36 Die Westfront von Mitte April bis Anfang August 1915. mittel für den Festungskrieg eingeführt worden'). In Deutschland dagegen war man auf einen Gaskampf in keiner Weise vorbereitet. Im Anfang des Krieges berichteten ausländische Zeitungen wiederholt — übrigens ohne jede tadelnde Stellungnahme — von der Anwendung neu¬ artiger, unheimlicher Kriegswaffen auf französischer Seite, die ohne äußerlich erkennbare Verletzungen todbringend sein sollten. Als Erfinder wurde der französische Chemiker Turpin genannt. In der Tat hat dieser dem fran¬ zösischen Kriegsministerium bei Kriegsbeginn derartige Kampfmittel an¬ geboten. Sie wurden auch geprüft, aber für nicht brauchbar befunden. Im Preußischen Kriegsministerium blieben dagegen ähnliche bei Kriegsausbruch einlaufende Vorschläge ohne Beachtung'). Seit Beginn des Stellungskrieges im Jahre 1914 erschwerte vielfach die Rähe der gegnerischen Gräben ein Schießen mit Sprenggeschossen, weil durch Splitterwirkung die eigene Truppe gefährdet wurde. Auch zeigte sich, daß gegenüber einem tiefgegliederten und eingegrabenen Feinde die Brisanz- Wirkung nicht mehr ausschlaggebend zur Geltung kam. Damit sehte ein Suchen nach wirksameren Kampfmitteln ein. Die französische Füh¬ rung forderte Anfang Januar 1915 die vorhandenen Gasgewehrgranaten für die Front an. Das französische Kriegsministerium gab am 21.Fe¬ bruar eine Dienstvorschrift über den Gebrauch der Gasgewehr- und der inzwischen gleichfalls eingeführten Gashandgranaten an die Truppe heraus. In dieser hieß es: „Die Dämpfe der Reizgeschoffe sind nicht tödlich, wenigstens sobald sie nicht im Übermaß eingeatmet werden." Damit ist die Möglichkeit einer tödlichen Wirkung unzweideutig zum Ausdruck gebracht, denn das Maß des Einatmens hängt vielfach nicht vom Willen des Be¬ schossenen ab. Seit Ende Februar gelangten dann nach zahlreichen Truppen¬ meldungen diese Waffen an der Westfront gegen deutsche Soldaten zur Verwendung2). Die deutsche Führung mußte mit der Wahrscheinlichkeit der An¬ wendung chemischer Kampfmittel auf feindlicher Seite rechnen und war nicht gewillt, sich überraschen zu lassen. Zunächst erstrebte sie lediglich, mit Hilfe von Gas den Gegner aus dem Schuhe seiner Gräben in den Bereich der Geschoßwirkung zu treiben. Vis Ende des Jahres 1914 war die Fertig- stellung eines Artilleriegeschosses (15 ein-Granate 12 T) gelungen, das neben bedeutender Sprengladung einen Gaskampfstoff (Tylylbromid) ent¬ hielt, der dem französischerseits eingeführten in seiner Reizwirkung ähnlich, 1) Vgl. Antersuchungsaussch. der Verfassungg. Deutschen Nationalversammlung und des Reichstages 1919—1928, dritte Reihe, IV. Band, S. 3 bis 42. 2) Kriegstagebuch R. I. R. 27, 28. Februar 1915, und andere Truppenmeldungen. Weiteres über den Gaskrieg vgl. Band IX.