438 Die russische Oberste Führung bis Ende August. BisMitteMai. Hinter den vorderen Kampflinien, die abgesehen von der Durchbruchs¬ front in Galizien und Südpolen und dem Raume nördlich des Njemen recht stark ausgebaut waren, ermöglichten in Polen von südlich Iwangorod über Nowogeorgiewsk bis gegen Lomza tiefgegliederte rückwärtige Stel¬ lungen und dahinter die durch Befestigungen noch verstärkte Narew— Weichsel-Linie hartnäckigen Widerstand. Sollte aber der Druck der Gegner wider alles Erwarten dazu zwingen, diesen „vorderen Kriegsschauplatz" aus¬ zugeben, dann stand immer noch die große rückwärtige Hauptabwehrlinie des Njemen und Bug mit den starken und neuzeitig ausgebauten Festungen Kowno, Grodno und Brest zur Verfügung. Ihre rechte Flanke schien durch das Fehlen von Eisenbahnen und Straßen nördlich des Njemen ausreichend geschützt, der linke Flügel fand hinter dem Dniester sichere Anlehnung an die rumänische Grenze. Diese letzte Stellung hoffte man daher auch bei ungün¬ stigster Entwicklung der Dinge halten zu können. Seit Anfang Mai war das Augenmerk der Obersten Heeresleitung durch die Lage an der Kampffront in Galizien gefesselt, über die deutsche Kräfteverteilung war man im allgemeinen schnell und gut unter¬ richtet, vermutlich durch Agentennachrichten und Gefangenenaussagen. Dem deutschen Vordringen nördlich des Njemen maß man keine große Bedeutung bei, denn die dort festgestellten Kräfte waren zu schwach, um eine Gefahr zu bedeuten. So war die Nordwestfront einstweilen die Kraftquelle, aus der durch Truppenabgabe der schwere und verlustreiche Kampf der Südwest¬ front genährt wurde. Zier schien um Mitte Mai der Druck gegen den Abschnitt, der ihn bisher am stärksten gespürt hatte, gegen die 3. Armee, die unterhalb der Festung Przemysl am San stand, nachgelassen zu haben, wie man glaubte, da sich die deutschen Truppen mehr nach Süden zogen. Am Mai. 17. Mai drahtete der Großfürst persönlich an General Vrussilow, den Ober¬ befehlshaber der 8. Armee, er habe zu seiner Tatkraft besonderes Vertrauen und sei überzeugt, daß er nicht nur Przemysl halten werde, dessen Besitz besonders wichtig sei, sondern durch aktive Kampfführung auf seiner übrigen Front auch die Gesamtlage festige. Er gab der Südwestfront zu erwägen, aus ihren Reserven im Raume nördlich von Lemberg eine neue Operations¬ armee zu bilden, zu der ihr die drei Divisionen starke Heeresreserve und von der Nordwestfront ein besonders bewährter Armeeführer, General Plehwe, bisher Oberbefehlshaber der 12. Armee, und eineinhalb Korps gestellt werden sollten. Dazu aber meldete der Oberbefehlshaber der Nordwe st front, bevor er solche Abgaben leiste, müsse er wissen, ob er seine jetzige Front auch weiterhin zu halten habe oder auf den Narew und die Warschau deckende Grojec-Stellung zurückgehen dürfe.