien der Monarchie zu über-
lassen, fielen die Mächte über Österreich-Ungarn her, als dieses
gegen Serbiens zynische Herausforderung den Arm erhob. Wer
wollte es verkennen, daß sie es vermocht hätten, den Ausbruch
des allgemeinen Krieges zu verhindern! Lag aber eine Verhin-
derung in der Richtung ihrer großen, weitgesteckten Ziele?“
Wenn man den Einfluß des Chefs des Generalstabes auf die
Außenpolitik Österreich-Ungarns überblickt, drängt sich die
Frage auf, wie die Auffassung entstehen konnte, die Monarchie
hätte den Krieg gewollt mid Conrad hätte zum Kriege „gehetzt“.
Die Mittelmächte haben nicht einen Zoll fremden Bodens ge-
wollt, sie haben nur den ihnen gebührenden Platz an der Sonne
beansprucht. Die „Schuld“ der Mittelmächte ist eine längst
widerlegte historische Lüge, die den deutschen Friedensdelegier-
ten unter der Drohung der Fortsetzung der Hungerblockade ab-
gepreßt wurde. Soweit sie Österreich-Ungarn betrifft, würde
schon der Hinweis auf die Person des Kaisers Franz Joseph
genügen, der bis zur letzten Stunde die Hoffnung nicht aufgeben
223
CONRAD WAR „KEIN KRIEGSHETZER“
wollte, daß der Krieg vermieden werden könne. Seine berufenen
Berater, insbesondere der Leiter des Außenministeriums Graf
Aehrenthal, haben selbst unter Hintansetzung der Sicherheit der
Monarchie alles getan, um nicht das Odium einer aggressiven
Politik auf sich zu laden.
Aber auch Conrad, der berufene Wahrer der militärischen
Macht des Reiches, hat den Krieg nicht gewollt. Er hat ihn
beantragt, wenn es die Abwehr von Feinden galt, die Öster-
reich-Ungarn in seinem Bestand bedrohten.
Die in dieser Richtung bestehenden widersprechenden An-
schauungen legen mir die Verpflichtung auf, zur Klärung der
Wahrheit beizutragen. Die Verfechter der Kriegsschuld Conrads
weisen beharrlich darauf hin, er habe 1907 den Krieg gegen
Italien und im Winter 1908/1909 gegen Serbien gewollt. Ohne
tieferes Eingehen in die Beweggründe wird die allgemeine An-
klage erhoben, „Conrad war ein Kriegshetzer“. Dies würde
bedeuten, daß er den Krieg „um jeden Prei s“, nur „um
des Krieges willen“, gewollt habe — eine geradezu ungeheuer-
liche Zumutung für einen Staatsmann von Conrads Verantwor-
tungsgefühl. Er erkannte nur die Sorge um den „W eiter-
bestand des Reiches“, Eroberungsgelüste zur „Meh-
rung der Macht der Habsburger“ lagen ihm ferne.
Conrads vorausschauender Blick hat die Anzeichen der dro-
henden Einkreisung viel früher erfaßt als die anderen verant-
wortlichen Staatsmänner. Er wußte, daß sich diese vor allem
gegen das wirtschaftlich mächtig aufblühende Deutsche Reich
richtete und daß, um dieses zu treffen, Österreich-Ungarn eben-
falls eingekreist werden müßte. Hiefür fanden sich nur allzu
willige Helfer. Von allen Seiten meldeten sich Anwärter auf
Gebietsteile der österreichisch-ungarischen Monarchie. Es be-
durfte keiner besonderen diplomatischen Kunst, alle Bewerber
zu einer Aktion zusammenzuschließen, die die Zertrümmerung
des altehrwürdigen Reiches der Habsburger zum Ziele hatte.
In dieser Lage war es nur der Ausdruck des primitivsten
Selbsterhaltungstriebes, wenn Conrad nach Mitteln
suchte, die Zertrümmerung des Reiches zu verhindern. Auf sei-
nen Schultern lastete die Verantwortung, der sich die maß-
gebenden Stellen im Staate verschlossen und seine Warnungen
224
Tafel XI a INSPIZIERUNG DER TRUPPEN IN PREDEAL
Erzherzog Friedrich, GenObst. von Falkenhayn, Fmlt. Graf Herberstein
Tafel Xlb CONRAD BEI DER BESICHTIGUNG DES K.U.K.
INFANTERIEREGIMENTS NR. 27 AM 20. FEBRUAR 1918 IN BOZEN
NEID ÜBER DEUTSCHLANDS AUFSTIEG
einer erhitzten militärischen Phantasie zuschrieben. Es wäre ein
unverzeihlicher Leichtsinn, ein Conrad für ewige Zeiten
belastendes Verbrechen gegen Staat und Dynastie gewesen,
wenn er, die Gefahr erkennend, nicht alles getan hätte, um sie
abzuwenden. Auch der friedliebendste Nichtmilitär wäre in Con-
rads Lage zu keinem anderen Entschluß gekommen, als durch
Ausschaltung eines der vielen Gegner den Ring zu sprengen,
der sich immer enger um die Mittelmächte schloß * Der lange,
40jährige Frieden in Europa hatte zu einem gewaltigen wirt-
schaftlichen Aufschwung des Kontinentes geführt; der Gedanke
an einen Krieg war in weite Ferne gerückt, die Menschen be-
gannen an den Traum des ewigen Friedens zu glauben.
Der alle anderen Staaten überragende Aufstieg Deutschlands
hatte Neid und Besorgnis ausgelöst. In zielbewußter Stille be-
gann sich die Gemeinschaft der Gegner Deutschlands zusammen-
zuschließen. Mit seinem feinnervigen Empfinden für kommende
Ereignisse hat Conrad das Nahen dieser neuen Phase in der
Geschichte des alten Kontinents erfaßt und in einer Atmosphäre
scheinbarer Ruhe den Krieg gegen den Bundesgenossen Italien
beantragt.
Dies schien eine Ungeheuerlichkeit. Die Kurzsichtigkeit der
anderen darf nicht Conrad zur Last gelegt werden. Die Ereig-
nisse der nächsten Jahre haben bestätigt, daß er die Lage richtig
erfaßt hatte. Ein objektiver Rückblick auf die Ereignisse lehrt,
daß die von Conrad beabsichtigte Klärung zu einer Zeit, da
die Lokalisierung kriegerischer Aktionen noch aussichts-
voll erschien, den großen blutigen Zusammenstoß verhindert
hätte. Der „Friedenswille um jeden Preis“ hat wohl den
lokalen Krieg vermieden, den großen Weltbrand
aber nicht verhindert.
Nachdem die Gelegenheiten versäumt waren, den Krieg zur
Sprengung des um die Monarchie sich schließenden Ringes unter
günstigen Aussichten zu führen, vollzog sich in Conrad ein
* Conrad äußerte sich einmal mir gegenüber vertraulich: „Was
tut ein Eber, der von der Meute umringt ist? stößt mit seinen
Hauern gegen den ihn am gefährlichsten bedrohenden Hund und
trachtet, sich Luft zu machen, ehe er den vielen Hunden erliegt.
Wir sind in einer ähnlichen Lage!“
15
225
EIN DEUTSCHER ALS BELASTUNGSZEUGE
grundlegender Wandel. Er, der in einem „Präventivkrieg“ die
Rettung der Monarchie gesehen hatte, erkannte die Aus-
sichtslosigkeit eines Krieges „nach mehreren Fron-
ten“. Von da an war er „gegen den Krieg“, was bei
einigem guten Willen aus vielen se>ner amtlichen Äußerungen
gelesen werden kann.
Ich bin wiederholt Versuchen begegnet, diesen Standpunkt Con-
rads durch Zitate aus seinen eigenen Werken oder amtlichen
Erklärungen zu widerlegen. Ein typischer Fall dieser Art soll
hervorgehoben werden.
Einige Jahre nach Überlassung meines „Beitrages zur Kriegs-
schuldfrage“ an den Ausschuß des deutschen Reichstages er-
schien bei mir ein Herr, der sich als Mitglied dieses Ausschusses
legitimierte und Aufklärungen über Conrads Einstellung zum
Kriege erbat. Ich zögerte nicht, diese zu geben, mußte aber die
überraschende Wahrnehmung machen, daß der Frager durch
Zitate aus Conrads Aufzeichnungen hartnäckig meine Ansicht
zu widerlegen suchte, Conrad hätte nicht zum Kriege gehetzt.
Ich konnte mich nicht zurückhalten, meine Verwunderung
über diese Haltung eines Deutschen dem Präsidenten, Herrn
von Delbrück, mit den Worten bekanntzugeben: „Ich hätte nie
geglaubt, daß es einen Deutschen auf der Welt gibt, der ein In-
teresse daran hat, die Mittelmächte mit der Schuld am Kriege
zu belasten.“ Bald kam die Aufklärung: Der Besucher war —
Sozialdemokrat, in dessen Parteiprogramm es paßte, das Deutsche
Reich und die mit ihm verbündete österreichisch-ungarische
Monarchie mit der Schuld am Kriege zu belasten. Herr von
Delbrück erbat sich die Erlaubnis, von diesem Brief in offener
Ausschußsitzung Gebrauch machen zu dürfen. Diese Unter-
redung belehrte mich, wie Conrads aus dem Zusammenhang ge-
rissene Äußerungen ausgenützt werden können, um daraus An-
griffe gegen ihn aufzubauen.
Die ergiebigste Quelle für die Beurteilung seines Einflusses
auf die äußere Politik ist Conrads großes Memoirenwerk „Aus
meiner Dienstzeit“. Um den historischen Wert dieser Aufzeich-
nungen richtig einzuschätzen, ist es notwendig, deren Entste-
hungsgeschichte zu kennen.
Conrad hat als Chef des Generalstabes die Verpflichtung emp-
226
TAGEBUCHAUFZEICHNUNGEN
funden, seine Tätigkeit in einem Tagebuch festzuhalten, mit
dessen Führung der Flügeladjutant betraut war. Dieses umfang-
reiche Material bildete später die Grundlage für die Verfassung
der fünf Bände „Aus meiner Dienstzeit“.
Dem Charakter eines Tagebuches entsprechend, sind die
Äußerungen Conrads und anderer Funktionäre mit der Treue
des Augenblickes im Wortlaut niedergeschrieben. Conrad war eine
sehr impulsive Natur. Wir Referenten hatten oft Mühe, ihn von
Entschlüssen abzuhalten, die in der ersten Aufwallung gefaßt
waren. Sehr häufig griff er nach dem erstbesten Papier und warf
in ununterbrochenem Zuge eine Ausfertigung hin, die womög-
lich auch sofort abgehen sollte. Es bedurfte einer gewissen Tak-
tik, Zeit zu gewinnen und den Gegenstand am folgenden Tage
nochmals in Ruhe vorzutragen.
Ebenso entsprachen oft im Affekt gefallene mündliche Äuße-
rungen nicht seinem wahren Gedankengang, sie wurden aber
doch in dieser Form ins Tagebuch übernommen. Es darf daher
nicht wundernehmen, wenn sich in Conrads Aufzeichnungen
stellenweise Widersprüche finden — eine Erscheinung, die allen
Tagebüchern anhaftet. Bei der Redaktion seines umfangreichen
Werkes hat der Feldmarschall offenbar nicht mehr die Kraft
aufgebracht, die einander widersprechenden Stellen in Einklang
zu bringen, vielleicht auch, um den Aufzeichnungen nicht durch
nachträgliche Änderungen die Aktualität des Augenblicks zu
nehmen, ln dieser Fassung geben Conrads Memoiren aller-
dings die Möglichkeit, aus ihnen herauszulesen, was für die
Begründung der eigenen Meinung paßt, und das zu übersehen,
was diese widerlegen würde.
Ganz anders liest die Aufzeichnungen, wer an deren Wiege
gestanden ist: der weiß zu unterscheiden, was, „gelegentlich hin-
geworfen“, nicht vollwertig zu nehmen ist und was als Nieder-
schlag eines mit den überzeugendsten Argumenten geführten
Gedankenaustausches Aufnahme in das Tagebuch gefunden hat.
Gestützt auf meinen fünfjährigen amtlichen Verkehr mit Conrad
nehme ich das Recht in Anspruch, seine Einstellung zum Kriege
zutreffender beurteilen zu können als jemand, der sie aus ein-
zeln herausgegriffenen Äußerungen abzuleiten versucht.
In seinen Memoiren äußert sich Conrad zur Kriegsschuldfrage:
15*
227
„WIR HABEN DEN KRIEG NICHT GEWOLLT44
„Obgleich ich der Ansicht bin, daß von einer Schuld am Welt-
kriege nicht die Rede sein könne, da er das Resultat unauf-
haltsamer natürlicher historischer Entwicklung, das Ergebnis
tausendfältiger Zusammenhänge war, will ich doch, da eine
Schuldfrage dem Publikum noch immer vorgetäuscht wird, darauf
hinweisen, daß, wenn Österreich-Ungarn und Deutschland die
Absicht gehabt hätten, den allgemeinen Krieg oder auch nur
den Krieg gegen Rußland initiativ zu führen, sich die beider-
seitigen Heeresleitungen hierüber ganz anders verständigt und
niemals zugelassen hätten, daß mehr als ein Viertel der öster-
reichisch-ungarischen Wehrmacht nach dem Balkan transportiert
wird.“
ln einer Rückschau auf die Ereignisse schreibt er: „Österreich-
Ungarn und Deutschland dachten nicht daran, einen Weltkrieg
oder auch nur einen Krieg gegen Rußland herbeizuführen.
Österreich-Ungarn hatte in den letzten Jahrzehnten selbst den
Krieg gegen Serbien vermieden, obgleich die Existenz des alten
Reiches daranhing. Österreich-Ungarn wurde durch Serbien brutal
zum Kampf herausgefordert, es mußte diesen führen, wenn es
nicht als Großmacht abdanken und jenen inneren Kämpfen alle
Schranken öffnen wollte, die den Zerfall der polyglotten Mon-
archie zur Folge haben mußten. Rußland fiel Österreich-Ungarn
in den Arm und entfesselte damit den allgemeinen Krieg.“
Als berufener Anwalt des toten Feldmarschalls kann ich mit
reinem Gewissen die Worte des deutschen Kronprinzen zu den
seinigen machen:
„W ir haben den Krieg nicht gewollt — wir
haben ihn gefürchtetl“
228
DIE MILITÄRPOLITISCHE VORBEREITUNG DES KRIEGES
Der Krieg mit seinen folgenschweren Auswirkungen auf die
Völker hat nur als letzter Ausweg einer Staatsnotwendigkeit
Berechtigung. Politik und Kriegführung stehen in so untrenn-
barem Zusammenhang, daß es folgerichtig ist, dem voraussicht-
lichen Feldherrn einen entscheidenden Einfluß auf die Außen-
politik zu wahren. Er kennt am besten das Instrument, das den
politischen Forderungen Nachdruck verleiht, und ist daher in
erster Linie berufen, über Krieg und Frieden zu entscheiden.
Von Feldmarschall Graf Moltke, dem großen Meister des
Krieges, stammt der Ausspruch: „Fehler und Unterlassungen,
die bei Beginn des Krieges gemacht werden, lassen sich im
ganzen Verlaufe des Krieges nicht mehr gutmachen.“ Dies gilt bei
den engen Wechselbeziehungen zwischen Politik und bewaffneter
Macht nicht allein für rein militärische Fehler und Unterlas-
sungen, sondern ebenso für Versäumnisse der äußeren Politik;
der Einfluß des Feldherrn auf die äußere Politik dürfte daher
niemals ausgeschaltet werden.
In der Verkennung dieses elementaren Grundsatzes der Staats-
führung ist der Urgrund des verlorenen Krieges zu suchen, der
mit dem Zerfall des Reiches enden mußte: Die Außenpolitik
ging Wege, die der Feldherr nicht verantworten konnte. Der
Außenminister kannte nicht die militärische Tragfähigkeit des
Reiches und verschloß sich der Notwendigkeit, vor der Fest-
legung seiner politischen Ziele die Meinung des Feldherrn ein-
zuholen, der beim Versagen dieser Politik die Folgen zu tragen
hatte.
In dem Abschnitt „Conrad und die Außenpolitik“ wurden die
beharrlichen Bemühungen des Chefs des Generalstabes beleuch-
tet, sich den ihm zustehenden Einfluß auf die Außenpolitik zu
wahren. Das Ministerium des Äußeren hielt an der Überlie-
ferung der strengen Scheidung der Ressorts fest, ohne sich
Rechenschaft zu geben, daß dies ein längst überholter Stand-
229
CONRAD IM FRIEDEN IM HINTERGRUND
punkt sei. Die von verhältnismäßig kleinen Heeren mit gerin-
gem Einsatz an Volksgütern geführten Kriege der Vergangen-
heit hatten nicht jene einschneidenden Folgen wie die unter
Aufbietung aller materiellen und geistigen Kraftquellen durch-
zukämpfenden Zusammenstöße neuzeitlicher Volksheere.
Der Chef des Generalstabes stand im Frieden im Hintergrund.
Die Vertreter des Volkes in den gesetzgebenden Körperschaften
Österreich-Ungarns kannten nur die Landesverteidigungsminister,
die den einseitigen Standpunkt je einer Reichshälfte vertraten
und als politische Minister durch den Kabinettschef gebunden
waren. Der „gemeinsame“ Reichskriegsminister hatte alljährlich
nur während weniger Tage Gelegenheit, vor den „Delegationen“
seine Forderungen zu vertreten, die nach einem alten Brauch
schon durch vorangegangene Abmachungen mit den beiden Mi-
nisterpräsidenten und den Finanzministern fast ausschließlich
vom Standpunkt der finanziellen Tragbarkeit festgelegt waren.
Dazu trat die besondere Erschwernis, daß die Höhe der Bei-
tragsleistungen der beiden Reichshälften für die „gemeinsamen“
Ausgaben, die sogenannte „Quote“, ein dauerndes Streitobjekt
bildete. Jede der beiden Reichshälften fühlte sich durch die
andere übervorteilt, was die Opferfreude für die gemeinsame
Armee ungünstig beeinflußte. Der „gemeinsame“ Kriegsminister,
der im Kriegsfall in eine rein administrative Rolle zurückfiel,
konnte nicht das gleiche brennende Interesse an dem Ausbau
der Wehrmacht haben wie der Chef des Generalstabes, der die
Versäumnisse des Friedens mit seinem Namen zu decken hatte.
Vom* Gesichtspunkt der rein militärischen Vorbereitungen ge-
bührt Conrad das Verdienst, erreicht zu haben, was unter den
gegebenen hindernden Umständen möglich war.
Bei der Festlegung der Maßnahmen, die für die verschiedenen
Kriegsfälle zu ergreifen waren, machte sich der fehlende Ein-
klang zwischen der Außenpolitik und den militärischen Forde-
rungen besonders fühlbar. Die Mannigfaltigkeit der politischen
Möglichkeiten, unter denen die Donaumonarchie gezwungen
werden konnte, den Kampf aufzunehmen, stellte den Chef de9
k. u. k. Generalstabes vor Aufgaben, wie sie keinem seiner
Amtskollegen anderer Armeen erwuchsen. Conrad hat sie mit
seltener Elastizität des Geistes zu bewältigen getrachtet. Es
230
DREIBUND — ENTENTE
wurde schon hervorgehoben, mit welcher Gewissenhaftigkeit die
konkreten Kriegsvorbereitungen auf Grund seiner persönlichen
Weisungen bearbeitet wurden. Um so mehr mußte es auffallen,
daß bezüglich des Zusammenwirkens der Verbün-
deten im Kriege keine bindenden, jeden Zweifel ausschlie-
ßenden Abmachungen bestanden. Darüber wurden Kritiken laut,
zu denen ich auf Grund meiner amtlichen Verbundenheit mit
diesen Fragen Stellung nehmen muß, weil sich auch Vorwürfe
gegen den Chef des Evidenzbüros erhoben, er hätte im Verkehr
mit dem deutschen Generalstab mit größerem Nachdruck auf eine
engere Verständigung der beiden Wehrmächte hin wirken sollen.
Das Verhältnis zwischen den Verbündeten
Die außenpolitische Lage Europas hatte sich zur Zeit der
Annexionskrise 1909 so weit geklärt, daß der sich immer enger
zusammenschließenden „Entente“ — Frankreich-England-Ruß-
land — der „Dreibund“ gegenüberstand. Serbien und Mon-
tenegro waren sichere Partner der Entente; vom Jahre 1913 an
mußte auch mit einem Anschluß Rumäniens an diese Seite ge-
rechnet werden. Wie immer sich die politische Lage weiterent-
wickeln mochte — mit Sicherheit war ein Krieg Deutschland-
österreich-Ungarn gegen Frankreich, Rußland, Serbien und
Montenegro zu erwarten. England kam mehr als Seemacht in
Betracht, da das englische Expeditionskorps nur sechs Infanterie-
divisionen zählte; hingegen war mit Belgien als Feind zu rech-
nen, falls es sich durch die Verletzung seiner Neutralität zum
Krieg entscheiden sollte.
Ein großes Fragezeichen im Kalkül der Mittelmächte bildete
das Verhalten Italiens.. Conrads Auffassung von dessen Bündnis-
treue wich von der des Deutschen Reiches wesentlich ab. Italien
galt dem deutschen Generalstab als vollwertiger Bundesgenosse,
während Conrad niemals ernstlich mit dessen Mitwirkung rech-
nete, sondern im Gegenteil einen Großteil seiner Kriegsvorberei-
tungen gegen den Bundesgenossen richtete.
In seinen Aufzeichnungen weist Conrad auf eine Erscheinung
231
DEUTSCHLANDS VERHÄLTNIS ZU ITALIEN
hin, die sich als roter Faden bis zum Schlüsse des Krieges hin-
zog: das zögernde, oft ablehnende Verhalten Deutschlands bei
jedem entschiedenen, Klarheit fordernden Schritt gegen den
dritten Bundesgenossen. Als Italien offen als Feind auftrat,
schrieb Conrad: „Zwar war bei Eintritt Italiens in den Krieg
das deutsche Alpenkorps in Divisionsstärke nach Tirol entsen-
det worden, doch durfte es nur defensiv verwendet wer-
den und schien lediglich zum Schutze Süddeutschlands gedacht,
insolange dieser nicht durch k. u. k. Truppen gewährleistet
war; dann wurde es auch abgezogen. Mein späteres Bemühen,
gemeinsam den entscheidenden Schlag gegen Italien zu führen,
blieb zur Zeit, da General von Falkenhayn Chef des General-
stabes war, ganz erfolglos. Erst Generalfeldmarschall von Hin-
denburg und Generaloberst von Ludendorff gingen zu Beginn
des Jahres 1917 auf meinen Antrag zu solchem Schlage ein, der
dann auch im Jänner eingehend vorbereitet und für das Früh-
jahr 1917 in Aussicht genommen war, aber infolge der Vorgänge
in Frankreich nicht zur Durchführung gelangte. Die mißliche
Lage nach der elften Isonzoschlacht zwang endlich zum Vorgehen
gegen Italien und veranlaßte die deutsche Oberste Heeresleitung
zur Mitwirkung im Sinne der zwischen mir und ihr getroffenen
Vereinbarungen, so daß es im Oktober 1917 zur gemeinsamen
Offensive gegen Italien kam, die mit dem Erfolg bei Tolmein-
Karfreit begann, leider aber auch nicht bis zur völligen Nieder-
werfung Italiens durchgeführt wurde. Ob dabei das frühzeitige
Abziehen der deutschen 14. Armee mitsprach oder andere Mo-
tive Vorlagen, ist mir nicht bekannt.“
Unter der Annahme der vom Deutschen Reich nachdrücklich
betonten Bündnistreue Italiens waren die Kriegsvorbereitungen
gegen Frankreich-Rußland zu treffen, wozu im Westen mit dem
Eingreifen Englands und Belgiens, im Osten mit jenem Serbiens,
Montenegros und Rumäniens zu rechnen war. Die Sicherheit
hätte es geboten, daß sich der Dreibund als geschlossene
Einheit für einen Krieg gegen alle diese Feinde vorbereite.
Die Mittelmächte wollten keinen Krieg, sie mußten aber mit
den aggressiven Zielen ihrer Feinde rechnen, die ihnen den Krieg
unter Zusammenfassung aller Bundesgenossen aufzwingen konn-
ten. Es wäre Sache der Generalstäbe des Dreibundes gewesen,
232
KEINE VORSORGEN FÜR GEMEINSAMES HANDELN
das gemeinsame Handeln für diesen „äußersten“ Fall in
einer für alle Teile bindenden Form festzulegen. Ge-
legentlich gemeinsamer Besprechungen wären die Kriegsziele,
die Zahl der bereitzustellenden Streitkräfte und deren Aufmarsch
im Sinne eines einheitlichen, auf die Vernichtung der
Feinde hinzielenden operativen Entschlusses klarzustellen ge-
wesen. Diese Forderung war für jeden Soldaten selbstver-
ständlich.
Bei der Übernahme des Evidenzbüros mußte ich das Fehlen
von Vorsorgen für ein gemeinsames Handeln der Verbün-
deten feststellen. Dies stand im Gegensatz zu den bis in die
kleinsten Einzelheiten durchgearbeiteten Mobilisierungsvorsorgen
für die eigene Wehrmacht. Mit Italien bestanden wohl Verein-
barungen älteren Datums, wonach es im Falle des Krieges drei
Armeekorps und zwei Kavalleriedivisionen zur Unterstützung der
Deutschen an den Rhein entsenden sollte. Diese begrenzte Mit-
wirkung stammte aus der Zeit nach Zustandekommen des Drei-
bundvertrages, sie blieb fortan unverändert in Geltung. Erst
General Pollio erhöhte als Chef des Generalstabes der italieni-
schen Armee 1913 das militärische Angebot aus eigener Ini-
tiative durch die Zusage von mehreren Armeekorps und Kaval-
leriedivisionen zur unmittelbaren Unterstützung Österreich-Un-
garns gegen Rußland.
Im Gegensatz zu diesen wenig verpflichtenden Abmachungen
mit Italien muß die präzise Form auffallen, in der Conrad seine
Vereinbarungen mit dem Chef des rumänischen General-
stabes formulierte, als er im Jahre 1912 zur Anbahnung engerer
Beziehungen nach Bukarest gesandt worden war. In einem for-
mellen Akt wurde die Zahl der Divisionen erster und zweiter
Linie festgesetzt, die Rumänien im Kriegsfälle des Dreibundes
gegen Rußland beizustellen hatte, und Conrad bestimmte die
Räume sowie die Zeit für den Aufmarsch dieser Kräfte. Die
getroffenen Vereinbarungen wurden schriftlich niedergelegt
und galten noch im Winter 1912/13 als Grundlage für die kon-
kreten Kriegsvorbereitungen Rumäniens, die im Einvernehmen
mit dem Operations- und Eisenbahnbüro des k. u. k. General-
stabes durchgeführt wurden. Es waren wenigstens die auf-
zubietenden Kräfte und deren Bereitstellung bindend festgelegt,
233
PERSÖNLICHE ABMACHUNGEN CONRAD-MOLTKE
wenn auch noch vieles fehlte, was den Einklang mit diesem räum-
lich getrennten Verbündeten gewährleistet hätte.
Besonders auffallend erschien das Fehlen ähnlich bindender,
konkreter Vereinbarungen zwischen den beiden großen Reichen,
die auf Tod und Leben miteinander verbunden waren und die
größten Lasten in einem Kriege gegen die Entente zu tragen
hatten. Die Friedensvorsorgen für das Zusammenwirken der
deutschen und österreichisch-ungarischen Armee beschränkten
sich auf persönliche Abmachungen zwischen den beiden
Chefs der Generalstäbe. Sie waren nicht in bindender Form,
von Amt zu Amt, niedergelegt und konnten in dieser nur in
großen Zügen gehaltenen Fassung nicht als Grundlage für präzis
auszuarbeitende Kriegsvorbereitungen dienen. Vor allem konn-
ten sie durch einen Wechsel in der Person der Chefs hinfällig
werden. Conrad schreibt im Jahre 1913: „Die mit Deutschland
im großen vereinbarten Abmachungen bildeten auch weiter
die Grundlage. Deutschland wird mit seinen überwiegenden
Kräften zuerst den Krieg gegen Frankreich führen, nur etwa
12 bis 14 Divisionen in Ostpreußen und ein vor-
nehmlich aus Landwehrtruppen bestehendes Korps in Preu-
ßisch-Schlesien und Posen zur Aktion gegen Rußland
bereitstellen, Österreich-Ungarn aber die Aufgabe übernehmen,
den Krieg gegen Rußland im Einklang mit den im Osten
verwendeten deutschen Kräften zu führen, bis nach der erwar-
teten Entscheidung in Frankreich namhafte deutsche Kräfte nach
dem Osten transportiert und zur gemeinsamen großen Aktion
gegen Rußland eingesetzt würden. So wie die Kriegsführung
gegen Frankreich ganz der deutschen Heeresleitung
überlassen war, war die Führung des Krieges gegen Rußland
der österreichisch -ungarischen Heeresleitung an-
heimgegeben, also auch die Kriegsvorbereitungen, vor allem der
Aufmarsch.“
Conrad hielt diese Abmachungen offenbar für hinreichend.
Es drängt sich die Frage auf, ob sie tatsächlich einen genügend
scharf umgrenzten Rahmen für die im Einklang zu führen-
den Aktionen boten. Als Chef des Evidenzbüros empfand ich
in meinem Wirkungskreise ihre Unzulänglichkeit, denn gerade
der Nachrichtendienst erforderte eine enge Zusammenarbeit der
234
FÜR REGEREN VERKEHR DER GENERALSTÄBE
beiden Generalstäbe auf Grund der Aufmärsche und der beab-
sichtigten Einleitungsoperationen.
Das erwünschte engere Verhältnis ergab sich in der Folge
durch häufigere Besuche der Bürochefs und ihrer Organe, wobei
die Ergebnisse des Nachrichtendienstes verglichen, überprüft
und dessen Quellen auf ihre Verläßlichkeit untersucht werden
konnten. Dies erwies sich nicht allein vom Standpunkt des Evi-
denzdienstes wertvoll, sondern ergab auch Gelegenheit zur Klä-
rung der Auffassungen und förderte das gegenseitige Verstehen
— ein Vorteil, den ich erst im Kriege in seiner vollen Bedeu-
tung würdigen lernte.
Der Verkehr der Generalstäbe beschränkte sich, abgesehen
von gelegentlichen Begegnungen der Chefs, auf die Organe des
Nachrichtendienstes; die Referenten, welche die konkreten Kriegs-
vorbereitungen zu bearbeiten hatten, kannten einander kaum.
Als Chef des Evidenzbüros fand ich mindestens einmal im Jahre
Gelegenheit, mit General von Moltke zu sprechen; mit den Ab-
teilungsvorständen des Großen Generalstabes wurden auch außer-
halb des Nachrichtendienstes liegende Fragen behandelt, was
reichlich Anlaß gab, abweichende Auffassungen militärischer und
politischer Natur kennenzulernen. Die Erkenntnis der Folgen,
die sich aus diesen oft wesentlich auseinandergehenden Einstel-
lungen für das Zusammenwirken im Kriege ergeben mußten,
veranlaßten mich jedesmal nach der Rückkehr von Berlin, dem
Chef des Generalstabes einen regeren Verkehr der beiden Ar-
meen, vor allem einen intensiveren Gedankenaustausch zwischen
den Generalstäben, nahezulegen.
Am bedenklichsten erschien mir die völlig unzutreffende Ein-
schätzung unserer Wehrmacht, die Verkennung ihres inneren
Aufbaues. Aber auch in der österreichisch-ungarischen Armee,
selbst an führenden Stellen des Generalstabes — auch Conrad
nicht ausgenommen —, bestanden vielfach unrichtige Anschau-
ungen über die deutsche Wehrmacht, deren Aufbau, Ausbildung,
Ausrüstung, ihren Geist, die Disziplin, die höhere und niedere
Führung. Die gegenseitige Unkenntnis zweier Armeen, die
durch eine enge Schicksalsgemeinschaft darauf angewiesen waren,
Schulter an Schulter um die höchsten Güter ihrer Völker zu
ringen, mußte sich zum Nachteil auswirken.
235
GEGENSEITIGE ZURÜCKHALTUNG
Wie lose der Zusammenhang der beiden Wehrmächte war,
beleuchtet die Tatsache, daß das Evidenzbüro, dem die Kennt-
nis aller Wehrmächte oblag, über die Kriegsformatio-
nen der deutschen Armee weniger unterrichtet war als über
jene der voraussichtlichen Feinde. Auch das Operationsbüro,
dem die Festlegung des gemeinsamen operativen Handelns zu-
fiel, wußte nicht mehr.
Conrad schreibt anläßlich der Bearbeitung der konkreten
Kriegsvorbereitungen für das Jahr 1913: „Um über die Wehr-
kraft der Gegner, der Verbündeten und Neutralen ein möglichst
zutreffendes Bild zu haben, hatte ich am 3. März (1913) das
Evidenzbüro (Oberst von Urbanski) beauftragt, mir eine Über-
sicht über die voraussichtlichen Kräfteverhältnisse der einzelnen
Staaten auf Grund der geplanten Heeresvermehrungen vorzu-
legen.“ Das Evidenzbüro hatte auf Grund der erlangbaren Daten
eine Aufstellung über die von Deutschland aufzustellenden Ver-
bände höherer Ordnung verfaßt. Statt konkreter, von Freund zu
Freund loyal zur Verfügung gestellter amtlicher Angaben war
man auf Kombinationen angewiesen. Für die Ermitt-
lung der im Kriege aufzustellenden Verbände höherer Ordnung
war die Kenntnis der vorhandenen Bestände an Gewehren, Ge-
schützen, Ausrüstung und Trains maßgebend. Darüber bestan-
den nur Vermutungen. So ergab sich denn die verwunderliche
Tatsache, daß man im österreichisch-ungarischen Generalstab
über die Kriegsstärke des engsten Verbündeten unverläßlicher un-
terrichtet war als über die der Feinde. Ich gehe in der Annahme
nicht fehl, daß auch der deutsche Generalstab keine genaue
Kenntnis der Kriegsgliederung der k. u. k. Armee hatte. Nicht
minder schwerwiegend erschien mir das gegenseitig mangelnde
Verständnis für den inneren Aufbau der beiden Armeen. Man
kannte im deutschen Generalstab vor allem nicht die wesent-
lich verschiedene Struktur der österreichisch-ungarischen Trup-
penkörper, bedingt durch die militärischen Tugenden und
Schwächen der verschiedenen Nationen, und die durch allerlei
Umstände erschwerten Ausbildungsverhältnisse.
Conrad vertrat zum Beispiel die Ansicht, daß die Vorliebe für
Paraden auf Kosten der kriegsmäßigen Ausbildung gehen müsse
und der übertriebene Drill im deutschen Heere eine nur äußer-
236
VERSCHIEDENHEITEN DER VERBÜNDETEN ARMEEN
liehe Disziplin züchte, die ernsten Lagen nicht standhalte. An-
dererseits konnte ich gelegentlich der Besprechungen mit Ex-
zellenz von Moltlie und seinen nächsten Mitarbeitern die Wahr-
nehmung machen, daß die nationalen Verschiedenheiten der
österreichisch-ungarischen Regimenter ebensowenig verstanden
wurden wie die hemmenden Einflüsse der dualistischen Verfas-
sung auf den Ausbau der Wehrmacht.
Ich bemühte mich unter anderem, die verschiedenen Bedin-
gungen für die Ausbildung der Infanterie in beiden Armeen
hervorzuheben. Die Präsenzdienstzeit war wohl die gleiche, aber
die deutsche Kompanie hatte um einen Berufsoffizier mehr im
Stande als die österreichisch-ungarische, sie rückte mit etwa
90 Mann zur täglichen Beschäftigung aus, während der Übungs-
stand der österreichisch-ungarischen Infanteriekompanie des ge-
meinsamer! Heeres bestenfalls 70, jener der Landwehr kaum
30 Mann betrug. Der schwerwiegendste Unterschied ergab sich
aus der Zahl der Berufsunteroffiziere, die unmittelbaren Einfluß
auf die Mannschaft in disziplinärer Beziehung wie in der Aus-
bildung nahmen. Zu einer Zeit, da in unserer Armee die Berufs-
unteroffiziersfrage im Anfangsstadium war, standen im deut-
schen Heer 80.000 längerdienende Berufsunteroffiziere mit rei-
cher Erfahrung im Truppendienst den Offizieren zur Seite, was
der Ausbildung wesentlich zustatten kam.
Während einer Reise am Bodensee war ich am Übungsplatz
des in Konstanz liegenden badischen Infanterieregimentes Zeuge,
wie nicht weniger als zehn längerdienende Unteroffiziere bei
einer Kompanie mit jedem einzelnen Mann des jüngsten Jahr-
ganges den Weg vom Eintritt ins Artilleriefeuer bis zum Ein-
bruch in die feindliche Stellung zurücklegten und durch ein dem
Bildungsgrad des Mannes angepaßtes Frage-und-Antwort-Spiel
das Verständnis der Leute für den Infanteriekampf zu wecken,
sie zu denkenden Infanteristen zu erziehen verstanden. Unwill-
kürlich drängte sich mir der Vergleich mit meiner Erfahrung
als Generalstabsoffizier einer Infanteriebrigade in Siebenbürgen
auf, wo die Regimentskommandanten die größte Mühe hatten,
einen deutsch schreibenden Rechnungsunteroffizier und vor allem
einen dienstführenden Feldwebel pro Kompanie zu finden, der
die deutsche Kommandosprache und die Muttersprache der
237
MANGELNDE GEGENSEITIGE KENNTNIS
Mannschaft so weit beherrschte, um als Instruktor gebraucht
werden zu können.
Die streng territoriale Ergänzung der deutschen Linienregi-
menter, die sich auch auf das nichtaktive und großenteils auf
das aktive Offizierskorps erstreckte, schuf vollkommen einheit-
liche Truppenkörper mit alten, durch allerlei Sonderrechte sorg-
fältig gepflegten Überlieferungen. Die Garderegimenter, die sich
aus dem ganzen Reich ergänzten, wachten besonders eifersüchtig
auf die Erhaltung ihrer stolzen Traditionen, woran auch die Mann-
schaft festhielt. Bei Erreichung des dienstpflichtigen Alters mel-
deten sich die Nachkommen der Gardesoldaten freiwillig zu
den Regimentern, in denen ihre Väter und Großväter gedient
hatten. Diesen Wünschen wurde nach Tunlichkeit Rechnung
getragen; nicht selten stand der Mann in der gleichen Kompanie
wie seine Vorfahren, die in ihr gekämpft oder den Heldentod
gefunden hatten. Welch gewaltiger moralischer Faktor dieser
sorgfältig gepflegte Regimentsgeist war, ist naheliegend. Bei
aller Anerkennung der sonstigen ausgleichenden Umstände, die
den Gesamtwert des Frontkämpfers beeinflussen, lag doch die
unleugbare Tatsache vor, daß die weitaus günstigeren Ausbil-
dungsverhältnisse den Gesamtwert der deutschen Armee stei-
gern mußten. Dieses Urteil wurde nicht immer gern gehört;
es verlor deshalb nicht seine Berechtigung. Gerade der Leiter
des Evidenzdienstes durfte sich, selbst um den Preis des Miß-
fallens, nicht der Pflicht verschließen, die Wehrmächte nicht
allein zahlenmäßig, sondern auch nach dem Grad ihrer Aus-
bildung und dem sie beseelenden Geist zu beurteilen.
Der Krieg hat reichlich erwiesen, wie folgenschwer sich das
gegenseitige Nichtkennen ausgewirkt hat. Den deutschen Führern
fehlte das Verständnis für die Eigenart der österreichisch-unga-
rischen Armee, was Anlaß zu Reibungen bot, die zu vermeiden
gewesen wären, wenn man sich schon im Frieden gekannt hätte.
Wie fördernd sich andererseits ein gegenseitiges Kennen im
Kriege auswirken konnte, habe ich an mir selbst erfahren. Durch
den fünfjährigen Verkehr mit Kameraden des deutschen Heeres
kannte ich deren taktische und operative Ansichten, ihre Auf-
fassung von Disziplin, die Art des Verkehres zwischen Vorge-
setzten und Untergebenen, der Kameraden untereinander und
238
ZWEI JAHRE UNTER DEUTSCHEM KOMMANDO
viele sonstige Eigenarten, die unsere Armeen unterschieden.
Es war mir daher im Kriege ein leichtes, mich in deutsche
Art zu finden.
Der Zufall wollte es, daß ich als Kommandant einer Brigade
sehr bald nach Kriegsausbruch in die Lage kam, erfolgreich in
das Gefecht des Korps Woyrsch einzugreifen, dessen Chef des
Stabes, Oberst von Heye, als Leiter des Nachrichtendienstes in
der Vorkriegszeit ein tatkräftiger, verständnisvoller Förderer
unserer Zusammenarbeit war. Unser Wiedersehen nach einem
glücklichen Gefecht fiel mit der Überreichung des Eisernen
Kreuzes zusammen. Schon in dieser kleinen Gefechtshandlung
erwies sich der Wert des gegenseitigen Kennens: die Zusam-
menarbeit spielte sich reibungslos, im besten Einvernehmen ab.
Noch deutlicher empfand ich diesen Vorteil, als die von mir
befehligte 46. Schützendivision im Sommer 1916 in deutschen
Verband trat und in diesem nahezu zwei Jahre verblieb. Das
Divisionskommando stand zum deutschen Korps- und Armee-
kommando in denkbar bester Beziehung; man hatte nie die
Empfindung, unter fremdem Befehl zu stehen. Generalleutnant
von Dieffenbach fand als mein unmittelbarer Vorgesetzter nur
Worte des Lobes für meine braven Truppen, und in der noch
mehrere Jahre nach dem Kriege fortgesetzten Korrespondenz
schrieb er immer wieder von der „wundervollen“ 46. Schützen-
division. Im Verband der von Exzellenz von Dieffenbach befeh-
ligten 22. deutschen Infanteriedivision stand auch das Kontin-
gent des Fürstentums Waldeck. Der regierende Fürst hatte es
für seine Pflicht gehalten, den Krieg im Stabe der Division mit-
zumachen, in der seine Landeskinder dienten. Das Bataillon
war durch längere Zeit im Bereiche der 46. Schützendivision
in Stellung.
Bald ergab sich ein enges kameradschaftliches Verhältnis;
der Fürst erschien sehr häufig in der Stellung des Bataillons
und verteilte Liebesgaben, welche die Frauen daheim für die
im Felde stehenden Männer angefertigt hatten. Es war ein wahr-
haft schönes Verhältnis zwischen dem Landesherrn und seinen
Untertanen. Auch die zwei Söhne des Fürsten standen als
kriegsfreiwillige Ordonnanzoffiziere bei der Division Dieffen-
bach in Verwendung. Der Fürst folgte wiederholt meiner Ein-
239
GUTES VERHÄLTNIS ZU DEUTSCHEN FÜHRERN
ladung zu festlichen Anlässen, und mehrere Jahre nach Kriegs-
ende erschien einer seiner Söhne bei mir zu Besuch und meldete
sich, in Erinnerung an die im Felde gemeinsam verbrachte Zeit,
„ganz gehorsamst zur Stelle“.
Auch die höheren deutschen Führer, wie Exzellenz von der
Marwitz, von Falkenhayn, Litzmann, von Linsingen, fanden immer
nur Lob für meine Truppen.
Gelegentlich der ersten Besichtigung meiner Stellung durch
General von Linsingen meldete plötzlich der Zugskommandant,
ein blutjunger Kadett: „Exzellenz, ich bitte, die Kappe abzu-
nehmen und diese Stelle gebückt zu passieren.“ Linsingens Blick
fiel auf mich, der nur bestätigen konnte: „Jawohl, Exzellenz,
wir müssen uns den Anordnungen des Abschnittskommandanten
fügen.“ Auf meinen Befehl, sein Verhalten zu begründen, er-
klärte der Kadett: „Seine Exzellenz unser Herr Divisionär hat
angeordnet, daß jeder Abschnittskommandant allein berufen ist.
zu entscheiden, wie man sich in seinem Abschnitt zu benehmen
hat: wie ein Schiffskommandant auf einem Schiff. Die Herren
Inspizierenden sind bald aus dem Abschnitt draußen, jede Sorg-
losigkeit rächt sich aber an der Truppe, die bekommt dann die
Granaten.“ Exzellenz von Linsingen mußte herzlich lachen und be-
fahl seinem Begleiter, sich diese Episode zur Nachahmung zu
notieren.
Bei einer Sturmtruppübung meiner Division hatte Exzellenz
von Linsingen seinen Standpunkt bei der Maschinengewehr-
kompanie, die das Vorgehen der Sturmtruppe so lang als mög-
lich zu unterstützen hatte. Man konnte das Einschlagen der Ge-
schosse schon recht nahe über den Köpfen der vordersten An-
greifer sehen. Exzellenz von Linsingen wurde unruhig, nahm mich
beiseite und fragte, ob das Feuer nicht schon einzustellen wäre.
Ich antwortete, daß ich dies grundsätzlich dem Maschinengewehr-
kommandanten überlasse, der seine Gewehre und Vormeister
kenne. Bei der Besprechung forderte Exzellenz von Linsingen
den Maschinengewehrkommandanten auf, anzugeben, welche
Praxis er sich für das Einstellen des Feuers zurechtgelegt habe.
