Die Kulturbedeutung
Englands
Vortrag
gehalten vor der Zürcher Freistudentenschaft
am 3. Juni 1915
von
Dr. Theodor Vetter
Professor an der Universität und an der Mdg. Techn. Hochschule Zürich
Zürich 1915
Druck und Verlag: Art. Institut Orell Füßli
GANZ ODER GAR. NICHT!
EXLIBRIS F GEORG LANDAUER
WWW
DUMP
RUWMD
i
■
' f ■ V • - \7.
■
- lfiMAsW
'
Die Kulturbedeutung
Englands
Vortrag
gehalten vor der Zürcher Freistudentenschaft
am 3. Juni 1915
von
Dr. Theodor Vetter
Professor an der Universität und an der Cidg. Techn. Hochschule Zürich
Zürich 1915
Druck und Verlag: Art. Institut Orell Füßli
Vorbemerkung.
(Für die ganze Vortragsreihe.)
Freistudentenschaft der Universität Zürich hat im
^-^Wintersemester 1914/15 eine Reihe von Vorträgen
veranstaltet, die den Zweck hatten, das Denken über den
Weltkrieg über das Niveau der gewöhnlichen Tages-
diskussion zu erheben und die der akademischen Jugend
durch dieses gewaltige und furchtbare Ereignis gestellte
Ausgabe zu beleuchten. Sie sollten besonders auch durch
die Hervorhebung der Kulturbedeutung der sich heute be-
kämpfenden Völker dazu dienen, an Stelle des heutigen,
zum guten Teil auf Unkenntnis beruhenden, Völkerhasses
Verständnis und damit Achtung und Liebe zu pflanzen.
Die Freistudentenschaft der Universität Zürich meinte,
damit eine Aufgabe zu erfüllen, die nicht nur dem Geiste
wahrer akademischer Bildung, sondern auch der Eigenart
der schweizerischen Lage entspreche.
Der Vorstand der Freistudentenschaft
der Universität Zürich.
Dieser Vortrag wird aus Wunsch der Zürcher Frei-
studentenschaft dem Drucke übergeben, und zwar geschieht
es genau in der Form, in der er gehalten worden. Weitere
Ausführungen, Vergleiche, Schlußfolgerungen versage ich
mir absichtlich, so groß die Versuchung zu solchem ist.
Nur die Tatsachen sollen sprechen; der gebildete Hörer
und Leser wird am liebsten selbst seine Schlüsse ziehen.
Seinem wohlwollenden Urteile sei dieser Versuch über-
geben.
Th. V.
Kommilitonen!
»Kings um uns her wütet der Weltbrand. Unzählige
v ^Errungen s«haften der Kultur, auf die wir glaubten
stolz sein zu dürfen, werden vernichtet; unermeßliches
Weh kommt über die kriegführenden Nationen, endloser
Jammer, den auch das glänzendste Siegesbewußtsein
nicht wird zu stillen vermögen. Und wir stehen mitten in
den gewaltigen Ereignissen, verschont durch ein gnädiges
Schicksal und doch im Innersten von bitterem Leid er-
griffen über all das Schwere, das von unsern Nachbar-
völkern, die wir schätzen und lieben, ertragen werden muß.
Ihnen bleiben in allem Elend Patriotismus und uner-
schöpfliche Opferfreude, die sie über das Schreckliche
emporheben. Uns ist beschieden, tatenlose Zuschauer zu
sein, abseits vom Schauplatze der welterschütternden Be-
gebenheiten. Fürs eigene Vaterland leistet jeder Schweizer
freudig, was er zu leisten imstande ist; den leidenden
Nachbarn wird er in aller Stille helfen, wo immer sich
ihm dazu Gelegenheit bietet und wo er über Mittel und
Wege dazu verfügt. Der Rest aber muß Schweigen sein,
ein Schweigen und Zurückhalten, das manchem unendlich
viel schwerer auf der Seele lastet, als wenn er energisch
und tätig Anteil nehmen dürfte an den großen Gescheh-
nissen.
Viel, allzuviel ist schon von uns gesprochen worden;
allzu oft haben wir geglaubt reden und belehren zu müssen,
wo unser Stillschweigen besserund nützlicher gewesen wäre.
— Und ich soll heute diesen Grundsatz des Schweigens,
6
den ich so sehr billige, brechen? — Sie, werte junge
Freunde, veranlassen mich dazu. Wenn die akademische
Jugend von ihren Lehrern fordert, daß sie sich über eine
Frage äußern, so ist es Pflicht, nicht sich in ein Schweigen
zu hüllen, das leicht falsch gedeutet werden könnte. Es
gehört meines Erachtens mit zu den Aufgaben des Do-
zenten, nicht engherzig bloß im Gebiete seiner Wissenschaft
zu wirken, sondern auch Problemen gegenüber Stellung
zu gewinnen, die für die studierende Jugend im allge-
meinen von Wichtigkeit sind, ihr offen seine Ansichten zu
bekennen, selbst auf die Gefahr hin, entgegengesetzte
Meinungen hervorzurufen.
Bei allen Bedenken, in meiner Rede ein unüberlegtes
Wort fallen zu lassen, ist es mir eine Freude, Zeugnis
abzulegen von meinen innersten Empfindungen in bezug
auf die Frage, die Sie mir gestellt haben; denn es ist doch
ein Teil meiner Lebensaufgabe, Klarheit darüber zu
erstreben, was England und seine Kultur der Menschheit
geleistet, was von englischem Geiste, von englischer
Energie und Tatkraft Gutes und Förderndes ausge-
gangen. Jahrzehntelange Beschäftigung mit englischer
Literatur, häufige Aufenthalte jenseits des Kanals,
herzliche Beziehungen zu englischen Gelehrten sollten
mich zu einem Urteile befähigen, dem man nicht den Vor-
wurf der Oberflächlichkeit sollte machen dürfen.
Und Sie verlangen ja glücklicherweise eine Darstellung
des Guten, das die Welt England verdankt; Sie stellen
mir nicht die Aufgabe, die Schattenseiten, die sich in Eng-
land genau so finden wie in jedem andern Lande, her-
vorzuheben. Das mögen andere besorgen, oder haben es
schon besorgt. Mitten in den Wogen der Verleumdung
7
die Vorzüge einer Nation schildern zu dürfen, mitten in
einem unauslöschlichen Hasse, der fast täglich neu geschürt
wird, verkünden zu dürfen, was man über den Ge-
schmähten Günstiges und Lobenswertes weitz, das ist ein
Auftrag, dessen sich ein Neutraler aufrichtig freuen wird.
Aber ich will Ihnen nicht verschweigen, daß ich einen
solchen Auftrag auch nach anderer Richtung ohne Be-
denken übernommen hätte. Die Erinnerung an schöne
Studienjahre in Deutschland, Gefühle der Dankbar-
keit gegenüber deutscher Wissenschaft, aufrichtige, warme
Freundschaft mit deutschen Gelehrten und Schulmännern,
verwandtschaftliche Beziehungen liehen mich vor Ihnen
mit derselben Begeisterung von den Vorzügen Deutsch-
lands sprechen. Und um das Matz voll zu machen, füge
ich gleich noch das Geständnis hinzu, datz ich nicht minder
freudig pon all dem Ausgezeichneten und Liebenswürd-
gen erzählen würde, was ich bei längerem Aufenthalte
vor mehr als dreitzig Jahren und seither bei wiederholten
Besuchen in Frankreich habe erfahren und beobachten
dürfen.
