608 Der Mehrfrontenkrieg im Sommer 1915. Trotz dieses Bescheides des verantwortlichen Leiters der deutschen Gesamtpolitik ließ General vonFalkenhayn auch weiterhin keine Ge¬ legenheit vorübergehen, die Friedensfrage einer Lösung zuzuführen. Einen neuen Anlaß dazu gab ein Schreiben des Generalobersten von Conrad vom 21. Juli an das Außenministerium in Wien: Der jetzige eindrucksvolle Kriegsabschnitt, so hieß es hierin, der voraussichtlich bald zur Einnahme von Lublin, Cholm, Iwangorod und vielleicht sogar von Warschau führen werde, müsse dazu ausgenutzt werden, um durch ein Abkommen mit Ru߬ land den Block der Gegner zu sprengen sowie Rumänien und Bulgarien auszuschalten. Rußland seien für einen Sonderfrieden goldene Brücken zu bauen. General VonFalkenhayn gab die ihm übersandte Abschrift dieses Schreibens am 22. Juli an den Reichskanzler von Bethmann Hollweg weiter mit dem Hinzufügen, daß seine Auffassung mit der des Generalobersten von Conrad übereinstimme. Der richtige Zeitpunkt, an Rußland heran¬ zutreten, dürfe nicht verpaßt werden. In seinem Antwortschreiben wies der R e i ch s k a n z l e r am 30. Juli darauf hin, daß er seit Monaten fortgesetzt eingehend die Frage prüfe, ob Rußland zu einem Sonderfrieden mit Deutschland geneigt sei, daß die rus¬ sische Regierung bisher aber stets in ablehnendem Sinne geantwortet habe. Ein Stimmungsumschlag zugunsten Deutschlands sei zwar festzustellen, Neigung zu einem Sonderfrieden indes nicht zu erkennen; vielmehr beharre man auf dem alten Standpunkt, daß Rußland, durch das Wort des Zaren gebunden, nur gemeinsam mit seinen Alliierten Frieden schließen könne. Die schweren Niederlagen in Polen und Kurland würden in Petersburg nicht als entscheidend für den endgültigen Ausgang des Krieges betrachtet und nur als vorübergehende Mißerfolge hingestellt. Unter Einsatz der gegen¬ wärtig noch in der Ausbildung begriffenen britischen Streitkräfte werde im Herbst auf dem französischen Kriegsschauplätze die große Offensive der West¬ mächte beginnen. Hiernach scheine trotz des zweifellos festzustellenden Stim¬ mungsumschwunges die Annahme nicht berechtigt, daß sich Rußland auch beim günstigen Fortschreiten unserer militärischen Operationen in Polen zu einem Sonderfrieden entschließen würde. Die Möglichkeit hierzu werde, wenn überhaupt, erst kommen, wenn Rußland feine Hoffnung auf den Fall der Dardanellen^) und die Gewinnung Bulgariens endgültig ausgeben müsse. 1) Wenn der Reichskanzler die Friedensbereitschaft Rußlands in dieser Weise mit dem Erfolge des Gallipoli-Anternehmens in Verbindung brachte, so darf daran erinnert werden, daß Rußland an einer Eroberung der Meerengen ohne russische Mitwirkung kein Interesse hatte. Man war unter Umständen sogar bereit, einen