„Mit diesen Gewehren und diesen Vormeistern stelle ich das Feuer
ein, wenn die unterste Flugbahn drei Meter über den vordersten
angreifenden Mann geht“, war die Antwort. General von Lin-
240
AUSTAUSCH VON OFFIZIEREN
singen konnte nur erwidern: „Exzellenz, ich beglückwünsche Sie
zu der Feuerdisziplin in Ihrer Division!“ Wenige Wochen später
fand eine Sturmtruppübung der deutschen Musterdivision im
Informationskurs in Wladimir Wolynsk statt, und General von
Linsingen stand nicht an, gelegentlich der Kritik vor etwa 50
österreichischen und deutschen Generalen und Truppenkomman-
danten hervorzuheben, wie vorbildlich er die Unterstützung der
Infanterie durch die Maschinengewehre bei der 46. Schützen-
division gesehen hatte.
Diese Anerkennung war gewiß verdient, meine Truppen konn-
ten sich dank der gründlichen Ausbildung und musterhaften
Disziplin mit allen anderen messen, das ausgezeichnete Verhält-
nis zu den deutschen Führern entsprang aber meinen vor dem
Krieg gemachten Erfahrungen im Verkehr mit den deutschen
Kameraden. Dankbar erinnere ich mich heute noch nach mehr
als zwei Jahrzehnten der Wertschätzung deutscher Führer für
meine Truppen.
Sehr förderlich für das gegenseitige Kennenlernen erwies sich
der Austausch von Offizieren aller Waffengattungen nicht allein
im Stellungskampf, sondern auch zu Zeiten ernsterer Kampf-
handlungen. Da erst lernten die deutschen Kameraden die Lei-
stungen des österreichischen Offiziers, aber auch den Wert un-
serer Mannschaft richtig einschätzen. Wirksamer noch erwiesen
sich die mehrmonatigen Instruktionskurse für Subalternoffiziere
und Offiziersaspiranten beider Armeen, zu denen auch die In-
struktionsoffiziere von beiden Armeen nach dem gleichen
Schlüssel beigestellt wurden. Schon nach dem ersten dieser
Kurse ergab sich eine Übereinstimmung der taktischen Ansich-
ten, der Auffassungen über Disziplin und Behandlung der Mann-
schaft, die bald den Unterschied der Uniform schwinden ließ.
In der ersten Zeit hatten sich wohl auch Reibungen zwischen
temperamentvollen jungen Offizieren oder Mannschaftspersonen
ergeben, die meist aus der Überheblichkeit auf der einen Seite
entstanden. Sie wurden aber durch das gute Einvernehmen der
höheren Führer sehr bald ausgeglichen. Die Neigung, die Lei-
stungen der österreichisch-ungarischen Armee herabzusetzen,
wurde dadurch am wirksamsten beseitigt, daß den deutschen
Kameraden Gelegenheit geboten wurde, die Schwierigkeiten
16
241
,,S CHULTER AN SCHULTER"
kennenzulernen, die der österreichische Offizier zu überwinden
hatte. Der rege Austausch von Führern aller Grade wandelte das
Gefühl der Überlegenheit sehr bald in kameradschaftliche Be-
wunderung der unverdrossenen Pflichttreue des österreichischen
Offiziers und lehrte gleichzeitig die militärischen Tugenden der
österreichischen Soldaten nichtdeutscher Nationalität schätzen.
Ich und meine braven Truppen haben den unter deutschem
Kommando verbrachten Jahren ein warmes Andenken bewahrt;
viele in dieser Zeit geknüpfte Bande der Kameradschaft haben
den Krieg überdauert. Ich darf diese Tatsache wohl auf den
Umstand zurückführen, daß mich die aus der Vorkriegszeit stam-
mende Kenntnis deutscher Art befähigte, meinen Einfluß nach
beiden Seiten zum Ausgleich der Gegensätze auszuüben, die
Achtung für unsere Leistungen den deutschen Führern abzurin-
gen und das Gefühl wahrer Waffenbrüderschaft unter den Sol-
daten zu begründen.
Aus diesem Beispiel darf ich aber auch ableiten, daß das
gegenseitige „Sichkennenlernen“ schon im Frieden ein
ähnliches Gefühl der Zusammengehörigkeit und untrennbaren
Schicksalsgemeinschaft in der breiten Masse der Heere begründet
hätte, lange bevor der Krieg die Bundesgenossen zum Kampfe
„Schulter an Schulter“ rief. Ich habe in meinem Wirkungskreis
keine Gelegenheit versäumt, daran zu mahnen, daß zwei Ar-
meen, die berufen sind, gemeinsam für eine Sache zu kämpfen,
einander vor allem kennen müssen. Dies war für die oberste
Führung ebenso notwendig wie für deren Organe und auch die
Truppe.
Sö selbstverständlich diese Forderung war, so wurde ihr nicht
die gebührende Beachtung geschenkt. Die Frage liegt nahe, wie
sich dieser geradezu imverständliche Zustand auf die Dauer
erhalten konnte. Gegen den im Frieden wiederholt angeregten
Offiziersaustausch wurden außenpolitische Bedenken erhoben:
er könnte im Auslande als allzu deutliche Kriegsvorbereitung
aufgefaßt werden. Diese zarte Rücksichtnahme der Diplomaten
hat allerdings den Gegnern nicht die gleiche Zurückhaltung auf-
erlegt. Frankreich übte nach Gewährung der Milliardenkredite
eine schrankenlose Vormundschaft über die russische Armee
aus, zwischen den Generalstäben der Ententestaaten herrschte
242
UNZULÄNGLICHE VEREINBARUNGEN
ein reger Gedankenaustausch, an den militärischen Fachschulen
hospitierten fremde Offiziere, und an den großen Manövern
nahmen außer den Militärattaches grundsätzlich größere Offiziers-
mi-ssionen teil. Die Mittelmächte vermieden im Gegensatz dazu
jeden Offiziersaustausch bei den Truppen oder in Fachschulen,
der Verkehr der Generalstäbe war fast ausschließlich auf den
Austausch von Evidenzdaten begrenzt, und bei den großen Ma-
növern konnte ich während der fünf Jahre, als ich vor dem
Kriege das Attachequartier führte, viele Offiziersabordnungen
fremder Staaten begrüßen — niemals aber eine
deutsche oder italienische!
Meine Vorschläge gingen allerdings weiter. Die Erkenntnis
der unzulänglichen Vorbereitungen für eine einheitliche Krieg-
führung der verbündeten Armeen veranlaßte mich, dem Chef
des Generalstabes einen regeren Gedankenaustausch über die
Fragen des militärischen Zusammenwirkens zu empfehlen. Hiezu
gehörte zunächst die Festlegung der anzustrebenden politischen
Ziele. Daraus ergaben sich die operativen Absichten für die ver-
schiedenen Kriegsfälle, die Stärke der aufzubietenden Kräfte
und die Räume für deren Bereitstellung. Auf dieser Grundlage
wären alle Vorsorgen für den Krieg im gegenseitigen Einver-
nehmen zu bearbeiten gewesen.
Auch dies erscheint als eine ganz selbstverständliche Forde-
rung. In allen Armeen wurden die Vorsorgen für den Übergang
der eigenen Streitkräfte vom Friedens- auf den Kriegsfuß in
einem auch die kleinsten Einzelheiten regelnden Mobilisie-
rungsplan niedergelegt, der alljährlich sorgfältig überprüft
wurde. Bestand diese Notwendigkeit für die eigene Armee,
so mußte es noch wichtiger erscheinen, Vorsorgen für das Zu-
sammenwirken verschiedener, räumlich getrennter Ar-
meen zu einheitlicher Kraftleistung zu treffen.
Die bestandenen Vereinbarungen für den Kriegsfall des
Dreibundes müssen nach jeder Richtung als unzulänglich
bezeichnet werden. Von den zwölf italienischen Armeekorps
sollten nur drei am Rhein im Anschluß an die deutschen Kräfte
gegen Frankreich bereitgestellt werden. Die Frage war nahe-
liegend, wie Italien die übrigen Kräfte zu verwenden gedenke.
Frankreich war an seiner Ostgrenze durch Deutschland derart
Iß*
243
UNKENNTNIS DER MILITÄRISCHEN LEISTUNGSFÄHIGKEIT
gebunden, daß eine Offensive gegen Italien aus Südfrankreich
über die Alpen nahezu ausgeschlossen schien, und zum Schutze
Italiens gegen französische und englische Landungsversuche
waren die im Lande verbleibenden neun Armeekorps zuviel.
Es wäre nur zu berechtigt gewesen, von Italien eine Offensive
gegen Südfrankreich zur Entlastung Deutschlands zu fordern.
Diese naheliegende Verwendung des großen italienischen Kraft-
überschusses tritt erst in den konkreten Kriegsvorbereitungen
Conrads für das Jahr 1913 in Erscheinung, die aber von Italien
nicht auf Grund gemeinsamer Vereinbarungen gefordert,
sondern vom italienischen Chef des Generalstabes Pollio an-
geb o t e n wurde.
Diese Tatsache erweist, daß trotz der steigenden Kriegsgefahr
die Abmachungen über die militärischen Leistungen der Bun-
desgenossen dem Ermessen der Vertragspartner
überlassen waren.
Aber auch gegenüber Deutschland bestanden offenbar Beden-
ken, die militärische Leistungsfähigkeit mit jener rückhaltlosen
Offenheit zu erörtern, die durch die gemeinsamen Kriegsziele
geboten war. Die Gründe für diese Zurückhaltung waren nie
einwandfrei festzustellen. Conrad äußerte sich trotz seiner son-
stigen Offenheit gegen seine Referenten niemals eindeutig zu
diesem Gegenstände. Gelegentlichen Äußerungen war zu entneh-
men. daß auf beiden Seiten eine Zurückhaltung herrschte, sich
allzu deutlich in die Karten blicken zu lassen — eine Erschei-
nung, die übrigens allen Koalitionen anhaftet. Die Verbundenheit
augenblicklicher Interessen schließt die Möglichkeit einer Än-
derung dieses Verhältnisses nicht aus. Die Geschichte lehrt, daß
Verbündete kurz nach einem gemeinsam geführten Krieg die
Waffen gegeneinander kehrten.
Nicht verschwiegen kann werden, daß in den leitenden mili-
tärischen Kreisen Österreich-Ungarns die Erinnerung an 1866
nachwirkte. 1864 waren österreichische Soldaten für deutsche
Interessen ins Feld gezogen; zwei Jahre später verbündete sich
das um die Vorherrschaft in Deutschland ringende Preußen mit
Italien zu einer „Stoß-ins-Herz-Taktik“ gegen Österreich. Gegen
Italien bestand in Armeekreisen ein tiefwurzelnder Groll, weil
die Erfolge der österreichisch-ungarischen Waffen auf den blut-
244
MILITÄRISCH STARKER DREIBUND FRIEDENSGARANTIE
getränkten Schlachtfeldern Oberitaliens mit dem Verlust blühen-
der Provinzen geendet hatten.
Bei der jährlichen Überprüfung der italienischen Aufmarsch-
transporte durch Tirol an den Rhein kam das Mißtrauen gegen
den Verbündeten immer wieder zum Ausdruck; es wurde pein-
lich vermieden, den italienischen Generalstabsoffizieren einen
Einblick in die eigenen Mobilisierungsvorsorgen, in reservate
Instruktionen oder in das Aufmarschkalkül zu gewähren. Dieses
dauernde Mißtrauen schloß jede Besprechung gemeinsamer
Kriegshandlung auch dann noch aus, als der Thronfolgermord
eine äußerst akute Kriegsgefahr geschaffen hatte. Die vier
Wochen bis zur Überreichung des Ultimatums an Serbien blieben
ungenützt, um bindende Versicherungen über das Verhalten
Italiens zu erhalten.
Ein Rückblick auf das gegenseitige Verhältnis der Bundes-
genossen berechtigt zu der Annahme, daß eine unmittelbar nach
Abschluß des Dreibundes aufgenommene und gepflegte mili-
tärische Fühlungnahme der Verbündeten den Zusammenbruch
der Mittelmächte verhindert hätte. Eine Gewähr für die Erfül-
lung der Bündnispflichten seitens Italiens lag in der Festsetzung
konkreter bindender militärischer Abmachungen für den Kriegs-
fall. Conrad wollte diesen Weg gehen, er forderte Sicherheiten,
und. wenn diesp nicht gegeben werden konnten, die Lösung des
Dreibund Vertrages, der der Monarchie nur Lasten auferlegte,
ohne ihren Besitzstand zu garantieren.
Das Bestehen einer offenen militärischen Verbundenheit der
Dreibundmächte hätte den Krieg vermieden, denn die zusammen-
gefaßte Kraft dieser drei Staaten — zu denen sich auch Rumä-
nien gesellte — mußte jede Mächtegruppe in Europa von einer
kriegerischen Auseinandersetzung zurückhalten. Lediglich das
lockere Gefüge des Dreibundes konnte die Entente ermutigen,
einen der Vertragspartner durch territoriale Versprechungen in
ihr Lager zu ziehen. Die Extratour Italiens während der An-
nexionskrise hat Serbien den Mut gegeben, seine aggressive
Politik gegen die Donaumonarchie fortzusetzen, es fühlte sich
auf Grund der Erfahrungen des Winters 1908 auf 1909 sicher,
bei Ausbruch eines Krieges gegen die Donaumonarchie von Ita-
lien nicht angegriffen zu werden.
245
UNTERBLIEBENE GEGENBESUCHE IN ITALIEN
Das Verhältnis zwischen den Herrscherhäusern Österreich-
Ungarns und Italiens war nicht geeignet, die Beziehungen der
beiden Länder zu fördern. Der Besuch des Königs Viktor Ema-
nuel III. in Wien war aus Rücksicht auf den Heiligen Vater
unerwidert geblieben. Kaiser Franz Joseph hätte im Interesse
seiner Völker auch dieses Opfer auf sich genommen, wenn die
um die Erhaltung des Dreibundes besorgte Diplomatie eine an-
nehmbare Form für den Gegenbesuch gefunden hätte. Der
Kaiser, der nach „Königgrätz“ als loyaler Verbündeter wieder-
holt den Weg nach Deutschland fand, hätte sich auch über die
Bedenken der Kirche hinweggesetzt. In der Folge sprach sein
hohes Alter gegen diesen Staatsbesuch. Aber auch der Erbe des
Thrones war aus Familienrücksichten nicht dafür zu gewinnen.
Seinem Einfluß ist es auch zuzuschreiben, daß der Besuch des
Chefs des italienischen Generalstabes, General Pollio, trotz aller
Bemühungen unerwidert blieb.
Conrad war nicht abgeneigt, nach Rom zu fahren, um sich mit
General Pollio persönlich auszusprechen, den er hochschätzte
und zu dem er großes Vertrauen hatte. Die Begegnung bei den
deutschen Manövern im Jahre 1913 hatte innerhalb weniger
Tage eine erfreuliche Annäherung der drei Generalstabschefs
gebracht, die sich bald darauf in dem Initiativantrag Pollios aus-
wirkte, im Kriegsfall mehr italienische Truppen zur Verfügung
zu steilen. Diese spontane Annäherung als Ausfluß einer kurzen
persönlichen Fühlungnahme eröffnet einen Ausblick, wie frucht-
bar sich Vereinbarungen mit Italien hätten gestalten können,
wenn sie von langer Hand in einer freundschaftlichen Atmosphäre
getroffen worden wären. Conrads überzeugender Geist, sein
bestrickendes, gewinnendes Wesen hätten ihn befähigt, die Be-
ziehungen zwischen den beiden Wehrmächten enger zu gestalten.
Man vergleiche seine erfolgreiche Mission in Rumänien, wo
innerhalb von zwei Tagen ein konkretes schriftliches Militär-
abkommen mit dem rumänischen Generalstabschef zustandege-
kommen war, das die gesamte rumänische Armee in den Dienst
des Dreibundes stellte.
Es hat nicht an Bestrebungen gefehlt, dieses unbefriedigende
Verhältnis in loyale Bahnen zu lenken. Der italienische Militär-
attache in Wien, Oberst Conte Albricci, hat gewiß nicht ohne
246
GEGENSÄTZE IN DER VOLKSSTIMMUNG
Wissen seines Botschafters dieses Thema wiederholt mit mir
besprochen. In erster Linie galten seine Bemühungen dem Zu-
standekommen des Gegenbesuches Conrads beim Chef des ita-
lienischen Generalstabes. General Pollio, dessen Gemahlin eine
Österreicherin war, hielt mit seinen Sympathien für die Mon-
archie nicht zurück, trotzdem ihm dies Vorwürfe seitens radi-
kaler nationaler Kreise eintrug. Conrad war gern bereit, durch
diesen Akt gebotener Höflichkeit der gegenseitigen Verständi-
gung zu dienen. Auch Kaiser Franz Joseph erhob keinen prin-
zipiellen Einspruch. Trotzdem unterblieb der Besuch, und der
Verkehr der beiden Generalstabschefs beschränkte sich auf einen
fall weisen schriftlichen Notenwechsel.
Die Gegensätze wurzelten zu tief in den Seelen der Völker.
Namentlich das immer schärfere Hervortreten der Irredenta
nahm jede Hoffnung auf eine Verständigung. Die Politik der
Diplomaten stand in hellem Widerspruch zur Volksstimmung.
Der Dreibund wurde nach Conrads Ausspruch immer deutlicher
zu einem ,,Dreifuß, dessen einer Fuß bedenklich wackelte“.
Für die beiden erübrigenden Bundesgenossen galt der Krieg
im Westen als eine rein deutsche, der im Osten als eine
österreichisch-ungarische Angelegenheit. Rußland
sollte der Hauptsache nach von österreichisch-ungarischen Kräf-
ten aufgehalten werden, bis Frankreich von den Deutschen nie-
dergerungen war. Die sorgsam ausgearbeiteten Kriegsvorberei-
tungen Deutschlands haben im Westen zu Anfangserfolgen ge-
führt, die alle Erwartungen übertrafen. Für den Osten, wo der
Einklang zwischen zwei fremdstaatlichen Armeen herzustellen
war, bestanden im Gegensatz hiezu nur ganz allgemeine Ab-
machungen für die gemeinsame Kriegführung, die den Erfolg
in Frage stellen mußten.
Als ich am 31. Juli 1914 auf dem Weg in das Reichskriegs-
ministerium in Wien schon als ernannter Brigadekommandant
dem deutschen Militärattache Graf Kageneck begegnete, wandte
sich dieser, an unsere mehrjährige gemeinsame Tätigkeit an-
knüpfend, mit den besorgten Worten an mich: „Wenn Sie noch
einen Einfluß haben, beschwöre ich Sie, einzugreifen. Es ist noch
kein Mann in Bewegung, und schon herrschen Mißverständnisse
bezüglich der gegen Rußland beizustellenden deutschen Kräfte.
247
KEIN GEMEINSAMER KRIEGSPLAN DES DREIBUNDES
Die unbestimmte Fassung der militärischen Abmachungen für
den Osten führte tatsächlich schon zu Beginn des Krieges zu
ernsten Auseinandersetzungen zwischen den beiden Obersten
Heeresleitungen. Es ergaben sich abweichende Auffassungen
über die seitens Deutschlands eingegangenen Verpflichtungen.
Durch den Ausfall Italiens fehlten dessen Truppen im Westen.
Diese wurden den für den Osten bestimmten Kräften zum Teil
entnommen. Die dadurch entstandene Schwächung veranlaßte
den Oberkommandanten der Ostarmee, seine nächste Aufgabe
im Schutze Ostpreußens zu sehen, statt im Sinne der Friedens-
abmachungen, vereint mit den österreichisch-ungarischen Armeen,
die Vernichtung der Russen durch einen Offensivstoß in der
Richtung auf Siedlec anzustreben. Dies schuf für Conrad eine
völlig neue Lage. Alle Berufungen auf die Friedenszusagen ver-
hallten unter dem Drange der sich überstürzenden Ereignisse un-
gehört.
Das amtliche österreichische Werk über den Krieg geht über
die militärpolitischen Vorbereitungen hinweg und beginnt mit
der Feststellung, daß „kein gemeinsamer Kriegsplan
des Dreibundes bestand und man diesem auch nicht näher-
trat, als durch den Thronfolgermord die Kriegsgefahr wesent-
lich gewachsen war“. Es wird weiters festgestellt, daß „der
Kriegsplan des (österreichisch-ungarischen) Generalstabes gegen
Rußland und die durch ihn bedingten Vorbereitungen in den
Abmachungen wurzelten, die General der Infanterie Conrad und
Generäloberst Moltke seit dem 1. Jänner 1909 in Briefen und
zeitweiligen Besprechungen festgelegt hatten“. An anderer Stelle
heißt es: „Den Plan, wie der Krieg gegen Rußland zu führen
sei, hatte General der Infanterie Conrad in den Grundzügen
schon im Jahre 1909 entworfen, ohne späterhin wesent-
lich davon abzuweichen... Die Ausführung dieses Planes
heischte eine entsprechende Mitwirkung des deutschen Ostheeres.
Nur wenn die bis an den Narew, die mittlere Weichsel und die
Nordgrenze Galiziens vorgeschobenen russischen Streitkräfte
gleichzeitig von Süd und Nord, das ist von Galizien und Ost-
preußen her, in die Zange genommen wurden, war die geplante
Operation einigermaßen erfolgversprechend. Die Hauptkraft des
248
EINE DER SCHWERSTEN ENTTÄUSCHUNGEN
deutschen Ostheeres mußte daher nach der Auffassung Conrads
zur Unterstützung des zwischen Bug und Weichsel angesetzten
k. u. k. linken Flügels über den Narew in der allgemeinen Rich-
tung auf Siedlec vorstoßen ... General der Infanterie Conrad
glaubte, von Generaloberst Moltke wiederholt mündliche und
schriftliche Zusicherungen des gewünschten Sinnes erhalten zu
haben. Jedenfalls konnte er sich auf eine Note stützen, die wohl
schon am 19. März 1909 geschrieben, deren Inhalt aber bis zum
Kriegsausbruch niemals förmlich widerrufen worden ist.“ In
diesem Schreiben äußerte sich General von Moltke: „Dennoch
werde ich nicht zögern, den Angriff zu machen, um die gleich-
zeitige österreichische Offensive zu unterstützen. Eure Exzellenz
können sich auf diese Zusage, die reiflich überlegt ist, wohl ver-
lassen. Bedingung dabei ist, daß die Bewegungen der Ver-
bündeten gleichzeitig angesetzt und unbedingt durchgeführt wer-
den. Sollte die Ausführung der Absichten einem der Verbün-
deten durch den Feind unmöglich gemacht werden, so ist
schnellste gegenseitige Benachrichtigung unbedingt geboten, da
die Sicherheit des einzelnen ganz von dem Zusammenwirken
beider abhängt...“ Conrad zog mit der bestimmten Überzeu-
gung ins Feld, diese Verabredung noch in Geltung zu wissen.
Daß, wie sich später erwies, die deutsche Heeresleitung anders
dachte, sollte zu den schwersten Enttäuschungen ge-
hören, die er im Krieg erlitt.
Das amtliche Werk anerkennt gleichfalls, wie notwendig prä-
zise, bindende Abmachungen über die gegenseitigen Verpflich-
tungen gewesen wären. Seit dem Jahre 1909, aus dem diese
Vereinbarungen stammten, hatte die Kriegsgefahr ständig zuge-
nommen, was reichlich Veranlassung zu einer Überprüfung der
Vereinbarungen bieten mußte. In dieser Zeit waren wesent-
liche Verschiebungen in den Machtfaktoren der Gegner des Drei-
bundes eingetreten. Frankreich war auf die dreijährige Dienst-
zeit übergegangen, Belgien hatte seine Rüstungen verstärkt, Ruß-
land hatte unter dem Einfluß des französischen Generalstabes
die Armee ausgebaut, eine unkontrollierbar große Zahl von Re-
servedivisionen aufgestellt, das Eisenbahnnetz verdichtet, Serbien
und Montenegro waren territorial vergrößert und moralisch ge-
hoben aus dem Balkankrieg hervorgegangen, Rumänien war
249
CONRAD ÜBERNIMMT DIE SCHWERE AUFGABE
offensichtlich vom Dreibund abgerückt — Gründe genug für eine
Überprüfung der Kriegspläne im allgemeinen, der aus dem
Jahre 1909 stammenden gegen Rußland aber im be-
sonderen.
Es muß auffallen, daß in den Abmachungen der beiden Gene-
ralstabschefs Italien mit keinem Wort erwähnt ist, was den Ein-
druck erwecken muß, daß auch nicht der Versuch erwogen wurde,
es als Bundesgenossen zur Mitwirkung heranzuziehen. Die be-
deutende Erstarkung der Feinde im Osten belastete ausschließ-
lich Österreich-Ungarn. Conrad nahm diese schwerere Aufgabe
willig auf sich, um ja nicht das deutsche Konzept zu stören, das
die Entscheidung des Krieges bringen sollte.
Die geänderte Haltung Rumäniens hatte Conrad schon 1913
gezwungen, eine Rückverlegung des Aufmarsches gegen Rußland
in Aussicht zu nehmen. Im Frühjahr 1914 zwang die Sorge um
die ungestörte Versammlung der Nordarmee, die Rückverlegung
des an der Grenze Ostgaliziens vorgesehenen Aufmarsches in die
San-Dnjestr-Linie in Erwägung zu ziehen. Diese Verschiebung
des Aufmarsches nach Zeit und Raum mußte folgerichtig auch
auf das operative Kalkül des deutschen Ostheeres rückwirken;
es ist aber aus keiner Korrespondenz zu ersehen, daß diesbe-
züglich ein Gedankenaustausch zwischen Conrad und Moltke
stattgefunden hätte. Der Krieg gegen Serbien, eventuell auch
gegen Rumänien, blieb auch weiter eine rein österrei-
chische Angelegenheit, obwohl dadurch ein beträchtlicher
Teil der gegen Rußland in Aussicht genommenen Kräfte ab-
gezogen werden mußte.
Die Ereignisse sollten nur zu bald die unheilvollen Auswir-
kungen der nicht hinreichend verpflichtenden Abmachungen er-
weisen. Am 3. August 1914 erhielt Conrad die erste Mitteilung
über die Aufstellung des deutschen Ostheeres. Die in diesem
Schreiben Moltkes ausgedrückte Zusammenarbeit klang nicht
mehr so entschieden, wie es Conrad erwartet hatte. Er rechnete
verläßlich mit einer Offensive des deutschen Ostheeres „in der
Richtung Siedlec“, also in den Rücken von Warschau. Blieb diese
Mitwirkung aus, dann fehlte der eine Hebel der „polnischen
Zange“, in die Conrad das russische Heer nehmen wollte.
Das Schreiben Moltkes vom 3. August 1914 stellte wider Er-
250
FRIEDENSABMACHUNGEN VERSAGEN
warten eine Offensive des deutschen Ostheeres nach Rußland
nur für den Fall in Aussicht, daß die russische Armee
nicht frühzeitig und mit überlegenen Kräften in Ostpreußen ein-
bräche. Moltke schrieb auch nur ganz allgemein von einer Stoß-
richtung, „welche dem österreichischen Heere die größte Erleich-
terung brachte“.
Conrad wollte sich mit einem so allgemein gehaltenen Ver-
sprechen nicht zufrieden geben und forderte ausdrücklich einen
Vorstoß des deutschen Ostheeres in der im Frieden vereinbarten
Richtung. Er wiederholte dieses Verlangen während der folgen-
den drei Wochen, ohne Gehör zu finden. Er hatte weiters mit
einer deutschen Ostarmee von „zwölf bis vierzehn Divi-
sionen“ gerechnet. Das Ausspringen Italiens hatte Deutschland
gezwungen, das Ostheer um die Divisionen zu schwächen, die
an Stelle der Italiener in den Vogesen eingesetzt werden mußten.
Es stimmte also auch die zugesagte Truppenstärke nicht.
Hiezu kam, daß der Auftrag an den Oberkommandanten des
deutschen Ostheeres, Generaloberst Prittwitz, eine von den Frie-
densvereinbarungen wesentlich abweichende Fassung hatte. Es
wurde ihm überlassen, seine Operationen zu leiten, und
ihm lediglich nahegelegt, ein „übereinstimmendes Handeln
mit dem österreichischen Heere anzustrebe n“. Die Wei-
sungen hoben die „schwierige“ Aufgabe hervor, die öst-
lichen Provinzen gegen einen russischen Einfall zu sichern.
„Weisungen solch gemäßigter Sprache boten dem ohnedies nicht
sehr zuversichtlichen Generalobersten die Handhabe, sich zu-
nächst der Behauptung Ostpreußens zu widmen, ohne die man
deutscherseits den Vorstoß über den Narew als unausführbar
erachtete.“
Conrad hatte auf die schriftlichen Zusagen des deutschen Ge-
neralstabschefs voll vertraut. Seine Kriegsaufzeichnuiigen
bestätigen diesen Irrtum:
„Wie schon angedeutet, war zwischen General von Moltke und
mir zwar die Grundlage für das Handeln im großen vereinbart,
aber die Aktion auf jedem der beiden Kriegsschauplätze der be-
treffenden Heeresleitung anheimgegeben... Die deutschen in
Ostpreußen versammelten Kräfte unterstanden gleichfalls der
deutschen Obersten Heeresleitung, ihre direkte Unterstellung unter
251
OSTPREUSSEN
OSTGALIZIEN
das österreichisch-ungarische Armeeoberkommando wäre aber
zweckmäßiger gewesen... so war dieses auch dem Kommando in
Ostpreußen gegenüber lediglich auf das Einvernehmen, ohne Kom-
mandogewalt, angewiesen... allerdings rechnete ich dabei auf
die vereinbarte Stärke des deutschen Ostheeres in der Zahl von
12 bis 14 Divisionen. Aber auch selbst bei den nur 9 Divisionen,
auf die das Ostheer reduziert wurde, hielt ich es für möglich,
daß etwa 3 Divisionen äußerstenfalls die Linie Mauersee—Kö-
nigsberg halten, 6 Infanteriedivisionen und die Kavalleriedivi-
sion den Stoß über den Narew führen. Allerdings setzte dies
voraus, daß die großen operativen Forderungen höhergestellt
würden als der Wunsch, Ostpreußen vor einer Invasion zu be-
wahren. Man vergleiche damit unser Verhalten mit bezug auf
Ostgalizien.“
Mit unerschütterlicher Zähigkeit bemühte sich Conrad, die
Deutschen zum Einhalten ihrer Verpflichtungen zu veranlassen.
Am 17. August depeschierte er an das deutsche Große Haupt-
quartier: „Zahlreiche übereinstimmende Nachrichten letzter Tage
von Versammlung starker russischer Kräfte im Raume War-
schau—Siedlec—Lukow—Iwangorod weisen auf Möglichkeit rus-
sischer Offensive über die Weichsel und machen das von mir
wiederholt angeregte sofortige Vorgehen des deutschen Ostheeres
in Richtung Siedlec dringend notwendig, weil nur derart im
Verein mit unserer Offensive östlich der Weichsel ein eventueller
Vorstoß auf Berlin zu parieren ist. Von 100 deutschen Divisionen
sind nur 9 gegen Rußland gewendet.“
Aüs einem Bericht des der deutschen Obersten Heeresleitung
zugeteilten k. u. k. Feldmarschalleutnants Grafen Stürgkh aus
Koblenz mußte Conrad erkennen, daß weder Kaiser Wilhelm
noch General von Moltke an eine Offensive des deutschen Ost-
heeres auf Siedlec mehr dachten. In einem Schreiben an den
Vorstand der Militärkanzlei des Kaisers vom 28. August 1914
schrieb Conrad: „Nach den Vereinbarungen sollten die Deutschen
mindestens 12 Divisionen östlich der unteren Weichsel versam-
meln und mit diesen in der Richtung Siedlec vorstoßen, während
wir auf Lublin vorzugehen hatten. Wir haben unsere Verpflich-
tung eingehalten. Die Deutschen hingegen haben überhaupt nur
9 Divisionen östlich von Thora versammelt und haben diese nicht
252
„DIE GANZE LAST ALLEIN“
nach Südost, sondern weit nach Novdost geführt, wo sie sich
einen Echec geholt haben. Während wir einen Tagemarsch von
Lublin entfernt sind, sind sie zehn Märsche weit von Siedlec.
Dadurch tragen wir die ganze Last allein und haben
östlich Lemberg einen überlegenen Feind am Halse. Zu be-
sonderem Dank sind wir also den Deutschen nicht verpflich-
tet... Wir Österreicher sind leider Menschen ritterlicher Selbst-
losigkeit, das liegt uns schon im Blut, aber das entgegengesetzte
Prinzip ist nutzbringender.“
Auch nach der Schlacht bei Tannenberg stand die Befreiung
von Ostpreußen im Vordergründe des deutschen Interesses, und
der Wunsch Conrads nach einer Operation gegen Siedlec wurde
gar nicht mehr in Rücksicht gezogen. Diese Zurückstellung der
großen operativen Ziele hatte zur Folge, daß nunmehr die öster-
reichisch-ungarischen Armeen den Ansturm der Russen allein
abzuwehren hatten. Dies veranlaßte den Armeeoberkomman-
danten Erzherzog Friedrich, an den Deutschen Kaiser folgende
Depesche zu richten: „In treuer Erfüllung unserer Bündnis-
pflicht haben wir unter Preisgabe Ostgaliziens, somit nur von
operativen Rücksichten geleitet, die Offensive in der verein-
barten Richtung zwischen Bug und Weichsel ergriffen und da-
mit die überwiegende Macht Rußlands auf uns gezogen, mit
der unsere Armeen verlustreich, aber hartnäckig um den Er-
folg ringen, der ihnen in den blutigen Schlachten von Krasnik,
Zamosc und Komaröw auch zuteil wurde, allerdings auf Kosten
der östlichen Armeegruppe. Wir haben es schwer empfunden,
daß deutscherseits die vereinbarte Offensive über den unteren
Narew, Richtung Siedlec, unterblieben ist. Soll das große ge-
meinsame Ziel der Niederringung Rußlands erreicht werden, so
erachte ich eine energische, mit starken Kräften geführte
deutsche Offensive in der Richtung auf Siedlec für ausschlag-
gebend, aber auch für dringend.“
Ich habe diesen Erwägungen einen breiteren Raum gegeben,
weil ich in dem Fehlen von verpflichtenden Vereinbarungen für
den Krieg immer ein Versäumnis sah. Auf Grund der Ereig-
nisse haben sich auch höhere deutsche Offiziere nach dem Krieg
zu dieser Auffassung bekannt. So schreibt General von Kühl in
253
DEUTSCHE URTEILE
seiner Studie „Der Weltkrieg“: „Um so wichtiger wurde für die
Donaumonarchie“ (Weshalb nur für diese?) „die sorgfältige Vor-
bereitung des Zusammenwirkens mit Deutschland, auf dessen
Unterstützung sie angewiesen war.“ (War nicht auch Deutschland
auf die der Donaumonarchie angewiesen?) „Eingehende Ver-
handlungen zwischen den beiden Generalstabschefs wurden aus
Anlaß der durch die Annexion Bosniens und der Herzegowina
entstandenen Krise 1908/09 gepflogen. Conrad erklärte sich
einverstanden, daß die deutsche Hauptkraft zunächst gegen Frank-
reich aufmarschiere, während in Ostpreußen nur etwa 12 bis
13 deutsche Divisionen bereitgestellt werden. Somit hatte Öster-
reich-Ungarn den Kampf gegen Rußland zunächst hauptsäch-
lich allein zu bestehen. Innerhalb dieses großen Rahmens
war es jedem Verbündeten überlassen, den Krieg nach eigenem
Ermessen zu führen. Es erwies sich diese Abmachung im Kriege
als nicht ausreichend... Es muß als bedauerlich be-
zeichnet werden, wenn Conrad behauptet, daß Deutschland bei
den Operationen in Ostpreußen lediglich die Säuberung dieser
Provinz vom Feind im Auge hatte und sich um die strategische
Gesamtlage nicht gekümmert habe. Immerhin kann man sich
im ganzen doch dem Eindruck nicht entziehen, daß Conrad etwas
zu viel versprochen worden ist. Man wird dem in schwerem
Kampfe stehenden General Conrad manches damals in der Er-
regung gesprochene bittere Wort zugute halten können. Auf das
einheitliche Zusammenarbeiten des deutschen und des öster-
reichisch-ungarischen Heeres hat aber seine starke Verstimmung
im, weiteren Verlauf des Krieges einen ungünstigen Einfluß
gehabt.“
Besonders wertvoll erscheint das Urteil des deutschen Gene-
rals v. Cramon, der als mehrjähriger Vertreter der Obersten
Heeresleitung beim k. u. k. Armeeoberkommando genauen Ein-
blick in die österreichisch-ungarischen Armeeverhältnisse gewon-
nen hatte und die schweren Seelenkämpfe Conrads in den Stun-
den schwerwiegendster Entscheidungen verfolgen konnte.
General Cramon äußert sich zu dieser Frage in „Von Conrad
von Hötzendorf zu Kaiser Karl“: „Zwischen den Verbündeten
bestanden keinerlei bindende Vereinbarungen über die
Zusammenfassung der militärischen Führung in ihrer Gesamt-
254
CRAMON WIRD DEM VERBÜNDETEN GERECHT
heit oder für einzelne Fronten. Die Operationen gegen die
Westmächte galten als rein deutsche Angelegenheit, der Feld-
zug gegen Serbien als österreichische..— „Hätten Deutsch-
land und Österreich wirklich den Krieg gewollt, dann hätte das
gemeinsame Planen sie früher und eingehender zur Zusammen-
arbeit zusammenführen müssen auf dem Gebiete, das schließ-
lich doch das Ausschlaggebende ist: auf dem militärischen.
Es waren doch recht wenige in Deutschland, die über den Ver-
bündeten und sein Heer auch nur einigermaßen Bescheid
wußten.“ In dankenswerter Anerkennung der Leistungen des
k. u. k. Heeres sagt General Cramon: „Darum ist dieses Buch
auch zu dem Zwecke geschrieben, unserem Verbündeten im
Kriege gerecht zu werden.“ Zu den Kriegsplänen äußert sich
dieser berufene Kritiker: „Im Jahre 1909 hatte Conrad ein-
dringlich betont, daß ein Vorstoß aus Ostpreußen ihm die
Kräfte würde ersetzen können, die er zunächst gegen Serbien
würde verwenden müssen.“ Moltke antwortete damals: „Den-
noch werde ich nicht zögern, den Angriff zu machen, um die
gleichzeitige österreichische Offensive zu unterstützen, Eure
Exzellenz können sich auf diese Zusage, die reiflich überlegt
ist, wohl verlassen.“ ... „Conrad glaubte, aber es bestanden
eben keine fixen Abmachungen.“ Auf die Befehlsverhältnisse
übergehend, schreibt Cramon: „Vertraulichen Briefen ist zu
entnehmen, daß Conrad 1914 als gegeben voraussetzte, daß das
deutsche Ostheer ihm unterstellt würde. Desgleichen erwar-
tete er, daß dieses Heer nach den Siegen in Ostpreußen zu
gemeinsamem Vorgehen an den österreichischen Flügeln her-
angezogen würde. Conrad fühlte sich nicht nur fähig und be-
rufen, die vereinigten Kräfte zu führen, er sah in seiner
Führerstellung eine Anerkennung seines Vaterlandes als gleich-
wertigen Mitkämpfer.“ ... „Auffallend ist, daß das Ergebnis
der Besprechungen mit Moltke vor dem Kriege nur in Form
von persönlichen Briefen festgehalten wurde. Diese Form ist
wenig bindend und verpflichtet bei einem Wechsel den Nach-
folger nicht derart wie unpersönliche dienstliche Schreiben.
So mag es auch gekommen sein, daß die Zusage des oft er-
wähnten Vorstoßes aus Ostpreußen auf Siedlec dem deutschen
Generalstabe nicht als Verpflichtung bewußt geworden ist.“
255
DE B. „SCHWÄCHERE KOMPAGNON“
Wie schwer Conrad unter diesen Unstimmigkeiten litt, zeigen
seine Aufzeichnungen: „Deutschland war nicht nur mit einer
erheblich größeren Truppenzahl als Österreich-Ungarn in den
Krieg getreten, das deutsche Heer war auch in Bewaffnung
und Ausrüstung überlegen. So blieb Österreich-Ungarn stets
der schwächere Kompagnon4. Versagte Deutschland die Mit-
wirkung für eine gemeinsame Aktion, so mußte diese unter-
bleiben.44 Unbillig aber war es, „jedes Ansprechen deutscher
Mithilfe auf ein Versagen der k. u. k. Truppen zurückzuführen44.
Abschließend sagt Conrad: „Österreich-Ungarn übernahm im vol-
len Bewußtsein der schwierigen und undankbaren Aufgabe die
Bekämpfung Rußlands, um es Deutschland zu ermöglichen, sich
in Absicht eines raschen, entscheidenden Erfolges mit Über-
macht auf Frankreich zu werfen, um dann nach deutscherseits
sicher erhoffter siegreicher Entscheidung im Westen mit nam-
haften Kräften in den Krieg gegen Rußland einzugreifen. Dieser
Verpflichtung konnte Deutschland infolge der Ereignisse an der
Marne nicht entsprechen. Es erübrigte ihm nur mehr die Til-
gung seiner Schuld in kleinen Raten. Jede dieser Raten wurde
nun zum gnadenweisen Notpfennig an das angeblich versagende
Österreich-Ungarn gestempelt.44 Schon gelegentlich der Völker-
schlachtdenkmal-Feier 1913 mußte Conrad die Gepflogenheit,
„alles Österreichische44 in den Schatten zu steilen, schmerzlich
empfinden. „Man hätte denken sollen, daß nach dem völligen Aus-
scheiden Österreich-Ungarns aus dem Deutschen Reiche nach
1866 deutscherseits mit dieser Gepflogenheit gebrochen würde,
um. so mehr, als die durch Bismarck gegebene Richtung der
Politik auf ein Zusammengehen mit Österreich-Ungarn hin-
wies, das nun für Deutschland den einzigen verläßlichen Ver-
bündeten inmitten von Nachbarn bildete, die Deutschlands
Emporblühen neidvoll und feindlich verfolgten.44 Conrad, der
die schweren Opfer kannte, welche die Deutschen der Monarchie
bringen mußten, um die national unverläßlichen Verbände zu stüt-
zen, verfolgte mit Schmerz die Tendenz deutscher Berichterstat-
tung, Einzelerscheinungen in der österreichisch-ungarischen
Wehrmacht zu verallgemeinern, was auf den Geist der deutsch-
sprachigen Offiziere und Mannschaften schädigend rückwirkte.
Er verurteilt das in der deutschen Publizistik geübte Streben,
256
Tafel XII b
FELDMARSCHALL ERZHERZOG FRIEDRICH UND CONRAD
MISSGÜNSTIGE PUBLIZISTIK
„eigene Mißerfolge auf den Bundesgenossen abzuwälzen, joden
Erfolg als ausschließlich deutsche Tat, jeden Mißerfolg als
österreichische Schuld hinzustellen. Wo von österreichisch-
ungarischen ruhmreichen, blutigen, zugunsten des erhofften Er-
folges gegen Frankreich geschlagenen Schlachten berichtet wird,
die, bis zum Äußersten durchgehalten, anbetrachts erdrücken-
der feindlicher Übermacht mit der planmäßigen Zu-
rücknahme der Kräfte endeten, um diese später in er-
neuerter Offensive einzusetzen, wird von einer ,Niederlage
Österreich-Ungarns in Galizien4 gesprochen, während es von der
für den Kriegsausgang entscheidenden deutschen Niederlage
an der Marne lediglich heißt: ,Die Marneschiacht führte einen
Umschwung zugunsten der Franzosen herbei. Die Auswirkung
des deutschen Angriffsplanes ist vereitelt, das deutsche Heer in
die Verteidigung zurückgedrängt.4 “
„Niemand denkt bei uns daran“, schreibt Conrad weiter, „die
heldenmütigen Leistungen des deutschen Heeres im Weltkriege
zu schmälern — nur sollte diese Anerkennung nicht mit einer
Herabsetzung der Leistungen Österreich-Ungarns erkauft wer-
den. Haben sich bei den k. u. k. Truppen auch schon in den
ersten Stadien des Krieges Einzelfälle des deutscherseits so
vorwurfsvoll betonten hochverräterischen Versagens aus natio-
nalen Gründen ereignet, so stand dem die Desertion der El-
sässer gegenüber, über die man unsererseits mit schonungs-
vollem Schweigen hinwegging, Während es die Deutschen
Österreichs zustande gebracht hatten, die verschiedensten Natio-
nalitäten auch für Deutschlands Sache in vierjährigem Kampf
zusammenzuhalten, sind die Deutschen des Reiches im Hader
der Parteien zerfallen. Zu Vorwürfen war also kein Grund!“
Niemand hat diese Einstellung der deutschen Publizistik
schmerzhafter empfunden als der „Deutsche“ Conrad, der den
Opfermut seiner Stammesbrüder so schlecht gelohnt sah und
mit Besorgnis wahrnehmen mußte, wie schädlich diese un-
gerechtfertigte Zurücksetzung auf die Kampfesfreude der
k. u. k. Truppen wirkte. Schwer bekennt sich der Feldmar-
schall zu der Feststellung: „Ich wäre auf dieses Gebiet nicht
abgeschweift, wenn ich diesen abfälligen Urteilen gegenüber
nicht die Pflicht empfinden würde, für die alte k. u. k.