Während ich indessen von Ihrer Bildung und Urteils-
fähigkeit erwarten könnte, datz Sie mir auf alle drei Ge-
biete mit gleichem Interesse folgen würden, wäre es eine
allzu starke Zumutung, wollte ich von Ihnen verlangen,
datz Sie die Wärme und Liebe mit mir teilen, die ich für
Rutzland hege. Etwa vier Jahre habe ich dort (grötzten-
teils in amtlicher Stellung) verbracht. Jahrzehnte sind
seither vergangen, und heute noch ist es meinem Herzen
eine Wohltat, wenn ich verständnisvollen Menschen von
dem Vorzüglichen reden darf, was im russischen Charakter
liegt. Auch die peinlichsten Erfahrungen im öffentlichen
8
Leben Rußlands werden meinen Glauben an den guten
Kern niemals ins Wanken bringen.
Warum erwähne ich all das? — Warum geht meine
Mitteilsamkeit sogar so weit, Ihnen auch noch zu sagen,
daß ich mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt
habe und von Dankbarkeit gegenüber der Neuen Welt er-
füllt bin? — Wahrhaftig, ich bin über die Lebensperiode
leerer Prahlerei längst hinaus und wünsche keinem meiner
Zuhörer mit meiner „Weitgereistheit" zu imponieren.
Ich möchte lediglich beweisen, daß mir wenigstens die
Gelegenheit geboten war, mein Auge zu schärfen, und
daß ich hätte lernen können, in das Wesen einer Nation
hineinzuschauen. Fällt mein Urteil schief oder falsch aus,
so will ich mich gerne von Leuten korrigieren lassen, die
auch etwas über den väterlichen Gartenzaun hinausgeblickt
haben. Uber die Kritik der stets „Daheimgebliebenen"
gehe ich ruhigen Sinnes hinweg.
* *
-st
Wenn reine Rasse, durch Jahrtausende hindurch
ohne fremde Beimischung fortgepflanzt, die Grundlage
zur Gediegenheit einer Nation bildet, so muß der Eng-
länder beschämt in den Hintergrund treten. Selten hat
sich ein Volk aus so vielen und so verschiedenen Elementen
zusamengesetzt wie das englische. Wo immer ein eng-
herziger Chauvinismus sich unter Engländern breit zu
machen suchte und einen Unterschied zwischen Einge-
borenen und Fremden zur Geltung bringen wollte, hat
die einheimische Kritik eingesetzt und solche Bemühungen
als lächerlich gebrandmarkt. Schon der Verfasser des
Robinson Crusoe hat seinen Landsleuten ins Gesicht ge-
9
sagt, ein arabisches Pferd habe weit mehr Grund auf
seinen reinen Stammbaum stolz zu sein, als ein Engländer.
Kelten, Germanen, Romanen—um von all den Zwischen -
gattungen zu schweigen —lieferten die Hauptbestandteile
der Nation, die im Laufe etwa eines Jahrtausends von
völliger Unbedeutendheit zur Weltgrötze herangewachsen
ist. Aber nicht allein an Hand dieses Beispieles, sondern im
Hinblick auf das Werden anderer führender Völker hat
sich die Wissenschaft zugunsten der Rassenmischung aus-
gesprochen. Frankreich, Spanien, die Vereinigten Staa-
ten haben alle zu ihrer Zeit diese Mischung durchgemacht,
haben aus der Verschmelzung tüchtiger Eigenschaften
zweier oder mehrerer Völker Unternehmungslust, Kraft
und Macht gewonnen.
Im Ringen um die eigene Eristenz, das wird uns ja
in diesen Tagen hundertfach verkündet und bewiesen,
stählen sich Mut und Energie. Wer hinauszieht, sich eine
neue Heimat zu erobern, der gehört nicht zur Klasse der
Schwächlinge; er fühlt in sich die Fähigkeit, einer Welt
zu trotzen und sich den Platz an der Sonne zu behaupten.
Vom Kontinent sind die germanischen Stämme herüber-
gekommen, haben die Kelten verdrängt, haben unter
einander und gegen die Dänen gekämpft, haben den Nor-
mannen Widerstand geleistet und sich nach langem Ringen
doch mit ihnen verschmolzen. Die neue Nation hat Ströme
von Blut auf französischem Boden vergossen, bevor sie sich
darein ergab, ein Jnselvolk zu werden. Sie hat gegen das
gewaltige Spanien und seine Seemacht gekämpft und sie
überwunden, um als größte Gründerin von Kolonien in
den neuen und alten Weltteilen sich festzusetzen und eine
Herrschaft auszuüben, die den übrigen Völkern, die in-
10
zwischen auch zu Macht und Bedeutung herangewachsen
waren, als ein schweres Hindernis eigener Entwicklung
erscheinen mutzte.
Man mag das stolze Selbstbewußtsein des Engländers
unangenehm empfinden; aber begreifen wird es jeder,
der historisch zu denken fähig ist. Wer in der Neuen Welt,
am Kap der guten Hoffnung, in Indien, in Australien
aus das Werk seiner Vorfahren hinweisen kann, von dem
kann man billigerweise nicht verlangen, datz Bescheidenheit
seine hervorragendste Tugend sei.
Wie aus Unternehmungslust und Wagemut, so hat
auch auf die Sprachentwicklung die Völkermischnng
fördernd eingewirkt. Das freiwillige oder gezwungene
Aufnehmen fremder Elemente, die stete Vereinfachung
einer ursprünglich reich und mannigfaltig ausgestalteten
Sprache, haben diese zur Jnternationalität gewissermatzen
prädestiniert. Beobachtet man z. B. wie Eingewanderte
in den Vereinigten Staaten nach wenigen Wochen sich des
Englischen bedienen, mag ihr Wortvorrat noch so be-
scheiden, ihre Aussprache noch so unbeholfen sein, während
z. B. in Rutzland neue Ansiedler, sogar gebildete, nach Jahr
und Tag noch keinen ordentlichen Satz in der Sprache der
neuen Heimat zu konstruieren vermögen, so erhält man ein
klares Bild von dem gewaltigen Unterschiede zwischen einer
kunstvollen und schönen Sprache, wie das Russische es ist,
und einer ausgeglichenen und vereinfachten Weltsprache,
zu der das Englische sich entwickelt hat. —In der ganzen
Welt mit seiner Sprache verstanden zu werden, ist auch
ein Vorzug, der nicht direkt zur Bescheidenheit führt.
Wo immer Völker um ihr Dasein haben ringen müssen
und wo Nationen verschiedener Abstammung sich schlieh-
11
lich, trotz ursprünglicher Abneigung, zu einem Ganzen
vereint haben, um andern, äußern Feinden gegenüber
kräftig zu sein, da ist auch das Bewußtsein der Selb-
ständigkeit und Unabhängigkeit herangewachsen.
