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Die russische Oberste Führung bis Ende August.
BisMitteMai. Hinter den vorderen Kampflinien, die abgesehen von der Durchbruchs¬
front in Galizien und Südpolen und dem Raume nördlich des Njemen
recht stark ausgebaut waren, ermöglichten in Polen von südlich Iwangorod
über Nowogeorgiewsk bis gegen Lomza tiefgegliederte rückwärtige Stel¬
lungen und dahinter die durch Befestigungen noch verstärkte Narew—
Weichsel-Linie hartnäckigen Widerstand. Sollte aber der Druck der Gegner
wider alles Erwarten dazu zwingen, diesen „vorderen Kriegsschauplatz" aus¬
zugeben, dann stand immer noch die große rückwärtige Hauptabwehrlinie
des Njemen und Bug mit den starken und neuzeitig ausgebauten Festungen
Kowno, Grodno und Brest zur Verfügung. Ihre rechte Flanke schien durch
das Fehlen von Eisenbahnen und Straßen nördlich des Njemen ausreichend
geschützt, der linke Flügel fand hinter dem Dniester sichere Anlehnung an die
rumänische Grenze. Diese letzte Stellung hoffte man daher auch bei ungün¬
stigster Entwicklung der Dinge halten zu können.
Seit Anfang Mai war das Augenmerk der Obersten Heeresleitung
durch die Lage an der Kampffront in Galizien gefesselt, über die
deutsche Kräfteverteilung war man im allgemeinen schnell und gut unter¬
richtet, vermutlich durch Agentennachrichten und Gefangenenaussagen. Dem
deutschen Vordringen nördlich des Njemen maß man keine große Bedeutung
bei, denn die dort festgestellten Kräfte waren zu schwach, um eine Gefahr
zu bedeuten. So war die Nordwestfront einstweilen die Kraftquelle, aus
der durch Truppenabgabe der schwere und verlustreiche Kampf der Südwest¬
front genährt wurde. Zier schien um Mitte Mai der Druck gegen den
Abschnitt, der ihn bisher am stärksten gespürt hatte, gegen die 3. Armee, die
unterhalb der Festung Przemysl am San stand, nachgelassen zu haben, wie
man glaubte, da sich die deutschen Truppen mehr nach Süden zogen. Am
Mai. 17. Mai drahtete der Großfürst persönlich an General Vrussilow, den Ober¬
befehlshaber der 8. Armee, er habe zu seiner Tatkraft besonderes Vertrauen
und sei überzeugt, daß er nicht nur Przemysl halten werde, dessen Besitz
besonders wichtig sei, sondern durch aktive Kampfführung auf seiner übrigen
Front auch die Gesamtlage festige. Er gab der Südwestfront zu erwägen,
aus ihren Reserven im Raume nördlich von Lemberg eine neue Operations¬
armee zu bilden, zu der ihr die drei Divisionen starke Heeresreserve und von
der Nordwestfront ein besonders bewährter Armeeführer, General Plehwe,
bisher Oberbefehlshaber der 12. Armee, und eineinhalb Korps gestellt werden
sollten. Dazu aber meldete der Oberbefehlshaber der Nordwe st front,
bevor er solche Abgaben leiste, müsse er wissen, ob er seine jetzige Front
auch weiterhin zu halten habe oder auf den Narew und die Warschau
deckende Grojec-Stellung zurückgehen dürfe.