17
257
UNSTIMMIGKEITEN
Armee einzutreten, als auch als Deutscher, der ich bin, auf die
Gefahren hinzuweisen, die uns erwarten, wenn wir es nicht
verstehen, den inneren Hader zu begraben und jenes natio-
nale Bewußtsein aufzubringen, das unseren Feinden eigen
ist und sie zum Erfolg geführt hat.“ Kurz vor seinem Tode,
in dem im Jahre 1925 verfaßten V. Band seiner Kriegsauf-
zeichnungen „Aus meiner Dienstzeit“, schrieb der Feldmar-
schall: „Im vorliegenden Bande werden wiederholt Diver-
genzen zwischen der deutschen Obersten Heeresleitung, spe-
ziell General v. Falkenhayn, und mir hinsichtlich der Krieg-
führung im Großen zutage treten — Divergenzen, wie sie
auch im deutschen Heere, selbst zwischen Ost und West, und
auch innerhalb West allein, bestanden haben, die aber weit
davon entfernt waren, auch nur die geringste Lockerung des
bundestreuen Zusammengehens herbeizuführen, das mir als
unverrückbare Richtlinie des Handelns galt, solange ich die
Stelle des Chefs des Generalstabes innehatte.“
Der jüngst verstorbene General der Infanterie Alfred
Krauß, dessen jahrelanger unverdrossener Kampf für das
Reich des Führers ihn über jeden Zweifel an seiner streng
deutschnationalen Gesinnung erhebt, dem daher bei der Kritik
ausschließlich der Wunsch vorgeschwebt hat, durch das Auf-
zeigen schädigender Erscheinungen im Kriege der deutschen
Sache zu dienen, äußert sich in seinem Werk „Die Ursachen
der .Niederlage“ zu diesen Unstimmigkeiten: „Es gab im ein-
zelnen zahllose Reibungen und es bedurfte gegenüber der
Rücksichtslosigkeit und der Überhebung der unteren Stellen
und der Truppen oft der größten Selbstbeherrschung und Zu-
rückhaltung, um den Ausgleich herbeizuführen. So kam es,
daß selbst unsere Deutschen, also Angehörige desselben Vol-
kes, vielfach mit Abneigung und Erbitterung gegen die Deut-
schen erfüllt wurden, eine Erscheinung, die mich als Deut-
schen tief berührte... Als die deutschen Truppen nach der
Kriegserklärung Rumäniens nach Ungarn kamen, wurden sie
von der begeisterten und dankbaren Bevölkerung mit Jubel
und offenen Armen empfangen. Nach kurzer Zeit trat aber in-
folge des Verhaltens der Deutschen eine starke Abkühlung
258
DIE LEISTUNGEN DES VERBÜNDETEN
ein, die bald in Abneigung überging und mitunter den Aus-
druck des Hasses fand. Dieses überhebende, jeden anderen
als minderwertig brandmarkende Verhalten ging aber nicht
nur von der Mannschaft aus; auch Offiziere beteiligten sich
daran.
Die Haltung unserer slawischen Truppen veranlaßte selbst
hochstehende Generale zu verletzenden, verallgemeinernden
Bemerkungen, obwohl das Verhalten der Elsässer und der
Polen die Deutschen vorsichtiger und verständnisvoller hätte
machen sollen... Die Deutschen verstanden es immer mei-
sterhaft, die Leistungen ihrer Truppen vor der Welt ins rechte
Licht zu setzen und damit die Freudigkeit ihrer Truppen zu
heben. Daß aber dort, wo deutsche und österreichisch-unga-
rische Truppen gemeinsam auftraten, diese Anerkennung und
Hervorhebung der Leistungen deutscher Führung mit einer
Verdunkelung und Verschweigung der Leistungen der Verbün-
deten verbunden waren, erregte in unseren Kreisen, sogar im
deutsch denkenden Teil des Offizierskorps, oft und vielfach
eine ganz unnötige Verbitterung. Gerade mit den Österreichern
wäre es leicht gewesen, in vollster Eintracht auszukommen.
Gutmütig, dabei heiter, sorglos, hilfsbereit, anerkannte man in
unseren Reihen im allgemeinen neidlos die Überlegenheit
deutscher Organisationskraft, Tüchtigkeit und Tatkraft. Ein
wenig Verständnis für unsere Eigenart und für unsere Ver-
hältnisse hätte genügt, an Stelle der auch von deutscher Seite
vielfach beklagten Abneigung und Gehässigkeit die zur Er-
reichung des Enderfolges so wichtige volle Übereinstimmung
zu erzielen.“
Schließlich seien Urteile Ludendorffs zitiert, als Bekenntnis,
daß auch er das Fehlen einer engeren Zusammenarbeit mit
dem österreichischen Bundesgenossen nachträglich als Fehler er-
kannt hat. Ich trat im Sommer 1909 zum erstenmal in dienst-
liche Berührung mit Ludendorff, damals Chef der Mobil-
machungsabteilung im Großen Generalstab, und gewann den
Eindruck eines eisernen Willens, gepaart mit unbeugsamer
Energie. Die dem eigenen Kraftbewußtsein entspringende Über-
schätzung der Leistungsfähigkeit anderer hat aber mitunter sein
Urteil getrübt. Ich habe diese Einstellung Ludendorffs mit Be-
17*
259
LUDENDORFFS „NACHTRÄGLICHE“ ANERKENNUNG
sorgnis verfolgt und hauptsächlich auf Grund dieses Eindruckes,
im Interesse eines harmonischen Zusammenwirkens der Ver-
bündeten im Kriege, auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich
gegenseitig kennenzulernen. Nur der mangelnden Kenntnis der
österreichisch-ungarischen Wehrmacht entsprangen Ludendorffs
Kritiken über die geringen Leistungen des Bundesgenossen, und
es bedurfte geraumer Zeit, um auch diesen scharfen Kritiker,
leider erst nach dem Kriege, zu dem Bekenntnis zu bekehren:
„Die Leistungen der k. u. k. Armee im Weltkriege wurden auch
im Reiche nicht richtig eingeschätzt. Je mehr ich zurückschauend
den Zusammenhang der Dinge überblicke, desto mehr gewinne
ich die Überzeugung, daß auch die k. u. k. Armee Erstaun-
liches geleistet hat Dies auszusprechen, war mir ein beson-
deres Bedürfnis.“ Die nicht eingehaltenen Verpflichtungen sei-
tens der deutschen Obersten Heeresleitung zu Beginn des Krieges
bestätigt Ludendorff mit den Worten: „Die schwierige Lage der
österreichisch-ungarischen Armee Ende August 1914 einer sehr
starken russischen Überlegenheit gegenüber war nicht zu ver-
leugnen. Der Chef des Generalstabes, General von Conrad, for-
derte von seinem Standpunkt mit Recht unseren Vormarsch
über den Narew.“
Ludendorff traf erst gelegentlich seiner vorübergehenden Er-
nennung zum Generalstabschef der deutschen Südarmee, General
der Infanterie von Linsingen, im Jänner 1915 zum erstenmal mit
österreichisch-ungarischen Truppen in den Karpaten zusammen.
Sein abfälliges Urteil über den Zustand der Truppen und den
niederen Kulturgrad der Bewohner dieses Landstriches leitet
Ludendorff mit den Worten ein: „Ich habe die Verhältnisse in
Österreich-Ungarn erst im Kriege kennengelernt, vorher hatte
ich keine Gelegenheit dazu.“ Diese Feststellung ist bezeichnend
für die Unorientiertheit selbst jener Männer, denen die militär-
politischen Vorbereitungen für den Bündniskrieg oblagen. Sie
findet ihre Bestätigung auch in Ludendorffs Werk „Kriegführung
und Politik“: „Dem ganzen Gedankengang der Politik zufolge
blieb unser Bündnis mit Österreich ein rein politisches, während
die Entente ein ausgesprochen militärisches war... für uns
blieb die militärische Stärke Österreich-Ungarns eine ,innere*
Angelegenheit dieses Landes zu einer Zeit, in der wir auf Tod
260
MAHNUNG FÜR DIE ZUKUNFT
und Leben mit ihm gehen wollten... In den Kriegsvorbereitun-
gen war es ein Fehler, daß ein gemeinsamer Operationsplan
nicht bestand.“
Mit diesem Bekenntnis des berufensten Zeugen schließe ich
die Kritik an der militärpolitischen Vorbereitung des Krieges ab.
Die schweren Folgen der Versäumnisse auf diesem Gebiete
schwebten mir als ernste Mahnung vor, in der Zukunft nicht in
den gleichen Fehler zu verfallen. Heute ist die Zukunft der
bisher getrennt gewesenen deutschen Staaten durch eine un-
trennbare Sehicksalsgemeinschaft verbunden. Nichts ist für die
gemeinsame Krafleistung wichtiger als die gegenseitige Kennt-
nis der Stärken, aber auch der Schwächen. In der Vereinigung
der Kräfte wie im wohlwollenden Ausgleich der Mängel liegt
die höchste Auswertung der gegebenen Kraftquellen.
Ein abschließender Rückblick auf die Vergangenheit aber führt
vom militärpolitischen Standpunkt zu der Erkenntnis: Der Drei-
bund war ein Gebilde der Diplomaten, das in der Geschichte der
verbündeten Staaten nicht verwurzelt war und dessen gepriesener
Wert weder bei den Völkern noch in deren Heeren Widerhall
fand. Die militärischen Vorbereitungen standen nicht im Dienste
einer gemeinsamen politischen Idee, jeder Vertragspartner folgte
in erster Linie den eigenen Interessen. Diese Zersplitterung der
Kräfte hat die Niederlage der Mittelmächte besiegelt.
Die Frage des einheitlichen Oberbefehls
Eine grundsätzliche Vorbedingung für den Erfolg jeder militä-
rischen Handlung ist die Einheitlichkeit in der Be-
fehlsgebung. Diese jedem Soldaten geläufige Forderung
bedürfte keiner weiteren Begründung. Dennoch wurde im Welt-
kriege vielfach auf beiden Seiten dagegen gesündigt, obzwar die
Verantwortung für Sieg oder Niederlage auf erfahrenen Führern
lastete. Schon in den militärischen Elementarschulen wurde die
Einheitlichkeit in der Befehlsgebung als Axiom gelehrt, und in
den Hochschulen des Generalstabes wurden an Hand der Kriegs-
261
DAS HEIKELSTE PROBLEM
geschichte die Folgen von Verstößen gegen diese Kardinalforde-
rung aufgezeigt — und trotzdem konnte es geschehen, daß in
der Kriegsgeschichte wohlbewanderte Feldherren glaubten, ohne
einheitliche Leitung der Kriegshandlungen den Erfolg an ihre
Fahnen heften zu können. Die Frage des einheitlichen Ober-
kommandos blieb bei den Mittelmächten bis zum Schluß des
Krieges ungelöst. Alle im Drang der Ereignisse versuchten und
durchgeführten Abgrenzungen der Kommandogewalt trafen
nicht den Kern der Frage. Es gab nur eine radikale, zweck-
mäßige Lösung: die Unterstellung aller auf gebotenen Streitkräfte
der Verbündeten unter ein einziges, alle Kriegshandlungen auf
allen Kriegsschauplätzen regelndes, autoritatives Oberkommando.
Ich habe, veranlaßt durch die Eindrücke im Verkehr mit dem
deutschen Generalstab, es nicht versäumt, auch auf die Not-
wendigkeit hinzuweisen, die Frage des Oberkommandos im
Kriege schon im Frieden in einer jeden Zweifel ausschließen-
den Form zu regeln. Im deutschen Generalstab galt es als eine
nicht weiter zu erörternde Selbstverständlichkeit, daß den
Deutschen allein der Oberbefehl zukäme; Vereinbarungen vor
dem Kriege besagten lediglich, daß bei gemeinsamen Operatio-
nen der dienstältere Offizier den Befehl zu führen habe.
Diese Haltung, im Zusammenhang mit der von Conrad zu er-
wartenden Forderung nach Wahrung der österreichischen Pari-
tät, mußte zu Meinungsverschiedenheiten führen. Die Regelung
der Kommandoverhältnisse war zweifellos der heikelste Punkt
der gemeinsamen Kriegführung, denn es galt, Gegensätze aus-
zugleichen, die tief im Wesen der beiden Partner wmrzelten:
einerseits mußte mit dem Selbstbewußtsein der deutschen Ge-
nerale und des Generalstabes gerechnet werden, das auf den
Erfolgen der Jahre 1866 und 1870/71 fußte, anderseits mit dem
nicht minder berechtigten Vertrauen Conrads in seine Führer-
eigenschaften, verschärft durch dessen Sorge, daß die Deut-
schen niemals das volle Verständnis für die Eigenart der öster-
reichisch-ungarischen Wehrmacht aufzubringen vermochten.
Diese Verhältnisse mußten im Kriege Schwierigkeiten aus-
lösen, aber gerade dies forderte um so zwingender eine Lösung
schon im Frieden. Um diese anzubahnen, schien mir eine offene
Aussprache der Verbündeten notwendig: entweder ließ sich eine
262
VOR DEM KRIEGE NIE BERÜHRT
militärisch überragende Persönlichkeit finden, der sich alle Be-
teiligten willig unterordneten, oder es mußte ein anderer Weg
gefunden werden. Jede Lösung war besser als das Aus-
weichen vor einer Entscheidung, die doch einmal getroffen
werden mußte.
Tatsächlich nahmen die Ereignisse diesen Gang und zwangen
zu einer Lösung in einem Stadium, da die höhere Nervenanspan-
nung des rollenden Krieges die sachlichen Gründe zurücktreten
ließ und persönliche Reibungen der obersten Führer bereits ihre
Schatten vorausgeworfen hatten. Conrad schreibt in seinen Auf-
zeichnungen: „Auch die Erfahrungen im Weltkriege haben es
mir von höchster Bedeutung erscheinen lassen, daß die Führung
in einer Hand vereint liege und der oberste Führer über
unbeschränkte Machtbefugnisse verfüge. Wo die Führung stören-
den Eingriffen und Beschränkungen ausgesetzt, wo sie in allen
möglichen Rücksichten auf selbstsüchtige Alliierte
gebunden ist, wird sie stets des kraftvollen Zuges entbehren und
zu einem Kompromiß, zu einer Stümperei werden. Die Frage
eines gemeinsamen Oberbefehls war vor dem Kriege nie auf-
geworfen worden, die gemeinsame (einheitliche) Führung des
Krieges war auf das gegenseitige (gemeinsame) Einvernehmen
gegründet.“
Diese Feststellung Conrads ist die Bestätigung von berufener
Seite, daß im Frieden an diese Frage nicht herangetreten wurde.
Conrad hatte seine Abmachungen mit General von Moltke für
eine hinreichende Abgrenzung der Befehlsbereiche gehalten. Er
führt an, daß die zwischen ihnen gepflogenen vorbereitenden
Maßnahmen sich im Frieden stets „g 1 a11 und reibungs-
1 o s“ vollzogen und daß zu hoffen war, „dies würde im Kriege
gleichfalls so bleiben... Unter diesen Voraussetzungen war die
Schaffung eines gemeinsamen Oberbefehls überflüssig“.
Die Tatsachen haben erwiesen, daß die von Conrad erhoffte
Voraussetzung sich nicht erfüllte.
Conrad hatte über die Einheitlichkeit des Oberbefehls eine
von der Mehrheit abweichende Auffassung: „Die wesentlichen
Vorteile eines gemeinsamen Oberbefehls sind nur dann gegeben,
wenn sich der Oberbefehl in einer Person vereinigt, die sowohl
hinsichtlich der militärischen als auch hinsichtlich der politischen
263
DIE SLAWEN UND DER DEUTSCHE OBERBEFEHL
Führung unbeschränktes Verfügungsrecht und unbeschränkte
Machtvollkommenheit besitzt. Hiefür kamen nur Kaiser Franz
Joseph und Kaiser Wilhelm in Frage. Kaiser Franz Joseph war,
um ein Kommando am Kriegsschauplatz zu führen, zu bejahrt,
übrigens ist es sehr zu bezweifeln, ob Deutschland sich einem
Oberbefehl des Kaisers von Österreich gefügt hätte.“ Als Argu-
ment gegen die Führung durch den Deutschen Kaiser — „wohl
die nächstliegende Lösung“ — führt Conrad ins Treffen, daß
dies mit Rücksicht auf die S1 a w e n in der Donaumonarchie aus-
geschlossen schien: „ ... diese fügten sich noch dem Rufe des
angestammten Herrschers im Kampfe gegen Konnationale, es
konnte ihnen aber nicht zugemutet werden, sich willig und be-
geistert dem direkten Befehle des Kaisers von Deutschland unter-
zuordnen.“
Kamen die Herrscher für den Oberbefehl nicht in Betracht,
so erübrigte nur die Wahl eines höheren Generals des einen
oder anderen Staates. Daß die Deutschen sich dem Befehl eines
österreichischen Generals unterordnen würden, war bei ihrem
hohen Selbstgefühl auszuschließen. Einem deutschen General aber
wären die Slawen der Donaumonarchie noch unwilliger gefolgt
als dem Deutschen Kaiser. „Diese Widerstände wären vielleicht
zu umgehen gewesen, wenn in einem der beiden Heere ein Ge-
neral von so hervorragenden Führereigenschaften erstanden wäre,
dessen Autorität sich willig alle in der Erwartung eines sicheren
Sieges gefügt hätten, — diese Persönlichkeit gab es aber nicht“,
schreibt Conrad.
Es blieb somit nur der Ausweg eines Kollegiums aus hervor-
ragenden Generalen beider Armeen übrig. Diese Lösung ver-
wirft Conrad mit der Begründung, es sei nicht von Bedeutung
gewesen, ob diese Generale ständig an einem Ort, um einen
Tisch beisammensaßen oder ob sie räumlich getrennt amtierten
und das Einvernehmen schriftlich und telegraphisch oder durch
fallweise mündliche Besprechungen bei persönlichen Zusammen-
künften pflegten, was bei den heutigen Verkehrsmitteln keine
Rolle spielte. Conrad bemerkt schließlich, daß eine räumliche
Trennung der beiden Oberkommandos durch die Trennung der
Kriegsschauplätze zu Beginn des Krieges gegeben und das ein-
klangvolle Handeln durch vorheriges Einvernehmen zu erzielen
264
CONRADS WIDERSTÄNDE
war. Darin sprach sich nach Conrads Auffassung das Wesent-
liche des gemeinsamen Oberbefehls aus: „Es kam nur darauf
an, es stets loyal anzustreben und zu pflegen.“
Diese Argumentation ist vielfach auf entgegengesetzte Mei-
nungen gestoßen und hat zweifellos ihre schwachen Punkte. Vor
allem steht sie nicht im Einklang mit Conrads militärischem
Empfinden. Ihm, dem bewährten Taktiker und Strategen, dem
genauen Kenner der Kriegsgeschichte, kann nicht ernstlich zu-
gemutet werden, daß er sich der Notwendigkeit einer einheit-
lichen Leitung von Kriegshandlungen verschlossen hätte.
Er mußte gewichtigere Gründe haben, sich während des Krieges
der Schaffung eines gemeinsamen Oberbefehls zu widersetzen,
obwohl dieser auf Drängen Deutschlands von gewissen Wiener
und Budapester Kreisen wie auch von Kaiser Franz Joseph als
wünschenswert hingestellt wurde. Conrad befürchtete offenbar
auf Grund der Erfahrungen im Kriege Eingriffe in das innere
Gefüge der österreichisch-ungarischen Truppen und im Zusam-
menhang damit eine Förderung der Propaganda, die auf den
nationalen Zerfall des k. u. k. Heeres hinarbeitete. Daß Conrad
nicht grundsätzlich gegen einen einheitlichen Oberbefehl beim
Zusammenwirken der Verbündeten war, beweist sein Bedauern,
daß ein solcher bei Kriegsbeginn am östlichen Kriegsschauplätze
nicht bestand. Er bezeichnete es als „s c h ä d 1 i c h“ für die ge-
meinsame Sache, daß das deutsche Ostheer nicht von allem An-
beginn dem k. u. k. Armeeoberkommando unterstellt wurde, son-
dern auf eigene Faust operierte.
Den nationalen Bedenken Conrads gegen einen deutschen
Oberbefehl kann entgegengehalten werden, daß österreichisch-
ungarische Truppen slawischer Nationalität auch unter deut-
schem Kommando tapfer und hingebungsvoll gekämpft haben.
Die Regimenter meiner 46. Schützendivision zum Beispiel, in der
nebst deutschen auch polnische und tschechische Soldaten stan-
den, haben zwei Jahre in einem deutschen Armee- und Korps-
verband ihre Pflicht geradezu vorbildlich erfüllt. Niemals war
eine Auflehnung gegen die deutschen Befehlshaber zu fühlen.
Conrad rühmt übrigens selbst das mustergültige Verhalten der
aus allen Nationen zusammengesetzten österreichisch-ungarischen
Divisionen an der Westfront noch zu Ende des Krieges.
265
CRAMON ZUR FRAGE DES OBERBEFEHLS
Es ist bezeichnend, daß man auch auf Feindesseite geglaubt
hat, sieh über die Erfahrungen vorangegangener Koalitionskriege
hinwegsetzen zu können. Die Entente geriet durch diesen Fehler
in eine immer kritischere Lage. Alle Versuche, eine dem Pre-
stige der führenden Ententemächte entsprechende Lösung zu fin-
den, führten zu neuen Mißerfolgen, bis endlich die einer Kata-
strophe zueilende Gesamtlage zur Schaffung eines autoritären
Oberkommandos führte, dem sich im Zwange der Not auch das
stolze Albion unterordnete. Erst die Gründung eines gemein-
samen Oberbefehls half die Krise überwinden und führte schließ-
lich zum Erfolg.
Besonders wichtig wurde eine gemeinsame Führung bei den
Mittelmächten von dem Zeitpunkte an, als industriell minder
leistungsfähige Staaten sich ihnen anschlossen und es immer
klarer wurde, daß für den Enderfolg nicht mehr die Streiter
allein entscheidend waren, sondern auch das Kriegsmaterial und
die Versorgung mit Lebensmitteln eine ausschlaggebende Rolle
spielten. Eine die Widerstandskraft aller Verbündeten gewähr-
leistende Aufteilung dieser Güter war nur von einer die Ge-
samtinteressen wahrenden obersten Befehlsstelle zu erwarten.
General Cramon, der als Vertreter der deutschen Obersten
Heeresleitung beim k. u. k. Armeeoberkommando die Reibun-
gen dieser beiden Führerstellen aus nächster Nähe kennengelernt
hat, schreibt: „Es hätte nahegelegen, alle Kriegsschauplätze einer
einheitlichen Führung anzuvertrauen. Das Schicksal hat es so
gewollt, daß sich in den Jahren vor dem Kriege und seinem Be-
ginne in beiden Reichen keine Persönlichkeit derart heraushob,
daß sie die inneren Widerstände, die jeder Koalition anhaften,
überwinden und im großen hätte richtunggebend sein können.
Die beiden Herrscher blieben im Hintergründe — der eine durch
sein ehrwürdiges Alter der unmittelbaren Teilnahme entrückt,
der andere in freiwilliger Zurückhaltung. Der deutsche General-
stabschef strebte nicht danach, den Kreis seiner Verantwortlich-
keit zu erweitern. Ludendorff stand vor und bei Kriegsausbruch
nicht an maßgebender Stelle, Hindenburgs Bedeutung gründete
sich erst auf Tannenberg. Blieb also Conrad, der Generalstabs-
chef des österreichischen Heeres. Er war in Deutschland vor
dem Kriege außerhalb des Generalstabes kaum bekannt und ist
266
WARUM BLIEB CONRAD IM HINTERGRUND?
auch während des Krieges in seiner Bedeutung nicht voll er-
kannt worden. Das Urteil der Öffentlichkeit formte sich nach
Erfolgen, die sich in Gefangenenziffern imponierend ausdrück-
ten. Daß man Meisterschaft auch beweisen kann, wenn es ohne
weithin sichtbare Erfolge mit Minderheiten mühsam
den Druck einer Übermacht abzuwehren gilt,
wird der Allgemeinheit meist erst durch rückschauende Be-
trachtung verständlich. Conrads Operationen trugen den Stempel
großzügigen Denkens. Er wäre schon der Mann gewesen, um
eine große Aufgabe auf seine Schultern zu nehmen. Warum
blieb er im Hintergründe? Weil er nicht die Gabe und nicht
den Trieb besaß, sich in den Vordergrund zu schieben ... Der
Entschluß, sich freiwillig unterzuordnen oder sich freiwillig in
einen größeren Befehlsapparat eingliedern zu lassen, konnte ihm
seiner ganzen Natur nach nur kommen, wenn er sich ohne in-
neren Zwang einem Überlegenen hätte beugen können. Conrad
zog es vor, in dem gegebenen Rahmen selbständig und allein
verantwortlich zu sein. Diese Einstellung hat sich später bis zu
ausgesprochenem Gegensatz gegen jede einheitliche Kriegsleitung
gesteigert... Conrad fühlte seinen Führerwillen und seine Füh-
rerfähigkeiten denen der deutschen Heeresleitung in nichts un-
terlegen und hat das Heer mit seinem starken Willen zu Lei-
stungen bis an die Grenze des Möglichen mitfortgerissen.“
Besonders kraftvoll betont General Cramon Conrads überlegene
Führerfähigkeiten in seinen Betrachtungen nach dem Zusam-
menbruch der österreichisch-ungarischen Front bei Luck im Juni
1916: „Zwei österreichische Armeen hatten in 12 Tagen 54 und
57 Prozent ihres Standes verloren. Was hätte mit dieser Streit-
kraft erreicht werden können, wenn sie, Conrads Gedanken-
gängen folgend, nach freiem, eigenem Entschluß verwendet wor-
den wäre! Im Jahre 1915 Gorlice, Serbien, Montenegro — ge-
meinsam erkämpfte Siege —, 1916 Verdun, Tirol,
Luck! Gemeinsamkeit brachte den Sieg, ihr Fehlen die Rück-
schläge. Die Frage des Oberbefehls drängte der Entscheidung
zu. Conrad erhob sich zweifellos um Haupteslänge über die an-
deren, er sah die Dinge klarer, folgerichtiger in ihren Zusam-
menhängen. Sein Wollen zielte in zutreffender Richtung, sein
Können war groß und umfassend genug, um damit Schritt zu
267
FRANZ JOSEFH FÜR DEUTSCHEN OBERBEFEHL
halten... Die deutsche Heeresleitung zog aus dem Gedanken-
reichtum Conrads und aus seiner tief gründlichen Kenntnis der
Verhältnisse im Osten, auf dem Balkan und Italien Nutzen nur
in der Zeit unmittelbarer Zusammenarbeit — das war zu be-
dauern.“
Diese auch von deutscher Seite anerkannte Überlegenheit Con-
rads mag wohl die Hauptursache gewesen sein, daß er sich einem
gemeinsamen Oberkommando widersetzte. So begreiflich dieser
Widerstand menschlich auch war, die Tatsache ist nicht aus der
Welt zu schaffen, daß in dem Fehlen eines einheitlichen Ober-
befehls der Keim der Niederlage der Mittelmächte gelegen war.
Das österreichische Generalstabswerk nimmt zu dieser Frage
wie folgt Stellung: „Aktuell wurde die Schaffung einer obersten
Leitung, als sowohl die Bulgaren wie die Türken den Eintritt
in die Reihe der Verbündeten davon abhängig machten, daß das
Oberkommando vom deutschen Generalstab ausgeübt werde. Aber
auch in Österreich wie in Ungarn trat immer wieder die For-
derung nach einem einheitlichen Oberkommando in die Öffent-
lichkeit, und Kaiser und König Franz Joseph soll schon sehr
früh die Zweckmäßigkeit eines deutschen Oberkommandos
anerkannt haben. Daß diese Frage noch im dritten Kriegsjahr
offengeblieben war, geschah vorwiegend aus Rücksichten auf
Conrad, der als scharfer Gegner einer Beschränkung der Befehls-
gewalt des k. u. k. Oberkommandos bekannt war. Ende August
1916 glaubte der deutsche Generalstabschef unter dem Drucke
der Kriegslage diese Frage auch gegen den Willen Conrads auf-
rollen zu müssen. Am 22. August überreichte der deutsche Be-
vollmächtigte im k. u. k. Hauptquartier eine Zuschrift, die mit
dem Satz begann: „Se. Majestät der Deutsche Kaiser übernimmt
am 25. August 1916 um 12 Uhr mittags die einheitliche Leitung
der gemeinsamen Angelegenheiten der bulgarischen, deutsch-
österreichischen und türkischen Kriegführung. Allerhöchstsein
ausführendes Organ ist der Chef des deutschen Generalstabes.“
General Cramon begründete diesen höchst überraschenden
Vorschlag mit wiederholten Anregungen Enver Paschas und der
Notwendigkeit, „Bulgarien angesichts der drohenden rumänischen
Gefahr fest und sicher an der Seite der Verbündeten zu erhal-
ten“. Erzherzog Friedrich war nicht abgeneigt, dem deutschen
268
FALKENHAYNS ENTWURF UNANNEHMBAR
Antrag zuzustimmen, überließ es jedoch Conrad, dazu Stellung
zu nehmen. Dieser erklärte sich mit dem Vorschlag Falkenhayns
einverstanden, wenn hieraus „eine Förderung des Gesamterfolges
im Weltkriege und die Wahrung der militärischen Interessen der
Monarchie zu erhoffen wären“. Keines von beiden treffe jedoch
zu. In militärischer Beziehung liege eher die Gefahr vor, daß
eine für die verschiedenen, oft weit entlegenen Kriegsschauplätze
maßgebende Kriegsleitung in Unkenntnis der Eigenarten dieser
Kampfräume bedenkliche Fehlverfügungen ergehen lassen könnte.
Die österreichisch-ungarische Heeresleitung könnte durch die
gleichzeitige Unterstellung unter den Kaiser und König von
Österreich-Ungarn und unter den Deutschen Kaiser in schwere
Pflichtengegensätze geraten. Im besonderen sei einzuwenden, daß
sich Deutschland mit Italien nicht im Kriegszustände befinde —
nach dem Falkenhaynschen Entwurf könnte aber Deutschland
trotzdem frei über die k. u. k. Streitkräfte an der italienischen
Front verfügen —, „dasselbe Deutschland, das im Frühjahr 1915
für die südwestlichen Grenzgebiete Österreich-Ungarns so wenig
Interesse gezeigt hatte“. Aus all dem ginge für das Armeeober-
kommando die volle Unmöglichkeit hervor, bei Annahme des
Vorschlages vor Sr. Majestät und vor dem Vaterlande die Ver-
antwortung für die Führung im Kriege zu tragen.
Erzherzog Friedrich begab sich zur Begründung dieses Stand-
punktes persönlich nach Schönbrunn. Nach eingehenden Bespre-
chungen wurde der Entwurf Falkenhayns auch von Kaiser Franz
Joseph für unannehmbar bezeichnet. Der Allerhöchste Kriegs-
herr knüpfte jedoch daran den Befehl, der Anregung des
Deutschen Kaisers bezüglich der einheitlichen obersten Leitung
Rechnung zu tragen. Das Armeeoberkommando sollte selbst
einen Vorschlag ausarbeiten, durch den weder die Hoheitsrechte
des Monarchen noch die Würde der Wehrmacht betroffen würden.
In diese Phase fiel die Abberufung Falkenhayns. Mit Hinden-
burg-Ludendorff hatte Conrad immer in gutem Einklang gear-
beitet; er glaubte daher von einer weiteren Regelung der Frage
des Oberbefehls absehen zu können. Kaiser Franz Joseph ließ
aber das Armeeoberkommando schon am folgenden Tage wissen,
daß er die Erzielung vollen Einvernehmens im Sinne einer ein-
heitlichen Befehlsgebung erwarte. Ein von Ludendorff stammen-
269
BIS ZUM KRIEGSENDE UNGELÖST
der Entwurf kam Conrads Auffassung sehr nahe. Auf dieser
Grundlage entstand ein recht verklausulierter Vertragsentwurf,
mit dem Conrad am 3. September nach Wien fuhr, um dem
Kaiser persönlich zu berichten. Naeh dem Wortlaut dieses Ent-
wurfes bestand noch immer die Möglichkeit, daß Maßnahmen
der obersten Leitung die politischen Interessen der Monarchie
schädigen konnten. Ein geheimzuhaltender Zusatz sollte diese
Gefahr ausschalten. Die deutsche Oberste Heeresleitung ver-
pflichtete sich darin, „den Schutz und die Integrität der Gebiete
der österreichisch-ungarischen Monarchie jenen des Deutschen
Reiches gleichzuhalten“.
Der Kaiser und der Außenminister legten Wert darauf, daß
der Vertrag sofort in Kraft trete; so wurden denn die „Bestimmun-
gen für den einheitlichen Oberbefehl der Zentralmächte und ihrer
Verbündeten“ schon am 6. September in Pleß durch die beiden
Generalstabschefs unterzeichnet.
Wie wenig durch diesen Vertrag der Kern der Frage berührt
war, bewies schon die nächste Zukunft. Das Generalstabswerk,
das die widerstrebende Haltung Conrads in dieser Frage be-
sonders stark unterstreicht, kommt zu dem Schluß, „daß Ab-
machungen über eine engere Zusammenarbeit Stückwerk
bleiben mußten, so lange nicht auch der Zusammenklang der po-
litischen und wirtschaftlichen Kräfte des Vierbundes durch ir-
gendeine Organisation vollkommen gewährleistet war“.
Bald nach dieser Regelung starb Kaiser Franz Joseph. Kaiser
Karl übernahm persönlich das Armeeoberkommando. Er wäre
nach den Vereinbarungen dem Deutschen Kaiser unterstellt ge-
wesen. Um diese dem Begriff der Fürstensouveränität wider-
sprechende Unterordnung zu vermeiden, wurde beschlossen, daß
in Hinkunft wieder, wie in den ersten zwei Kriegsjahren, die
beiden Generalstabschefs die nötigen Vereinbarungen im gegen-
seitigen Einvernehmen zu treffen haben. Die Frage des einheit-
lichen Oberbefehls blieb daher bis zum Kriegsende ungelöst.
Die Frage bleibt unbeantwortet, wie sich das Geschick der
Mittelmächte gestaltet hätte, wenn sie sich einem bereits im
Frieden vorausbestimmten gemeinsamen Oberbefehl unterge-
ordnet hätten. Unsere Feinde haben sich spät, aber doch einem
obersten Willen gefügt — er hat sie zum Erfolg geführt.
270
CONRAD ALS FELDHERR
findet die berufenste Würdigung in dem vom österreichischen
Bundesministerium für Heerwesen und vom Kriegsarchiv her-
ausgegebenen amtlichen Werk „Österreich-Ungarns letzter Krieg
1914—1918“. Ich habe an der mehrere tausend Kilometer lan-
gen Front der Mittelmächte den verschwindend kleinen Abschnitt
einer Schützendivision befehligt; es steht mir daher nicht zu,
über strategische Entschlüsse zu urteilen, deren Grundlagen ich
nicht kenne und die ich selbst bei gründlicher nachträglicher
Durchsicht des Quellenmaterials nicht zu rekonstruieren ver-
mag. Aber nur auf dieser Basis erscheint mir eine Kritik berech-
tigt. Conrad hat als Erwiderung auf bereits erschienene und noch
zu erwartende Kritiken in seinem Memoirenwerk vor Eingehen
auf die Kriegsereignisse den „Kriegskritikern und Propheten“
die Worte gewidmet: „Die über den Krieg erschienenen Publi-
kationen sind durchwegs unter dem Eindruck vollzogener
Tatsachen, dem Eindruck des tatsächlichen Verlaufes der
Ereignisse, des Erfolges oder Mißerfolges operativer
Maßnahmen geschrieben. Ich will dem Leser die Möglichkeit
geben, sich in jene Lagen zu versetzen, unter denen die Ent-
schlüsse zu fassen und die Verfügungen zu treffen waren, ehe
die vollzogene Tatsache über deren Folgen entschieden hatte.
Es wird dabei des Lesers voller Obj ektivität bedürfen und
der Ausschaltung aller Vorstellungen über den tatsächlichen
Gang der Geschehnisse. Nur ein Urteil auf dieser Grundlage
kann den Anspruch auf Geltung erheben.“
Conrad kommt noch einmal auf diesen Gegenstand zurück und
weist dabei die sich leider nur allzu leicht findenden „n ach-
t Täglichen“ Kritiken mit den Worten in ihre Schranken:
„Eine der billigsten Rollen, sein Publikum zu finden, ist jene
des sich zum ,Ankläger* aufwerfenden militärischen Kritikers.
Er urteilt immer im nachhinein, also mit aufgedeckten
Karten, und ganz nach dem Erfolg. Er kann seine Weisheit
271
UNTER DEM DRÜCK SCHWERSTER VERANTWORTUNG
danach zurechtlegen und sie um so mehr in tönenden Phrasen
preisen, als seine Vorschläge, ,wie man es eigentlich hätte machen
sollen4, ja nie der Prüfung durch die tatsächliche Ausführung
ausgesetzt sind. Er findet dabei immer Sensationsbedürftige oder
naive Gläubige, die, ihm nachbetend, sagen: ,Ja, wenn man es
so gemacht hätte, wäre es anders geworden/ Er heimst dies
mit Behagen ein, übersieht aber gänzlich, in wie leichtfertiger
Weise er Beschuldigungen verbreitet, die, auf unzutreffender oder
gefälschter Basis stehend, Männer trifft, die in ungeklärter kri-
tischester Lage, unter dem Drucke schwerster Verantwortung,
aufrechtbleiben und nach bestem Wissen und Können handeln
mußten, unter Verhältnissen, von denen der kleinlich nörgelnde
Kritiker keine blasse Ahnung hat, insbesondere, wenn ihm jede
Kriegserfahrung an hoher Führerstelle fehlt. Auch der militä-
rische Rock allein, der dem Publikum gegenüber zur Vortäu-
schung kompetenten Urteils mißbraucht wird, tut es nicht!“
Jeder Führer hat diese Art Kritik an sich selbst erfahren
müssen; ich will meinem Lehrer gegenüber nicht in den gleichen
Fehler verfallen. Hier sollen daher nur Kampfhandlungen her-
ausgegriffen werden, die als rein Conradsche Entschlüsse ver-
dienen, in seinem Lebensbild festgehalten zu werden.
Vorher sei des kaiserlichen Prinzen gedacht, der als Ober-
befehlshaber der k. u. k. Armeen in großherzigster Weise seinem
ersten Gehilfen die Möglichkeit gegeben hat, seine hohen Füh-
rereigenschaften zur Geltung zu bringen.
Feldmarschall Erzherzog Friedrich
Nach der Ermordung des Thronfolgers wurde Erzherzog Fried-
rich von Sr. Majestät zum Armeeoberkommandanten für den
Kriegsfall bestimmt. Ihm, dem Enkel des Siegers von Aspern,
Erzherzog Karl, dem Neffen des Siegers von Custozza, Erzherzog
Albrecht, hatte es das Schicksal Vorbehalten, im letzten Kampf
der Donaumonarchie das größte Heer zu führen, das die Habs-
burger jemals aufgestellt hatten. Des Erzherzogs Name fehlt mit
272
Tafel XIII a CONRAD AN DER TIROLER FRONT
Dekorierung bosnischer Soldaten
Tafel XIII b CONRAD MIT SEINEM STAB SÜDLICH PASSO
DELLA VENA, März 1917
GRÖSSE ERZHERZOG FRIEDRICHS
Unrecht in der Reihe der Feldherren Österreich-Ungarns auf dem
Heldendenkmal in Wien. Die überragende Persönlichkeit des
Chefs des Generalstabes hat den Oberkommandanten über-
schattet; niemand hat dies tiefer bedauert als Conrad selbst.
Wußte doch niemand so gut wie er, welcher Seelengröße es be-
durfte, Verfügungen zu decken, die der undankbaren Aufgabe
der österreichisch-ungarischen Armee zu Beginn des Krieges
entsprangen.
Die Leitung der Operationen stand organisationsgemäß dem
Chef des Generalstabes zu. Der Erzherzog kannte die hervor-
ragenden Führereigenschaften Conrads und war sich seiner
Pflicht bewußt, dessen Geistesflug nicht durch Eingriffe zu stören.
Das amtliche Geschichtswerk umschreibt sehr zutreffend die Auf-
fassung, die der Erzherzog von seiner Stellung als Armeeober-
kommandant hatte: „Obwohl selbst militärisch leidenschaftlich
interessiert und von hohem Pflichtsinn erfüllt, beschränkte
sich der erzherzogliche Oberbefehlshaber, im Rahmen des Armee-
oberkommandos dem Chef des Generalstabes alles abzunehmen,
was diesen bei der Bewältigung seiner schweren Aufgabe stören
konnte, insbesondere die Repräsentationspflichten nach außen
und gegen die Truppen, bei denen der Erzherzog gern weilte.“
Zu wahrer menschlicher Größe erhebt sich der Armeeober-
kommandant, wann immer es galt, die Verantwortung für die
vielfach angefeindeten Entschlüsse Conrads vor dem Vaterland,
dem Kaiser und der Geschichte auf sich zu nehmen. Das amt-
liche Werk schreibt: „Sooft in den zweieinhalb Jahren der Zu-
sammenarbeit von irgendwo gegen Conrad Sturm gelaufen
wurde — immer bewahrte der ritterliche Prinz dem stolzen,
selbstbewußten Chef des Generalstabes die Treue. So fällt bei
den Erfolgen, die sich an den Namen Conrad knüpfen, auch auf
die Persönlichkeit des schlichten, bescheidenen Oberbefehls-
habers ein wohlgemessener Teil.“
Als sich Conrad nach der Ernennung des Erzherzogs Friedrich
zum Armeeoberkommandanten bei ihm meldete, empfing er ihn
mit den Worten: „Wir wollen einträchtig Zusammenarbeiten,
wir haben ja auch als Leutnants zusammen zu dienen begonnen.“
(Der Erzherzog war zu Beginn der siebziger Jahre beim Feld-
jägerbataillon Nr. 11 zur Truppendienstleistung eingeteilt, als
18
273
TREUES EINSTEHEN FÜR CONRAD
Conrad nach Absolvierung der Theresianischen Militärakademie
in das Bataillon ein trat.)
Das Anbot einträchtiger Zusammenarbeit hat der Erzherzog
treu erfüllt; er brachte seinem ersten Gehilfen unbegrenztes
Vertrauen entgegen, die von Conrad entworfenen Verfügungen
fanden nahezu restlos seine Billigung. Conrad hatte wohl die
volle Verantwortung für alle Folgen seiner operativen Ent-
schlüsse auf sich genommen, vor dem Allerhöchsten Kriegsherrn
und dem Volke aber lastete diese doch auf dem Oberbefehls-
haber, der den Anträgen des Chefs des Generalstabes seine
Sanktion zu geben hatte. Dieses unbedingte Vertrauen hat der
Erzherzog Conrad auch zur Zeit der empfindlichsten Rückschläge
bewahrt; er blieb immer gütig, erhob niemals Vorwürfe und
half dadurch Conrad, die Bürde seines Amtes zu tragen.
Die bedeutend schwächere österreichisch-ungarische Armee
sollte die weit überlegenen Russen aufhalten. Dieser ungleiche
Kampf konnte nur unter schweren Opfern erfolgreich geführt
werden. Die Kritiker im Hinterland sahen nur die großen Ver-
luste und übersahen die Notwendigkeit dieser Opfer. Erzherzog
Friedrich hat durch sein energisches, selbstloses Einstehen für
Conrad ein unvergängliches Verdienst an der Schaffung der
operativen Bedingungen für den Durchbruch von Gorlice. Con-
rad widmet ihm in seinen Aufzeichnungen „Zur Erinnerung an
die schweren Tage der ersten Feldzugsperiode“ mit tief empfun-
denem Dank die Worte: „Man denke sich an dieser Stelle einen
herrischen, nervösen, der Wucht der Eindrücke erliegenden, oder
einen wankelmütigen, fremden Einflüssen zugänglichen Cha-
rakter!“
Als nach dem Ableben des Kaisers Franz Joseph Kaiser Karl
persönlich das Oberkommando übernahm, zog sich der Erzherzog
in gewohnter Bescheidenheit zurück und schied von dem Berufe,
dem er sein Leben gewidmet hatte. Sein Name verdient für
ewige Zeiten mit den Ruhmestaten der österreichisch-ungari-
schen Armee verbunden zu bleiben.
274
KRIEGSFALL „R“
Die Kriegführung gegen Rußland
nach den Operationsplänen Conrads war in der Kriegsliteratur
wiederholt Gegenstand einer eingehenden Kritik. Conrad hat
sich mit diesem Problem als Chef des Generalstabes im Frieden
sehr eingehend befaßt. Das Evidenzbüro hatte durch Zusammen-
stellung der Feinddaten die Grundlagen für die operativen Ent-
schlüsse zu schaffen. Ich kannte daher aus vielen Referaten
Conrads Gedankengänge und leite hieraus die Berechtigung ab,
zu dieser vielumstrittenen Frage Stellung zu nehmen.
Als Conrad zum ersten Male die konkreten Kriegsvorberei-
tungen gegen Rußland bearbeiten ließ, rechnete er auch mit
einem Krieg gegen Serbien-Montenegro, mit verschiedenen Va-
rianten bezüglich des Zeitpunktes des Eingreifens Rußlands —
sofort oder erst nach begonnenem Aufmarsch Österreich-Ungarns
gegen Serbien-Montenegro. Für alle diese Fälle wurden die
aufzubietenden Streitkräfte, deren Kriegsgliederung, die Räume
für ihre Versammlung, die Maßnahmen für den Schutz des Auf-
marsches, die Kommando Verhältnisse, spezielle Vorsorgen für die
materielle Ausrüstung festgelegt und die Detailverfügungen in
den zuständigen Generalstabsbüros bearbeitet.
Der Kriegsfall „R“ — gegen Rußland — erforderte die um-
fassendsten Vorsorgen. Österreich-Ungarn mußte mit einer er-
drückenden zahlenmäßigen Überlegenheit des Feindes rechnen.