Der Herrscher und Könige bedurfte man als Anführer im
Kampfe, in Friedenszeiten wohl auch zur Gesetzgebung;
wer aber auf dem Schlachtfelde sein Leben für die Seini-
gen eingesetzt hat, der wird nach Überwindung der äußeren
Gefahr den Fragen der inneren Entwicklung nicht teil-
nahmlos gegenüberstehen.
Schon früh sehen wir auf englischem Boden die Volks-
versammlung „I'olk=gem6t“ mit gewissen Rechten aus-
gestattet, und neben dem Könige sitzt der Rat der Weisen,
„Witena=gein6t“, welch letzterer namentlich von nicht
geringem Einflüsse war. Normännische Anschauungen
vermochten den Sinn für die Rechte des Volkes nicht zu
unterdrücken. Wie stark auch die Versuche der neuen
Herrscher sein mochten, die volle und unumschränkte Ge-
walt in ihre Hände zu bringen, immer wieder regte sich
das tief eingewurzelte Bewußtsein, daß das Volk in der
Bestimmung seines Schicksals mitzusprechen habe.
Von allen Darstellern englischer Geschichte, gleichviel
welcher Nation sie entstammen, ist das Ereignis vom
15. Juni 1215 als eines der bedeutungsvollsten im Werden
der Völker bezeichnet worden. Freie Männer sind es,
die auf der Themseinsel bei Runnymede ihrem Könige
einen Freibrief abtrotzen, dessen Inhalt eine Zusammen-
fassung all der Vorrechte ist, die sich die Untertanen eng-
lischer Herrscher im Laufe der Jahrhunderte errungen
hatten und die damals in Gefahr standen, ihnen entrissen
zu werden. Die ganze Verfassungsgeschichte Englands
12
durch sieben Jahrhunderte ist bis auf diesen Tag auf der
Magna Charta aufgebaut, und man begeht keine Über-
treibung, wenn man die in jenem unschätzbaren Dokument
niedergelegten Grundsätze als ebenbürtig neben die De-
claration des droits de l’homme stellt, wie sie die Ver-
fassung Frankreichs vom September 1791 verkündete.
Wo immer im Laufe der Zeiten zwischen den Forde-
rungen des Königs und den Rechten des Volkes Streit-
fragen sich erhoben, da wurde — und meist mit raschem
Erfolge — der große Freiheitsbrief angerufen. Karl I.
mutzte sich ihm unterwerfen, als die Volksvertreter die
Bittschrift um Herstellung des Rechtes (Petition of Right
1628) an ihn richteten. Sein späterer Widerstand aber
hat ihn Thron und Leben gekostet.
Ein halbes Jahrhundert nachher (1679) wurde Karl II.
gezwungen, einen besondern Abschnitt des großen Frei-
heitsbriefes, die Garantie, daß kein englischer Bürger
ohne Richterspruch der Freiheit beraubt werden dürfe,
durch die Habeas-Corpus-Akte zu bestätigen.
Und als ein zweites Mal ein Herrscher aus dem un-
glücklichen Hause der Stuarts die Rechte des Volkes
glaubte mißachten zu dürfen, da wurde seine Dynastie
auf immer des Thrones verlustig erklärt; und sein Schwie-
gersohn, Wilhelm von Oranien, konnte die Würde eines
Königs von England nur unter der Bedingung erlangen,
daß er mit seiner Gemahlin Maria, der Tochter des ver-
triebenen Königs feierlich ein neu formuliertes Gesetz,
die Declaration of Rights, später die Bill of Rights be-
schwor.
Wohl ist auch in England in mittelbarer Verteidigung
der Volksrechte des Blutes genug geflossen; aber durch
13
den steten Ausbau der schon im dreizehnten Jahrhundert
gewonnenen Grundlagen wurde doch eine Entwicklung
gefördert, die dem Reiche die schmerzhaften Konvulsionen
der französischen Revolution ersparte.
Nicht weniger wichtig ist die Wirkung, die von engli-
schen Zuständen auf die neue Weltund von dort wiederum
auf den alten Erdteil ausging. Ob wir die Verfassung
der Vereinigten Staaten, ob wir die Grundideen der
französischen Revolution prüfen: überall treten uns wie-
der Züge aus den englischen Verfassungskämpfen ent-
gegen. Richt Klotz konstitutionelle Monarchien, in weit
grötzerem Umfange haben republikanische Staaten von
dem monarchischen England gelernt.
Die insulare Lage war nicht allein für eine ununter-
brochene Entwicklung des Freiheitsgedankens, son-
dern auch für dessen Ausbreitung unter die Völker der
Erde von grötzter Wichtigkeit.
Datz neben bürgerlicher Freiheit religiöse Unduld-
samkeit in England eine Stätte hatte, weitz jeder Gebildete
nur allzu gut. Aber es war das Land selbst, das sich damit
die grötzten Wunden schlug, da es sich die besten Kräfte
durch Auswanderung entzog. Doch sei nicht vergessen,
datz mehr als einmal ernstlich dafür gearbeitet wurde, datz
den Angehörigen aller Bekenntnisse gleiche Freiheiten
gewährt werden sollten.
Einen der schönsten Beweise für die Achtung vor per-
sönlicher Freiheit ist die Aufhebung aller Bestimmungen,
die den Arbeiter im Rechte der Koalition oder der Aus-
wanderung einschränkten. Seit 1824 kann der englische
Arbeiter sich zur Förderung seiner Standesinteressen un-
gehindert zusammenschlietzen und er wird hierin gegen-
14
über rücksichtslosen Arbeitgebern durch das Gesetz ge-
schützt. Wie lange hat es gedauert, bis dem Arbeiter auf
dem Kontinent derselbe Schutz gewährt wurde?
Auf seine Inseln eingeschränkt hätte England niemals
zu Weltmacht und Weltbedeutung gelangen können. So-
bald es daher die inneren Kämpfe überwunden hatte,
ging es daran, Beziehungen nach außen zu suchen.
Spanien hatte sich den ersten Gewinn von der Ent-
deckung neuer Erdteile gesichert; aber lediglich durch
Abenteuer und Raub wollte es sich die Reichtümer der
neuen Welt aneignen. Kaum anders dachten die ersten
Seefahrer, die von England auszogen. Indessen zeigte
sich bald edlere Gesinnung. Die Gründung der Oft-
indischen Kompagnie, der die Königin Elisabeth
den ersten Freibrief ausstellte, wäre auch im Urteile der
Gegenwart ein durchaus korrektes, großzügiges, kaufmän-
nisches Unternehmen. Daß sie das immer geblieben, wird
auch der englische Patriot nicht behaupten wollen. Ge-
walttat und Unterdrückung fanden sich in ihrem Gefolge
ein und führten mehr als einmal zu schweren und blutigen
Konflikten. Immerhin läßt sich nicht ermessen, von welch
weittragender Bedeutung die Erschließung Indiens für
den Welthandel und damit für die Kultur der Welt ge-
wesen.