Dazu kam die ungünstige geographische Gestaltung des allseits
offenen Grenzgebietes ohne natürliches Hindernis, die Gefahren
der panslawistischen Durchsetzung der Bevölkerung im Auf-
marschraum und vor allem die Sicherheit, daß sich im Falle
eines Krieges gegen Rußland Serbien und Montenegro sofort
an dessen Seite stellen würden. Es war klar, daß die Hauptkraft
Österreich-Ungarns gegen Rußland zu versammeln war, wäh-
rend an den anderen Fronten mit dem knappsten Minimum das
Auslangen gefunden werden mußte.
Für die Versammlung der Hauptkräfte war die Art der Mit-
wirkung Deutschlands von Wichtigkeit. Österreich-Ungarn hatte
die Aufgabe übernommen, den Kampf im Osten zu führen, bis
die Entscheidung im Westen gefallen war, worauf bedeutende
deutsche Kräfte nach dem Osten gebracht werden sollten, um
18*
275
ERWÄGUNGEN FÜR DEN AUFMARSCH
gemeinsam mit den österreichisch-ungarischen Truppen die Rus-
sen zu schlagen. Deutscherseits konnten für den Beginn nur 12
bis 14 Divisionen, ferner ein aus Landwehr bestehendes schwa-
ches Korps in Schlesien in Aussicht gestellt werden. Conrads
Anfrage, zu welchem Zeitpunkt mit dem erhofften Erfolg im
Westen und mit dem Eingreifen starker deutscher Kräfte im
Osten gerechnet werde, wurde dahin beantwortet, daß man in
Berlin erwarte, bis zum 40. Mobilisierungstage in Frankreich
derartige Erfolge erreicht zu haben, daß der Massentransport
nach dem Osten einsetzen könne. Daraus ergab sich für die
österreichisch-ungarische Armee die Aufgabe, die Russen minde-
stens sechs Wochen aufzuhalten.
Bis zum Frühjahr 1909 war Conrads Entschluß gereift, wie er
dieser Aufgabe gerecht werden wollte. Er hat in der Folge an
diesem Plan festgehalten, obwohl politische Ereignisse die Grund-
lage für diese Operationspläne nicht unwesentlich verschoben
hatten. Conrad fühlte die Verpflichtung, weder die Deutschen
in Ostpreußen noch die Rumänen an der Moldau im Stiche zu
lassen. Der eigene Aufmarsch mußte daher möglichst weit nach
vorne verlegt werden. Dafür sprachen auch die Erwägungen
über den russischen Aufmarsch. Sollte der Vorstoß der Russen
über Breslau und Posen auf Berlin verhindert werden, mußte
man sie anfassen. Ein passives Abwarten in einer De-
fensivstellung hätte dem Gegner die Freiheit des Handelns ge-
lassen. Nur im scharfen Anfassen lag die Gewähr, daß
die russischen Kräfte nach dem Süden abgezogen würden und
die Verbindung mit den für den Hauptschlag heranrollenden
deutschen Kräften erhalten blieb. Der für die österreichisch-
ungarischen Streitkräfte zu wählende Aufmarschraum mußte
Berlin, Wien und Budapest schützen. Der Verlust dieser Be-
völkerungs-, Industrie- und Regierungszentren hätte die Erhal-
tung der Heere und die erfolgreiche Weiterführung des Krieges
in Frage gestellt.
Das Schlußergebnis der Erwägungen war der im Jahre 1909
festgelegte Aufmarsch der in vier Armeen gegliederten öster-
reichisch-ungarischen Hauptkräfte in dem Raume vom unteren
San bis in die Gegend von Tarnopol—Trembowla. (Siehe
Skizze 2.) Diesem Aufmarsch lag die operative Absicht zu-
276
AKTIVES HANDELN WAR GEBOTEN
gründe, mit dem Westflügel der 1. und 4. Armee für einen Vor-
stoß zwischen Bug und Weichsel bereit zu sein, während die
Mitte und der Ostflügel, die 3. und 2. Armee, diese Operation zu
decken, nach Möglichkeit an ihr teilzunehmen hatten.
Der Krieg sollte möglichst weit nördlich der Karpaten geführt
werden. Aktives Handeln sollte verhindern, daß die Russen die
Karpaten überschreiten oder, diese seitwärts liegen lassend, sich
gegen Deutschland oder über Schlesien und Mähren gegen das
Herz der Monarchie wenden. Damit war auch die Zusammen-
arbeit mit den gegen Rußland aufgebotenen deutschen Kräften
gewährleistet. Conrad faßte seine operative Absicht in dem Satz
zusammen: „Die österreichisch-ungarischen Armeen hatten die
hingehaltene Faust zu sein, an der jeder Versuch der Russen,
die Karpaten zu überschreiten oder sich gegen Westen zu wen-
den, zerschellen sollte, bis die erwartete deutsche Hauptkraft
eintreffen und gemeinsam zur endgültigen Entscheidung eingrei-
fen würde.“
Die Durchführung dieser operativen Absicht erforderte Frei-
heit des Handelns; sie schloß das „Kleben am Gebirge“ aus und
verwies geradezu ohne Wahl auf den Aufmarsch in Mittel- und
Ostgalizien. Die Aufgabe des Generalstabes bestand darin, den
Plan derart elastisch aufzubauen, daß er sich den veränderlichen
Verhältnissen jeweilig anpassen konnte.
Um ein Bild über die Möglichkeiten des russischen Auf-
marsches zu gewinnen, wurde das Operationsbüro beauftragt, im
Einvernehmen mit dem Evidenzbüro und dem Eisenbahnbüro
Studien über die in Betracht kommenden Varianten in Zeitab-
schnitten von fünf zu fünf Tagen auszuarbeiten. Der Chef des
Generalstabes gab hiebei der „Hoffnung“ Ausdruck, diese Studie
werde ergeben, daß in der möglichst frühzeitigen Offensive, und
zwar im besonderen zwischen Weichsel und Bug, die wirksamste
Aktion bestehe. Angesichts des bekannten Verhältnisses der
Referenten zu Conrad bedarf es keiner Versicherung, daß diese
von Conrad geäußerte „Hoffnung“ das Urteil seiner Berater nicht
beeinflußt hat. Um so bezeichnender ist daher die Feststellung,
daß alle Referenten ausnahmslos mit Conrad eines Sinnes waren,
daß der Krieg gegen Rußland nur offensiv zu führen war. Sollte
die österreichisch-ungarische Armee der Aufgabe gerecht werden,
277
AUFMARSCH GEGEN NORD UND SÜD
die ihr Führer im Gesamtinteresse der Mittelmächte auf sich
genommen hatte, so war nur diese Lösung möglich. Bei der all-
jährlichen Überprüfung der konkreten Kriegs Vorbereitungen
wurde dieses Problem immer wieder durchbesprochen, und man
kam immer wieder einstimmig zu dem gleichen Entschluß. Auch
bei dem entscheidenden Rapport am 22. Februar 1913 — als
die Möglichkeiten des russischen Vorgehens auf Grund der neue-
sten Orientierung endgültig erwogen wurden, blieb es bei dem
Versammlungsraum in Mittel- und Ostgalizien und bei der ge-
planten offensiven Kriegführung. Lediglich am rechten
Flügel mußte den durch den Ausfall Rumäniens geänderten Ver-
hältnissen Rechnung getragen werden. Am 5. März 1913 wurde
auf Grund des Vortrages des Chefs des Operationsbüros das
Aufmarschelaborat genehmigt und dabei die Linie Zloczow—Tar-
nopol—Trembowla und der Sereth als die äußerste Grenze be-
zeichnet, bis zu welcher die Instradierung der Aufmarschtrans-
porte durchzuführen ist. Das Eisenbahnbüro erhielt den Auftrag,
je nach dem Verhalten des immer unsicherer werdenden Ru-
mänien die Möglichkeit einer weiteren Rückverlegung des Auf-
marsches im Auge zu behalten.
Der Aufmarsch gegen Rußland wurde wesentlich durch die
Wahrscheinlichkeit beeinflußt, daß Österreich-Ungarn durch
einen Konflikt auf dem Balkan zur Mobilisierung und zu Ak-
tionen gegen Serbien gezwungen und in dieser Lage von Ruß-
land angegriffen werden könnte. Es handelte sich in diesem
Falle darum, Teile der bereits in Versammlung begriffenen oder
bereits in Kampfhandlungen verwickelten Kräfte gegen Serbien
auf den russischen Kriegsschauplatz, nach Ostgalizien, zu über-
führen. Das Eisenbahnbüro hatte errechnet, daß dieser Front-
wechsel am leichtesten bis zum fünften Mobilisierungstag durch-
führbar sei, dann ginge es noch bis zum 16. Mobilisierungstage;
mit dem Beginn der Operationen gegen Serbien mußte sich dieser
Frontwechsel immer schwieriger gestalten.
Hier traten die Nachteile der von Conrad jahrelang bekämpf-
ten „Politik ohne positive Ziele“ deutlich in Erscheinung. Die
Gelegenheiten für eine Abrechnung mit dem südlichen Nach-
barn waren zu einer Zeit, da Rußlands Unterstützung noch frag-
lich erschien, versäumt worden. Nmi stand die Donaumonarchie
278
DES FÜHRERS CHARAKTER UND WESENSART
*
vor der Notwendigkeit, den Aufmarsch ihrer Armeen nach zwei
entgegengesetzten Fronten durchzuführen.
Am lß. April 1913 legte das Eisenbahnbüro dem Chef des
Generalstabes das Aufmarschelaborat vor, das bis zum Ausbruch
des Krieges in Geltung blieb. Es kann vorweg gesagt werden,
daß sich dieses in der entscheidenden Stunde bewährt hat.
Conrad hat beim Abschluß dieser Arbeiten die Mitwirkung
seiner Referenten mit den Worten anerkannt: „Das allmähliche
Reifen des bei Kriegseintritt aktuell gewordenen Aufmarsches
gegen Rußland läßt die Art und Weise erkennen, wie sich die
Zusammenarbeit zwischen mir und den mir unterstehenden
Bürochefs gestaltet hatte. Das Prinzip der Arbeitsteilung und
der Ausnützung aller Kräfte und Fähigkeiten lag ihr zugrunde.
Jeder sollte seinen Teil und sein Verdienst an der Arbeit haben.“
Die operativen Entschlüsse jedes Führers haben ihre Quelle
in dessen Charakter und Wesensart. Conrad schreibt über die
Beweggründe zu dem endgültigen Entschluß, den Krieg gegen Ruß-
land offensiv zu führen: „Anschauungen, die im Charakter
wurzeln, werden immer wieder zum Durchbruch kommen, wenn
der einzelne vor den Entschluß gestellt und zur Tat berufen wird.“
Er zitiert zur Erklärung seiner Handlungsweise Stellen aus einem
Werk, das er bereits als Lehrer der Kriegsschule verfaßt hatte.
In dem Behelf „Zum Studium der Taktik“ sind die Vorteile des
„Zuvorkommens im Handeln“, der „Initiative“, hervorgehoben
und im besonderen das Kapitel „Aktivität und Passivität“ be-
sprochen. Im Gegensatz zur „Aktivität“, dem unablässigen Stre-
ben nach Aufwendung aller Mittel zur Erreichung des Gesamt-
zieles, das Conrad als Pflicht des obersten Führers ansieht, steht
die „Passivität“ — „eine im Kriege nur zu häufig auf tretende,
teils geistigen, teils physischen, meist aber moralischen Ursachen
entspringende Erscheinung, deren Folge fast immer der Miß-
erfolg ist“. Das Wesen des Angriffs definiert Conrad in seinem
Jugendwerk als „das Verfolgen eines positiven Zieles —
der Vernichtung des Feindes mit positiven Mitteln, dem
Herangehen bis zur Entscheidung. Wer die positive Absicht hat,
den Zweck des Krieges zu erreichen, muß den Kampf suchen,
an den Gegner herangehen, ihn zum Kampf zwingen, um
ihn zu schlagen, das heißt, er muß a n g r e i f e n“. Dieser Er-
279
DIE K. U. K. ARMEEN WAREN NICHT GESCHLAGEN
kenntnis ist Conrad stets treu geblieben, nach diesen Grund-
sätzen hat er an der Kriegsschule gelehrt, als Truppenkomman-
dant die Ausbildung geleitet; er hat diese Grundsätze im Exer-
zierreglement verankert und im Kriege die operativen Entschlüsse
in diesem Sinne gefaßt.
Conrads Kriegführung gegen Rußland hat trotz der ausgeblie-
benen Unterstützung durch das deutsche Ostheer zu den Er-
folgen der 1. Armee bei Krasnik, der 4. Arme bei Komaröw
geführt. Wenn auch die Kämpfe der 3. und 2. Armee es not-
wendig machten, die k. u. k. Truppen in eine weit dahinter
liegende Stellung zurückzunehmen, so war doch das große Ziel
erreicht: die russische Hauptmacht war festgehalten, die Zeit
für die Freiheit des Handelns des Verbündeten gewonnen. Die-
ser Erfolg hatte schwere Opfer gekostet, aber auch der Feind
war schwer geschädigt worden. Conrad äußert sich hiezu: „Das
allmähliche Zerschlagen seiner Übermacht hatte begonnen, was
sich zunächst darin äußerte, daß die Russen unfähig waren, die
zurückgehenden österreichisch-ungarischen Armeen wirksam zu
verfolgen.“ Mit Recht konnte Conrad erklären, daß die k. u. k.
Armeen nicht geschlagen waren, sondern nur zurückge-
führt werden mußten, um sie bei Fortsetzung des Kampfes einer
möglichen Niederlage zu entziehen. Daß ihre Kampfkraft nicht
gebrochen war, haben sie wenige Wochen später bewiesen.
Conrad hat es verstanden, die Initiative wieder an sich zu reißen
und durch eine neue Offensive dem weiteren Vordringen der
Russen eine dauernde Grenze zu setzen.
Auch nach den großen Verlusten der ersten Feidzugsperiode
hat Conrad an der aktiven Kampfführung festgehalten. Es schien
ihm verderblich, sich in einer Defensivstellung festzulegen: „Nur
von der Freiheit des Handelns war Heil zu erwarten!“
Die Rückschau auf die Einleitungskämpfe gegen Rußland, die
mit einer allgemeinen Offensive begonnen, nach heldenhaftem
Ringen gegen eine Übermacht mit dem Rückzug geendet hatten,
veranlaßt Conrad, die zwei großen Ereignisse dieser Periode
hervorzuheben: im Westen die Schlacht an der Marne, im Osten
jene von Lemberg—Rawa Ruska. „Der Rückzugsbefehl in der
Marneschlacht durfte niemals gegeben werden, denn er bedeutete
den verlorenen Krieg; in der Schlacht bei Lemberg—Rawa
280
N. A
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von. Conrad gewünschte
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ski7.7ft 2. Nordöstlicher Kriegsschauplatz. Beiderseitige Aufmärsche.
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EIN DAUERNDES DENKMAL
Ruska mußte der Rückzugsbefehl in dem Augenblick gegeben
werden, von dem an die Fortsetzung der Schlacht die Zertrüm-
merung der k. u. k. Armeen ergeben hätte, denn diese Armeen
mußten kampffähig erhalten bleiben für den vereinbarten Plan,
der nach siegreicher Entscheidung im Westen den gemeinsamen
großen Schlag gegen Rußland vorgesehen hatte... Die Schlacht
von Lemberg war im Sinne des vereinbarten großen Planes ge-
schlagen worden, die k. u. k. Armeen hatten ihre Aufgabe er-
füllt. Endeten diese Operationen auch nicht mit einem Siege,
so war die Gefahr des Russenheeres gebannt, ein russischer
Einbruch nach Deutschland verhindert, Zeit und Möglichkeit für
eine Entscheidung in Frankreich geschaffen. Die wochenlangen
Kämpfe dieser Kriegsperiode, die die gemeinsam festgesetzten
operativen Aufgaben erreichen sollten, stellen ein dauerndes
Denkmal der heldenmütigen alten k. u. k. Armee dar.“
Die bald nach dem Rückzug wieder aufgenommene Offensive
erwies, wie zweckmäßig Conrads großzügiger Entschluß war,
die Armeen durch einen energischen Ruck von der feindlichen
Einwirkung loszulösen, um sie bald wieder für eine aktive Ver-
wendung zu befähigen. Durch eine von ungebrochener Entschluß-
fähigkeit und genialer Beherrschung strategischer Probleme zeu-
gende Operation wurde wenige Wochen nach dem Eintreffen der
k. u. k. Armeen in den ihnen zugedachten Stellungen dem Vor-
dringen der Russen endgültig Halt geboten und die Grundlage
für die weiteren, dem Geiste Conrads entsprungenen Ideen ge-
schaffen, die zum Zusammenbruch der russischen Front führten.
Dieser Schlußerfolg, die Ausschaltung des mächtigsten Gegners,
ist zweifellos Conrads initiativer Kriegführung zu verdanken.
Er hat bewußt die Folgen einer Offensive gegen den übermäch-
tigen Feind auf sich genommen, in der Erkenntnis, daß nur da-
durch die Bedingungen für einen entscheidenden Enderfolg ge-
schaffen werden konnten.
Diesem Urteil sei zunächst jenes des amtlichen Werkes über
Österreich-Ungarns letzten Krieg entgegengestellt. Die Verfasser
dieses Werkes haben mit pflichtgemäßer Objektivität die Er-
gebnisse der ersten Feldzugsperiode auf Grund des ihnen zur
Verfügung gestandenen Aktenmaterials zusammengefaßt. Zu der
Aufgabe Österreich-Ungarns, „die Speere Rußlands von Deutsch-
281
CONRADS „WINKELRIEDROLLE“
land abzuziehen“, wird auf Grund nachträglicher Kenntnis der
Feindabsichten ausgeführt, daß die Russen erst über Drängen
Frankreichs die Offensive gegen Ostpreußen ergriffen haben. Die
Absichten des Feindes waren bei Festlegung der Operationspläne
gegen Rußland nicht bekannt, die Geschichtschreibung darf Con-
rad die Anerkennung nicht versagen, daß er ohne Zögern die
„Winkelriedrolle“ gegenüber Deutschland übernommen und mit
zähem Willen um den Preis schwerster Opfer auch dann noch
daran festgehalten hat, als die zugesagte deutsche Unterstüt-
zung vermindert werden mußte.
„Wenn ein reichsdeutscher Kritiker ausdrücklich betont, daß
die ,Retter Berlins4 nicht der österreichisch-ungarische General-
stabschef, sondern die Männer an der Spitze der deutschen
8. Armee gewesen seien, so liegt darin eine unverdiente Unter-
schätzung dessen, was der Bundesgenosse im Rahmen der ge-
meinsamen Kriegführung vollbracht hat.“ *
In „Österreich-Ungarns letzter Krieg44 werden die großen Ver-
luste an Menschenleben hervorgehoben, womit der strategische
Erfolg der ersten Feldzugsperiode gegen Rußland erkauft
wurde. Das Werk würdigt die Bedeutung der Anfangserfolge,
weist aber auf die nachhaltige Wirkung des ersten Zusammen-
treffens mit dem Feinde, auf den schlichten Kämpfer hin, auf
den durch die feindliche Übermacht ausgelösten Massenschreck,
dem auffallend viele Truppen während der ersten Kämpfe ver-
fielen, der auch höhere Führer erfaßte, wodurch sich der Feld-
zug in seinem Verlauf bis zum 11. September 1914 zu einem
„schmerzlichen Erlebnis4’ ausreifte. Alle diese Erscheinungen
sind dem Kriegspsychologen Conrad nicht entgangen, um so an-
erkennenswerter ist aber sein Festhalten an der initiativen
Kriegführung, die schließlich zum Erfolg geführt hat. Das amt-
liche Werk zollt den „moralisch schwer geschädigten Truppen“
die Bewunderung, daß sie vierzehn Tage nach dem Rückzug
einen „unverdrossenen Vormarsch4*' auf genommen haben, der
„allgemeines Erstaunen über die außergewöhnlichen Kräfte
auslösen mußte, die diesem Organismus auch nach den schwe-
ren Erschütterungen der ersten Feuerprobe innewohnten und
die sich noch ganz anders bewähren sollten!“
* Das amtliche Werk.
282
RUSSISCHE ZUGESTÄNDNISSE
Welcher gerechte Beurteiler von Conrads vieljährigem Wir-
ken für den Ausbau und die Ausbildung der Wehrmacht könnte
sich der Einsicht verschließen, daß diese unerschütterliche
Kraft der k. u. k. Armee, die sich auch durch die schwersten
Einbußen an Menschen und Material nicht erschöpfte, ein Werk
unseres großen Feldmarschalls war! Conrad kannte das Instru-
ment, das er geschaffen hatte. Er wußte, daß sein ungebrochener
Angriffswille die Armeen trotz taktischer Niederlagen mitreißen
und zum Schluß zum Siege führen werde.
Die schmerzlichen Opfer der ersten Feldzugsperiode begeg-
neten einer scharfen Kritik. Der breiten Masse fehlte das Ver-
ständnis für den gegen eine Übermacht erreichten strategischen
Erfolg, der auch später nicht augenscheinlich wurde, weil ihm
infolge der Marneschlacht der erwartete große Sieg unter Ein-
satz der deutschen Hauptkräfte versagt blieb.
Der verläßlichste Gradmesser für den Erfolg ist das Urteil
des Feindes. Das amtliche Werk zitiert russische Urteile
über die erste Feldzugsperiode. Der gewiß gut unterrichtete
erste Quartiermeister, General Danilow, schreibt in seinen Kriegs-
erinnerungen: „Die furchtbare Erschöpfung und die schweren
Verluste, die die russischen Armeen davongetragen hatten,
setzten der Verfolgung des Feindes leider ein Ziel/' Die amtliche
russische Geschichtschreibung berichtet wörtlich: „Der Erfolg
war teuer erkauft... Der Sieger unterschied sich nicht vom
Besiegten, er hatte nicht die Kraft, die Vorteile des Sieges durch
eine tatkräftige Verfolgung auszunützen.“
Mit welcher Zuversicht die Russen in den Krieg gezogen waren,
beleuchtet folgende Episode: Am Morgen des 24. August 1914,
nach dem ersten Schlachttag von Krasnik, wurde mir ein ge-
fangener russischer Stabskapitän vorgeführt. Ich empfand tiefes
Mitgefühl mit dem unverwundeten Offizier und glaubte sein Los
dadurch zu lindern, daß ich ihm versprach, semen Säbel als
Andenken an den tapferen Gegner in Ehren zu halten. Beim
Öffnen des Köfferchens, das der Diener trug, fiel mir zuoberst
ein Paar mächtiger goldener Epauletten auf. Auf meine Frage,
wie gerade diese in die sonst spärliche Feldbagage kämen,
erhielt ich zur Antwort, es sei im Regimentsbefehl verlautbart
worden, die Epauletten mitzunehmen: man würde in vierzehn
283
KRITIKER IM EIGENEN LAGER
Tagen in Wien und in Berlin tanzen. Säbel und Epauletten die-
ses Offiziers, der nicht genug von dem Draufgängertum unserer
Soldaten und von der Enttäuschung der Russen erzählen konnte,
bereichern heute mein kleines Kriegsmuseum.
Das amtliche Werk zitiert ein Gespräch des russischen Ma-
rineattaches in Konstantinopel mit dem dortigen österreichisch-
ungarischen Militärbevollmächtigten; er eröffnete diesem, er
habe Nachrichten, daß der russische Erfolg mit so ungeheuren
Verlusten erkauft worden sei, daß das ganze westliche Rußland
einem einzigen großen Spital gleiche. Man habe weder einen
so hartnäckigen Widerstand noch solch eine KampfRichtigkeit er-
wartet.
Im Gegensatz zu diesem Urteil von Feindesseite haben sieh
im eigenen Lager Kritiker gefunden, die sich zu Richtern über
Conrads Kriegführung gegen Rußland aufwarfen. Zunächst
heftete sich die Kritik an die Tatsache, daß bei Ausbruch des
Krieges gegen Rußland etwa zwei Fünftel des österreichisch-
ungarischen Heeres durch das kleine Serbien gebunden waren.
Conrad hat sich nicht den Gefahren des Einsatzes starker Kräfte
gegen Serbien verschlossen. Man übersieht aber, daß die Außen-
politik eine Zwangslage geschaffen hatte. Die Diplomatie rech-
nete damit, daß sich die Aktion gegen Serbien ohne Störung
von seiten anderer Mächte vollziehen werde, und hoffte, durch
einen raschen, durchschlagenden Erfolg einer Inter-
vention der Mächte vorzugreifen. Um diesen zu erzwingen, muß-
ten von Haus aus starke Kräfte angesetzt werden, was schon
unmittelbar nach dem Thronfolgermord von aller Welt erwartet
wurde.
Durch das zögernde Verhalten nach dem 28. Juni 1914 wuchs
mit jedem Tag die Gefahr, daß Rußland der Monarchie in den
Arm fallen würde. Vom rein militärischen Standpunkt wäre
es geboten gewesen, dieser Gefahr initiativ zu begegnen,
Serbien als Nebensache zu betrachten und mit der Hauptkraft
sofort den Krieg gegen Rußland zu eröffnen. Politisch war es aber
ausgeschlossen, auf die bloße Möglichkeit eines Eingreifens
hin Rußland den Krieg zu erklären. Österreich-Ungarn hätte
den Vorwurf auf sich geladen, einen Weltbrand entfacht zu
haben, und hätte dadurch die Mitwirkung der Verbündeten ver-
284
AUSSENPOLITIK BELASTET DEN FELDHERRN
wirkt. So entstand das Dilemma, das den Chef des General-
stabes vor die Verantwortung stellte, operative Entschlüsse
unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen zu fassen. Aus
den Fehlern und Versäumnissen der Außenpolitik erwuchsen
Vorwürfe gegen den Feldherrn; niemand erinnerte sich mehr,
wie oft Conrad im Frieden vor dieser zaghaften Politik gewarnt
hatte, die ihn eines Tages vor die Aufgabe eines Doppelkrieges
gegen Nord und Süd stellen würde.
Der denkbar ungünstigste Fall trat denn auch durch das Ein-
greifen Rußlands in den ersten Augusttagen 1914 ein. Die 1.,
3. und 4. Armee waren im Transport nach Galizien, während
die 2. Armee vorerst an die Save-Drau rollte, um nach Frei-
werden der Transportlinien den erstgenannten Armeen nach
Galizien nachgezogen zu werden.
Dieser Nachteil war an sich nicht so schwerwiegend, weil die
Anwesenheit einer stärkeren Kraftgruppe an der Save-Donau-
Linie bis zu dem Zeitpunkte, da sie nach dem Norden abrollen
konnte, eine Bedrohung der Serben bedeutete und feindliche
Kräfte zu binden vermochte. Schwerwiegender war die tatsäch-
lich eingetretene Gefahr, daß die Anwesenheit der 2. Armee
zur Versuchung werden konnte, sie in Kämpfe gegen Serbien zu
verwickeln. Der mit der Führung des Feldzuges gegen Serbien
betraute Kommandant der Balkanstreitkräfte unterstand nicht
dem Armeeoberkommando. Im Wege der Militärkanzlei des
Kaisers hatte er es durchgesetzt, daß Teile der 2. Armee in die
Kämpfe gegen Serbien eingriffen. Das Armeeoberkommando
hat wiederholt die Freihaltung der 2. Armee für den Abtrans-
port nach Galizien gefordert.
Das Befremden der unorientierten Öffentlichkeit war begreif-
lich, als noch immer Züge nach dem Süden rollten, nachdem
der Krieg gegen Rußland schon erklärt war. Der Laie konnte
nicht wissen, daß das Abrollen der für Galizien bestimmten
Transporte nach dem Süden aus verkehrstechnischen Gründen
nicht zu vermeiden war.
Diese in militärischen Kreisen bestandene Auffassung wird
von einzelnen Fachkritikern angefochten. Ohne in diesen Wider-
streit einzugehen, sei festgestellt, daß auch Conrad der gleichen
Auffassung war. Die von ihm verurteilte nachträgliche, ober-
285
HÖCHSTE ANFORDERUNGEN AN DEN FELDHERRN
flächliche Kritik an Männern, die unter dem Druck der Verant-
wortung handeln mußten, weist auch das Generalstabswerk
zurück: „Es hatte nicht der Mangel an primitivster militärischer
Einsicht, sondern das durch die politische Entwicklung bedingte
Zusammentreffen des Befehles zur allgemeinen Mobilisierung
mit dem bereits rollenden großen Balkanaufmarsch dazu geführt,
daß trotz des kriegerischen Auftretens des Russischen Reiches
nicht viel weniger als die Hälfte der Landmacht Österreich-
Ungarns zuerst im Südosten aufmarschierte.“
Aus dieser Lage ergaben sich schwere Nachteile. Das in die
Kämpfe bei Sabac verwickelte IV. Korps traf verspätet in Ost-
galizien ein. Achtzig gegen Rußland bestimmte Bataillone, die
durch den großen Aufmarsch gegen Serbien nach dem Süden
gebracht worden waren, blieben dort während des ganzen Kriegs-
jahres 1914 gebunden. Die Russen hatten durch die Ausge-
staltung ihrer Aufmarschbahnen mit französischer Hilfe einen
Zeitvorsprung von mindestens einer Woche erreicht. Dies be-
deutete eine Verzögerung der österreichisch-ungarischen Offen-
sive, die mit den Vorteilen eines Vorsprunges in der Mobilisie-
rung und im Aufmarsch gerechnet hatte. Hiezu gesellte sich noch
der Ausfall der rumänischen und italienischen Mitwirkung auf
dem russischen Kriegsschauplatz.
Summiert man alle diese erst in letzter Stunde völlig klar-
gewordenen Umstände, so ergibt sich eine strategische Lage,
welche die höchsten Anforderungen an den Feldherrn stellte.
Conrad vertraute auch in dieser auf seine durch Jahre erwogenen
Entschlüsse. Wer sich ernstlich bemüht, die Umstände zu rekon-
struieren, unter denen Conrad den Krieg gegen Rußland eröffnen
mußte, kann ihm die Bewunderung nicht versagen, mit welchem
Mut der Verantwortung er an die Erfüllung der übernommenen
Pflicht geschritten ist.
Die Verteidigung hat als Kampfform für die Mehrzahl
der Menschen etwas suggestiv Lockendes. Bei jeder Vervoll-
kommnung der Kampfmittel wiederholt es sich, daß die An-
hänger der Defensive darin eine Stärkung dieser Kampfart er-
blicken. Sie berufen sich dabei auf die Erfahrungen des Welt-
krieges, der an allen Fronten zum Stellungskrieg erstarrt war,
nachdem sich die Gegner im Bewegungskriege erschöpft hatten:
286
DEFENSIVE GEGEN RUSSLAND?
sie übersehen aber, daß bei aller abstoßenden Kraft moderner
Kampfmittel schließlich doch der Angriff die Entscheidung ge-
bracht hat, weil es der Angreifer in der Hand hatte, an der ent-
scheidenden Stelle eine personelle und materielle Überlegenheit
zu konzentrieren, welche die Kampfkraft des Verteidigers schließ-
lich doch brach. Der Krieg wurde immer mehr ein Kampf der
Technik und Industrie, die schließlich in der „Materialschlacht“
siegten.
Die defensive Kriegführung gegen Rußland war aus den Er-
wägungen Conrads durchaus nicht ausgeschaltet. Sie stand im
Zusammenhang mit der von ihm wiederholt erwogenen Reichs-
befestigung, deren Ausbau aber der immensen Kosten wegen
aussichtslos war. Die von den Anhängern der Defensive emp-
fohlene fortifikatorische Ausgestaltung der San-Dnjestr-
Linie oder der Karpaten wurde auch von Conrad in Be-
tracht gezogen. Beide Linien sind wohl natürliche Abschnitte,
ihr geringer Hindernischarakter hätte aber große und kostspie-
lige Befestigungsanlagen gefordert. Dem Chef des Generalstabes
mußte sich die Frage aufdrängen, ob es zu verantworten sei,
Verteidigungsanlagen aufzurichten, die der Gegner nicht an-
greifen mußte. Dieser Zwang bestand bei der großen Ausdeh-
nung des Kriegsschauplatzes und der reichen Auswahl an Ope-
rationsrichtungen durchaus nicht.
Der Widerstand an der San-Dnjestr-Linie oder gar erst am
Karpatenkamm hätte das Aufgeben weiter Gebiete zur Folge
gehabt und vor allem den Russen die Möglichkeit geboten, die
Verteidiger an ihre Stellungen zu binden, mit den restlichen Kräf-
ten aber ungehindert ihren operativen Zielen nachzugehen. Eine
aktive Verteidigung nach dem beliebten Rezept: Übergang
zur Offensive „bei einer sich ergebenden günstigen Gelegen-
heit“ — hat die geistige Unterlegenheit des Gegners zur stillen
Voraussetzung. Diese „richtige Gelegenheit“ zu erfassen, ist ein
Glücksspiel, das gelingen, ebensogut aber auch versagen kann,
wenn sich der Feind nicht die erhoffte Blöße gab. Conrad konnte
es aber nicht verantworten, seinen Plan von Haus aus auf die
Ungeschicklichkeit des Gegners aufzubauen.
Er zog es vor, mit Operationen zu rechnen, die er beherrschen
konnte. Die Ausdehnung des Kriegsschauplatzes, der Mangel an
287
DIE K A R P A T E N F R O N T
natürlichen starken Verteidigungslinien mußte in der Defensive
entweder zu einer großen Ausdehnung verleiten, die leicht zu
durchbrechen war, oder zu einem begrenzten Verteidi-
gungsraum, der leicht zu umgehen war.
Sehr verbreitet ist der Hinweis auf die Karpatenfront als eine
natürliche Verteidigungslinie, welche die Russen überschreiten
mußten, wenn sie nach dem Herzen der Monarchie Vordringen
wollten.
Die gegen Norden gerichtete Karpatenfront ist rund 600 Kilo-
meter lang. Deren Festhalten in ihrer ganzen Ausdehnung
hätte zu einer Verteilung der Kräfte geführt, die einen nach-
haltigen Widerstand ausschloß. Wäre hingegen nur ein kleiner
Teil des Karpatenzuges zur Abwehr eingerichtet und die Ver-
teidigung der übrigen Front mobilen Reserven überlassen
worden, dann hätten die vorbereiteten Stellungen umgangen
werden können, was bei dem geringen Hindernischarakter die-
ses Gebirges keine großen Schwierigkeiten geboten hätte.
Die aus alter Zeit stammende Auffassung vom „Karpatenwall
als strategischer Barriere“ hat Conrad nicht geteilt; der Welt-
krieg hat ihm recht gegeben, österreichisch-ungarische, deutsche
und russische Soldaten haben in der unwirtlichsten Winterszeit
dort einen Bewegungskrieg geführt; die russischen Angriffe sind
nicht am Hindernischarakter der Karpaten, sondern am zähen
Widerstand ihrer Gegner zusammengebrochen. Für Conrad waren
die Karpaten bis auf geringe Strecken „Manövriergelände“.
Übrigens ist die Idee, die Karpaten zur Grenzverteidigung aus-
zunützen, schon von den Vorgängern Conrads fallengelassen und
die Verteidigung in die Linie Krakau—Przemysl—Jaroslaw—
Lemberg vorverlegt worden.
Zu den berufensten Kritikern an Conrads Kriegführung gegen
Rußland zählt zweifellos der k. u. k. General der Infanterie
Alfred Krauß, der als Kommandant der Kriegsschule vor dem
Kriege, als sehr erfolgreicher Divisionär in den Einleitungs-
kämpfen gegen Serbien (Vernichtung der Timok-Division) und
später als Armeegeneralstabschef, Korps- und Armeegruppen-
kommandant Anspruch erheben kann, ein fachmännisches Ur-
teil abzugeben.
Es darf aber nicht übersehen werden, daß sich im Gegensatz
288
„ABWARTEN" BEDEUTET „SICHEREN RUIN“
zu den Auffassungen des Generals Krauß im Kreise seiner
Mitkämpfer eine Gruppe andersdenkender hoher Offiziere ge-
funden hatte, die ihr Urteil auf eine ebenso gründliche Fach-
bildung wie auf Kriegserfahrung und Erfolge als Führer
gründen.
Zur Kriegführung Conrads gegen Rußland schreibt General
Krauß, der sich in seinen Schriften als extremer Anhänger der
Initiative und des Angriffes bekennt und als solcher
auch auf Erfolge im Kriege hinweisen kann: „Unter Ausnützung
der Flüsse San und Dnjestr, der Festung Przemysl und des ,Ge-
birgswalles4 der Karpaten hätte der Heerführung bei solchem
Willen ein ähnliches Spiel gelingen müssen, wie es Hindenburg
in Ostpreußen den Russen aufzwang.“ Der nächste Satz: „Der
Angriff ist wohl das beste Mittel der Verteidigung, aber nicht
der stürmende Angriff ins Weite hinein“, läßt den berechtigten
Schluß zu, daß General Krauß bei der Beurteilung, wie der
Krieg gegen Rußland zu führen war, die Aufgabe nicht voll
berücksichtigte, die Conrad im Rahmen des gemeinsamen Kriegs-
planes übernommen hatte. Es handelte sich nicht um die gün-
stigste Kampfart gegen die angreifenden Russen, sondern darum,
sie nicht nach Berlin und Wien kommen zu lassen. Dieser Auf-
gabe konnte nur dadurch entsprochen werden, daß man die Rus-
sen a n f a ß t e, wo immer man sie traf. Conrad schreibt zu die-
ser Frage: „An der San-Dnjestr-Linie die Geschehnisse abzu-
warten, barg die Gefahr, den sicheren Ruin zu bringen.
Dem Feinde wäre es gegönnt gewesen, seine Übermacht voll-
zählig zu vereinen, sie umfassend einzusetzen und den k. u. k.
Armeen eine Katastrophe zu bereiten; ganz abgesehen von der
Aktionsfreiheit, die ihm gegen das Ostheer geblieben wäre.“
Es sei noch zu der Frage „Flankenschutz gegen Osten“ Stel-
lung genommen, die im amtlichen Werk aufgeworfen wird. Bei
den operativen Erwägungen im Frieden wurde stets mit dem
Aufmarsch starker russischer Kräfte an der Ostgrenze Galiziens
gerechnet. Dieser ergab sich aus der Friedensdislokation und
dem Eisenbahnnetz. Beim Studium der tatsächlichen Kriegs-
ereignisse fällt der Mangel von Nachrichten gerade über diese
Feindgruppe auf.
Dieser Umstand mag nun Conrad in der Absicht bestärkt
19
289
DER FLANKENSCHUTZ DES „NOKDSTOSSES1'
haben, aueh die 3. Armee an dem Nordstoß der 1. und 4.
teilnehmen zu lassen. Das amtliche Werk schreibt hiezu:
„In der Tat hält die Art, wie im Einleitungsfeldzug gegen Ruß-
land auf österreichisch-ungarischer Seite das Problem des Flan-
kenschutzes gelöst wurde, der Kritik am wenigsten stand.“ Das
Werk führt weiter aus, daß „eine höhere Einschätzung der Stärke
der Abwehr, als sie zu Kriegsbeginn allenthalben üblich war, zu
der defensiven Lösung des Flankenschutzes geführt hätte.“ Hiezu
möchte ich feststellen, daß im Frieden im Generalstab wiederholt
angeregt wurde, die parallel laufenden nördlichen Zuflüsse des
Dnjestr mit ihren tief eingeschnittenen, versumpften Talsohlen
für einen defensiven Flankenschutz auszunützen. Die ältere
Generation des Generalstabes hatte sich seit dem ersten „Russen-
rummel“ Ende der achtziger Jahre sehr gründlich mit dem
russischen Kriegsschauplatz beschäftigt. Es war die Zeit des
obligatorischen russischen Sprachunterrichtes in der Armee und
des Entstehens des ostgalizischen Kriegsspielplanes, auf dem sich
der Großteil der theoretischen Beschäftigung des Generalstabes
und der Truppen abspielte. Damals kam bei den großen Gene-
ralstabskriegsspielen der Flankenschutz durch Ausnützung der
nördlichen Dnjestrzuflüsse wiederholt zur Sprache. Auch Conrad
hat sich mit dieser Frage befaßt. Eine im Raume um Proskurow
auf marschierende starke feindliche Gruppe bildete im Verein
mit der noch stärkeren, bei Kowel-Dubno vermuteten, eine emp-
findliche Bedrohung der rechten Flanke des beabsichtigten „Nord-
stoßes“. Die Vorsicht hätte es zweifellos geboten, dieser Be-
drohung zu begegnen. Befestigungsanlagen können nicht geheim-
gehalten werden. Sie mußten die russische Heeresleitung veran-
lassen, sie entweder im Norden oder im Süden zu umgehen.
Dies hätten wieder nur weitere ergänzende Verteidigungsanlagen
verhindern können — eine Erscheinung, die sich bei Befesti-
gungen im offenen Manövergelände immer wiederholt. Schließ-
lich hätte die südlich des Dnjestr bis an die rumänische Grenze
erweiterte Verteidigungslinie eine Ausdehnung angenommen,
deren Besetzung viele mobile Kräfte erforderte.
Conrad hat als Chef des Generalstabes alle Befestigungsent-
würfe seiner Vorgänger gewissenhaft durchstudiert. Bald aber
war er von der Überzeugung durchdrungen, daß der Krieg gegen
290
K. U. K. ARMEE ZUM ANGRIFF ERZOGEN
Rußland nur offensiv zu führen sei. Hiedurch traten die Befesti-
gungen auf diesem Kriegsschauplatz in den Hintergrund. Die für
diesen Zweck erlangbaren spärlichen Mittel sah Conrad zweck-
mäßiger an der Tiroler und Kärntner Gebirgsfront verwertet. Es
hätte allerdings noch die Möglichkeit bestanden, an Befestigungen
zu denken, als die außenpolitische Lage durch den Thronfolger-
mord plötzlich äußerst kritisch geworden war. Da aber galt die
Parole, alles zu vermeiden, was den Konflikt mit Serbien in einen
Weltbrand hätte wandeln können. Daher erübrigte für Befesti-
gungen im Aufmarschraum nur die Zeit von der Kriegserklä-
rung bis zum ersten Zusammenstoß mit den Russen. Nachträglich
betrachtet, kann kein Zweifel bestehen, daß selbst flüchtige An-
lagen an den Dnjestrzuflüssen den Flankenschutz des Nordstoßes
wirksamer gestaltet hätten — falls sich der Feind verleiten ließ,
sie anzugreifen. Erwiesen die Russen diesen Gefallen, dann er-
gaben sich allerdings günstige Gelegenheiten für Flankenstöße
aus dem Norden, ähnlich dem Einschwenken der 4. Armee nach
der Schlacht von Komaröw zur Schlacht von Lemberg.
Fortifikatorische Vorsorgen unterblieben schließlich, weil sie
nicht im Einklang mit Conrads Idee der Verwendung der 3. Ar-
mee standen. Das amtliche Werk stellt dies mit dem Satz fest:
„In den Stunden der Feuerprobe wurde dann doch, dem Geiste
der Erziehung und Ausbildung bei Führern und Truppe ent-
sprechend, die offensive Lösung versucht.“ Conrad führt
zur Begründung seines Entschlusses, den Flankenschutz des
Nordstoßes offensiv zu führen, an, daß die meisten Natio-
nalitäten der k. u. k. Armee mehr dem Angriff als der Verteidi-
gung zuneigten. „Temperament, Schneid und Tapferkeit brach-
ten sich dabei zur Geltung. Aber auch die Friedensausbildung
hatte eine taktische Geschicklichkeit geschaffen, von der zu er-
hoffen war, daß sie ein Moment der Überlegenheit gegenüber
den schwerfälligen russischen Massen bilden werde.“
Es bestand die Wahl, ob die 3. Armee im „passiven Zu-
warten“ verharren oder dem Feind entgegengehen sollte. Die
Absicht, die russischen Kräfte am Eingreifen gegen die 4. Ar-
mee zu hindern, sprach für ein offensives Verhalten der 3. Ar-
mee. Aber auch die Terraingestaltimg und Waldbedeckung
im Raume östlich von Lemberg ließen einen aktiven Kampf
19*
291
VERGLEICH ZWISCHEN „OST“ UND „WEST“
günstig erscheinen, am die taktische Überlegenheit der österrei-
chisch-ungarischen Truppen im Bewegungskampf zu verwerten.
Der Umschwung der Kriegslage naeh den siegreichen Schlach-
ten der 1. und 4. Armee als Folge des Mißgeschickes der
3. Armee stellte an die Führerfähigkeiten Conrads die höch-
sten Anforderungen. Mit seinem unerschütterlichen Sieges-
willen suchte er immer wieder durch initiatives Handeln die
Lage zu wenden. Es fanden sich wieder im eigenen Lager Kri-
tiker, die diese hartnäckigen Versuche verurteilten. Um so dank-
barer empfindet man das Urteil des deutschen Generals Freytag-
Loringhoven, der den Entschluß Conrads, nach dem Verlust von
Lemberg noch einmal alle verfügbaren Kräfte zur Wiedergewin-
nung der Stadt zusammenzufassen, „höchste Kühnheit“ nennt,
„denn, einen entscheidenden Sieg zu erstreben, darf im Kriege
nie unversucht bleiben“.