Im neuenErdteile faßte der ritterliche Sir Walter
Raleigh, der Schützling der Königin Elisabeth schon 1584
festen Fuß und nannte das Land zu Ehren seiner Gönne-
rin Virginia. Eine Gesellschaft organisierte sich im Jahre
1606 und gründete Jamestown, aber schon 1619 hatte die
Kolonie ihre eigene Volksvertretung. — Religiöse Un-
dulsamkeit vertrieb 1620 ein Häufchen tüchtiger Menschen
15
aus der englischen Heimat. Auf der Mayflower kamen
sie an die Küsten von Massachusetts, und was diese
„Pilgerväter" erreicht» ist Ihnen allen geläufig. Ebenso
wissen Sie» wie unglaubliche Engherzigkeit der englischen
Regierungspartei das großartigste Kolonisationswerk dem
Mutterlande entfremdete. Doch wäre es unbillig» nicht
auch daran zu erinnern» daß weitsichtige» kluge Männer
eine ganz andere Politik verteidigen. Mit Aufbietung
der letzten Kraft trat William Pitt für die Rechte der
Kolonie ein; daß er nicht gehört wurde» war ein schweres
Verhängnis.
Und aus diesem Unglück hat England die richtige Lehre
gezogen. Was es im weiteren Verlaufe des achtzehnten
Jahrhunderts an Kolonialbesitz gewonnen» was es im
neunzehnten seinem gewaltigen Reiche zugefügt, das
wurde mit jener Vorsicht behandelt, die das Gefühl der
Freiheit und Selbständigkeit in den Kolonien aufwachsen
Netz und zugleich in den fernsten Ländern den Stolz
pflegte, zur englischen Nation zu gehören. Selbst die
Vereinigten Staaten haben den Hatz längst beiseite gelegt
und Bande aufrichtiger Freundschaft und Hochachtung
verbinden sie heute mit dem Mutterlande.
Überall in den englischen Kolorn all ändern finden wir
Einrichtungen des öffentlichen wie des privaten Lebens,
die uns die Zugehörigkeit zu England auf den ersten Blick
verraten. Überall aber auch Verschiedenheiten, die den
Beweis leisten» wie sehr der Kolonisator darauf bedacht
war, jedem Lande seine berechtigten Eigentümlichkeiten
so viel als möglich zu lassen. Das ist die wahre Kunst des
Kolonisierens, die sich gerade in neuester Zeit bei Au-
stralien und Südafrika wieder bewährt hat.
16
Längst ist England von der verhängnisvollen Praxis
abgekommen, in den Kolonien durch Auferlegung von
Steuern sich Gewinn zu holen. Unendlich viel größer
als die höchste Besteuerung ist der Ertrag aus freiem
Handelsverkehr. Unbedeutend ist daneben, was die eng-
lische Regierung zum Schutze des Handels für Heer und
Flotte auszugeben hat. Und welchen Dank emtet es
heute? Haben nicht Kanada und Australien bewiesen,
daß sie mit dem Mutterlande fühlen und daß sie bereit
sind, ihm große Opfer zu bringen?
Je mehr England sich ausdehnte und je leichter es sich
Bedürfnisse des täglichen Lebens aus seinen Kolonien
verschaffen konnte, um so stärker war es darauf bedacht im
eigenen Lande die Industrie, die seit Jahrhunderten
heimisch war, zu fördern und die Produktion auf diesem
Gebiete zu steigern. Schon König Eduard III. hatte sich ein
Verdienst dadurch erworben, daß er aus Flandern die
Weberei einführte, die für Tausende ein guter Erwerbs-
zweig werden sollte. Seither ist unermüdlich dahin ge-
arbeitet worden, dem Volke eine einträgliche Tätigkeit
zu erhalten. Als die Baumwolle neben die Schafwolle
trat und das Bedürfnis nach Großproduktion sich zeigte,
da war es England, das die ersten Maschinen erfand und
verwertete. Mochte dem Arbeiter anfänglich die Er-
findung der Spinnmaschine als eine Zerstörerin seines
Glückes erscheinen, so erwiesen sich mit der Zeit die Ma-
schinen des ehemaligen Barbiers Richard Arkwright und
des anspruchslosen James Hargreaves als wirkliche Wohl-
taten für die Menschheit. Von England aus hat diese Indu-
strie einen unerhörten Aufschwung genommen und Mil-
lionen von Menschen eine einträgliche Tätigkeit gebracht.
17
Unermüdlich haben die Engländer auf dem Gebiete
der Erfindungen gearbeitet. Es wäre verkehrt, dem
einzelnen die Verdienste zuzuschreiben, die nur durch un-
unterbrochene Anstrengung von Generationen verschie-
dener Nationen zustande gekommen sind. Dennoch bleiben
die Namen von James Watt, des Erfinders der Dampf-
inaschine, und von George Stephenson, des Erfinders der
Lokomotive, auf ewig mit der Geschichte menschlichen
Fortschrittes verbunden.
Auch für Erfindungen, auf die England durchaus
keinen Anspruch erheben darf, erwies sich der englische
Boden doch als ungemein günstig. Verhältnismäßig spät
hat auf der britischen Insel die Kunst des Buchdruckes
Eingang gefunden; als aber einmal die Pressen in Gang
kamen, da erzeugten sie eine solche Menge von wertvoller
Literatur, daß die vorausgegangenen Leistungen des
Kontinents bald eingeholt und überholt waren. Und auch
in den Dienst des öffentlichen Lebens stellte sich die neue
Erfindung, Fragen des Gemeinwohls wurden durch die
Presse erörtert, Gesetz und Recht wurden mit ihrer Hilfe
ausgebaut. Als aber die der freien Meinungsäußerung
gezogenen Grenzen sich als zu eng erwiesen, da erhob sich
ein Mann wie Milton und forderte mit gewaltiger Stimme
die Befreiung von einem Joche, das unerträglich ge-
worden war.
Wie interessant ist das Bild der Entwicklung der eng-
lischen Presse durch den Lauf der Jahrhunderte, wie
großartig die Erfindungen, die zur größeren Leistungs-
fähigkeit derselben gemacht wurden! Auch hier konnte nur
gemeinsame Arbeit der Nationen zum höchsten Ziele
führen, aber es darf doch gesagt werden, daß die Wiege
2
18
der Schnellpresse in England gestanden, wenn auch die
Vervollkommnungen wesentlich deutsche Verdienste sind.
Aber die Wirkung der Presse als Organ der Volksbeleh-
rung führe ich den Satz einer deutschen Autorität an:
„In England hat sich nach Aufhebung des läcsuslng Act
(am 17. April 1695) das Zeitungswesen am gleichmäßig-
sten entwickelt und nimmt den ersten Rang ein an Be-
deutung für das innere Leben des eigenen Volkes und an
Einfluß auf die andern Nationen." Kann noch höhere
Anerkennung von Seite eines Nichtengländers erwartet
werden?
Stehen dem flüchtig Betrachtenden Englands staatliche
Einrichtungen, sein Handel, sein Verkehr zunächst vor
Augen, so wird eine genauere Prüfung unsere Aufmerk-
samkeit auf die englische Bildung lenken. Hiebei
müssen wir uns gleich von Anfang an sagen, daß das Bil-
dungsideal nicht bei allen Nationen dasselbe sein kann.