Auch das amtliche Werk wirft in seinen Schlußbetrachtungen
über diese Feldzugsperiode die Frage auf, ob es aussichtsreich
war, den ermatteten, von ihrer Artillerie wegen Munitionsknapp-
heit nur mangelhaft unterstützten Regimentern noch den General-
angriff vom 10. und 11. September zuzumuten — nachdem die
1. Armee bereits im Weichen war und der Feind schon nahe-
zu im Rücken der 4. Armee stand. Es anerkennt aber „die
Zähigkeit, womit im Osten der Feldherr den Sieg erstrebte“,
und vergleicht diese mit der Hast, „womit in den gleichen Tagen
und Stunden an der Marne einem Augenblick der Schwäche in
der Heeresführung nachgegeben wurde“.
Mit dem Maßstab des Erfolges gemessen, muß Conrads Krieg-
führung gegen Rußland als zweckmäßig anerkannt werden.
Conrad bewertet die Ereignisse der ersten Feldzugsperiode wie
folgt: „Die k. u. k. Armee hatte die ihr durch den gemeinsamen
Plan vorgezeichnete Aufgabe erfüllt. Endeten die Operationen
vom Kriegsbeginn bis Mitte September 1914 auch nicht mit
einem Sieg auf dem Schlachtfeld, so war doch das Russenheer
gebannt, ein russischer Einbruch nach Deutschland hintangehal-
ten, Zeit und Möglichkeit geschaffen für die Entscheidung auf
französischem Boden.“
„Auf dem westlichen Kriegsschauplatz folgte nach dem Miß-
geschick an der Marne zunächst ein längerer Stillstand, auf dem
292
DEUTSCHE URTEILE WERDEN CONRAD GERECHT
östlichen Kriegsschauplatz aber schritten nach kurzer Erholung
die vier k. u. k. Armeen im Vereine mit der deutschen 9. Ar-
mee zu erneuter Offensive.“ Das amtliche Werk bekennt sich j
zu dem Schlußurteil: „Die österreichisch-ungarische Heeresleitung j
war knapp daran, in vollem Ausmaße das Ziel zu erreichen, das
sie dem Nordstoße bei voller Auswirkung zugedacht hatte.“
Soweit der österreichische Standpunkt! Ich kann dieses Ka-
pitel aber nicht abschließen, ohne der Genugtuung Ausdruck zu
geben, daß die Urteile aus dem Deutschen Reich über Conrads
Kriegführung gegen Rußland immer mehr der Auffassung zu-
neigen, Conrad habe doch die geeignetste Form gefunden, der
Aufgabe der österreichisch-ungarischen Armee gerecht zu wer-
den. Diese Erkenntnis dringt in immer weitere Kreise, je mehr
Zeit die Kritiker finden, sich in die schwierigen Probleme zu
vertiefen, vor die Conrad bei Kriegsausbruch gestellt war. Aus
der Reihe dieser Urteile sei eines herausgegriffen, das Conrads
Führung im Osten von dem einzig berechtigten Gesichtswinkel
des „Bündniskrieges“ kritisiert. General der Infanterie Wetzeil,
Hauptschriftleiter des „Militär-Wochenblatt“, sucht in seiner be-
achtenswerten Studie „Der Bündniskrieg“ die Ursachen der Miß-
erfolge der Mittelmächte in der ersten Feldzugsperiode gegen
Rußland in der unzureichenden militärpolitischen Vorkriegsent-
wicklung, die dem Gesichtspunkte des Bündniskrieges nicht ge-
nügend Rechnung trug.
Feldmarschall von Moltke (d. Ä.) hat schon unmittelbar nach
der Besiegung Frankreichs im Jahre 1871 den „Zweifrontenkrieg
gegen Frankreich und Rußland für „die gefährlichste Probe“ er-
klärt, „die das Deutsche Reich in der Zukunft zu bestehen haben
wird“. Sein Plan ging dahin, mit neun Armeekorps und einigen
Landwehr di Visionen, vereint mit den Österreichern, gegen War-
schau vorzugehen, während im Westen neun Armeekorps gegen
die voraussichtlich im Oberelsaß einbreehenden Franzosen vor-
stoßen sollten. An diesen Kriegsplan knüpfte er die Mahnung:
„Man darf nicht hoffen, durch eine rasche Offensive im Westen
sich in kurzer Zeit von dem einen Gegner zu befreien, um sich
dann gegen den anderen zu wenden.“ Die Sorge vor dem poli-
tischen Zusammengehen Frankreichs mit dem immer unverläß-
licher werdenden Rußland veranlaßte Bismarck und Moltke,
293
SCHWERPUNKT IM OSTEN
sich mit dem „Zweifrontenkrieg“, aber auch mit der einheit-
lichen Führung des Bündniskrieges zu beschäfti-
gen. Die Operationspläne aus dieser Zeit beruhten auf dem
„Schwerpunkt im Osten und der Verteidigung im Westen“. Eine
rasche Offensive der Österreicher zwischen Bug und Weichsel,
vereint mit starken deutschen Kräften zwischen Weichsel und
den Masurischen Seen, sollte die im Raum Warschau—Lomza—
Brest-Litowsk versammelten russischen Kräfte zangenartig an-
fassen und vernichten. Moltke wollte vermeiden, daß der
Bundesgenosse durch die überlegene russische Masse frühzeitig
erdrückt werde. Bei diesem Kampf um Zeitgewinn zog
Moltke selbst einen Rückzug über den Rhein in Erwägung. Der
im Jahre 1891 berufene Generalstabschef Graf Schlieffen emp-
fand nicht die gleiche Sorge vor einem gleichzeitigen Krieg im
Osten und Westen und wollte — im Gegensatz zu Moltke — im
Falle eines Krieges nur schwache Kräfte in Ostpreußen belassen.
Lediglich 13 deutsche Divisionen sollten an dem gemeinsamen
Angriff mit den östlich der Weichsel vorgehenden k. u. k. Trup-
pen teilnehmen. Hiebei erschien Schlieffen das einfachste, wenn
„jeder der beiden Verbündeten für sich vom Vorteil des schnel-
leren Aufmarsches Gebrauch mache, seine Kräfte Zusammenhalte
und den Feind in Vereinzelung schlage“. Diese Auffassung
bürdete dem Verbündeten die Hauptlast auf. Schlieffen hielt
eine frühzeitige Offensive der Österreicher für unbedingt notwen-
dig, tat aber, wieder im Gegensatz zu Moltke, nichts Ausreichen-
des, um den Erfolg zu sichern. Dieser Plan, der unter der
Voraussetzung einer genügenden Rückendeckung gegen Rußland
vielleicht noch seine Berechtigung hatte, bedurfte dringend einer
Umformung, als die Annexionskrise blitzartig den Ernst der Ein-
kreisung der Mittelmächte erkennen ließ. Diese gab zwar die
Veranlassung zu einem Gedankenaustausch der beiden General-
stabschefs, der aber keine volle Klarheit über die Führung des
Bündniskrieges schuf. „Conrad glaubte an die zugesagte deutsche
offensive Unterstützung, während Generaloberst von Moltke bei
Kriegsausbruch die Sicherung Ostpreußens für wichtiger hielt.“
„Auf diesen unklaren Grundlagen bauten sich die operativen
Maßnahmen für den schwersten Gang eines Bündniskrieges auf,
bei dem es um Gedeih und Verderb zweier großer Völker und
294
SCHLIEFFENS PLAN
EIN DOGMA
Kaiserreiche ging!“ Die von Generaloberst von Moltke (d. J.)
nach Niederringung Frankreichs in etwa 40 Tagen zugesicherte
Unterstützung im Osten war ein fragwürdiges Versprechen. Der
große Marschall Moltke hatte sich mit dem Einsatz starker
deutscher Kräfte den ausschlaggebenden Einfluß auf die gemein-
schaftliche Ostkriegsführung gesichert. Schließen wie General-
oberst von Moltke d. J. hatten durch ihren schwächeren Kräfte-
einsatz im Osten die entscheidende Rolle dem österreichischen
Generalstabschef anvertraut, ohne ihm aber den Oberbefehl über
die deutschen Truppen zu sichern. „So kam es zu einer geson-
derten Kriegführung mit verschiedenen operativen Zielen gegen
einen gemeinsamen Feind, die niemals zum Erfolg führen
konnte.“ In dieser Unzulänglichkeit der Maßnahmen für eine
einheitliche Kriegführung im Osten sieht der Verfasser die
militärischen Hauptursachen des Mißerfolges. Er wirft die Frage
auf, ob es nicht zweckmäßiger gewesen wäre, sich von dem „Ver-
mächtnis Schlieffens“ freizumachen und sich wieder den Ge-
dankengängen des großen Strategen Moltke zuzuwenden. Diese
Anregung kommt der Auffassung Conrads über die Führung des
Bündniskrieges im Osten sehr nahe. Sie durchzusetzen hat er
gar nicht versucht, denn der Schlieffensche Plan galt zu jener
Zeit als unumstößliches Dogma. Gelegentlich der letzten Bespre-
chungen der beiden Generalstabschefs im Mai 1914 in Karlsbad
hat „der kluge österreichische Generalstabschef von Conrad“ die
Absicht Moltkes d. J., nur 12 Divisionen bereitzustellen, „als
nicht hinreichend“ bezeichnet und zu bedenken gegeben, daß Ruß-
land im Falle der Überwindung des österreichisch-ungarischen
Widerstandes den Weg nach Berlin frei hätte. „Was fangen Sie
an, wenn Sie im Westen keinen Erfolg und im Osten die Russen
im Rücken haben?“ hatte Conrad gefragt. Dieses Gespräch ist
ein Beweis, daß Moltke den Ernst der Ostlage nicht so wie Con-
rad erkannte. Das Endergebnis war, daß jeder der Verbündeten
seinen eigenen Krieg führte. „Generaloberst von Moltke hat nicht
erkannt, daß im Osten das Schwergewicht auf der österreichi-
schen und nicht auf der deutschen Seite lag; er sah nur die Ge-
fahr für Ostpreußen, nicht aber die weit größere in Galizien.“
295
WEG NACH BERLIN UND WIEN OFFEN
Die Schlacht bei L i m a n o w a - L a p a n 6 w im
Dezember 1914
(hiezu Skizzen 3 a, 3 b, 3 c)
ist eine der herrlichsten Waffentaten der österreichisch-ungari-
schen Truppen! Dem Feldherrngeist Conrads entsprungen, wurde
sie fast ausschließlich von Soldaten der k. u. k. Armee durch-
gefochten, die nach monatelangen, verlustreichen Kämpfen und
erschöpfenden Märschen in unerschütterlicher Treue ihren Füh-
rern zum Siege folgten. Wie ein durch lange Verbundenheit ge-
eintes Volk haben alle Nationen des alten Reiches in diesen
schweren Winterkämpfen gegen eine Übermacht Beweise von
Schlagkraft gegeben, die in der Geschichte ihresgleichen suchen.
Unvergänglicher Dank gebührt jedem einzelnen Mitkämpfer, denn
bei Limanowa wurde dem Vordringen der Russen nach dem
Herzen Deutschlands und Österreichs in zwölfter Stunde eine
Grenze gesetzt.
Die Russen, die im Herbst 1914 den zurückweichenden ver-
bündeten Armeen in breiter Front gefolgt waren, standen an
der Schwelle Deutschlands, der Weg nach Berlin und Wien schien
offen. Die hart mitgenommenen Truppen der Verbündeten
waren nahe dem Ende ihrer Kräfte, ihr bewährter, glänzender
Geist vermochte nicht mehr die Überzahl des Feindes auszu-
gleichen. Schon stand dieser hart vor den Toren Krakaus und
setzte frische Kräfte zur Umfassung des rechten Flügels an.
Die drohende Umklammerung mit ihren katastrophalen Fol-
gen hat Conrad verhindert. Die Konzeption der Schlacht von
Limanowa-Lapanöw ist von kühnstem Wagemut diktiert. Aus
der hartbedrängten Front wurden starke Kräfte herausgezogen,
im Eisenbahntransport gegen den bedrohten Flügel verschoben,
um durch einen Flankenangriff den überlegenen Feind zu schla-
gen. Conrads nie erlahmender Siegeswille übertrug sich auf alle
an der Schlacht beteiligten Führer und Truppen und führte
schließlich zu einem entscheidenden Erfolg. Mit Recht konnte
er sagen, daß bei Limanowa „das Schwert in den Boden gerammt
wurde, das die Heimat vor der russischen Invasion bewahrte“.
Man folgt den wechselvollen Ereignissen dieser zehntägigen
Schlacht am besten an Hand der Darstellung des Führers
296
Arrmzcfront
Skizze 3a. Die Schlacht bei Limanowa-Lapanöw. Lage am 28. Nov. 1914. (Siehe Text Seite 296.)
41.
Neu -Szndez.
Skizze 3b. Die Schlacht bei Limanowa-Lapanöw. Lage am 7. Dezember 1914, abends. (Siehe Text Seite 296.)
''fsE
<lbds.
lfm
<3-bcfs
20 Km
FELDMAßSCHALLEUTNANT ROTH
Generalobersten Josef Freiherrn von Roth („Die Schlacht von
Limanowa-Lapanöw im Dezember 1914“)- Sie gibt ein klares
Bild des Einflusses der obersten Führung, der verständnis-
vollen Zusammenarbeit der Unterführer und zeugt von dem
Heldenmut der an der Schlacht beteiligten Truppen und Ein-
zelkämpfer, die dem ältesten Landsturmaufgebot und selbst
Arbeiterabteilungen entnommen werden mußten. Die strate-
gische Bedeutung der Schlacht charakterisiert Generaloberst
Graf Dankl in seinem Geleitwort zu der Schrift des General-
obersten Roth mit den Worten: „Gorlice hat 1915 vollendet, was
Limanowa-Lapanöw Ende 1914 angebahnt hatte.“
Man hätte für diese Kampfhandlung keinen geeigneteren Füh-
rer finden können als General Roth. Schon als Chef des In-
struktionsbüros des Generalstabes war er uns durch seine Ruhe
und klare Einfachheit aufgefallen, die nur wahre Intelligenz
ausstrahlt. Es gab bei ihm keine Probleme, sein gesunder Men-
schenverstand und die Beherrschung der Technik waren jeder
Aufgabe gewachsen. Wir alle hatten den Eindruck, daß sieh
hinter dieser einfachen äußeren Form seltene Soldatentugenden
bargen.
Wie sich diese im Kriege bewährt haben, beweisen die Worte,
die der Altkaiserjägerklub dem Führer der Edelweißdivision
Roth widmete: „Monatelange schwere, wechselvolle, verlust-
reiche Kämpfe waren vorangegangen. Es war ein fortwährendes
Anspringen gegen den Feind und ein Zurückweichen vor seiner
erdrückenden Übermacht. So wogte der Riesenkampf hin und
her, im ganzen aber drang die Flut immer unaufhaltsamer
gegen Westen vor. Die Stände der Truppen schmolzen immer
mehr zusammen, die Ersätze konnten mit den Verlusten nicht
mehr Schritt halten. Die Munition wurde immer knapper, oft
stand die Artillerie ohne Schuß da. So war die Lage zur Zeit
der großen Kämpfe Ende November 1914. Es war eine Zeit,
da mancher sonst Beherzte den Mut sinken ließ. Aber der Chef
des Generalstabes, General der Infanterie Conrad von Hötzen-
dorf, fand immer wieder einen neuen Weg zu neuer Aktion,
zwang immer wieder dem Gegner seinen Führerwillen auf. Als
er erkannte, daß der Vorstoß nördlich Krakau nicht durchdrin-
gen konnte, leitete er eine neue Offensive südlich der Festung
297
TYP DES ALTÖSTERREICHISCHEN OFFIZIERS
aus dem Gebirge heraus ein. Diese führte zur siegreichen
Schlacht von Limanowa, in deren Verfolg die Russen den An-
griff auf Krakau aufgeben mußten... Roth war zum Füh-
rer geboren; er verband höchste Intelligenz mit klarem mili-
tärischem Blick und mit einer durch nichts zu erschütternden, ge-
radezu klassischen Ruhe und Kaltblütigkeit, die ihn auch in den
kritischesten Lagen nicht verließ. Voll Zuversicht und Taten-
drang warf er sich mit Feuereifer auf die ihm gestellte Auf-
gabe und führte sie mit erstaunlicher Zähigkeit bis zum Ende
durch. Da gab es kein Zweifeln, kein Schwanken, nichts konnte
ihn von dem als richtig erkannten Weg abbringen. Die Schlacht
von Limanowa hat an die Eigenschaften des Führers die höch-
sten Anforderungen gestellt. Tage hindurch stand der Erfolg an
des Messers Schneide, eine Krise jagte die andere, und nur ein
Mann mit so eisernen Nerven und so unverwüstlichem, begrün-
detem Optimismus wie Feldmarschalleutnant Roth konnte den
Glauben an den Sieg auch dann nicht verlieren, als die Lage
seiner in Flanke und Rücken auf das schwerste bedrohten Ar-
meegruppe zuweilen geradezu verzweifelt erschien. Roth war
der Typus des altösterreichischen Offiziers. Mit Leib und Seele
Soldat, voll begeisterter Liebe für sein schönes Vaterland, treu
ergeben seinem kaiserlichen Herrn, vornehm, gütig und warm-
herzig. Ihm haben nicht nur die Herzen der militärischen Ju-
gend entgegengeschlagen, als er durch Jahre Kommandant der
Theresianischen Militärakademie war, sondern auch die Herzen
der Offiziere und Mannschaften, nicht zuletzt der vier Tiroler
Kaiserjägerregimenter, die unter ihm gekämpft und gesiegt
haben. Er war für sie nicht nur der bewährte und siegreiche
Führer, sondern auch ein gütiger und fürsorglicher Vater.“
Generaloberst Freiherr von Roth beginnt die Schilderung der
Schlacht mit der Anerkennung der Leistungen seiner Truppen:
„In dem mehr als vierjährigen schweren Ringen unserer alten
Monarchie haben alle ihre in der Armee vereinigten Völker
Leistungen vollbracht, welche, von neidischen, großtuerischen
Schriftstellern des Auslandes entstellt und herabgesetzt, zumeist
nicht entsprechend gewürdigt wurden. Sie stehen den heroischen
Glanzleistungen des Altertums nicht nach, ja sie übertreffen sie.“
Roths warmer Dank gilt auch dem Korpsstabe, in dem „hohes
298
„EDELWEISSKORPS-
Pflichtgefühl, große Arbeitslust, gegenseitige treue, aufopferungs-
volle Kameradschaft“ herrschte.
Das XIV., „Edelweißkorps“, bestand aus der 3. und 8. Di-
vision — Oberösterreicher, Salzburger, Tiroler und Vorarlberger,
von denen ihr Führer sagt: „Ihre Tapferkeit, Hingebung, Treue,
unbedingte Verläßlichkeit sind weltbekannt. Ich habe die Leute
im Lager, auf anstrengenden Märschen, im Gefechte — ich habe
sie sterben gesehen —, sie alle waren Helden im wahrsten
Sinne des Wortes. Das XIV. Korps war gewiß den besten reichs-
deutschen Truppen vollständig gleichwertig.“
Der Gruppe Roth wurden im Verlauf der Schlacht Truppen
aller Nationen unterstellt. Ihnen widmet der Generaloberst die
Worte: „In unserem Lager war ganz Österreich! Sie haben alle
ehrlich ihre Pflicht erfüllt und sich tapfer geschlagen. Alle nach
dem Umstürze beliebten armeefeindlichen Verleumdungen und
Beschimpfungen unserer Wehrmacht im Inland und Ausland sind
ganz und gar falsch und erlogen, sind nur nachträgliche Mache
mit dem Zwecke, unser prächtiges, tüchtiges Heer und beson-
ders die Offiziere und ihre Verdienste, ihre Aufopferung und
Selbstlosigkeit herabzusetzen.“
Voll anerkennender Bewunderung schreibt er über die „außer-
ordentlich reichen und erfinderischen Ideen“ des österreichisch-
ungarischen Armeeoberkommandos: „Es ist ein Beweis der
regen Gedankentätigkeit und der genialen Größe unseres Chefs
des Generalstabes, Generals der Infanterie von Conrad, daß
er stets einen neuen Plan bereithielt, sobald der frühere be-
endet war oder aus irgendeinem Grunde kulminiert hatte. Da-
bei verstand er es immer, den Feind rasch in der für ihn emp-
findlichsten Richtung zu treffen. Die Idee, welche der Schlacht
von Limanowa zugrunde lag, verdient die vollste Bewunderung
jedes Soldaten.“
Am 30. November 1914 erhielt das XIV. Korpskommando in
Krakau folgenden Befehl des 4. Armeekommandos: „Feldzeug-
meister Ljubiciö hält mit dem XI. und XVII. Korps im Anschluß
an die Festung Krakau die Linie Siepraw—Kasinka. Gruppe
Feldmarschalleutnant Roth mit der 3., 8. Infanterietruppendivi-
sion, der 13. Landwehrdivision, der 47. preußischen Reserve-
division, der 6., 10. und 11. Kavallerietruppendivision und der
299
GENERALLEUTNANT VON BESSER
polnischen Legion (unter Pilsudski) hat die Aufgabe, den südlich
der Weichsel gegen die 4. Armee vorgehenden Feind in Flanke
und Rücken anzugreifen und zu schlagen.“
Es waren demnach bis auf eine deutsche Division durchwegs
österreichisch-ungarische Truppen für diese Aktion bestimmt.
Über den Kommandanten der preußischen Reservedivision, Ge-
neralleutnant von Besser, schreibt Roth: „Trotzdem wir dieselbe
Charge bekleideten und er um mehrere Jahre älter war als ich,
hat er sich als strammer, gehorsamer Untergebener bewiesen.
Die Division blieb mir ein halbes Jahr unterstellt; während der
ganzen Zeit ist zwischen uns nie der geringste Mißton vorge-
kommen, wir haben uns stets sehr gut verstanden. Wir waren
noch einige Zeit nach unserer Trennung in Korrespondenz. Ich
bewahre die schönsten Erinnerungen an diesen braven, tüchti-
gen General und treuen Kriegskameraden.“
Die Verschiebung der Gruppe Roth an den rechten Armee-
flügel geschah zum Großteil mit der Eisenbahn über Jordanow,
Chabowka nach Mszana; die Kavallerie und die Mehrzahl der
Batterien hatten mit Fußmärschen die Versammlungsräume zu
erreichen. Der Transport litt unter der geringen Leistungsfähig-
keit der einzigen zur Verfügung stehenden eingeleisigen Bahn.
Nach dem Eintreffen in Jordanow erließ Feldmarschalleutnant
Roth am Abend des 30. November die Disposition für den 1. De-
zember.
Dem Armeekommandanten Erzherzog Josef Ferdinand, der
Roth volle Freiheit des Handelns ließ, widmet er warme Dankes-
worte: „Der Erzherzog, ein militärisch sehr begabter, fürsorg-
licher und wohlwollender Vorgesetzter, der besonders zu Beginn
des Feldzuges als Kommandant des XIV. Korps Leid und Freud
mit seinen Untergebenen teilte, hatte sich dadurch die Herzen
alte Soldaten erworben.“
Das Armeeoberkommando hatte darauf bestanden, daß das
4. Armeekommando die Leitung der Operation in der Hand be-
halte. Der Erzherzog setzte es aber durch, daß Feldmarschall-
leutnant Roth das Kommando über seine Gruppe selbständig
führen konnte. Das Generalstabswerk bemerkt hiezu, der erz-
herzogliche Armeekommandant habe in einer Zuschrift an das
Kriegsarehiv im Jahre 1929 erklärt: „Wiewohl die Gruppe Roth
300
IN VORBILDLICHER W A F F E N G E M E I N S C H A F T
durch die fortgesetzten Unterstellungen neuer Kräfte im Ver-
hältnis zu den übrigen Befehlseinheiten des Armeekommandos
überstark war, sah der Armeekommandant von einer neuen
Gruppenbildung ab, um diesem verdienten General die Genug-
tuung zu geben, die vorzügliche taktische Führung durch das
Erreichen des täglich erhofften Schlachtenerfolges krönen zu
können.“
Nach dreieinhalb Monaten Krieg, die mit erschöpfenden Mär-
schen und verlustreichen Gefechten ohne Ruhepause ausgefüllt
waren, mußten die Truppen zu neuen Kämpfen und Mühen ge-
führt werden, aber „das Bewußtsein, daß der Schutz der ge-
liebten Heimat ihnen übertragen sei und diese Anstrengung ge-
bieterisch verlange, verlieh ihnen fast übermenschliche Kräfte.
Festen Mutes, ja freudig und begeistert gingen sie in die neue
Schlacht, im Vertrauen auf Gott, auf die gerechte Sache, auf die
Führung und ihren eigenen Wert.“
Das Wetter war trotz den Frösten, welche die Kommunikationen
vereisten, günstig. Nach dem Sand und Sumpf Ostgaliziens emp-
fanden die alpenländischen Soldaten die Bewegung im gebir-
gigen, bedeckten Gelände als — Erholung. Hier konnten sie auch
ihre bessere Gefechtsausbildung verwerten.
Als leitende Idee hatte sich Roth die Stoßrichtung auf Bochnia
gewählt; er hielt trotz allen Wechselfällen der zehntägigen
Schlacht an dieser Grundidee fest, verlegte aber, je nach der
Gesamtlage, den taktischen Schwerpunkt bald auf den rechten,
bald auf den linken Flügel. Um den Siegeswillen des Führers
auf alle Mitkämpfer zu übertragen, wurde am 3. Dezember fol-
gender Befehl verlautbart: „Soldaten! Nun gilt es rücksichtslos
anzugehen! Nicht nur eine große Zahl von Gefangenen, auch
die Eroberung von feindlichen Geschützen, Maschinengewehren
und sonstigem Kriegsmaterial müssen das Ergebnis unserer
Offensive werden. Mit Gottvertrauen und in heißer Liebe zu den
erhabenen Monarchen der verbündeten Reiche wollen wir Schul-
ter an Schulter mit den deutschen Brüdern kämpfen, bis wir
den Sieg errungen haben.“
Um dem drohenden Eingreifen Italiens und Rumäniens vor-
zubeugen, drängte das Armeeoberkommando auf Beschleunigung
der Operationen. Roth ließ sich aber nicht aus dem Konzept
301
BEGINN DER SCHLACHT
bringen, „denn ein weiteres Vortreiben unserer an Zahl schwa-
chen Divisionen — alle drei zählten ungefähr 15.000 Gewehre —
hätte zu einem Stillstände der Operationen führen müssen“.
Vom Armeeoberkommando waren Weisungen an das 3. Ar-
meekommando ergangen, durch eine Offensive die Aktion des
Feldmarschalleutnants Roth zu unterstützen. Auch das Festungs-
kommando Krakau sollte durch Ausfälle den Feind binden.
Die Tage bis zum 3. Dezember vergingen mit der Versamm-
lung der Truppen unter Kämpfen mit vorgeschobenen Kavalle-
riekräften. Die Schlacht begann am 4. Dezember, indem alle
Gruppen mit ungefähr gleichen feindlichen Kräften zusammen-
stießen. Der Erfolg des Tages entsprach im allgemeinen den
Erwartungen.
Am 5. Dezember hatte der Feind bereits beträchtliche Ver-
stärkungen herangebracht, mit denen es an der ganzen Front
zu heftigen Kämpfen kam. Durch den umfassenden Angriff der
preußischen 47. Division wurden die Russen zwar zurückgewor-
fen, der feindliche Widerstand steigerte sich jedoch infolge im-
mer neu eingreifender Verstärkungen. Die Unterstellung der
45. Landwehrdivision, Feldmarschalleutnant Smekal, war im Ver-
gleich hiezu ein nur geringer Kräftezuwachs. Roth wollte die
Entscheidung um jeden Preis am 6. Dezember vor dem Wirk-
samwerden weiterer russischer Verstärkungen herbeiführen. Eine
Sorge bildete die Gefährdung der Operationen aus dem Raume
Neu-Sandec, der nur durch schwache Kavallerieabteilungen ge-
schützt war.
Auch der 6. Dezember verlief unter heftigen Kämpfen an
der ganzen Front. Am Abend gestaltete sich die Lage recht
schwierig. Die Gefechtskraft der preußischen 47. Division war
nahezu erschöpft. Wohl war der linke Flügel erfolgreich ge-
wesen, am rechten Flügel gestaltete sich aber die Lage der deut-
schen Division immer kritischer und über die Vorgänge bei
Neu-Sandec herrschte Unklarheit. Die 45. Landwehrdivision
konnte nur staffelweise eintreffen und mußte mit ihren wenigen
Bataillonen tropfenweise an den gefährdetsten Punkten eingesetzt
werden. Die außerdem zur Verfügung gestellte 30. Infanterie-
truppendivision war noch 30 Küometer vom rechten Flügel
entfernt.
302
AUFREIBENDE KAMPFTAGE
Um den Druck auf den Feind fortzusetzen, entschloß sich Feld-
marschalleutnant Roth, für den 7. Dezember statt der Links-
schwenkung eine Rechtsschwenkung vorzunehmen, um die 47. Di-
vision und besonders ihren rechten Flügel zu entlasten, wobei
die Grundidee des Stoßes auf Bochnia aufrechtblieb. Während
der Nacht auf den 7. Dezember hatte sich die Lage am linken
Flügel wesentlich gebessert, dagegen wurde sie rechts immer
kritischer: die Russen holten zur Umfassung mit frischen Kräf-
ten aus. Die zur Unterstützung der Deutschen bestimmte öster-
reichische 45. Landwehrdivision war erst mit geringen Kräften
eingetroffen und der Zeitpunkt des Eingreifens der 39. Honved-
division noch imbestimmt. Eine große Gefahr drohte aus dem
Raume um Limanowa, wohin die zum Schutz der Flanke aus-
geschiedene Gruppe zurückgedrängt worden war. Dem eben vom
Armeeoberkommando eingetroffenen, zum Kommandanten der
10. Kavallerietruppendivision ernannten Generalmajor Graf Her-
berstein wurden alle bei und östlich Limanowa kämpfenden Ver-
bände unterstellt.
Für den 8. Dezember wurde trotzdem die energische Fort-
setzung der Offensive, der Vorstoß in Flanke und Rücken des
Gegners, befohlen. Über diesen Tag, den fünften der Schlacht,
schreibt Roth: „In der gespannten Erwartung, wie sich die Dinge
auf unserem linken Flügel gestalten würden, wurden die Minuten
zu Stunden. Gewiß war die Situation bei Limanowa nicht an-
heimelnd, aber wir vertrauten auf die Tüchtigkeit und Tapfer-
keit der dort befindlichen, allerdings recht schwachen Kräfte
und waren voll Zuversicht, daß ein rascher, großer Erfolg am
linken Flügel seine Rückwirkung auf den rechten äußern werde.“
Auch die Erkenntnis, daß den gelichteten eigenen Truppen
etwa zehn russische Infanterie- und drei Kavalleriedivisionen
mit mindestens doppelten Ständen gegenüberstanden, vermochte
die Zuversicht des Führers nicht zu erschüttern. Es wurde ledig-
lich die Unterstützung des XVII. Korps erbeten. Das Armee-
kommando konnte mitteilen, daß die 3. Armee aus den Karpaten
eine Offensive beginnen werde. Auch konnte mit dem baldigen
Eingreifen der in Tymbark auswaggonierten Teile der 39. Hon-
veddivision gerechnet werden.
Dem am Nachmittag dieses Tages eintreffenden Feldmarschall-
303
RUSSEN ERBITTEN HILFE GEGEN ROTH
leutnant von Arz wurde das Befehlsrecht über alle rechts der
deutschen 47. Reservedivision fechtenden Truppen mit dem Auf-
trag übergeben, den Raum Limanowa—Lososina Gorna unbe-
dingt zu halten und mit möglichst starken Kräften rechts der
47. Division in der allgemeinen Richtung Jakobkowice—Michal-
ezowa anzugreifen.
Die ungünstigen Nachrichten über die Lage der Deutschen ver-
anlaßten Roth, die aus drei Regimentern bestehende Gruppen-
reserve, die 13. Landwehrinfanterietruppendivision, heranzu-
ziehen und sie Arz zu unterstellen. Aus der Gegend von Lima-
nowa kamen Meldungen über das Vordringen feindlicher Kräfte,
wodurch sich auch hier eine kritische Lage ergab, weil Graf
Herberstein nur über drei Kavallerieregimenter mit sehr gerin-
gen Ständen und über einige Bataillone Infanterie, in Summe
etwa 2000 Feuergewehre, verfügte.
Die Lage am Abend des 8. Dezember zeigt die Skizze. Die
Fortschritte waren an diesem Tag sehr gering. Die Divisionen
am linken Flügel setzten den Angriff auch in der Nacht fort. Die
für den 9. Dezember ausgegebene Disposition verfügte die Fort-
setzung der Offensive mit den bisherigen Direktionen.
Am 9. Dezember langte vom 4. Armeekommando die
Nachricht ein, daß der russische Armeekommandant dringend
um Hilfe gegen den Ansturm der Gruppe Roth bitte. An die-
sem Tag geriet das Gruppenkommando in Gefahr, in seinem
Quartier von feindlicher Kavallerie überfallen zu werden. Zur
Abwehr wurden die Stabskompanie, der Kavalleriestabszug und
die ad hoc bewaffneten Offiziersdiener und Pferdewärter heran-
gezogen. Der Angriff gewann am 9. Dezember nur sehr lang-
sam Raum; bei Limanowa bedrängte feindliche Infanterie die
Gruppe Herberstein. Hingegen traf als Entlastung die Nachricht
ein, daß die 3. Armee mit dem linken Flügel am 8. Dezember
Bartfa erreicht habe, die Russen dort im Rückzug seien. Feld-
marschalleutnant Szurmay sei seit dem Morgen des 9. Dezem-
ber in zwei Kolonnen im Vorrücken auf Neu-Sandec und Grybow.
Gegen Abend traf ein Telegramm des Armeeoberkommandos
ein, das allen Führern und Truppen Dank und Anerkennung
für die bisherigen Erfolge aussprach. Das taktische Ergebnis
dieses Tages war zwar hinter den Erwartungen des Gruppen-
304
ZÄHES RINGEN
Kommandanten zurückgeblieben, aber Anzeichen sprachen für
das Nachlassen der feindlichen Widerstandskraft. An das Ein-
greifen der Gruppe Szurmay war am 10. Dezember noch nicht
zu denken, auch die 89. Honveddivision konnte bestenfalls am
Nachmittag fühlbar werden. Trotzdem ordnete die um Mitter-
nacht ausgegebene Disposition für den folgenden Tag die Fort-
setzung des allgemeinen Angriffs an.
Am 10. Dezember, 9 Uhr vormittags, berichtete die
80. Division, daß sie, von starken Kräften angegriffen, die letzte
Reserve eingesetzt habe. Bald darauf meldete die 8. Division
starke feindliche Angriffe, deren Druck die 88. Landesschützen-
brigade hatte nachgeben müssen. Auch vor der Gruppe Arz
hatte sich der Feind verstärkt. Der Armeegruppe Roth wurde
noch die nach Lapanöw dirigierte 15. Infanterietruppendivision
zur Verfügung gestellt; der 39. Honveddivision sollte die kom-
binierte Brigade Oberst Reymann folgen. An die Gruppe Szur-
may, die mit den Spitzen am 9. Dezember etwa auf 30 Kilometer
an Neu-Sandec herangekommen war, wurde durch das Armee-
oberkommando die Aufforderung gerichtet, mit ganzer Kraft
energisch über Neu-Sandec nach Kanina vorzustoßen.
Die Armeegruppe Roth war nunmehr auf 8 Infanterie-, 3 Ka-
valleriedivisionen und 2 selbständige Brigaden angewachsen. Am
Nachmittag des 10. Dezember war auch die 3. Division von einem
übermächtigen Gegner zurückgedrängt worden. Die Truppen hat-
ten sich mit Heldenmut geschlagen, die Artülerie hatte den Rück-
zug mit Umsicht und Aufopferung gedeckt, die Division hielt mit
einem Gefechtsstande von 700 Gewehren das Westufer der Stra-
domka. Die 13. Landwehrinfanterietruppendivision mußte am
Nachmittag vor einem starken Druck des Feindes die Kobylahöhe
räumen. Ein Angriff starker russischer Kräfte gegen die Gruppe
Graf Herberstein wurde durch die Husarenregimenter 9, 13 und
10 mit Heldenmut, zum Teil im Handgemenge, abgewiesen. Die
bis zum Abend vollzählig eingetroffene 39. Honveddivision wurde
südwestlich Limanowa bereitgestellt. Im Abschnitte Arz hielten
sich die Gegner die Waage, dagegen verstärkte sich der Feind
an der Straße nach Neu-Sandec. Das Armeegruppenkommando
sah sich angesichts der Gesamtlage gezwungen, das Schwerge-
wicht — immer unter Wahrung des Hauptstoßes auf Bochnia —
20
305
KEINE RESERVEN MEHR
wieder auf den eigenen rechten Flügel zu verlegen. Der feind-
liche linke Flügel sollte noch weiter umfaßt werden. Die Ent-
scheidung in dieser aufs äußerste gespannten Lage erhoffte sich
Roth von der 39. Honveddivision aus dem Raume um Limanowa.
Arz erhielt den Befehl, mit ganzer Kraft auf Kanina vorzu-
stoßen, wozu ihm die 39. Honveddivision und die Brigade Rey-
mann unterstellt wurden.
Trotz vereinzelten Meldungen, daß der Feind den Rückzug vor-
bereite, verlief der 10. Dezember unter schweren Kämpfen. Die
dreidreiviertel Divisionen des linken Flügels, welche die Entschei-
dung hätten bringen sollen, waren nicht durchgedrungen und muß-
ten sogar stellenweise zurückgenommen werden. Die neuen Stel-
lungen wurden aber in Ordnung bezogen, der Gegner drängte
nicht nach. Der 47. Division und der Gruppe Smekal war auch kein
Erfolg beschieden, und am rechten Flügel nahmen die Kämpfe
an Heftigkeit zu. Gefangenenaussagen kündigten für den 11. De-
zember einen allgemeinen Angriff der Russen an. Feldmarschall-
leutnant Roth verfügte über keine Reserven mehr, er konnte auf
diese Meldungen hin nur das unbedingte Festhalten der er-
reichten Linie befehlen. Bei Limanowa begannen die Russen
mit starken Kräften gegen Mittag anzugreifen. Hier fand Oberst
Freiherr von Muhr, Kommandant des Husarenregiments Nr. 9,
den Heldentod, als er sich an der Spitze einer Fußabteilung
seines Regiments den angreifenden Russen entgegenwarf.
Für den 12. Dezember wurde keine Disposition ausgegeben.
Die beiden Gruppenkommandanten von Arz und von Besser
hatten genaue Weisungen, in den anderen Abschnitten mußten
die Kämpfe ausreifen. Die Nacht auf den 12. Dezember
verlief wider Erwarten verhältnismäßig ruhig. Um 8.30 Uhr
traf die Meldung des VI. Korps ein, daß der Feind sich vor der
39. Honveddivision zurückziehe. Feldmarschalleutnant Roth fuhr
sofort nach Limanowa, um die rücksichtslose Verfolgung persön-
lich zu betreiben. Um die Mittagszeit wurde die Disposition
hiefür ausgegeben. Das 4. Armeekommando wurde gebeten,
Einfluß zu nehmen, daß die nächsten Kolonnen der 3. Armee
in nördlicher Richtung vorstoßen, um dem Gegner ein Entweichen
nach Norden unmöglich zu machen. Der Rückzug der Russen er-
streckte sich auf immer größere Abschnitte der Front. Die am
306
DIE SCHLACHT GEWONNEN
12. Dezember für den 13. ausgegebene Disposition ordnete die
allgemeine Verfolgung, die Ablösung besonders hergenommener
Verbände und die Fühlungnahme des VI. Korps mit den Nach-
barkolonnen der 3. Armee an.
Am 13. Dezember brach der feindliche Widerstand auch
an den Abschnitten zusammen, wo die Russen angegriffen hatten.
Die Verfolgung konnte nunmehr auf der ganzen Linie auf ge-
nommen werden: die Schlacht von Limanowa war
gewonnen ! Der zähe Siegeswille des Führers und seiner
Truppen hatte sich durchgesetzt.
Der Sieg hatte große Opfer gefordert, aber die Verluste der
Russen mußten — an der Kriegsbeute gemessen — viel größer
gewesen sein. 30.000 unverwundete Gefangene und unüberseh-
bares Kriegsmaterial waren in die Hände der Sieger gefallen.
Der strategische Erfolg der Schlacht war die Abwendung der
überaus ernsten Gefahr eines Einbruchs der Russen nach Öster-
reich und Deutschland. Der taktische Erfolg bestand im Zurück-
drängen der russischen Front um etwa 50 Kilometer und die
Befreiung des eingeschlossenen Krakau. Moralisch wirkte sich
der Sieg dadurch aus, daß das Vertrauen in die Schlagkraft der
Armee wiederhergestellt wurde. Das Eingreifen Italiens und
Rumäniens wurde durch die glänzende Waffentat der bereits
als geschlagen angenommenen österreichisch-ungarischen Armee
verschoben.
Der Oberkommandierende der russischen Truppen in Wol-
hynien, General Rußky, äußerte sich über die Schlacht von
Limanowa dem amerikanischen Journalisten Withney gegenüber:
„Ein strategisches Meisterwerk war die in genialer Weise er-
dachte und mit Virtuosität durchgeführte Schlacht, die uns zwang,
ein weiteres Operieren gegen Krakau aufzugeben, und die un-
seren Karpatenübergang verhinderte. Die Schlacht von Lima-
nowa war der erste entscheidende Rückschlag, den die Armeen
des Großfürsten in Galizien erlebten. Die Lage der Österreicher
war zur Zeit der großen Karpatenkämpfe keine beneidenswerte
gewesen; wir in Rußland glaubten damals fest an die totale Ver-
nichtung der österreichisch-ungarischen Armee. Um so über-
raschender war für uns der Ausgang der Schlacht, denn der
schneidige Angriff der Österreicher kam für uns ganz über-
20*
307
BERLIN DER RUSSEN ZIEL
raschend und traf uns an der gefährlichsten Stelle der ganzen
Front.“
Die Bedeutung des Sieges bei Limanowa und des zeitlich
zusammenfallenden Erfolges des deutschen Ostheeres bei Lo-
wicz — 6. bis 12. Dezember — beleuchten die Aufzeichnungen
des französischen Botschafters am Zarenhof, Paleologue, der
eigens ins Hauptquartier geeilt war, um Zeuge des Marsches
der Russen auf Berlin zu sein. Am 5. Dezember schrieb er:
„Zar und Großfürst halten an dem Entschlüsse fest, über Schle-
sien nach Berlin zu marschieren. Berlin ist ihr einziges Ziel.“
Und am 15. Dezember, nach Limanowa, klagt er verzweifelt:
„Im westlichen Galizien weichen die Russen auf der ganzen
Linie gegen die Weichsel zurück. Dieser Rückzug zerstört end-
gültig das Projekt der Offensive über Schlesien.“
Feldmarschall Conrad faßt seinen Einfluß auf den Gang der
Schlacht in die Worte zusammen: „Alle Anordnungen des
Armeeoberkommandos konzentrierten sich auf die Fortführung
der Schlacht von Limanowa-Lapanöw, nicht nur durch Zu-
weisung von Kräften, sondern auch durch imperative Einfluß-
nahme auf die 3. Armee, ihr Vorgehen ehestens zu beginnen
und in den Kampf einzugreifen.“
Beim Armeeoberkommando hatte man die Kämpfe der Ar-
meegruppe Roth mit erwartungsvoller Spannung verfolgt. Am
9. Dezember war der Chef der Militärkanzlei des Kaisers, Ge-
neral der Infanterie Freiherr von Bolfras, in Teschen eingetrof-
fen, um dem Armeeoberkommandanten, Feldmarschall Erzher-
zog Friedrich, den Marschallstab und dem Chef des General-
stabes die neu gestiftete 1. Klasse des Militärverdienstkreuzes
zu überreichen.
Die Sorgen ob der Ereignisse bei der 4. Armee waren aber
größer als die Freude über die hohen Auszeichnungen. Gerade
an diesem Tage hatte Conrad dem 3. Armeekommando ein ener-
gischeres Vorgehen nahegelegt: „Im Hinblick auf den Ernst
der Lage hat das 3. Armeekommando mit allen Mitteln einer
etwaigen Erschlaffung der Angriffsenergie entgegenzuwirken.
Allen, die es angeht, ist schärfste Mißbilligung darüber auszu-
sprechen, daß durch Lässigkeit und passive Haltung dem Feinde
die volle Freiheit des Handelns ungestört gelassen wurde, ob-
308
CONRAD ÜBER LIMANOWA
gleich das Armeeoberkommando den Abmarsch feindlicher Kräfte
schon am 5. Dezember avisiert hatte.“
Die Nachrichten über das Einsetzen bedeutender russischer
Verstärkungen am 10. Dezember waren mit ungünstigen Mel-
dungen vom serbischen Kriegsschauplatz zusammengefallen. Auch
von der 3. Armee kamen wenig ermunternde Berichte über die
Verfassung der durch die Rückzugsgefechte in den Karpaten sehr
stark hergenommenen Truppen. Der 10. Dezember hat laut
Conrads Aufzeichnungen „hohe Anforderungen an Geduld und
Gleichmut beim Armeeoberkommando gestellt“ — dennoch hielt
er daran fest, „diesen Kampf zum siegreichen Ende zu führen“.
Wiederholt sah sich Conrad auch weiterhin gezwungen, das 3. Ar-
meekommando zu beschleunigter Vorrückung zu bewegen: schon
um die ungünstigen Auswirkungen des Rückzuges der 5. und
6. Armee in Serbien im In- und Auslande auszugleichen. Die
von ihm so energisch betriebene Einnahme von Neu-Sandec durch
Kräfte der 3. Armee brachte auch in der Tat die entscheidende
Wendung.
Das amtliche Werk spricht das Hauptverdienst an der Schlacht
dem Feldmarschalleutnant Roth zu, der für seine Leistungen mit
dem Maria-Theresien-Orden ausgezeichnet wurde und das Prä-
dikat „von Limanowa-Lapanöw“ annelimen durfte. Auch sein
Unterführer, Feldmarschalleutnant von Arz, erhielt später das
Kommandeurkreuz des Militär-Maria-Theresien-Ordens. Diese
hohen Auszeichnungen waren der Ausdruck der Allerhöchsten
Anerkennung für alle an der Schlacht Beteiligten, denen Con-
rads Feldherrntalent und zäher Wille den Weg zu neuen Ruh-
mestaten gewiesen hatte.
Conrad selbst schreibt darüber: „Die Schlacht war ein unbe-
streitbarer und ausgesprochener Sieg der österreichisch-ungari-
schen Waffen. Sie bildete den Anlaß zum Rückzug der Russen.
Die Russen hatten durch die Schlachten von Lodz, Krakau und
Limanowa enorme Verluste erlitten und befanden sich mora-
lisch, personell und materiell in einem Zustand, der den Ver-
bündeten alle Wahrscheinlichkeit bot, bei unmittelbar anschlie-
ßendem Einsatz entsprechender deutscher Kräfte den bisher er-
reichten Erfolg zu einem durchschlagenden von unabsehbaren
Konsequenzen zu erweitern. Die großangelegte Operation der
309
WENDEPUNKT IM KRIEG GEGEN RUSSLAND
Russen war ausschließlich gegen Deutschland mit dem Ziel
Berlin gerichtet. Die Behauptung, daß die Aktion des deutschen
Ostheeres und der aus dem Westen zugeführten Verstärkungen
eine Hilfeleistung für Österreich-Ungarn gewesen seien, ist nicht
zutreffend; die österreichisch-ungarischen Operationen waren viel-
mehr eine Hilfe für Deutschland, wenn sie auch den eigenen
Bedürfnissen und Zielen gedient haben.“
Gorlice im Mai 1915
(Hiezu Skizze 4.)
Die Durchbruchsschlacht von Gorlice, die am 2. Mai 1915 be-
gann und zum Rückzug der Russen bis weit in ihr Landinneres
führte, bildet den Wendepunkt des Krieges gegen Rußland. Es
war ein Schlag, von dem sich das Zarenreich nie mehr ganz
erholte. Die Kriegsliteratur hat sich viel mit der Frage beschäf-
tigt, wem das Verdienst an diesem Erfolg zukommt. Für ein
Urteil fehlt die sonst ergiebigste Quelle: Conrads persönliche Auf-
zeichnungen, die leider mit den Ereignissen des Kriegsjahres
1914 enden. Die Darstellung der Vorgeschichte dieser Schlacht
hält sich deshalb an das amtliche Werk, dem das weitaus reichste
Quellenmaterial zur Verfügung stand.
Nach der Schlacht von Limanowa war Conrads nächstes Be-
streben darauf gerichtet, den errungenen Erfolg durch ein ener-
gisches Vordringen der 3. Armee zu voller Reife zu bringen.
Zu diesem Zwecke wurden alle an den anderen Fronten ent-
behrlichen Kräfte der 3. Armee zugeführt. Trotzdem blieb dieser
Aktion der Erfolg versagt Eine entscheidende Niederlage der
Russen konnte nicht erreicht werden, sosehr Conrad sie begrüßt
hätte. Unterdessen steigerte sich die italienische Gefahr mit
jedem Tage.
In der ersten Jännerwoche 1915 kamen derart beunruhigende
Nachrichten aus dem Süden, daß sich der Armeeoberkomman-
dant veranlaßt sah, beim Allerhöchsten Kriegsherrn auf die un-
haltbare Lage hinzuweisen, die sich durch einen Angriff Italiens
und Rumäniens oder auch nur eines der beiden Staaten für die
Monarchie ergeben mußte. Dies drängte zu raschem Handeln. Es
310
' Iront
ytrsj. mm Ion ° \ fördert Durchbrach
ötussrirh tun% J
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200 Km
Skizze 4. Lage am 1. Mai 1915 vor dem Durchbruch bei Gorlice.
(Hiezu Text Seite 310.)
DIE K A K P A T E N S C H L A C H T
war zu hoffen, daß ein Erfolg gegen Rußland Italien von einem
Eingreifen in den Krieg abhalten würde. Conrad nahm im Dezem-
ber 1914 einen Stoß aus den Karpaten in Aussicht, wobei auch
der Wunsch nach Entsatz der Festung Przemysl eine Rolle spielte.
Der Chef des deutschen Generalstabes lehnte eine Mitwirkung
an dieser Aktion ab, trotzdem Ludendorff dem Plane Conrads
zugestimmt hatte. Falkenhayn trug Bedenken gegen einen Win-
terfeldzug in den Karpaten; auch schien ihm selbst ein be-
schränkter Erfolg gegen die Russen nicht genügend aussichts-
reich. Dagegen schätzte er eine Aktion gegen Serbien höher ein
und versprach sich davon nicht nur eine Rückwirkung auf den
Kriegswillen Italiens und Rumäniens, sondern auch eine Ermuti-
gung Bulgariens zum Anschluß an die Mittelmächte. Die Neu-
tralität Italiens sollte durch Abtretung von österreichischen Ge-
bieten erkauft werden. Dagegen sträubte sich Conrad mit allen
Mitteln. Er beharrte auf einer größeren Aktivität auf dem russi-
schen Kriegsschauplatz und es gelang ihm schließlich, die deutsche
Oberste Heeresleitung zu gewinnen, daß sie am 8. Jänner 1915
zweieinhalb Infanteriedivisionen und eine Kavalleriedivision
hiefür in Aussicht stellte, die mit gleichstarken österreichisch-
ungarischen Kräften als „Südarmee“ unter deutschem Kom-
mando in den Karpaten eingesetzt werden sollten.
Am 11. Jänner kam es zu einer Einigung über die aus den
Karpaten zu führende Offensive, die zu dem schwersten Winter-
feldzug führte, den ein Heer jemals zu überwinden hatte. Mit
einer in der Geschichte der Kriege noch nicht dagewesenen Aus-
dauer rangen die verbündeten Truppen unter den unsäglichsten
Entbehrungen während der ersten Monate des Jahres 1915 um
den Erfolg, der ihnen trotz allem Opfermut versagt blieb.
Falkenhayn trat nunmehr für eine reine Abwehr in den Kar-
paten ein, forderte aber einen überraschenden Schlag gegen
Serbien, der den an den Dardanellen hart bedrängten Türken
zu Hilfe kommen sollte. Conrad hingegen beharrte auf der Fort-
setzung der Offensive gegen Rußland mit einer anderen Stoß-
richtung. In diese Verhandlungen fiel am 20. März eine starke
russische Offensive. Sie ließ Kräfteverschiebungen zur Verstär-
kung der für den Stoß in Aussicht genommenen Gruppe Pflanzer
nicht zu. Das Generalstabswerk hebt die „nie versiegende Zu-
312
„GEBURTSTAG VON GORLICE“
versieht“ Conrads hervor, der das Heraustreten des Feindes aus
dem schützenden Bereiche seiner starken Stellungen b e-
grüßte, weil sich nun die gewünschte Gelegenheit ergebe, die
russische Angriffskraft zu zermürben.
Diesem Massenansturm der Russen war tatsächlich kein Erfolg
beschieden. Das zähe Halten der Front, das nicht zuletzt dem
oft sehr scharfen Eingreifen des Armeeoberkommandos zu
verdanken war, rettete die Monarchie auch vor dieser Invasion.
Die Verluste der Russen überstiegen die der Verbündeten. Be-
sonders machte sich bei ihnen die Einbuße an Kriegsmaterial
und Munition fühlbar, welche die russische Industrie nicht nach-
zuschaffen vermochte.
Die übermenschlichen Anforderungen, die an die österrei-
chisch-ungarischen Truppen gestellt waren, hatten eine starke
Abnützung der Kräfte zur Folge. Alle Mühsal der dreimonatigen
Winterschlacht hatte aber ihren Geist nicht zu brechen vermocht.
Wenige Wochen später standen sie wieder in neuen Kämpfen,
die endlich den hartnäckig erstrebten Sieg bringen sollten. In
die Seele des russischen Soldaten aber hatte die nutzlose Auf-
opferung von Hunderttausenden eine bedenkliche Saat gelegt,
die in kurzer Zeit aufging.
Conrad war auch nach dem Scheitern der Karpatenoffensive
bezüglich der Gebietsabtretungen an Italien nicht gefügiger ge-
worden. Seine heiße Liebe zur Tiroler Erde drängte die staats-
männischen Erwägungen zurück. Er glaubte, den niederschmet-
ternden Eindruck des Ausscheidens Welschtiroler Kaiserjäger
und Kaiserschützen mitten im Krieg durch freiwillige Abtretung
ihrer Heimat nicht verantworten zu können, und drängte immer
verzweifelter nach einem großen Schlag gegen Rußland, der Ita-
lien und Rumänien vom Eingreifen zurückhalten sollte.
Es kam der 1. April 1915. Das Generalstabswerk nennt ihn
den „Geburtstag des Gorlice-Entschlusses“. An
diesem Tage fand eine Aussprache Conrads mit dem deutschen
Militärbevollmächtigten, General von Cramon, statt. Trotz der
stets bewahrten Zuversicht konnte Conrad nicht seine schweren
Sorgen wegen der in den Karpaten hart bedrängten 2. Armee
verhehlen. Cramon ließ deutlich durchblicken, daß deutscherseits
auf eine unmittelbare Stützung der Karpatenfront nicht mehr zu
313
CONRAD BEANTRAGT STOSS BEI GORLICE
rechnen sei; „etwas anderes wäre es, wenn die Lage durch eine
Offensive geändert werden könnte“.
Conrad horchte auf. Das war eine Anregung, die seinem
Wesen entsprach. Die Idee einer Entlastungsoffensive war ihm
während der mehrmonatigen Karpatenkämpfe unablässig vor-
geschwebt. Anfangs März, zur Zeit der schwersten Sorgen, ob
die Front noch halten werde, sollte von der 4. Armee ein Stoß
an und südlich der Straße Gorlice—Jaslo geführt werden. Star-
kes Schneetreiben hatte zu einer Verschiebung dieser Aktion
geführt. Das Armeeoberkommando eröffnete damals dem Armee-
kommando, daß schlechtes Wetter kein Hindernis für eine drin-
gend notwendige Aktion sei, und ordnete den Beginn der Offen-
sive für die Nacht auf den 8. März an. Schnee, Kälte und starke
russische Gegenwirkung hatten aber dieser Operation eine Grenze
gesetzt.
Die Andeutung des Generals von Cramon ließ den alten Plan
Conrads wieder aufleben. Die immer tiefer reichende Einbuch-
tung in der Karpatenfront lud zu einem Stoß aus der Flanke
in der Richtung West—Ost ein. Conrad hatte diese Idee gelegent-
lich einer Besprechung mit Falkenhayn am 11. Jänner am Bres-
lauer Bahnhof bereits ausgeführt. Wenn sie auch im März, mit
unzulänglichen Mitteln unternommen, keinen Erfolg gebracht
hatte, so sprach dies keineswegs gegen die Aussichten eines
kräftigeren Stoßes in derselben Richtung.
Auf Grund der Aussprache mit Conrad depeschierte General
Cramon noch am 1. April an die deutsche Oberste Heeresleitung:
„Exzellenz Conrad ist weitere Unterstützung mehr denn je er-
wünscht, und zwar entweder durch eine Division zum Stützen
der 2. Armee oder durch Offensive stärkerer Kräfte gegen Flanke
und Verbindungen des russischen Angriffes aus Richtung Gor-
lice.“
Am Morgen des 2. April mußte General Cramon nach einer
telephonischen Rücksprache mit Falkenhayn mitteilen, daß dieser
eine Verstärkung der Karpatenfront ablehne. Zur selben Zeit
erbat das deutsche Oberkommando Ost Nachrichten über die
Lage in den Karpaten. Conrad entwickelte in der Antwort seinen
„Gorlice-Plan“. Durch einen mit mindestens 4 neuen Divisionen
aus der Gegend Gorlice—Zboröw geführten Stoß gegen die Ver-
314
VERSCHÄRFTE LAGE I TALIEN — RUMÄNIEN
bindiingen der russischen Karpatenfront sei nach seiner Ansicht
Größeres zu erreichen als durch die Stützung der schwer be-
drängten 2. Armee.
Beunruhigt durch das immer drohendere Verhalten Italiens,
regte Falkenhayn eine Aussprache der Generalstabschefs in
Berlin an, die am 4. April stattfand. Das wesentlichste Thema
bildete die in den Karpaten eben wütende Osterschlacht. Über
den Gorliceplan wurde nicht gesprochen. Am selben Tage aber
erhielt General Cramon von Falkenhayn folgende Depesche:
„Die Frage eines kräftigen Vorstoßes aus der Gegend Gorlice
in Richtung Sanok beschäftigt mich seit längerer Zeit. Die Aus-
führung hängt von der allgemeinen Lage und Bereitstellung der
nötigen Kräfte ab. Vier Divisionen werden nicht genügen, ver-
mutlich vier Armeekorps.“
Falkenhayn zweifelte an der Leistungsfähigkeit der galizischen
Eisenbahnen und erteilte General Cramon den Auftrag, bei
„strengster Geheimhaltung der ganzen Angelegenheit, auch vor
der österreichischen Heeresleitung“, über die Eisenbahnen und
Kommunikationen in Westgalizien zu berichten.
Bei der Rückkehr nach Teschen fand Conrad Nachrichten über
eine weitere Verschärfung der Lage zu Italien und Rumänien
vor. Um einem Angriff dieser neuen Gegner zu begegnen, waren
mindestens 10 Divisionen erforderlich, die der Nordfront ent-
nommen werden mußten. Falkenhayn fand den Augenblick für
Maßnahmen gegen Italien noch nicht für gekommen. Die italie-
nischen Diplomaten sollten mit dem Anbot von Gebietsabtretun-
gen hingehalten und die gegen Italien und Rumänien in Aus-
sicht genommenen Kräfte zu einem die Kriegslage wendenden
Schlag im Westen oder im Osten verwendet werden.
Am 7. April machte Conrad der deutschen Obersten Heeres-
leitung den Vorschlag, mit den deutschen Neuformationen den
Feind durch Flügelangriffe aus Ostpreußen und
Ostgalizien hinter die Weichsel-San-Dnjestr-Linie zurück-
zuwerfen, um freie Hand für andere Ziele zu gewinnen. Auch
dieser Plan wurde von Falkenhayn abgelehnt. Diese Feststellung
sei der Kritik des Generals der Infanterie Alfred Krauß ent-
gegengehalten, der in seiner Schrift „Theorie und Praxis in der
Kriegskunst“ schreibt: „Wäre der Stoß statt bei Gorlice mit
315
„VERNICHTUNGSWILLE“ THEORIE — PRAXIS
gleicher Wucht und ebenso gut vorbereitet aus den Karpaten
den San abwärts geführt worden, wäre er mit einem Angriff
längs der Weichsel verbunden worden, dann wäre auch in Ga-
lizien ein vernichtender, einen großen Teil der russischen Front
ausschaltender Erfolg errungen worden. So konnte man die Rus-
sen nur einfach zurückdrängen.“
Conrad hat daran gedacht, die Russen durch Flügelangriffe
aus Ostpreußen und Ostgalizien anzugreifen — ein Gedanke, der
sich übrigens auch dem jüngsten Strategen auf drängen mußte.
Mit dieser theoretischen Erkenntnis war aber noch nicht deren
praktische Durchführbarkeit gegeben. Conrad hatte alle Mühe
gehabt, Falkenhayn überhaupt für eine Aktion gegen Rußland
zu gewinnen; er mußte sich mit einem bescheidenen Erfolg be-
gnügen und durfte sich nicht der Gefahr aussetzen, die ganze
Aktion in Frage zu stellen, indem er Falkenhayn, der die Trup-
pen beizustellen hatte, seine operativen Absichten aufzwang.
Übrigens bot die bogenförmig stark nach Westen vorsprin-
gende Front auch die Möglichkeit für einen „vernichtenden“
Schlag, falls sich die Russen nicht rasch zum allgemeinen Rück-
zug entschlossen. Conrad ist wohl der letzte, dem bei seinen
militärischen Entschlüssen der „Vernichtungswille“ abgesprochen
werden kann. Auf einem räumlich so ausgedehnten Kriegsschau-
platz und bei solcher Abhängigkeit von dem Verbündeten konn-
ten nicht alle Schlachten und Gefechte mit „Vernichtungs-
willen“ geschlagen werden — ein Wort, das theoretisch außer-
ordentlich gut klingt. Wer aber militärische Operationen lediglich
mit dem Maßstab theoretischer Wahrheiten mißt und die realen
Verhältnisse aus dem Kalkül ausschließt, verfällt nur zu leicht
dem Fehler, durch grundsätzliche Betonung der „Praxis“ zum
„Theoretiker“ zu werden.
Im Westen war nach den verlustreichen Angriffen der Fran-
zosen in der Champagne und der Engländer nördlich des La-
Basse-Kanals eine Erschöpfung der Gegner eingetreten, die es
den Deutschen gestattete, durch Abtrennung der vierten Regi-
menter der Infanteriedivisionen eine Reserve von 14 neuen Di-
visionen zu bilden. Mit der nötigen Artillerie ausgerüstet, konn-
ten diese als vollwertige Kampfeinheiten angesehen werden. Der
Chef des deutschen Generalstabes hatte schon Mitte März 1915
316
FALKENHAYN FÜR GORLICE GEWONNEN
die Möglichkeiten einer Offensive aus Ostgalizien prüfen lassen.
Der Chef des Feldeisenbahnwesens hatte den Auftrag erhalten,
die Versammlungsmöglichkeit von drei deutschen Armeekorps
im Raume Neu-Sandec—Tarnow zu bearbeiten.
Die immer schwieriger werdende Lage in den Karpaten hatte
General Cramon veranlaßt, wiederholt auf die Notwendigkeit
einer Entlastung dieser Front hinzuweisen. Den vereinten Vor-
stellungen gelang es endlich, Falkenhayn zu dem Entschluß zu
bewegen, den deutschen Kraftüberschuß in dem Raum einzu-
setzen, den er dem Chef des Eisenbahnwesens bezeichnet hatte.
Es war der gleiche Raum am Dunajec, den Conrad ganz unab-
hängig davon am 1. April dem General Cramon vorgeschlagen
hatte.
Am 13. April trat die deutsche Oberste Heeresleitung mit kon-
kreten Anträgen, die Durchführung dieser Operation betreffend,
an das Armeeoberkommando heran. Danach sollte eine Armee
von wenigstens 8 deutschen Divisionen mit starker Artillerie
aus dem Westen im Raum Muszyna—Gryböw—Bochnia versam-
1 melt werden, um dann aus der Linie Gorlice—Gromnik in der
allgemeinen Richtung auf Sanok vorzustoßen. Conrad schreibt
zu diesem Entschluß: „Dem General Cramon war es zu danken,
daß meine Idee des Durchbruches durch die Beckenreihe von
Gorlice—Jaslo, wie ich diese Stoßrichtung benannte, bei General
Falkenhayn rührigst vertreten und schließlich im Mai 1915 in
die Tat umgesetzt wurde.“
Die Anregung Falkenhayns, dem geplanten Oststoß dadurch
eine größere Wirkung zu sichern, daß die in den Karpaten
kämpfenden Armeen durch einen weiteren Rückzug die Russen
nachziehen sollten, konnte Conrad seine Zustimmung nicht ge-
ben, hingegen erklärte er sich noch am 13. April telegraphisch
mit der von ihm so eifrig betriebenen Operation in Westgalizien
einverstanden.
Der Einladung Falkenhayns folgend, fuhr Conrad am 14. April
nach Berlin, wo das Nähere über die geplante Offensive per-
sönlich vereinbart wurde. Die aus acht deutschen, zwei öster-
reichisch-ungarischen Infanterie- und einer Kavalleriedivision
zu formierende 11. Armee sollte am Südflügel der k. u. .k.
4. Armee im Raum um Gorlice eingesetzt werden. Gemein-
317
CONRADS WEIT GESTECKTE ZIELE
sam mit dieser sollte die durch zwei schlagkräftige öster-
reichisch-ungarische Divisionen zu verstärkende 4. Armee die
russische Front durchbrechen. Die Karpatenfront hatte zunächst
den Feind festzuhalten, in der Folge aber gleichfalls aus dem
Gebirge vorzustoßen.
Bei dieser Besprechung erfolgte auch die Regelung der Be-
fehlsfrage. Falkenhayn hatte sofort nach seiner Rückkehr die
getroffenen Vereinbarungen in bindender schriftlicher Form dem
Armeeoberkommando übermittelt. Sie bildeten die Grundlage für
die Kriegshandlung, welche die siegreichen Heere der Mittel-
mächte von Westgalizien über Lemberg und Ikest-Litowsk hin-
ausführen sollte.
Wieder war es Conrad, der dieser Offensive ein möglichst
weites Ziel stecken wollte; zumindest sollte die Wiedereroberung
von Lemberg angestrebt werden. Falkenhayn aber wollte die
Mitwirkimg der deutschen Truppen bis zur erwünschten Ent-
lastung in den Karpaten begrenzt wissen, weil ihm immer die
Niederwerfung Serbiens und die Herstellung der Landverbin-
dung von Berlin über Wien nach Konstantinopel als erstrebens-
werteres Ziel vorschwebte, das geeignet schien, Bulgarien end-
gültig für die Sache der Verbündeten zu gewinnen. Ein durch-
schlagender Erfolg auf dem Balkan schien dem Chef des deut-
schen Generalstabes leichter zu erreichen als die Vernichtung
Rußlands, das die unermeßlichen Räume für sich hatte. Italien
sollte bis zur Auswirkung dieses entscheidenden Schlages durch
territoriale Zugeständnisse vom Eingreifen abgehalten werden.
Mit dem Trost: „Jedes Opfer würde in solchem Falle nur ein
vorübergehendes sein“, trachtete er Conrad zu gewinnen.
Das Verhalten Österreich-Ungarns gegenüber Italien wurde in
einer Sitzung in Wien am 21. April in Gegenwart des Kaisers
Franz Joseph noch einmal durchberaten. Selbst der greise Mon-
arch schloß sich der Auffassung an, daß Italiens überspannte
Forderungen nicht kampflos erfüllt werden könnten. Die Stel-
lung Deutschlands zu Italien bedurfte dringend einer Klärung.
Bei einer Besprechung der Außenminister in Berlin am 24. April,
woran auch die beiden Generalstabschefs teilnahmen, versicherte
der deutsche Reichskanzler Österreich-Ungarn der treuen Ge-
folgschaft des Reiches in der italienischen Frage.
318
SIEGESZUG DER VERBÜNDETEN
Der Plan Falkenhayns, durch die Diplomatie ein Eingreifen
Italiens und Rumäniens solang als möglich zu verhindern, ver-
sprach wenig Erfolg. Weit verläßlicher war die von Conrad be-
harrlich betriebene militärische Aktion gegen Rußland, die sich
in Westgalizien vorbereitete. Mit vorbildlicher Gründlichkeit
wurden alle Maßnahmen getroffen, um die Versammlung der in
Eiltransporten heranrollenden Truppen geheimzuhalten. Am
Morgen des 2. Mai entrollte sich dann das gewaltige Schlachten-
drama, dessen Beginn das Generalstabswerk nach den Aufzeich-
nungen des Generals der Infanterie von Frangois, des Führers
des im Brennpunkt der Ereignisse gestandenen XLI. deut-
schen Reservekorps, so fesselnd schildert.
Dem geglückten Durchbruch bei Gorlice folgte ein Siegeszug
der Verbündeten, der die gesamte russische Front ins Wanken
brachte. Hunderttausende Gefangene und unermeßliche Kriegs-
beute fielen in die Hände der Sieger, weite Räume fruchtbarsten
Bodens eröffneten Hilfsquellen von unschätzbarem Wert für die
Versorgung der verbündeten Armeen. Am 22. Juni, nach sechs-
wöchigen Kämpfen mit den sich immer wieder stellenden Russen,
zog der Kommandant der 2. Armee, General der Kavallerie Böhm-
Ermolli, in die Hauptstadt Galiziens ein. Der moralische Ein-
druck der Wiedereroberung von Lemberg übertraf fast die mili-
tärische Bedeutung dieses Erfolges. Besonders nachhaltig war
die Rückwirkung der russischen Niederlage auf den Balkan. Die
Serben stellten alle Offensivabsichten ein, in Rumänien und
Griechenland gewannen die Verfechter der Neutralität wieder
die Oberhand, Bulgarien erkannte die Vorteile seines Anschlusses
an die Mittelmächte und die Türkei wurde vor dem Zusammen-
bruch gerettet, indem die zur Unterstützung der an den Darda-
nellen kämpfenden Ententetruppen bestimmten, bei Odessa ver-
sammelten russischen Kräfte nach Galizien geworfen werden
mußten.
Conrad drängte immer weiter zu einem vernichtenden Schlag,
der Rußland womöglich ganz ausschalten sollte. Noch am 22. Juni
ergingen die Befehle für die Fortsetzung der Verfolgung, die die
Verbündeten noch weiter in das Landinnere führten. Bis August
dieses Kriegsjahres durchschritten die verfolgenden Armeen
über 500 Kilometer bis Brest-Litowsk in ununterbrochenen
319
DEUTSCHE URTEILE ÜBER GORLICE
Kämpfen. 120 Infanterie- und 20 Kavalleriedivisionen trieben
125 russische Infanterie- und 35 Kavalleriedivisionen vor sich
her. „Gegenüber der Bewegung solch gewaltiger Massen ver-
blaßte selbst die Erinnerung an Napoleons russischen Feldzug.“
Rußland war aber noch nicht reif für den Frieden, sein Men-
schenmaterial, die Quelle seiner militärischen Kraft, war noch
nicht erschöpft. Der Krieg im Osten ging weiter.
In österreichischen Militärkreisen gilt es als feststehend, daß
die Idee für den Durchbruch bei Gorlice von Conrad stammt. Es
ist interessant, das Urteil des deutschen Generals Max Hoff mann
zu hören, der im allgemeinen die Leistungen der österreichisch-
ungarischen Truppen wenig freundlich beurteilt. In seinem Werk
„Der Krieg der versäumten Gelegenheiten“ heißt es: „Schon
vor einiger Zeit hatte General von Conrad bei einer mündlichen
Aussprache mit General von Falkenhayn diesem die Idee aus-
einandergesetzt, bei Gorlice die russische Front zu durchbrechen
und die vor den Karpatenpässen stehenden Russen aufzurollen.
Der Plan war wohl der einzige, der damals Aussicht auf Erfolg
bot, die Karpatenfront rechtzeitig zu entlasten. Daß der Durch-
bruch bei Gorlice zur Zeit die beste Idee war, hatte bei der
Besprechung im Hotel Adlon in Berlin General von Falkenhayn
auch zugegeben, hatte es aber abgelehnt, die dazu erforderlichen
Truppen zur Verfügung zu stellen. Jetzt jedoch sah General von
Falkenhayn ein, daß etwas geschehen müsse, um die Karpaten-
front vor einem Zusammenbruch zu schützen. General von Fal-
kenhayn griff deshalb auf den Plan General Conrads zurück, bei
Gorlice durchzubrechen. In seinem Buche schweigt General von
Falkenhayn über die Urheberschaft der Idee. Wir haben wäh-
rend des Feldzuges häufig Veranlassung gehabt, über die Unzu-
länglichkeit der österreichisch-ungarischen Armee zu klagen,
desto mehr aber haben wir Veranlassung, Gutes, was uns von
seiten unseres Verbündeten geworden ist, anzuerkennen. Gut
waren die Ideen des österreichisch-ungarischen Generalstabs-
chefs alle, was man von den Ideen unserer Obersten Heeres-
leitung nicht durchwegs behaupten kann — das Unglück des
genialen Mannes bestand darin, daß das Instrument, seine Ideen
in die Tat umzusetzen, ihm fehlte.“
Der in dieser Frage wohl am besten unterrichtete General-
SSO
Tafel XVa KAISER KARL MIT CONRAD AM PASSO DELLA VENA
15. Mai 1917
Tafel XV b CONRAD MIT SEINEM GENERALSTABSCHEF
Generalmajor Richard Müller
CONRADS EINSTELLUNG ZU GORLICE
leutnant von Cramon, der die Verhandlungen zwischen Conrad
und Falkenhayn führte, schreibt in seinen Erinnerungen „Unser
österreichisch-ungarischer Bundesgenosse im Weltkriege“: „Es
gibt in jeder Lage nur einige wenige wirklich gangbare Lösun-
gen. An der Ostfront bot sich im Frühjahr 1915 eigentlich nur
diese eine. Sie wurde nicht wie der Stein der Weisen von einem
einzigen erfunden, sondern drängte sich allen denen auf, die
über die Verhältnisse bei Freund und Feind unterrichtet waren
und nach einem Ausweg aus der Sackgasse der Karpatenschlacht
suchten. An den Tatsachen läßt sich nicht rütteln: Conrad hat der
Obersten Heeresleitung Gorlice als Angriffspunkt bezeichnet und
nicht die Oberste Heeresleitung ihm. Falkenhayn verfügte über
Truppen, bestimmte die Höhe des Einsatzes und damit die Trag-
weite des Sieges. Beide haben ihren Anteil an Gorlice und neben
ihnen alle, die dort gekämpft und geblutet haben. Wem es Freude
bereitet, der möge nun auf Heller und Pfennig ausrechnen, wie
groß der Anteil des einen im Verhältnis zum andern ist.“
Conrads Einstellung zum Sieg von Gorlice beleuchtet ein Pri-
vatbrief vom 10. Mai, als sich dessen Tragweite auszuwirken
begann: „... peinlich ist mir, daß man mich anläßlich der Er-
folge unserer und der deutschen Truppen an die große Glocke
bringt. Mir ist nichts widerlicher, als mehr zu scheinen, als ich
bin, und so erzeugen Gratulationen in mir ein unerträglich un-
angenehmes Empfinden. Es ist mir daher auch penibel, daß mich
Se. Majestät mit einem Allerhöchsten Handschreiben und der
Verleihung der Kriegsdekorationen zu meinen Großkreuzen aus-
gezeichnet hat. Schließlich ist der Erfolg hier jetzt doch nur
dem Eingreifen der Deutsehen zu danken, welche so viele Trup-
pen hersandten. Allerdings waren die Vorbedingungen für den
jetzigen Vorstoß durch die Schlacht von Limanowa und die große
Karpatenschlacht geschaffen worden.“
In einem anderen Brief schreibt Conrad: „Welchen Anteil
man mir an etwaigen Erfolgen zumißt, ist mir vollkommen gleich-
gültig, ich habe von Kindheit an nur einem großen beruflichen
Ziele gelebt, und das war: Macht und Ansehen unse-
rer Monarchie!“
Angesichts des gewaltigen Erfolges der Verbündeten kann die
Frage verstummen, wem das Verdienst daran gebührt. Es steht
21
321
ERFOLG ENGSTER WAFFENBRÜDERSCHAFT
außer Zweifel, daß Conrad die Idee eines Durchbruches im
Raume von Gorlice geraume Zeit vorher erwogen und empfohlen
hat Ebenso zweifellos steht fest, daß die Durchführung dieses
Planes nur durch die Beistellung deutscher Truppen möglich
war, weil die an allen Fronten schwer kämpfende österreichisch-
ungarische Armee über keine verfügte. Die deutsche Oberste
Heeresleitung hat die Idee Conrads zur Tat werden lassen. Con-
rads Verdienst ist das unentwegte Festhalten an dem als richtig
erkannten Plan, das schließlich auch die deutsche Oberste Heeres-
leitung zur Mitwirkung bewog.
Das Verdienst der Führung besteht somit auf beiden Seiten.
In engster Waffenbrüderschaft haben die verbündeten Truppen
den Siegeszug vollendet, den ihnen eine zielbewußte Führung
gewiesen hatte.
Die zweite Ehe des F e 1 d m a r s c h a 11 s
In das Kriegsjahr 1915 fällt die Wiederverehelichung Con-
rads. Das Lebensbild des Feldmarschalls wäre nicht vollständig,
wollte man über dieses Ereignis einfach hinweggehen. Er hat
seine zweite Ehe in vorgerücktem Alter zu einer Zeit geschlossen,
da das Vaterland im blutigen Ringen um Sein oder Nichtsein
stand, Armee und Volk in banger Sorge nach dem Feldherrn
blickten, dem der Schutz des Reiches anvertraut war.
An diese Eheschließung haben sich unzählige Kommentare ge-
knüpft: sachliche und wohlwollende, mißgünstige und frivole.
Diesen muß zunächst entgegengehalten werden, daß der in kirch-
lichen Angelegenheiten über korrekte Kaiser Franz Joseph nach
Beseitigung der religiösen Schwierigkeiten (Conrads zweite Ge-
mahlin war eine nach katholischem Ritus verheiratete, geschie-
dene Frau) mit Handschreiben vom 16. Oktober 1915 die Be-
willigung der Ehe des Generalobersten Conrad von Hötzendorf
mit Frau Virginia Agujari-Karäsz erteilt hat. Die Gattin war
nach der Scheidung Protestantin und durch Adoption Ungarin
geworden. Conrad blieb Katholik. Am 19. Oktober 1915 fand
in der protestantischen Kirche in der Dorotheergasse in Wien,
322
DIE FRAU IM SCHICKSAL GROSSER MÄNNER
nur in Anwesenheit der Zeugen, die Trauung statt. Conrad
kehrte noch am selben Tage nach dem Standorte des Armeeober-
kommandos zurück.
Dieser Bund bildete den Abschluß einer neunjährigen
Werbung um die Frau, zu der Conrad schon bei der ersten Be-
gegnung eine leidenschaftliche Neigung gefaßt hatte. Die Aus-
sichtslosigkeit, sie jemals als Gattin heimführen zu können, hatte
einen tiefen Schatten auf sein Dasein geworfen.
Es ist ein heikles Beginnen, in die Lebensschilderung eines
großen Mannes die Romantik seiner Liebe einzuflechten. Die
Pflicht zu historischer Wahrheit veranlaßt mich, auch in diese
verborgene Falte von Conrads Innenleben zu dringen, schon um
übelwollenden Urteilen die Berechtigung zu nehmen. Als Zeuge
des Entstehens und Wachsens dieser Neigung stand ich vor einem
Rätsel, wie zwei so ausgesprochen tiefe Gefühle — die volle Hin-
gabe an den Beruf und eine aufwühlende Leidenschaft — einen
Menschen ohne physischen und seelischen Zusammenbruch be-
herrschen konnten. Wahrhaft erschütternd wirkt die Vorstellung,
daß der mit Sorgen überbürdete Chef des Generalstabes nach des
Tages Mühe bis in die späten Nachtstunden seinem Tagebuch
die Leiden seines Herzens anvertraute.
Es hieße Conrads Wesen wie das seiner Gemahlin verkennen,
wollte man diese Neigung mit jenem Maßstab messen, der sonst
an Verbindungen gelegt wird, die außerhalb der gesellschaft-
lichen Gepflogenheiten geschlossen werden. Solch ein oberfläch-
liches Urteil würde übersehen, daß sich zwei hochstehende Men-
schen, den verschiedensten Verhältnissen entstammend, durch
eine Fügung des unerforschlichen Geschickes zu edelster Gemein-
schaft zusammengefunden hatten.
Conrad teilt in dem späten Erwachen einer elementaren,
alles überragenden Leidenschaft für eine Frau das Schicksal
vieler großer Männer. Von früh an ihrer Berufung folgend,
opfern diese zu außergewöhnlichen Leistungen bestimmten Men-
schen die Kraft ihrer Jugend, das Können ihres reifen Mannes-
alters der Pflicht und finden in dem rastlosen Drang nach auf-
bauendem Schaffen weder Zeit noch Muße, sich Regungen hinzu-
geben, die ihren Geistesflug hemmen. Erst wenn mit zunehmendem
Alter das Bedürfnis erwacht, die Bürde des erschöpfenden Da-
21*
323
VERTRAUTE DER SORGEN
seinskampfes mit einem gleichgestimmten Menschen zu teilen,
die eigenen Teistungen in deren Spiegel zu sehen — dann erst
tritt die Frau in ihr Leben. Sie ist die ersehnte Ergänzung, die
innere Stütze, wenn sich Ermüdung oder Zweifel an der eigenen
Kraft einzustellen beginnen.
Dies war die Bedeutung der zweiten Frau in Conrads Leben.
Mit eiserner Selbstzucht hat er das bittere Leid getragen, als
die geliebte Frau mit dem Hinweis auf die Familie, die sie
nicht verlassen konnte, ihm die Hoffnung nehmen mußte, je
die Seine zu werden. Der Tag gehörte der Erfüllung seiner ver-
antwortungsvollen Pflichten; wenn sich aber die Nacht über das
erschöpfende Tagewerk senkte, dann griff der einsame Mann
zur Feder, um dem Tagebuch das Leid seiner Seele anzuver-
trauen, das der geliebten Frau nach seinem Tode sagen sollte,
was sie ihm war.
Ihr Einfluß hatte in den Tagen begonnen, da Conrad unter
der Last seiner Verantwortung zusammenzubrechen drohte. Ge-
duldig schenkte die hingebungsvolle Freundin den Schilderun-
gen der beruflichen Schwierigkeiten ein aufmerksames Gehör
und verstand es, durch Eingehen auf seine Klagen und eine ver-
nünftige Kritik in Conrad das Gefühl vollen Verständnisses zu
erwecken. So war diese Frau, noch ehe sie seine Gattin wurde,
die Vertraute seiner Sorgen. In die Tragik jahrelangen Ver-
zichtens fiel plötzlich während des Krieges wie ein Sonnenstrahl
die Hoffnung auf Erfüllung des erträumten Glücks. Die treue
Freundin überwand die Bedenken vieler Jahre und folgte Con-
rad zum Altar.
Die Frühjahrsoffensive 1916 gegen Italien
(Hiezu Skizze 5.)
Das dritte Kriegsjahr war ins Land gezogen. Zu den schweren
Verlusten an Menschenleben gesellten sich Entbehrungen aller
Art, welche die Kampfkraft des Heeres zu lähmen begannen
und auch im Hinterland schwer© Sorgen auslösten. In steigender
Friedenssehnsucht blickte das Vaterland erwartungsvoll zu dem
Feldherrn auf, der die österreichisch-ungarischen Truppen eben
324
LAGE DRÄNGT ZUR ENTSCHEIDUNG
zum Siege über den mächtigsten Feind geführt hatte. Conrad
fühlte die Schwere seiner Verantwortung.
Der durch Gorlice erzwungene Rückzug der Russen hatte einen
gewaltigen Geländegewinn gebracht. Die hart mitgenommenen
russischen Armeen wälzten sich immer weiter in ihr unermeß-
liches Reich zurück, wo sie bald nicht mehr zu fassen waren.
Wohl hatte Conrad versucht, den Südflügel des weichenden Fein-
des durch eine Umfassung aus dem Raume von Rowno (die
schwarz-gelbe Offensive) vernichtend zu schlagen, doch war ihm
ein Erfolg trotz der glänzenden Anlage der Operation versagt
geblieben. Die Russen waren nur frontal zurückgedrängt, nicht
geschlagen. Ihr unerschöpfliches Menschenmaterial gestattete
eine Wiederauffüllung der Stände, eine Fortsetzung des Krieges.
Schon machte sich gegen Ende 1915 eine Versteifung des Wider-
standes fühlbar und bald konnten die Russen zu einer neuen
Offensive ausholen.
Die Lage drängte zur Beendigung des Krieges. Jeder Tag
brachte eine Stärkung der Feinde an Zahl und Kampfmitteln
und das Kräfteverhältnis mußte sich immer ungünstiger für die
Mittelmächte auswirken, je länger die Entscheidung hinausge-
schoben wurde. Wohl standen 1915 die Verbündeten auf allen
Kriegsschauplätzen weit im Feindesland; zur Festhaltung dieser
Fronten war aber ein großes Aufgebot von Soldaten notwendig,
deren Versorgung immer schwieriger wurde.
Der Zusammenbruch der russischen Front hatte Italien nicht
abgehalten, Österreich-Ungarn den Krieg zu erklären. Seine Sol-
daten waren zwar nach mehr als sieben Monaten nicht viel
weiter gekommen als bei Ausbruch des Krieges, die Abwehr
der Angriffe an der Isonzofront band aber beträchtliche Kräfte.
Die Unfähigkeit der Entente, sich im Jahre 1915 zu einer
einheitlichen Aktion aufzuraffen, hatte die militärischen Erfolge
der Mittelmächte ermöglicht. Es lag aber die Annahme nahe,
daß der Feind im kommenden Jahre aus diesem Fehler lernen
würde. Dieser zu erwartenden Aktion sollte womöglich zuvor-
gekommen werden.
Conrad hatte schon bei Beginn des Krieges gegen Italien die
Absicht, diesem neuen Feind offensiv entgegenzutreten, doch war
hiezu die deutsche Mitwirkung unerläßlich. Österreich-Ungarn
325
STOSS AUS SÜDTIROL
verfügte angesichts der Lage am nördlichen Kriegsschauplatz nicht
über den hinreichenden Kraftüberschuß, um diese Aktion allein
durchzuführen. Schweren Herzens mußte Conrad infolge der
Ablehnung einer deutschen Unterstützung auf die Idee verzich-
ten, Italien durch einen kurzen Schlag abzuschütteln, wie es 1848
und 1849 Radetzky und 1866 dem Erzherzog Albrecht gelungen
war. Er hat aber den Plan einer Offensive gegen Italien niemals
aufgegeben.
Die bisherige Kriegführung Italiens hatte den Eindruck er-
weckt, daß Graf Cadorna seine Soldaten nur sehr vorsichtig
gegen die kriegserprobten österreichisch-ungarischen Truppen
führen wolle. Dieser Umstand sollte ausgenützt werden, um dem
Gegner nicht Zeit zu lassen, sich an den Krieg zu gewöhnen,
seine Schlagkraft zu erhöhen. Deshalb betraute Conrad den
Leiter der italienischen Gruppe beim Armeeoberkommando,
Oberstleutnant Schneller, mit der Aufgabe, eine Studie über die
zweckmäßigsten Operationen auszuarbeiten. Dieses Elaborat lag
bereits am 19. Juni 1915, wenige Wochen nach Ausbruch des
Krieges mit Italien, vor. Der Chef des Generalstabes hoffte da-
mals noch immer, seine deutschen Amtskollegen für eine gemein-
same Operation auf Grund eines konkreten Planes zu gewinnen.
Die zahlreichen Operationsentwürfe aus der Friedenszeit rech-
neten alle mit dem Hauptstoß in der Venetianischen Ebene über
den Tagliamento. Der Plan des Oberstleutnant Schneller baute
sich auf einen Stoß aus Südtirol, weit in den Rücken der am
Isonzo stehenden italienischen Hauptkräfte, auf. Diesen Stoß
sollte eine Angriffsstaffel von etwa zehn bis elf Divi-
sionen führen, der die Aufgabe zufiel, die italienischen Grenz-
befestigungen binnen zwei oder drei Wochen zu durchbrechen.
Nach dieser Leistung mußte mit der Erschöpfung der Gefechts-
kraft der ersten Staffel gerechnet werden, weshalb für die Aus-
nützung des Erfolges, durch einen unmittelbar darauffolgenden
Vorstoß in die Ebene, eine neue Staffel frischer Truppen bereit-
zustellen war.
Bei den im Frieden angestellten Erwägungen Conrads hatte
die Schwierigkeit der Überwindung der italienischen Grenzbefe-
stigungen eine große Rolle gespielt, weil hiezu viel schwere Ar-
tillerie notwendig war, die wir nicht besaßen. Um so auffälliger
826
BEMÜHUNG UM DEUTSCHE MITWIRKUNG
ist es, daß er sieh so bald zu der Stoßrichtung aus dem Gebirge
bekehrte, die fortan bei allen Aktionen gegen Italien im Vor-
dergrund blieb. Auch die Trennung der Kampfhandlungen in die
„Durchbruchsstaffel“ und die zur Erweiterung des Er-
folges bestimmte „M a r s ch s t a f f e 1“ hat sich Conrad derart
zu eigen gemacht, daß er daran auch gegen die Bedenken der
zur Durchführung der Aktion bestimmten höheren Führer fest-
hielt. Zur Unterstützung des Hauptstoßes sollte eine Gruppe aus
Kärnten einen Angriff gegen den oberen Tagliamento führen,
während die Isonzofront möglichst viele gegnerische Kräfte zu
binden hatte. Der Beginn der Operationen aus dem Gebirge
war für den Monat September in Aussicht genommen, so daß
nach Überwindung des Widerstandes im Gebirge die siegreichen
Truppen im Oktober die Kämpfe in der Ebene aufgenommen
hätten.
Der Operationsentwurf des Oberstleutnant Schneller rechnete
mit einer Unterstützung durch deutsche Truppen, die die Marsch-
staffel stellen sollten, weil die österreichisch-ungarischen Streit-
kräfte nicht hinreichten, um die für die Gesamtoperation erfor-
derlichen 28 bis 30 Divisionen freizumachen. Conrad verschloß
sich nicht der Schwierigkeit, die Zuweisung der erforderlichen
deutschen Kräfte bei Falkenhayn durchzusetzen. Je intensiver
er sich aber mit der Studie des Oberstleutnant Schneller be-
schäftigte, desto mehr steigerte sich seine Hoffnung, daß ein Er-
folg gegen den nach den bisherigen Erfahrungen moralisch
schwächeren Gegner auch mit geringeren Kräften erkämpft wer-
den könne. Conrads Vertrauen in die Stoßkraft der österrei-
chisch-ungarischen Truppen festigte in ihm die Überzeugung, daß
ihr Elan die mangelnde Kraft ersetzen werde. Während Oberst-
leutnant Schneller und der Chef der Operationsabteilung, Gene-
ralmajor Metzger, zu einem möglichst frühzeitigen Beginn der
Offensive drängten, vertrat Conrad die Meinung, daß an die
Durchführung dieser Aktion erst dann gedacht werden könne,
wenn an den anderen Fronten insgesamt 20 Divisionen frei
würden. In diesem Sinne wurde auch das Kommando der Süd-
westfront unterrichtet, das die Offensive vorzubereiten hatte.
Conrad hatte zum Kommandanten der Südwestfront, General-
oberst Erzherzog Eugen, das größte Vertrauen. Als nach dem
327
ERZHERZOG EUGEN
Mißgeschick in Serbien der Allerhöchste Kriegsherr zu der Er-
kenntnis gelangt war, daß der Kommandant der Balkanstreit-
kräfte das Vertrauen seiner Truppen eingebüßt habe, wurde der
Erzherzog, der sich trotz seiner angegriffenen Gesundheit bei
Kriegsbeginn zur Verfügung gestellt hatte, für das Kommando
der aus der 5. und 6. neu zu formierenden Armee vorgeschlagen.
Erzherzog Eugen, der sich in der ganzen Armee besonderer Be-
liebtheit erfreute, dessen Name die Erinnerung an Prinz Eugen
weckte und dessen Ahnen, Erzherzog Karl und Albrecht, zu
den volkstümlichen Feldherren des Reiches zählten, bot die Ge-
währ dafür, bei den Balkanstreitkräften mit Jubel begrüßt zu
werden.
Über Antrag des Armeeoberkommandos war dem Erzherzog
der Feldmarschalleutnant Alfred Krauß als Generalstabschef zu-
geteilt worden. Als Italien der Monarchie den Krieg erklärte,
wurde Erzherzog Eugen, der in einer Denkschrift für das Her-
anziehen „des letzten Mannes der Feldformationen der 5. Armee
gegen den neuen Feind“ eingetreten war, zum Kommandanten
der Südwestfront ernannt.
Im Sommer 1915 waren alle Kräfte der Mittelmächte durch
den Feldzug gegen Rußland gebunden; hierauf folgte die Erobe-
rung von Serbien. Nachdem an diesen Fronten eine Entlastung
eingetreten war, drängte sich als nächste Aktion die Abrechnung
mit Italien auf. Deutschland befand sich in dieser Zeit noch
nicht im Kriegszustand mit Italien, eine deutsche Unterstützung
war daher nur in der Form möglich, daß österreichisch-unga-
rische Truppen an anderen Fronten durch deutsche Verbände
abgelöst wurden. Der Schlag gegen Italien mußte geführt wer-
den, bevor sich Rußland von seiner Niederlage erholt und zu
neuer Tatkraft aufgerafft hatte.
Alle diese Erwägungen waren Gegenstand der Besprechungen
Conrads mit Falkenhayn am 10. Dezember 1915 in Teschen.
Conrad sah damals nur zwei Möglichkeiten, den Krieg zu been-
den : den Angriff gegen Frankreich oder gegen Italien. Letzteren
hielt er für den aussichtsreicheren. Conrad schied von Falken-
hayn mit der Überzeugung, ihn wenigstens zum Erwägen seiner
Vorschläge angeregt zu haben. Wenige Tage später aber kam
eine glatte Ablehnung Falkenhayns. Der deutsche Generalstabs-
328
-*r~
* N.
Skizze 5b. Frühjahrsoffensive 1916 gegen Italien. (Siehe Text Seite 324.)
GLATTE ABLEHNUNG FALKENHAYNS
chef äußerte Bedenken gegen die geringe Zahl von Divisionen
und schweren Geschützen, die Conrad für ausreichend hielt, um
Italien niederzuringen: er versprach sich von dieser Aktion
keinen kriegsentscheidenden Erfolg. Hingegen trat Faikenhayn
mit der Idee hervor, wenn Österreich-Ungarn schon über einen
Kraftüberschuß verfüge, diesen zur Ablösung deutscher Ver-
bände an den verschiedenen Fronten zu verwenden, die dann
als einheitliche Gruppe für größere Unternehmungen auftreten
könnten.
Conrad bemühte sich, seinen deutschen Kollegen zu überzeu-
gen, daß die Kriegsziele der Mittelmächte nacheinander
anzustreben seien. So wie Serbien erst nach Niederringung
Rußlands erobert werden konnte, so sei durch die am Balkan
freiwerdenden Kräfte zunächst Italien abzutun, worauf man mit
Frankreich abrechnen könne. Darauf erfolgte die Mitteilung,
daß Falkenhayn nicht abgeneigt sei, auch Italien den Krieg zu
erklären, falls es sich als notwendig erweisen sollte. Conrad
erbat für diesen Fall gebirgsgewohnte deutsche Truppen, wie
das Alpenkorps oder bayrische Divisionen, für die „Durch-
bruchstaffel“.
Alle Überredungskunst scheiterte aber an Falkenhayns grund-
sätzlicher Ablehnung einer Aktion gegen Italien. Der deutsche
Generalstabschef hatte sich innerlich bereits so sehr auf die Idee
eines entscheidenden Schlages gegen Frankreich festgelegt, daß
er keiner anderen Auffassung mehr zugänglich war. Falkenhayn
sah in England den gefährlichsten Feind Deutschlands. Das
Britische Reich war nur zu treffen, wenn dessen engster Verbün-
deter auf dem Festlande — Frankreich — niedergerungen wurde.
Er war außerdem überzeugt, daß ein durchschlagender Erfolg
im Westen nicht mehr in einer einzigen Schlacht zu erreichen
war, und baute auf eine Kampfmethode, welche die französische
Widerstandskraft durch fortgesetzte Angriffe erschöpfen sollte.
Hiefür erschien ihm der Angriff auf das tief in die deutsche
Front ragende Verdun geeignet, da zu erwarten stand, daß die
Franzosen schon aus Prestigegründen alles daransetzen würden,
diesen Raum zu behaupten. In lang andauernden Kämpfen hoffte
Falkenhayn, hauptsächlich durch den Einsatz einer überlegenen
schweren Artillerie, den Franzosen wesentlich größere Verluste
329
VERDUN
zuzufügen, als sie die Deutschen erleiden würden, was zu einer
Zermürbung der Moral und zum Zusammenbruch der französi-
schen Armee führen sollte.
Aus diesen Erwägungen reifte der verhängnisvolle Entschluß
der Berennung Verduns, die mit schweren eigenen Verlusten
endete, ohne die erhoffte Zermürbung der französischen Armee
erreicht zu haben.
Am selben Dezembertag 1915, da Falkenhayn beim Deutschen
Kaiser seinen Plan durchgesetzt hatte, fand eine Besprechung
der beiden Generalstabschefs in Berlin statt. Conrad erfuhr von
dem „Verdunplan“ nichts.
In die Zeit der Jahreswende 1915/16 fällt die scharfe Ausein-
andersetzung der beiden Chefs wegen der angeblich vertrags-
widrigen Verwendung der Balkanstreitkräfte durch Conrad zur
Eroberung von Montenegro. Diese höchst bedauerlichen Unstim-
migkeiten haben die gesamte Kriegführung der Mittelmächte
derart beeinflußt, daß in der Folge jeder der Feldherren auf
eigene Faust operierte, daß sich ihre Kräfte zersplitterten und
jeder Erfolg in Frage gestellt war.
Das Kriegsjahr 1915 hatte die Zweckmäßigkeit des gemein-
samen Handelns der Verbündeten erwiesen. Das Auseinander-
gehen der Ziele im Jahre 1916 mußte zu schweren Folgen füh-
ren, weil die Gegner der Mittelmächte aus den Fehlern des
Vorjahres gelernt hatten. Es gelang ihnen tatsächlich, die stark
hergenommenen Russen zu erneuter Aktivität zu bewegen, um
im Westen freie Hand zu gewinnen. Schon Ende Dezember 1915
machte sich ein Druck der Russen gegen die österreichisch-un-
garische Ostflanke fühlbar; im Jänner folgte eine Aktion an der
Strypa und ein Massenangriff in der Bukowina. Diese Angriffe
scheiterten zwar an der geschickten Führung wie an der Zähig-
keit und Ausdauer der wackeren Truppen, aber sie banden
dauernd Kräfte.
Der persönliche Zwist zwischen Conrad und Falkenhayn fand
Ende Jänner 1916 einen versöhnlichen Abschluß. Das günstige
Ergebnis der Unternehmungen gegen Montenegro und Albanien
erleichterte es Conrad, die Hand zur Versöhnung zu reichen,
dem vor allem Persönlichen an der Offensive gegen Italien ge-
legen war, von der er die Beendigung des Krieges erhoffte. Ge-
330
OHNE DEUTSCHE UNTERSTÜTZUNG
legentlich der Geburtstagsfeier des Deutschen Kaisers sahen sich
die beiden Chefs am 27. Jänner 1916 wieder. Conrad begann in
ungebrochener Beharrlichkeit sofort von der Offensive gegen
Italien zu sprechen. Nach Teschen zurückgekehrt, forderte er Ge-
neral Cramon auf, zugunsten dieses Planes auf Falkenhayn ein-
zuwirken, da er ohne deutsche Hilfe undurchführbar schien.
Auch dieser Versuch mißlang. Am 3. Februar fuhr Conrad nach
Pleß, um Falkenhayn mit aller Beredsamkeit für seine Absichten
zu gewinnen. „Es war vergebliche Mühe“, schreibt das General-
stabswerk. „Zu dieser Zeit waren die deutschen Geschütze schon
vor Verdun auf gefahren und die Angriffsdivisionen stellten sich
zu dem gigantischen Ringen bereit, das am 13. Februar beginnen
sollte und nur der schlechten Witterung wegen erst am 21. ein-
setzte.“
Ebenso starr blieb von nun an auch Conrad bei seinen Plänen.
Am 6. Februar ergingen die ersten Richtlinien für den Angriff
im Südwesten, wobei für die Formierung der „Marschstaffel“ auf
deutsche Truppen verzichtet wurde. Die Stoßstaffel sollte aus
14 Divisionen und 60 schweren Batterien bestehen. Der unter
Kommando des Generals der Kavallerie Dankl zu formierenden
11. Armee fiel die scharf umrissene Aufgabe zu, „zwischen der
Etsch und dem Suganatal mit gut zusammengehaltener Haupt-
kraft über die Hochfläche von Folgaria—Lavarone auf Thiene—
Bassano vorzustoßen“. Das Armeeoberkommando rechnete mit
der Formierung einer Armee, die hinter der 11. eingreifen sollte,
um nach dem Austritt aus dem Gebirge zur Ausnützung des Er-
folges eingesetzt zu werden. Das Heeresgruppenkommando ver-
trat eine andere Auffassung.
Erzherzog Eugen, der sich lange schon mit dem Plan beschäf-
tigt hatte, dem „kräfteverzehrenden, unfruchtbaren Stellungs-
kriege“ an der Südwestfront durch aktives Handeln ein Ende
zu bereiten, legte sehr bald seine Ansichten über die geplante
Operation vor. Sie wich von dem Entwurf Conrads insofern ab,
als der Erzherzog einen breiteren Raum für den Stoß in Aussicht
nahm und die ungewöhnliche Staffelung von zwei Armeen hin-
tereinander verwarf.
Das Armeeoberkommando nahm vorläufig hiezu noch nicht
endgültig Stellung. General der Kavallerie Dankl hatte einen
331
■
WEISUNGEN FÜR DIE VORBEREITUNGEN
Antrag über die von der 11. Armee zu lösende Aufgabe zu
stellen.
Der vom Kommando der Südwestfront beabsichtigte Einsatz
der zu bildenden 8. Armee nicht hinter, sondern neben
der 11. Armee stieß auf Conrads entschiedene Ablehnung.
Er berief sich auf die Erfahrungen auf verschiedenen Kriegs-
schauplätzen: Für das erste entscheidende Ziel des „Durch-
bruches“ müsse die geschlossene, tief gegliederte 11. Armee und
die gesamte Artilleriekraft mit voller Wucht eingesetzt werden.
Nur ein solches Vorgehen auf eng begrenztem Raume ließe er-
warten, daß die 11. Armee ihre Aufgabe aus eigener Kraft
durchführe. Die nachfolgende 3. Armee sollte nicht vorzeitig
verausgabt werden, sondern für weitere, nicht abzusehende Mög-
lichkeiten in der Hand des Gruppenkommandos verbleiben. Con-
rad empfahl, die ersten Ziele nicht zu weit zu stecken, damit
die Wucht des Stoßes nicht durch die bei der Überwindung be-
festigter Punkte eintretende Unordnung gefährdet werde. Zu-
gleich betonte er das Zusammenhalten der Hauptkraft gegen die
Mitte, damit die Flügelkorps nicht zu breit würden.
Auf Grund dieser Weisungen erfolgten die Vorbereitungen der
Offensive. Der Herantransport der Truppen, der schweren Ar-
tillerie, der ungeheuren Menge an Munition, Verpflegung und
sonstigem Kriegsmaterial, die den Balkanstreitkräften, der rus-
sischen Front, dem Kärntner Abschnitt und der Isonzoarmee
entnommen werden mußten, begegnete großen Schwierigkeiten.
Die schwer beladenen Züge hatten den verschneiten Brenner zu
überwinden, die Bahn im Pustertal lag bei Sillian im Bereich
des feindlichen Feuers, im Etschtal mußte die Ausladung in eng
beschränkten Bahnhöfen erfolgen und für den Marsch in die
Aufmarschkantonierungen stand nur die eine neben der Eisen-
bahn verlaufende Reichsstraße zur Verfügung. Die angesichts der
ungünstigen Witterung sehr wichtige Unterbringung der Truppen
und Anstalten in dem engen Etschtal stieß auf große Schwierig-
keiten.
Es wurden besondere Verfügungen für die Geheimhaltung des
Unternehmens und die Täuschung des Gegners getroffen. Von
Ende März bis 7. April erfolgten Scheinangriffe am Isonzo und
an der Kärntner Front. Die Operationen sollten unmittelbar nach
332
VERZÖGERUNG DURCH SCHLECHTES WETTER
vollendetem Aufmarsch der Artillerie und Bereitstellung der
11. Armee beginnen. Die Berechnungen ergaben den 20. März
als Tag des Beginnes der Offensive.
Dieses Kalkül erfuhr durch den Einbruch schlechten Wetters
eine wesentliche Verschiebung. Der am 1. März eintretende
Schneefall beschränkte die Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen
derart, daß bis zum 15. März statt der errechneten 1500 Trans-
portzüge nur 500 in Südtirol eingelaufen waren. Die Benütz-
barkeit der Straßen und Wege war derart eingeschränkt, daß
der Nachschub darunter litt und die Beendigung des Artillerie-
aufmarsches gar nicht abzusehen war. Rund 18.000 Tonnen
Lasten sollten auf steilen Gebirgswegen und mit der Seilbahn
auf die Hochfläche geschafft werden, was infolge des hohen
Schnees unmöglich wurde. Lawinen forderten jeden Tag ihre
Opfer.
Das Unwetter hielt bis Mitte März an, dann erst konnten die
Transporte einander dichter folgen. Die Kampftruppen sollten
erst in letzter Stunde bereitgestellt werden. Am 10. März mußte
der Kommandant der 11. Armee melden, daß die auf den Hoch-
flächen liegenden riesigen Schneemassen voraussichtlich erst
nach vier Wochen soweit zusammengeschmolzen sein dürften,
daß sie das Fortkommen der Infanterie in Gefechtsformation ge-
statteten. Als sich gegen Ende März der Artillerieaufmarsch
etwas beschleunigter abwickelte, berichtete General der Kaval-
lerie Dankl, daß der Angriff am 10. April beginnen könne, wenn
die Schneelage dies zulasse.
Auch diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Die kurz vor
dem angesetzten Termin unternommenen Versuche ergaben die
Notwendigkeit, den Angriff noch weiter zu verschieben. Insbe-
sondere der Kommandant des XX. Korps, Feldmarschalleutnant
Erzherzog-Thronfolger Karl Franz Joseph, bezeichnete die Aus-
sichten für eine derzeitige Offensive „gleich Null!“. Mit Rück-
sicht auf die ständige Änderung der Wetterlage bat Dankl, den
Angriffsbeginn ihm zu überlassen, woran er die Versicherung
schloß, daß er sich der Folgen der Verschiebungen wohl bewußt
sei. Schweren Herzens mußten das Gruppenkommando und Con-
rad diesem Antrag zustimmen.
Die Ansammlung großer Truppen- und Materialmassen auf
333
ITALIENER ERKENNEN ANGRIFFSABSICHTEN
verhältnismäßig beschränktem Raum konnte dem Feinde nicht
verborgen bleiben: seine Ausspähung fand hier fruchtbaren
Boden. Am 22. März erhielten die Italiener schon die erste zu-
verlässige Nachricht über die Anwesenheit starker Kräfte in
Tirol. Auch die Absicht eines Angriffes über die Hochflächen
war verraten worden. Die italienische Front wurde verstärkt.
Bei einem Angriffe sollten die vordersten Truppen in die gut
ausgebaute Hauptverteidigungsstellung zurückgenommen werden,
wo sie den hartnäckigsten Widerstand zu leisten hatten.
Als sich in den ersten Apriltagen die Nachrichten von einem
österreichischen Angriff bestätigten, wurden weitere Verstär-
kungen gesendet, Cadorna wollte aber noch immer nicht an einen
Durchbruchsversuch glauben und hielt die lebhafte Tätigkeit in
Tirol für ein Ablenkungsmanöver. Die Italiener unternahmen
trotzdem an verschiedenen Stellen Angriffe, um die Versamm-
lung zu stören. Westlich der Etsch, im Ortler- und Tonaleabschnitt,
sowie in der Adameilogruppe scheiterten diese wegen der allge-
meinen Erschöpfung und mit argen Rückwirkungen auf den
Geist der italienischen Truppen. An der Tiroler Ostfront griff
der Feind in der Val Sugana und in den Dolomiten an. Das
Gesamtergebnis war, daß lediglich fünf österreichische Batail-
lone von ihrer ursprünglichen Bestimmung abgelenkt wurden.
Unterdessen warteten Führer und Truppe mit steigender Un-
geduld auf den Beginn der Offensive. Das Wetter schwankte
und mit ihm die Meinung bezüglich der Tragfähigkeit der Schnee-
felder. Die Italiener waren nunmehr von der beabsichtigten
Offensive genau unterrichtet: ihre schwere Artillerie nahm die
Versammlungsräume unter Feuer, andauernde Sprengungen ver-
rieten den Ausbau der in den Fels gehauenen Stellungen, denen
neue Hindernisse vorgelegt wurden. Nur die Kraft des Stoßes
konnte mehr das verlorene Überraschungsmoment wettmachen.
Ununterbrochen wurde versucht, die Tragfähigkeit des Schnees
festzustellen, die bei verschiedenen Temperaturen und Tages-
zeiten wechselte. Wieder mußte der Angriff auf die ersten Tage
des Mai verschoben werden. Das Armeeoberkommando wies
immer ungeduldiger auf die Folgen dieser Verschiebungen hin.
Erzherzog Eugen begab sich mit seinem Generalstabschef an die
Front, um sich persönlich ein Urteil zu bilden. Die immer drin-
334
FÜNF WOCHEN ZEITVERLUST DURCH SCHNEE
genderen Anfragen des Armeeoberkommandos lösten eine be-
greifliche Nervosität aus, gaben Veranlassung zu Rechtfertigungen
und führten sogar zu Vertrauenskrisen. Zu Ostern fiel neuerlich
Schnee. Eine Übung, die in einem ähnlichen Gelände wie das
Angriffsterrain angelegt wurde, ergab, daß die Angreifer zum
Zurücklegen einer Strecke von 2000 Schritten drei Stunden be-
nötigten; auf der Sturmdistanz angelangt, waren sie derart er-
schöpft, daß sie für das Handgemenge keine Kraft mehr aufge-
bracht hätten. Auch Mitte Mai bestand noch keine Gewähr für
ein verläßliches Fortkommen, weshalb noch weiter zugewartet
werden mußte. In dieser langen Wartezeit hatten Überläufer
längst schon alles verraten, was die Flieger nicht zu erkunden
vermochten.
Endlich hatte sich die Schneedecke so weit gebessert, daß das
Kommando der 11. Armee den 17. Mai als ersten Angriffstag
festsetzen konnte. Dieser späte Termin veranlaßte das Armee-
oberkommando zu der besorgten Anfrage, ob noch die feste Zu-
versicht bestehe, die Aufgabe trotz der feindlichen Gegenmaß-
nahmen mit den zugewiesenen Kräften erfolgreich durchzuführen.
Anfangs Mai hatte General Cramon im Aufträge Falkenhayns
bei Conrad angefragt, ob mit Rücksicht auf das versäumte Über-
raschungsmoment die wenig aussichtsreiche Offensive nicht bes-
ser aufzugeben sei, wodurch ein Teil des in Südtirol stehenden
Heeres der Westfront zugeführt werden könnte. Conrad lehnte
mit der Begründung ab, daß die bis in alle Einzelheiten vorbe-
reitete Aktion nicht mehr aufgegeben werden könne. Der Be-
ginn des Angriffes wurde endgültig für den 15. Mai befohlen.
Mehr als fünf Wochen waren seit dem 10. April vergangen, da
die Heeresgruppe des Erzherzogs in Südtirol für die Operation
bereitgestanden war.
Am 15. Mai 6 Uhr früh begann bei gut sichtigem Wetter die
Schlacht. Das Artilleriefeuer verdichtete sich bis 9 Uhr vormit-
tags zu einem mächtigen Vernichtungsfeuer, und um 10 Uhr
überschritten die Vortrupps die Hindernisse. „Bleich und ver-
stört kamen ihnen Gruppen von Italienern entgegen, die den
Zeitpunkt verpaßt hatten, aus den Vorgräben in die Hauptstel-
lung zurüekzugehen“, schreibt das amtliche Werk.
Bald hatte das an der Spitze des Angriffskeiles vorgehende
335
WUNDER AN TAPFERKEIT
XX. Korps die erste Hauptwiderstandslinie durchstoßen, und mit
Genugtuung konnte der Korpskommandant, Erzherzog Karl, am
Abend dieses Schlachttages berichten, daß ein großer Erfolg mit
nur geringen Opfern erreicht worden war. Unter kräftiger Ar-
tillerieunterstützung wurde dieser Erfolg in den nächsten Tagen
erweitert. Am 17. Mai steigerte sich der Kampf zu erbittertem
Ringen. Der 18. endete mit einer völligen Niederlage des Fein-
des. Er war von dem XX. Korps aus der zweiten Linie geworfen
worden, sein Kampfwille nahm zusehends ab. In den ersten
Morgenstunden des 19. Mai sahen die angriffsbereiten Truppen
des XX. Korps aus den italienischen Forts mächtige Spreng-
wolken emporsteigen — der Durchbruch durch die mächtige
Linie der Grenzbefestigungen war vollendet. Eine große Zahl
Gefangener, reiche Kriegsbeute lohnte den Todesmut der An-
greifer, die unter den Augen des Thronerben Wunder an Tapfer-
keit vollbrachten.
Die Schlacht nahm ihren Fortgang. Es folgte der Durchbruchs-
angriff des III. Korps, der am 21. einsetzen sollte, infolge eines
abgehorchten Telephongesprächs aber, das den Rückzug der
Italiener erwarten ließ, schon auf einen früheren Zeitpunkt ver-
legt wurde. Diese Kämpfe endeten mit dem Zurückdrängen des
Feindes bis in die dritte Stellung. Mit der Eroberung des Kem-
pelrückens am 23. Mai war der nördliche Eckpfeiler der dritten
italienischen Stellung gefallen, den Cadorna als das stärkste
Bollwerk der Verteidigung auf der Hochfläche der Sieben Ge-
meinden bezeichnet hatte. Bis zum Abend des 25. Mai hatten
die k. u. k. Truppen aller Nationen unter Heldenkämpfen, die
ihresgleichen in der Geschichte der Menschheit suchen, die zur
Verteidigung des Beckens von Asiago wichtige Höhenrandstel-
lung in Besitz genommen.
Auch beim XVII. Korps übertrafen die Fortschritte die Er-
wartungen. Im Suganatal wichen die Italiener von Abschnitt zu
Abschnitt ohne ernsten Widerstand. Die Zuversicht des Heeres-
gruppenkommandos hatte sich durch die bisherigen Erfolge so
gesteigert, daß es nach dem Rückzug des Feindes vor dem
III. Korps die 11. Armee aufforderte, „mit ihrem linken Flügel
ohne Zeitverlust in der ihr vorgezeichneten Hauptrichtung Thiene
weiter vorzudringen, um so bald als möglich die Gebirgsaus-
336
Tafel XVI b
CONRADS LETZTER WEG
Beisetzung in Wien am 29. August 1925
„WIR MÜSSEN IN DIE EBENE VORDRINGEN“
gänge zu erreichen. Das Herankommen der schweren Artillerie
brauche nicht erst abgewartet zu werden, da es gar nicht fest-
stehe, ob für diesen Zweck die Wirkung so zahlreicher Batterien
überhaupt noch erforderlich sei“.
Schon am 23. Mai meldete das Gruppenkommando, daß es
angesichts der schweren Verluste beim Feinde möglich sein
werde, mit den zur Verfügung stehenden Kräften den Stoß bis
in die Ebene weiterzuführen. Trotzdem befahl das Armeeober-
kommando den Nachschub noch einer Infanteriedivision vom
Isonzo nach Tirol. Am Abend des 23. Mai wurden die Befehle
für die Fortsetzung der Offensive gegeben. Die 3. Armee hatte
den Angriff nach Gewinnung des Raumes um Asiago bis in die
Linie Bassano—Breganze weiterzuführen, während die Aufgabe
der 11. Armee nach wie vor der Vorstoß auf Thiene blieb. Das
Gruppenkommando brachte in einem Befehl vom 25. Mai den
Armeeführern und allen Korpskommandanten die vorgezeichnete
Aufgabe mit dem Appell in Erinnerung: „Wir wollen und wir
müssen in die Ebene Vordringen und hiezu die Ausgänge aus
dem Gebirge in den Richtungen Thiene und Bassano ohne Zeit-
verlust in Besitz nehmen.“
Bei der Fortsetzung der Operation gelang verhältnismäßig
leicht die Besetzung des Südrandes der Assaschlucht. Das Grup-
penkommando hatte bereits um Zudisponierung größerer Kaval-
leriekörper für die Verfolgung in der Ebene gebeten, was dem
Armeeoberkommando infolge Erschöpfung der Pferde „leider
unmöglich war“.
Die italienische Heeresleitung hatte mit Bestürzung die Aus-
wirkungen des heranbrausenden Sturmes erkannt, den sie offen-
bar unterschätzt hatte. Nach wenigen Kampftagen mußte der letzte
große Damm, der Monte Campomolon und der Monte Toraro,
dem Angreifer überlassen werden. Es war zu befürchten, daß die
Stellungen auf der Hochfläche von Asiago verlorengehen würden,
wodurch den österreichisch-ungarischen Truppen der Weg in die
Ebene, weit in den Rücken der Isonzoarmeen, offenstand. Ca-
dorna legte bereits den Armeeführern Vorsorgen für den Rück-
zug vom Isonzo nahe und befahl die Formierung einer Armee
im Dreieck Vicenza—Padua—Citadella, welche dem in der Ebene
vorstoßenden Feind entgegentreten sollte. Brückenbauten über
22
337
RUSSISCHE E N T L A S T U N G S 0 F F E N S I V E
die untere Brenta trugen der Notwendigkeit eines Rückzuges
Rechnung.
Die äußerst kritische Lage, in welche die italienische Armee
durch den kraftvollen Stoß der österreichisch-ungarischen Trup-
pen geraten war, veranlaßte das Königreich, sich nach fremder
Hilfe umzusehen. Von den Westmächten war nichts zu erwarten.
Frankreich stand noch immer im Zermürbungskampf bei Ver-
dun, die britische Kitchener-Armee war noch nicht ausgebildet
und litt selbst unter Geschütz- und Munitionsmangel. So kam
für die Hilfe nur das Zarenreich in Betracht. Die russische
Heeresleitung antwortete auf diesen Ruf durch Beschleunigung
der Vorbereitungen für die bei der letzten Ententekonferenz in
Chantilly beschlossene Offensive. Deren Beginn konnte erst für
die ersten Junitage in Aussicht gestellt werden; bis dahin mußte
sich Italien selbst helfen.
Als die beiden Armeen der Heeresgruppe Erzherzog Eugen
eben daranschritten, den letzten Gebirgswall zu durchstoßen, der
den Zugang zur oberitalienischen Ebene sperrte, setzte die rus-
sische Entlastungsoffensive ein. Gleich in den ersten Tagen errang
der Feind ganz unerwartet große Erfolge, so daß sich das Ar-
meeoberkommando zu Gegenmaßregeln entschließen mußte. Das
erste Anzeichen dieses Rückschlages war, daß dem Heeresgrup-
penkommando in Tirol eine vom Norden zugesagte Division nicht
mehr überlassen werden konnte. Zur Fortsetzung der Offensive
wurden daher die in Südtirol befindlichen 130 Marschkompanien
eingesetzt. Das Gruppenkommando wurde über die Vorgänge
auf dem russischen Kriegsschauplatz nicht orientiert, „um den
Schwung der Tiroler Offensive nicht zu lähmen“. Es wurde ihm
jedoch eröffnet, daß den nächsten Ereignissen auf dem italieni-
schen Kriegsschauplatz für das Ansehen des k. u. k. Heeres und
für die nächste politische Entwicklung eine ganz ungewöhnliche
Bedeutung zukomme. Aber schon am 8. Juni mußte das Armee-
oberkommando mit Rücksicht auf die Ereignisse im Norden
die sofortige Absendung der eben in Tirol eingetroffenen 61. Di-
vision befehlen. Die Rückwirkung der Ereignisse in Wolhynien
und Ostgalizien ließ sich nicht mehr abwenden. Unter dem Druck
der deutschen Obersten Heeresleitung mußte die Nordostfront
verstärkt werden, es folgte der Abtransport weiterer Divisionen
338
ÜBERGANG ZUR DEFENSIVE
aus dem siegreichen Süden. Dem Erzherzog mußte Conrad nach
dieser Schwächung der Heeresgruppe schweren Herzens mitteilen,
daß „eine Beschränkung der Ziele unserer Offensive gegen Ita-
lien kaum mehr zu umgehen sein wird“. Vom Ergebnis des zu-
letzt eingeleiteten Angriffes werde es abhängen, „in welcher Linie
der erstrittene Raum festzuhalten sein wird“.
Das unheilvolle Auftreten der Russen hatte bis zum 10. Juni
in der Tat das Aufgeben der Ziele der bisher so glänzend ver-
laufenen Offensive erzwungen. Die in den nächsten Tagen ge-
führten Angriffe standen schon im Zeichen dieser Wendung:
„Sie waren nur mehr die Ausläufer der schon abgedämmten
Flut.“ Noch hielt der Erzherzog an dem unerschütterlichen Ent-
schluß fest, den Durchbruch bei Asiago zu erzwingen. Der Ge-
neralstabschef des Gruppenkommandos begab sich persönlich an
die Front, um über die Fortsetzung der Operation schlüssig zu
werden. Am 16. Juni bestand trotz der eingeschränkten Mittel
sowohl bei der 11. wie bei der 3. Armee noch volle Zuversicht
in den Erfolg. Da traf der Befehl des Armeeoberkommandos ein,
zwei weitere Divisionen abzugeben. Derselbe Befehl verfügte den
Übergang zur Verteidigung. Das war das Ende der großange-
legten, über alles Erwarten erfolgreichen Offensive. Mit vollem
Recht konnte der Erzherzog den siegreichen Truppen sagen:
„Ihr habt in wenigen Wochen eine Reihe starker, seit Monaten
ausgebauter Stellungen genommen mitsamt den mächtigen Pan-
zerwerken, auf die sie sich stützten, und seid weit hineingedrun-
gen in Feindesland. Mehr als 47.000 Gefangene, darunter fast
1000 Offiziere, 318 Geschütze, 191 Maschinengewehre und eine
reiche Beute an Kriegsmaterial geben Zeugnis von Euren Siegen!
Eben als Ihr Euch anschicktet, nach kurzer Vorbereitung einen
neuen Schlag zu führen, der die letzten feindlichen Stellungen
im Gebirge zertrümmern und den Weg in die Ebene vollends
freimachen sollte — da mußte ich Euch schweren Herzens Halt
gebieten. Die zahlreichen Truppen, die der Feind in größter
Eile von allerwärts gegen Euch herangeholt hat, sie hätten Euren
Siegeslauf nicht gehemmt. Höhere Rücksichten verlangten von
uns dieses Opfer, damit an anderer Stelle die Grenzen unseres
großen Vaterlandes besser geschützt werden.“
Zähneknirschend, mit schwer verhaltenem Grimm folgten die
22*
339
SCHICKSALSSTUNDE FÜR REICH UND CONRAD
Truppen dieser Weisung. Am Ende des zweiten Kriegsjahres
waren sie mit ehrlicher Begeisterung in den durch Gelände und
Witterung erschwerten Kampf getreten und hatten geleistet,
was menschenmöglich war. Söhne aller Völker des großen
Reiches teilten sich in den Erfolg. Die Namen der vielfach mit
Panzerwerken gekrönten Felsspitzen, die in kühnem Sturmlauf
genommen wurden, bezeichnen noch heute Ehrentage der be-
teiligten Truppen; sie leben im Gedenken der Kämpfer weiter,
wenn auch neugezogene Staatsgrenzen sich trennend zwischen
die alten Waffengefährten geschoben haben. Keine Nation der
alten Habsburgermonarchie hat in diesem Heldenkampf gefehlt,
allen voran aber fochten die Söhne unserer Alpenländer, unter
ihnen Standschützen vom Knaben- bis zum Greisenalter. Der
Ernst, womit der Erbe des Thrones mitten unter den Kämpfern
seine Führerpflicht erfüllte, berechtigte zu den stolzesten Hoff-
nungen für die Zukunft Österreich-Ungarns. Das Geschick hatte
es anders beschlossen!
In diesen verhängnisvollen Junitagen hat sich das Schick-
sal des Reiches, aber auch jenes Conrads erfüllt. Greifbar
nahe war die Stunde gerückt, da nach der Abrechnung mit
Italien Sieg und Friede winkten. Die Ausschaltung dieses
Gegners mußte den Mittelmächten einen Kraftüberschuß ge-
ben, der genügt hätte, Rußland in Schach zu halten und
am westlichen Kriegstheater die schwer ringende Entente zu
bezwingen. Die in wenigen Tagen errungenen Erfolge, die auch
ohne deutsche Unterstützung erfochten waren, beweisen, wie
richtig Conrad die Aussichten der von ihm angelegten Offensive
eingeschätzt hatte. Die Mitwirkung deutscher Verbände hätte
das Ende des Krieges bedeutet, statt dessen erschöpfte sich der
Verbündete in einem aussichtslosen Unternehmen. Eine unend-
liche Tragik liegt in dieser Uneinigkeit der obersten Führer;
an ihr zerfiel das altehrwürdige Reich der Habsburger, an ihr
erfüllte sich Conrads Schicksal. Statt die Krönung seines Wir-
kens für Reich und Dynastie zu erleben, wurde ihm der zäh er-
strebte Sieg in letzter Stunde entwunden.
Wie nahe die Mittelmächte im Sommer 1916 dem Sieg und
Frieden waren, beleuchtet die auf Feindesseite ausgebrochene
Panik, als die österreichisch-ungarischen Soldaten plötzlich am
340
LLOYD GEORGE ÜBER CONRAD
Rande der Ebene standen, die bei weiterem Vordringen das
Grab der italienischen Armee werden mußte.
Der Munitionsminister und spätere Chef der englischen Re-
gierung, Lloyd George, macht in seinen Kriegserinnerungen
kein Hehl aus der bangen Sorge, welche das Fortschreiten der
Conradschen Offensive in den Ententestaaten ausgelöst hatte.
Meine Berufung auf Lloyd George wurde von einzelnen Kri-
tikern mit der Begründung abgelehnt, er sei als „Zivilist“ nicht
befähigt, ein Urteil über militärische Operationen zu fällen.
Dem möchte ich entgegenhalten, daß der Zivilist Lloyd George
durch die Übernahme des Munitionsministeriums den Zusam-
menbruch der englischen Front abgewendet hat. Lord Kitche-
ner, der erprobte Führer in vielen Kolonialkämpfen, die Zu-
versicht und Hoffnung des englischen Volkes, verfügte nicht
mehr über die geistige Spannkraft, sich plötzlich auf die Be-
dürfnisse eines modernen Heeres umzustellen. Lloyd George
brachte hingegen den von der hart kämpfenden Front immer
dringenderen Rufen nach Munition und neuzeitlichen Kampf-
mitteln das vollste Verständnis entgegen und stellte mit seltener
Tatkraft die gesamte Industrie und Technik Großbritanniens
in den Dienst der Landesverteidigung. An die Spitze der Regie-
rung berufen, hat es Lloyd George mit seinem durch militärische
Theorien unbelasteten normalen Menschenverstand nicht begrei-
fen können, daß die Feldherren der Entente den Feind immer
an seiner stärksten Seite anfaßten, auch nachdem die Aus-
sichtslosigkeit dieser Strategie lange schon erwiesen war. Immer
wieder hatte er versucht, auf die schwachen Punkte der Mittel-
mächte hinzuweisen, vor allem betrieb er die Herstellung einer
direkten Verbindung mit Rußland, um diesen Verbündeten
durch Zuwendung von Kriegsmaterial aller Art zu befähigen,
sein schier unerschöpfliches Menschenmaterial wirksamer in
den Dienst der Entente zu stellen. Lloyd George hat als Minister-
präsident durch Jahre die schweren Sorgen der immer härter
um ihren Bestand kämpfenden Verbündeten geteilt und die stra-
tegischen Entschlüsse der Mittelmächte mit gespanntem Inter-
esse verfolgt. Der enge Zusammenhang zwischen Politik und
Kriegführung berechtigt daher auch ihn zu einem Urteil über
die Gefährlichkeit der gegnerischen Führer. Im Kapitel „Psy-
22**
341
WENN DIE DEUTSCHEN MITGETAN HÄTTEN
chologie und Strategie“ des III. Bandes seiner Kriegserinne-
rungen schreibt Lloyd George — sonst ein beißend scharfer
Kritiker an allen Führern des Weltkrieges: „Der große öster-
reichische Führer, Conrad v. Hötzendorf, war ein Stratege von
bedeutenden Geistesfähigkeiten. Ich habe kompetente militä-
rische Urteile gehört und gelesen, die ihn für den größten
Strategen des Krieges halten. Er hat für das Jahr 1916
einen Feldzugsplan entworfen, der durch einen Angriff aus
dem Trentino Italien ausgeschaltet hätte. Es war eine Opera-
tion voll Aussichten. Italien war schwach an schwerer Artil-
lerie und der Munitionsnachschub war unzulänglich. Die ita-
lienischen Offiziere hatten noch nicht die genügende Übung in
der Disponierung großer Truppenverbände. Solange die ita-
lienische Armee starke und befestigte Stellungen in den Ber-
gen innehielt, konnte ihre mittlere und leichte Artillerie sie
vor Angriffen bewahren. Sobald sie aber in die Ebene gewor-
fen waren, wo sie nicht Zeit fanden, sich einzugraben, mußte
sich der Mangel an Geschützen und militärischer Ausbildung
zu ihren Ungunsten auswirken. Im Frühjahr 1916 waren Frank-
reich und England den Mittelmächten an schwerer Artillerie
unterlegen; sie konnten daher den Italienern nicht die Hilfe
bringen, die sie befähigt hätte, einem vereinigten deutsch-
österreichischen Angriff zu widerstehen. Hätten die Deutschen
den Plan Conrads nur mit wenigen Divisionen und einigen
schweren Geschützen unterstützt, wären die Österreicher nicht
gezwungen gewesen, zur Bildung einer genügenden Angriffs-
kraft ihre Karpatenfront zu schwächen. Von Hötzendorf hat
seinen Plan Falkenhayn angeboten, dieser hat ihn aber abge-
lehnt.“ ... „Falkenhayn hatte den Plan, Frankreich auszuschal-
ten, indem die Moral der französischen Armee ,in dem Mörser
von Verdun zerstampft werden sollte*.“ ... „Wir alle wissen
jetzt, wie unzutreffend Falkenhayn die Widerstandskraft des
französischen Soldaten eingeschätzt hat. Wir wissen aber auch,
daß die Österreicher ihre Trentino-Offensive erst Ende Mai
1916 begonnen haben. Sie hätte viel früher einsetzen können,
wenn die Deutschen mitgetan hätten; die Russen wären niemals
mit ihrem Brussilow-Schlag zurecht gekommen. Die Mitwir-
kung deutscher Geschütze und Truppen hätt.e die Niederlage
342
FALKENHAYN RICHTET SICH SELBST
der Italiener des Jahres 1916 in einen schweren Zusammen-
bruch verwandelt — noch vernichtender als Karfreit, denn im
Jahre 1916 bestand zwischen den Verbündeten noch nicht das
Abkommen von Rom, das einen eiligen Truppenzuschub vor-
sah, falls Italien von einem deutsch-österreichischen Angriff
bedroht werden sollte. Es wäre der niedergebrochenen italie-
nischen Armee unmöglich gewesen, sich in der offenen lom-
bardischen Tiefebene wieder zu sammeln. Die zum großen
Teil in Oberitalien gelegene Rüstungsindustrie wäre in die
Hände der Verfolger gefallen und die Bedrohung Südfrank-
reichs hätte den Zusammenbruch der Westfront beschleunigt.
Von Hötzendorfs Plan war eine ausgezeichnete stra-
tegische Konzeptio n.“
Daß Falkenhayn ihm seine Mitwirkung versagte, führt Lloyd
George auf persönliche Gründe zurück: „Bei den bescheiden-
sten Erwartungen hätte Conrads Offensive zum größten Sieg
des ganzen Krieges geführt — es wäre ein Sieg Hötzendorfs
und nicht Falkenhayns gewesen. Die Vernichtung der italieni-
schen Armee wäre ein Erfolg der österreichisch-ungarischen
Armee gewesen.“
Falkenhayn schreibt in seinem Werk „Die Oberste Heeres-
leitung 1914—1916“: „Bei dem Entwurf Conrads handelte es
sich um eine Operation, mit der sich während des Krieges
gewiß jeder Generalstabsoffizier einmal beschäftigt hat. Sie
war einladend. Vom besonderen österreichischen Standpunkt
aus gesehen, überwog das Licht die Schatten. Der Sorge um
alle anderen Fronten ledig, konnte die Doppelmonarchie ihre
ganze Kraft gegen Italien zusammenfassen. In diesem sah sie
den eigentlichen Feind. Gegen ihn waren Vorteile zu erstreiten,
die außerhalb des Interessengebietes des großen Bundesgenos-
sen im Norden lagen.“ Diese Auffassung ist wiederholt verur-
teilt worden. In scharfen Worten wendet sich General Alfred'
Krauß gegen diese Einstellung, denn er hatte es als Leiter der
Operationen erfahren, mit welch minimalem Einsatz an deut-
schen Verbänden ein vernichtender Schlag gegen Italien und
hiemit gegen die Entente zu erreichen war. Kraus beklagt
den „Tiefstand an politischer Einsicht, daß man es nicht be-
griff, was eine unter des Reiches Mitwirkung erreichte Zer-
343
DIE WESTMÄCHTE ZUM FRIEDEN GEZWUNGEN
Schmetterling des Erbfeindes Österreichs für den politisch kran-
ken Bundesgenossen4 bedeuten mußte.“
Im Vorwort zu seinem VI. Band kommt Lord George noch-
mals auf die Frühjahrsoffensive 1916 zurück: „Ich habe darauf
hingewiesen, daß die Entente im Jahre 1915 den größten stra-
tegischen Fehler begangen hat, indem sie ihre Kräfte für
eine Offensive gegen die deutschen Stellungen in Frankreich
konzentrierte und dadurch den Mittelmächten die Gelegenheit
bot, mit einigen wenigen Divisionen den Balkan zu erobern. Die-
ser Irrtum wurde aber mehr als ausgeglichen durch den unglaub-
lichen Irrtum des deutschen Generalstabschefs, der im Frühjahr
und Sommer 1916 die deutschen Legionen in aussichtslosen Ver-
suchen verbluten ließ, Verdun zu nehmen. Der Irrtum der En-
tente hat den Krieg verlängert, der Irrtum der Deutschen
hat sie den Krieg gekostet. Wenn Falkenhayn Conrads Rat,
Italien anzugreifen, und Hoffmanns Plan angenommen hätte, mit
Rußland ein Ende zu machen, wäre der Ausgang des Krieges
ein anderer gewesen. Karfreit und Brest-Litowsk im Jahre
1916 statt 1917 und 1918 — als unsere Armee noch nicht
ausgebildet war, es noch kein Amerika im Kriege gab, der Hun-
ger noch nicht an Deutschland und Österreich zehrte, hätten die
Westmächte zum Frieden gezwungen. Die Irrtümer Falken-
hayns haben uns vor den eigenen gerettet.“
Auch General Alfred Krauß kommt noch einmal auf die Fol-
gen der Ablehnung des Conradplanes zurück. Als Generalstabs-
chef der Heeresgruppe des Erzherzogs Eugen war er Zeuge der
über alle Erwartungen rasch fortschreitenden Offensive und ver-
traute auf den Endsieg. In „Theorie und Praxis in der Kriegs-
kunst“ schreibt er: „Die Folgen der Unstimmigkeit waren die
getrennten Wege der beiden Heeresleitungen im Jahre 1916 und
— der Mißerfolg dieser getrennten Wege. Falkenhayn ließ die
Festung Verdun bestürmen, um die Franzosen zum Verbluten
zu bringen, ein taktischer Wahnsinn, denn der zahlenmäßig
Schwächere verblutete selbst an dieser Idee... Hätte der Ver-
nichtungswille die deutsche Heeresführung beherrscht, dann hät-
ten sich Conrad und Falkenhayn gefunden und die gemeinsame
siegreiche Offensive gegen Italien hätte statt im Herbst 1917
schon Anfang 1916 stattgefunden. Ihre vernichtende Wirkung
344
„DER VERHÄNGNISVOLLSTE FEHLER“
hätte Italien aus der Reihe der Feindkämpfer ausgeschieden.