Wenn der Engländer von heute vor allem praktische Ziele
im Auge hat, so ist das keineswegs überall der Fall und ist
insbesondere durchaus nicht zu allen Zeiten so gewesen.
Es gibt der tüchtigen Erzieher und Schulmänner in Eng-
land genug, deren Sinn nicht weniger eifrig auf ein hohes
Ideal gerichtet ist, als wir es bei den Pädagogen des
Kontinentes finden können, und Anregungen sind von
England ausgegangen, die bei den nach höchsten Idealen
strebenden Erziehern des Festlandes freudigste Aufnahme
gefunden haben.
Eine Volksschule in unserm Sinne kennt England
trotz der neuen und mannigfachen Schulreformen auch
heute noch nicht. Wenn wir mit unserer Schablone kom-
men, so werden wir sehr viel auszusetzen haben. Vielleicht
19
Iaht sich aber auch der Baum an seinen Früchten erkennen.
Und wer sich die Mühe nimmt auszuforschen, was der
gemeine Mann kennt und weiß, der wird doch zu dem
Schluffe kommen, daß England die heranwachsende Ge-
neration fürs Leben nicht schlecht ausrüstet. Und ähnlich
dürfte es sich mit der höheren Bildung verhalten. Man
legt drüben das Hauptgewicht auf die Schulung des
Geistes und hat weniger Hochachtung vor dem massen-
haften Wissen, wie wir es pflegen. Genau zu dieser
Stunde vor einem Jahre stand ich in einer großen deutschen
Stadt mit einem hervorragenden englischen Schulmanne
im Gespräch über dieses Thema und freute mich herzlich,
von ihm zu vernehmen, daß man in England nicht daran
denke, die Vielwisserei zum Ziele der Bildung zu erheben,
sondern daß man im Gegenteil darauf ausgehe, an einer
Vertiefung der Bildung zu arbeiten und die Unmasse der
Prüfungen nach dieser Richtung zu beschränken und zu-
gleich auszubauen.
Die Anlage der englischen Universität ist in dieser Hin-
sicht für uns bemerkenswert. Eine ganz bescheidene Zahl
von Fächern bildet die Vorstufe zum höheren Studium,
dagegen soll der Geist zu gründlichem Denken erzogen
sein. Lesen Sie die Biographien großer Engländer: Sie
werden erstaunt sein zu sehen, daß bedeutende Staats-
männer scheinbar sehr enge Studien in Mathematik und
klassischen Sprachen gemacht haben, oder daß hervor-
ragende Naturforscher in ihren Vorbereitungsjahren sich
gerade mit naturwissenschaftlichen Fächern kaum be-
schäftigt haben.
Manches mag uns in den ehrwürdigen Universitäten
von Orford und Cambridge veraltet erscheinen ; schon ihr
20
Nutzeres erfüllt uns mit dem Gefühle längstvergaugener
Romantik. Aber ihre Leistungen, die wir durch lange
Jahrhunderte hindurch mit wachsender Bewunderung
verfolgen, zwingen uns zu grötzter Hochachtung und
werden uns auch begreiflich machen, datz der kon-
servative Geist des Engländers an einer Reihe von
Autzerlichkeiten festhält, die man heute leicht entbehren
könnte. Und wie stattlich ist die Zahl der hohen Schulen,
die sich in neuerer Zeit in allen Teilen des Landes auf-
getan haben und deren Einrichtungen sich von Alter-
tümelei freizuhalten suchen!
Ist uns nicht von England her in den letzten Jahr-
zehnten jene Bewegung zugekommen, die unter dem
englischen Namen der „University Extension“ so starken
Anklang gefunden hat?
Unmöglich aber ist es einen Katalog all der bedeuten-
den Gelehrten Englands zu geben, deren Werke man
auf dem Kontinente kennen mutz, wenn man auf irgend-
einem Gebiete gründliche Studien treiben will. Soll ich
den Philologen sagen, was sie dem Scharfsinne eines
Richard Bentley verdanken? Will einer sich Philosoph
nennen, ohne mit Hobbes und Locke, ja — trotz neuerer
Angriffe — auch mit Herbert Spencer bekannt geworden
zu sein? Kann ein Naturforscher ohne Kenntnis der
Theorien Darwins auskommen? Müssen wir nicht schon
auf der Schule wissen, was der zweiundzwanzigjährige
Jsaac Newton entdeckt hat? Wo ist der Nationalökonom,
der sich nicht mit den Theorien Adam Smith's aus-
einanderzusetzen hätte? wo der Mediziner, der nicht mit
Anerkennung der Neuerungen gedächte, die Joseph Lister
in die Chirurgie eingeführt hat? Auf allen Gebieten sind
21
der hervorragenden Engländer so viele, daß die Wissen-
schaft ohne ihre Mitarbeit, ja ohne ihre bahnbrechenden
Leistungen niemals zu der gegenwärtigen Höhe hätte
emporsteigen können. Nur das Zusammenwirken der
geistigen Kräfte aller Nationen vermag wirklich Großes und
Bleibendes zu schaffen, und keine können wir entbehren,
wenn die erhabensten Ziele sicher erreicht werden sollen.
Vor zwei Jahren hat eine Gesellschaft ihr 250jähriges
Jubiläum gefeiert, die aus den bescheidenen Vereinigun-
gen gleichstrebender Männer hervorgewachsen ist: die
Royal Society. Was damals zu ihrem Lobe und von
ihrer Kulturbedeutung in allen Sprachen gesagt worden
ist, kann ich nicht wiederholen, doch erinnern will ich daran,
wie in jenen festlichen Tagen, im Juli 1912, in allen
Blättern zu lesen war, daß die Royal Society mit ihrer
Förderung der Naturwissenschaften der Menschheit die
allergrößten Dienste erwiesen.
Nicht in meine Aufgabe kann es fallen, von der Wichtig-
keit der Literatur Englands für die gesamte Literatur
der Welt zu sprechen. Das ist ein Thema, das früher
insbesondere von den Feinden des heutigen England
mit unendlicher Sorgfalt und Begeisterung behandelt
worden ist. Was ist Shakespeare für die Kultur der
Welt geworden? Bände vermögen seine Verdienste
nicht zu würdigen. Dabei gesteht sein Heimatland
ganz gerne ein, daß deutsche Wissenschaft ihm die größte
Anerkennung und die gründlichste Arbeit hat zuteil
werden lassen. „Speziell in der genauen Erforschung
(sagt ein moderner englischer Schriftsteller) kann man
ohne Übertreibung sagen, daß Deutschland mehr für
Shakespeare getan hat als seine eigenen Landsleute."
22
Wie ist Byrons Geist in alle Nationen eingedrungen!
Ob zum Glücke? das wollen wir nicht beantworten,-
aber bis nach dem fernsten Osten ist er ein Anreger ge-
worden und hat eine Literatur hervorgerufen, auf die
fremde Völker mit besonderem Stolze Hinweisen. Wir
brauchen nur bei Goethe nachzulesen, was er von dem
Dichter des Manfred und des Don Juan gehalten, dessen
Schwächen er genau durchschaute, dessen hohe Bedeutung
er aber dem Lebenden wie dem Toten gegenüber warm
und voll Teilnahme anerkannte. Es ist derselbe Goethe,
der von dem jetzt fast vergessenen Laurence Sterne das
schöne Wort gesprochen, er habe „die große Epoche reiner
Menschenkenntnis, edler Duldung, zarter Liebe zuerst
angeregt und verbreitet".
Können wir uns das Emporblühen des historischen
Romanes in der deutschen Literatur denken ohne Walter
Scott? Wo ist der junge Mensch, der nicht über Robinson
Crusoe sich gebeugt hätte? Was ist alles aus diesem ein-
zigen Helden hervorgewachsen! Wer hat der Welt das
tröstliche „Arbeiten und nicht verzweifeln" zugerufen?
der eckige, aristokratische Carlyle, der Schwärmer für
deutsche Philosophie. Wohin wir uns in der Literatur
Englands wenden, überall finden wir jene Geister, die
weit über ihr eigenes Volk hinaus gewirkt haben, die zu
Förderern der Weltliteratur geworden sind.
Ungemein viel Gutes haben auch die einfachen Er-
zähler durch ihre Werke wie durch ihre Anregung der
ganzen Menschheit erwiesen. Nicht Dickens allein, dessen
köstlicher Humor seiner Mit- und Nachwelt so viele frohe
Stunden geschaffen, auch das ganze Heer weniger be-
gabter Romanschriftsteller hat seine Verdienste. Ein Un-
23
recht wäre es, wollte man nun plötzlich dessen vergessen,
was lange Jahrzehnte hindurch die Freude von Millionen
von Lesern gewesen.
Nicht Geringes hat England geleistet in den Be-
mühungen, die literarischen Denkmäler zu erhalten und
zugänglich zu machen. Nach dem Muster der imposanten
Bibliothek des Britischen Museums, welche Schätze in un-
geahnter Fülle bietet, haben andere Länder sich bemüht,
Ähnliches ins Leben zu rufen, und insbesondere die Neue
Welt hat auf diesem Gebiete Erstaunliches erreicht. Aber
auch für den Ungelehrten sollten Bücher kein schwer zu
erlangender Genuß sein. Durch öffentliche Mittel wie
durch private Schenkungen ist England, lange bevor man
anderswo daran dachte, bemüht gewesen, die Schriften
seiner größten Geister auch dem einfachen Manne in die
Hand zu geben, indem überall Volksbibliotheken gegründet
wurden. Parallel damit ging die Veröffentlichung des
Wertvollsten in billigen Ausgaben, wie sie bis vor kurzem
kein anderes Land besaß.
Ist es wirklich bloßer Zufall, daß so viele Einrich-
tungen, die der ganzen Menschheit zum Heile gereichen,
insbesondere aber auch Wohltaten für die vom Glücke nicht
Begünstigten, ihren Ausgang von England genommen?
Man kann sich bei diesen Erwägungen des Eindruckes
nicht erwehren, daß es doch ein Unrecht sein dürfte, den
Engländer als den geborenen Egoisten zu bezeichnen, wie
das von übelwollender Seite so oft geschieht. Gerade
unter den höheren Ständen findet man ein Interesse für
die Leiden und Sorgen der Niedrigen, das ein Zeugnis
gegen den behaupteten Egoismus ist. Schon im Jahre
1717 schreibt eine Dame aus vornehmster Familie, Lady
24
Mary Wortley Montague aus der Türkei nach Hause,
sie habe bei den türkischen Landleuten ein Mittel gegen die
Pocken gesehen, die Impfung, das sie so gerne in ihrer
Heimat einführen möchte, wo die gefährliche Krankheit
so viel Unglück anrichte. — Fast achtzig Jahre später hat
Edward Jenner in England die Kuhpockenimpfung
eingeführt und ist damit zu einem der größten Wohltäter
der ganzen Menschheit geworden. Seine Landsleute er-
kannten den hohen Wert seiner Entdeckung und ehrten
ihn wiederholt durch reiche Dotationen. — In den-
selben Jahren führte William Wilberforce einen hart-
näckigen, langen Kampf gegen einen andern Feind der
Unterdrückten, gegen die Sklaverei. For und der jüngere
Pitt standen ihm bei, aber ohne seine eigene unbeugsame
Zähigkeit, würde es ihm nie gelungen sein, diesen Gegner,
der in den pekuniären Interessen einen mächtigen Ver-
bündeten hatte, zu werfen. Vom 1. Januar 1808 an war
der Sklavenhandel in allen englischen Gebieten unter-
sagt; auf dem Wiener Kongresse brachte Castlereagh die
Frage der Abschaffung des Sklavenhandels zur
Sprache, worauf Frankreich, Spanien und Portugal sich
zum Verbot dieser grausamen Sitte verpflichteten. Erst
nach langem innern Ringen folgte auch Nordamerika.
Von England ist, wenn ich mich nicht sehr täusche, die
Bewegung zum Schutze der Kinder ausgegangen,
die jetzt in der zivilisierten Welt Anklang und Nachahmung
gefunden hat. Jedenfalls war England der erste Staat,
der durch besondere Gesetzgebung die schützende Hand
über die Unmündigen gegenüber den Grausamkeiten
Erwachsener ausgestreckt hat. Es ist eine Zierde eng-
lischer Gesetzgebung, daß das Parlament einen beson-
25
dem Freibrief, einen „Charter" zu diesem Zwecke er
lassen hat.
Wer fremden Einrichtungen gerecht gegenüberstehen
will, mutz imstande sein, jedes Vorurteil, jede Vorein-
genommenheit abzulegen. Wir alle haben Schwierig-
keiten gehabt, haben sie möglicherweise immer noch, über
eine englische Schöpfung gerecht zu urteilen, die mit
ihrem aufdringlichen Wesen, ihrem lächerlichen Aufputz,
ihrem Hohn auf feineren Geschmack uns schon so oft
geärgert hat: ich meine die Heilsarmee. Aber unser
ästhetisches Gefühl darf nicht den Ausschlag geben. Wir
müssen nun gestehen, datz diese allerdings echt englische
Schöpfung, die vor fünfzig Jahren ihren Anfang nahm
und seit 1878 in ihrer jetzigen Gestalt eristiert, schon
überaus viel Gutes gestiftet hat. Der Ärmsten hat sie sich
mit unendlicher Aufopfemng angenommen, hat zahllose
Menschen — wenn auch vielleicht manchmal nur vorüber-
gehend — auf den guten Weg gebracht, und viele, viele
vor dem Untergang gerettet, Kaum eine Einrichtung
wie diese zeigt die Universalität englischer Unternehmun-
gen, und solchen Anklang hat weder im Altertum noch
in der neueren Zeit irgendeine religiös-soziale Bewegung
gefunden. Gewitz ist die Ausbreitung der christlichen
Religion noch viel grotzartiger, aber sie ist das Resultat
einer Tätigkeit von Jahrhunderten, ja Jahrtausenden.