Der getrennte Entschluß der beiden Heeresleitungen, die Unter-
lassung des einheitlichen, überwältigenden, auf Vernichtung der
italienischen Armee abzielenden Angriffes gegen Italien in der
Zeit von Dezember 1915 bis Februar 1916 war der verhängnis-
vollste militärische Fehler der Mittelmächte. Er verschuldete es,
daß der Krieg nicht in diesem Jahre schon siegreich zu Ende ge-
führt wurde... Als ob der Wettergott uns für die Unterlassung
des unbedingt Gebotenen hätte strafen wollen, herrschte im De-
zember und Januar in Südtirol prachtvolles Wetter — die von
Conrad so hoch eingeschätzten Hochflächen waren völlig schnee-
frei.“
Wie man im deutschen Lager über die Ablehnung der Offen-
sive Conrads denkt, beleuchten die Urteile hervorragender Fach-
leute. General Cramon schreibt: „Schwer verständlich ist, warum
Falkenhayn dem Verbündeten nicht rechtzeitig sagte: Ich will
bei Verdun angreifen, jeder Mann, jedes Geschütz ist mir dazu
willkommen. Hätte er dies rechtzeitig getan, dann war wieder
ein gemeinsames Ziel vorhanden und mit diesem Ziel die selbst-
verständliche Pflicht, es gemeinsam zu erreichen. Doch nichts
von alledem. Die Heere gingen einfach auseinander, die Gemein-
samkeit zerflatterte, der Krieg ging verloren. Man zermürbte
sich selbst und die eigenen Kraftquellen, die doch bereits spär-
lich flössen, schneller als den Feind, hinter dem die Welt stand.
In diesen Wochen und Monaten vollzog sich wirklich die Kriegs-
wende, das Unheil des Jahres 1916 spann sich damals an.“
Der genaue Kenner des Krieges General Kühl vertritt die
Auffassung: „Trotz der verschiedenen Bedenken wäre der ge-
meinsame Angriff der Mittelmächte gegen Italien wohl der beste
Entschluß gewesen. Die getrennten Angriffe bei Verdun
und Asiago können nur als schwere Fehler bezeichnet werden.“
Es wird heute kaum einen denkenden Soldaten mehr geben,
der sich der Einsicht verschließen könnte, Conrads Plan hätte
den Weltkrieg um zwei Jahre abgekürzt. Unser großer Feld-
marschall hätte Leben und Gesundheit von Millionen Menschen
erhalten, unschätzbare Güter vor der Vernichtung bewahrt. Diese
Aussicht sichert seiner Persönlichkeit eine Bedeutung weit über
die Grenzen unseres Vaterlandes hinaus. Hart an der Schwelle
345
R
IHM FEHLTE NUR: „DAS GLÜCK!“
von Sieg oder Niederlage versagte sein Stern, verlegte ihm den
Weg zur Unsterblichkeit.
Ein Rückblick auf „Conrad als Feldherr“ zeigt ihn als Meister
in der Bewegung großer Verbände. Die Kühnheit seiner Ent-
schlüsse und seine Zähigkeit in der Durchführung befähigten
ihn, auch die kritischesten Lagen zu meistern. Nur durch diese
Führereigenschaften war Conrad den Aufgaben gewachsen, vor
die er gestellt war. Sein eigenes Urteil lautet allerdings beschei-
dener: „Wer diesen Krieg verstehen will, muß sich klar sein,
daß es nicht ein Krieg der Feldherren, sondern ein Krieg der
Massen und materiellen Mittel war — diese haben schließlich
die entscheidende Rolle gespielt.“
Nur eines hat Conrad gefehlt: „das Glück!“
Trotz übermenschlichen Anstrengungen war es ihm nicht ge-
lungen, die Wehrmacht auf den von ihm angestrebten Stand zu
bringen. Es war ihm ebenso versagt geblieben, seine außenpoli-
tische Auffassung durchzusetzen. Als er unter diesen Verhält-
nissen in den Krieg ziehen mußte, war es ihm nicht gegönnt,
seine Führertalente voll zu entfalten, weil die Abhängigkeit von
dem „stärkeren Kompagnon“ seinem Geist Fesseln anlegte.
Den Feinden haben Conrads Pläne die größte Sorge be-
reitet, sie atmeten erleichtert auf, wenn seine Vorschläge ver-
worfen wurden. Kaiser Karl hat in seinem Handschreiben an
den scheidenden Chef des Generalstabes mit Recht auf den Klang
des Namens „Conrad“ in der eigenen Armee wie in den Reihen
der Gegner hingewiesen.
Mit großer Befriedigung verfolge ich seit Jahr und Tag die
fortschreitende Erkenntnis in den Reihen der deutschen Kame-
raden, daß Conrads Führereigenschaften bei voller Entfaltungs-
möglichkeit dem Kriege eine andere Wendung gegeben hätten.
Ich kann den Abschnitt „Conrad als Feldherr“ kaum mit wär-
meren Worten schließen, als sie mein Amtskollege im deutschen
Generalstab aus der Friedenszeit, Generaloberst von Heye, als
Geleitwort dem Werk des Dr. Wilhelm Czermak „Krieg im
Stein“ vorangestellt hat: „Damals — auf dem blutgetränkten
Karstgebiet — habe ich den wundervollen, geschlossenen, tapfe-
ren und zähen Kampfeswillen meiner österreichisch-ungarischen
346
„ICH SENKE DEN DEGEN VOR BEWUNDERUNG“
Kriegskameraden, mit denen ich schon fast zwei Jahre Schulter
an Schulter focht, in der Verteidigung ihres bedrängten Vater-
landes erst richtig kennengelernt. Mit diesem bewundernden
Urteil über meine Waffengefährten am Isonzo glaube ich auch
am Schlüsse meiner Frontreise 1917 in Bozen dem von mir ge-
liebten Feldmarschall Conrad von Hötzendorf, dem besten Sol-
daten und großen Feldherrn des österreichisch-ungarischen
Heeres, noch eine soldatische Freude gemacht zu haben! Voll
Ehrfurcht und Bewunderung senke ich vor diesem nun der Ge-
schichte angehörenden, unvergeßlichen Heer und vor seinem un-
sterblichen Feldherrn meinen Degen!“
%
347
ENTHEBUNG VOM POSTEN DES CHEFS DES GENERAL-
STABES
Das Kriegs] ahr 1916 hatte mit dem Verzicht auf die Nieder-
ringung Italiens, mit dem Rückschlag auf dem russischen Kriegs-
schauplatz, dem Versagen der Falkenhaynsehen Berennung von
Verdun und mit den großen Verlusten in der Sommeschlacht
geendet. Der einzige Lichtblick war die rasche Niederwerfung
des neuen Gegners Rumänien durch einen meisterhaft geführten
Feldzug österreichisch-ungarischer, deutscher und bulgarischer
Truppen. Dieser Erfolg sollte das letzte bündnistreue Zusammen-
wirken Conrads mit Hindenburg-Ludendorff sein, das, früher
begonnen, dem Krieg eine andere Wendung gegeben hätte. Wäh-
rend die österreichisch-ungarischen Soldaten ihre siegreichen
Fahnen immer tiefer nach Rumänien trugen, schloß in Schön-
brunn am 21. November 1916 Kaiser und König Franz Joseph
für ewig seine müden Augen.
Der Tod des greisen Monarchen, der 68 Jahre zum Segen sei-
ner Völker die Krone getragen hatte, führte zu vielfachen Ver-
änderungen. Der junge Kaiser fühlte sich verpflichtet, das Ober-
kommando über alle im Felde stehenden Truppen der Monarchie
zu übernehmen. Schon am 3. Dezember erschien er im Haupt-
quartier, um an die Spitze seines Heeres zu treten. Erzherzog
Friedrich wurde mit dem Großkreuz des Maria-Theresien-Ordens
ausgezeichnet, blieb noch einige Wochen Stellvertreter des Mon-
archen bei der Feldarmee und wurde dann zur Disposition ge-
stellt.
Bald sollte ihm auch sein bewährter Berater folgen. Am
27. Februar 1917 kam Erzherzog Friedrich nach Baden, wohin
das Armeeoberkommando bald nach der Thronbesteigung Kaiser
Karls übersiedelt war, um Conrad die Enthebung vom Posten
des Chefs des Generalstabes anzukündigen. Der Kaiser wünschte,
daß er das Kommando der Truppen in Tirol übernehme. Con-
rad meldete dem Kaiser gelegentlich des letzten Abendrapportes,
daß er dies nicht tun könnte. Der Kaiser drang in ihn, verwies
348
DES JUNGEN KAISERS HANDSCHREIBEN
auf die Berge, die Conrad so sehr liebe, und berief sich auf seine
stets bewiesene Pflichttreue, bis es ihm gelang, Conrad um-
zustimmen.
Kaum aber war der Feldmarschall nach Hause zurückgekehrt
und nicht mehr im Banne des jungen Kaisers, fand er den Ge-
danken doch unerträglich, unter diesen Umständen ein Armee-
kommando anzunehmen. Er erbat für den folgenden Tag eine
Audienz und eröffnete dem Kaiser, daß er das Kommando in
Tirol doch ablehnen müsse. Im Verlaufe dieser Aussprache kam
es zu einer ergreifenden Szene. Nachdem Kaiser Karl wieder
vergeblich versucht hatte, Conrad umzustimmen, nahm er das
Großkreuz des Maria-Theresien-Ordens von seiner Brust und
heftete es Conrad mit den Worten an: „Diesmal werden Sie
nicht ablehnen.“
Der junge Kaiser hatte es unmittelbar nach der Thronbestei-
gung als eine seiner vornehmsten Pflichten angesehen, den Ver-
dienstvollen Chef des Generalstabes mit der höchsten militäri-
schen Auszeichnung zu ehren, die er zu vergeben hatte. Damals
hatte Conrad gebeten, den Orden dem Armeeoberkommandanten
Erzherzog Friedrich zu geben, der als Träger der Verantwortung
einen höheren Anspruch darauf habe. Kaiser Karl erfüllte diesen
Wunsch und verlieh Conrad den Freiherrntitel.
Trotz dieser rührenden Huldbezeigung des Monarchen war
aber Conrad diesmal nicht von seinem Entschluß abzubrmgen.
Kaiser Karl fügte sich schließlich darein und entließ ihn sehr
gnädig, mit warmen Worten der Anerkennung.
Conrad atmete auf. Nach den vielen Enttäuschungen war er
endlich dieser schweren Bürde los. Am nächsten Morgen aber
erschien der Generaladjutant des Kaisers bei Conrad und über-
brachte den Befehl des Allerhöchsten Kriegsherrn, das Kom-
mando in Tirol zu übernehmen. Kurz darauf erhielt er auch schon
folgendes Handschreiben: „Lieber Feldmarschall Freiherr von
Conrad! In Ihrer allgemein bekannten und hochgeschätzten Selbst-
losigkeit wollten Sie, lieber Feldmarschall von Conrad, sich jetzt
aus der Aktivität zurückziehen. So sehr ich die Gründe, die Sie
zu diesem Entschluß führen, würdige, so muß ich doch an Ihr
patriotisches Empfinden appellieren und die Erwartung aus-
sprechen, daß Sie — unter Berücksichtigung der wichtigen mili-
23
349
DER KLANG DES NAMENS KONRAD
tärischen und politischen Gründe, die für die Übernahme des
Kommandos in Tirol gerade durch Ihre Person sprechen — die-
ses Kommando übernehmen. Ich bin überzeugt, daß Ihre be-
währte Kraft und der Klang Ihres in meiner Wehrmacht hoch-
geschätzten, bei unseren Feinden gefürchteten Namens auf dem
Tiroler Kriegsschauplatz ein wesentliches Moment zur Errei-
chung weiterer Erfolge bilden wird.“
Conrad, der pflichttreue Soldat, war an seiner empfindlichsten
Stelle gefaßt. Er, dessen Leben von der frühesten Jugend an
seinem Kaiserhause und dem Vaterlande geweiht war, konnte
nach diesen Worten seines Allerhöchsten Kriegsherrn nicht
mehr zögern — er ging nach Bozen.
Heeresgruppenkommandant in Tirol
Conrad unterstand nun wieder dem Erzherzog Eugen, dem er
in aufrichtiger Verehrung zugetan war. Allmählich drängte sich
ihm aber die Überzeugung auf, daß er hier auf ein totes Geleise
geraten war. Die nach der Frühjahrsoffensive 1916 erstarrte
Tiroler Front verfügte kaum über hinreichende Kräfte, um einem
stärkeren Angriff der Italiener zu begegnen. Die im Sommer
1917 im Nordteil der Sieben Gemeinden geführte Offensive der
6. italienischen Armee war wohl an dem Heldenmut der Truppen
zusammengebrochen. Wenn Conrad ihre Stellungen besuchte,
blickte er resigniert nach dem Süden, wo der Sieg zum Greifen
nahe gewinkt hatte.
Plötzlich schien sich eine neue Aussicht zu eröffnen. Die
11. Isonzoschlacht im August 1917 hatte die Gefahr eines Durch-
bruches und des Verlustes von Triest deutlich erwiesen. Um
einer neuen Aktion des Feindes zuvorzukommen, hatten sich
die beiden Heeresleitungen geeinigt, mit einer aus deutschen
und österreichisch-ungarischen Truppen gebildeten Armee aus
dem Raum Flitsch—Tolmein gegen Cividale—Udine vorzustoßen.
Dieser Plan griff auf eine Idee Conrads zurück. Entgegen seiner
Auffassung war diesem Angriff nur die Aufgabe eines Ent-
lastungsstoßes zugedacht, der bestenfalls bis zum Tagliamento
350
KARFREIT BLEIBT UNAUSGENÜTZT
führen sollte. Die Mitwirkung der Kärntner und Tiroler Front
war nicht in Aussicht genommen; diese mußten vielmehr ihre
besten Truppen, viel schwere Artillerie und Munition für die
Angriffsgruppe abgeben.
Im Herbst 1917 setzte die Offensive ein, die sich zu einem ge-
waltigen Erfolg entwickelte.
Schon die Ergebnisse des ersten Schlachttages eröffneten Aus-
sichten auf einen großen Sieg. In den Rückzug des durch den
Durchbruch unmittelbar betroffenen italienischen Frontteiles wur-
den bald die beiden Isonzoarmeen mitgerissen. Unter Preisgabe
von hunderttausenden Gefangenen und unübersehbarem Kriegs-
material verließ der Feind die durch Jahre ausgebauten Stel-
lungen und flutete über den Tagliamento zurück. Dieser über-
raschende Erfolg brachte auch die Kärntner Front in Bewegung.
Ein Vorstoß aus Südtirol mußte den in großer Unordnung zu-
rückgehenden Resten der italienischen Isonzoarmeen den Todes-
stoß versetzen.
Conrad bat dringend, alle entbehrlichen Truppen dorthin zu
verschieben; seinem Ansuchen wurde nicht entsprochen. Er
konnte daher nur seine spärlichen, wenig beweglichen Reserven
zusammenfassen, um im Einklang mit den Verfolgern zwischen
Piave und Brenta einen räumlich beschränkten Stoß über Asiago
zu führen. Die Voraussetzung dafür, die Besitznahme des Monte
Grappa, war nicht gelungen; Conrads Stoß war nach Anfangs-
erfolgen im Flankenfeuer des Monte Meletta ins Stocken geraten.
Wohl gelang es nach neuerlicher Vorbereitung, dieses feindliche
Bollwerk zu nehmen,* aber die Kräfte der Tiroler Front reich-
ten nicht aus, den Angriff bis an den Rand der Ebene zu tragen.
Wieder war eine Hoffnung Conrads geschwunden; der Rück-
zug der Italiener endete statt mit ihrer Vernichtung mit der Fest-
setzung an der Piave, wo die Verfolgung abgebrochen wurde.
Während die siegreichen deutschen Divisonen der Armee Below
durch das Suganatal nach Trient zur Einwaggonierung nach
demWesten marschierten, erschöpften sich wenige Kilometer
* Das Traditionsregiment des k. u. k. Infanterieregimentes König
der Belgier Nr. 27, das. einstige Alpenjägerregiment Nr. 10 Feldmar-
schall Conrad von Hötzendorf, feiert den Tag der Einnahme des
Monte Meletta als Ehrentag.
23*
351
DIE LETZTE „VERSÄUMTE GELEGENHEIT“
südlich, auf der Hochfläche von Asiago, die österreichisch-un-
garischen Angriffe infolge mangelnder Kräfte. Welche Gründe
es entschieden hatten, Conrad die Divisionen nicht zuzuführen,
die für einen kraftvollen Stoß aus Südtirol notwendig waren,
entzieht sich ebenso der Kritik wie das Abziehen der deutschen
Truppen nach Erreichung der Piave, zu einem Zeitpunkt, da
alles daranzusetzen war, den weichenden Gegner vernichtend zu
schlagen. Der Ernährungszustand der Pferde hatte das Fort-
bringen von Geschützen, Munition und Kriegsmaterial wohl
wesentlich eingeschränkt, aber die Infanteriedivisionen hätten
gern auch ihr Letztes hergegeben, um, in einer günstigen Stoß-
richtung angesetzt, den Rückzug des Gegners in eine Katastrophe
zu verwandeln. Das Abbrechen der Offensive an der Piave durch
Abziehen deutscher Kräfte war eine der vielfach „versäumten Ge-
legenheiten“. Die Italiener konnten, unterstützt von Franzosen
und Engländern, an der Piave wieder eine Verteidigungsstellung
beziehen und ausbauen, an der im folgenden Jahre der letzte
Versuch der Donaumonarchie, die Kriegslage zu wenden, schei-
tern sollte. So war auch diese Hoffnung Conrads zunichte ge-
worden. Das Glück, dem er jeden Erfolg in seinem Leben zäh
abringen mußte, hatte ihn endgültig verlassen.
Der Winter 1917/18 war an der Tiroler Front besonders hart.
Es fehlte an Verpflegung, die Artillerie war wegen der Erschöp-
fung der Pferde unbeweglich geworden, der Munitionsnachschub
stockte, die Soldaten waren unterernährt und dürftig bekleidet.
Dies alles konnte auf ihren Geist nicht ohne Rückwirkung blei-
ben. Um so wichtiger wurden die für das kommende fünfte
Kriegsjahr zu fassenden Entschlüsse. Es blieb nur die Wahl,
eine Entscheidung im Westen zu erzwingen, bevor die amerika-
nische Hilfe fühlbar wurde, oder die Westfront durch einen ent-
scheidenden Schlag mit zusammengefaßter Kraft gegen Italien
zu entlasten, um sich dann vereint gegen die Entente wenden
zu können.
Conrad erschien die letztere Lösung als die aussichtsvollere,
er besaß aber nicht mehr den Einfluß, sie durchzusetzen. Schließ-
lich blieb es bei der alten Auffassung, daß der Westen eine rein
deutsche, der Krieg gegen Italien eine rein österreichisch-unga-
352
CONRAD ALS OPFER DER P I AVESCHLACHT
rische Angelegenheit sei. So wurde denn für 1918 eine Offensive
gegen Italien ohne deutsche Mitwirkung beschlossen. Der Feind
sollte aus zwei Fronten — aus dem Gebirge, zwischen Brenta und
Piave, und in der Ebene, mit dem Hauptstoß über die Piave auf
Treviso — in die Zange genommen werden. Während Conrad die
Richtung über die Hochfläche von Asiago als die günstigste ver-
trat, verstand es der Kommandant der Isonzoarmeen, Feldmar-
schall von Boroevic, das Oberkommando für die Führung des
Hauptstoßes aus seinem Bereich in die Ebene zu gewinnen. Die
endgültige Entscheidung war schließlich ein Kompromiß: ein
Angriff aus beiden Fronten. Dies führte zur Zersplitterung der
Kräfte, die keiner der beiden Richtungen den Sieg zu sichern
vermochte.
Die letzte österreichisch-ungarische Offensive — die Piave-
schlacht im Juni 1918 — stand unter einem migünstigen Stern.
Mit unzulänglichen Mitteln unternommen, scheiterte der Angriff
der Heeresgruppe Conrad schon am ersten Tag. Wo man durch-
dringen wollte, stieß man auf kräftigen Widerstand, und nur dort,
wo der Erfolg nicht erwartet wurde — am Süd- und Nordflüge]
der Piavefront —, drang der Angriff durch. Den in den ersten
Schlachttagen eingebrachten 50.000 Gefangenen standen die
schweren Verluste gegenüber, die unsere Truppen bei der For-
cierung der angeschwollenen Piave über ein breites, eingesehenes
Schotterbett erlitten hatten. Die Fortsetzung der Offensive mußte
bald gänzlich aufgegeben werden.
Dieser Mißerfolg löste im Hinterland große Unzufriedenheit
aus. Die Bevölkerung hatte sich außer der moralischen Wirkung
auf die Entente vor allem eine Linderung der immer trostloser
werdenden Ernährungslage erwartet. Als diese Hoffnung schwand,
wandte sich die Unzufriedenheit gegen die Armee und ihre
Führer. Vergessen waren all die übermenschlichen Leistungen
der vier Kriegsjahre, das Parlament forderte ein Opfer. — Als
dieses fiel — Conrad, der Mann, der in einem unverdrossenen
vieljährigen Kampf gegen alle maßgebenden Faktoren im Staate
für die Armee gefordert hatte, was sie bedurfte, um den Be-
stand des Reiches zu sichern. Die Volksvertreter, die nach einem
Sündenbock schrien, vergaßen, daß sie es waren, die der Wehr-
macht versagt hatten, was Conrad gefordert hatte.
353
GRAFENTITEL UND HOFANSTELLUNG
Conrad wurde vom Armeekommando enthoben. Dies sollte
durch die Erhebung in den Grafenstand und durch die Ernen-
nung zum Obersten aller Garden gelindert werden. Conrad hatte
schon Kaiser Franz Joseph bei einem früheren Anlaß gebeten,
von einer Standeserhöhung absehen zu wollen. Er wollte mit
dem Namen aus der Welt scheiden, den sein Sohn geführt hatte,
als er für das Vaterland fiel. Andererseits konnte der Feld-
marschall nach einem arbeitsreichen Leben auf verantwortungs-
vollem Posten in der Berufung zu einem reinen Ehrenamt keine
Genugtuung finden.* Er erbat einen längeren Erholungsurlaub
und verließ am 15. Juli 1918 Heer und Amt.
Der Zusammenbruch des Reiches
Die Monate bis zum Zusammenbruch verbrachte Conrad in
Wien, in Villach und zum Schluß in Triest. Diesem regen,
sprühenden Geist fehlte plötzlich jedes Feld der Betätigung.
Die Verstimmung über die Form seines Abganges trat bald in
den Hintergrund vor der Sorge über die Entwicklung der poli-
tischen und militärischen Lage der Monarchie. In diesem Zustand
quälender Tatenlosigkeit begannen sich lang zurückgedrängte
Talente und Neigungen zu regen. Oft nahm Conrad das vernach-
lässigte Skizzenbuch zur Hand, um Erinnerungen an Gegenden
festzuhalten, die er in Gesellschaft seiner Frau durchstreifte.
Auf einem Spaziergang kam er auch einmal nach Miramar.
Dieser entzückende Fleck Erde weckte in ihm die Erinnerung
an seine Dienstzeit in Triest. Mit einem Abschiedsblick auf das
geliebte Meer reichte Conrad die vollendete Skizze seiner Frau
und sagte mit Tränen in den Augen: „Ich weiß, ich bin zum
letzten Male hier gewesen.“
Wenige Tage später zerfiel das stolze Reich der Habsburger.
Conrad gelang es gerade noch, mit einem der letzten Züge un-
1 Die Funktion als Oberst aller Garden war bis dahin mit dem Amt
des ersten Obersthofmeisters verbunden gewesen. Fürst Montenuovo
war (seit 1909), als Leutnant in Evidenz der Landwehr, zugleich
Oberst sämtlicher Leibgarden.
354
AUSRUFUNG DER REPUBLIK
behelligt Triest zu verlassen. Nach einer 24stündigen Fahrt, die
schon im Zeichen der Auflösung der Monarchie stand, traf er
in Wien ein, wo er von seinem treuen einstigen Flügeladju-
tanten, Oberst Putz, am Bahnhof erwartet wurde. Von ihm erfuhr
er, daß die Republik ausgerufen sei.
Nur wer Conrads Wirken für den Staat und sein Herrscher-
haus gekannt hat, kann sich eine Vorstellung von den Vorgängen
in seiner Seele machen. An seinem Lebensabend mußte er es
erleben, daß alle Ideale, die bis in seine früheste Jugend zu-
rückreichten, vernichtet wurden. Dieses große, mächtige Reich,
sein Vaterland, dem er mit jeder Faser seines Herzens ange-
hörte, dem er mit treuester Hingabe während eines Menschen-
alters gedient hatte — lag zerschmettert zu Boden.
Im Ruhestand in Innsbruck
Der Aufenthalt in Wien sagte Conrad nicht zu. Zu den immei
aufdringlicheren Zeichen des Unterganges jeder Rechtsordnung
gesellten sich materielle Sorgen. Die Ruhebezüge, die von der
ans Ruder gekommenen Regierung festgesetzt wurden, gestatteten
selbst einem verabschiedeten Feldmarschall nur eine höchst be-
scheidene Lebensweise. Das nicht mehr kaiserliche Wien mahnte
auf Schritt und Tritt an den Zerfall. Dieser dauernde Druck
drängte nach Entspannung. So zog denn Conrad wieder in die
Berge, wo der Anblick der Natur Vergessen bot.
In einem Innsbrucker Hotel mietete er mit seiner Frau zwei
bescheidene Zimmer. Die mißlichen Ernährungsverhältnisse be-
gannen sich schon schädlich auf seine Gesundheit auszuwir-
ken, aber die Berge übten einen befreienden Einfluß auf
sein Gemüt Er lehrte seine Frau, die Natur zu bewundern, die
Berge zu lieben. Bei den Wanderungen über Almen und durch
Wälder, im Anblick der mächtigen Gipfel konnte er über eine
Blume, einen Stein, einen Schmetterling, eine Eidechse in sin-
nige Betrachtung verfallen; die Liebe zur Natur war in ihm so
tief verwurzelt, daß er auch im Alter bei ihr den versöhnendsten
Trost fand.
355
CONRADS NEIGUNGEN
Die Neigung zur Malerei, die Conrad als Knabe zurückgedrängt
hatte, um sich voll dem Soldatenberuf widmen zu können, lebte
nun wieder auf. Er hatte schon vor dem Kriege die Gewohnheit,
seiner Gattin von allen Reisen Landschaftsskizzen zu senden, die
allmählich zu einer wertvollen Sammlung anwuchsen.
Daß Conrad die Feder meisterhaft beherrschte, ist bekannt.
Diese Kunst beschränkte sich nicht auf militärische Themen:
eine deutsche Schriftstellerin hat seine Prosaschilderungen für
beste Epik erklärt. In diese Zeit fällt auch die Niederschrift
zahlreicher Aphorismen und philosophischer Betrachtungen, die
von dem gewaltigen Umfang der Geisteswelt Conrads Zeugnis
geben.
Die militärische Fachliteratur hat er stets eifrig verfolgt. Für
sonstige lesenswerte Bücher blieb ihm wenig Zeit übrig. Sein
Wesen war mehr auf das Schaffen als auf das Suchen nach frem-
den Meinungen eingestellt. Gedanken, die ihm wertvoll er-
schienen, pflegte er sofort in Worte zu kleiden. Die Schrift floß
ihm bewunderungswürdig rasch aus der Feder; er besaß eine
meisterhafte Fähigkeit, sich kurz und klar auszudrücken.
Für Musik war Conrad gleichfalls sehr empfänglich. Seine
zweite Frau, eine begabte Klavierkünstlerin, hat durch ihr glän-
zendes Spiel viele seiner bitteren Gedanken verscheucht.
In die scheinbare Ausgeglichenheit, die Folge des ungestörten
Genusses der Natur und des regen geistigen Verkehres mit seiner
Gemahlin, mengte sich in den letzten Jahren ein Conrad fremder
Zug: die Neigung zu einer skeptischen Weltanschauung. Sie war
eine natürliche Folge der vielen Enttäuschungen, vielleicht
schon ein Anzeichen der nahenden Krankheit, und stand in
scharfem Gegensatz zu Conrads bewußtem, kraftvollem Wesen
in der Zeit seines Aufstieges.
Immer mehr begann er den Lehren zuzuneigen, die das Erden-
wandeln des Menschen nur als kurze Phase in dessen Dasein
ansehen und das Werden und Vergehen von Menschen und Völ-
kern als das Werk des Schicksals werten, dessen Walten wir
nicht zu erfassen vermögen. Diese Philosophie, zu der er sich
erst spät bekannte, entsprang nicht seinem ureigenen Wesen.
Sie war der Ausdruck des Ringens nach seelischem Gleichge-
wicht, nachdem sein Lebenswerk vernichtet schien. Daß diese
356
„AUS MEINER DIENSTZEIT 1906 — 191 8“
Lähmung seines starken Willens nur vorübergehend war, beweist
die Tatkraft, womit er trotz der geschwächten Gesundheit im
Patriarchenalter das Monumentalwerk in Angriff nahm, das sein
Schaffen und Wirken der Nachwelt erhalten sollte. Ohne jede
Mithilfe begann er an dem Buch „Aus meiner Dienstzeit 1906
bis 1918“ zu arbeiten.
Oft stand er vor der Versuchung, jeden Zusammenhang mit
der Vergangenheit abzuschütteln, seinen Lebensabend einzig der
Verehrung der Natur zu widmen, doch immer wieder führte ihn
sein alter Drang nach Tätigkeit zum Schreibtisch zurück. Trotz
aller Pein der Erinnerungen ließ der Feldmarschall noch einmal
alles an seinem Geist vorüberziehen, was er gewollt und was ihm
versagt geblieben war. Oft war er, gequält von Schmerzen,
wochenlang gezwungen, die Arbeit zu unterbrechen, aber dann
reihte er doch wieder unermüdlich Blatt an Blatt, bis die fünf
mächtigen Bände entstanden, die heute als die wertvollste
Quelle für die Vorgeschichte des Weltkrieges gelten können.
Auch dieser letzten Lebensaufgabe, die er auf sich nahm, ver-
sagte das Schicksal den vollen Erfolg — mitten in der Arbeit
ereilte ihn der Tod.
Man hat es Conrad verübelt, daß er nach dem Kriege in Inns-
bruck in freundschaftlichen Verkehr mit den italienischen Offi-
zieren der Besatzungstruppen getreten ist. Italien hatte sich die
Zertrümmerung der österreichisch-ungarischen Monarchie zum
Ziel gesetzt; dies machte Conrad zum erbitterten Feind des Kö-
nigreiches. Diese Einstellung blieb aber ohne Einfluß auf seine
Sympathien für das schöne Land des sonnigen Südens und dessen
kindlich-heitere, sorglose Bewohner. Conrad, der Sonne und
Wärme als die höchsten Gaben des Schöpfers liebte, fühlte sich
in seinem innerlich künstlerischen Wesen von diesem träume-
rischen Land angezogen. In seiner Objektivität konnte er der
von ihm scharf bekämpften italienischen Politik die Anerken-
nung nicht versagen, die mit zäher Beharrlichkeit die Vereini-
gung aller Italiener zu einem großen, national geschlossenen
Reich anstrebte.
Als das Schicksal gegen die Monarchie entschieden hatte,
fühlte er nicht das Bedürfnis, diesen Gegensatz auf die feind-
lichen Soldaten zu übertragen, die nur ihre Pflicht erfüllt hatten.
357
ITALIENISCHE OFFIZIERE EHREN CONRAD
Die italienischen Besatzungstruppen sind Conrad mit vornehmer
Ehrerbietung begegnet. Es hätte hiezu nicht erst des Befehles ihres
Kommandanten bedurft, der ihnen nahelegte, dem Feldmarschall
gegenüber die größte Rücksicht zu üben. Sehr bald richtete der
rangälteste italienische Offizier in Innsbruck die Anfrage an
den Feldmarschall, ob ihm ein Verkehr genehm sei. Er erhielt
die Antwort: „Selbstverständlich, wer mir als Gentleman ent-
gegenkommt, dem gegenüber tue ich das gleiche.“ Bald darauf
fand die Vorstellung der italienischen Offiziere in der Halle des
Hotels statt, wobei sie durch stramme, militärische Haltung und
ehrerbietiges Entgegenkommen dem Feldherrn Conrad ihre
Hochachtung erwiesen.
Unter ihnen befand sich auch der Sohn des Marschalls Ca-
dorna, der bei der Begegnimg mit dem großen Gegner seines
Vaters sichtlich ergriffen war. Conrad nahm während des sich
mm entwickelnden regeren Verkehres wiederholt Gelegenheit,
seine Liebe zu Italien zu betonen: „Ich liebe Italien, seine Kunst-
schätze, seine Landschaft. Seine Menschen haben nach Reisen
die schönsten Erinnerungen in mir hinterlassen — ihre Politik
aber mußte ich auf das energischeste bekämpfen, da ich doch
die Monarchie vor dem Untergang bewahren wollte.“
Als das Gerücht umging, daß die Entente die Auslieferung
aller führenden Generale der Mittelmächte fordern wolle, ver-
sicherten die italienischen Offiziere empört, dies niemals zugeben
zu wollen.
Conrads Einstellung zur Religion
Conrad hat sich durch die Verehelichung mit einer geschie-
denen Frau über die Gesetze der katholischen Kirche hinweg-
gesetzt. Man hat hieraus unzutreffende Rückschlüsse auf seine
Religiosität gezogen. Wer ihn genau gekannt hat, wird dem
Urteil seiner Witwe zustimmen: „Man könnte Conrad vom Stand-
punkt religiöser Menschen aus gewiß nicht als religiös bezeich-
nen — und doch war er ein strenggläubiger Mensch.“
Hierin glich Conrad vielen alten Soldaten, die ihren Gottes-
358
SITTLICHE STRENGE
glauben mehr im Herzen tragen als durch Äußerlichkeiten zur
Schau stellen. Allerdings hatte Conrad seine eigene Religion,
die sich mehr an antike Glaubensbekenntnisse anlehnte. Beson-
ders die indische Religion interessierte ihn sehr, sie hat ihn viel-
fach zu philosophischen Betrachtungen über das menschliche Da-
sein angeregt. Wer mit Conrad jemals in Berührung trat, mußte
die sittliche Strenge in allen seinen Handlungen als ausgespro-
chensten Charakterzug bewundern. Sein in vielen Dingen streng
realer Geist neigte andererseits zu okkulten und spiritistischen
Gedankengängen. Aberglaube aber, dem viele große Männer
unterliegen, war ihm fremd, wenn er auch Zufallserscheinungen
oft größere Bedeutung beimaß, als ihnen zukam.
Er selbst äußert sich zur Religion: „Jeder Mensch bedarf einer
Stütze, einer Zielrichtung fürs Leben, die ihn auf geradem Weg
erhält, sei es Glaube und Religion, sei es eine auf strenge Moral-
Prinzipien gegründete Philosophie. Wenn beides fehlt, wird der
Mensch ein schwankendes Rohr im Winde, unberechenbar für
sich und für die anderen. Es bedarf beim Menschen einer be-
trächtlichen geistigen und moralischen Höhe, um auf die Re-
ligion verzichten zu können.“
Erkrankung und Tod
Drei Jahre hatte der Feldmarschall bei verhältnismäßigem
Wohlbefinden in Innsbruck verbracht; wirtschaftliche Gründe
zwangen ihn zur Rückkehr nach Wien.
Im Jänner 1924 begann er ernstlich zu kränkeln. Schon vor
Jahren vermutete er, an einer bösen Magenerkrankung zu lei-
den, doch hatten ihn die Ärzte beruhigt, daß es sich nur um
nervöse Störungen handle. Diesmal traten Erscheinungen auf,
die auf eine Erkrankung der Galle deuteten, die durch eine Kur
in Karlsbad behoben werden sollte. Der Zweifel, ob er die Be-
willigung zur Einreise in die Tschechoslowakei erhalten würde,
veranlaßte ihn, in Mergentheim Heilung zu suchen, das er von
den deutschen Kaisermanövern des Jahres 1909 her kannte. Der
Leiter der dortigen Kuranstalt, Dr. Haug, ein ebenso ausge-
359
KRANKHEIT STÄRKER ALS DER WILLE
zeichneter Arzt wie ergebener Freund, nahm sich Conrads derart
an, daß er Ende Juli 1924 mit den besten Hoffnungen heimfuhr.
Während eines Landaufenthaltes in Oberöst er reich erkrankte
Conrad von neuem. Er mußte in das Krankenhaus in Steyr ab-
gegeben werden, wo ihn Dr. Oser mit der fürsorglichsten Pflege
umgab. Im November konnte er wieder nach Wien zurückkehren.
Conrad war von zarter Konstitution, sein eiserner Wille be-
zwang aber auch Krankheiten, wie er sich gern rühmte. Er war
kein Raucher, war dem Alkohol abhold und lebte in allem sehr
mäßig. Durch möglichst vielseitige sportliche Betätigung war er
stets bestrebt, die üblen Folgen der ihm aufgezwungenen Kanzlei-
tätigkeit wettzumachen. Er war ein fleißiger Reiter und begei-
sterter Bergsteiger. Noch in vorgerücktem Alter begann er sein
Tagewerk mit „Müllern“ und „Schrebern“. Zu jeder Jahreszeit
schlief er bei offenen Fenstern und trachtete, sich gegen Witte-
rungseinflüsse abzuhärten. Es war ihm wiederholt geglückt,
durch Willensstärke Krankheiten zu überwinden; diesmal aber
war die Krankheit stärker.
Im Herbst 1924 begann der Marschall sichtlich zu verfallen.
Er konnte wohl noch kleinere Spaziergänge unternehmen, die
Kräfte nahmen aber zusehends ab. Mit dem erwachenden Früh-
jahr kehrte die Hoffnung auf den wohltuenden Einfluß der Kur
in Mergentheim wieder; ein Rückfall mußte ihn aber belehren,
daß es sich diesmal um ein ernstes Leiden handle.
Als er im Mai 1925 wieder unter der Obhut des bewährten
Dr. Haug stand, erfuhr seine Umgebung, daß es sich nur mehr
um Bemühungen handeln könne, das kostbare Leben für kurze
Zeit zu erhalten. Rückschläge wiederholten sich in beängstigen-
der Raschheit.
Conrad scheute den Tod nicht, ihm bangte aber vor dem Ab-
schiednehmen — vor allem von seiner Frau, die ihn mit hin-
gebungsvoller Liebe pflegte. Selten hat ein sterbender Mann ein
innigeres Bekenntnis der Dankbarkeit für die Gefährtin seines
Lebens hinterlassen als Conrad in den Abschiedszeilen, die sie
erst als Witwe lesen sollte.
Man hat es ihr verübelt, daß sie Conrads Briefe aus der Zeit
seines hoffnungslosen Werbens um sie der Öffentlichkeit über-
geben hat, statt sie als kostbarstes Vermächtnis einer gewaltigen
360
AN DER SCHWELLE DES JENSEITS
Liebe sorgsam vor dem Einblick jedes Profanen zu hüten. Doch
wer vermag die Tiefen einer Frauenseele zu ergründen, deren
Schicksal es war, nach den Irrwegen einer unverstandenen Ehe
auf die Höhen der idealen, gewaltigen Neigung eines Mannes
von weltgeschichtlicher Bedeutung geführt zu werden?
In vielen Stunden vertrauter Aussprache mit Conrads Witwe,
die heute, viele Jahre nach seinem Tode, keinen anderen Ge-
danken, kein anderes Gesprächsthema kennt als ihren unvergeß-
lichen großen Toten, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, daß diese
Frau nur von der Idee beherrscht war, den Mann, der ihr als
das Höchste schien, noch größer erscheinen zu lassen, indem
sich zu hohen Vorzügen des Geistes noch die Fähigkeit zu einer
reinen, vollendeten Liebe gesellte.
Möge im ausgleichenden Gedenken an unseren verewigten
Marschall jede Kritik vor der treuen Hingabe verstummen, die
Conrads zweite Frau ihm bis an sein Ende bewahrt hat.
In treuer Anhänglichkeit umstanden die deutschen Freunde
des Feldmarschalls sein Krankenbett; alle großen Führer waren
erschienen, um ihm ihre Verehrung zu erweisen.
In diesen Tagen, da Conrad den Tod nahen fühlte, durch-
forschte er nochmals sein Leben und prüfte, wie er an der
Schwelle des Jenseits über die Dinge dachte, die ihm einst so
wichtig erschienen waren.
Der Zufall fügte es, daß anläßlich eines Besuches des jüngsten
Sohnes seiner Gattin dessen Professor, Pater Streicher der be-
rühmten „Stella matutina“, nach Mergentheim kam. Mit ihm trat
Conrad bald in regen Verkehr, den er nicht mehr missen konnte
Dieser verständige Jesuit hat die äußerliche Aussöhnung Con-
rads mit der Kirche angebahnt. Die Aufgabe wurde ihm nicht
schwer, denn Conrads Bruch mit den kirchlichen Vorschriften
war ohne Rückwirkung auf seine sittliche Lebensauffassung ge-
blieben. Die Aussprachen mit diesem eifrigen Diener des Herrn
halfen Conrad, den Weg zur Religion seiner Kindheit zurück-
zufinden. Diese Einkehr hat den Vertretern der katholischen
Kirche die Möglichkeit gegeben, ihn mit ihren Segnungen zur
ewigen Ruhe zu bestatten.
Die letzte Nacht verlief verhältnismäßig ruhig. Wenn Conrad
die Augen öffnete, glitt sein Blick voll zärtlicher Dankbarkeit
361
CONRADS GEIST „UNSTERBLICH!“
über die an seinem Bette wachende Gattin. Um 6 Uhr früh ließ
die Herztätigkeit bedenklich nach. Seine letzten Worte galten
der Selbsterkenntnis: „Jetzt weiß ich, wie man es machen soll;
ich habe in meinem Leben immer zu vieles auf einmal ge-
wollt ...“ Um 1 Uhr mittags des 25. August 1925 hauchte Con-
rad schmerzlos seine Seele aus.
An seinem Totenbett trauerte nicht die Witwe eines siegreichen
Marschalls, sondern die eines verabschiedeten Generals.
Der zähe, eiserne Mann, der nur für ein großes, stolzes Öster-
reich gelebt hatte, war durch den Tod von seinen Enttäuschun-
gen und Leiden erlöst. Auf der Heimfahrt durch deutsche Gaue
war seine irdische Hülle Gegenstand tiefempfundener Ehrungen
von seiten des deutschen Volkes und seiner Wehrmacht.
In die Heimat zurückgekehrt, umstanden seine Bahre tief
trauernd die Zeugen des letzten Heldenkampfes der alten Mon-
archie. Soldaten und Staatsmänner sprachen von dem Wirken
des Toten, der wieder heimkehrte in die heimatliche Erde, die
ihn geboren hatte.
Auf dem Hietzinger Friedhof, nicht weit von der Stätte, die
sein erstes Kinderlachen gehört hatte, ruhen nach einem erschöp-
fendes Lebenskampf die sterblichen Reste des Feldmarschalls.
Unsterblich aber bleibt sein Geist; er umweht uns auch
heute noch als dauernde Mahnung, es ihm gleichzutun im unver-
drossenen Kampf fürs Vaterland!
362
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Wittich, Alfred von: Conrad von Hötzendorf; Lübeck 1934.
Vom gleichen Verfasser
erscheint im Verlag Bernard u. Graefe, Berlin
Mit meinen Sudetendeutschen und Schlesiern
im Weltkrieg
etwa 400 Seiten, mit Bildern, Skizzen und Kartenbeilagen
reich ausgestattet
Leinen band etwa RM 7*50
Vorbesteller-Vorzugspreis etwa RM 6*50
In den Reihen dieser österreichischen Division kämpften vorwiegend die
Deutschen Stammesbrüder aus Sudetenland und Schlesien, aus Mähren und
Böhmen. Feldmarschalleutnant von Urbanski ist wie selten einer berufen,
dieses Buch zu schreiben. Er, der langjährige Kommandeur dieser „Eisernen
Division“ hat es sich aus innerster Verpflichtung heraus als seine letzte
Lebensaufgabe gestellt, in diesem Ehrenbuch die Taten seiner unver-
geßlichen Schützen der Nachwelt zu erhalten.
Das Buch stellt sich würdig in den Dienst der Dankesschuld an
die treuesten Vorkämpfer für das große Deutsche Vaterland
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