Und neben „General Booth" wird insbesondere in
diesen Tagen ein viel sympathischerer Name häufig
genannt: derjenige der Florence Nightingale. Tausende
in allen kriegführenden Ländern erinnern sich jetzt mit
Ehrfurcht der Dame, die im Krimkriege die Organisa-
tion der Spitäler für die Verwundeten auf sich
26
nahm und damit die erfolgreichste Vorläuferin des Genfer
Roten Kreuzes geworden ist.
Ich darf mir nicht gestatten, vor einem Kreise junger
Akademiker von der englischen Arbeitergesetzgebung
zu sprechen, über die vermutlich manche von Ihnen genau
Bescheid wissen. Meine Kenntnisse stammen hauptsäch-
lich aus dem (wie mir scheint, sehr empfehlenswerten)
Buche von Walter, „Die neuere englische Sozialpolitik",
das im Jahre 1914 erschienen ist. Ich vermag daher nicht
zu beurteilen, in welchem Matze England Muster und
Vorbild gewesen ist, oder in welchem Grade es von kon-
tinentaler Gesetzgebung gelernt hat. Nur den guten
Willen Englands, für die Millionen von Arbeitern dauernd
zu sorgen, darf ich hervorheben. Eine Seite der Arbeiter-
frage aber, die auch den Mittelstand stark berührt, möchte
ich erwähnen, weil hier das Vorangehen Englands absolut
feststeht: Die Gartenstadtbewegung.
Wer in englischen Fabrikstädten gewesen ist, der weitz,
wie autzerordentlich öde die Arbeiterwohnungen dem Be-
sucher entgegenstarren. Es ist als ob die Monotonie der
Tagesarbeit sich auch in der häuslichen Einrichtung
wiederspiegeln sollte. Neuere Anlagen zeigen allerdings
einen Fortschritt, und jeder Reisende hat wohl schon jene
bescheidenen Häusergruppen gesehen, wo kleine Gebäude,
die wenige Zimmer enthalten, von einem Gärtchen um-
geben sind, das mit seinem Umfange gerade ausreicht, dem
Bewohner in seinen Mutzestunden nützliche Beschäftigung
zu bieten und dem Haushalt eine kleine Ernte an Gemüse
und Blumen zu liefern. Von da bis zur Gartenstadt ist
jedoch ein grotzer Schritt. Und dieser Schritt ist mit ent-
schiedenem Erfolg getan worden. Eine der ersten grötzeren
27
Anlagen, die nach hygienischen und künstlerischen Ge-
sichtspunkten geschaffen wurde, entstand schon um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts in der Fabrikgegend von
Bradford, nach chrem Gründer Sir Titus Salt heißt sie
Saltaire. Den etwa 800 Häusern sind nicht nur die nötigen
öffentlichen Gebäude, wie Schulen, Kirchen, Amtshäuser,
sondern auch Gärten, Spielplätze, Gesellschaftsgebäude,
Bäder beigegeben, so daß der Bewohner innerhalb seines
Dorfes alles finden kann, dessen er bedarf. Ganz anders
verfuhr man einige Jahrzehnte später in der Anlage von
Bournville, etliche Meilen südlich von Birmingham. Statt
der geschlossenen Häuserreihen erstellte man Einzechäuser,
in ihre Bauart brachte man Abwechslung, die Umgebung
wurde mit landschaftlicher Anmut ausgestaltet, an hy-
gienischen Einrichtungen aller Art wurde das Modernste
eingeführt. Kein Wunder, daß sich schon eine auffallend
niedrige Sterblichkeitsziffer hat nachweisen lassen.
In Port Sunlight, nicht weit von Liverpool, wurde
eine abermals verbesserte Anlage gemacht; und (ohne
alle Zwischenstufen aufzählen zu wollen) heute ist Eng-
land die Heimatder Eartenstadtbewegung. Eine große Ge-
sellschaft, die Garden City Association, hat sich gebildetund
fördert mit bedeutenden Mitteln eine Städteanlage, die
mehr und mehr dem kleinen Mittelstände zugute kommen
wird. Wer von London nach Cambridge fährt, wird es
nicht bereuen, in Letchworth Halt zu machen und sich die
dortige Mustergartenstadt anzusehen. Bon überall her,
zumal vom Kontinente, kommen sie nun, um zu sehen
und zu lernen. Auch unsere Stadtväter, die zwar eine
Baumgruppe nach der andern der Art des Holzhauers
ausliefern, haben wenigstens den guten Geschmack, eine
28
Kommission nach England zu entsenden, um sich berichten
zu lassen, wie eine moderne Jdealstadt aussehen sollte.
Wenn wir nachforschen, wie es kam, datz in England
der Sinn für würdige Wohnungsverhältnisse in den
letzten Jahrzehnten einen so entschiedenen Aufschwung ge-
nommen hat, so treten uns zwei Namen vor allen andern
entgegen: John Ruskin und William Morris. Ruskin
hat durch seine Schriften die Steine reden machen. Sie
haben unter seiner Interpretation verkündet, datz zwischen
Kunst und Moral ein fester Zusammenhang besteht, und
datz nur Wahrheit und Aufrichtigkeit in der Kunst dauern-
den Bestand hat. Gleichzeitig hat er allen, die sich seiner
Führung anvertrauen wollen, gezeigt, wie unendlich viel
bescheidene Schönheit sich in allen unsern echten Bau-
werken, sollten sie auch noch so unscheinbar sein,verborgen
hält; und so ist er es gewesen, der die grotze Bewegung, die
man jetzt unter Heimatschutz versteht, in Flutz gebracht
hat. Weit über englischen Boden hinaus hat er damit An-
klang gefunden, und wir alle folgen nun gerne dem Rufe,
meist ohne zu wissen, wer ihn zuerst in die Welt gebracht. —
Ruskin hat den Durst nach Schönheit geweckt, und William
Morris hat ihn gewissermatzen ins Praktische übersetzt.
Es genügt nicht, datz Städteanlagen und öffentliche Bau-
ten, Gemäldegalerien und sonstige Kunstsammlungen
den Anforderungen der Ästhetik entsprechen, die Kunst
mutz uns durchs ganze Leben begleiten, täglich und stünd-
lich uns umgeben. Darum fordert Morris, datz unsere
Möbel nicht auf den Schein gearbeitet seien, sondern be-
scheiden, aber wahr ihrem Zwecke dienen; die Tapete
soll mit der Bestimmung des Raumes im Einklänge
stehen, Schüssel und Teller sollen bei aller Einfachheit
29
Charakter zeigen und den Geschmack des Besitzers doku-
mentieren.
Edle Schönheit, nicht hohler, verlogener Prunk soll
uns umgeben; ja selbst das Werkzeug, das wir führen,
soll diesen Forderungen entsprechen, soweit es nur immer
möglich ist. Darum hat Morris eine Reihe von Berufs-
arten in dieser Richtung reformiert, er hat eine Tapeten-
und Möbelfabrik errichtet, hat die Glasmalerei wieder
aufleben lassen, der Metallarbeit, der Töpferei neue Wege
gewiesen und dem Tertilgewerbe tieferen Gehalt ver-
liehen. Eine Reform hat sich im Anschlüsse an Morris
in der gesamten Welt für die innere Ausstattung
unseres Heims vollzogen, ohne das; man überall weiß, oder
überall gestehen will, von wo die tiefgreifende Bewegung
ausgegangen.
Eines lag Morris, der neben allem auch Dichter und
Gelehrter war, besonders am Herzen: das Buch. Wohin
war man gekommen, seit Aldus und Elzevier Bücher ge-
druckt hatten? Zu reinen Barbaren waren wir geworden.
Und jetzt schnitt Morris wieder selbst die Typen, die würdig
wären, die herrlichen Geschichten eines Chaucer wiederzu-
geben, er zeichnete die Randleisten, die das Auge des
Lesers erfreuen sollten, er überwachte selbst den Druck,
datz ja keine Entweihung der Kunst eindringe. Noch mehr
als das: zum schönen Inhalt und Druck gehört ein würdi-
ger Einband. Auch diesem wandte er seine Sorge zu.
Und istdieneueBuchkunstin England geblieben? Ist
sienichtwie jenes Senfkorn zum mächtigen Baume empor-
gewachsen, unter dem sich Angehörige aller Nationen
finden? Es ist heute gar nicht mehr möglich, Bücher auf
den Markt zu bringen, wie wir es vor nur zwanzig Jahren
30
getan; das Lesepublikum hat Geschmack gewonnen und
lehnt ab, was den bescheidenen Kunstanforderungen ins
Angesicht schlägt.
Vor jungen Männern darf ich wohl eine Seite eng-
lischen Lebens nicht unerwähnt lassen: den Sport.
Seine übertriebene Pflege mag da und dort zum Schaden
ausgeschlagen haben, aber was haben wir durch den ver-
nünftig betriebenen Sport nicht alles gewonnen! Können
Sie sich unsern schönen See ohne Rudersport, unsere
Knaben ohne Football, unsere jungen Mädchen ohne
Tennis denken? — Haben wir auf dem Festlande das
Verständnis für die Schönheit des Winters gefunden?
Ist nicht vielmehr alles, was mit dem Wintersport im Zu-
sammenhange steht, aus England gekommen? Möchten
wir das alles wieder preisgeben? Die Nachäfferei mag
manchmal in Kleinigkeiten etwas weit gegangen sein,
deshalb werden wir das Gute, das im ganzen liegt, nicht
verwerfen wollen.
Eine praktische Verbindung der Grundgedanken des
Sports mit der Theorie der Erziehung sehen wir in den
Landerziehungsheimen verwirklicht. Sind ihre
Wohltaten auch nicht jedem zugänglich, so ist doch sehr
viel nützliche Anregung von ihnen ausgegangen. Jahre hin-
durch hat jeder ernsthafte Erzieher es mit Recht für seine
Pflicht gehalten, sich mit diesem System in England selbst
vertraut zu machen. Aber auch Organisationen, die keine
reichen Mittel erfordern, hat uns England gebracht.
Freuten wir uns bei unserer Mobilisation im vergangenen
August nicht aufrichtig über die jungen Burschen in ihrer
braunen Uniform und dem großen Hute, deren schöne
Devise ist „Allzeit bereit"? „Be prepared!“ lautet in
31
England ihr Ruf, und General Baden-Powell ist der
Schöpfer dieser nützlichen Jugendorganisation, der Boy
Scouts, der Pfadfinder, die er ins Leben rief, umden
patriotischen Sinn des jungen Engländers zu fördern.
Auch dafür dürfen wir dankbar sein.
* -st
*
Nach all diesen Betrachtungen, die ja leider teilweise
zu bloßen Aufzählungen geworden sind und die den reichen
Stoff noch keineswegs erschöpfen, dürfte es kaum nötig
sein, Ihnen gegenüber, werte junge Freunde, noch be-
sonders zu betonen, daß neben so viel Licht auch kräftige
Schatten sich finden. Wo Unternehmungslust und Kühn-
heit, Zähigkeit und festes Beharren eine so große Rolle
spielen, da ist es garnicht anders möglich, als daß sich auch
andere, weniger angenehme Eigenschaften entwickeln
müssen. Von diesen sprechen in den letzten Monaten zahl-
reiche Publikationen viel, ja allzuviel. Leute, unter ihnen
sogarhervorragende Gelehrte und Fachmänner, von denen
man in Friedenszeiten solches nie erwartet hätte, haben
sich dazu hergegeben, in direktem Widerspruch zu günstigen,
ja begeisterten Äußerungen, die sie früher über England
getan, nun zu Verkündern der Nachteile und Schilderern
der Schattenseiten Englands zu werden.
Hüten wir uns, über sie zu urteilen. Der Krieg
hat seine eigenen Begleiterscheinungen, die nament-
lich vom neutralen Boden aus kaum richtig eingeschätzt
werden können. Es werden Zeiten kommen, da selbst die
Verfasser von Schmähschriften wünschen möchten, das in
Haß und Wut geschriebene wieder vernichten zu können.
Rechnen Sie diese Erscheinungen zur Psychologie (oder
32
vielleicht richtiger zur Psychose) des Krieges, und sehen
Sie sich als Unbeteiligte gerade als verpflichtet an, ohne
Urteil über das, was andere tun, überall nur das Gute
hervorzuheben. Das ist der Weg, der uns ganz allmählich
wieder in bessere Beziehungen zurückführen kann.
Vielleicht gestatten Sie mir auch noch einen persönli-
chen Ratschlag aus meiner Erfahrung. Nicht aus eigenem
Verdienst, sondern durch angeborene Neigung habe ich
in allen Lagen, in die das Leben mich versetzt hat, stets
in erster Linie das Schöne, Gute, Vorteilhafte gesehen
und habe damit unendlich viel Glück empfunden und viel
vortreffliche Menschen kennen gelernt. Gegen Schwächen
und Nachteile bei andern, zumal bei andern Nationen
bin ich deshalb nicht blind gewesen, und mein Leben hat
mir auch sein ehrliches Matz an Enttäuschungen gebracht.
Aber versuchen Sie gewissenhaft, in jeder Umgebung,
in die das Schicksal Sie führt, vor allem die edeln Eigen-
schaften Ihrer Mitmenschen zu entdecken. Das andere
ergibt sich von selbst. So können Sie auch in bescheidener
Stellung zu Boten des Friedens, zu Förderern wahrer
Menschenkultur werden.
H
Verlag: Art. Institut Orell Füßli, Zürich
gehalten vor der Freistudentenschaft der Universität Zürich
im Winter 1914/1915.
Erschienen:
L. Ragaz, Professor an der Universität in Zürich:
Über den Sinn des Krieges.
Preis: 80 Rp.
Dr. Fritz Medicus, Professor an der Eidgenössischen
Technischen Hochschule:
Die Kulturbedeutung des deutschen Volkes.
Preis: 40 Rp.
D. I. Matthieu, Professor an der Kantonsschule Zürich
Die Kulturbedeutung Frankreichs.
Preis: 80 Rp.
Dr. Th. Vetter, Professor an der Universität Zürich
Die Kulturbedeutung Englands.
Preis: 60 Rp.
In Vorbereitung:
Dr. E. Bovet, Professor an der Universität Zürich
Die Kulturbedeutung Italiens.
Noch zu bestimmender Referent:
Die Kulturbedeutung Rußlands
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen,